Glück: Grundriss einer integrativen Lebenswissenschaft 9783495997567, 3495481028, 9783495481028


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1 Einleitung: Darf oder soll der Mensch nach Glück streben?
2 Glück im Prozess der Technisierung und Ästhetisierung
2.1 Technisierung und transitiv-technisches Glücksverständnis
2.2 Ästhetisierung und reflexiv-ästhetisches Glücksverständnis
3 Grammatik des Glücks
3.1 Glück = Vermeidung des Unglücks? Positive versus negative Glückstheorien
3.2 Glück = Gefühl oder Urteil? Physiologische versus kognitive Gefühlstheorien
4 Auf dem Kampfplatz zwischen Subjektivisten und Objektivisten
4.1 Subjektive Glückstheorien: Hedonismus und die Wunschtheorie des Glücks
4.2 Objektive Glückstheorien: Glücksgüterobjektivismus und die Lebensstandard-Lebensqualitätsforschung
5 Anthropologie des Glücks
5.1 Fundamentalanthropologie: Zieltheorien des Glücks
5.2 Essentialistische Anthropologie: Objektive-Listen-Theorien des Glücks
6 Selbstverwirklichungs-Glück jenseits von Gut und Böse?
6.1 Glück der Selbstverwirklichung: Zur Struktur von »Selbst« und »Selbstverwirklichung«
6.2 Glück oder Moral? Individualethik versus Sozialethik?
7 Resümee: Integrativer Ansatz zu einem transaktionalen Glücksmodell
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Glück: Grundriss einer integrativen Lebenswissenschaft
 9783495997567, 3495481028, 9783495481028

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Dagmar Fenner

Glck Grundriss einer integrativen Lebenswissenschaft

BAND 72 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997567

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495997567 .

Zu diesem Buch: Obgleich die Frage nach dem Glück nach langer Ausgrenzung aus dem philosophischen Diskurs zugunsten moralischer Fragen heute eine Renaissance feiert, stagniert die philosophische Glücksforschung aufgrund ihrer Frontstellung gegenüber den empirisch orientierten Einzelwissenschaften der Psychologie und Soziologie. Weil man dem hochkomplexen Phänomen Glück kaum aus einer begrenzten einzelwissenschaftlichen Perspektive gerecht werden kann, stellt diese interdisziplinäre Studie einen umfassenden Versuch einer systematischen Integration glücksrelevanter Forschungsergebnisse aus Philosophie, Anthropologie, Psychologie und Soziologie dar. Die Studie plädiert für ein transaktionales Glücksmodell, das sowohl einen radikalen Objektivismus (Glücksgüterobjektivismus) als auch Subjektivismus (Hedonismus) überwindet: So wenig jemand nämlich aufgrund einer glänzenden (objektiven) Lebenssituation bereits glücklich ist, ohne dieses Glück auch zu spüren, so wenig ist jemand allein aufgrund eines positiven (subjektiven) Gestimmtseins glücklich, wenn er sich über die Wirklichkeit seiner Lage täuscht. Ausgehend von einer multifaktoriellen Wechselwirkung zwischen Subjekt und Welt werden daher a) die glückskonstitutiven kognitivwertenden Stellungnahmen des Subjekts zu seinen äußeren Lebensbedingungen und b) seine glücksförderlichen Handlungskompetenzen und Qualifikationen im Umgang mit der Außenwelt eingehend analysiert. Dr. phil. Dagmar Fenner, geb. 1971, studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Basel und an der E.H.E.S.S. Paris. Nach weiterführenden interdisziplinären Studien sowie Lehre und Forschung im Bereich praktischer Philosophie an der FU Berlin habilitiert sie sich zurzeit an der Universität Basel.

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Dagmar Fenner Glck

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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Gnther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 72

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Dagmar Fenner

Glck Grundriss einer integrativen Lebenswissenschaft

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997567 .

Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/Mnchen 2003 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satzherstellung: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2003 ISBN 3-495-48102-8

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Inhaltsverzeichnis

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Einleitung: Darf oder soll der Mensch nach Glück streben? 11

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Glück im Prozess der Technisierung und Ästhetisierung . 2.1 Technisierung und transitiv-technisches Glücksverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ästhetisierung und reflexiv-ästhetisches Glücksverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

50 56 87

Grammatik des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.1 Glück = Vermeidung des Unglücks? Positive versus negative Glückstheorien . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.2 Glück = Gefühl oder Urteil? Physiologische versus kognitive Gefühlstheorien . . . . . . . . . . . . . . 182

4

Auf dem Kampfplatz zwischen Subjektivisten und Objektivisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4.1 Subjektive Glückstheorien: Hedonismus und die Wunschtheorie des Glücks . . 249 4.2 Objektive Glückstheorien: Glücksgüterobjektivismus und die Lebensstandard-Lebensqualitätsforschung . . . . . 305

5

Anthropologie des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . .

341 5.1 Fundamentalanthropologie: Zieltheorien des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . 360 5.2 Essentialistische Anthropologie: Objektive-Listen-Theorien des Glücks . . . . . . . 422 A

Glück https://doi.org/10.5771/9783495997567 .

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Inhalt

6

Selbstverwirklichungs-Glück jenseits von Gut und Böse?

466

6.1 Glück der Selbstverwirklichung: Zur Struktur von »Selbst« und »Selbstverwirklichung« . . . . . . . . . . . . . 476 6.2 Glück oder Moral? Individualethik versus Sozialethik? . . . . . . . . . 525

7

Resümee: Integrativer Ansatz zu einem transaktionalen Glücksmodell . . . . . . . . . 587

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Sachregister

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Dagmar Fenner

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»Was liegt am Glücke!«, also sprach Zarathustra, »ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke.« (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 295)

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1 Darf oder soll der Mensch nach Glück streben?

Da alle Menschen glücklich sein möchten, ist die Themenstellung durch die Alltagserfahrung und das Alltagshandeln von Menschen diktiert, so dass die Motivation vorliegender Arbeit keiner weiteren Begründung zu bedürfen scheint. Sowohl in historischer wie systematischer Hinsicht kann es nämlich geradezu als »der größte gemeinsame Nenner der Menschheit« gelten, »dass es den Menschen als fühlenden, wahrnehmenden, denkenden, wollenden, handelnden Wesen immer zentral um das Glück geht und ein Leben ohne Glück als sinnlos erachtet wird.« 1 Gibt es aber nicht eine große Zahl von Menschen, die sich niemals die Glücksfrage stellt, wodurch das Glück in ihrem Leben kaum eine zentrale Rolle spielen dürfte, auch wenn sie sich bei einer Nachfrage ohne Zögern das Attribut »glücklich« zuzuschreiben pflegen? Die empirische Beobachtung, dass viele Mitmenschen sich keineswegs reflexiv mit ihrem Glück auseinandersetzen, beweist natürlich nicht, dass sie ihm indifferent gegenüberstünden und ergo nicht auf Glück aus wären. Geht man von der in zahllosen Märchen, Sprichwörtern und Glückswünschen des Alltagslebens 2 ihren Ausdruck findenden Intuition aus, das Glücksstreben sei in der Struktur des menschlichen Lebens selbst angelegt, müsste man vielmehr mit Ursula Wolf in Betracht ziehen, »dass eine Frage dann nicht gestellt wird, wenn sie bereits beantwortet ist und so gar nicht zum Bewusstsein kommt. Faktisch hat jede Gesellschaft Antworten auf existentielle Grundfragen entwickelt, noch ehe sie von der Philosophie ausformuliert wurden.« 3 Aufgabe der Philosophen wäre es in diesem Fall, die kulturell vorgegebenen und unkritisch internalisierten Antworten auf die Glücksfrage transparent zu machen und zur Diskussion zu stellen sowie die Struktur menschlichen Glücksstrebens generell zu erhellen. Dementsprechend geben sie seit Sokrates, dem Vater der praktischen Philosophie, den fraglos Glück1 2 3

Annemarie Pieper: Glückssache, S. 17 und S. 9. Vgl. ebd., S. 17–22. Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, S. 19. A

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Darf oder soll der Mensch nach Glück streben?

lichen immer wieder zu bedenken, dass »ein Leben ohne Selbsterforschung gar nicht verdient, gelebt zu werden«: 4 Nicht nur könnten wir uns über unseren Glückszustand täuschen, sondern das Standhalten in der Prüfung und Selbstprüfung scheint dem komplexen menschlichen Leben erst Einheit und Gestalt zu verleihen (vgl. Kapitel 5.1). 5 Angesichts dieses »fast einzigartigen und mehr als zweitausend Jahre haltenden philosophischen Konsenses«, 6 »dass das Glück das einzige der möglichen menschlichen Lebensziele ist, das den Charakter hat, letztes Ziel zu sein«, 7 müsste man heute eine wohlausgereifte Glücksphilosophie erwarten können. Glück, auf das sich somit ein immenses Reflexionspotential fokussiert haben muss, dürfte längst keine bloße »Glückssache« mehr sein im alltagssprachlichen Sinn von »etwas lässt sich nicht beeinflussen«, »hängt allein vom Zufall ab«. 8 Wenn diese Erwartung des Glückssuchers dennoch enttäuscht wird, hat dies Aristoteles implizit antizipiert mit seinem Hinweis auf die Divergenz bei der näheren definitorischen Bestimmung des Glücksbegriffs seitens der Gebildeten und der Laien, welche im Zuge postmoderner Spezialisierung der einzelwissenschaftlichen Forschungen und Individualisierung der Privatmeinungen um ein beträchtliches Maß verschärft wurde. Obgleich »jede Erkenntnis und jeder Entschluss nach irgendeinem Gute strebt«, auf das man letztlich immer um des »Glücks« als einzigen Letztziels willen hinsteuert, beschränkt sich schon zu Aristoteles’ Zeiten der Konsens offenkundig auf den bloßen Namen: »Im Namen stimmen wohl die meisten überein. Glückseligkeit nennen es die Leute ebenso wie die Gebildeten, und sie setzen das Gut-Leben und das Sich-gut-Verhalten gleich mit dem Glückseligsein. Was aber die Glückseligkeit sei, darüber streiten sie, und die Leute sind nicht derselben Meinung wie die Weisen.« 9 Auch innerhalb der psychologischen Disziplin wird gegenwärSokrates in Platons Apologie, 38a. Annas geht noch weiter mit ihrer Behauptung, »that, while there are plenty of people around with ready answers, the only answers which will satisfy an intelligent and reflective person will come from ethical philosophy.« (Julia Annas: The morality of happiness, S. 27) 5 Vgl. Wolf: Die Suche nach dem guten Leben, S. 49. 6 Joachim Schummer: Glück und Ethik, S. 7. 7 Günther Bien: Über das Glück, S. 28. 8 In Piepers Buch Glückssache bedeutet die Wortverbindung von der alltagssprachlichen Verwendungsweise abweichend offenkundig soviel wie »Angelegenheit/Obliegenheit des Glücks« bzw. der Glücksreflexionen (vgl. ebd., S. 10). 9 Aristoteles: Eth. nic., 1095a, 14–19. 4

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Darf oder soll der Mensch nach Glück streben?

tig konzediert, dass alle »Versuche, eine ›Glückologie‹ […] aus der Psychologie heraus zu fundieren, kläglich gescheitert sind.« 10 Will man dem Defizit einer umfassenden systematischen Glückstheorie abhelfen, ist infolgedessen trotz einer Favorisierung der synthetischen vor der analytischen Methode eine rudimentäre Skizze der keineswegs planen eudaimonologischen Begriffslandschaft unabdingbar. Zum auffälligen topographischen Merkmal der besagten Begriffslandschaft gehört in historischer Betrachtungsweise der Übergang von einem objektiven Glücksverständnis der Antike zu einem subjektiven der Neuzeit. Nach Günther Bien sind angesichts dessen grundsätzlich zwei Glücksbegriffe auseinanderzuhalten: »derjenige der älteren klassischen Tradition und derjenige der neuzeitlichen Glückseligkeitslehren oder des aufgeklärten Eudaimonismus und Utilitarismus.« 11 Als Kronzeuge eines subjektiven Glücksbegriffs figuriere hier vorläufig Sigmund Freud, der »Glück« mit der subjektiven sinnlichen »Lust«- Empfindung identifiziert: »Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Dies Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, andererseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird Glück nur auf das letztere bezogen. […] Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widersprechen ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten.« 12

Bevor wir die heuristisch unterschiedenen Glücksbegriffe von klassischer Antike und Neuzeit akkurat kontrastieren (vgl. S. 30 ff.) oder den »psychologischen Hedonismus« bzw. »Panhedonismus« ins Kreuzfeuer der Kritik ziehen (vgl. Kapitel 4.2), muss grundsätzlich 10 11 12

Philipp Mayring: Psychologie des Glücks, S. 49. Bien: Die Frage nach dem Glück, XIV. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 42 f. A

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geklärt werden: Wie steht es eigentlich, »anerkennt man das Faktum eines solchen Strebens, mit seiner Legitimation; wie steht es weiter mit der Möglichkeit, auf Glück und Glückseligkeit ein System ethischer, politischer, juristischer oder sozialer Handlungsnormen zu begründen?« 13 Auch wenn alle Menschen nach Glück streben, bleibt im Dunkeln, ob der Mensch eine »Pflicht zum Glück« oder doch immerhin ein »Recht auf Glück« hat. 14 Während der psychologische Glückstheoretiker sich in der Regel auf die Aussage beschränkt, das Glück sei das höchste tatsächlich erstrebte Gut der Menschen, postuliert der ethische Glücksphilosoph, das Glück sei das wertvollste und erstrebenswerteste Gut im menschlichen Leben. 15 Geht man allerdings wie Kant oder Freud von einem durch die »Natur« determinierten Glücksstreben des Menschen aus, so dass der Mensch »von Natur aus« immer schon nach Glück trachtet, könnte die Rede von einer Pflicht oder einem Gebot zum Glücklichsein als gänzlich sinnlos erscheinen: »Ein Gebot, dass jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte, wäre töricht«, folgert Immanuel Kant; »denn man gebietet niemals jemandem das, was er schon unausbleiblich von selbst will.« 16 Ebenso wenig könnte man andererseits von einem Recht auf Glück sprechen, wie Annemarie Pieper aufweist, solange es keine Instanz gibt, die »diese Rechte garantiert, das heißt für ihre Durchsetzung sorgt und Zuwiderhandlungen mit Sanktionen belegt.« 17 Da es nicht in staatlicher Macht steht, für das Glück zu garantieren, so dass auch nirgends ein Recht auf Glück einklagbar ist, könnte allenfalls von einem Recht auf gleiche Glückschancen beim natürlichen Glücksstreben, von einem Recht auf Glücksstreben die Rede sein nach dem Modell der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Wenn aber gemäß Freuds hedonistischem Glücksverständnis das Programm des persönlichen Lustprinzips »im Hader mit der ganzen Welt« stünde, müsste ein solches Recht seitens politischer Instanzen Bien: Die Frage, IX. Vgl. dazu etwa das 25. Kapitel »Die Pflicht zum Glück und das Recht auf Glück« in: Wladyslaw Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 332–348. 15 Es liegt hier eine Analogie vor zur Differenz von ethischem und psychologischem Hedonismus: »Der ethische Hedonismus […] behauptet: Die Annehmlichkeit ist die einzig wertvolle Sache. Der psychologische Hedonist sagt dagegen: Die Annehmlichkeit ist die einzige Sache, die wir schätzen.« (Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 292) 16 Immanuel Kant: KpV, A65. 17 Pieper: Glückssache, S. 36. 13 14

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wohl eher in Schranken gewiesen als verbürgt werden. Je stärker zudem das Glück subjektivistisch und hedonistisch interpretiert wird, desto minimaler wird der Konsens über einen Katalog allgemein relevanter Glücksgüter und -chancen ausfallen, nach dem man sich auf Staatsebene richten könnte (vgl. Kapitel 6.2). Eine ganz andere ethische und politische Relevanz kam dem Glück in der Antike zu, wo die Kluft zwischen dem Sein und dem Sollen noch nicht aufgebrochen war und der Glücksdiskurs Hochkonjunktur hatte. Vor dem Übergang vom antiken zum neuzeitlichen Glücksverständnis stellte das Glücksgebot an den immer schon nach Glück strebenden Menschen etwas gänzlich anderes dar als ein »kategorischer Imperativ«, wie Pierre Aubenques Kommentar zur aristotelischen Ethik klarstellt: »Das griechische Sollen ist kein kategorischer Imperativ, sondern der Imperativ des Könnens, und das Können ist selbst das Offenbarwerden des Seins. Das Axiologische wird also stets vom Ontologischen abgeleitet. Altgriechisch ausgedrückt: der richtige Nomos ist derjenige, der in der Physis gründet.« 18 Dieses Können, durch welches das Sollen gerechtfertigt wird, ist zwar naturgegeben, führt aber beim Menschen im Gegensatz zum Tier nicht unmittelbar und instinktiv zu entsprechendem Verhalten, sondern treibt gemäß Joachim Ritters Aristotelesinterpretation »verborgen und hintergründig in den gewollten und gesetzten Zielen« 19 der Handelnden. Eine ethische Glücksphilosophie wäre demnach sinnvoll, weil der von Natur aus nach Glück strebende Mensch notwendig immer auf ein »Gut«, auf selbstgewählte Zielvorstellungen aus ist, die aber mangels Selbstprüfung und Einsicht in das eigentliche, spezifische Können das Glück verfehlen und den Menschen ins Unglück stürzen können. Insofern ist die Differenz zwischen Deskriptivem und Normativem bei Aristoteles wie bei den Griechen insgesamt »stets eine relative«, denn das normative Sollen »appelliert nicht an eine überwirkliche und wirklichkeitsbestimmende Sphäre, sondern verweist auf eine wirklichkeitsimmanente, bloß tiefere, wesentlichere Ebene, die beim ersten Augenblick zugunsten der Oberfläche übersehen worden ist.« 20 Als sinnvoll entpuppt sich nicht nur die Rede von einer Pflicht Pierre Aubenque: Die Kohärenz der aristotelischen Eudaimonia-Lehre, S. 50. Joachim Ritter: Metaphysik und Politik, S. 63. In Kapitel 5.2 werde ich auf diese Interpretation zurückkommen. 20 Aubenque: Die Kohärenz, S. 50. 18 19

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zum eigentlichen »wahren« oder »aufgeklärten« Glücksstreben, sondern auch das entsprechende Recht, das nämlich nach Aristoteles durch die politische Verfassung geschützt werden soll, 21 sofern man von einem objektiven Glücksbegriff, d. h. von einem nach allgemeinen Normen kontrollierbaren Zustand des Glücks ausgeht. Voraussetzung einer objektiven, normativen Glücksphilosophie ist dabei gar nicht unbedingt ein metaphysisch verankertes anthropologisches »telos« wie in der griechischen Antike, sondern ausreichend wären intersubjektiv-allgemeine Kriterien eines glücklichen Lebens. Gerade gegen solche verbindlichen und mitteilbaren Kriterien, Regeln oder Gründe menschlichen Glücks verwehrt sich aber ein privatistischer neuzeitlicher Glücksbegriff: Im gegenwärtigen Zeitalter einer um sich greifenden Wertverunsicherung und -pluralisierung scheint die Verbreitung einer »entmoralisierten und entpolitisierten Theorie vom Glück des Einzelnen konsequent« 22 . Daher folgt auf die beiden bereits negierten Fragen nach der Möglichkeit eines Glücksgebots oder eines Rechts auf ein subjektives, hedonistisches Glück folgende noch grundlegendere, die uns schließlich zu einer Revision ebendieses Glücksverständnisses zwingen wird: Hat der Mensch überhaupt das Recht oder gar die Pflicht, sich im Rahmen einer »Nah«- oder »Nächsten«-Ethik (Hans Jonas) einer Glücksfrage jenseits von Gut und Böse zu widmen, während wir alle konfrontiert sind mit kollektiven ethischen bzw. politischen Problemen der ökologischen Krise mit Ozonloch und Waldsterben oder einer äußerst ambivalenten eskalierenden Technisierung, welche die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft und den Menschen zur antiquierten Maschine degradiert? 23 Angesichts der Brisanz und Dringlichkeit der mannigfaltigen Für Aristoteles steht in seinem politischen Hauptwerk außer Frage: »Dass nun zwar mit Notwendigkeit diese die beste Staatsverfassung ist, nach deren Ordnung sich wohl jeder am besten hält und selig lebt, ist offenbar.« (Aristoteles: Polit., 1324a, 24) Die politische Dimension der Glücksfrage wird in Kapitel 6.2 ins Blickfeld rücken. 22 Wolfgang Janke: Das Glück der Sterblichen, S. 11. 23 Vgl. Jonas: »Die moderne Technik hat Handlungen von so neuer Größenordnung, mit so neuartigen Folgen eingeführt, dass der Rahmen früherer Ethik sie nicht mehr fassen kann. […] Gewiss, die alten Vorschriften der ›Nächsten‹-Ethik – die Vorschriften der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Ehrlichkeit, u. s. w. – gelten immer noch, in ihrer intimen Unmittelbarkeit, für die nächste, tägliche Sphäre menschlicher Wechselwirkung. Aber diese Sphäre ist überschattet von einem wachsenden Bereich kollektiven Tuns, in dem Täter, Tat und Wirkung nicht mehr dieselben sind wie in der Nahsphäre, und der durch die Enormität seiner Kräfte der Ethik eine neue, nie zuvor erträumte 21

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Probleme unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation wird die scheinbar privatisierende subjektive Glücksfrage tatsächlich in akuten Rechtfertigungsnotstand gedrängt. Um in letzter Sekunde die Substituierung des Menschen durch Automaten, die atomare Apokalypse oder den ökologischen Kollaps zu verhindern, erachten viele Philosophen anstelle einer unverantwortlich gewordenen »Lehre des Glücks« eine »Heuristik der Furcht«24 für angebrachter. Als Surrogat für die umstrittene »Pflicht zum Glück« würde dann die »Furcht zur Pflicht erklärt« 25 . Jonas’ Erweiterung des kantischen kategorischen Imperativs um die Dimension der Handlungskonsequenzen und des zukünftigen Zeithorizonts: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens«, 26 gerät allerdings bei einer Konfrontation mit Gottfried Leibniz’ berühmter Fragestellung »Warum ist etwas und nicht nichts?« in vergleichbare Begründungsschwierigkeiten: Ist das reine Dass-Sein, das biologische Am-Leben-Sein von Menschen sui generis bereits ein Gut, ein Wert an sich, oder kommt ein solcher erst einem spezifischen Was-Sein, einem Leben mit bestimmten Qualifikationen zu? Lässt sich dieser konzeptuelle Konflikt überspielen mit Jonas’ Rekurs auf die aristotelisch-naturteleologische Prämisse, es gäbe so etwas wie eine »ontologische Idee« des Menschen, welche »die Anwesenheit ihrer Verkörperung in der Welt fordert«, einen »immanenten Anspruch eines an-sich-Guten auf seine Wirklichkeit«? 27 Dürfen wir getrost davon ausgehen, »dass die Natur Werte hegt, da sie Zwecke hegt, und daher alles andere als wertfrei ist«, wobei sich in jedem Zweck unwillkürlich »das Sein für sich selbst und gegen das Nichts« erklärt? 28 Die Zuflucht zu einer solch immanenten metaphysischen Seinsordnung, die dem Menschen wie jedem anderen Seienden den Zweck vorgibt und ihn dadurch in seinem Sein rechtfertigt, ja ihn zur Existenz nachgerade verpflichtet, lässt sich mit einem modernen Selbstund Weltverständnis kaum noch in Einklang bringen. 29 Wo Jonas Dimension der Verantwortung aufzwingt.« (Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 26) 24 25 26 Ebd., S. 392. Ebd. Ebd., S. 36. 27 Ebd., S. 91 und S. 153. 28 Ebd., S. 150 und S. 155. 29 Vgl. zum Kontrast und zur Relevanz des klassischen und modernen Ethiktyps als Grundlage aktueller ökologieethischer Diskussionen Andreas Brenner: Ökologie-Ethik, S. 43 ff. A

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nicht stur auf der Relevanz des puren Überlebens der Menschheit insistiert und die Differenz zwischen menschlichem und jedem anderen Leben im Zuge seiner theologisch-metaphysisch motivierten »Biophilie« nivelliert, beschwört er dagegen die »Menschenwürde« 30 sowie die Pflicht zur Humanität, zu pflichtbewusstem Handeln: »Das bedeutet aber, dass wir nicht so sehr über das Recht künftiger Menschen zu wachen haben – nämlich ihr Recht auf Glück, das bei dem schwankenden Begriff des Glücks ohnehin ein missliches Kriterium wäre – wie über ihre Pflicht, nämlich ihre Pflicht zu wirklichem Menschentum: also über ihre Fähigkeit zu dieser Pflicht, die Fähigkeit, sie sich überhaupt zuzusprechen.«31

Wir wären weder zum Schutz eines Rechts auf Leben, d. h. der bloßen Erhaltung künftiger Generationen, noch deren schwer definierbaren Rechts auf Glück aufgerufen, sondern zum Bewahren der »Idee des Menschen« 32 oder des »wirklichen Menschentums« als Fähigkeit zur Pflichterfüllung, zur Moralität. Versucht man die wahre »Humanität«, die »Menschenwürde«, welche offenkundig als Äquivalent zur »Idee des Menschen« fungiert, 33 als Ausweg aus metaphysischer Teleologie und moralischem Realismus zu interpretieren, scheitert man am Umstand, dass diese Termini nicht weniger schillernd sind als der monierte Glücksbegriff und bei Jonas diffus bleiben. Auf der Suche nach dem in Frage stehenden Humanum befand sich indes auch Kant, den Jonas im Grunde weit hinter sich lassen wollte: Kant, die Glückseligkeit lediglich als »letzte[n] Naturzweck (nicht Zweck der Freiheit)« billigend, 34 deklariert als höchsten Endzweck des Menschen die »Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen«, deren Ausbildung er der Kultur, dem letzten Zweck »in Ansehung der Menschengattung« überantwortet. 35 Sind wir daher im Rahmen

Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 97. Ebd., S. 89. 32 Vgl. ebd., S. 91. 33 Auch Wolf moniert die Dunkelheit von Jonas’ Argumentation an dieser Schlüsselstelle: »Möchte Jonas – vielleicht unter dem Einfluss Kants – sagen, der Wert des Lebens künftiger Generationen bestehe letzlich in ihrer Befähigung zur Sittlichkeit? […] Es ginge Jonas dann gar nicht vorrangig um die Erhaltung empirischer Menschen mit ihren faktischen Wünschen und Neigungen, sondern um die Bewahrung der ›Idee des Menschen‹.« (Jean-Claude Wolf: Hans Jonas. Eine naturphilosophische Begründung der Ethik, S. 228) 34 Kant: KU, A385/B390. 35 Ebd., A387/B391 f. 30 31

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einer bestimmten (entarteten) Kultur der Fähigkeit zur beliebigen Zwecksetzung beraubt, wäre, da »das Leben nicht der Güter höchstes ist«, der »überlegte Freitod zur Bewahrung der eigenen Menschenwürde vor äußerster Erniedrigung […] wegen des Überlebens von Menschenwürde überhaupt« nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. 36 Die neuzeitliche, nachmetaphysische Bios-Apologie gründet also auf einer ontologischen Sonderstellung des Menschen vor allem anderen Leben: auf der Menschenwürde als Befähigung zur vernünftigen Selbstbestimmung, als Fähigkeit, seinem Willen (beliebige) Zwecke vorsetzen zu können. Es geht ihr um die »Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt.« 37 Das kantische Konzept der Menschenwürde setzt dabei offenkundig einen bestimmten Menschenbegriff, nämlich eine »Verwesentlichung« des Menschen zum Vernunftwesen voraus. 38 Damit lässt man die strukturell weniger überzeugenden Alternativkonzepte einer metaphysischen Teleologie (1), der Lebensphilosophie (2), welche kurzerhand »das Leben selbst zum Zweck des Lebens« erhebt, 39 sowie einer naturalistischen Anthropologie (3), die den Menschen auf das Generalziel Selbsterhaltung festlegt, hinter sich: Frei wäre der Mensch im letzteren Falle beispielsweise nur, wenn er tut, »was aus den bloßen Gesetzen seiner Natur verstanden werden kann« 40 – bei Baruch Spinoza letztlich nur, solange er intuitiv erkennt bzw. Gott liebt –, und genau dann sei ihm auch die Glückseligkeit garantiert. 41 Der Selbstmörder jedoch erscheint aus naturalistischer Sicht als unfrei und menschenunwürdig, da er zu seiner naturwidrigen Tat notwendigerweise von außen gezwungen sein müsse: »Niemand, behaupte ich, verschmäht die Nahrung oder nimmt sich das Leben aus Notwendigkeit seiner Natur, sondern allein durch den Zwang äußerer Ursachen.« 42 All diese Projektionen greifen sicherlich zu kurz, weil der Mensch nicht einfach

Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 97. Kant: GMS, A/B77. 38 Vgl. dazu Guido Löhrer: Menschliche Würde, S. 43 f. und 197 f. 39 Vgl. Georg Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, S. 179. 40 Baruch de Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata, 8. Begriffsbestimmung des vierten Teils. 41 Vgl. ebd., 29. und 24. Lehrsatz des vierten Teils. 42 Ebd., Erläuterung zum 20. Lehrsatz. 36 37

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lebt wie beispielsweise ein Baum, 43 sondern sich zu sich selbst verhält und erst durch Erziehung, freie Selbstgesetzgebung und Sinnstiftung zu einem konkreten Menschen wird. Wenn also das triebhafte Leben als solches bzw. ein Existieren nach den Gesetzen der eigenen Natur zum Zwecke der Selbsterhaltung oder -steigerung dem Leben keinen intrinsischen Wert zu verleihen vermögen, steht nun zu prüfen aus, inwiefern demgegenüber ein Mensch, der prinzipiell »Zweck an sich selbst sein kann […], nicht bloß einen relativen Wert«, d. h. einen Preis habe, wie Kant postuliert, »sondern einen inneren Wert«. 44 Reicht es zur Rechtfertigung menschlichen Lebens aus, dass er sich frei und autonom beliebige Zwecke setzen kann, wie § 83 der Kritik der Urteilskraft zu implizieren scheint? Kann es der einzige und letzte Zweck der Kultur und der sie kritisch reflektierenden Philosophen sein, den einzelnen zur Geschicklichkeit beim Zwecksetzen zu erziehen? In welchem Verhältnis steht schließlich die menschliche Würde der Selbstzweckhaftigkeit als angeblich höchster menschlicher Zweck der Freiheit zum Naturzweck der Glückseligkeit? Obgleich sich bei eingängigem Studium der Passagen zur Menschenwürde in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kants Argumentation als »zirkulär, wenn nicht einfach widersprüchlich« 45 entpuppt, kann man ihr so weit problemlos folgen: Ein Mensch erlangt nach Kant menschliche Würde nur dann, wenn er sich objektive, nicht von persönlichen, kontingenten Interessen und Neigungen diktierte Zwecke setzt, da er nur dann ausschließlich von der Vernunft bestimmt wird und frei handelt. Während die subjektiven Zwecke von der Vernunft oft mit defizitärer Einsicht und von Begierden getrieben auf die Bedingungen des Subjekts abgestimmt werden, lässt Kant nur diejenigen Zwecke als objektiv und von allem Empirischen gereinigt gelten, die sich entsprechend dem »kategorischen Imperativ« als allgemeines Gesetz der Menschheit denken lassen. Im Gegensatz zu den hypothetischen Imperativen, dem technischen Imperativ der Geschicklichkeit mit Anweisungen darüber, was zur Erreichung beliebiger Zwecke zu leisten ist, und dem pragmatischen Obgleich auch ein Baum aufgrund verschiedener klimatischer Faktoren und Lichtverhältnisse unterschiedlich groß und kräftig werden kann, wäre die Rede schlechterdings sinnlos, der eine sei eher gerechtfertigt als der andere. Nietzsche allerdings dreht den Spieß versuchsweise einmal um: »– ein Mensch wie er sein soll: das klingt uns so abgeschmackt wie: ›ein Baum, wie er sein soll‹.« (Nietzsche: NF13, S. 62) 44 Kant: GMS, A/B78. 45 So lautet das differenziert begründete Urteil Löhrers in: Menschliche Würde, S. 341. 43

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Imperativ der Klugheit zur Beförderung unserer individuellen Glückseligkeit ist der kategorische der Moralität absolut allgemein und objektiv. 46 Über die geistigen Voraussetzungen, sich objektive Zwecke setzen zu können, verfügt allein der Mensch als vernünftiges Wesen, der dank dieser Fähigkeit zum »Zweck an sich selbst« avanciert. Einerseits scheint zwar jeder vernunftfähige Mensch Würde zu besitzen, wenn nämlich alle »vernünftige[n] Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet.« 47 Andererseits komme dem Menschen Würde aber nur insofern zu, als er sich selbst sein kategorisches Moralgesetz gibt, welches ihm erst ermöglicht, Menschen als Zwecke an sich selbst vorzustellen: »Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.« 48 Nach dieser am Ende der Grundlegung sich vollziehenden Umkehrung im Begründungsverhältnis 49 entpuppt sich die »Moralität« als Grundlage menschlicher »Selbstzweckhaftigkeit« und »Würde«, mithilfe deren ein »Reich der Zwecke« etabliert werden soll. 50 In Ungnade fällt daher der Selbstmörder, welcher »über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigem Zweck zu disponieren« wagt, 51 indem er aus Selbstliebe um eines angenehmen glücklichen Lebens willen bei überhandnehmendem Lebensüberdruss für den Tod optiert. Unter der axiomatischen Prämisse eines »Faktums der Vernunft«, d. h. eines allgemeinmenschlichen Bewusstseins des universellen Moralprinzips, 52 fungiert das Selbstmordverbot als »vollkommene Pflicht« gegen sich selbst, weil sich die Maxime, sich aus Überdruss am Leben zu töten, nicht widerspruchsfrei zu einem allgemeinen Gesetz der Menschen qua Vernunftwesen erheben lässt. 53 Um die Legitimation einer gegenwärtiEr lautet in seiner elementarsten Form: »handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« (Kant: GMS, A/B52) 47 Ebd., A/B66. 48 Ebd., A/B78. 49 Vgl. Löhrer: Menschliche Würde, S. 341. 50 Vgl. Kant: GMS, A/B74 f. 51 Ders.: MS, A73. 52 Vgl. ders.: KpV, A56. 53 Vgl. ders.: GMS, A/B53. Allerdings rekurriert Kant bei dieser Beweisführung auf biologisch-naturalistische Prämissen, die meines Erachtens den transzendentalen Argu46

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gen oder gar zukünftigen Menschheitsgeneration dürfte es im Gegensatz zum sittlichen Dasein einzelner schwieriger bestellt sein, da wohl jede reale Kultur von Kants praktischem Ideal eines »Reichs der Zwecke« weit entfernt ist, in welchem jedes vernünftige Wesen demselben objektiv-allgemeinen Sittengesetz gehorchte. Es scheint nach unseren bisherigen Erläuterungen kein Zweifel mehr übrig zu bleiben, dass weder beim einzelnen Menschen, noch bei den Angehörigen einer bestimmten Kultur für das Sein oder gegen das Nicht-Sein votiert werden kann ohne Rekurs auf theologische, säkular-metaphysische oder – wie es der Moderne wohl am besten ansteht – nachmetaphysisch-moralische Grundprämissen: Die im Rahmen der praktischen Philosophie Kants zentralen Begriffe »Menschenwürde« und »Humanität« erweisen sich als grundsätzlich normativ aufgeladen und nehmen in einer jeweiligen historischen Kultur unterschiedliche konkrete Gestalt an – auch wenn uns Kant mit seinem rigorosen Apriorismus diese Sichtweise verstellt. Da wir in einem moralisch-rechtlichen Sinne von einem Verlust oder einer Verletzlichkeit der Menschenwürde zu sprechen pflegen, verweist die elementare »ontologische Fundierung« der Menschenwürde offenkundig »weiter auf die ethische Fragestellung und auf die Bestimmung des Menschen als eines sittlichen Wesens«, 54 welche für eine emphatisch verstandene »Menschenwürde« von maßgeblicher Relevanz ist. Genauso wenig, wie ein Mensch aufgrund seiner Natur, dem triebhaften Leben bzw. einer in diesem angelegten »Selbstzweckhaftigkeit« oder »ontologischen Idee des Menschen« ohne Bezug auf ethische Normen schon würdig und gerechtfertigt ist, ist eine konkrete historische Gesellschaft, innerhalb deren sich der einzelne Mensch Zwecke setzt, bereits dadurch legitimiert, dass sie in einem technischen Sinne »funktioniert«. Schenkt man Ronald Inglehart mentationsgang ins Zwielicht rücken. Höffe spricht allerdings von einem »semantischen Vorargument, das durchaus empirische Elemente enthalten darf«: »Unter der semantischen Voraussetzung, dass die Unlustempfindungen für das Leben (im biologischen Sinn) die Bestimmung haben, ›zur Beförderung des Lebens anzutreiben‹ (GMS, IV422) – sie zeigen nämlich einen Mangel an, als Hunger einen Energiemangel, und treiben zur Überwindung des Mangels, zum Essen, an –, ist der Selbstmord aus Lebensüberdruss, als allgemeines Gesetz gedacht, in sich widersprüchlich; die Unlustempfindung wäre sowohl zur Beförderung des Lebens wie zu seiner Zerstörung bestimmt (ebd.).« (Otfried Höffe: Ethik des kategorischen Imperativs, S. 139) 54 Franz-Peter Burkard: Artikel »Würde« in: ders./Peter Prechtl: Metzler Philosophielexikon, S. 582.

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Glauben, der mit zahlreichen empirischen Studien nachzuweisen sucht, dass »Wertvorstellungen und kulturelle Normen der einzelnen Nationen« einen nicht zu überschätzenden Einfluss auf die »gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Welt« ausüben, 55 dürfte man die Moral nicht bloß als Garantin der strukturellen Koppelung zwischen psychischen Systemen und sozialem System fungieren lassen. 56 Der systemtheoretische und kybernetische »Traum einer gleichsam instinktiven Selbststabilisierung« einer Gesellschaft, in welcher das ganze »Wertesystem auf Maximierungsregeln für Macht und Wohlstand und auf das Äquivalent für den biologischen GrundWert des Überlebens um jeden Preis, auf Ultrastabilität zusammengeschrumpft« ist, wird infolgedessen als Alptraum entlarvt. Wenn aber die einschlägige systemtheoretische Kategorie der »Selbstvalidierung« in die Irre führt, plädiert Jürgen Habermas zu Recht dafür, einen politisch wirksamen ethisch-praktischen Diskurs über die Kriterien lebenswerten menschenwürdigen Lebens in Gang zu bringen, statt die akuten Probleme unserer postindustriellen Kultur permanent auf technische zu reduzieren. 57 Das gegenüber der Frage nach dem Glück auf den ersten Blick vordringlicher erscheinende Problem, wie denn eine Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen trotz des technisch-zivilisatorischen Fortschritts verhindert werden könnte, führt uns mithin weiter zur Frage nach einem Horizont historischer, kultureller und politischer Werte und Gesetze zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz. Da sowohl menschliches Leben wie eine funktionierende Gesellschaft »Kultur reagiert nicht nur auf Veränderungen in der Umwelt, sondern trägt auch dazu bei, die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Welt zu prägen. Kultur schafft Landkarten des Universums. Diese Karten sind primitiv, aber wir benutzen sie, weil sie uns eine gewisse Orientierungshilfe bieten, wie wir dorthin kommen, wohin wir wollen, und weil sie uns ein Gefühl dafür vermitteln, worin der Sinn des Lebens besteht.« (Ronald Inglehart: Kultureller Umbruch, S. 499) 56 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 317. Wenn Luhmann als Basis jeder Moral eines sozialen Systems die »Achtung« ausersieht (vgl. ebd., S. 318), interessiert ihn an diesem alteuropäischen-emphatischen Begriff lediglich die Funktion der Achtung, d. h. »die Technik, die soziale und interpersonale Interpenetration fusioniert« (ebd., S. 320). 57 »Die Menschengattung hat sich mit den ungeplanten soziokulturellen Folgen des technischen Fortschritts selbst herausgefordert, ihr soziales Schicksal nicht nur heraufzubeschwören, sondern beherrschen zu lernen. Dieser Herausforderung der Technik ist durch Technik allein nicht zu begegnen. Es gilt vielmehr, eine politisch wirksame Diskussion in Gang zu bringen, die das gesellschaftliche Potential an technischem Wissen und Können zu unserem praktischen Wissen und Wollen rational verbindlich in Beziehung setzt.« (Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, S. 118) 55

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nur unter bestimmten kriteriellen Anforderungen als wertvoll, gerechtfertigt und lebenswert gilt, ist ein gesellschaftliches Potential von ethisch-praktischem Wissen und Wollen sowie eine gemeinsame diskursive Verständigung über solche Grundnormen vonnöten. Verdient die Sorge um die Existenzsicherung künftiger Generationen zeitlichen Vorrang, weil das Gut-Leben das bloße Leben voraussetzt, kommt der Diskussion über die formale, normative Idee der »Humanität«, welche grundsätzlich »für verschiedene, von den jeweiligen persönlichen und soziokulturellen Bedingungen, Interessen und Sinnvorstellungen abhängige Ausgestaltungen offen ist«, 58 logische Priorität zu. Bezüglich künftiger Generationen hätte man sich um ein Rechts- und Sozialsystem zu kümmern, in dem sich die Menschen gegenseitig als Wesen gleicher Würde anerkennen und die konkrete Ausgestaltung der Humanitätsidee auf demokratischem Wege geleistet wird. Diese Idee manifestiert in Otfried Höffes Worten, »dass es dem Menschen letztlich nicht auf Selbstbehauptung und Expansion, sondern auf jene Verständigung mit seinesgleichen ankommt, die unter den Ideen von Gerechtigkeit und Sittlichkeit stehen.« 59 Wovon nährt sich aber ein praktisches Wissen und Wollen bezüglich intrinsisch wertvoller menschlicher Existenz, wenn nicht von unseren Erfahrungen auf einer sei es einsamen, sei es gemeinsamen Sinn- oder Glückssuche? Lassen sich Humanität und Menschenwürde wirklich vollkommen unabhängig, kantisch gesprochen sogar in kontrastiver Abgrenzung vom individuellen Glücksverlangen begründen, oder stellen sie vielmehr in Höffes Worten »das stets riskante Unternehmen der Individuen und der Gesellschaft [dar], zu sich selbst zu kommen und ein gelungen-erfülltes Leben zu führen« 60 ? Verweisen, nachdem sich eine biophile »Heuristik der Furcht« als unzureichend entpuppte, die essentiellen Konzepte von Menschenwürde oder Humanität als »Zweck menschlicher Freiheit« am Ende doch auf eine »Lehre des Glücks«, die dem »Naturzweck« des Menschen Rechnung trägt? Wenngleich Kant infolge seiner Dichotomisierung von sozialethischen Normen und individualethischem Glücksstreben, von Moral und Glück, 61 die für ein menschenwürdiges Leben allgemein 58 59 60 61

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Otfried Höffe: Artikel »Humanität« in: ders.: Lexikon der Ethik, S. 135. Ebd. Ebd. Vgl. seine untrügliche Generalthese in KpV, A61: »Das gerade Widerspiel des Prin-

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verbindlichen Normen und Werte allein am höchsten Beurteilungskriterium der Moralität, dem kategorischen Imperativ, bemisst, weist das formale Konzept der »Humanität« oder »Menschenwürde« systematisch gesehen zwei Seiten auf: Während es als »Ideal des persönlichen Lebens« eine erfüllende und beglückende Selbstverwirklichung mittels der Entfaltung persönlicher kreativer und politisch-sozialer Fähigkeiten intendiert, fördert es als »normatives Leitprinzip von Gesellschaft« bestimmte Formen der Selbstverwirklichung durch die Sicherung allgemeiner Menschenrechte, die Etablierung geeigneter Bildungs- und Arbeitswelten sowie die Institutionalisierung öffentlicher Entscheidungsfindung. 62 Anders als Kant setzt hingegen Albert Camus die Frage nach einem lebenswerten Leben bzw. nach der Legitimität des Selbstmordes, welcher in seinen Augen das »einzig ernste philosophische Problem« 63 darstellt, im Mythos des Sisyphos nun ausschließlich mit der angeblich dringlichsten aller Fragen: der Frage nach einem sinnvollen, erfüllten, glücklichen Leben in Beziehung. Wo Kant also den Ton legt auf die Begründung einer Humanität als allgemein verbindlichem normativem Leitprinzip ungeachtet des menschlichen Glücksverlangens, isoliert Camus den persönlichen Pol der Sinnstiftung und des Selbstentwurfs einer selbstzweckhaften menschlichen Existenz. Unter der durchaus strittigen Prämisse, dass »das Heimweh nach der Einheit, dieses Verlangen nach dem Absoluten […] das wesentliche Agens des menschlichen Dramas« darstelle, soll der Mensch an der angeblich »einzigen Gewissheit« der absurden Kluft zwischen dem menschlichen Sinn- und Einheitsstreben und der irrational schweigenden Welt auf Leben und Tod festhalten. 64 »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen«, prätendiert Camus, weil es dem »Helden des Absurden« gelinge, in trotziger Auflehnung gegen das endlose Steinewälzen dieses Tun nicht mehr als unsinnige Strafe transzendenter Götter zu betrachten, sondern ihm in einem existentialistischen Freiheitsentwurf einen irdisch-menschlichen zips der Sittlichkeit ist: wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird.« In Kapitel 6.2 wird davon nochmals die Rede sein. 62 Vgl. zu dieser Zweiseitigkeit des humanitären Ideals den Artikel »Humanität« in: Höffes Lexikon der Ethik, S. 135, auf den ich mich hier beziehe. 63 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 9. 64 Vgl. ebd., S. 20 und S. 32. Hinsichtlich der Erhaltung der Menschheit als ganzer macht Camus in Der Mensch in der Revolte aber wieder eine an Jonas erinnernde »Idee der menschlichen Natur« geltend. A

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Sinn zu verleihen: »Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.« 65 Camus’ Verteidiger attestieren, dass durchaus eine subjektiv-existentielle »Autonomie als der Sinn menschlichen Lebens trotz des Absurden in den Blick gelangen« könne, verstanden nämlich »als jener Sinnhorizont, der sich ihm während des Abstiegs eröffnet, indem er sich von allen Bedingungen seines Denkens und Tuns distanziert, die er nicht selbst gesetzt hat, und die auseinanderfallende Reihe seiner an sich selber betrachtet nutzlosen Handlungen als einen von ihm selbst gesetzten, unbedingt bejahten Sinnzusammenhang begreift, dessen alleiniger Urheber er ist.« 66 Seine objektivistischen Ankläger hingegen sehen in Sisyphos ein unglückliches Opfer »einer durch gewisse Drogen hervorgerufenen Illusion«: »Sisyphos glaubt, dass sein Leben durch geistloses, nutzloses Steinewälzen Sinn bekommt, doch dies ist nicht der Fall«, 67 heißt es auf dieser Seite apodiktisch. Ob ein jeder, sich zum »Herrn des Universums« nominierend, selbst ermessen kann, wann sein Sinnentwurf gelungen und sein Leben sowohl legitimiert wie glücklich ist, 68 wie es der privatistische neuzeitliche Glücksbegriff suggeriert, muss tatsächlich in Zweifel gezogen werden. Mag es einem Halbgott wie Sisyphus noch gelingen, »radikal auf sich selbst gestellt einen einsamen Kampf gegen die zur Glücklosigkeit verurteilte Existenz als Mensch in einer heillosen Welt zu führen«, 69 so dürfte jeder Normalsterbliche unter den Prämissen eines solch heillosen Handlungsrahmens mit dem »existentialistischen Entwurf eines absurden Glücks überfordert« sein. 70 Der Ausschluss einer intersubjektiv vermittelten, sittlichen und politischen Freiheit im Verein mit der »Entmoralisierung (und auch Entpolitisierung) des Glücks« 71 scheint zudem dem Menschen als soEbd., S. 101 und S. 100. Annemarie Pieper: Albert Camus, S. 121. 67 Susan Wolf: Glück und Sinn, S. 184 und S. 185. Die Kernfrage, um die sich Wolfs äußerst verworrener Aufsatz zentriert, wer denn eigentlich weiß, welche Handlungsweisen objektiv gesehen tatsächlich lohnenswert sind, verliert sich allerdings im Dunkeln. 68 Obgleich Camus bekennt, man entdecke »das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben«, verwehrt er sich gegen den Trugschluss, »dass das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe« (Camus: Der Mythos, S. 100). 69 Pieper: Utopische Glücksentwürfe, S. 78. 70 Ebd. 71 Holmer Steinfath: Die Thematik des guten Lebens in der gegenwärtigen Diskussion, S. 10. 65 66

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zialem Wesen, der erst durch langwierige Erziehung, Sozialisation und Bildung zum konkreten Menschen wird, wenig angemessen. Wie sich zeigen wird, ist ein gelungen-erfülltes, glückliches Leben ohne Anerkennung durch unsere »Mitkämpfer« gegen absurde oder – verzichtet man auf ein metaphysisches Verlangen nach totaler Sinnfülle – doch immerhin schwierige Lebensverhältnisse kaum möglich (vgl. Kapitel 6.2): Da weder Identitätsfindung noch Selbstverwirklichung auf gemeinsame Verständigung über Werte verzichten können und beide vorwiegend innerhalb der gleichfalls auf kulturelle Normen gegründeten sozialen Welt vollzogen werden, basiert menschliches Glück grundsätzlich auf der erfolgreichen Vermittlung von existentieller persönlicher Handlungsfreiheit und politisch-sozialer Freiheit. Im Gegensatz zum halbgöttlichen »Helden des Absurden« gilt mithin für alle Menschen: »Solange wir uns als soziale Wesen verstehen – und es ist fraglich, ob wir dies auch nicht tun können – sind wir nicht nur für ein funktionierendes Zusammensein mit anderen, sondern auch für unser eigenes Selbstwertgefühl und unsere eigenen Sinnerfahrungen auf mit andern geteilte oder teilbare Vorstellungen davon, was im Leben wichtig ist, angewiesen.« 72

Methodisch wenig überzeugend scheint mir, wie Kant oder Camus ein universell-überhistorisches »Faktum« absolut zu setzen, um daraus einseitige moralische oder subjektivistisch-existentialistische Kriterien menschenwürdigen Lebens zu gewinnen: Bildet bei Kant das »Faktum der Vernunft« den Ausgangspunkt, setzt Camus das »Faktum der Unvernunft« absolut, d. h. er generalisiert die absurde Erfahrung des Scheiterns unseres Sinn- und Glücksverlangens zur conditio humana, woraus er glücksversprechende ethisch-praktische Werte und Lebensregeln einer »Logik des Absurden« deduziert. 73 Zur Bestimmung der historisch-kulturellen Kriterien eines schützenswerten menschlichen Lebens wäre stattdessen vielmehr die von Habermas geforderte »politisch wirksame Diskussion in Gang zu Ders.: Selbstbejahung, Selbstreflexion und Sinnbedürfnis, S. 91. Vgl. Pieper: »Auf dieser Stufe der Selbstvergewisserung durch philosophische Reflexion wird das Absurde nicht mehr bloß gefühlt, sondern als ein dem Faktum der Vernunft widersprechendes Faktum der Unvernunft begriffen. […] Es ist ohne Zweifel eine extreme Radikalisierung eines bestimmten Erfahrungsaspekts, die Camus in seiner Logik des Absurden vornimmt, aber dieser Aspekt ist für das Sein als Mensch konstitutiv; er deutet auf eine Bedingung der conditio humana schlechthin.« (Pieper: Albert Camus, S. 181)

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bringen« 74 . Analog zum aristotelischen ethischen Glücksmodell würden zwar alle Menschen nach individueller Sinnerfüllung und Glück streben, wären aber zur Teilnahme am Gespräch darüber aufgerufen, welche Lebensinhalte zu einem erfüllenden und beglückenden menschenwürdigen Leben dazugehören und auf welche Weise ihre kulturspezifische Ausgestaltung institutionell am besten gesichert werden könnte, weil sich der einzelne darüber täuschen kann. Für eine Entscheidung, ob Menschen sich berechtigterweise der Glücksfrage widmen, scheinen also die wechselseitigen Bezüge zwischen der evaluativen individualethischen Idee beglückender Sinnstiftung und Selbstverwirklichung und den normativen sozialethischen Leitbildern einer Gesellschaft als der beiden Aspekte in dem von Höffe projektierten zweiseitigen Humanitätsideal ausschlaggebend zu sein. Denn grundsätzlich erwies sich, dass in Anbetracht der atomaren Bedrohung, ökologischen Krise und fortgeschrittenen Automatisierung unserer wissenschaftlich-technischen Zivilgesellschaft der Sorge um die Existenzsicherung der Menschengattung lediglich zeitliche, dem Ringen um ein normatives formales Humanitätsideal sowie seine historisch-kulturelle Konkretisierung aber logische Priorität zukommt. Unübersehbar ist nun »die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Glücksstreben und Moralität in jüngster Zeit wieder ins Zentrum der ethischen Diskussionen gerückt« 75 : Man sehnt sich »unter dem Frustrationsdruck einer steril gewordenen Metaethik und Normenbegründungstheorie« 76 in Zeiten zurück, zu denen weder die Philosophie vom Leben, 77 noch die Moral vom Glück vollständig abgekoppelt waren (vgl. Kapitel 6.2) – wenngleich skeptischere Geister warnen, »das klassische Ideal einer konzeptuellen Konvergenz von Glück und Moral [habe] ausgespielt« 78 . Die Konjunktur feiernden Termini »Glück« und »gutes Leben« halten heute nach langer Ausgrenzung hauptsächlich aus dem Grunde siegessicher Einzug in den philosophischen Diskurs, weil sich eine formalistischuniversalistische Moral kantischen Formats infolge ihrer Zurückweisung jeglicher individueller Lebens- und Orientierungsfragen Schritt Habermas: Technik, S. 118. Vgl. Fußnote 57. Maximilian Forschner: Über das Vergnügen naturgemäßen Tuns, S. 150. 76 Ebd., S. 149. 77 Vgl. Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 165. 78 Sidonia Blättler, mit Berufung auf ihre Gesinnungsgenossen Gernot Böhme und Martin Seel, in: Glück und Unglück im Scheitern, S. 85. 74 75

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für Schritt den Boden unter den Füßen wegzog und dadurch ins Wanken geriet. »Die Thematik des guten Lebens ist zuerst von Kritikern der modernen (vorzugsweise kantischen) Moral wieder in die philosophische Diskussion eingebracht worden« und verdankt sich laut Holmer Steinfaths Diagnose »der Krise der modernen aufgeklärt-liberalen Moral, die durch die Trennung von Moral und Glück gerade gesichert werden sollte« 79 . Als gravierendste Kritikpunkte eruiert er folgende drei: die generelle Unmöglichkeit, eine Moral rein prozedural ohne Rekurs auf implizite Vorstellungen vom guten oder glücklichen Leben zu begründen (a); daneben die NichtBerücksichtigung schützenswerter Güter wie Menschenrechte (b) und schließlich die Ignorierung der Motivationsfrage (c). Im Gegensatz zu einigen kontemporären Einheitsethikern als Radikalgegnern einer formalistisch-universalistischen Moraltheorie scheint es mir jedoch methodologisch evident, »dass es sich bei der ›moralischen‹ Frage, wie wir uns zueinander verhalten sollen, und der […] ›prudentiellen‹ Frage, wie zu leben für uns als je besondere Individuen gut ist, um zwei dem Sinn nach verschiedene Fragen handelt« 80 . Während sich also eine prudentiell-evaluative Individualethik auf die Formen und Regeln eines persönlich »guten« oder »glücklichen« Lebens konzentriert, widmet sich eine normative Sozialethik der Begründung von moralischen Werten und Normen des gerechten Zusammenlebens. Um zu verstehen, warum Kant nicht nur den folgenschweren Hiat zwischen Moral und Glück inaugurierte, sondern einer sich primär um das Glück zentrierenden »prudentiellen Ethik« ihren »Status Praktische Philosophie und Ethik ganz abgesprochen und sie der Theoretischen Philosophie und den Naturwissenschaften als deren anwendungsbezogenes Korollar zugeschlagen« hat, 81 müssen wir jetzt die aufgeschobene Kontrastierung des antiken und neuzeitliSteinfath: Die Thematik des guten Lebens, S. 11. Ebd., S. 9 f. 81 »Die beiden Einleitungen zur ›Kritik der Urteilskraft‹ und danach die ›Metaphysik der Sitten‹ reservieren die überkommenen Titel allein für die Moralmetaphysik und exterritorialisieren damit fast die gesamte Praktische Philosophie der Tradition (allgemeine Glückseligkeitslehre, Diätetik und Asketik, Lebensklugheit im Umgang mit andern, Haus- und Staatswirtschaft u. a.), die sie überdies als selbständige Disziplinen entmachten und den Wissenschaften unterstellen. […] Von hier an datiert der Monopolanspruch einer bestimmten, universalistischen Art von Moralphilosophie und zugleich eine Verkürzung des Begriffs von Philosophie, die damit angestammte Kompetenzen preisgibt.« (Hans Krämer: Integrative Ethik, S. 88 f.) 79 80

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chen Glücksbegriffs in Angriff nehmen. Denn zweifellos basiert diese von Kant initiierte Akzentverschiebung von einer Glücks- zur Pflichtethik auf grundlegenden Neuorientierungen bezüglich des Selbstverständnisses des Subjekts sowie der soziokulturellen Vorstellungen vom Glück (vgl. Kapitel 2). »Dahinter liegt ein tiefgreifender historischer Wandel«, erläutert Emil Angehrn: »Kants Theorie artikuliert sowohl einen verschärften Begründungsanspruch wie einen der Antike unerreichbaren Begriff von Subjektivität.« 82 Im Zuge der neuzeitlichen Individualisierung wird das Glück zum einen so radikal verinnerlicht, dass es zur reinen Privatsache mutiert und sämtliche Versuche allgemeiner Ratschläge zur individuellen Glückssuche Gefahr laufen, idiosynkratisch als »paternalistischer« Angriff auf persönliche Autonomie missinterpretiert zu werden (1). 83 »Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Wille geht«, legt Kant im Einklang mit der landläufigen Auffassung definitorisch fest, d. h. sie ist »die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als auch intensive, dem Grade, als auch protensive, der Dauer nach).« 84 Wenn das Glück als eine gänzlich subjektive Angelegenheit in Abhängigkeit von den Wünschen, Vorlieben und Neigungen des einzelnen gerät, bedeutet dies zugleich, dass zweitens »alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden« 85 (2). Welche Neigungen und Wünsche eine Person hat und wie sie deren Erfüllung bzw. Befriedigung empfindet, ist freilich ein subjektiver Erfahrungswert, so dass »wir jeder Person nicht nur eine primäre, sondern sogar eine ausschließliche Autorität in der Feststellung ihres Glücks« konzedieren müssen. 86 Einher mit der vollständigen Privatisierung und Verinnerlichung des Glücks (1) sowie seiner empirisch-hedonistischen Verkürzung auf Befriedigung von Neigungen und Wünschen (2) – erinnerlich sei Freuds Lustprinzip – geht an der Schwelle zur Neuzeit seine Episodisierung (3). Die von Seel in den Glücksdiskurs eingeführte terminologische Distinktion von »episodischem« und »übergreifen82 83 84 85 86

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Emil Angehrn: Der Begriff des Glücks, S. 35. Vgl. dazu Seel: Wege einer Philosophie des Glücks, S. 113 f. und S. 121 f. Kant: KpV, A224 und ders.: KrV, A806. Ders.: GMS, A/B46. Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 62.

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dem« Glück hat sich – wenn, wie mir scheint, auch nicht immer mit denselben Intensionen – in der philosophischen Literatur weitgehend durchgesetzt. 87 Während Aristoteles das gelingende und glückliche Leben als Ganzes und in seiner qualitativen Einheit in den Blick zu rücken suchte, spricht zwar auch Kant noch von einer »protensiven« Erfüllung unserer Neigungen, da »zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich« 88 sei. Aber schon die Utilitaristen machen Ernst mit der bei Kant bereits angelegten Tendenz, das Glück auf das Vorhandensein eines augenblicklichen Glücksgefühls zu reduzieren – auf dass die aristotelische, qualitative »Ganzheit« eines gelungenen und erfüllten Lebens scheinbar irreversibel zerfällt in eine Summe momentan-messbarer Lustempfindungen, die man auch über die Individuen hinweg mathematisch verrechnen zu können meint (vgl. Kapitel 4.1). Jede neuzeitliche Glücksphilosophie sieht sich aufgrund dessen in Seels Worten mit folgender Crux konfrontiert: »Erstens: Ein glückliches Leben ohne Episoden des Glücks ist nicht möglich. Zweitens: Ein glückliches Leben besteht nicht einfach aus einer nicht endenwollenden Kette von Episoden des Glücks; zu einem guten menschlichen Leben gehört ein gelingendes Bestehen von erfreulichen und unerfreulichen Situationen verschiedener Art. Jede Theorie des Glücks steht also vor der Aufgabe, den Zusammenhang zwischen vereinzelten Glückszuständen und der qualitativen Einheit menschlichen Lebens aufzuklären.« 89

Wenn allerdings die quantifizierbar gemachten Glücksepisoden im Zeichen eines utilitaristischen oder freudschen Hedonismus nicht wie bei Seel »in einem Horizont übergreifender Glückserwartungen« 90 stehen, da man sich schlicht vom unbewusst wirkenden Lustprinzip treiben lässt, tritt als viertes Charakteristikum des neuzeitlichen Glücksverständnisses die Diskrepanz zwischen »moralisch-gutem« und »glücklichem Leben« auf den Plan (4): In der Antike bildete das »glückliche Leben« eine synonyme Ausdrucksweise für das »gute« bzw. »beste Leben«, da im Kontrast zum postmodernen Ideal einer Pluralität mannigfaltiger »guter Lebensformen« immer nur eine einzige Lebensform den Kriterien des von allen Men87 88 89 90

Vgl. Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 62 ff. Kant: GMS, A/B46. Seel: Versuch, S. 62. Ebd. A

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schen anvisierten »höchsten Guts« Genüge leistete. Wer also in der Antike gemäß sokratischem Vorbild »nach dem Glück, dem höchsten Gut für den Menschen fragt, fragt nach einer bestimmten, nämlich der besten, der am meisten guten Art zu leben.« 91 Die individualethische Frage nach dem persönlichen guten Leben und die sozialethische nach dem gerechten Zusammenleben wurden zwar gegeneinander abgegrenzt, ohne dass aber die jeweiligen Antworten dank universeller metaphysischer Grundfeste in Gegensatz zueinander hätten geraten können (vgl. Kapitel 6.2). Wer sich aber im Zeichen eines neuzeitlichen, episodisch-quantitativen Glücks die augenblickliche Lust, die egoistische Befriedigung aller kontingent auftretenden Neigungen zum Ziel setzt, hat sich unzweideutig für ein hedonistisches Leben der Lust entschieden, dem zwar infolge der entsprechend etablierten Verhaltensdispositionen und klaren Leitlinien durchaus ein individualethischer Wert zukommt, aber aufgrund des egoistisch-amoralischen Habitus’ niemals das Prädikat »moralisch-gut« attestiert werden kann. Statt sich der diffizilen, aber unausweichlich gewordenen Verhältnisbestimmung zwischen Glück und Moral zu stellen, beschränkt man sich gegenwärtig gern auf die individualethische »Frage, wie zu leben (oder wie zu leben gut) ist«, die angeblich noch »vor der Trennung von Moral und Glück« liege. »Insgesamt scheint Glück eher ein Aspekt des guten Lebens als dieses selbst zu sein«, vermutet Steinfath: »Zu einem guten Leben könnte auch gehören, dass es ein sinnvolles Leben ist oder ein bewundernswertes oder ein moralisch wertvolles. Es könnte verschiedene Dimensionen eines guten Lebens geben. Die Gleichsetzung von gutem und glücklichem Leben verstellt diese Möglichkeit genauso wie die zuweilen anzutreffende Gleichsetzung von gutem und moralisch gutem Leben. Um solche Verengungen zu vermeiden, wird des öfteren statt von einem ›guten‹ von einem ›gelingenden‹ Leben gesprochen.« 92

Da gemäß allgemeinem Konsens alle Menschen auf Glück als letztes Lebensziel abzielen, scheint mir der systematische Stellenwert von Glück verfehlt, wo dieses lediglich als ein »Aspekt« des guten oder gelingenden Lebens neben vielen anderen Dimensionen figuriert. Im Rahmen einer Kontrastierung der antiken und neuzeitlichen Glücksvorstellungen sowie der dadurch modifizierten Relation von Peter Stemmer: Was es heißt, ein gutes Leben zu leben, S. 48. Vgl. auch Aristoteles: Eth. nic., 1097b, 21–1098a, 20. 92 Steinfath: Die Thematik des guten Lebens, S. 14. 91

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glücklichem und moralischem Leben verdient schließlich folgender Umstand besondere Beachtung (5): Mit seinem Grundpostulat, alle Menschen strebten nach Glück, hat Aristoteles ein »inklusives Glück« 93 vor Augen, das mehrere, hierarchisch geordnete Ziele unter sich begreift, welche der Mensch im Horizont einer objektiv-metaphysischen Zweckordnung verfolgt. Dem Glück als Endziel des »bestmöglichen Lebens« kommt damit in Höffes Worten »transzendentaler Charakter zu«, weil »dieses Ziel auf einer höheren Stufe als die gewöhnlichen Ziele steht und doch nur ›innerhalb‹ dieser Ziele realisiert«, 94 nicht aber unmittelbar anvisiert werden kann. Da die Lust, das subjektive Wohlgefühl lediglich als Vollendungsmoment zu einem inklusiven oder transzendentalen Glück hinzutritt, würde man dieses im heutigen alltäglichen Begriffsnetz wohl eher mit der Etikette »Selbstzufriedenheit« bzw. »Zufriedenheit mit dem ganzen Leben« versehen (vgl. Kapitel 3.2). Neben seiner Exklusion eines hedonistischen Glücks als perpetuierender Befriedigung faktischer Neigungen aus seinen kritischen moralphilosophischen Schriften konzipiert auch Kant, nun allerdings auf der Grundlage einer imaginären gesetzmäßigen Ordnung eines »Reichs der Zwecke«, ein affines Glück als »gewusste, gewünschte und erhoffte Nebenwirkung moralischer Einstellung und Lebensführung.« 95 Dieses »höchste Gut« als Synthese eines naturgemäßen empirisch-subjektiven Vergnügens und einer der Freiheit und menschenwürdigen Moralität entspringenden Zufriedenheit, als Einheit von »Naturzweck« und »Zweck der Freiheit« müsste dann nicht erst im Jenseits erhofft werden: »Menschliches Leben ist ein Gebilde aus Natur und Freiheit; entsprechend ist die Qualität des Erlebens dieses Lebens im Gefühl durch beide Faktoren bestimmt und bestimmbar. Der eine bedingt, was Kant, meist terminologisch fixiert, das Vergnügen, der andere, was er Selbstzufriedenheit nennt. Das Vgl. zur sekundärliterarischen Kontroverse zwischen einer dominanten und inklusiven Interpretation der aristotelischen Glückslehre v. a. Horn: Antike Lebenskunst, S. 83 ff. 94 Otfried Höffe: Aristoteles, S. 219. 95 Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen, S. 120. »Glückseeligkeit ist eigentlich nicht die (größte) Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewusstseyn seiner Selbstmacht zufrieden zu seyn« (R.7202, zitiert nach ebd., S. 118), schreibt Kant im handschriftlichen Nachlass in eklatantem Widerspruch zu den bereits zitierten Stellen aus dem publizierten Werk: »Die Moralität besteht in den Gesetzen der Erzeugung der (wahren) Glückseligkeyt aus Freyheit überhaupt.« (R.7199, ebd., S. 116) 93

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Verhältnis von beiden ist so zu denken, dass ohne Selbstzufriedenheit kein gelungenes Erleben von Vergnügen möglich ist, dass Selbstzufriedenheit ihrerseits des Vergnügens bedarf, den Mangel desselben weitgehend zu kompensieren vermag und, soweit sie dazu nicht zureicht, auf ein vernunftgestütztes Erhoffen eines jenseitigen Ausgleichs zurückgreifen kann.« 96

Ein solches Glück wiese aber aufgrund seines transzendentalen Charakters wie bei Aristoteles »eine eigenartige teleologische Struktur« auf: »Der moralisch gute Mensch sieht und wünscht seine eigene Glückseligkeit als nicht primär intendierte Folge von Moralität und zwar in Form eines Wissens um den Selbstbeglückungseffekt des Bewusstseins eigener Moralität.« 97 Wendet man sich von diesem transzendentalen, eigenartig verwinkelten, indirekt-teleologischen Glück ab und dem privatistischen, empirisch-hedonistischen und episodischen neuzeitlichen Glück zu, scheint ein solches hier und jetzt intentione recta gewollt und gehabt werden zu können: Wenn uns Werbeagenturen, psychologische oder popularistische, gern unter der Parole »Lebenskunst« erblühende und sich verbreitende Wellness- und Lebensberatungszentren den direkten Weg zum fulminanten fun-Glück verheißen, ist jede Vorsicht, jedes konzeptuelle Zögern hinsichtlich einer komplexen Synthese aus Vergnügen und Zufriedenheit oder einer allgemeinen ethischen Zweckordnung heiter-frivol hinweggefegt. »Humanität« und »Menschenwürde« werden in einem Zuge substituiert durch »Luxus, Wellness und Genuss«, durch »Sonne, See und Sex«, 98 wobei wohlgemerkt nichts an der objektiv beschreibbaren Sonne, dem raffinierten Luxusarrangement oder einem spezifisch-charakteristischen Liebesobjekt liegt, aber alles an der Intensität des subjektiven Erlebens. »Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Form der Suche nach dem Glück«, expliziert der Soziologe Gerhard Schulze, 99 denn nach der Transformation jeder verbindlichen Wert- und Zweckordnung in eine hedonistische Event-Kultur und der »harten« Realität zur Simulationsbühne bzw. zum ästhetischen Erlebnismarkt, scheint uns auf der Glückssuche gar nichts anderes mehr übrig zu bleiben als eine radikale Innenorientierung (vgl. Kapitel 2.2): »Erlebnisansprüche Ebd., S. 120. Ebd. 98 Entnommen sind diese programmatischen Parolen dem Trendartikel »Auf die sanfte Tour. Vom Remmidemmi zur Wellness – wie sich die Ferienclubs in den letzten drei Jahren verändert haben«, in: Die Zeit vom 11. März 2000. 99 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 14. 96 97

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wandern von der Peripherie ins Zentrum der persönlichen Werte; sie werden zum Maßstab über Wert und Unwert des Lebens schlechthin und definieren den Sinn des Lebens.« 100 Angesichts solch verlockender Erlebnis- oder Glücksangebote liefert sich eine dem streng wissenschaftlichen Philosophieverständnis der Aufklärung verpflichtete Philosophie dank ihrer leichtsinnigen Inkompetenzvergabe in Sachen Glück und der generellen Preisgabe ihrer Orientierungsfunktion in persönlichen Bereichen massiven Irrelevanzvorwürfen seitens der Öffentlichkeit aus. Zweifellos verdient Wolfs Kassandraruf Gehör, demzufolge »Thema und Methode der Philosophie eng mit dem Motiv der Suche nach dem sinnvollen Leben und mit dem Bedürfnis nach praktischer Orientierung verknüpft sind, und dass die Philosphie der gesellschaftlichen Kritik nicht wird standhalten können, wenn sie nicht ihr Verhältnis zu der wichtigsten Frage neu zu klären und weiterzubestimmen versucht.« 101 Es verwundert indes kaum, dass die zögerlichen glücksphilosophischen Neustartversuche, vorsichtig Zuflucht suchend in unverbindlichen, erschreckend formalistisch anmutenden Tiraden zu Kategorien wie Wahl, Macht oder Subjekt, in der »Hochflut aufschießender paraphilosphischer Literatur zu den Themen Glück, Lebensqualität, Lebenskunst, Selbstverwirklichung« 102 ohne Resonanz untergehen. Nicht viel besser scheint es allerdings, trotz konkreter Ratschläge und griffiger Anleitungen aus Werbewelt und Lebensberatungsszene, mit dem verheißenen, auf Wohlgefühl und intensives Erleben reduzierten Glück selbst bestellt. Denn wider Erwarten konstatieren Zeitdiagnostiker anstelle einer Glückszunahme eine eskalierende individuelle und gesellschaftliche Sinn- und Orientierungslosigkeit: »Die Reklame lässt durchblicken, welchen Zuwachs an Lebensfreude uns diese Zahnpasta, jene Zigarette, diese Touropareise, jenes Puddingpulver einbringen werden. Sexfilme haben die letzten verstaubten ›Tabus‹ gebrochen und zeigen uns aufs klarste, wie jeder täglich den Höhepunkt gelingenden Lebens erreichen kann – mit dem sonderbaren Erfolg, dass Lebensunsicherheit und -verdrossenheit kaum weniger verbreitet zu sein scheinen als zuvor.« 103

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Ebd., S. 59. Wolf: Die Suche nach dem guten Leben, S. 13. Krämer: Integrative Ethik, S. 94. Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 47. A

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Seit das Glück also gleichsam »auf die Gasse geraten« war, »heimatlos geworden und zum Vagieren verurteilt blieb«, 104 eskalieren nach Schulzes empirischen Recherchen Ratlosigkeit, Unsicherheit und Enttäuschung.105 Während wir die immanenten Widersprüche und Paradoxien eines intentionalen subjektiv-hedonistischen Glücksstrebens in Kapitel 4.1 systematisch aufdecken wollen, kann diese zunehmende Verunsicherung und Enttäuschung prima facie darauf zurückgeführt werden, dass keiner genau weiß, was er eigentlich will, was ihm wirklich gefällt und ihn letztlich glücklich macht. So bestätigt sich Kants Diktum, dass zwar ein jeder nach Glückseligkeit zu gelangen wünscht, und doch »niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.« 106 Wo jegliche Kriterien eines glücklichen Lebens fehlen, läuft man Gefahr, sein ethisches Handeln nicht einmal mehr vor sich selbst rechtfertigen zu können und in seiner Glücksmöglichkeit und -fähigkeit durch externe Instanzen manipuliert zu werden. Vereinzelte Philosophen mahnen daher, es müsse jeder »Mensch wissen, dass und wie er glücklich werden kann. Er muss darüber reflektieren, wie er sein persönliches Glück erreichen bzw. erhalten will: ob in der Einsamkeit, zusammen mit den Mitmenschen, vielleicht aber auch gegen sie. Wie er auch (ethisch) handelt, er muss seine Handlungen im Hinblick auf seine Lehre vom glücklichen Leben vor sich selbst rechtfertigen, er muss Kriterien dafür angeben, warum er diesen oder jenen Zustand, diese oder jene Bildungsmöglichkeit, als die glücklichere versteht, läuft er doch sonst Gefahr, seine Glücksmöglichkeiten und seine Glücksfähigkeiten manipulierbar und damit unkontrollierbar werden zu lassen – sein Glück aufs Spiel zu setzen.« 107

In Ermangelung jeglicher individueller wie auch intersubjektiver, auf gemeinsamen systematisierten Erfahrungen basierender Kriterien zur Rechtfertigung eines Zustandes oder Lebens als »glücklicher« gegenüber einem »weniger glücklichen«, hilft uns auch der kategorische »Imperativ des Erlebens« (Schulze) oder die unbedingte »Pflicht Bien: Die Frage nach dem Glück, XIV. Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 13 und S. 60–67. 106 »Allein es ist ein Unglück, dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.« (Kant: GMS, A/B46) 107 Jörg Zirfas: Präsenz und Ewigkeit, S. 16. 104 105

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zum Genuss« (Frankl) nicht weiter. Was könnten die Philosophen, qualifiziert im Reflektieren und Be-gründ-en, angesichts dieses Dilemmas zur Rettung des Glücks beitragen? Könnte unser Glück wieder einen Grund gewinnen oder muss es notwendig Glückssache bleiben? Halten wir fest: Nachdem wir, ausgehend von Zweifeln an der Relevanz und Berechtigung von Glücksbetrachtungen und menschlichem Glücksstreben überhaupt inmitten akuter globaler Krisen die Notwendigkeit eines politisch wirksamen gesellschaftlichen Konsenses bezüglich einer schützenswerten menschlichen Lebensqualität registrierten, schienen sich solche nur im Rekurs auf unsere praktischen Erfahrungen bezüglich eines beglückenden, gelungen-erfüllten Lebens finden zu lassen. Da vice versa der Mensch als soziales Wesen zu einer beglückenden Sinnerfüllung anders als der Halbgott Sisyphus auf gemeinsam geteilte Werte verwiesen ist, eruierten wir als Schlüsselkategorie die »Humanität« oder »Menschenwürde«; nach Höffe eine zweikomponentige formale Idee mit Blick sowohl auf eine optimale persönliche Selbstentfaltung oder -verwirklichung als auch auf die sie schützenden normativen gesellschaftlichen Leitprinzipien wie Bildungschancen oder Menschenrechte. Sowie wir aber den Übergang vom antiken zum neuzeitlichen Glücksbegriff Revue passieren ließen, trat zutage, dass die hedonistische Lebensform im Zeichen eines privatisierten, durch faktische Neigungen bestimmten, episodischen, amoralischen und intentione recta verfolgten Glücks des Humanitätsgedankens spottet, demzufolge man erst durch Bildung, (Selbst-)Erziehung und gemeinsame Verständigung auf spezifisch menschliche Werte zum Menschen wird. Damit entzieht man nicht nur dem praktischen Diskurs zur Bestimmung menschenwürdigen Lebens seine Grundlage, sondern verzichtet im privaten Bereich auf jegliche objektiven oder intersubjektiven Kriterien eines gelingenden und erfüllten selbstbestimmten Lebens zugunsten von Naturzwecken. Je diffuser sich aber in der Folge unsere Vorstellungen eines privaten fun-Glücks oder eines erlebnisintensiven Lebens gestalten, desto mehr vermögen uns Werbung und Wellnessagenturen zu manipulieren, wodurch selbst die elementare menschliche Würde als Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, auf dem Spiel stünde. Der Mensch darf und soll sogar nach Glück streben und sich die Glücksfrage stellen, sofern er sie nicht als Aufruf zur Unterwerfung unter einen Naturzweck wie Lust oder Erleben missversteht, sondern sie im Zeichen einer »Verwesentlichung« des MenA

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schen zum Vernunftwesen an die diskursive Bestimmung eines wertvollen und menschenwürdigen Lebens als Zweck der Freiheit koppelt. Wenn also das neuzeitliche verinnerlichte Glück, von Kant anlässlich der genannten Signaturen und unliebsamen Konsequenzen verständlicherweise aus der philosophischen Ethik exterritorialisiert, um der Bestimmung eines humanen und ethisch qualifizierten Lebens willen wieder in diesen Einzug halten soll, dann nur im Durchgang durch den Filter einer kritischen Eudaimonologie! 108 Desiderat ist mithin eine Glückslehre, die sich in erster Linie »kritisch analysierend zu den wohlfeilen Glücksangeboten verhält, welche uns Werbeagenturen, (Ersatz-)Religionen und selbsternannte Seelenheiler aufdrängen« 109 . Die gegenwärtige Verfassung glücksphilosophischer Forschungstätigkeit, welche bisweilen an der Orientierungskompetenz von Philosophen überhaupt zweifeln lässt, krankt in meinen Augen primär am Defizit eines kritischen Engagements aus Angst, eines paternalistischen Angriffs auf die persönliche Freiheit bei der Glückssuche bezichtigt zu werden. Vorliegende Glückstheorie stellt sich demgegenüber explizit in den Rahmen einer normativ allgemeinen Ethik, die als Grundlage der praxisbezogenen Spezialdisziplinen wie Technik-, Medizin- oder Ökologieethik die Prinzipien eines für alle guten Lebens zu reflektieren und begründen trachtet. 110 Interessanterweise fallen gemäß der neueren historischen Glücksforschung die mit der Kommerzialisierung des Glücks zumeist einhergehenden Konjunkturen des Glücks häufig in eine Krisenzeit, in welcher ein allgemeiner Ruf nach der »Umschichtung von Wertvorstellungen« laut wird: sei es das Glücks-Hoch in den USA der 30er Jahre während der Wirtschaftskrisen und ihren Überwindungsversuchen (1), die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (2) oder die 70er/ 80er Jahre, die den heutigen Glücksboom »als Reaktion auf Dauerarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und atomare Bedrohung« initiierten (3). 111 Während Glück im Alltagsverständnis fälschlicher108 Will man nicht aufgrund einer »consideratio nominum« gemäß Biens Proposition »heute statt von Glück oder Glückseligkeit vielleicht eher von gelingendem und erfülltem Leben sprechen, von der Bewahrung von Identität, sowie der Vermeidung von Entfremdung, von Selbstaktualisierung und Selbsterfüllung als Mensch«, bedarf der verkommene Glücksbegriff einer gründlichen Revision. Vgl. Bien: Die Frage nach dem Glück, XVI. 109 Schummer: Glück und Ethik, S. 7. 110 Vgl. zum Aufgabenbereich einer normativen allgemeinen Ethik Annemarie Pieper/ Urs Thurnherr: Angewandte Ethik, S. 10. 111 Ebd., S. 65.

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weise meist auf ein höchst positives subjektives Wohlbefinden, also auf seine emotionale Komponente restringiert wird, legt eine philosophisch-psychologische Strukturanalyse die jedes Glücksgefühl konstituierende Wertkomponente zutage, so dass sich Glück als ein wesentlich wertendes, die subjektive Ebene immer schon transzendierendes Konzept erweist (vgl. Kapitel 3.2). Meine Studie plädiert daher für einen »reflexiven Eudaimonismus« 112 , der dem Menschen hilft, sein Glück kriteriell zu bestimmen und in Bezug auf konventionelle oder innovative, in einer gesellschaftlichen Krisenzeit »umgeschichtete« Wertmuster zu rechtfertigen, damit der im emphatischen Sinne Freie und Würdige auch tatsächlich einen Grund zum Glücklichsein hat. Gemäß dem Motto: »Glück benötigt Hintergründe. Glückshintergründe sind aber nicht Glücksprogramme.« 113 Das Glück als ein solches »wertendes Konzept« steht eindeutig immer in einem materiellen, sozialen und gesellschaftlichen Kontext, der neben den biographischen Voraussetzungen wie Persönlichkeitsmerkmalen, Bedürfnissen oder Zielen des Individuums einen ebenso großen Einfluss auf unseren Glückszustand ausübt (vgl. Kapitel 4.2 und 6.2). Wenn man sich als Glücksphilosoph weder »Vernachlässigung der gesellschaftlichen Ebene« noch »Relativierung von Freiheit und Autonomie« im Zuge eines »neue[n] Irrationalismus (Spiritualismus, Esoterik, Astrologie)« 114 zuschulde kommen lassen will, müssen als gegenwärtige Grundlagen des Glücks daher die postmodernistische Auflösung des Subjekts der Identität in perpetuierende ästhetische Selbsttransformationen jenseits jeder Wertbindung sowie die konkurrierenden, z. T. angeblich posthistorischen Gesellschaftsbilder einer Prüfung unterzogen werden. Da es für die Begründung unseres Glücks und die Elimination von Unsicherheit und Enttäuschung augenscheinlich nicht ausreicht, auf irgendwelche kollektiven »alltagsästhetischen Schemata« zu rekurrieren, 115 gilt es, so112 Als solchen deklariert auch Seel seinen Versuch über die Form des Glücks (ebd., S. 10). 113 Gertrud Höhler: Das Glück, S. 69. 114 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 9: Es handelt sich um eine Kritik der »›New Age‹-Bewegung, die uns heute ein optimistisches Zukunftsbild verkaufen will«, selbst an eine grundlegende Gesellschaftskritik anknüpfend, »jedoch ohne gesellschaftliche Konsequenzen daraus zu ziehen« (ebd.). 115 Vgl. zur kollektiven Schematisierung ästhetischen Erlebens Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 103 f. und meine kritische Bestandesaufnahme in: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Kapitel 5.2.

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wohl dem sozialen und wertgebundenen Charakter unserer Identität als auch den Ressourcen und Verteilungsschlüsseln von allgemeinen Glücksgütern, den objektiven gesellschaftlichen und natürlichen Grundlagen unseres Glücksstrebens Rechnung zu tragen. Eine normative Glücksphilosophie, bemüht um ein begründetes, verantwortungsvolles Glück des einzelnen, muss also nicht nur kritisch sein gegenüber den vorherrschenden kulturellen Glücksvorstellungen, sondern als eine integrative sich ein Bild zu machen suchen von dem ihnen zugrundeliegenden Subjekt-, Menschen- und Gesellschaftsverständnis, von lebensweltlichen Sinnzusammenhängen, Zielordnungen und Risiken, um vom Ganzen menschlichen Lebens wenigstens eine Ahnung zu haben. Meine glücksphilosophische Studie hat sich somit zum Ziel gesetzt, eine normative Ethik auf dem Fundament einer kritischen Analyse von Subjekttheorie, Anthropologie und Sozialwissenschaft zu entwerfen, was eine gewisse Weitläufigkeit bedingt. Mit dem inhaltlichen Anspruch auf systematische Integration verbinden sich die beiden methodologischen Weisungen, in einem hohen Maße zu generalisieren, d. h. »von sehr generellen Grundbegriffen und einer überschaubaren Zahl von Mustern und Modellen« auszugehen, 116 und zu formalisieren, ohne sich wie eine Großzahl der gegenwärtigen Glückstheoretiker in formalistischen Leerformeln und abstrakten Meta-Metadiskursen zu verlieren. Ziel soll keine formale Theorie sein entsprechend Seels Versuch, das Glück fern aller anthropologischer und historisch-kultureller Gegebenheiten »nicht primär über das Wonach, sondern über das Wie des Strebens nach dem Glück zu fassen«, um aus diesem Wie auf unerklärliche Weise Bedingungen und Inhalte glücklichen Lebens abzuleiten. 117 Andererseits kann aber eine theoretische Abhandlung nie116 Vgl. Krämer: »Die ethische Theorie muss von sehr generellen Grundbegriffen und einer überschaubaren Zahl von Mustern und Modellen ausgehen, um die Praxis regulierend in den Griff zu bekommen. Sie muss dafür relativ hoch generalisieren, höher als die ältere Ethik es für nötig und möglich hielt.« (Krämer: Integrative Ethik, S. 131) 117 Vgl. Seel: Versuch über die Form, S. 51. Obgleich Seel konzediert, eine »rein formale Analyse des Glücks wäre einigermaßen absurd« (ebd.), scheint mir methodisch gesehen obskur, wie man von einer Bestimmung des Wie des Glücksstrebens »in der Konsequenz durchaus auch zu nicht-formalen Bestimmungen gelangen« soll, wieso also aus dem formalen Glücksbegriff gerade die drei materialen Bedingungen (Sicherheit, Gesundheit, Freiheit, vgl. S. 83 ff.) und die vier inhaltlichen Dimensionen Arbeit, Interaktion, Spiel und Betrachtung (S. 138–169) logisch ableitbar sein sollen. Da zudem sämtliche antiken Autoren »eine (mehr oder weniger) formal zu charakterisierende Struktur des

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mals nach Art der Philosophischen Praktikern konkrete, personenund situationsbezogene Orientierungshilfe in Sachen Glück leisten. Formal und generalisierend hat eine Glücksphilosophie vielmehr in dem Sinne zu sein, dass sie den historisch-kulturellen Fundus an (z. T. revitalisierten) Glücksmodellen, kollektiven Wertmustern, anthropologischen und soziologischen Erkenntnissen in einem überschaubaren abstraktiven Zusammenhang präsentiert, sich im einzelnen auf exemplarische Illustrationen beschränkend, damit das individuelle Glück kraft eines reflektierteren Selbst- und Weltverhältnisses wieder einen Grund gewinnt. Wenn das in weite Bereiche ausgreifende glückslogische Forschungsfeld gesichtet werden soll, ohne dass man sich erneut auf irgendwelchen Feld- oder Holzwegen verliert, muss einerseits die partielle historische Darstellung von epochenspezifischen Glückstheorien einer kontrastiven Herauskristallisierung der Grundstrukturen der jeweiligen Positionen, andererseits die Typologie des Glücks einer Gesamtsystematik weichen. Zum Schutz von Freiheit und Würde des einzelnen kann freilich eine normative Glücksethik prinzipiell »keinen vorschreibenden, sondern allenfalls einen empfehlenden oder beratenden Charakter« 118 annehmen. Nicht ohne Grund wird die Stagnation der Glücksforschung bisweilen der inadäquaten Methode, nämlich einer unzureichenden oder gänzlich fehlenden »Verschränkung von theoretischer und empirischer Analyse« zu Lasten gelegt, weil einerseits empirische Untersuchungen den Zufälligkeiten und subjektiven Schwankungen individueller Glücksbegriffe ausgesetzt sind, ohne diese erklären zu können, andererseits »die meisten nicht-empirischen Analysen schnell den Bezug zu konkretem menschlichem Denken, Fühlen und Handeln« verlieren. 119 Gleichwohl verhärten sich die Fronten zwischen glücksinteressierten Kultur- und Naturwissenschaftlern in steigendem Maße: Die Philosophen zum einen machen den empirisch arbeitenden Psychologen und Soziologen speziell den »Mangel an einer philosophisch-anthropologischen Integrationsarbeit«, allgemein das niedrige Reflexionsniveau beim Datensammeln zum VorLebens« konzipieren, zu der alles andere nur Erläuterungen darstellte (S. 77), müsste wohl jede philosophische Reflexion über das »gute Leben« als »formal« gelten – weshalb Seel vielleicht besser Habermas’ Vorschlag gefolgt wäre, statt von einem »formalen« von einem »minimalen« Glücksbegriff zu sprechen (vgl. ders.: Wege einer Philosophie des Glücks, S. 123). 118 Schummer: Glück und Ethik, S. 14. 119 Vgl. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 63. A

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wurf, wodurch sie zu hilf- und erklärungslosen Sklaven zufälliger subjektiver Schwankungen individueller Glücksbegriffe mutierten: »Angewandte Glücksphilosphie scheint heute eine Domäne der Psychotherapie geworden zu sein, an der nicht so sehr der mangelnde Schutz der Berufsbezeichnung, sondern die mangelnde Klarheit einer philosophisch-anthropologischen Fundierung zu beklagen ist. Man mag es als im schlechten Sinne ›philosophisch‹ bezeichnen, dass sich Schulen und Moden um den Alleinerklärungsanspruch streiten, ob menschliches Glück etwa libido-ökonomisch, sozial, kognitiv, hormonell, genetisch oder außerirdisch determiniert ist. Deutlich ist jedenfalls der Mangel an einer philosophisch-anthropologischen Integrationsarbeit; und dies gilt auch und gerade angesichts der Flut empirischen Materials, das Sozialwissenschaftler und Psychologen in den letzten Jahrzehnten aus Befragungen zusammengetragen haben.« 120

Vice versa verlieren sich Philosophen, Literaten und Theologen in den Augen der Empiriker im nichtssagenden Metaphernmeer ohne jeden Bezug zum konkreten menschlichen Dasein. Da es seit jeher zur »kritischen Aufgabe der Philosophie gehört […], darüber zu wachen, dass nicht das phainomenon mit dem noumenon verwechselt werde, dass nicht die Bedingungen und Erscheinungsformen des guten Lebens als dieses selbst gesetzt werden«, 121 wäre es sicherlich schlechterdings widersinnig, von einem Glücksphilosophen zu verlangen, zum Zwecke empirischer Befragungen über die persönlichen Glückseinschätzungen mit dem Mikrophon auf die Gassen zu gehen! »Wer nicht Theorie, Forschung und Methoden in einem Kopf vereinen kann, versteht wenig oder nichts«, lautet demgegenüber Schulzes apodiktisches Verdikt, der die »intellektuelle Arbeitsteilung« als eine »wissenssoziologisch unhaltbare Hoffnung« diskreditiert. 122 In Anbetracht der ausufernden Flut empirischen Materials, dem eskalierenden verfahrenstechnischen Methodenreichtum und einer kaum mehr zu überblickenden Fülle immer differenzierterer und spezialistischerer theoretischer Perspektiven scheint mir eine arbeitsteilige Kooperation der Wissenschaftsressorts aber unabdingbar zu sein. Für eine dezidiert kritisch-normative Glücksphilosophie wie die vorliegende werden allerdings als empirische Bezugspunkte gar nicht Schummer: Glück und Ethik, S. 8. Bien: Die Frage, XIII. 122 Vgl. Schulze, der zwar die innerdisziplinäre Lage der Soziologie attackiert, die sich aber, wie mir scheint, analog auf die gesamte interdisziplinäre Lage übertragen lässt, in: Die Erlebnisgesellschaft, S. 561. 120 121

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primär Statistiken zu individuellen Glücksvorstellungen oder gesellschaftlichen Glücksniveaus relevant sein, als vielmehr einzelwissenschaftliche Studien der Persönlichkeits-, Motivations- und Emotionspsychologie, der soziologischen Rollen- und Gesellschaftstheorie zum gründlicheren Verständnis der mannigfaltigen Komponenten und Hintergründe des Glücksphänomens. Vereitelt wird eine ausgereifte Glückstheorie meines Erachtens nicht durch die ausgebliebene Synthese von theoretischer und empirischer Analyse in einem Kopf, sondern durch die mangelnde interdisziplinäre Integrationsarbeit infolge innerakademischer Barrieren, welche den Blick über die eigenen Fachgrenzen hinaus auf das terminologisch wie konzeptuell äußerst heterogene eudaimonologische Forschungsfeld verwehren. Genauso, wie ich bei meinem Versuch über das Glück hinsichtlich der Frontverhärtung zwischen Empirikern und Hermeneutikern zwar grundsätzlich textkritisch-hermeneutisch arbeite, ohne aber auf fundierte Ergebnisse empirischer Einzelstudien zu Mensch und Gesellschaft zu verzichten, plädiere ich daher im Zuge grassierender Zersplitterung bzw. Ausdifferenzierung des Wissenssystems in immer engstirnigere Disziplinen gegen eine disziplinäre Arbeitsteilung und für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit – die immer »im eigenen Kopf anfangen muss« 123 ! Es tut meines Ermessens Not, dem Wahn vieler auf den Glücksboom setzender Philosophen einen Riegel vorzuschieben, demzufolge man nach allzu langer Verbannung des Glücks aus dem philosophischen Diskurs und der leichtsinnigen Vergabe der Glücks-Kompetenz an die von der Philosophie emanzipierte Psychologie und eine popularistische Lebensberatung endlich die Glücksfrage wieder ganz zugunsten der eigenen Fakultät zurückzuerobern habe. »Wenn die Weltgesundheitsorganisation vor einigen Jahren Gesundheit definierte als Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens bei gleichzeitiger Fähigkeit, ein normales Maß von Beanspruchung zu verkraften, so haben wir es hier offenkundig mit einem Äquivalent der Glückseligkeit zu tun. Dass diese aber künftig in Kliniken hergestellt und durch Krankenkassen finanziert werden soll, ist doch wohl eine gespenstische Vorstellung«, warnt Spaemann: »Aber dahin kommt es, wenn die Philosophie ihre Themen verkommen lässt. Irgend jemand reklamiert dann die Zuständigkeit.« 124 123 124

Jürgen Mittelstrass: Die Stunde der Interdisziplinarität?, S. 157. Robert Spaemann: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, S. 16 f. A

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Da uns die meisten Kernprobleme unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation keineswegs »den Gefallen [tun], sich als Probleme für disziplinäre Spezialisten zu definieren«, so dass Spezialisierung um jeden Preis mit Wirklichkeitsverlust bezahlt werden muss, 125 gilt es vielmehr, in gemeinsamer Anstrengung die überfachlichen Problemverflechtungen zutage zu fördern, damit man sich vor deren Hintergrund der kollektiven Frage stellen kann: »Was wollen wir eigentlich?«. 126 Die konkretere Frage aus der Individualperspektive: »Was ist Glück?« stellt zweifellos ein interdisziplinäres Traktandum ersten Ranges dar mit zahllosen Vernetzungsproblemen – wie sich beispielsweise »die Erhöhung der Anzahl von Telephonen, Autobahnkilometern und Zahnärzten pro 1000 Einwohnern a) zu deren ›psychologischem Wohlbefinden‹ und b) zu deren Lebensglück verhält.« 127 Besonders delikat gestaltet sich indes gerade das disziplinäre Verhältnis von Philosophie und Psychologie, den beiden prominentesten Pionieren der wissenschaftlichen Glücksrenaissance: Seitens der Philosophen scheinen zwar die philosophischen Praktiker, welche eingedenk der mustergültigen Maieutik des Sokrates die orientierungsinkompetent gewordene universitäre Philosophie mutig aus ihrem »akademischen Getto« 128 zu befreien ansetzen, gegenüber einer interdisziplinären Integrationsarbeit vergleichsweise aufgeschlossen. Auch hier irritieren aber beim Konkurrenzkampf der sich zu behaupten strebenden philosophischen Praxen mit den bereits etablierten psychologischen allzu oft pauschale Klassifikationen wie »philosophisches Orientierungswissen« versus »psychologisches Verfügungswissen« oder die generalisierenden Vorwürfe mangelnder Zielreflexion, 129 welche einer erstrebten »umfassende[n] Zusammenarbeit zwischen dem Psychologen und dem Philosophen« 130 zur individuellen Glücksförderung kaum dienlich sein dürften. Doch synchron moniert man – was den Praktikern seltsamerweise entgangen sein muss – seitens der Psychologen längst in den eigenen Reihen die sich verschärfende Kluft zwischen einer immensen DaVgl. Mittelstraß: Die Stunde der Interdisziplinarität?, S. 154 f. Vgl. Schulze: Das Projekt des schönen Lebens, S. 36. 127 Bien: Die Philosophie und die Frage, XIII. 128 Vgl. Urs Thurnherr im Rekurs auf einen Ausdruck Gerd Achenbachs, in: Was ist philosophische Praxis?, S. 157. 129 Vgl. ders.: Philosophische Praxis, S. 364 f. 130 Ders.: Was ist philosophische Praxis?, S. 164. 125 126

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tenflut, erhoben bei perspektivenverkürzenden, quantifizierenden Laborexperimenten und der kümmerlichen philosophisch-weltanschaulichen theoretischen Reflexionsarbeit: 131 In Opposition gegen einen szientistischen Datenfetischismus reklamiert man eine »philosophisch orientierte Psychologie«, erkennend, dass Psychologie im Grunde »weder von der Philosophie und Ethik, noch von der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften getrennt werden« kann. 132 Insbesondere unter den sich mit dem Attribut »humanistisch« schmückenden Psychologen wurde dem naturwissenschaftlichen »Objektivismus der Psychologie«, d. h. dem Nihilismus des »Nichts-als«, der den Menschen vom »in die Welt hinein agierenden Homo humanus« zu einem »auf die Reize reagierenden oder Triebe abreagierenden Homunculus« reduziert und ihn somit als »Nichts als« Opfer der Verhältnisse bzw. unbewusster Triebe entlarvt, längst der Krieg erklärt. 133 Solange nicht wie aus humanistischer Warte »der ganze Mensch als handelndes Subjekt betrachtet wird, als biologisches, psychisches und soziales Wesen«, 134 sondern das Glück als isoliertes subjektives Wohlgefühl eines angepasst reagierenden Homunculus missinterpretiert wird, sind wir von einem begründeten Glück noch weit entfernt. Bei beiden an der gegenwärtigen Renaissance der Frage nach dem guten und glücklichen Leben an vorderster Front mitbeteiligten Disziplinen lässt sich meines Erachtens eine klare Abkehrtendenz vom positivistisch-technischen, sich an den Methoden und dem Spezialistentum der exakten Naturwissenschaften orientierenden Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts erkennen: Wie die Philosophie, heute gern reduziert auf eine Meta-Klärungsinstanz von Begriffen oder einen Zweig der Philologie, bisweilen mit einem zaghaften sozialen und öffentlichen Engagement aus ihrem Elfenbein131 Vgl. etwa Aleksej Leontjev: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, S. 9 ff. oder Abraham Maslow: Motivation und Persönlichkeit, S. 10 f., wo Maslow die Notwendigkeit einer Berücksichtigung »der Lebenssituation des totalen Menschwesens in seiner sozialen Umgebung« fordert anstelle bloßer Laborexperimente. 132 Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 9. 133 Vgl. Viktor Frankl: Die Sinnfrage in der Psychotherapie, S. 46 f. 134 So lautet das Basis-Manifest der humanistischen Psychologie: »Der Mensch als Ganzheit, d. h. die wechselseitige Bezogenheit aller psychischen (kognitive, emotionale, somatische) Prozesse aufeinander und die Einheit des Menschen mit seiner für ihn bedeutungsvollen Umgebung werden daher zum Ausgangspunkt der Forschung gemacht.« (Ulrich Völker: Grundlagen der humanistischen Psychologie, S. 20)

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turm auszubrechen wagt, 135 verschwören sich kritische und humanistische Psychologen vermehrt gegen eine reduktionistische naturwissenschaftliche Psychologie, die den Menschen zum Objekt und die Welt zu einem bloßen Kausalmechanismus degradiert. Unter Philosophen wie Psychologen ist man sich dann trotz aller disziplinärer Befehdungsrelikte in der kritischen Diagnose einig, dass »die Humanwissenschaften an das eigentliche Humanum noch gar nicht herangekommen« 136 sind; dass eine Subjekt und Welt zu kausal funktionierenden Maschinen mit allenfalls technischen Problemen nach Art eines gescheiterten Glückskulissen-Arrangements ummünzende Forschung nie mehr zeigen kann, als »wie wenig damit getan ist, dass diese Probleme gelöst sind« 137 . Um Verbesserungen zu erzielen hinsichtlich menschenwürdiger Lebensverhältnisse oder einer beglückenden individuellen Praxis, muss das Monopol eines naturwissenschaftlich-technischen Welt- und Selbstverständnisses gebrochen werden, weil es verheerend geworden ist, sich auf eine singuläre Perspektive spezialisierend zu versteifen und ein mehrdimensionales Problem mit einem kausalmechanisch-technischen zu verwechseln. Gefahndet wird infolgedessen von verschiedenen disziplinären Richtungen aus nach einer in unmittelbarer Beziehung zu den komplexen welthaften Prozessen stehenden »Lebenswissenschaft« 138 mit dem speziellen Wunsch, »in einer Wissenschaft vom Menschen das Gesamtgeschehen des menschlichen Lebens auf gewisse Grundnenner zu bringen, durch die sich ein durchdringendes Verständnis aller Zusammenhänge gewinnen ließe.« 139 Erst nach der Überwindung der gängigen »fraktionierenden Betrachtungsweise des Menschen in Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin und Soziologie« 140 zu135 Vgl. Hans Lenk/Matthias Marings Appell in: Wirtschaftsethik und Technikethik aus interdisziplinärer Sicht, S. 79 f.: »Ein neues soziales und öffentliches Engagement der Philosophie ist nötig, eine neue pragmatische Philosophie, eine praxisnahe Philosophie der lebenspraktischen Fragen, einschließlich der gesellschaftlichen und der durch die Wissenschaften und durch soziotechnische sowie ökonomische und ökologische Umstände gegebenen Probleme.« 136 Frankl: Die Sinnfrage, S. 47. 137 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Vorwort. 138 Alfred Adler: Lebenskenntnis, S. 13, im expliziten Anschluss an William James. 139 Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, S. 11. 140 »Wesentlich bleibt die durchgehende Tendenz nach einer Überwindung der fraktionierenden Betrachtungsweise des Menschen in Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin und Soziologie, jener Betrachtungsweise, die zwar nicht immer in der neuzeitlichen Wissenschaft geherrscht hat, aber stets wieder zur Herrschaft gelangte, und für

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gunsten eines ganzheitlichen Menschenbildes gewinnt eine praxisorientierte kritische Glückslehre, die per se »wesentlich Anthropologie« ist, 141 ein sicheres Fundament. Fassen wir zusammen: Nachdem sich Glück sowohl als »wertendes« wie auch als »relationales Konzept« zwischen einem bewusst in die Welt hinein agierenden Menschen und einem materiellen und politisch-sozialen Kontext entpuppte, darf weder die gesellschaftlichkulturelle noch auch die ethisch-werthafte Dimension länger aus dem Glücksdiskurs eliminiert werden. »Glück« kann in seiner ganzen Komplexität grundsätzlich nicht durch Differenzierung, sondern allenfalls noch – im Zeichen einer »integrativen Ethik« (Krämer) 142 – dank Integration philosophischer, psychologischer und soziologischer Forschungsergebnisse phänomenologisch erfasst und kritisch taxiert werden. Ziel vorliegenden »Grundrisses einer integrativen Lebenswissenschaft« ist dabei keinesfalls, den Leser mit absoluten Erkenntnissen und unfehlbaren praktischen Anleitungen zu beruhigen, sondern ihn zum Hinterfragen übernommener Glücksmodelle und zur Mitarbeit an einem zukünftigen humanen Glückskonzept zu animieren. Die Gliederung folgt einigen charakteristischen Forschungsperspektiven bzw. Zugangsweisen zum Glücksphänomen, die im Schlusskapitel 7 miteinander verflochten werden: 2. Kapitel: In einer historisch-soziologischen Herangehensweise an das Glücksphänomen soll zunächst der weltanschauliche gesellschaftliche Horizont unseres scheinbar privaten Glücks manifest werden. Anhand von zwei »logischen Ordnungsprinzipien«, den Prinzipien fortschreitender Technisierung (Kapitel 2.1) und Ästhetisierung (Kapitel 2.2) werden Verschiebungen im soziokulturellen Glücksverständnis in der abendländischen Geschichte nachgezeichnet. 3. Kapitel: Nachdem die gesellschaftlich-kulturelle Einbindung des Glücksphänomens zutage trat, darf eine profunde sprachanalytisch-hermeneutische Anstrengung nicht länger aufgeschoben

die Descartes das Stichwort gab; die den Menschen spezialistisch vergegenständlichte und über dieser Aufteilung in Seinsgebiete die Lebenseinheit aus den Augen verlor …« (Helmut Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 37) 141 Zirfas: Präsenz und Ewigkeit, S. 16. Vgl. dazu Kapitel 5, »Anthropologie des Glücks«. 142 Vgl. Krämers Programmentwurf in: Integrative Ethik, insbes. S. 93 und S. 99 sowie Kapitel 6.2. A

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werden. Ausgehend von der Frage, ob sich das Glück nur ex negativo als Vermeidung von Unglück, oder positiv als gelingendes WeltSelbst-Verhältnis fassen lasse (Kapitel 3.1), werden wir uns anlässlich der Alternative, ob Glück gattungsmäßig – entsprechend dem definitionstheoretischen »genus proximum« – eher ein Gefühl oder Urteil sei, immer stärker auf emotionspsychologisches Terrain wagen müssen (Kapitel 3.2). 4. Kapitel: Grundsätzlich hat sich die Glücksforschung über die Fachgrenzen hinweg in zwei entgegengesetzte Lager gespalten: Während die Glückssubjektivisten postulieren, nur im Rekurs auf individuelle Gefühle, Neigungen oder Wünsche könne der einzelne sich als »glücklich« oder »unglücklich« einstufen (Kapitel 4.1), gibt es für Glücksobjektivisten von außen feststellbare Glücksgüter, die ein glückliches Leben weitgehend garantieren (Kapitel 4.2). Exemplarisch werden im glückssubjektivistischen Teilkapitel der Hedonismus und die Wunschtheorie des Glücks präsentiert, im glücksobjektivistischen das Glück mit den soziologischen Konzepten Lebensstandard oder -qualität in einen Zusammenhang gebracht. 5. Kapitel: Wenn ich wissen will, was das Glück des Menschen ist, muss ich zweifellos wissen, was der Mensch ist, weil die Idee des Glücks im Einklang steht mit der Idee des Menschen, so dass ein Mensch – aus teleologischer Sicht – nur glücklich wird, wenn er die spezifisch an Menschen zu achtenden Fähigkeiten und Anlagen entfaltet. Auf einer formalanthropologischen Ebene wird grundsätzlich geklärt, wie der unter Finalisierungszwang stehende Mensch am vorteilhaftesten seine Lebensziele wählt und in einem umgreifenden Sinnentwurf integriert (Kapitel 5.1), um daraufhin nach konkreten förderungswürdigen menschlichen Anlagen, Bedürfnissen und Fähigkeiten zu fahnden (Kapitel 5.2). 6. Kapitel: Nachdem man im nachmetaphysischen Zeitalter keine vorgegebenen Pflichten und Aufgaben mehr zu erfüllen hat und man als schätzenswertestes wesenseigenes Merkmal die Freiheit zu preisen pflegt, wird das menschliche Glück immer häufiger an ein Selbst-Sein, an Selbst-Erfüllung oder Selbst-Verwirklichung gekoppelt. Beim Studium entsprechender Konzepte wächst der Verdacht, dass sich auch das Selbstverwirklichungs-Glück nur in einem gelingenden Welt-Selbst-Verhältnis und in Bezug auf allgemein anerkannte Werte realisieren lässt (Kapitel 6.1), den es mittels einer Verhältnisbestimmung zwischen Glück und Moral bzw. Glück und Politik zu erhärten gilt (Kapitel 6.2). 48

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Für die großartige Unterstützung und liebevolle Begleitung dieses umfassenden Forschungsprojektes möchte ich an dieser Stelle Frau Prof. Annemarie Pieper und Herrn Dr. Andreas Sommer ganz herzlich danken.

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Nachdem wir in der Einleitung kritische Distanz suchten zum postmodernen Streben nach einem privatistisch-hedonistischen Glück episodischer Hochgefühle, soll in diesem soziologisch ausgerichteten Kapitel der gesellschaftliche Kontext, der kollektive weltanschauliche Horizont solchen Glücksstrebens bis zu seinen historischen Wurzeln zurückverfolgt werden. Es soll auf diesem historischen eudaimonologischen Streifzug grundsätzlich deutlich werden, dass Glück, unsere Glücksvorstellungen und -erwartungen »auf vielfältige Weise sozial vermittelt« sind. 1 Unter Berücksichtigung der Differenz von beobachtbaren Fakten und logisch-begrifflichen Relationen kann es in Ansehung einer bestimmten konkreten Gesellschaft als hochkomplexem Gefüge vielfältigster Beziehungen dabei nicht Ziel sein, sämtliche »sozialen Phänomene« zu registrieren, »auf die man gewissermaßen mit dem Finger zeigen und von denen man sagen kann, wo sie beginnen und wo sie enden«, 2 um ihre Bedeutung für das jeweils vorherrschende soziokulturelle Glücksverständnis zu reflektieren. Zu ermitteln gilt es vielmehr eine diesen vielfältigen sichtbaren oder mentalen Phänomenen zugrundeliegende »logische Ordnung« mit einem »logischen Ordnungsprinzip« oder »axialen Prinzip«, welches in Daniel Bells Worten als »konzeptuelles Schema weder wahr noch falsch [ist], sondern nützlich oder nicht« 3 . Da man es im Zuge eskaDies zeigt sich nicht allein bei der diachronen Betrachtung verschiedener kultureller Glücksvorstellungen, sondern auch beim kulturanthropologischen Quervergleich. »Die Einstellung des modernen Menschen zum Glück zeigt eine charakteristische Ambivalenz: jedes Glückserlebnis wird durch einen rein subjektiven Zustand mehr oder weniger vollkommener Wunschlosigkeit gekennzeichnet und ist deshalb ein rein psychologisches Phänomen. Andererseits besteht aber auch recht weitgehende Übereinstimmung darüber, welchen Inhalt Glückserlebnisse in unserer Gesellschaft haben können, auf welche Weise sie erreicht werden und wodurch sie symbolhaft erkennbar sind. Glück ist also offensichtlich doch keine ganz persönliche Angelegenheit des einzelnen, sondern auf vielfältige Weise sozial vermittelt.« (Friedrich Fürstenberg: Soziale Muster der Realisierung der Glückserwartungen, S. 58) 2 Emile Durkheim: Der Selbstmord, S. 18. 3 Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, S. 27. 1

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lierender Komplexitätssteigerung und funktionaler Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft zu Recht als unzulänglich verwarf, wie Karl Marx monokausale Prinzipien einer einseitigen Abhängigkeit von Basis und Überbau – oder auch deren Wechselwirkung – zu statuieren, zieht man es heute vor, nach Art der Systemtheoretiker alles in heterogene, mannigfach korrelierende Subsysteme aufzulösen. Welches wäre aber, um uns nicht im Konglomerat korrelierender Kräfte zu verlieren, im Rahmen des historisch-soziologischen Teilkapitels einer kritischen Glücksphilosophie mit der Aufgabe, die Genese der gegenwärtigen Glücksvorstellungen nachzuzeichnen, die nützlichste logische Ordnung, das erklärungsmächtigste axiale Prinzip? 4 Ohne auch nur im entferntesten den Anspruch zu erheben, im Folgenden eine innovative und eigenständige soziologische Theorie zu entwerfen, werde ich versuchen, Max Webers axiales Prinzip der einseitig-instrumentellen Rationalisierung und rationalen Technisierung mit Gerhard Schulzes Prinzip der ausschließlich ästhetisch-hedonistischen Erlebnis- und Innenorientierung so zu verknüpfen, dass die Konjunktion für die dominierende Glücksvorstellung unserer Gesellschaft erhellend sein dürfte. Damit ergibt sich eine gewisse Analogie zu Bells Aufweis einer gegenwärtigen »Spaltung der Gesellschaftsstruktur«, 5 wobei ich diese aber nicht an Bells drei gesellschaftliche Dimensionen der »sozialen Struktur«, »politischen Ordnung« und »Kultur« kopple, 6 sondern mich an Jürgen Habermas’ Dichotomie von »System« und »Lebenswelt« halte. Habermas’ irreführende Rede von verschiedenen Perspektiven auf die Gesellschaft, nämlich bezüglich der Lebenswelt die Teilnehmerperspektive handelnder Subjekte, betreffs des Systems die Beobachterperspektive eines Unbeteiligten, 7 versuche ich allerdings zu vermeiden. Denn Die Nützlichkeit, d. h. der Erklärungswert einer logischen Ordnung hängt, wie Bell trefflich klarlegt, von der Art der Fragestellung ab (vgl. ebd., S. 28). 5 Vgl. ebd., S. 363 oder ders.: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, S. 25. 6 »Versucht man eine Gesellschaft zu analysieren, so lassen sich drei Bereiche gegeneinander absetzen: die soziologische Struktur, die politische Ordnung und die Kultur. Die soziologische Struktur umfasst Wirtschaft, Technologie und Berufsgliederung, die politische Ordnung regelt die Machtverteilung und entscheidet zwischen den widerstreitenden Ansprüchen und Forderungen von einzelnen und Gruppen, und der kulturelle Sektor schließlich kann als Bereich der expressiven Symbole und der Sinngebung bezeichnet werden.« (ders.: NG, S. 30) 7 Während »Gesellschaft aus der Teilnehmerperspektive handelnder Subjekte als Lebenswelt einer sozialen Gruppe konzipiert« wird, kann sie andererseits »aus der Beob4

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sie suggeriert, es werde beide Male dasselbe Phänomen ins Visier genommen, wodurch die noch ins Bild zu setzende »Entkoppelung« von »System« und »Lebenswelt« strenggenommen vereitelt wäre. Den der Spätphilosophie Edmund Husserls entnommenen, von Alfred Schütz in den soziologischen Diskurs introduzierten Begriff »Lebenswelt« bestimmt Habermas als »Korrelat zu Verständigungsprozessen«, d. h. als Horizont »aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen«, aus »überlieferten Deutungs-, Wert- und Ausdrucksschemata«, den wir bei jeder Verständigung immer schon voraussetzen, und der uns Sinn und Sicherheit in alltagsweltlichen Zusammenhängen verleiht. 8 Hingegen bezeichnet der in der Systemtheorie Niklas Luhmanns beheimatete »System«-Begriff »funktionale Zusammenhänge«, die von den Handelnden »nicht intendiert sind und innerhalb des Horizonts der Alltagspraxis meistens auch nicht wahrgenommen werden«, sondern im Dienst allgemeiner ökonomischer oder administrativer Zwecke stehen. 9 Legt man den Akzent auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Integrationsformen von »System« und »Lebenswelt«, manifestieren sich deutliche Parallelen zu Bells drei sozialen Dimensionen. Werden bei systemischer Integration über nicht-normative, rein funktionale Steuerungsmechanismen die Handlungsfolgen stabilisiert, sollen bei lebensweltlicher über kommunikative, auf einen normativen Konsens abzielende Verständigung die Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander abgestimmt werden, wobei gelte: »In kapitalistischen Gesellschaften ist der Markt das wichtigste Beispiel für eine normfreie Regelung von Kooperationszusammenhängen. Der Markt gehört zu den systemischen Mechanismen, die nicht-intendierte Handlungszusammenhänge über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stabilisieren, während der Mechanismus der Verständigung die Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander abstimmt. Deshalb habe ich vorgeschlagen, zwischen Sozial- und Systemintegration zu unterscheiden: die eine setzt an den Handlungsorientierungen an, durch die die andere hindurchgreift. Im einen Fall wird das Handlungssystem durch einen, sei es norachterperspektive eines Unbeteiligten nur als ein System von Handlungen begriffen werden, wobei diesen Handlungen, je nach ihrem Beitrag zur Erhaltung des Systembestandes, ein funktionaler Stellenwert zukommt.« (Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 179) 8 Ebd., Bd. 1, S. 107 und Bd. 2, S. 224 f. 9 Vgl. ebd., S. 226.

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mativ gesicherten oder kommunikativ erzielten Konsens, im anderen Fall durch die nicht-normative Steuerung von subjektiv unkoordinierten Einzelentscheidungen integriert.« 10

Desgleichen regelt laut Bell die »soziale Struktur« bzw. »techno-ökonomische Ordnung« im Zeichen einer funktionalen Rationalität den sozialen Austausch als »Beziehung zwischen Rollen«, 11 wohingegen die lebensweltlich-kulturellen Integrationsformen der Kunst, Religion und Wissenschaft »den Sinn der menschlichen Existenz zu erforschen und artikulieren« 12 suchen mit dem Ziel eines gemeinsamen Welt- und Selbstverständnisses. Die »politische Ordnung« als Zwitter zwischen System und Lebenswelt halte zwar »formal an Gleichheit und Partizipation« fest, indem aber die »administrativen Elemente der politischen Ordnung […] technokratischer Natur sein [können], und da die Probleme immer technischer werden, besteht auch eine Tendenz zur Ausweitung technokratischer Verhaltensweisen«. 13 Nicht nur in der Politik wird indes ein zunehmender Hang zum Systemisch-Technischen und Instrumentellen gemäß unserem ersten axialen Prinzip konstatiert, sondern seit Weber sind die modernen Schlüsselbegriffe der »Entzauberung« und »Rationalisierung« unserer natürlichen und sozialen Welt in aller Munde, welche generell eine systemisch-zweckrationale Kontrolle und Steuerung aller natürlichen und sozialer Vorgänge benennen: 14 Sich ausschließlich auf mathematisch-naturwissenschaftliche Theorien stützend, welche die Gesetzmäßigkeiten der Natur in hypothetisch-experimentellen, eindimensionalen Verfahren aufzudecken und zu fixieren trachten, verbannt man Schritt für Schritt gemeinsame Werte und sinnstiftende Orientierungsmuster als obsolet aus der öffentlichen Welt. Habermas warnt daher ultimativ vor der Gefahr der »Kolonialisierung« Ebd. Bell: KWK, S. 21. 12 Ebd., S. 22. 13 Ebd., S. 21 14 Habermas umschreibt im Rekurs auf Weber »Rationalisierung« so: »Rationalisierung meint zunächst die Ausdehnung der gesellschaftlichen Bereiche, die Maßstäben rationaler Entscheidung unterworfen werden. Dem entspricht die Industrialisierung der gesellschaftlichen Arbeit mit der Folge, dass Maßstäbe instrumentalen Handelns auch in andere Lebensbereiche eindringen (Urbanisierung der Lebensweise, Technisierung des Verkehrs und der Kommunikation). In beiden Fällen handelt es sich um die Durchsetzung des Typus zweckrationalen Handelns.« (Habermas: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, S. 48) 10 11

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unserer Lebenswelt durch die systemisch integrierten Handlungsbereiche der an Macht gewinnenden Subsysteme Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, welche das Prinzip Rationalisierung und Technisierung verkörpern. 15 Diese Bereiche instrumentellen Denkens und zweckrationalen Handelns hätten ein solches Übergewicht bezüglich der Lebenswelt erlangt, dass die öffentlichen Räume kommunikativen Handelns, in denen man sich über die Medien Kunst, Religion oder Philosophie auf gemeinsame kulturelle Werte und weltanschauliche Basispostulate einigt, akut bedroht seien. Andererseits scheint entsprechend unserem zweiten axialen Grundprinzip ein ästhetisches Welt- und Selbstverständnis, d. h. der kollektive Grundwert ästhetisch-künstlerischer Selbstgestaltung und radikaler Innenorientierung, immer mehr Gewicht zu erlangen, das als kollektive Lebensanschauung augenscheinlich der lebensweltlichen Sphäre entspringt. In welchem Verhältnis stehen aber die beiden von Soziologen georteten axialen Prinzipien der Technisierung und Ästhetisierung, welche ursprünglich im System bzw. in der Lebenswelt verankert waren? Immer wieder setzt man aus soziologischer Warte »die instrumentalistische Orientierung an Effektivitätsgesichtspunkten der romantischen Orientierung an Werten der Selbstverwirklichung als zwei Einstellungsmuster gegenüber, die in der Selbstinterpretation der Mitglieder hochentwickelter Gesellschaften so miteinander in Konflikt geraten, dass das Vertrauen in die kulturelle Legitimität der Moderne allmählich zu schwinden droht.« 16 Bell bezeichnet das Auseinanderdriften der axialen Prinzipien »Effizienz und funktionale Rationalität« der Wirtschaft als dem dominanten Subsystem einerseits, »Selbstverwirklichung und Selbstgenuss« der Kultur, unserem lebensweltlichen Horizont unhintergehbarer Grundhaltungen andererseits nachgerade als »kulturellen Widerspruch« und Herd einer tiefgreifenden »Kulturkrise« unserer kapitalistischen, wissenschaftlich-technischen Wohlstandsgesellschaft. 17 Ronald Ingleharts Topos eines kulturellen »Wertwandels« von materialistischen, auf ökoVgl. ders.: TKH 2, S. 507 f. Axel Honneth, Nachwort zu Taylor: Negative Freiheit?, S. 313 f. 17 Bell spricht von einer »›Kulturkrise‹, die sich allein aus der Tatsache ergibt, dass durch die axialen Prinzipien der Wirtschaft Effizienz und funktionale Rationalität betont und die Menschen auf Rollen und ihre Eignung dafür festgenagelt werden sollen, während die Kultur Selbstverwirklichung und Selbstgenuss fordert und sich dadurch in direkten Widerspruch zur techno-ökonomischen Ordnung begibt.« (Bell: NG, S. 16) 15 16

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nomische Sicherheit abzielenden Werten zu postmaterialistischen Werten ästhetischer Kreativität und persönlicher Lebensstile, den ich im Rahmen meiner Arbeit in einen umfassenden »Ästhetisierungsprozess« eingliedern möchte, fiel als Präzedenzfall zuverlässiger, vermöge quantitativer Verfahren hinlänglich abgesicherter empirischer Sozialforschung weithin auf fruchtbaren Boden. 18 Im Anblick des unaufhaltsamen expansiven Siegeszuges postmaterialistischer Werte ließ sich Bell zur kühnen These stimulieren, das kapitalistische Wirtschaftssystem, während Tausenden von Jahren mit der Aufgabe einer Steigerung des Lebensstandards betreut, sei anlässlich eines außergewöhnlichen historischen Wandels in den Dienst ästhetizistischer lebensweltlich-kultureller Forderungen geraten. 19 Wenn der angeblich seit den zwanziger Jahren waltende »neue Kapitalismus« tatsächlich eine Totalinversion der Einflussrichtung zwischen systemisch-technischen und lebensweltlich-kulturellen Normen und damit eine »Herrschaft der Kultur« als ästhetischer Lebensstil gezeitigt hätte, wäre die von Habermas postulierte sukzessive »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch das Prinzip fuktionaler Rationalität offenkundig Lüge gestraft. Statt uns auf eine detaillierte Klärung der Positionen dieser soziologischen Kontroverse einzulassen, soll es Ziel der beiden Teilkapitel sein, die antagonistischen logischen Ordnungsprinzipien im Entwicklungsprozess unserer westlichen Gesellschaften herauszukristallisieren und ihre jeweiligen Einwirkungen auf die historisch-kulturellen Glücksvorstellungen aufzudecken.

Vgl. Ronald Ingleharts tabellarische Gegenüberstellung der materialistischen Werte (bezogen auf physische und wirtschaftliche Sicherheit) und postmaterialistischen Werte (soziale Bedürfnisse und Verlangen nach Selbstverwirklichung) in: Kultureller Umbruch, S. 173. Joas mahnt indes zu Recht, dass sowohl Ursachen wie Folgen dieses Wertwandels noch »keineswegs völlig geklärt« sind (Hans Joas: Die Entstehung der Werte, S. 12 f.). 19 »In einer Hinsicht ist dies ein ungewöhnlicher historischer Wandel menschlicher Gesellschaft. Während Tausenden von Jahren hatte Wirtschaft die Funktion, den täglichen Lebensbedarf – die Subsistenz – zu decken. Für verschiedene Gruppen der Oberschicht war Wirtschaft die Grundlage von Status und aufwändigem Lebensstil gewesen. Heute hingegen orientiert sich die Wirtschaft in großem Maße an den Forderungen der Kultur. Auch hier gelangte die Kultur, nicht als expressiver Symbolismus oder moralische Sinngebung, sondern als Lebensstil, zur vollen Herrschaft.« (Bell: KWK, S. 93) 18

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2.1 Technisierung und transitiv-technisches Glücksverständnis Widmen wir uns als erstes dem logischen Ordnungsprinzip der Technisierung, um den gesellschaftlichen, weltanschaulichen Hintergrund historisch-kultureller Glücksvorstellungen zutage zu fördern, muss allererst dem inflationären Gebrauch des Technikbegriffs ein Riegel vorgeschoben werden: »Technik« in einem weiten Sinn (griechisch tffcnh) bezeichnet alle regelgeleiteten Verfahren zur Herstellung von Gegenständen dinglicher (Werkzeuge, Gebrauchsgüter) oder geistiger Art (sprachliche Gebilde), zum Hervorbringen bestimmter Zustände (z. B. in der Medizin) oder zum Betreiben von Geschäften (z. B. im Handel). Jede »Technik« weist grundsätzlich instrumentellen Charakter auf, weil technische Verfahren sowie technische Artefakte (Werkzeuge und Maschinen) an sich betrachtet neutral 20 sind im Kontrast zu den entsprechenden zweckorientierten Gebrauchs- oder Herstellungs-Tätigkeiten bzw. deren Folgen, für die der Handelnde verantwortlich ist: Die »Technik ist ihrem Wesen nach Mittel zu beliebigen Zwecken, der Mittelcharakter der gemeinsame Kern der vielen verschiedenen Bedeutungen des sprachlichen Ausdrucks ›Technik‹.« 21 Da es »Fortschritt« immer nur im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel oder einen (konsensuell) festgelegten Maßstab gibt und er also genuin ein »zweistelliges Prädikat« darstellt, kann es zwar einen moralischen, ökonomischen oder kulturellen Fortschritt geben, aber im strengen Sinne keinen »technischen«. Eine Steigerung effizienter Mittel bedeutet nur soweit einen Fortschritt, als andere Werte wie Leben, Gesundheit oder Glück dadurch gleichsam protegiert werden: »Insofern hatte die Hoffnung der technischen Optimisten, dass mit der Steigerung der Möglichkeiten technischer Naturbeherrschung auch ein menschlicher Fortschritt verbunden sein müssen, von Anfang an Züge von wishful thinking«, 22 stellt Dieter Birnbacher klar. Von den archaischen, durch Verwandtschaftssysteme strukturierten Stammesgesellschaften bis hin zu den traditionalen Gesellschaften der Hochkulturen waren die Subsysteme einer vorkapitalisVgl. zur grundsätzlichen Neutralität aller Dinge Nietzsche: »Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Böses! […] Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn.« (Friedrich Nietzsche: Z, S. 75) 21 Dieter Birnbacher: Technik, S. 613. 22 Ebd., S. 631. 20

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tischen Produktionsweise, einer vorindustriellen Technik und einer vormodernen Wissenschaft noch problemlos in eine homogene, Sinn- und Orientierung stiftende Lebenswelt mit ihrem geschlossenen, mythisch-religiösen Weltbild integriert. 23 Dieses legitimierte auch die zentralisierte staatliche Herrschaftsgewalt: »›Traditionale‹ Gesellschaften existieren solange, als sich die Entwicklung der Subsysteme zweckrationalen Handelns innerhalb der Grenzen der legitimierenden Wirksamkeit von kulturellen Überlieferungen hält«, 24 legt Habermas definitorisch fest. Anstatt hier irgendwelche Dominanzen von wissenschaftlich-technischen oder wirtschaftlichen Systemen gegenüber der kulturellen Lebenswelt zu eruieren, kann man nur staunen ob der »Kongruenz im Verhältnis von Institution, Weltansicht und Person.« 25 Im dezentralisierten feudalstaatlichen Mittelalter übernahm die christliche Religion die Integration von System und Lebenswelt, indem sie nicht nur die Kunst, sondern auch die Technik und die Wissenschaften in ihren Dienst zwang und ihnen die Aufgabe einer Konkretisierung des unverrückbaren göttlichen Heilsplans übertrug. An der subjektivistischen Wende der Renaissance jedoch kündigten die wissenschaftlich-technischen Subsysteme der lebensweltlichen Definitionsmacht der kirchlichen Autorität ihren Gehorsam auf und begannen damit auf eine »Entkoppelung« zuzusteuern: Die erblühende »szienza nuova« setzt auf den Erfinderund Entdeckergeist des Forschersubjekts, das sich aus dem beengenden Korsett erstarrter scholastischer Traditionen befreit und sich mutig mit selbstentworfenen Hypothesen und Versuchsanordnungen an das »große Buch der Welt« (René Descartes) heranwagt. 26 Wissenschaft soll nicht länger reine Schau der Natur sein wie in der Antike, noch auch Verehrung der göttlichen Schöpfung wie im Mittelalter, sondern setzt sich als krudes Verfügungswissen die Selbstbehauptung des Subjekts und die absolute Souveränität über die Natur zum Ziel: »Wissen ist Macht«, proklamiert der Protagonist Francis Bacon unmissverständlich, und die aus der Philosophie auswandernden Naturwissenschaften schließen sich mit den von den »schönen« separierten »mechanischen« 27 Künsten (tffcnai) kurz, um das ProVgl. Habermas: TKH 2, S. 234. Ders.: Technik, S. 67. 25 Ders.: TKH 2, S. 233. 26 Vgl. zu diesen beachtlichen Renaissance-Umbrüchen Dagmar Fenner: Wahrheit am Ende?, Kapitel 3.1. 27 Während »Kunst«, griechisch »techne«, lateinisch »ars« bis zum Mittelalter jede re23 24

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gramm praktischer Naturbeherrschung vermittels künstlicher Geräte reibungslos zu vollstrecken. Mit der in der Renaissance beginnenden Verschmelzung von Naturwissenschaft und Technik gewinnt die Technik als Kunstfertigkeit, etwas nach bestimmten Regeln auf einen gegebenen Zweck hin umzuformen, »eine neue, primär vom Resultat bestimmte Bedeutung«, so dass ihr mechanisch-instrumenteller Charakter stärker akzentuiert wird. »Die praktische Naturbewätligung wird theoretisch durchdrungen, rekonstruiert und vorbereitet, die Naturwissenschaft selbst, aufs engste mit künstlichem Gerät verbunden, definiert ihre Begriffe zunehmend ›operational‹ durch Schemata instrumentellen Handelns.« 28 Das neuzeitliche Manifest von »Machbarkeits-Utopisten« beinhaltet erstens die Verkürzung der menschlichen Rationalität auf Zweckrationalität, eine in einsinnigen experimentellen Versuchsanordnungen ihren Ausdruck findende Komplexitätsreduktion sowie die systematische Ausblendung alles nicht Beherrsch- oder Absehbaren (etwa ökologische Folgen oder soziale Auswirkungen): In einem euphorischen Technikoptimismus wähnt man, die Evidenz der Nützlichkeit wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung erübrige jede moralisch-praktische Reflexion über das Wie oder die Folgen ihrer Applikation und stilisiert die Technik blindlings zu einem »selbststeuernden System […], das seine Anwendung und Dosierung selbst regelt« 29 . Zum zweiten setzt die neue Wissenschaft eine Quantifizierung des Qualitativen voraus, weil eine perfekte Einflussnahme auf die Welt zum Zwecke ihrer Beherrschung nur möglich ist unter Verzicht auf jede kosmische Allbeseelung, jeden substantiellen Einheitsgrund der Welt, v. a. aber auf die göttliche, sich in Wundern offenbarende Omnipräsenz. Nach der Elimination sämtlicher qualitativ-substantieller Strukturen verbleiben messbare, dechiffrierbare und experimentell auf ihre kausalmechanischen Gesetzmäßigkeiten hin zu prüfende

gelgeleitete Tätigkeit mit einem expliziten Wissen dieser Regeln umfasst, scheiden sich in der Renaissance die »schönen« von den »mechanischen« Künsten, und der Künstler emanzipiert sich vom Handwerker, obgleich er bis ins 18. Jahrhundert in Abhängigkeit vom aristokratischen Mäzenatentum verbleibt, und auch seine Kunst weiterhin der Verherrlichung von Fürst, Staat oder Kirche, also einem außerkünstlerischen Zweck zu dienen hat. 28 Artikel »Technik« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 297. 29 Birnbacher: Technik, S. 630.

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Teilchenverbände. 30 Unter diesen ontologischen Prämissen eines entsubstantialisierten, mechanistischen Weltbildes war dank der erfolgreich-vielversprechenden Konjunktion von Naturwissenschaft und Technik seit der Renaissance der Verbreitung einer mit naturwissenschaftlichen Formeln und technischen Geräten bevölkerten Handlungssphäre Tür und Tor geöffnet, in der sich ein im wesentlichen instrumentelles Denken und zweckrationales Handeln hemmungslos ausbreiten kann. Einen weiteren Meilenstein im Entkoppelungsprozess von System und Lebenswelt stellt die Transformation der traditionalen, ständisch-feudalistischen Gesellschaftsstrukturen in kapitalistische Rechtsstaaten dar. Gleichzeitig mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem bilden sich komplexe arbeitsteilige Verflechtungszusammenhänge heraus, welche die totale Berechenbarkeit des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes erfordern. Im Gegensatz zum einheitlich organisierten traditionalen Staat, der – zumindest formal – zu Legitimationszwecken auf eine kulturell gewachsene, integrative Lebenswelt verwiesen blieb, beruht die neue Staatsbürgerschaft auf einem formalen Rechtsakt, und die gesellschaftlich relevanten Funktionen verteilen sich auf unzählige Handlungssysteme eines riesigundurchschaubaren, bürokratischen Verwaltungsapparates. 31 Der moderne Staatsapparat zersplittert sich somit in scheinbar verselbständigte, jedem normativen Kontext entwachsene Subsysteme, darunter Verwaltung und Rechtsprechung oder nicht-staatliche Subsysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft und Technik: »Während der traditionale Staat eine Organisation ist, die die Gesellschaft im ganzen strukturiert und daher in der Definition der Mitgliedschaft, der Programmgestaltung und der Personalrekrutierung an die gewachsenen Lebenswelten einer stratifizierten Klassengesellschaft und die entsprechenden kulturellen Überlieferungen anknüpfen muss, sind der kapitalistische Betrieb und die moderne Verwaltung systemisch verselbständigte Einheiten innerhalb normfreier Subsysteme. Die autonom gewordenen Organisationen zeichen sich, wie Luhmann herausgearbeitet hat, vor allem dadurch aus, dass sie sich über pauschal akzeptierte Mitgliedschaftsbedingungen von kommunikativ strukturierten lebensweltlichen Zusammenhängen, von den konfliktDas hier grob Skizzierte findet sich in etwas differenzierterer, gleichwohl noch sehr konzentrierter Form in Dagmar Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Kapitel 3.1. Habermas geht, so ich recht sehe, auf diese entscheidenden Umbrüche merkwürdigerweise nicht ein. 31 Vgl. Habermas: TKH 2, S. 255. 30

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anfälligen konkreten Wertorientierungen und Handlungsdispositionen der in die Organisationsumwelt abgeschobenen Personen unabhängig machen können.« 32

Seit die kapitalistische Produktionsweise das stetige Wachstum der Produktivität der Arbeit verspricht, ist die permanente Erweiterung der Subsysteme zweckrationalen Handelns, speziell der Wissenschaft und Technik, ebenso garantiert, wie die traditionalistische Überlegenheit des institutionellen Legitimationsrahmens ein für allemal gebrochen ist: Waren die hierarchischen Stände und die politischen Herrscher bisher kraft einer kulturellen Weltanschauung gerechtfertigt, wird der institutionelle Rahmen und das Herrschaftssystem von nun an ökonomisch legitimiert durch eine den expandierenden Subsystemen einzig angemessene instrumentelle oder strategische Rationalität. 33 Unter wachsendem Druck zur Steigerung der Produktivkräfte im Zuge des beschleunigten Wirtschaftswachstums muss die Zweckrationalität insbesondere in den beiden Subsystemen Wirtschaft und politischer Verwaltung permanent potenziert werden, weil die Produktionsverhältnisse eine immer subtilere und effizientere administrative Kontrolle mit vermehrten Eingriffen in die Lebenswelt 34 erfordern – bis dass diese nun unter der Hand selbst zum Subsystem mutiert! Besagt doch Habermas’ lapidare Faustregel: »je komplexer die Gesellschaftssysteme, um so provinzieller werden die Lebenswelten. In einem differenzierten Gesellschaftssystem schrumpft die Lebenswelt zu einem Subsystem.« 35 Sämtliche traditionalen Zusammenhänge werden laut Habermas allmählich den »Bedingungen der instrumentellen oder strategischen Rationalität unterworfen«, und in allen Lebensbereichen vom Schulsystem über Ebd., S. 257. »Nun erst kann die Eigentumsordnung aus einem politischen Verhältnis zu einem Produktionsverhältnis werden, weil sie sich an der Rationalität des Marktes, der Ideologie der Tauschgesellschaft, legitimiert und nicht mehr an einer legitimen Herrschaftsordnung. Das Herrschaftssystem kann vielmehr seinerseits an den legitimen Verhältnissen der Produktion gerechtfertigt werden: das ist der eigentliche Inhalt des rationalen Naturrechts von Locke bis Kant. Der institutionelle Rahmen der Gesellschaft ist nur mittelbar politisch und unmittelbar ökonomisch …« (ders.: Technik, S. 70) 34 »Lebenswelt« meint hier in einem erweiterten Sinne augenscheinlich mehr als den gemeinsamen transzendentalen Hintergrund unserer alltäglichen Kommunikation und Kooperation, nämlich zugleich den institutionellen Rahmens, in dem diese gesellschaftlichen Integrationsformen mit dem Ziele eines normativen Konsenses bezüglich unserer Handlungsorientierungen stattfinden kann. 35 Habermas: TKH 2, S. 258. 32 33

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das Gesundheitswesen bis hin zur kleinsten gesellschaftlichen Einheit der Familie erzwingt der um sich greifende Rationalisierungsprozess eine Technisierung der Kommunikation und »eine Urbanisierung der Lebensform, d. h. Subkulturen, die den Einzelnen darin einüben, jederzeit von einem Interaktionszusammenhang auf zweckrationales Handeln ›umschalten‹ zu können.« 36 Im Zeitalter der industriellen Revolution schließlich, im 19. Jahrhundert mit dem nun erreichten stolzen Stand des Hochkapitalismus, bietet sich infolge des resolut-zielstrebigen Feldzuges instrumenteller Vernunft dieses erfrischende Bild: Siegesgewiss präsentiert uns das Triumvirat von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, welches unlängst das Ruder im instrumentalistischen, normfreien Sub-System-Reich ergriff, sein erhabenstes Produkt gemeinsamen Zusammenwirkens: die Maschine! Mit dem skrupellosen Schlachtruf »Fakten statt Spekulationen« der zum Inbegriff von »Wissenschaft« schlechthin arrivierten Naturwissenschaften fordert man einen durch den technikspezifischen Optimismus und die Wissenschaftsgläubigkeit der Zeit begünstigten »Fortschritt in der positiven Erkenntnis«: Das religiöse und philosophisch-metaphysische Stadium hat gemäß dem von Auguste Comte statuierten »Dreistadiengesetz« irreversibel und restlos in das »positive« umzuschlagen, in dem allein man dank Tatsachenbeobachtungen und Nützlichkeitserwägungen zu sicherem, objektivem und anwendbarem Wissen gelange. Verheerend an diesem anvisierten »positiven Stadium« am Ende eines langen Technisierungsprozesses ist entsprechend den habermasschen Gesellschaftsanalysen nicht die »Entkoppelung« der Subsysteme wissenschaftlich-technischer Rationalität von der auf kommunikative, moralisch-praktische Rationalität angewiesenen »Lebenswelt«, ebenso wenig ihre relativ autonome, rasch fortschreitende »Ausdifferenzierung«, sondern erst die »innere Kolonialisierung« 37 unserer Lebenswelt: Immer stärker dringen die Subsysteme zweckrationalen Handelns ein in Bereiche, in denen Handeln und Handlungskoordinierung genuin über kommunikatives, sinn- und verständigungsorientiertes Handeln stattfindet und auch nur stattfinden kann. 38 Das lebensweltlich eingebettete, kommunikativ verDers.: Technik, S. 71. Vgl. ders.: TKH 2 S. 452. 38 »Nicht die Entkoppelung der mediengesteuerten Subsysteme, und ihrer Organisationsformen, von der Lebenswelt führt zu einseitiger Rationalisierung oder Verdinglichung, sondern erst das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer 36 37

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mittelte »Wissen« hat rein funktionalem, medialem »Bescheidwissen«, die Verständigung über gemeinsame Handlungsorientierung nicht-normativer Handlungskoordination der Handlungsfolgen Platz zu machen. Wenn Mensch, Gesellschaft und Umwelt immer weiter in den Prozess technischer Funktionalität hineingezogen und geistige Werte, moralische Normen und soziale Strukturen zu bloßen Funktionen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts depotenziert werden, stehen wir lebensweltlichen Fragen handlungsorientierender Zwecksetzung, speziell der – privaten oder kollektiven – Sinn- und Glückssuche, immer hilfloser gegenüber. Doch hat sich im Zuge der von den Subsystemen initiierten Rationalisierung und Technisierung unserer Lebenswelt nicht auch die lebensweltliche Glücksvorstellung selbst gewandelt? War das menschliche Glück vor der Entkoppelung des naturwissenschaftlich-technischen Subsystems nur im Horizont eines in der Lebenswelt verankerten, sinn- und orientierungsstiftenden Weltbildes realisierbar, welches bestimmte intrinsische Güter und ethische Lebensformen als qualitativ höherrangig vor allen anderen auszeichnete, setzt sich das instrumentell-technische Denken mehr und mehr auch im neuzeitlichen Glücksverständnis durch: Nachdem die subjektivistische Wende der Renaissance den einzelnen der kulturell gewachsenen, kommunikativ integrierenden Lebenswelt eines antikkosmischen Weltganzen und der diese Strukturen widerspiegelnden Polis bzw. der mittelalterlichen göttlichen Ordo entrissen und zur schöpferischen Mitte der Welt gekrönt hatte, gilt ohne Frage derjenige Mensch als glücklich, der beliebige Zwecke möglichst widerstandsfrei durchzusetzen weiß. Denn der Grund, »warum gerade der Mensch den Vorzug der höchsten Bewunderung für sich in Anspruch nehmen solle«, lässt sich nicht mehr in Zweifel ziehen: »Müssen wir darin nicht zugleich die höchste Freigiebigkeit Gottvaters und das höchste Glück bewundern?« fragt Giovanni Pico della Mirandola Rationalität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordiinierung angewiesen bleiben. Wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass jene beiden Phänomene des Sinn- und Freiheitsverlustes nicht zufällig auftreten, sondern strukturell erzeugt werden, müssen wir versuchen zu erklären, warum die mediengesteuerten Subsysteme eine unaufhaltsame Eigendynamik entfalten, welche gleichzeitig die Kolonialisierung der Lebenswelt und deren Segmentierung von Wissenschaft, Moral und Kunst verursacht.« (ebd., S. 488)

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rhetorisch; des »Menschen, dem es gegeben ist, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will.« 39 Ungeachtet seiner Leiblichkeit und sozialen Verflechtung findet der frühneuzeitliche auserwählte »homo faber«, sich von der christlich-mittelalterlichen Verjenseitigung und Vertröstung der Glückseligkeit verabschiedend, zunehmend Geschmack an einer Position gottähnlicher Selbstbestimmung und eines souveränen Herrschers über die ihm zur Verfügung stehende Natur. Infolge der Monopolisierung der technischinstrumentellen Rationalität auf Kosten der moralisch-praktischen sowie der Quantifizierung der Welt scheint dem in absolute Autonomie freigesetzten Individuum kaum mehr etwas im Wege zu stehen, um mittels rationaler Planung und technischer Meisterung seiner materiellen Zwecke individuelle Freiheit und Glück bereits im Diesseits realisieren zu können. Im Lichte neuzeitlichen Macht- und Machbarkeitsdenkens hat man mithin nicht länger demütig-fatalistisch das göttliche Geschick zu ertragen kraft der Hoffnung auf jenseitige Glückskompensation, sondern vielmehr mittels einer strategischen Verbindung von Macht und Methode das herrische Glück eines »homo faber« kühn und eigenhändig durchzusetzen. »Tugend« im moralinfreien Renaissance-Sinne: »virtu«, 40 meint dementsprechend nicht mehr eine auf philosophischer Einsicht und asketischen Übungen basierende habitualisierte Lebensform wie in der Antike, die den einzelnen befähigt, in jeder Situation ein korrektes moralisches Urteil zu fällen und entsprechend zu handeln, sondern – ethisch neutralisiert – Mut, Energie, Tatkraft, Entschlossenheit. Das »beatitudo-Glück« der inneren Verfassung aufgrund eines gelingenden Weltverhältnisses (vgl. Kapitel 3.1) gerät in einem außerphilosophischen Sinne derart in Abhängigkeit vom Besitz äußerer Güter, vornehmlich Ruhm und Reichtum, 41 dass es letztlich mit dem »fortuna-Glück« günstiger, in der Neuzeit aber verfügbarer statt un-

Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, S. 8 und S. 11. Auch Nietzsche plädiert für eine Renaissance-Tugend, die er hier in enger Verbindung mit der Diätetik zu sehen rät: Das »Heil der Menschheit« hänge nämlich ab von der »Frage der Ernährung. Man kann sie sich, zum Handgebrauch, so formulieren: ›wie hast gerade du dich zu ernähren, um zu deinem Maximum an Kraft, von Virtu im Renaissance-Stile, von moralinfreier Tugend zu kommen?‹« (Nietzsche: EH, S. 279) 41 Glücklich (»felice«) sei derjenige, der die richtige Methode zur Anwendung bringe, »um das Ziel zu erreichen, das ein jeder vor Augen hat, nämlich Ruhm und Reichtum.« (Niccolo Machiavelli: Der Fürst, Kapitel XXV, S. 198) 39 40

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berechenbarer Umstände zu kongruieren scheint. 42 Bereits Niccolo Machiavelli zielt auf eine »Entmystifikation der fortuna«, denn »er betrachtet das Walten der Glücksgöttin mit analytischem Blick und stößt auf menschliches Versagen, wo andere ein missgünstiges Schicksal ausmachen und auf Erfolg durch Tüchtigkeit, wo für Fatalisten das Glück lachte.« 43 So wird das qualitative, an die ethische Vorstellung eines »guten Lebens« geknüpfte Glück der Antike gleichsam quantifiziert, indem es an ein möglichst großes Quantum an Tatkraft, technischem Können und äußeren Gütern gekoppelt wird, welche zur Befriedigung unserer Wünsche und Begierden beitragen. Da seit jeher »die ›Weiblichkeit‹ der Schicksalsgöttin Fortuna eine allegorische Phantasie beflügelt« haben soll, 44 appelliert Niccolo Machiavelli im Macho-Ton an die »typisch männlichen« Eigenschaften der »virtu«, mit der allein sich das Schicksal be- und damit das Glück er-zwingen lasse: »Ich ziehe also die Schlussfolgerung, dass, da das Glück wechselt und die Menschen an ihren Methoden festhalten, sie erfolgreich sind, solange beide übereinstimmen, und sie erfolglos sind, wenn beide nicht übereinstimmen. Doch halte ich es für besser, stürmisch als besonnen zu sein; denn Fortuna ist ein Weib, und es ist notwendig, wenn man sie niederhalten will, sie zu schlagen und zu stoßen. Man sieht auch, dass sie sich von denen, die so verfahren, eher besiegen lässt als von jenen, die mit kühlem Kopf vorgehen; daher ist sie als Weib stets den Jünglingen zugetan, weil diese weniger besonnen und stürmischer sind und ihr mit größerer Kühnheit befehlen.« 45

Unter einseitiger Betonung des Prinzips Leistung und eines tugendhaft-entschlossenen Arbeitseinsatzes zur Meisterung glücksversprechender Umstände durch die neuzeitliche Ideologie des unbegrenzten Fortschritts im wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Bereich mutiert der ganzheitliche homo sapiens unter der Hand zum homo faber, später zum homo oeconomicus mit einem immer restriktiveren Glücksbegriff: »Die in der humanistischen Idee des homo sapiens – des weisen Menschen – zusammengefasste Vorstellung von Ganzheitlichkeit beinhaltet, dass die Tätigkeiten von Kopf, Herz und Hand (Pestalozzi) miteinander kooperieren, Vgl. zu diesem glücksgrammatischen Dualismus von »fortuna« und »beatitudo« bzw. »eutychia« und »eudaimonia« Kapitel 3.1. 43 Georg Kamphausen: Recht auf Glück?, S. 88. 44 Eckart Pankoke: Modernität des Glücks, S. 77. 45 Machiavelli: Der Fürst, Kapitel XXV, S. 199. 42

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und zwar derart, dass sie sich gegenseitig zur Entwicklung und kreativen Umsetzung von Idealen anspornen. Aus diesem dem homo sapiens immanenten, aufeinander eingespielten Dreierverband von Kopf, Herz und Hand haben sich im Verlauf der Zeit als Erster homo faber – der Werkzeuge herstellende und handwerklich tätige Mensch – und als Nächster homo oeconomicus – der wirtschaftlich kalkulierende Mensch – abgesetzt und für sich etabliert, indem sie vom Kopf lediglich das zweckrationale Denken und die technische Erfindungsgabe, von der Hand nur die Bedienungsfunktion mitnahmen und das Herz in den Privatbereich verbannten.« 46

Prinzipiell ausgehend von einer in Kapitel 4.1 exponierten Wunschtheorie des Glücks auf empirisch-hedonistischer Basis – wie sie Immanuel Kant später für die ganze Neuzeit besiegelte –, 47 setzt man sich zum alleinigen Ziel, kraft naturwissenschaftlichen Verfügungswissens und technischen Könnens »die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken«, 48 die man sich wünscht, und um zugleich sicherzustellen, dazu auch in Zukunft in der Lage zu sein. »Glückseligkeit schließt in sich einen beständigen Fortgang von einem Wunsch zum andern,« expliziert Thomas Hobbes, »wobei die Erreichung des ersteren immer dem folgenden den Weg bahnen muss. Der Grund dafür liegt darin, dass es bei den Wünschen der Menschen nicht darauf ankommen darf, dass sie das, was sie sich wünschen, etwa nur einmal und gleichsam für einen Augenblick genießen, sondern dass vielmehr der Genuss auch für die Zukunft sichergestellt werde. Deshalb legen es die Menschen bei ihren Unternehmungen nicht bloß darauf an, sich ein Gut zu verschaffen, sondern sich dasselbe auch auf immer zu sichern. […] Zuvörderst wird also angenommen, dass alle Mensch ihr ganzes Leben hindurch beständig und unausgesetzt eine Macht nach der anderen sich zu verschaffen bemüht sind; nicht darum, weil sie nach einer immer größeren Macht als der, welche sie schon besitzen, streben oder sich mit einer mäßigen nicht begnügen können, sondern weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zu verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.« 49

Das ganze menschliche Streben richtet sich also auf das Konsolidieren bzw. Intensivieren der Mittel zum glücklichen Leben, d. h. der Pieper: Glückssache, S. 129 f., aus dem Kapitel 3: »Die ökonomische Lebensform: das kalkulierte Glück«, S. 105–132. 47 »Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Wille geht.« (Kant: KpV, A224) Vgl. dazu Kapitel 1, S. 30. 48 Francis Bacon: Neu-Atlantis, S. 43. 49 Thomas Hobbes: Leviathan, 1. Teil, 11. Kapitel, S. 90 f. 46

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Bedingungen subjektiver Bedürfnis- und Wunschbefriedigung, die für das individuelle Glück langfristig Bürge stehen sollen. Bemerkenswerterweise geht man dabei grundsätzlich von den im Zeichen des Eigeninteresses stehenden Neigungen und Leidenschaften eines nichtsozialisierten, vormoralischen Menschen aus, so dass sich die moralinfreien Renaissance-Tugenden in der klugen, zweckrationalen »Bewirtschaftung von Befriedigungschancen vormoralischer Antriebe« zu bewähren haben. 50 Die hier als eigenste Hervorbringung des gottähnlichen, selbstbestimmt-selbstbewussten frühneuzeitlichen Subjekts präsentierte technisch-wissenschaftliche Glücksvorstellung stellt aus wissenssoziologischer Warte zugleich ein Versuch dar, der gesellschaftlichen Anomie der Epoche, evoziert durch die allmähliche Erosion der mittelalterlichen Ständeordnung und der unhinterfragten religiösen Werte, Herr zu werden. Wie bei den im 17. Jahrhundert erblühenden Glückseligkeitslehren, deren gedankliche Grundelemente zweifellos schon bei Machiavelli und Hobbes vorzufinden sind, reagiert man mit solchen unfromm-realistischen, von primären egoistischen Bedürfnissen ihren Ausgang nehmenden Denkmodellen auf das Defizit der liquidierten oder doch unglaubwürdig gewordenen alten Institutionen und starr-selbstverständlichen Sozialstrukturen: »Die Blütezeit der Glückseligkeitslehre war die Zeit der forcierten Transformation ständischer Gesellschaften in staatliche«, konkludiert Gerhard Vowinckel. 51 Obgleich die barocken Fürstenhöfe, an welche das in der Renaissance aufsteigende Bürgertum der Städte seine Macht wieder abzugeben hatte, gleichsam das »gesellschaftliche Biotop« der Glückseligkeitslehren darstellten, weil die realistische Psychologie der Glückseligkeitslehren die für den Konkurrenzkampf der Höflinge notwenigen Strategien der Menschenbeobachtung und -behandlung Vgl. Gerhard Vowinckel: »Ein unstillbarer Durst ist ein immerwährendes Strafgericht«, S. 60, ausführlich zitiert in Fußnote 74. Eine Kritik an diesen glückstheoretischen Fundamenten erfolgt im nächsten Teilkapitel. 51 »Der Tiefe und Reichweite dieser Umwandlung werden die soziologischen Begriffe des sozialen Wandels und selbst der Revolution nicht gerecht«, erläutert Vowinckel weiter: »Es ging dabei nicht um den Austausch von Regimes oder Regierungsformen, nicht um veränderte Normen und Werte, wie sie der ganz gewöhnliche soziale Wandel mit sich bringt. Es ging um nicht weniger als um die Umwälzung der Grundprinzipien der Vergesellschaftung. Die überkommenen persönlichen, auf Verwandtschaft und Reziprozität beruhenden Formen der Bindung wurden verdrängt durch neue, fremdartige und unpersönliche, die den Menschen überdies mehr oder weniger gewaltsam aufgezwungen wurden.« (ders.: Die Glückseligkeitslehre, S. 42) 50

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lieferten, fanden sie auch Eingang in die bürgerlichen und sogar kirchlichen Kreise. Statt sich an einer idealen göttlichen Seinsordnung an realistischen psychologischen Tatsachen orientierend, zielt man an den Höfen der mehr oder weniger absolut herrschenden, nur noch formal religiös legitimierten Fürsten auf »Glückseligkeit« ab als rational kalkulierte, umfassende und dauerhafte Befriedigung aller eigennützigen, außermoralischen Begierden und Affekte, als subjektiver Eigennutz und Vollkommenheit im spinozistischen Sinne. 52 »Je mehr irgend jemand danach strebt und imstande ist, das ihm Nützliche zu suchen, das heißt sein Sein zu erhalten, desto mehr ist er mit Tugend (Tüchtigkeit) ausgestattet«, postuliert Spinoza, wobei gelte: »Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern diese selbst.« 53 Wenn sich im Banne der Affektlehren de more geometrico das technische Moment auf den psychologischen Bereich ausweitet, ließe sich in dieser affektpsychologischen Schwerpunktverlagerung von der äußeren Natur auf die psychischen und physischen Regungen im Innern der Glücksaspiranten eine Ästhetisierungstendenz vermuten. Die Glückseligkeitslehre der frühen Neuzeit als »Paradigma des europäischen Gesellschaftsdenkens« 54 verkörpert nämlich keinen kruden Hedonismus, da sie vielmehr zum Zwecke einer Selbst-Vervollkommnung an eine Systematisierung, Ordnung und Beherrschung der Affekte und Neigungen appelliert. Gleichwohl wähnt sich mutmaßlich ein Individuum mit dem Lebensprinzip »Glückseligkeit« eher ethisch-tugendhaft (im spinozistischen Sinne) als ästhetisch-künstlerisch, weil die typisch ästhetische spielerisch-freie Distanz zu den äußeren alltäglichen Kausalzusammenhängen und dem inneren Treiben ungeformter sinnlicher Begierden fehlt (vgl. Kapitel 2.2). Alternative Versuche, in den forcierten gesellschaftlichen Um»Die Glückseligkeit oder, wie sie bei Spinoza heißt, die Vollkommenheit, ist der zentrale Begriff im ethisch-politischen Denken des 17. Jahrhunderts.« (ebd., S. 39) 53 Baruch de Spinoza: Ethica ordine geometrico demonstrata, 4. Teil, 20. Lehrsatz und 5. Teil, 42. Lehrsatz. Da Spinoza das menschliche Glück an Selbsterhaltung qua Selbstvervollkommnung koppelt, unterstellt ihm Gerhardt eine »Selbstverwirklichungstheorie des Glücks«, die in Kapitel 6.2 zur Diskussion steht (vgl. Gerd Gerhardt: Zur Kritik des Moralverständnisses, S. 193 ff.). 54 Vowinckel: Die Glückseligkeitslehre, S. 32. Wohlgemerkt figurieren diese Denkmodelle nicht immer unter der Etikette »Glückseligkeitslehre«, wie Vowinckel anmerkt: »Die Bezeichnung Glückseligkeitslehre steht hier nicht für die Lehre eines bestimmten Denkers oder einer bestimmten Denkschule, sondern für ein Grundmuster gesellschaftlich-moralischen Denkens.« (ebd.) 52

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wälzungsprozessen erneut Ordnung zu stiften, waren die reformatorischen Bestrebungen, namentlich die calvinistisch-protestantische Lehre, welche anstelle des Klosters die Welt zum Wirkfeld des gläubigen Christen nominiert. Wenn als Zeichen göttlicher Auserwähltheit beruflicher Erfolg und gehüteter – nicht genossener – Wohlstand fungieren, haftet unverkennbar auch dieser streng rationalen, asketischen Lebensform im Zeichen säkularisierter christlicher Tugenden, laut Weber der wichtigsten ideologischen Voraussetzung des Kapitalismus, 55 ein technisch-instrumentelles Moment an. Von diesen beiden Unterfangen, der grassierenden gesellschaftlich-politischen Anomie Herr zu werden, erlitt dasjenige der reformatorischen Bestrebungen im Barock augenfällig Schiffbruch: Nachdem die Katholiken unter der Ägide der Jesuiten zur Gegenreformation übergegangen sind, führen die verhärteten Fronten zum erbitterten, furchtbare Verwüstungen zeitigenden Dreißigjährigen Krieg, der die soziale Unordnung und moralische Haltlosigkeit potenziert, statt sie zu mindern. Demgegenüber leiten die von Machiavelli antizipierten, schließlich zur Beendigung der religiösen Bürgerkriege beitragenden Denkmodelle der Glückseligkeitslehre den einzelnen dazu an, die menschlichen Beziehungen in Ermangelung eines moralischen Konsenses neu zu strukturieren: Alle haben sich zwar grundsätzlich auf »einen individuellen Wertstandpunkt jenseits ihrer unversöhnlichen soziozentrischen Identifikation« zu stellen, 56 sich gleichwohl aber um des eigenen Vorteils willen bisweilen fremden Interessen bzw. der von Hobbes durch den »Leviathan« symbolisierten Staatsmacht zu unterwerfen. 57 Denn diese »Denkweise eignet sich offenkundig dazu, das friedliche Zusammenleben und Zusammenwirken von Vgl. Webers Aufsatzsammlung: Die protestantische Ethik, insbesondere S. 66 f. und S. 165–190. Entsprechend dem Motto: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« müsste jeder Gläubige, der sich durch asketisches, frommes Leben und unermüdliche Arbeit um die Erfüllung des göttlichen Willens bemüht, mit dem göttlichen Segen seines Erfolgs, d. h. mit Glückseligkeit im Jenseits rechnen dürfen. Und bei der Schilderung jenseitiger Glückseligkeit sei selbst Calvin, »dem man eher kalten Rationalismus als Sentimentalität und rasch aufflammende Begeisterung nachsagt« (Bernhard Lang: Die christliche Verheißung, S. 121), regelmäßig ins Schwärmen geraten. Man brauche »nur ein beliebiges Buch aufzuschlagen, in dem die christliche Lehre vom ewigen Leben dargestellt wird, und man wird mit einem ganzen Wortfeld des Glücks überschüttet, mit ›des Gottesreiches Glanz, Freude, Glück, Herrlichkeit, Seligkeit, Süße‹.« (ebd.) 56 Vowinckel: Die Glückseligkeitslehre, S. 43. 57 Vgl. Thomas Hobbes’ einschlägige Argumentationsstrategie in: Leviathan, 1. Teil, 11. Kapitel, S. 91 f. 55

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Menschen zu organisieren, zwischen denen kein moralischer Konsensus besteht, von Menschen, die einander fremd oder gar feindlich gegenüberstehen.« 58 Trotz des einheitlichen Ziels der Aufklärung, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten, von politischen und religiösen Mächten lancierten Unmündigkeit zu befreien, zerfällt doch das in ihr geprägte Glücksverständnis in heterogene Fazetten, so dass sich eine glückssoziologische Analyse auf die wesentlichsten Grundzüge der neuen Epoche des Lichtes zu konzentrieren hat: auf die beiden Grundpfeiler Rationalismus (1) und Sensualismus (2). »Rationalismus und Sensualismus, die beiden Prinzipien der Aufklärung, sind die Voraussetzung menschlichen Glücks«, kommentiert Johann Müller; »Der Mensch ist glücklich, wenn er seine Bedürfnisse vernunftgemäß befriedigt.« 59 Damit gehorcht das aufklärerische Glücksverständnis augenscheinlich noch dem Paradigma der Glückseligkeitslehren, wenngleich zum einen eine ausgeprägtere hedonistische Einstellung manifest wird. Zum zweiten glaubt man unter den neuen gesellschaftspolitischen Voraussetzungen des modernen Staates, in welchem jede formelle religiöse Restlegitimation der Fürsten durch eine rein systemische und die traditional-feudalistischen Sozialstrukturen durch liberalistisch-kapitalistische substituiert sind, auf das Schreckgespenst des »Leviathan« verzichten zu können. Von England aus, das auf bestem Weg zur industriellen Revolution in geistiger, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht im 18. Jahrhundert eine Pionierrolle spielt, breiten sich nämlich die neuen liberalistischen Kernideen als Fundament des aufkommenden Kapitalismus aus, welche der nun dominierenden Glücksvorstellung ihr eigenes Gepräge aufzwingen. In der Folge einer Radikalisierung des hobesschen Individualismus 60 wähnen nun die aufklärerischen Optimisten, das egoistische Glücksstreben steigere dank einer »invisible hand« (Adam Smith) zugleich das Gemeinwohl: 61 Der klassische Liberalismus erblickt »im individuellen Gewinnstreben ein Streben nach Glück, das Vowinckel: Die Glückseligkeitslehre., S. 40. Johann Baptist Müller: Bedürfnis und Gesellschaft, S. 15. 60 Während Hobbes’ Kritiker sein politisch bedeutsames Werk Leviathan als Apologie einer absolutistischen Monarchie diffamieren, glorifizieren es die anderen als Wegbereitung des modernen liberalistischen Denkens. Zweifellos sind beide Interpretationsrichtungen im Text selbst angelegt. 61 Adam Smith’s Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes (1776) gilt als theoretisches Fundament des modernen Liberalismus. 58 59

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nicht nur dem einzelnen eine freie Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten ermögliche, sondern als konkurrierendes Streben aller Mitglieder einer Gesellschaft gleichzeitig das Gemeinwohl steigere.« 62 Im Kontrast zur Radikalisierung der liberalistischen Kernidee in Bernard Mandevilles berühmter Bienenfabel vom Staat, der nur dank egoistischer Gewinnsucht, Luxus und Ehrsucht der Schurkerei floriere (1705), appellieren viele Aufklärer nach Maßgabe des utilitaristischen Universalismus wenigstens zur Sympathie und gegenseitigen Rücksichtnahme. 63 (Ad 1:) Das rational-technische Element menschlichen Glücksstrebens wird im 18. Jahrhundert aufgrund des aufklärerischen Glaubens an die Perfektibilität des Individuums kraft rationaler, pragmatischer Lebensführung intensiviert, wie sie Daniel Defoe anhand seiner Romanfigur Robinson Crusoe exemplarisch ins Bild setzt: Sich in Tagebuchform genauste und regelmäßige Rechenschaft über all sein Denken und Tun ablegend, figuriert er als Prototyp eines puritanischen Erfolgsmenschen, dessen Persönlichkeitsbasis eine ausdividierte Zeit- und Arbeitsökonomie bildet. Die menschliche Vernunft wird aber nicht deswegen zur Schirmherrin des Glücks auserkoren, weil sie mittels einer rationalen Lebensplanung die Menschheit zu perfektionieren verspricht, sondern weil mit ihrer Hilfe Theorien und Techniken entwickelt werden, welche immer mehr und bessere Güter zur Befriedigung unserer Bedürfnisse zu produzieren erlauben. Aus diesem Grunde sollen die »Philosophen der Aufklärung die Errungenschaften der Technik begeistert aufgenommen« 64 und selbst den dank fortschreitender Technisierung angekurbelten Prozess der Bedürfnisausweitung und -vervielfältigung enthusiastisch begrüßt haben. Man ernennt die Befriedigung der sekundären »imaginären« Bedürfnisse nicht nur zu Prämissen eines menschlichen Glücks des Genusses, sondern den Besitz solcher exquisiter Bedürfnisse zur differentia specifica der Spezies Mensch schlechthin. »VerArtikel »Wirtschaftsethik« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 338 f. Vgl. Holbach: »Das Vergnügen ist ein Gut, es liegt in unserem Wesen, es zu lieben; das Vergnügen ist vernünftig, wenn es uns unsere Existenz wertvoll macht, wenn es weder uns selbst schadet noch für die anderen nachteilige Folgen hat.« (Paul Henri d’Holbach: System der Natur, S. 271) 64 Müller illustriert weiter: »Die Enzyklopädisten gingen in die Werkstätten und beobachteten die Handwerker bei der Arbeit. Diderot nahm Zeichner mit, welche die Geräte und Maschinen abzeichneten. John Locke pries die Erfinder …« (Müller: Bedürfnis und Gesellschaft, S. 15) 62 63

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möge seiner Bedürfnisvielfalt unterscheidet sich der Mensch vom Tier«, eröffnet das Programm, auf das die aufklärerisch-liberale Gesellschaftslehre größten Wert legt, denn während »das Tier auf die Befriedigung eines einzigen bzw. weniger Bedürfnisse fixiert ist, benötigt der Mensch zu seinem Glück und zu seiner Zufriedenheit eine Vielzahl von Gütern« 65 : »Sowohl bei den Individuen der menschlichen Gattung wie auch bei den politischen Gesellschaften ist die Steigerung der Bedürfnisse eine notwendige Sache, die im Wesen des Menschen begründet ist. Die einmal befriedigten natürlichen Bedürfnisse müssen durch andere ersetzt werden, die wir als imaginäre oder angebliche Bedürfnisse bezeichnen und die für unser Glück ebenso notwendig werden wie die ersten.« 66

(Ad 2:) Bei der Begründung einer natürlichen vernünftigen Ethik orientieren sich die französischen und englischen Sensualisten dementsprechend allein an elementaren Empfindungen und Bedürfnissen der menschlichen Natur. »Der Mensch ist nur darum unglücklich, weil er die Natur verkennt«, lautet die zentrale Eingangsthese von Paul d’Holbachs materialistischem Manifest System der Natur, 67 und Etienne Condillacs erkenntnistheoretische Abhandlung über die Empfindungen kulminiert in der praktischen Maxime: »So viele Bedürfnisse, so viele verschiedene Genüsse; so viele Grade im Bedürfnis, so viele Grade im Genuss. Hier ist der Keim zu allem, was wir sind, die Quelle unseres Unglücks oder unseres Glücks.« 68 Kulmination des neuzeitlichen Stolzes auf die wissenschaftlichtechnische Rationalität bei den unfromm-realistischen Vorstößen handlungsorientierender Welt- und Lebensanschauungen bildet der utilitaristische Anspruch, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl berechnen und auch erzielen zu können (vgl. Kapitel 4.1). Indem man im Rahmen der nun vollzogenen vollständigen Ebd., im Rekurs auf August Ferdinand Lueders Über Nationalindustrie und Staatswirtschaft (Berlin 1802). 66 Holbach: System der Natur, S. 265. 67 Ebd., S. 11. Der Mensch, so expliziert Holbach, »missachtete das Studium der Natur, um Phantomen nachzulaufen, die ihn wie die Irrlichter, die der Wanderer des Nachts erblickt, erschreckten, ihn blendeten und ihn vom einfachen Wege des Wahren abbrachten, ohne den er nicht zum Glück gelangen kann.« (ebd.) Vgl. zum Naturbegriff ebd., S. 24. 68 Etienne Bonnot de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen, 4. Teil, 7. Kapitel § 3, S. 215 f. »Nützlichkeit ist nichts anderes als das wahre Glück«, heißt es lapidar (Holbach: System der Natur, S. 278). 65

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»Ökonomisierung des Glücks […] das mit Glück Gemeinte in die Sprache des Nutzens übersetzte« 69 (»utilis« = nützlich), taxiert man als »rational« und ethisch »richtig« genau jene Handlung, die beim hedonistischen Kalkül den größten kollektiven Gratifikationswert vor allen anderen möglichen Handlungsalternativen einbringt. Diese Glücksökonomie bedeutet im frühkapitalistischen England des 18. Jahrhunderts ebenso wohl mit der ins Kalkül übersetzten demokratischen Maxime deutlich eine Kriegserklärung an die Konzentration von Macht und Reichtum in den Händen weniger Privilegierter, wie sie andererseits der besagten liberalistischen Hoffnung Ausdruck verleiht, das individuelle Gewinnstreben potenziere nicht nur das Glück einzelner Individuen, sondern zugleich das Gemeinwohl. Da der Kapitalismus, liberalistische Prinzipien aufgreifend und sich von derselben Hoffnung nährend, die Konkurrenz zwischen den in ihren bürgerlichen Rechtsverhältnissen egalisierten Individuen verschärft, werden immer mehr lebensweltlich-konkrete Bindungen gelöst zugunsten rein strategischer Marktverhältnisse: Als das einer erfolgversprechenden Glücksökonomie einzig adäquate Menschenbild wird das alleinstehende, weder ehe- noch familien»behinderte« Marktsubjekt propagiert. 70 Die rationalistisch-technische Einstellung zum Glück, basierend auf der Planung und Berechnung individueller Glückschancen bzw. kollektiver Gratifikationswerte, gewinnt im 19. Jahrhundert mit dem Erreichen des Hochkapitalismus unaufhaltsam an Boden, denn die materiellen Lebensbedingungen – zumindest für die bürgerlichen Schichten – waren nun »von solcher Art, dass die Menschen sich von ihnen am meisten Glück versprachen«: »Das Glück bedeutete auch damals so viel wie Zufriedenheit mit dem Leben, aber es schien, dass es keine Zufriedenheit mit dem Leben ohne Wohlstand, Pieper: Glückssache, S. 105. Vorausgesetzt ist dabei natürlich ein quantitativer Glücksbegriff: »Eine weitere Schwierigkeit, die Bentham mittels eines Nutzenkalküls zu lösen versucht, besteht darin, dass sich zwar der Nutzen, nicht aber das Glück (felicity, happiness) quantifizieren lässt. […] Da Bentham jedoch sein Verständnis von Glück an den Nutzenbegriff koppelt und diesen wiederum auf Gegenstände anwendet, die auf Grund ihrer Eigenschaft, Interessen zu befriedigen, zu Glücksgütern avancieren, ist eine Quantifizierung des Glücks und damit eine Berechnung von Glücksquanten möglich.« (ebd., S. 111 f.) 70 Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft, S. 191: »In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Moderne wird die familien- und ehelose Gesellschaft unterstellt. Jeder muss selbständig, frei für die Erfordernisse des Marktes sein, um seine ökonomische Existenz zu sichern. Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder falmilien›behinderte‹ Individuum.« 69

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Gesundheit und Ruhe geben könne; dies wurde für eine unerläßliche Bedingung für das Glück gehalten, und diese unerläßliche Bedingung wurde mit dem Glück selbst identifiziert. Wer in Wohlstand und Sorglosigkeit lebte, galt als glücklich.« 71

Der glückliche Mensch scheint von da an nicht mehr anders denn als »homo oeconomicus, der subtile Tüftler von Zwecken und Mitteln und Maximierer seines Nutzens« konzipiert und gedacht werden zu können, welcher die »Inkarnation des Rationalitätsprinzips der modernen Welt schlechthin« 72 darstellt. 73 Mit dem Übergang der traditionalen, eng auf eine kulturell gewachsene Lebenswelt verwiesenen Staatsorganisationen zu kapitalistischen Nationalstaaten, die unter der Voraussetzung einer rechtlichen Egalisierung und totalen Vereinzelung aller Marktsubjekte allein noch ökonomisch durch ein Wachstum der Produktivität der Arbeit legitimiert sind, verändert sich zwangsläufig die Stellung des singulären Glücksaspiranten zum gesellschaftlichen Ganzen. Während der traditionale Staat, solange das Glück eher als Charakterdisposition, als habituelle Lebenshaltung statt als rein subjektive Gemütsverfassung aufgefasst wurde (vgl. Kapitel 3.1), mit der anspruchsvollen Aufgabe betreut war, die Menschen in ein System von kulturellen Normen und Zielen einzuüben und einen Rahmen abzugeben für illustrative Beispiele überzeugender Lebensform, erwartet man vom kapitalistischen Staat lediglich noch die Bereitstellung der Mittel effizienter Befriedigung vormoralischer Antriebe. 74 Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 271 und S. 36. Manfred Prisching: Das wohlfahrtsstaatliche Weltbild, S. 50 f. 73 Vgl. zu dieser ökonomischen Glücksvorstellung etwa auch die Abhandlungen von Günter Büschges: Selbstliebe, Glück und Solidarität, S. 25 ff. (speziell zu Adam Smith). 74 »Zum Beispiel stellten im sozial- und moralphilosophischen Denken des siebzehnten und beginnenden achtzehnten Jahrhunderts die Interessen (die ›Glückseligkeit‹) der vergesellschafteten Menschen die Wertgesichtspunkte dar, unter denen gesellschaftliche Einrichtungen auf ihre Tauglichkeit beurteilt wurden. Einschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit durch moralische und staatliche Normen wurden dadurch gerechtfertigt, dass die Betroffenen diesen Einschränkungen im wohlverstandenen eigenen Interesse zustimmen konnten. Im Begriff des Eigeninteresses wurden die verschiedenen Neigungen, Bedürfnisse, Leidenschaften und Begierden des nichtsozialisierten, vormoralischen Menschen zusammengefasst. Die Wertmaßstäbe, an denen moralische Gebote gemessen wurden, waren also keine moralischen. Moralische Tugend bewährte sich in der klugen Bewirtschaftung von Befriedigungschancen vormoralischer Antriebe. Moralisch zu handeln, war, wie Thomas Hobbes und andere darlegten, ein Gebot der Klugheit im Interesse der eigenen Glückseligkeit.« (Vowinckel: Ein unstillbarer Durst, S. 60 f.) 71 72

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Da der neuzeitliche Mensch sich glücklich wähnt, wenn er dank instrumentellen Wissens und technischen Könnens hat, was er wünscht, und ist, was er will, wobei er mit seinem egoistischen Trachten zugleich – sei es durch eigene, sei es durch unsichtbare Hand – zum gemeinsamen Ziel eines kollektiven Gesamtnutzens beisteuert, profiliert sich die Technokratie untrüglich als glücksverheißendste Herrschaftsform. Aufgrund eines fundamentalen Trugschlusses werden nun einerseits die unerlässlichen Bedingungen für Glück wie Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit (»fortuna«) immer mehr mit dem Glück selbst identifiziert, und arriviert andererseits der Staat als vermeintlich souveräner Weltgestalter zum primären Adressaten subjektiver Glücksansprüche, obgleich das Glück mehr vom – privaten oder öffentlichen – habituellen Umgang mit solchen objektiven Glücksgütern als von ihrem Quantum abhängig ist (vgl. Kapitel 4.2). Zudem überwindet die dabei vom technisch-ökonomisch qualifizierten »homo oeconomicus« unterstellte, sich gleichsam selbst regulierende Harmonie zwischen individuellem Glücksstreben und der Befriedigung der Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft nur scheinbar den Konflikt zwischen Glück und Gemeinwohl, indem das öffentliche Interesse unter Verzicht auf demokratische Entscheidungen bezüglich konkurrierender sozialer Ziele im Grunde auf das private restringiert wird (vgl. Kapitel 6.2). Korrelativ zu dieser tendenziellen »Politisierung des Glücks«, d. i. der zunehmenden Delegation der Glückskalkulation an die staatliche Verantwortungsmacht bis hin zu wohlfahrtsstaatlichen Glücksverhältnissen 75 mutiert im Zuge des beschleunigten Wirtschaftswachstums, das nicht nur in den zweckrationalen Subsystemen Wirtschaft und politischer Verwaltung eine intensivierte strategische Kontrolle erfordert, sondern eine zunehmende Kolonialisierung unserer Lebenswelt zeitigt, das subjektivistisch-hedonistische materielle Glück immer mehr zu einer sozialtechnologischen Strategie der Prisching deklariert »Wohlfahrt« als »abgemagerte Version von ›Glück‹« und übernimmt von Matz den Ausdruck einer wohlfahrtsstaatlichen »Politisierung des Glücks« (Prisching: das wohlfahrtsstaatliche Weltbild, S. 73). »Erstens, Glück ist nur noch im Diesseits definierbar, und als diesseitige Kategorien stehen Ansehen, Macht, Wohlstand, Sicherheit, Freiheit, Bildung, Erlebnis, Freizeit und dergleichen zur Verfügung. Zweitens, Glück ist eingebettet in ein Fortschrittsparadigma, demzufolge auch Glücksgefühle steigerbar sein müssen. Drittens, der Staat ist, als mächtiger, erfolgreicher und versprechungsfroher Gestalter der Welt, zunehmend der Adressat der Glücksansprüche.« (ebd., S. 72)

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kapitalistischen Werbewelt und Unterhaltungsindustrie: »Der neue BMW 3er. Kann ein Auto glücklich machen?«, fragt die Werbung suggestiv; sie »garantiert Geld, das Ihr Glück sicher schützt« oder verspricht Ferien-»Orte, wo man das Glück trifft«. 76 Ansehen, Macht, Wohlstand, spezieller Auto, Geld und Urlaub lauten heute die markantesten, ebenso popularisierten wie populären Glückskategorien, wenngleich das Angebot an kommerziellen Glücksgütern und -güterkombinationen dank steigendem Wohlstand zugegebenerweise ein unüberschaubares Ausmaß angenommen hat. Gegen eine totale Kommerzialisierung des Glücks im Zeichen technischer Rationalität, gegen die grassierende Bewusstseinstendenz also, »Glück als ein vermehrbares Gut zu interpretieren, dessen Erwerb entweder durch Inanspruchnahme von Marktleistungen oder durch Inanspruchnahme staatlicher Hilfe möglich wird« 77 , laufen die zeitgenössischen moralischen Kritiker ebenso Sturm wie gegen das trügerische Fortschrittsparadigma, in das diese Glücksvorstellung eingebettet ist: »Und so gelangen wir zu der Kultur, gegen die die moralischen Kritiker protestieren: zur Fixierung auf rein quantitatives Wachstum, das durch keinerlei Prioritäten getrübt ist. Die Rechtfertigung hierfür muss in einer Vorstellung des guten Lebens liegen, der zufolge das eigentliche Ziel des Lebens im Erwerb von immer mehr Konsumgütern liegt, deren Produktion die Stärke des Systems ausmacht.« 78

Doch so scharf einerseits die Ethiker mit den die Vermarktung eines »kleinen«, »trivialen« Glücks maßgeblich ankurbelnden Massenmedien und Werbeagenturen ins Gericht gehen, 79 appelliert man seitens empiriefreundlicher Soziologen an sämtliche Glücksforscher, »abDiese Werbe-Zitate finden sich in Alfred Bellebaum: Glücksangebote in der Alltagswelt, S. 210 f. 77 Vgl. zu dieser Glücksvorstellung Friedrich Fürstenbergs soziologische Studie Soziale Muster der Realisierung von Glückserwartungen, S. 58–70 (Zitat S. 69). 78 Charles Taylor: Negative Freiheit?, S. 282. 79 Vgl. Bellebaums Resümee der kritischen Stimmen: »Nun wird dieses Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit in der Regel nicht bloß konstatiert, sondern oftmals zugleich auch bewertet – und zwar tendenziell negativ. Schon der Ausdruck Vermarktung des Glücks soll anzeigen, dass hier etwas kommerzialisiert wird, was dies nicht verdient. Das zur Ware gewordene Glück hat eben dadurch erheblich an Wert eingebüßt. Die Bezeichnung triviales Glück meint platt, abgedroschen, seicht. Der Hinweis auf Machbarkeit von Glück signalisiert die Ablehnung einschlägiger menschlicher Bemühungen. Selbst die gebräuchliche Rede vom kleinen Glück verrät Distanz und Abwertung. Es verwundert deshalb auch nicht, dass viele Diagnostiker der modernen Welt hochbesorgt und angewidert von Glücks-Surrogaten sprechen.« (Bellebaum: Glücksangebote, S. 217) 76

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seits aller Begriffsquälerei auf ein Quantum leidlich gesicherter Lebenserfahrung« zurückzugreifen. 80 Gilt es nun, im Zeichen nüchterner Bescheidenheit den Glücksbegriff endlich »aus allzu hoher Höhe herunterzuholen« oder hat man vice versa die kursierenden Glückswaren unverzüglich als »Glückssurrogate zur Kompensation der Sinnentleertheit des eigenen Lebens« radikal zu demaskieren? 81 Obgleich eine umfassende systematische Kritik am objektivistisch-materialistischen, marktorientierten Glücksmodell erst in Kapitel 4.2 geleistet werden soll, gilt es gleichwohl, zum tieferen Verständnis sowohl des transitiv-technischen wie auch des reflexivästhetischen Glücksbegriffs bereits hier die wichtigsten Grundsatzfragen zu klären. Hören wir uns zunächst Sigmund Freuds differenzierte Stellungnahme an, der dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt keineswegs jede Relevanz für eine allgemeine Glücksintensivierung abstreitig macht, sie aber doch zu relativieren mahnt: »In den letzten Generationen haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und in ihren technischen Anwendungen gemacht, ihre Herrschaft über die Natur in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt. Die Einzelheiten dieser Fortschritte sind allgemein bekannt, es erübrigt sich, sie aufzuzählen. Die Menschen sind stolz auf diese Errungenschaften und haben ein Recht dazu. Aber sie glauben bemerkt zu haben, dass diese neu gewonnene Verfügung über Raum und Zeit, diese Unterwerfung der Naturkräfte, die Erfüllung jahrtausendealter Sehnsucht, das Maß von Lustbefriedigung das sie vom Leben erwarten, nicht erhöht, sie nach ihren Empfindungen nicht glücklicher gemacht hat. Man sollte sich begnügen, aus dieser Feststellung den Schluss zu ziehen, die Macht über die Natur sei nicht die einzige Bedingung des Menschenglücks.« 82

Auch wenn man zum eingelösten baconschen Traum einer weitgehenden Unterwerfung der Naturkräfte noch den erreichten westlichen Wohlstand und die fast unerschöpfliche Palette an allen nur wünschbaren Glücksgütern addiert, hat man die Bedingungen des Menschenglücks noch lange nicht ausgelotet, weil dieses neben der ökonomisch-technischen wesentlich auch eine psychische, soziale und moralisch-praktische Dimension aufweist. Inwiefern müssen psychische und soziokulturelle Faktoren nicht nur als weitere Glücksbedingungen unbedingt in Rechnung gestellt werden, sondern 80 81 82

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Vgl. ebd., S. 218. Zitate aus: ebd. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 53 f.

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können dem technischen Fortschritt unserer privaten Glücksökonomie geradezu einen Strich durch die Rechnung machen? Die Grundprobleme, mit denen der rational rechnende »homo oeconomicus« qua Glückskandidat sichtlich zu kämpfen hat, werden wesentlich konstituiert durch die beiden psychologischen Gesetze der Kompensation und der Gewöhnung: »Wenn wir irgendein Gut erreichen, so erhalten wir fast immer zusammen mit ihm irgendein Übel, oder haben wir ein Gut erreicht, so gewöhnen wir uns daran und empfinden es nicht mehr so stark oder sogar überhaupt nicht mehr.« 83 Bei letzterem handelt es sich um das empirisch nachweisbare und aus persönlichen Erfahrungen wohlbekannte »Gesetz des abnehmenden Grenznutzens«: »Ob und wieviel uns etwas an zusätzlichem Glück verschafft, hängt von der gesamten Abfolge vorheriger Befriedigungen ab. Es entscheidet sich an der Grenze von vorheriger und zusätzlicher Befriedigung. Wir gehen also von der Erfahrungstatsache aus, dass nach einer Abfolge gleichartiger Befriedigungen die Befriedigung, die wir aus einem zusätzlichen Befriedigungserlebnis gleicher Art gewinnen, stets abnimmt. Man spricht hier vom ›Gesetz des abnehmenden Grenznutzens‹.« 84

Aufgrund dieser beiden psychologischen Prinzipien rennt der neuzeitliche »homo faber« ständig den Bedingungen des Glücks nach, die er für zuverlässige Bürgen seines Glücks oder gar für dieses selbst hält, ohne dass er je im Zustand einer glücklichen Erfüllung zur Ruhe käme. Wie das Anspruchsniveau infolge des Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens in die Höhe schnellt und der Genießer sein lustspendendes Ziel immer höher schrauben muss, um noch genießen zu können, steigt gemäß dem ersten psychologischen KompensationsPrinzip in Ermangelung lebensbedrohlicher Gefahren die SchmerzTatarkiewicz: Über das Glück, S. 275. Als Nachweis für das Kompensationsgesetz führt Tatarkiewicz folgenden frühen Beleg an: »In dem im Jahre 1704 herausgegebenen Buch Examen des préjugés vulgaires führte der Jesuit Buffier sogar aus, dass neue Erfindungen die Menschen eher immer unglücklicher machen. Zum Beispiel habe die Erfindung der Karosse die Menschen nicht glücklich gemacht, denn jene, die sie nicht besitzen, hätten einen weiteren Grund, neidisch zu sein, jene aber, die sie besitzen, seien nicht mehr in der Lage, ohne sie auszukommen, und somit in ihrer Freiheit beschränkt, ganz zu schweigen davon, dass sie aus Bewegungsmangel Krankheiten zum Opfer fielen …« (ebd., S. 274) Zu einem ganz ähnlichen Fazit gelangt auch Freud, dem es implizit gelingt, die Irrmeinung ad absurdum zu führen, die negativen Technikfolgen ließen sich kraft technischer Mittel mühelos kompensieren, in: Das Unbehagen, S. 54. 84 Michael Baurmann/Hartmut Kliemt: Glück und Moral, S. 11 f. 83

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empfindlichkeit kontinuierlich an, indem die kleinen Irrritationen in unserer Wohlstands- und Konsumgesellschaft gleichsam zu hypertrophieren beginnen: »Wo aber die große Gefahr fehlt, melden sich die kleinen Irritationen und beginnen zu hypertrophieren. Die Schmerzempfindlichkeit, die Sensibilitätsschwelle erhöht sich, und zugleich gilt das Umgekehrte: der gefühlte Schmerz steigert wieder rückwirkend die Verlorenheit. Herrschaft von einzelnen oder der Gesellschaft, die bisher als unabweisbar galt, wird jetzt als repressiv empfunden. Restriktionen weichen allgemeiner Permissivität. […] Keine strenge Forderung ist mehr zumutbar; der moderne Name für die Versagungen, mit denen, die Forderung zu erfüllen, verbunden wäre, heißt Frustration, und Frustration darf keinem zugemutet werden. […] Die, die einst in Entbehrungen glücklich waren, werden jetzt, unter gewandeltem Vorzeichen, im verwöhnenden Luxus wehleidig und krank. Das Ultimum steht voll von Sanatorien.« 85

Das wirtschaftliche Wachstum und der eskalierende Lebensstandard implizieren mithin eine »Revolution der wachsenden Ansprüche« 86 , so dass auch das »wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ein ruhiges und glückliches« darstellen mag, gleichwohl aber »untrennbar auch mit Glücksdefiziten und Verdrossenheit verbunden« 87 ist. Lange vor der wohlfahrtsstaatlichen Eskalation der Ansprüche im 20. Jahrhundert brachte die kapitalistische Blüte des 19. Jahrhunderts im Zeichen des durch zahllose philosophische, literarische und reale Zeitdokumente belegten Pessimismus 88 ein aufschlussreiches Kontrast-Phänomen zum Glück hervor: die Langeweile. Diese lässt sich meines Erachtens nicht allein vermöge des empirisch-psychologischen Gesetzes des abnehmenden Grenznutzens erklären, sondern Michael Landmann: Sinnverlust und Eudaimonismus, S. 162. Im Einklang mit der Kompensationsthese registriert Birnbacher: »Mit jedem Fortschritt in der Medizin nimmt die Bereitschaft, Schicksalshaftes als solches anzuerkennen und zu ertragen, ab. Geburt, Alter, Tod – Einbruchstellen ungebändigter Naturzwänge – werden zunehmend als Schock erlebt.« (Birnbacher: Technik, S. 632) 86 Vgl. Bell: KWK, S. 32. Auf den besagten Wertwandel werde ich im nächsten Teilkapitel näher eintreten. 87 Prisching: Das wohlfahrtsstaatliche Weltbild, S. 73. 88 »Gerade das 19. Jahrhundert brachte die extremsten Theorien des Pessimismus hervor, die es jemals gegeben hat«, denn nicht nur philosophische Theorien und literarische Erzeugnisse, sondern »reale Dokumente der Epoche – Briefe, Memoiren, persönliche Tagebücher – zeugen davon, wieviel Leere und Überzeugung von der Nichtigkeit des Lebens inmitten dieser Ruhe und dieses Wohlstandes gab.« (Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 271) 85

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wirft notwendig ein Licht auf die beim technischen Glücksstreben vernachlässigte soziale und moralisch-praktische Dimension, speziell auf die lebensweltlich-kommunikative Kunst des Zielesetzens. Schopenhauer, der ohne Zweifel dem modernen Pessimismus die theoretischen Grundlagen zur Verfügung stellte, skizziert die Crux der genuinen Negativität eines wunschtheoretischen Glücks des noch so klugen, mächtigen und bemittelten »homo oeconomicus« so: »Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein: wo nicht, so folgt Öde, Leere, Langeweile, gegen die der Kampf ebenso quälend ist wie gegen die Noth.« 89

Im Gegensatz zum utilitaristischen Optimisten sieht der schopenhauersche Pessimist den glücksverlangenden Menschen mithin verzweifelt oszillieren zwischen dem Schmerz der Nichtbefriedigung eines Wunsches und der Leere und Langeweile fehlender Wünsche oder Ziele. Schopenhauers für den in Kapitel 3.1 erörterten Glücksnegativismus mustergültige Bestimmung des Glücks lautet: »Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung, sondern muss immer die Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d. h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuss auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth.« 90

Reziprok zur Reduktion des durch ein Defizit an kommerziellen Glücksgütern verursachten Schmerzes – welcher infolge der erhöhten Schmerzempfindlicheit nie ganz auszumerzen ist – eskaliert im nachindustriellen Zeitalter unweigerlich die glücksvereitelnde Langeweile, weil uns nach den längst überwundenen mythisch-traditionalen normativen Orientierungshilfen auch noch die gemeinsamen praktischen Ziele aus situativer Not sowie die individuellen Wünsche betreffs ameliorierbarer Glücksbedingungen zusehends abhandengekommen sind. Ungeachtet dessen, dass auf der Akme der wissenschaftlich-technischen Rationalisierung dank der Automatisierung 89 90

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 370. Ebd., Bd. 1, S. 376. A

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sämtlicher Lebensbereiche und der daraus resultierenden Monotonieerfahrungen die »Lange Weile« auf direktem Wege begünstigt wird, breitet sich auf diese Weise ein Orientierungsvakuum aus als idealer Nährboden für Langeweile schlechthin: 91 Wo die situativen Anforderungen dank eines hohen Lebensstandards entschärft werden und infolge des steigenden Anspruchsniveaus die Distanz der Glücksgüter zur Sphäre des Lebensnotwendigen ständig zunimmt, bieten sich immer weniger äußere Ziele als Handlungsanreize an. Während man früher beispielsweise »Urprodukte« wie Schuhe mit dem Konsumentenziel eines erleichterten Gehens erwarb – weshalb die Welt des Habens in ihrem Anfangsstadium von beeindruckender Orientierungssicherheit gekennzeichnet war –, kann dieses, wo man sich beim Kauf des x-ten Paars konfrontiert sieht mit einem uferlosen Angebot an gleichtauglichem Schuhwerk weder länger als persönliches handlungsleitendes Entscheidungskriterium dienen, noch auch die intersubjektive Kommunikation über Nutzen und Qualität der Waren gewährleisten: »In der Ursituation scheint der Nutzen der Gegenstände fast eine Naturgegebenheit zu sein, als gehörte die Haltbarkeit zum Wesen des Schuhwerks oder die Geschwindigkeit zum Wesen des Transportmittels. Dass dies Unsinn ist, zeigt sich in der langfristigen Geschichte der Warenwelt. Die scheinbar naturwüchsige Selbstverständlichekit von Nutzendefinitionen geht allmählich verloren; mehr und mehr tritt die Konstruiertheit von Zwecken zutage und wird allmählich zum Problem. Immer größer wird die Distanz der Produkte zur Sphäre des Lebensnotwendigen.« 92

Während der Produktentwickler vom Ingenieur und Nutzenoptimierer zum Nutzenerfinder zu mutieren hat, scheinen dem ratlosen Glücksspekulanten in der entscheidungsschweren Pattsituation nur noch zwei Wege offen zu stehen: entweder dem wunschlosen Un-

Unter dem Stichwort »Langeweile« kann man, unterdividiert in »Situationen« und »Kognitionen« der Langeweile, in einer Einführung zur Emotionspsychologie folgendes zur Kenntnis nehmen: »Situationen: Langeweile wird oft als typische Freizeiterscheinung angesehen. […] Langeweile entsteht immer dann, wenn die situativen Anforderungen sehr gering erscheinen, wenn die Tätigkeiten eintönig werden. Kognitionen: Ein wesentliches Bestimmungsstück der Langeweile ist, dass man subjektive Ziele verloren hat. Die Situation wird als uninteressant, gleichgültig, wenig fordernd angesehen, der eigene Zustand wird als unbefriedigend, unausgeglichen eingeschätzt.« (Dieter Ulich/ Philipp Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 177) 92 Gerhard Schulze: Das Projekt des schönen Lebens, S. 19. 91

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glück »postmoderner Indifferenz« anheim- 93 oder aber den zu »philosophischen Nutzenerfindern« transformierten Produktentwicklern und Werbeagenturen zum Opfer zu fallen. Neben dieser äußeren Verursachung der für eine wissenschaftlich-technisch hochentwickelte Wohlstandsgesellschaft typischen sozialen Phänomene der Leere und Langeweile 94 – die sich bis hin zu depressiver Sinn- und Hoffnungslosigkeit steigern können – 95 lässt sich eine komplementäre innere lokalisieren. Diese bezieht sich also nicht auf die situative Unterforderung, sondern auf die hinlängliche Sättigung unserer »natürlichen« Bedürfnisse, auf unseren inneren »Mangel an Mangel« 96 : »Was beim Gang durch einen Supermarkt sinnlich erfahrbar wird, die tausendfache Auffächerung der Möglichkeiten, denen man mit seiner winzigen psychischen und physischen Verdauungskapazität gegenübertritt, ist kennzeichnend für das Alltagsleben in unserer Gesellschaft schlechthin.« 97 Während man früher ins Unglück stürzte, weil Macht und Mittel fehlten, das zu haben, was man sich wünscht bzw. der zu sein, der man sein will, drohen sich Wissenschaft und Technik auf dem Höhepunkt des kapitalistischen Möglichkeitsgewinns selbst zu diskreditieren, indem sie unser kühnstes Wünschen und Wollen weit hinter sich gelassen haben und damit dem wunschtheoretischen Glück allmählich seine Grundlage entziehen. Um dies zu verhindern, geht indes, je weniger wir intrinsisch 98 zum Handeln bzw. Konsumieren motiviert sind, die systemische Assoziation von Wirtschaft, Technik und Wissenschaft im Stadium der zweiten industriellen Revolution konsequent dazu über, Vgl. Manfred Geiers Das Glück der Gleichgültigen. Von der stoischen Seelenruhe zur postmodernen Indifferenz. Schuld am Langeweile provozierenden postmodernen Indifferenz-Pänomen sind in Geiers Augen in erster Linie die Medien, welche durch ihren Neutralisierungseffekt sämtliche lebensweltlichen Orientierungspunkte entdifferenzieren (vgl. ebd., S. 221 f.). 94 Vgl. Schulzes glücksspezifisches postmodernistisches Diktum: »Die letzte noch mögliche Sünde ist die Langeweile.« (Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks, S. 39) 95 Betreffs des inneren Zusammenhangs dieser Phänomene erläutern Ulich/Mayring: »Sich verbreiternde und vertiefende Langeweile kann jedoch auch zu einer Grundhaltung völliger Interesselosigkeit führen, zum ›Lebensekel‹, zu depressiver Sinn- und Hoffnungslosigkeit.« (Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 176) 96 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, S. 19. 97 Schulze: Das Projekt, S. 21. 98 Der schillernde Begriff »intrinsisch«, ohne an dieser Stelle bereits zerlegt zu werden, fungiere hier im Sinne von »innerlich«, »eigentlich« im Kontrast zu »äußerlich«, »nicht wirklich dazugehörend«. Er wird uns in Kapitel 5.1 nochmals beschäftigen. 93

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Bedürfnisse zu fabrizieren statt zu stillen. Immer häufiger werden wir daher neben der Langeweile und Sinnleere von der unheilvollen Ahnung übermächtigt, manipulierbare Objekte einer Glücksgüterindustrie zu sein, welche uns kraft Sozialprogrammierung und Medientechnik imaginäre Wunschbilder und künstliche »falsche« Bedürfnisse einimpft und uns somit zu »eindimensionalen Menschen« (Marcuse) heranzüchtet. Wie groß ist die Autonomie des individualistischen Glücksökonomen, der, sich in der Position göttlicher Selbstbestimmung wähnend, über sämtliche wissenschaftlichen und technischen Mittel zur Kalkulation seiner Glückschancen und Optimierung seiner Bedürfnisbefriedigung verfügt, aber immer weniger über situativ bedingte äußere Handlungsziele und sogenannte »natürliche«, einen lebensbedrohlichen Mangel indizierende Trieb- oder Vitalbedürfnisse? Findet sich der zivilisierte Mensch, befreit aus den Klauen einer gebietenden Natur und dem Gefängnis nötigender Triebe, unversehens erneut versklavt unter wissenschaftlich-technischer Ägide? Herbert Marcuse, einer der vehementesten Kritiker einer bedürfnisproduzierenden Glücksindustrie, insistiert auf der leicht irreführenden Differenz von »wahren« und »falschen« Bedürfnissen, wobei letztere »dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden« sollen: »Solche Bedürfnisse haben einen gesellschaftlichen Inhalt und eine gesellschaftliche Funktion, die durch äußere Mächte determiniert sind, über die das Individuum keine Kontrolle hat; die Entwicklung und Befriedigung dieser Bedürfnisse sind heteronom.« 99 Neben dieser von Charles Taylor mit der Etikette »romantische Kritik« versehenen Stoßrichtung der Frankfurter Schule, welcher die Suppression des sogenannten »spontane[n] Strom[s] des Lebens, der durch uns und alle Dinge hindurchgeht«,100 ein Dorn im Auge ist, kursiert auch eine mehr »platonische«, welche die Hinwendung zu ständig vervielfachten Bedürfnissen als Abfall von höheren Zielen (wie etwa der Wahrheitssuche) deutet. 101 Obgleich ich die Diagnose vom Autonomieverlust des glücksaspirierenden »homo oecoHerbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 25. Charles Taylor: Negative Freiheit?, S. 237. 101 Taylor hat hierbei in erster Linie E. F. Schumacher im Blickwinkel mit seiner Publikation Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wissenschaft und Technik (vgl. ebd.). 99

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nomicus« attestiere, der sich solange von der Bedürfnisindustrie unterjochen lässt, wie die Eskalation der Bedürfnisse mit derjenigen der Mittel ihrer Befriedigung Schritt hält, scheinen mir die Prämissen beider gesellschaftskritischen Bestandesaufnahmen – sowohl die »natürlichen« Lebenstriebe und Bedürfnisse wie auch die platonische Ideenwelt – reichlich wankend. Denn wie in Kapitel 5.2 bei unseren genaueren Analysen des Bedürfniskonzeptes gezeigt werden soll, müssen auch die »wahren« oder »natürlichen« primären, d. h. angeboren biologischen Trieb- oder Tivalbedürfnisse soziokulturell überformt und stabilisiert werden und sind somit graduell ebenso »unwahr« oder »künstlich« wie die anscheindend erst durch gesellschaftliche Mächte fabrizierten sekundären Bedürfnisse, die ihrerseits zumeist genauso in der menschlichen »Natur« verankert und damit »wahr« sind wie die primären. Zudem stand die menschliche Technik seit jeher wesentlich im Dienst der Befriedigung soziokulturell definierter Bedürfnisse – man denke etwa an die Großtechnik der ägyptischen Pyramiden oder griechischen Tempel –, so dass auch gegen die raffinierten technischen Bedürfnisbefriedigungsgestalten der modernen Glücksgüterindustrie nichts einzuwenden wäre. 102 Allein die Ursachen des gegewärtigen kulturellen Unbehagens gegenüber einer wissenschaftlich-technischen Glücksindustrie besteht genaugenommen nicht in der Tatsache der gesellschaftlichen Formung sekundärer oder künstlicher anstelle der längst befriedigten primären oder natürlichen Bedürfnissen, sondern vielmehr in der Art ihrer Formung, die durch »partikuläre gesellschaftliche Mächte« unter Ausschaltung unseres demokratischen Mitbestimmungsrechtes und unseres distanzierten Reflexionsvermögens überhaupt erfolgt. Besteht doch offenkundig »der Preis für das machbare Glück in unserer Gesellschaft, das in genügend großer Menge produziert und verkauft werden kann, darin, dass es keine Distanzierung des Konsumenten mehr gestattet. Wer die Realisierung seiner Wunschwelt durch den Konsum materieller Glücksgüter anstrebt, bleibt an die Konsummuster gebunden, die eine marktorientierte Produzentenordnung vorschreibt.«103

In Ermangelung jeglicher normativer Kriterien nach der Verkürzung menschlicher Rationalität auf Zweckrationalität und des mensch102 103

Vgl. Birnbacher: Technik, S. 622. Fürstenberg: Soziale Muster, S. 66. A

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lichen Glücks auf eine rein ökonomisch-technische Angelegenheit, scheint der Mensch, unfähig zu distanzierter moralisch-praktischer Bewertung, sein Glück nur noch über »falsche«, d. h. ohne Beteiligung seines kritischen Urteilsvermögens entwickelte und zu befriedigende Bedürfnisse erlangen zu können. Halten wir nochmals die bisherigen Erkenntnisse bezüglich der beiden Wurzeln der Langeweile, des externen Defizits an eindeutig von der Situation vorgegebenen Zielen wie des internen Verlusts an drückend-ungebändigten »natürlichen« Trieben fest: Obschon einerseits die stammesgesellschaftliche Selbstverständlichkeit bezüglich der ursprünglichen Nutzendefinitionen (etwa die Haltbarkeit des Schuhwerks) oder die gemeinsamen Zielsetzungen aus situativer Not (z. B. die Erleichterung beim Gehen) nicht auf ein substantielles »Wesen« der Nutzgegenstände zurückgeführt werden kann 104 und andererseits bereits in Urgesellschaften »wahre« bzw. »natürliche« Bedürfnisse soziokulturell orientiert werden mussten, erübrigt sich doch keineswegs die Differenz zwischen naturgegebenen und konstruierten Zielen bzw. zwischen primären und sekundären Bedürfnissen als solchen. Das fundamentale glücksspezifische Dilemma besteht allerdings weder darin, hierbei keine eindeutig fixierbaren Grenzen ziehen zu können, noch darin, eine deutliche Verlagerung von naturgegebenen zu konstruierten Zielen, von primären zu sekundären Bedürfnissen feststellen zu müssen, sondern vielmehr darin, dass sowohl die Zielsetzung wie auch die Bedürfnisorientierung im Laufe der Technisierung und Rationalisierung zunehmend dem lebensweltlichen Kontext normativer Konsensfindung entrückt wurde. Statt dass Handlungsziele und die Art der Bedürfnisformation im Rekurs auf gemeinsame kultische Traditionen oder demokratische Übereinkünfte legitimiert und begründet werden, überlässt man Zielbestimmung und Bedürfnisorientierung den Konkurrenten auf dem Absatzmarkt. Diese versuchen unsere Grundbedürfnisse auf bestimmte angebliche Glücksgüter zu orientieren, welche sie uns mittels rein instrumentell-technischer Kriterien der Preiswertigkeit und Zeitersparnis, Effektivität und bequemeren Handhabbarkeit bei der Bedürfnisbefriedigung schmackhaft machen (vgl. Kapitel 5.2). Dank solch heteronomer Formung von Bedürfnissen, deren Befriedigung zugegebenerweise immer schneller und effizienter vonstatten geht,

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Vgl. Schulzes entsprechenden, S. 80 zitierten Nachweis aus: Das Projekt, S. 19.

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verlieren wird das Glück umso mehr aus den Augen, je rettungsloser wir uns ins dichte Netz der Mittel verstricken. 105 Wenngleich im Zuge der Entzauberung aufgrund des Defizits einer gemeinsamen sinnund orientierungsstiftenden Welt- und Lebensanschauung die moralisch-praktische Vernunft subventioniert werden müsste, um die gesellschaftlichen Ziele und Formationsrichtungen unserer Bedürfnisse konsensuell zu dekretieren, tritt an die Stelle einer kritischen Reflexion der wissenschaftlich-technischen Produktentwicklung heute eine »Fetischisierung der Waren«, 106 anstelle engagierter Prioritätensetzung die Flucht in eine aktiv-passiv neutrale Existenzweise postmoderner Indifferenz – oder aber in sinnleere Hyperaktivität. Da Entstehung und Fortgang der Glücksvorstellungen bzw. -einstellungen weder eine rein empirische Angelegenheit noch auch ein rein individuelles Phänomen darstellen, sollte das Glück endlich auch als normatives, soziales Problem diskutiert werden – ohne dass vorab »partikulären gesellschaftlichen Mächten« die Repression irgendwelcher per se berechtigter »wahrer«, »natürlicher« Triebe oder Interessen zur Last gelegt wird. »Der Begriff des Wohlergehens bzw. Glücks ist nicht rein empirisch«, pointiert Höffe; »ohne kritische Unterscheidung wie die zwischen artikuliertem und tatsächlichem Interesse, zwischen vermeintlichem und wohlverstandenem, zwischen naturwüchsig vorhandenem und sozial akzeptablem Interesse ist eine rationale Bestimmung des menschlichen Glücks nicht möglich.« 107 105 Fromm illustriert dies in etwas plakativer Form: »Die Menschen arbeiten, um mehr Geld zu verdienen; sie verwenden dieses Geld, um noch mehr Geld zu verdienen, und der Zweck – die Freude am Leben – wird aus dem Auge verloren. Die Menschen sind immer in Eile und erfinden alles mögliche, um mehr Zeit zu gewinnen. Dann benutzen sie die eingesparte Zeit, um wieder herumzuhetzen und noch mehr Zeit zu sparen, bis sie schließlich so erschöpft sind, dass sie mit der eingesparten Zeit nichts mehr anfangen können. Wir sind in einem Netz von Mitteln gefangen und haben die Zwecke aus den Augen verloren.« (Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 151) Hyperaktivität schützt zwar vor Langeweile, nicht aber vor dessen Begleitgefühlen der Leere, Apathie und Sinnlosigkeit (vgl. ebd., S. 14). 106 »Warum muss die arbeitssparende Mechanisierung ohne Ende weitergehen, bis hin zu elektrischen Zahnbürsten und ähnlichen Absurditäten?«, fragt Taylor berechtigterweise: »Intellektuell ließe sich das niemals begründen, aber unterstellt ist dabei irgendwie, dass eine bessere und stärkere Ausstattung ein Mehr an Befriedigungsmöglichkeiten bietet. Die Waren werden in einem nicht-marxistischen Sinne ›fetischisiert‹, werden magisch mit den Eigenschaften des Lebens, dem sie dienstbar sind, ausgestattet: als ob ein schnelleres Auto mein Familienleben harmonischer machte.« (Charles Taylor: Negative Freiheit?, S. 283) 107 Otfried Höffe: Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 21.

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Der Unterschied zwischen wohlverstandenen oder »wahren« und vermeintlichen oder »falschen« Bedürfnissen kann dabei wie gezeigt nicht darin liegen, dass sie einmal Ausdruck einer inneren oder äußeren »Natur«, eines »spontanen Lebensstroms«, zum andern »soziale Konstruktionen« darstellen, sondern allein im Antagonismus einer lebensweltlich-normativen, von allen Kommunikationsteilnehmern getragenen Begründung versus einer unzureichenden systemischen Legitimation durch einen mit dem allgemeinmenschlichen vermeintlich kongruenten »technischen Fortschritt«. Solange man aber vor der unleugbaren Tatsache, dass bei den meisten feilgebotenen Glücksgüter längst sowohl die objektive wie subjektive Grenze der Steigerungsfähigkeit erreicht und überschritten ist – die subjektive etwa bei raffinierten Softwarepaketen, deren Funktionen keiner zu nutzen weiß –, 108 um der Glücksoptimierung willen weiterhin den Kopf in den Sand steckt, entgeht einem freilich auch die Schwierigkeit, in der ganzen Prosperität »einen ernsthaften gesellschaftlichen Zweck zu erblicken« 109 . Wo eine kritische Neubestimmung des Glücksbegriffs im Zeichen einer integrativen Lebenswissenschaft anvisiert wird, müsste man allererst davon loskommen, das »Verfügenkönnen, das die empirischen Wissenschaften ermöglichen«, mit der »Potenz aufgeklärten Handelns«, die glücksökonomische Technik mit einer aufgeklärten beglückenden Praxis zu verwechseln. 110

108 Eine objektive Grenze der Steigerungsfähigkeit ist z. B. bei Hi Fi-Geräten logischerweise dann erreicht, »wenn es keinen Unterschied mehr zwischen Wirklichkeit und Wiedergabe gibt« (Schulze: Das Projekt, S. 20), die subjektive Grenze immer dann, wenn bestimmte Produkte eindeutig über das subjektive Ziel hinausschießen: »Fotoapparate mit Funktionen, die niemals in Anspruch genommen werden; Autos, die 250 Stundenkilometer fahren können« (ebd.). 109 »Als die Gesellschaft noch darum kämpfte, annehmbare Wohnungen und die grundlegenden Gebrauchsgüter weiten Teilen der Bevölkerung zugänglich zu machen, war der Zusammenhang zwischen all der Mühe und Arbeit und dem Ziel der Sicherung eines privaten Bereichs für alle deutlich genug«, warnt Taylor: »Nun, da die meisten über einen solchen Bereich verfügen, erscheinen die Verfeinerungen, die Einführung größerer Motorkraft, höherer Geschwindigkeit, neuer Modelle, Kinkerlitzchen usw. immer unangemessener. Es wird schwieriger, in all dem einen ernsthaften gesellschaftlichen Zweck zu erblicken.« (Taylor: Negative Freiheit?, S. 285) 110 Habermas insistiert zu Recht: »Das Verfügenkönnen, das die empirischen Wissenschaften ermöglichen, ist mit der Potenz aufgeklärten Handelns nicht zu verwechseln.« (Habermas: Technik, S. 112)

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Ästhetisierung und reflexiv-ästhetisches Glücksverständnis

2.2 Ästhetisierung und reflexiv-ästhetisches Glücksverständnis Richten wir unsere Aufmerksamkeit bei diesem Teilkapitel unmittelbar auf das 16. Jahrhundert mit dem dynamischen Auftrieb des Technisierungsprozesses, um die Gleichgewichtsverlagerung in der Relation von Ästhetisierung und Technisierung sowie deren jeweiligen Einfluss auf die soziokulturellen Glücksvorstellungen eruieren zu können: Lewis Mumfords Illustration der mechanisierten und objektivierten Welt der Renaissance, aus welcher die »Zentralgestalt« der glanzvollen Reihe der naturwissenschaftlichen Pioniere; Galilei, »den Menschen so völlig, wie die neue Astronomie den gläubigen Christen aus seinem erhofften Himmel verbannt« 111 uns den -»Rahmen für ein entpersönlichtes Weltbild« geliefert haben soll, »in dem technische Aktivitäten und Interessen vor menschlicheren Problemen Vorrang hatten«, 112 evoziert jedenfalls einige Zweifel. Die sich angeblich über den Menschen mutwillig hinwegsetzenden rein »technischen Aktivitäten« zielten dabei darauf ab, den Druck einer übermächtigen Natur auf den Menschen zu mildern, um die generellen Lebensbedingungen, speziell Arbeits- und hygienische Verhältnisse erträglich zu gestalten. Schließlich stellt die sich bereits in der Scholastik ankündigende Befreiung des Individuums aus dem Joch jeglicher Autoritäten, ohne die im Vertrauen auf den eigenen Erfindergeist entwickelte Methode hypothetischer Versuchsanordnungen und eigenhändiger Experimente sowie das unzweideutig anthropozentrische Forschungsziel der Naturbeherrschung und praktischen Nutzanwendung wären zweifellos weder die bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen noch die »große technische Transformation« denkbar gewesen. Die sich von Italien aus über ganz Europa ausbreitende humanistische Renaissance stellt dem Mittelalter das 111 Vgl. das Kapitel »Das mechanisierte Weltbild«, S. 393–421, in: Lewis Mumford: Mythos der Maschine (Zitat S. 394). »Im Mittelpunkt des neuen Weltbildes existierte der Mensch nicht«, proklamiert Mumford provokatorisch, »ja er hatte keinen Grund zur Existenz. Anstelle des Menschen, eines Wesens mit einer langen Geschichte auf einem Planeten, dessen Bewohner und Lebensräume eine noch unermesslich längere Geschichte haben, blieb nur ein Bruchstück übrig – der losgelöste Verstand, und nur gewisse besondere Produkte dieses sterilen Verstandes, wissenschaftliche Theorien und Maschinen, können einen permanenten Platz oder ein hohes Maß an Realität beanspruchen. Im Interesse der Objektivität eliminierte der neue Wissenschaftler den historischen Menschen und alle dessen subjektive Handlungen. Seit Galileis Zeiten ist diese Praxis als objektive Wissenschaft bekannt.« (ebd., S. 398) 112 Ebd. S. 393.

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Bild eines allseitig gebildeten, auf sich selbst gestellten Menschen entgegen, um ihn in seiner Würde, ja in politischer Hinsicht in seiner ganzen Macht (Machiavelli) freizusetzen. Während also der Mensch entgegen Mumfords Suggestion auf der Bühne der mechanisierten Welt durchaus die Hauptrolle spielt, verliert mit der Destruktion qualitativ-substantieller lebensweltlicher Strukturen lediglich die traditionell-kulturelle lebensweltliche Orientierung gegenüber der systemisch-technischen an Gewicht. Diese unleugbare frühneuzeitliche »Wende zum Subjekt«, die durch die humanistische Geistesbewegung initiierte Umwälzung des gesamten, nun allein in der menschlichen Vernunft und schöpferischen Freiheit begründeten Wertesystems ermöglicht aber nicht nur die epochemachenden Entdeckungen auf dem Felde der Wissenschaft und Technik, sondern legt gleichzeitig den Grundstein zur ästhetischen Kultur der Selbstverwirklichung und des Selbstgenusses, zu einer selbstreferentiellen Entfaltung persönlicher Wünsche und Neigungen, deren Entstehung im Folgenden rekonstruiert werden soll. Obgleich unsere Wünsche und Neigungen niemals als unveränderlicher Komplex vorhanden sind, sondern vielmehr gestalt- und ausrichtbar und immer schon auf vielfältige Weise sozial vermittelt sind (vgl. Kapitel 4.1), kam die Idee ihrer kreativen Formbarkeit erst im Laufe einer hier zu beleuchtenden Ästhetisierungstendenz zum Tragen. Im 16. und 17. Jahrhundert beziehen sich »Selbsterhaltung«, »-steigerung« und »-verwirklichung« noch vorwiegend auf sogenannte primäre Bedürfnisse, die zudem wesentlich nach außen auf Bedarfsgüter oder Notlagen, nicht nach innen orientiert sind. Die entscheidende Wende im Bereich der Selbsterfahrung und -verwirklichung, bei der »vielleicht das siebzehnte Jahrhundert den Drehund Angelpunkt« bilde, liegt nach Taylor darin, »dass der Horizont der Identität für den modernen Menschen in seinem Innern zu finden ist, während er sich für den vormodernen Menschen im Außen befindet«, 113 weil damit zugleich die Orientierungsrichtung der Erfüllung von Wünschen und Neigungen wechselt. Diese allmähliche Horizontverschiebung der Identität von einer primären Außenorientierung zu einer Innenorientierung mit Möglichkeiten ästhetischer Selbstgestaltung und -entfaltung steht in Zusammenhang mit der wegweisenden Befreiung des sich vom Handwerker als »mechanischem Künstler« absetzenden »freien Künstlers« aus dem kirchli113

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Taylor: Negative Freiheit?, S. 250.

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chen Dienst analog zu derjenigen des Naturwissenschaftlers aus dem scholastischen Korsett aristotelischer Textexegese. Der Name des »freien« oder »schönen« Künstlers erscheint im 16. Jahrhundert erstmals auf dem Bild, auch wenn dieser bis zur Substituierung der traditional-feudalistischen durch die kapitalistischen Strukturen im 18. Jahrhundert noch in Abhängigkeit vom höfischen Mäzenatentum verbleibt. 114 Ledig aller mythisch-überkommener Wesensdefinitionen und aufgefordert zur absoluten göttlichen Selbstbestimmung, gewinnt der frühneuzeitliche Mensch gleich dem Künstler langsam Distanz zu vorgegebenen äußeren Zwecken und strebt, »aus sich selbst das Bestmögliche zu machen, sich gar unter Missachtung alter Traditionen selbst zu einem gänzlich neuen Menschen zu formen.« 115 Foucault spricht bei seinen historischen Analysen zur »Ästhetik der Existenz« von einer Wiedergeburt des Autonomieanspruchs antiker Selbstkultur: »Die Vorstellung, man könne aus seinem Leben ein Kunstwerk machen, war dem Mittelalter zweifellos fremd und tauchte erst mit der Renaissance wieder auf.« 116 Sowohl das ästhetische wie auch das technische Moment im frühneuzeitlichen Selbst- und Weltverständnis nach dem humanistischen Wertewandel werden entscheidend konstituiert durch den Charakter radikaler Künstlichkeit der sich sukzessive durchsetzenden neuen Weltanschauung: In einem entmythifizierten, substanzfreien Universum mutiert der Mensch, entbunden aus jeder normativen kosmologischen oder göttlichen Ordnung, zum innerlich distanzierten, experimentell verfahrenden, souveränen Konstrukteur und Gestalter seiner selbst wie seines Ordnungsrahmens, innerhalb dessen er sich zu bewähren hat. Die Befreiung von sämtlichen autoritären Vorgaben an Regeln und Normen zugunsten vollzugsorientierter und selbstzweckhafter Existenz (1) und das spielerisch-experimentelle Herstellen ungewohnter Lebens- und Wirklichkeitsverhältnisse (3) 114 Vgl. zu dieser gesellschaftlichen Dimension der ästhetischen Umstrukturierungen in der frühen Neuzeit Dagmar Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Kapitel 3, einleitende Bemerkungen. 115 Bell: KWK, S. 25. 116 Michel Foucault: Zur Genealogie der Ethik, S. 290. Dass allerdings in der Antike nur begrenzt von einer »Ästhetik der Existenz« gesprochen werden kann, zeigte sich bei unseren ästhetisch-ethischen Untersuchungen in Kapitel 2 von Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?. Mit Recht macht Foucault aber darauf aufmerksam, dass auch in den religiösen Reformbestrebungen des Protestantismus mit ihrem Appell an Innerlichkeit und persönliche Verantwortung Elemente individueller – notabene nicht »ästhetischer« – Selbstkultur wiederbelebt werden (vgl. ebd.).

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numerierte ich in meiner ästhetiktheoretischen Arbeit Kunst – jenseits von Gut und Böse? als erstes und drittes notwendiges Merkmal einer typisch neuzeitlichen »ästhetischen Einstellung«. 117 Allerdings muss vergegenwärtigt werden, dass beiden Momenten ästhetischer Welt-Stellung, den durch den Befreiungsakt des Renaissance-Künstlers stimulierten Prinzipien ästhetischer Selbstzweckhaftigkeit und spielerischer Kreativität, im 16. Jahrhundert angesichts dringlicher technischer Fragen zur Schaffung besserer Lebensbedingungen enge Grenzen gesetzt sind. Zu Schlüsselfiguren der frühen Neuzeit avancieren dementsprechend die ästhetisch-technisch ambivalenten Gestalten eines freien Abenteurers und Welteroberers, eines strategischen Genies kriegerischer Feldbeherrschung, eines managerialen Künstler-Organisators, 118 und es wimmelt in der strahlenden Kulturblüte tiefgreifender religiöser, politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen von kreativen Konstrukteuren: Kopernikus, Leonardo da Vinci, Palestrina, Shakespeare, Luther sind nur einige markante Persönlichkeiten einer breiten Palette revolutionärer Innovateure. Der selbstbewusst-schöpferische konstruktive Geist der frühen Neuzeit verschafft sich mithin sowohl auf dem Felde der Naturwissenschaften und Technik wie auch auf künstlerischem, also im engeren Sinne ästhetischen Areal Ausdruck, wobei an den Wurzeln des Kapitalismus ein Pakt zwischen Technisierung und Ästhetisierung eruiert werden kann: Zum einen gereicht der schöpferische und erfinderische, kühn experimentierende naturwissenschaftlich-technische Geist einer Entdeckung, mathematischen Dechiffrierung und geschickten Organisation einer gemeinsamen, kausalmechanischen Gesetzen unterworfenen Welt von Teilchenverbänden, nicht aber der ästhetischen Erschaffung einer fiktionalen Welt, ebenso wie Vgl. die Einleitung von Fenner: Kunst, S. 13. Vgl. dazu Pankoke: Modernität des Glücks, S. 83: »Das moderne Subjektbewusstsein, sich ›selbst‹ als Konstrukteur ›seiner‹ Welt begreifen und verantworten zu können und zu müssen, konnte ›sich bilden‹ in der freien Kreativität moderner Kunst, in der verfassungsgebenden Autonomie konstitutioneller Politik, als stategisches Genie kriegerischer Feldbeherrschung, im ›Wagnis‹ unternehmerischer ›Risikogestaltung‹, aber auch in der radikalen (Inter-)Subjektivität einer romantischen ›Kunst des Lebens‹. Damit entwickelte sich ein neues radikal ›konstruktivistisches‹ Weltverständnis, das dazu aufforderte, für die Entwicklung, Gestaltung und Steuerung moderner Wirklichkeit nun selbst die Verantwortung zu übernehmen.« Dabei ist wohlgemerkt ein konstruktivistisches Weltverhältnis nicht immer schon ein ästhetisches (vgl. die Kontroverse zwischen Welsch und Seel, referiert in: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Beginn des 5. Kapitels). 117 118

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selbst der geniale Renaissance-Künstler vermöge systematischer anatomischer Studien und direkter, antikisierender Naturnachahmung die wahren Wirklichkeitsverhältnisse zutage zu fördern trachtet. Zum andern sucht die Technisierung und instrumentelle Rationalisierung von aller Anfang an den Kontakt zur Ästhetisierung, indem sie sich am lebensweltlich-kulturellen Verlangen nach distanzierter, freier Selbstbestimmung gemäß Picos Appell: der zu sein, der man will, und dem damit implizierten spezifischen ästhetischen (Selbst-) Genuss orientiert (2). Auch bei diesem zweiten Charakteristikum ästhetischer Welt- und Selbststellung, dem spezifisch ästhetisch-reflektierten Wohlgefallen sind die Grenzen zum rein sinnlich-hedonistischen Genuss unter frühneuzeitlichen Bedingungen von außen zugegebenerweise nicht leicht zu ziehen. 119 Wie Bacon unter dem Slogan »Wissen ist Macht« mittels technischer Erfindungen und systematischen Wissens immer effizientere Wunschbefriedigung und Erlangung der selbstgesetzten Ziele zur Steigerung der affektiven Selbstbezüglichkeit anvisiert, steht bei Hobbes’ Versuch, die neue mechanistische und mathematische Methode auf Geschichte und Politik zu übertragen, die Selbsterhaltung und -steigerung klar im Zentrum. Wenn sich das Prinzip der Selbststeigerung und -erhaltung nachweislich trotz stoischer Antizipation erst »seit dem 16. Jahrhundert und namentlich seit Hobbes als neues und alleiniges Rationalitätsprinzip« etabliert, 120 dann offenkundig als eine Kombination von szientifisch-technischer Naturbeherrschung und künstlerisch-ästhetischer Selbstentfaltung. Von einer ästhetisch-kulturellen oder romantischen Selbstverwirklichung und entsprechendem Selbstgenuss kann sicherlich keine 119 Vgl. ebd., S. 13. Die Differenz zwischen hedonistischem Genuss und ästhetischem Wohlgefallen wird ebd., in Kapitel 5 erläutert. Kierkegaard illustriert den spezifisch ästhetischen Selbstgenuss am Beispiel des »Verführers« Johannes so: »Das Poetische war das Mehr, das er selbst mitbrachte. Dieses Mehr war das Poetische, das er in der poetischen Situation der Wirklichkeit genoss: das nahm er wieder zurück in Form von dichterischer Reflexion. […] Im ersten Fall genoss er persönlich das Ästhetische, im zweiten Fall genoss er ästhetisch seine Persönlichkeit.« (Sören Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 1, S. 354) Ganz ähnlich lautet Schulzes phänomenologische Beschreibung in: Die Erlebnisgesellschaft, S. 45 f. 120 Josef Früchtl: Spielerische Selbstbeherrschung, S. 125. Als erster Repräsentant dieser anti-kartesischen Art der Selbstbeherrschung figuriert Montaigne: »Selbstbeherrschung gilt bei ihm als stets instabil bleibendes Resultat von ›Selbsterkundung‹ (selfexploration); Selbstbeherrschung meint nicht Selbstkontrolle (self-control), sondern – wie man im Deutschen sagen müsste – Selbstmeisterung (self-mastery).« (ebd., S. 126)

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Rede sein, wo im Kontrast zu Michel de Montaignes innovativer Art selbstreflexiver und -referentieller Selbst-Erkundung 121 der Weltund Selbstkonstrukteur Mensch wie bei Pico oder Descartes von vornherein auf eine rein denkende Substanz (»res cogitans«) restringiert 122 und damit tatsächlich gemäß Mumfords wiederholtem Verdacht als »mehrdimensionales Subjekt« gleichsam »exkommuniziert« 123 wird. Auch Montaignes Projekt eines »Individualismus der Selbstentdeckung«, 124 seine essayistischen Spielereien mit antiken Positionen zum Zwecke einer Distanznahme von sich selbst, durch welche Raum für Reflexion und ästhetische Stilfindung geschaffen wird, sind freilich primär von formal-ästhetischem Wert, vergleichbar den hellenistischen Hypomnemata im Rahmen von Foucaults »Ästhetik der Existenz«. 125 Solange sich ästhetische Kreativität sowie Selbstgesetzgebung kraft der Wahl persönlicher Zwecke und Lebensstile im Rahmen instrumenteller Orientierung an einer Effektivitätssteigerung bei der Erfüllung primärer Bedürfnisse und an der technischen Naturbeherrschung vollziehen, bleibt der heute manifeste »kulturelle Widerspruch« zwischen den zwei auseinanderdriftenden axialen Prinzipien zweifellos latent. Da der einzelne sich in der Not der Zeit vorwiegend äußere, materielle Zwecke setzt und das Glück, der zu sein, der man will, aufgrund solch außenorientierter Wünsche nahezu koinzidiert mit dem Glück, das zu haben, was man sich wünscht, gerät der ästhetisch-selbstreferentielle Genuss an der eigenen selbstzweckhaften Existenz aus dem Blickfeld und scheint der »homo faber« als Nachfolger des liquidierten »homo sapiens« den ebenfalls neu inthronisierten »homo aestheticus« gänzlich zu absorbieren. Vermöge der strategischen Verbindung von Macht und Methode gilt ein primär außenorientiertes, gleichwohl hedonistisches und auf Selbststeigerung abzielendes wunschtheoretisches Glück anders als das zerbrechliche romantisch-ästhetische Glück grundsätz121 Vgl. Michel de Montaignes Essays, die sich bereits zu seiner Zeit bemerkenswerter Beliebtheit erfreuten, was wohl unstreitig als Indiz für das frühneuzeitliche Bedürfnis nach einer neuartigen »Wissenschaft der Selbsterkenntnis« gedeutet werden darf. 122 »Ich bin also genau nur ein denkendes Wesen, d. h. Geist, Seele, Verstand, Vernunft […]. Ich bin aber ein wahres und wahrhaft existierendes Ding, doch was für ein Ding? Nun, ich sagte es bereits – ein denkendes.« (René Descartes: Meditationes de prima philosophia, S. 47) 123 Mumford: Mythos der Maschine, S. 400. 124 Taylor: Quellen des Selbst, S. 325. 125 Vgl. Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Kapitel 5.2, S. 483 f.

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lich als technisch machbar, was in aller Deutlichkeit Machiavellis bereits zitierte »Macho-Parole« dokumentiert, derzufolge »Fortuna« ein Weib sei, das man bezwingen könne. 126 Es liegt infolgedessen nahe, dem ästhetischen Moment der Eigengesetzlichkeit und des Selbstgenusses neben dem technischen der souveränen Verfügungskunst über die mechanischen und politischen Begebenheiten der Außenwelt als den zwei Seiten im frühneuzeitlichen Glücksverständnis eine zweitrangige Rolle zuzumessen. Obgleich die Glückseligkeitslehren des 17. Jahrhunderts mit ihrem Ziel der Selbstvervollkommnung und -steigerung bei forcierter Hinwendung zu inneren psychischen Vorgängen auf den ersten Blick der Ästhetisierungstendenz im menschlichen Glücksstreben den Weg zu ebnen scheinen, werden wir hier wiederum enttäuscht: Von einer typisch ästhetischen, sich gegenüber sämtlichen Kausalzusammenhängen der äußeren Welt wie dem inneren Triebhaushalt distanzierenden freien Grundstellung ist man auch bei dieser affekttheoretisch fundierten Form, »aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen«, noch weit entfernt. 127 In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts schließlich, sowie man aufgrund einer glücksspezifischen Kontamination der Prinizpien Rationalismus und Sensualismus das Glück in der wissenschaftlich-technischen Vervielfältigung und vernunftgemäßen Befriedigung der Bedürfnisse erblickt, scheint das Attribut »ästhetisch« lediglich in einem ganz unspezifischen Sinn angebracht. So ließe sich das liberal-aufklärerische Glück etwa deuten als Ausdruck einer »ökonomisch ausgerichteten ästhetischen Lebensform, in welcher Hedonismus und Utilitarismus einander die Hand reichen«, wie sie Annemarie Pieper allerdings erst in der gegenwärtigen »westlichen Überflussgesellschaft« erkennt. 128 »Ästhetisch« müsste dann in einem weiten Sinn der ursprünglichen griechischen Wortbedeutung (»aisthesis«) verstanden werden als »bezogen auf die sinnliche Wahrnehmung« generell, die immer mit Lust (»hedone«) oder Unlust verbunden ist. 129 Der Hedonismus, zu dem sich die namhaften Protagonisten der Enzyklopädie bekennen, 130 feiert in seiner Vgl. Kapitel 2.1, S. 64. Vgl. Kapitel 2.1, S. 67. 128 Annemarie Pieper: Glückssache, S. 129. 129 Vgl. zu den Begriffen »ästhetisch« und »ästhetische Lebensform« ebd., S. 39 ff. 130 Neben den französischen Materialisten La Mettrie, Helvetius und Holbach bezeichnen sich auch Fontenelle, Diderot und d’Alembert als Hedonisten. Während aber die Materialisten davon ausgehen, dass Glück nicht nur ein legitimes, sondern auch ein er126 127

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extremen kyrenaischen und egoistischen Version, organisiert in Orden und Gesellschaften, beschwört in hochtrabenden Eidesformeln, 131 im 18. Jahrhundert zweifellos Hochkonjunktur. Auch wenn die entdifferenzierende terminologische Identifikation von »ästhetisch« mit »hedonistisch« im Kontext einer wissenschaftlichen Untersuchung grundsätzlich abzulehnen ist, 132 hat diese Hochkonjunktur des Hedonismus wesentlich zur Subjektivierung des Glücksbegriffs beigetragen und durch eine breite Protestbewegung die Ästhetisierungstendenz im Glücksverständnis provoziert, so dass wir bei diesem sozialen Phänomen noch etwas verweilen wollen. Auf heftige Widerstände traf die in vielen Modellen der Glückseligkeitslehre bereits latente hedonistische Glücksvorstellung nicht zuletzt in Deutschland, das im Vergleich zu England und Frankreich noch am Ende des 18. Jahrhunderts in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht ein unterentwickeltes Land darstellt: Während in Frankreich das Stürmen und Drängen in eine Revolution mündet, die um der Freiheit und Gleichheit aller willen die alte Gesellschaftsordnung gewaltsam aus den Angeln hebt, verharrt Deutschland in der verstaubten politischen Konstruktion eines »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« als Konglomerat von mehreren tausend Herrschaftsbereichen. Nachdem in diesem »Heiligen Reich« infolge eines starken obrigkeitlichen Denkens gegenüber der Instanz des Landesvaters oder Fürsten lange Zeit kaum ein politisch selbstbewusst auftretendes Bürgertum existierte, erwacht gegen Ende des Jahrhunderts eine durch die »Leserevolution« stimulierte kritische Öffentlichkeit, denn die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen steigt in der zweiten Jahrhunderthälfte drastisch an, es vermehren sich die bürgerlichen Lesegesellschaften wie ein Lauffeuer, reichbares Lebensziel darstellt (vgl. Tatarkiewicz’ Zitatenarsenal in: Über das Glück, S. 268), lässt die in der Großen Enzyklopädie referierte Glücksabhandlung Fontenelles skeptischere Töne verlauten (vgl. ebd., S. 268). 131 »Die große Blüte des Hedonismus, sowohl des praktischen als auch des theoretischen, fiel in das 18. Jahrhundert. Der praktische Hedonismus dieses Jahrhunderts war sehr extrem und kyrenaisch; zumindest bestimmte Schichten, wie jene, die Laclos in Die gefährlichen Bekanntschaften vorgestellt hatte, suchten nach schneller Befriedigung und legten sich bei deren Auffindung keinerlei Zwang auf. Der Orden der Glückseligkeit (Ordre de Félicité) wurde in Frankreich im vierten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts begründet.« (ebd., S. 317) Gegenüber dem praktischen Hedonismus, nahm der theoretische – etwa unter der Federführung Benthams – weniger emotionale, mehr universale Gestalt an (vgl. ebd., S. 317 f.). 132 Vgl. Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, S. 383 f.

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und es zirkuliert eine große Zahl moralischer Wochenzeitschriften mit einer Schlüsselrolle für die deutsche Spätaufklärung. Dem repräsentatorischen und ranggebundenen feudalen Wertesystem werden bürgerliche Werte von »Tugend«, »Vernunft«, »Freiheit« und »Gerechtigkeit« entgegengesetzt, wobei gleichzeitig den hedonismusverdächtigen Glückseligkeitsmodellen der Krieg erklärt wird. Sobald sich nämlich die territorialstaatlichen Verfassungen gefestigt haben, soll in Vowinckels Worten die »langfristig unangefochtene Stabilität der fundamentalen gesellschaftlichen Ordnungsmuster […] die Ausbildung entsprechender Moralbegriffe« 133 in die Wege geleitet haben. Kein anderer als Immanuel Kant, der hinsichtlich des Antagonismus von hedonistisch-egoistischem Glück und soziozentrischer Moral emphatisch auf die Pflicht setzt, da nur diese ihm mit der nach ästhetischem Autonomie-Modell erkämpften sittlichen Freiheit und Menschenwürde vereinbar scheint, 134 soll »der Glückseligkeitslehre so gründlich den Garaus gemacht haben, dass sie sich nie wieder davon erholte.« 135 Die zweite Stoßrichtung der spätaufklärerischen deutschen bürgerlichen Opposition richtet sich weniger gegen das hedonistischamoralische Moment der Glückseligkeitslehren, als vielmehr gegen deren technisches, ohne doch geradewegs auf die Spur des uns hier vornehmlich interessierenden Ästhetisierungsprozesses zu führen. Gleich den ästhetisierenden, gefühls- und naturbetonten Künstlern des »Sturm und Drang« zweifelt man an der Machbarkeit des Glücks, diesmal in Form der Glücksverheißungen des aufgeklärten Absolutismus: Auf politischer Ebene manifestiert sich nämlich das neuzeitliche Macht- und Machbarkeitsdenken in der sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden Fürstenmanier, den absoluten Machtanspruch durch das wissenschaftlich-technisch herstellbare Bürgerglück qua Wohlstand und optimale Bedürfnisbefriedigung zu legitimieren. SolVowinckel: Die Glückseligkeitslehre, S. 43. Vgl. zur Analogie des Ästhetischen und Ethischen bei Kant Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Kapitel 3.21. 135 Vowinckel: Die Glückseligkeitslehre, S. 43. Vgl. auch ders.: Ein unstillbarer Durst, S. 61: »Das Bürgertum kehrte in einem moralischen Paradigmenwechsel zu einer ›Moral des Zwangs‹ zurück, in der die Normen nicht länger mit den Glücksansprüchen der am Kollektiv beteiligten Menschen gerechtfertigt werden durften. Das ›Pflichtgebot‹ wird von solchen Rechtfertigungen unabhängig, es wird ›absolut‹ gemacht. […] In diesem Pflichtbegriff, in der Achtung der Regelhaftigkeit um der Regelhaftigkeit willen, der Unterwerfung der eigenen Natur, sieht nun Durkheim die wichtigste Errungenschaft der nachantiken europäischen Kultur.« 133 134

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che absolutistischen Diktate des Glücks zur Legitimation der staattlichen Macht werden nun als unliebsame Bevormundung und Hindernis persönlicher Selbstentfaltung und -vollendung gerügt. 136 In seinem »politischen Testament« appelliert etwa Georg Forster mit engagierter Polemik an alle nach freier menschlicher »Entwicklung und Vervollkommnung« strebenden Bürger, endlich das von der noch so »wohlmeinenden Obrigkeit« suggerierte »lügenhafte Bild« von Glück zu demaskieren, um nicht in Anbetracht des staatlichen Autoritäts- und Machtanspruches der Menschenwürde verlustig zu gehen: »Wohlan ihr Fürsten und Priester! Wir gönnen Euch euren Genuss; aber wir sprechen euch zugleich los von einer Pflicht, die alle eure Kräfte übersteigt. Anstatt uns Glück zu verheißen, lasst es eure alleinige Sorge sein, die Hindernisse wegzuräumen, die der freien Entwickelung unserer Kräfte entgegenstehen; öffnet uns die Bahn, und wir wandeln sie, ohne Hülfe eures Treibersteckens, an das Ziel der sittlichen Bildung; denn seht? wir empfangen Freude und Leid, unsere wahren Erzieher, aus der Mutterhand der Natur!« 137

Es wird also gleichsam die ältere Konfrontation zwischen Staatsmacht und Bürgerglück »revolutionär gewendet: In der Konfrontation mit absolutistischer Macht sollen die Bürger sich frei machen, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen.« 138 »Glück« arriviert gegen Ende des 18. Jahrhunderts überkontinental zum Synonym oder Symbol

Nach Forsters Diagnose gilt, dass »vom Despotismus ein glücklicher Zustand des Menschengeschlechts auf keine Weise zu hoffen steht, wenn die Ersättigung und Befriedigung der Naturbedürfnisse, die er so willkürlich für das einzige Glück ausgibt, durch seine Anstalten nicht einmal erlangt werden kann, wenn jede Aufmunterung an das Volk, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, ihm in seine Rechte einzugreifen sucht, gleichwohl die Natur, indem sie Kräfte und Fähigkeiten in den Menschen legte, die Entwicklung und Vervollkommnung augenscheinlich zu seiner Hauptbestimmung erhoben hat.« (Georg Forster: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschen, S. 105) 137 Ebd., S. 116. Pankoke erläutert das Schlüsselphänomen so: »Bedeutete ›Glück‹ in der politischen Semantik bislang den Legitimationstitel herrschaftlicher Bevormundung, die unter dem Vorwand der Sorge für das ›Glück‹ den Untertanen die Freiheit abspricht, so wechselt der Begriff des ›Glücks‹ nun seine Perspektivik: ›Glück‹ als fraglos hinzunehmendes göttliches Geschick oder als Gehorsam fordernde staatliche Bevormundung wird nun konfrontiert mit dem Anspruch, dass die Menschen ihre Verhältnisse selbst in die Hand und in Verantwortung nehmen wollen und in dieser aktiven Fähigkeit der ›Vervollkommnung‹ ihrer Welt ihr ›Glück‹ suchen.« (Eckart Pankoke: Modernität des Glücks, S. 80) 138 Ebd., S. 79. 136

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»menschlicher Selbstbestimmung«. 139 Aber während es in Deutschland noch als Parole im Kampf gegen die politische Bevormundung durch den spätaufgeklärten Absolutismus kursiert, wird das autonome Glücksstreben, »the pursuit of happinness«, am 4. Juli 1776 bereits als »unalienable right« in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fest verankert. Eine dritte, nicht mehr spezifisch deutsche Gegenbewegung zum hedonistischen, in den Glückseligkeitslehren vorbereiteten Glücksverständnis entzündet sich am blinden Fortschrittsoptimismus der liberal-aufklärerischen Hedonisten, die »in der Steigerung der wirtschaftlichen Fähigkeiten das Agens der kulturellen Entwicklung« erblicken, weil die kontinuierliche Eskalation der Bedürfnisse angeblich automatisch die Entfaltung kultureller und sozialer Potenzen zeitige, wenngleich evidentermaßen der ökonomische Fortschritt lediglich die Grundlagen für einen möglichen kulturellen darstellt. 140 Gegen diesen trügerischen Optimismus einer alle Hoffnungen auf den Fortschritt wissenschaftlich-technischer Rationalität setzenden Glücksvorstellung rebelliert eine junge Künstlergeneration um die Jahrhundertmitte, deren Protest uns hier besonders interessieren muss: Auf dem Kulminationspunkt des Emanzipationszuges neuzeitlicher instrumenteller Vernunft, obschon dieser der Menschheit ökonomischen Fortschritt und maximale Bedürfnisbefriedigung dank wissenschaftlicher Systematisierung und technischer Zähmung der Natur ebenso versprach wie bescherte, schwindet nämlich infolge eines weiteren Subjektivierungs- und Ästhetisierungsschubs das Vertrauen in die vermeintlich glücksbringende ratio als alleinigem Gestaltungsorgan von Subjekt und Welt. Während die mit dem Frühkapitalismus einhergehenden Veränderungen im politischen und sozialen Gefüge zwar den Einfluss des Bürgertums stärkten, aber keineswegs die mittelalterlichen feudalen Verhältnisse suspendierten, entfaltet sich die neuzeitliche Subjektivität nach dem Paradigma des »felix aestheticus« einer Genieästhetik und einer sowohl das Mimesisideal wie auch das Mäzenatentum überwindenden autonomen Kunst in der Mitte des liberalistischen und kapitalistischen 18. Jahrhunderts erst in ihrer vollen Größe. Sowie der »mechanische Künstler« im Prozess der Arbeitsteilung und Industrialisierung als bloß ausführendes Organ in der Hand der Fabrikanten sozial gegenüber 139 140

Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Die Angst vor dem Glück, S. 153. Vgl. Müllers Kritik in: Bedürfnis und Gesellschaft, S. 18. A

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dem »freischaffenden Künstler« degradiert wird, arriviert nämlich der Künstler, geschmückt mit Prädikaten wie Spontaneität, Originalität und Individualität, zum Leitbild eines »entfesselten Ich« 141 und zum Inbegriff spezifisch menschlicher Daseinsweise schlechthin. 142 Nicht nur gibt es der neuen Kunst- und Lebensauffassung zufolge erhebliche Differenzen zwischen den Original-Individuen, sondern diese ziehen in Taylors Worten »die Konsequenz nach sich, dass jeder von uns seinen eigenen Weg hat, den er gehen soll. Die Unterschiede erlegen jedem von uns die Pflicht auf, der eigenen Originalität im Leben gerecht zu werden.« 143 Stand die Respektabilität eines Künstlers und der Wert seines Werkes bis zum Übergang der feudalistischen Traditonalstaaten zu den kapitalistischen, in nicht-normative, funktionale Subsysteme zersplitterte Rechtsstaaten wesentlich in Abhängigkeit vom Rang des Protektors, explodiert nach seiner Entlassung in den freien Konkurrenzkampf auf dem neuentstandenen Kunstmarkt der Drang, seiner eigenen Persönlichkeit und Einzigartigkeit Ausdruck zu verschaffen. 144 So sehr dieser gesteigerte Individualismus auch als Übersetzung der liberalistischen Wirtschaftsprinzipien ins Ästhe141 Vgl. Bell: »Der freie Waren- und Geldverkehr und die individuelle ökonomische und soziale Mobilität wurden zum Ideal erhoben. Im Extremfall wird das Laisser-faire-Prinzip zum ›zügellosen Individualismus‹. Auf der Kulturebene entsteht der unabhängige Künstler, der aus der Herrschaft von Kirche und fürstlichem Patron entlassen, all das schreiben und malen kann, was ihm selbst und nicht seinem Gönner gefällt; der freie Markt steht ihm offen. In der kulturellen Entwicklung hat dieses Streben nach Unabhängigkeit, der Wille, frei zu sein – nicht nur vom Mäzen, sondern auch von allen Konventionen –, seinen Ausdruck im Modernismus gefunden und, in extremer Form, in der Vorstellung vom entfesselten Ich.« (Bell: KWK, S. 26) 142 Vgl. zu diesem Aufschwung des Ästhetischen und den entsprechenden soziokulturellen Umstrukturierungen Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Einleitung zum 3. Kapitel. 143 Charles Taylor: Quellen des Selbst, S. 653. 144 »Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts lebten die Schriftsteller nicht vom direkten Ertrag ihrer Werke, sondern von Pensionen, Pfründen, Sinekuren, die oft weder mit dem inneren Wert noch mit der allgemeinen Anziehungskraft ihrer Schriften im Verhältnis standen. Jetzt erst wird das literarische Produkt zur Ware, deren Wert sich nach ihrer Verkäuflichkeit auf dem freien Markt richtet […] Die Respektabilität eines Menschen hing im Zeitalter der höfischen und aristokratischen Gesellschaft vom Rang seines Protektors ab, jetzt, in der Epoche des Liberalismus und Kapitalismus, genießt er dagegen ein um so größeres Ansehen, je freier er von persönlichen Bindungen ist und je erfolgreicher er sich im unpersönlichen, auf der Gegenseitigkeit der Leistungen beruhenden Verkehr mit den anderen erweist.« (Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 54)

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tisch-Künstlerische dechiffriert werden kann, bedeutet doch der Hang, den Rezipienten zum unmittelbaren Zeugen seines intimen Seelen- und Gewissenskampfes zu machen, zugleich eine klare Opposition gegen den vom kapitalistischen Wirtschaftssystem forcierten Technisierungs- und Rationalisierungsprozess mit der Tendenz zur Mechanisierung, Nivellierung und Entpersönlichung des Lebens. 145 Die epochale ästhetische Wendung zum subjektiven Geniekult um 1750, die das geniale Schöpfersubjekt als Substitut der legendären Legitimationsinstanz einer »wahren Natur« oder einer außerkünstlerischen mäzenatischen Institution inthronisiert und damit den künstlerischen Übergang von der Mimesis zum Ausdruck konsolidiert, entfacht sich also sowohl dank wie trotz des Kapitalismus. Der neue, mit der Inauguration des »homo aestheticus« als Prototyp des freien neuzeitlichen Bürgersubjekts auf den Plan tretende Individualitätsbegriff, d. i. die »im 18. Jahrhundert aufkommende Vorstellung, wonach jedes Individuum anders und etwas Ureigenes ist und durch seine Originalität darauf festgelegt wird, wie es leben sollte«, 146 impliziert eine innovative Robinsonade: Anstelle des kartesischen Modells der »Selbstbeherrschung« als Lebens-Konstruktion nach rationalen Ordnungen mit dem hobbesschen Ziel der Befriedigung möglichst vieler Neigungen tritt die von Montaigne antizipierte Form einer spielerischen »Selbsterkundung«, die ausschließlich in der ersten Person die individuellen, ganz besonderen Gefühlsregungen und ihre Ausdrucksmöglichkeiten im Rahmen einer sinnerfüllt-selbstzweckhaften Existenz zu explorieren auszieht. 147 Dieser neue Subjektbegriff ist zweifellos gekoppelt mit einem neuen Naturbegriff, der quer steht zur vorherrschenden mechanistischen, instrumentell-technischen Einstellung zur Natur, und von Taylor auf die Zauberformel »Natur als innere Quelle« 148 gebracht Vgl. ebd., S. 63. Taylor: Quellen des Selbst, S. 653. 147 Taylor exponiert diese beiden Formen als zwei Alternativprogramme der Verinnerlichung neuzeitlicher Subjektivität, die beide dem augustinischen Erbe entstammen (vgl. ebd., S. 330). 148 Ausgangspunkt dieser Anschauungen der Natur als innerer Quelle ist dabei »Rousseau, und ihre erste wichtige Artikulierung finden sie vielleicht im Werk Herders. Danach werden sie nicht nur von Autoren der Romantik, sondern auch von Goethe sowie in anderer Form von Hegel aufgegriffen und entfalten sich so zu einer der für die neuzeitliche Kultur maßgeblichen Strömungen.« (ebd., S. 639) 145 146

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wurde. Obgleich die jungen, sich als »Stürmer und Dränger« gebärdenden Künstler wohl Holbachs Diktum affirmiert hätten, demzufolge der Mensch nur darum unglücklich sei, weil er die Natur verkenne, erblicken sie in dem von den Aufklärern in ihrer Fortschrittseuphorie projizierten Ideal eines hedonistischen Glücks mittels der Befriedigung von immer künstlicheren, durch die fruchtbare Verbindung von Naturwissenschaft und Technik fabrizierten Bedürfnissen gerade eine unglücksverheißende Entfremdung des Menschen von der »wahren Natur«. Allen voran Rousseau, die Menschheitsgeschichte als Geschichte des Verfalls, als Sturz vom Glück ins Unglück lesend, entlarvt die zivilisierte Gesellschaft der grandiosen wissenschaftlich-technischen Errungenschaften »als ein Gemisch gekünstelter Menschen und künstlicher Leidenschaften«, die »keine wahre Grundlage in der Natur haben«: »der Naturmensch lebt in sich selbst, der Kulturmensch ist immer sich selbst fern und kann nur im Spiegel der anderen leben.« 149 Während er das aufklärerische Glücksamalgam aus rationalistischer Lebensform, technischer Bedürfnisbefriedigung und hedonistischem Genuss als plattes »Vergnügen ohne Glück« 150 diskreditiert, appelliert Rousseau mit seinem – allzu oft missverstandenen – »Zurück zur Natur« an unsere ursprünglichen und tugendhaften Gefühle. 151 Denn die natürlichen, noch »vor dem Verstande« vorhandenen Prinzipien der Selbstliebe (»amour de soi«) und des Mitgefühls (»pitié«), 152 denen Rousseau zu ihrem Recht verhelfen will, machen den Menschen angeblich ebenso wohl tugendhaft wie glücklich. Die eindringliche Grundsatzfrage der das menschliche Glück statt in ökonomischen oder wissenschaftlichtechnischen Erfolgsleistungen in der Natur als dynamischer innerer Quelle aufzufinden hoffender Stürmer und Dränger lautet daher: »Wozu soll es gut sein, unser Glück in der Meinung anderer zu suchen, wenn wir es in uns selbst finden können?« 153 Die sich im 18. Jahrhundert vollziehende neuzeitliche subjekti149 Jean-Jaques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit unter Menschen (1755), S. 265. 150 Ebd., S. 267. 151 Statt mit seinem Ruf »Zurück zur Natur!« ein »Zurück auf die Bäume!« zu intendieren, soll der entfremdete Mensch mittels Intuition (vgl. ebd., S. 71) und hypothetischer historischer Rekonstruktion (ebd., S. 81) zu einem Leben in Übereinstimmung mit seiner eigentlichen Natur und damit zur Vollendung der Kultur zurückfinden. 152 Vgl. ebd., S. 72 f. 153 Ebd.

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vistische Wende des Glücksbegriffs, wie sie sich sowohl im technischhedonistischen Glücksverständnis der Aufklärer als auch in der ästhetisch-künstlerischen Glücksvorstellung der durch Rousseau inspirierten schöpferischen Geister des »Sturm und Drang« manifestiert, wurde durch die protestantische Frömmigkeit religiöser Regungen vorbereitet. Indem sie im Zuge der Säkularisierung in die Gefühlskultur der Empfindsamkeit übersetzt und vom Gott-Mensch-Verhältnis auf den zwischenmenschlichen Bereich transponiert wurde, legt diese religiöse Frömmigkeit das Fundament für die Subjektivierung des Glücksbegriffs, welche Eckart Pankoke exemplarisch am Begriff »Glückseligkeit« rekonstruiert. 154 Neben der von England ausgehenden und rasch den Kontinent überschwemmenden Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts mit ihrer noch nie dagewesenen Hochschätzung der Empfindsamkeit erfährt die von Rousseau und Herder stimulierte Neuorientierung des »künstlichen«, entfremdeten Menschen an der »Natur als innere Quelle« Rückhalt durch die von Herder lancierte Begeisterung für den neuentdeckten Ursprung der Sprache und der Kultur im expressiven Ausdruck, für die frühe Volkspoesie als authentische Mitteilung einer natürlichen Synthese von Denken und sinnlicher Kraft. 155 Aus der Verbindung dieser Hinwendung zur ursprünglichen, natürlichen Einheit und Ganzheit von Gefühl und Verstand mit dem Ruf nach Originalität im Rahmen des Geniekultes geht eine ästhetische Lebensanschauung hervor, welche das gelingende und glückliche Leben nicht kraft einer mechanistischtechnischen, unter ausschließlicher Leitung der Vernunft zu vollstre154 Vgl. Pankoke: Modernität des Glücks, S. 84 f. Betreffs der spannenden Etymologie der »Glückseligkeit« berichtet er: »›Glückselig‹ hat in den etymologischen Kommentaren des 18. Jahrhunderts eine doppelte Herleitung: während Adelung 1774 die Herleitung von ›Glücksal‹ (Wortbildung wie ›Schicksal‹, ›Drangsal‹ im Sinne von ›bestimmt durch; geprägt von, begabt an‹) akzentuiert, verweist die Schreibweise ›glückseelig‹ in der Verbindung von ›Glück‹ und ›Seele‹ auf die ›seelischen‹ oder moderner: die ›subjektiven‹ Momente. Aus der Bestimmung eines äußeren Zustandes wird die Beschreibung einer inneren Befindlichkeit. Die Verbindung mit ›se(e)lig‹ wird dann aus der theologischen Bedeutung ins Moralische verschoben. Diese zunächst in religiöser Sprache entfaltete Semantik des Glückseligkeitsbegriffes eröffnete neue Perspektiven der ›Verinnerlichung‹ des ›Glücks‹ : ›Glückseligkeit‹ meint einerseits die günstige Schicksalsfügung, zum anderen das Glücksgefühl, das sich im Bewusstsein guten Geschicks und Gelingens einstellen kann. Auch hier entwickelt sich die Subjektivierung des Begriffs der ›Glückseligkeit‹ aus der Säkularisierung, Moralisierung oder Psychologisierung des theologischen Bedeutungskomplexes ›Seele‹.« (ebd., S. 85) 155 Vgl. dazu meine einleitenden Gedanken zu Kapitel 4 von Wahrheit am Ende?, oder Taylor: Quellen des Selbst, S. 656.

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ckender Selbstverwirklichung erstrebt, sondern auf dem Wege einer sogenannten »expressiven Individuation« (Taylor). Diese Vorstellung eines öffentlichen Kundtuns und eines gleichzeitigen kreativen Gestaltens seiner »inneren Natur« ist nach Taylors Diagnose längst zu einem unbewusst internalisierten Ingrediens unserer Kultur geworden: »Die expressive Individuation ist zu einem Eckpfeiler der neuzeitlichen Kultur geworden, und zwar dermaßen, dass wir es kaum merken und uns nicht ohne weiteres damit abfinden können, dass diese Vorstellung im Rahmen der Menschengeschichte so jungen Datums ist und in früheren Zeiten unverständlich gewirkt hätte. […] Die expressive Anschauumg des menschlichen Lebens geht anstandslos einher mit einer neuen Kunstauffassung. Sofern der Ausdruck in doppeltem Sinne definiert, d. h. sowohl formuliert als auch formt, wird die wichtigste menschliche Tätigkeit ebenfalls diese Beschaffenheit aufweisen. Die Tätigkeit, durch die die Menschen ihre Natur verwirklichen, wird auch in diesem doppelten Sinn definiert.« 156

Mit der Kunstauffassung der Romantik verstärkt sich unzweideutig die im »Sturm und Drang« entzündete Ästhetisierungstendenz als zunehmende Verschränkung von Kunst und Leben. Dieser Aufschwung der ästhetischen Welt- und Lebensanschauung leitet im technischen Zeitalter des Hochkapitalismus die Polarisierung von »instrumentalistischer Orientierung an Effektivitätsgesichtspunkten« und der »romantischer Orientierung an Werten der Selbstverwirklichung« in die Wege, welche uns eine tiefgreifende »Kulturkrise« der Gegenwart beschert haben soll. Dabei war Taylor zufolge die im Werk Rousseaus und Herders artikulierte »philosophische Theorie der Natur als Quelle« so entscheidend gewesen »für den als ›Romantik‹ bezeichneten Umbruch im Denken und Empfinden […], dass es verlockend ist, die beiden gleichzusetzen«, 157 wozu man angesichts der Mannigfaltigkeit der kursierenden Definitionsversuche des Romantik-Begriffs nur allzu leicht geneigt ist. Am besten wäre die romantische Bewegung wohl als Rebellion gegen die klassizistischen Ideale und Normen mit ihrem Insistieren auf das Rationale, auf Maß, Klarheit und formale Harmonie zu fassen, wobei diese Opposition Taylor: ebd., S. 655. Ebd., S. 639. Die Hinwendung zur Idee der Natur als Quelle sorgt laut Taylor »nicht nur dafür, dass die expressive Deutung über die Poesie (und natürlich auch über die Musik, wo sie immer schon einen gewissen Halt gefunden hatte) hinausgehend auf die Kunst im allgemeinen übertragen wird, sondern sie verleiht der Kunst auch ihren neuen und hohen Rang im menschlichen Leben.« (ebd., S. 657) 156 157

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ihren Legitimationsgrund im Gefühl und der Phantasiekraft des schöpferischen einzelnen, in der inneren Stimme des Subjekts sucht, die allein uns den Weg zum Wahren, Guten und Schönen weisen können. Gleich den jungen Künstlern des »Sturm und Drangs« opponieren die Romantiker gegen den einseitigen Rationalismus sowie die profane Beschränkung auf die diesseitige oberflächliche Wirklichkeit der Aufklärer, da uns gerade die Glaubens-, Gefühls- und Liebeskräfte den geheimnisdurchwobenen, seelenhaften Grund des Kosmos als Basis einer an das aristotelische Wachstumsmodell angelehnten »expressive Individuation« erschließen sollen. 158 Während sich »Genie« als »höhere Intelligenz« in der Aufklärung grundsätzlich gegenüber den bürgerlichen Konventionen und Traditionen konziliant oder doch in konstruktiver Spannung mit ihnen zeigte, tendiert es im Protest gegen den einseitigen, überspitzten instrumentellen Rationalismus immer mutwilliger zum ReinÄsthetischen, zu subjektiver Willkürfreiheit, zum Irrationalismus: »Der Begriff enthält vor allem die Merkmale des Irrationalen und Subjektiven, die die Vorromantik der dogmatischen und generalisierenden Aufklärung gegenüber betont,« expliziert Arnold Hauser, »und schließlich das Prinzip Originalität, die in dieser Geburtsstunde des freien Literatentums und der sich stündlich verschärfenden geistigen Konkurrenz zur wichtigsten Waffe im Existenzkampf der Intelligenz wird. Das künstlerische Schaffen, das sowohl für den höfischen Klassizismus als auch für die Aufklärung eine eindeutig definierbare, auf erklärbaren und erlernbaren Geschmacksregeln beruhende geistige Tätigkeit war, erscheint jetzt als ein geheimnisvoller Prozess, der von so unergründlichen Quellen wie göttlicher Eingebung, blinder Intuition, unberechenbarer Stimmung hergeleitet wird. Für den Klassizismus und die Aufklärung war das Genie eine durch Vernunft, Theorie, Geschichte, Tradition und Konvention gebundene höhere Intelligenz, für die Vorromantik und den Sturm und Drang wird es zur Personifikation eines Ideals, für welches vor allem das Fehlen dieser Bindungen bezeichnend ist. Das Genie rettet 158 Taylor kehrt hervor, dass in der Romantik »wieder biologische Wachstumsmodelle – im Gegensatz zu den mechanistischen Assoziationsmodellen – im Schwange sind, also Modelle, wie sie zu dieser Zeit von Herder vorzüglich und wirksam artikuliert werden. Solche Modelle gehen in vielem offenbar auf die Aristotelische Vorstellung der ihr Potential verwirklichenden Natur zurück.« (ebd., S. 653) Im Kontrast zu den antiken Konzeptionen kosmologischer Systeme als Rahmen geglückt-gelingender Lebensführung ist der Zugang zur Naturordnung in der Romantik allerdings ein innerer, von Gefühl und Phantasie herzustellender, und der Mensch entwickelt sich nicht entelechisch hin zu einer vollendeten unpersönlichen Form, sondern in einem nie ans Ende kommenden künstlerischen Gestaltungsprozess zu einem Original-Individuum.

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sich aus der Misere des Alltags in ein Traumland der grenzenlosen Willkür.« 159

Die Kunst, wie sie im Rahmen der in Frage stehenden Ästhetisierung im 18. Jahrhundert als »ästhetische Arbeit«, als Formulierung wie Formung unseres Lebens Bestandteil der gesellschaftlichen Prozesse wird und den lebensweltlichen Horizont unhintergehbarer Grundhaltungen prägt, lässt sich laut Sennett akkurat durch das klassische Ideal des »theatrum mundi« illustrieren, das im Laufe des 19. Jahrhunderts aber zunehmend an Kraft einbüßt: 160 Infolge der immer stärker akzentuierten emotionalen, irrationalen und psychologistischen Komponente der an romantisch-ästhetischen Werten der Selbstverwirklichung und des Selbstgenusses orientierten Persönlichkeit verliert sich allmählich die auf der Bühne vorausgesetzte Differenz zwischen der schauspielerischen »Darstellung« oder Inszenierung seines Innenlebens in der öffentlichen Welt – d. h. letzlich dessen Transformation in eine konventionalisierte, wiederholbare und verständliche Form – 161 und ihrer unmittelbaren »Verkörperung«. Identifiziert man aber die Persönlichkeit unter Verzicht auf die schauspielerische Kunst mit dem Wechsel ihres äußerlichen Erscheinungsbildes oder ihrer augenblickshaften expressiven Ausbrüche und ersetzt »die lebenslange Formung der menschlichen Natur durch Erfahrungen mit und in der Welt durch die fortwährende Suche nach dem eigenen Selbst«, 162 muss diese Suche scheitern, weil das

Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 124. »Um die Mitte des 18. Jahrhunderts existierte ein gesellschaftliches Leben, in dem die Ästhetik des Theaters tatsächlich mit dem Alltagsverhalten verflochten war. Aber diese ästhetische Dimension des Alltags ist längst vergangen.« (Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 394 f.) 161 Vgl. Kants nicht immer ganz transparente Synthetisierungsversuche von Genie und Geschmack bzw. Originalität und Mitteilbarkeit in der KU. »Man sieht hieraus, dass Genie 1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben lässt, hervorzubringen; nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann; folglich dass Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2) Dass, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich Muster, d. i. exemplarisch sein müssen …« (Kant: KU, A180/B182) 162 Sennett: Verfall und Ende, S. 395. Ein solcher Selbst-Sucher gleicht nach Sennett einem »Schauspieler, dem seine Schauspielkunst abhanden gekommen ist«, und dieser »tritt in Erscheinung, wenn es in einer Gesellschaft nicht mehr möglich ist, Theater und Gesellschaft als ›unterschiedslos‹ miteinander verwoben zu denken« (ebd.) – was sich erst im »Modernismus« des 20. Jahrhunderts ereignet haben dürfte. 159 160

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»Selbst« weder etwas objektiv Auffindbares noch etwas DämonischExpressives darstellt. Da diese sich in der romantischen »expressiven Individuation« abzeichnende Problematik der Identitätsfindung in Kapitel 6.1 eingehend erörtert werden soll, wollen wir unsere Aufmerksamkeit hier auf die objektive Entsprechung solch künstlerischer Selbstgestaltung in einem ästhetisierten Universum sowie deren gemeinsamen Einfluss auf die Glücksvorstellungen des 19. Jahrhunderts richten: Sowie infolge der ästhetischen Wende zum subjektiven Geniekult die Gesellschaft peu à peu zur »Ansammlung von ›Persönlichkeiten‹« 163 umgemünzt wird, entlarvt sich die entmystifizierte, bereits in der Frühzeit decodierbare, auszumessende und zu konstruierende Welt im Laufe des 19. Jahrhunderts mit seinem rasenden Tempo technischer Erfindungen als bloßes Konglomerat ästhetischer Stimuli für das geniale Schöpfersubjekt. Nach der Zurückweisung sämtlicher »causae«, dem Zwang rational berechenbarer und technisch manipulierbarer Ursächlichkeiten, nach dem Außerkraftsetzen jeglicher Halt bietenden, zweckhaften oder normativer Zusammenhänge, wie sie die frühromantischen Universalpoeten noch in den Tiefen der Natur witterten, verbleiben »occasiones«, Anlässe oder Gelegenheiten zu persönlicher Produktivität. 164 Das Schwergewicht in der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Relation verlegt sich seit Kants Kopernikanischer Wende sukzessive auf Seiten des Subjekts, denn ästhetische Schöpferkraft und Selbstgenuss fungieren nun als entscheidende Kriterien ihres Gelingens: »Der Mensch ward wieder einmal Herr über den ›Stoff‹ – Herr über die Wahrheit!« proklamiert Nietzsche. »Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht.« 165 Die Weltperzeption findet sich als expressiv-romantisches, intuitiv-schöpferisches Weltschaffen wieder, da als einzig mögliche Verbindung zwischen Subjekt und Objekt ein »ästhetisches Verhalten« 166 in Frage kommt. Inwiefern soll dieser ontologische PaEbd., S. 300. Carl Schmitt, sein eigenes politisches Programm des Dezisionismus in Abgrenzung zur Unverbindlichkeit und Beliebigkeit der Romantik zu profilieren suchend, bezeichnete diese als »subjektivierten Occasionalismus«. Dessen Wurzeln eruiert er im – von den Romantikern verpönten – Rationalismus Descartes und in den Systemen der Occasionalisten wie Malebranche (vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik, München). 165 Nietzsche: NF13, S. 194. 166 Ders.: ÜWL, S. 884. 163 164

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radigmenwechsel von der »causa« zur »occasio« zugleich eine »Umwertung des Glücks« 167 bedeuten, wie Pankoke postuliert? Welche Auswirkungen hat der im 19. Jahrhundert einsetzende, bereits im vorangegangenen Teilkapitel skizzierte Entkoppelungsprozess von System und Lebenswelt auf das ästhetische Glücksverhältnis bzw. dessen Relation zum technischen? Während wir in der frühneuzeitlichen Aufbruchstimmung unter lauter kreativen und revolutionären Konstrukteuren eine schwer zu zergliedernde Synthese des strategischen und ästhetischen Moments im Glücksstreben konstatierten, drohen diese im kapitalistischen 19. Jahrhundert offenkundig auseinanderzudriften: Der Entkoppelungsprozesses von System und Lebenswelt und die souveräne Machtergreifung des stolzen Triumvirats von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik im souveränen Subsystemreich zeitigen eine unverkennbare Dissoziation eines dem System verhafteten, mit dem technokratischen Traum gepaarten ökonomisch-liberalistischen Glücksoptimismus und einer pessimistisch-romantischen, lebensweltlichen Renitenz gegen eine durch die Entzauberung evozierte allseitige Entfremdung (von der Natur, den anderen und schließlich von sich selbst). Schärfer noch als im 18. Jahrhundert erklären inmitten einer grenzenlosen Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit des positivistisch-hochkapitalistischen Industriezeitalters die Künstlersubjekte sowohl einer zur geistlosen, »sich selbst mahlenden Mühle« (Novalis), zum »stahlharten Gehäuse« (Weber) erstarrenden Rationalisierung der jedem normativen Kontext entwachsenen Subsysteme wie auch dem von diesen protegierten eindimensionalen Hedonismus und liberalistischen Atomismus den Krieg. 168 Adam Müller, eine Schlüsselfigur der »politischen Romantik« qua »subjektiviertem Occasionalismus«, schilt bei seiner Kontrastierung von Glück und Industrie diejenigen, »welche alles Glück aus dem Staate heraus zu industrieren unternehmen, die eigentlich Blinden«, denn »in demselben Grade, als der Mensch dem Glücke zu gebieten und es zu tyranPankoke: Modernität des Glücks, S. 90. »Der romantische Expressivismus entsteht aus dem Protest gegen das Aufklärungsideal der desengagierten instrumentellen Vernunft und die daraus hervorgehenden Formen des sittlichen und gesellschaftlichen Lebens: gegen eindimensionalen Hedonismus und Atomismus. Dieser Protest wird während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts in verschiedenen Formen fortgesetzt und gewinnt immer mehr an Bedeutung, indes die Gesellschaft durch den kapitalistischen Industrialismus immer stärker in atomistischer und instrumenteller Richtung umgemodelt wird.« (Taylor: Quellen des Selbst, S. 721) 167 168

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nisieren glaubt, in demselben Maße spielt mit ihm und tyrannisiert ihn das Glück.« 169 Wo die kritisch-aufgeklärten Stimmen des 18. Jahrhunderts vornehmlich den Verlust an Freiheit und Moralität des einzelnen angesichts eines platten hedonistischen »Vergnügens ohne Glück« monierten, ergreifen die Romantiker im Anschluss an die Sturm-und-Drang-Bewegung Partei für die unterdrückten schöpferischen Potentiale: für »die Kraft, die Tiefe, das Pulsierende und die Freude, die von der Verbindung mit dem Elan der Natur herrühren«, 170 aber durch die instrumentelle Welt-Stellung verbarrikadiert werden. Glücklich werden könne nur, wer kraft der Mobilisierung sämtlicher schöpferischer Regungen nicht nur eine instrumentelle Erfüllung der subjektiven Bedürfnisse und Wünsche ungeachtet ihrer Sinn- und Werthaftigkeit anvisiert, sondern im Rekurs auf die ursprünglichen Naturkräfte eine selbstzweckhafte Einheit von Kunst und Leben in einer vollständig poetisierten Welt erzielt. 171 Mit dem objektbezogenen Paradigmenwechsel von der »causa« eines berechenbaren, kausalmechanischen Zusammenhangs zur »occasio« in der hochkapitalistischen Ära zunehmender Künstlichkeit, sich überstürzender technischer Neuerungen und einer konsternierenden Dynamik einander jagender Moden, Werte und Denkweisen ist mithin dem Glauben an die Plan- und Erzwingbarkeit des Glücks wie zu Zeiten der Aufklärung jeder Nährboden entzogen, gerät Glück zur heikel-delikaten Angelegenheit. Im Zuge der forcierten Subjektivierung des Glücks wird daher beim romantischen Projekt, »sein Leben als Kunstwerk zu gestalten«, der außenorientierte »transitive« Glücksbegriff, der das planmäßige Erreichen bestimmter Wünsche oder das Erfüllen möglichst vieler Begierden im Auge hat, substituiert durch einen »reflexiven«, der Glück als etwas fasst, »das sich aus dem Menschen herausentwickeln müsse«, wobei diese schöpferische Entwicklung permanenter Rückkoppelung und Rückbesinnung bedarf. Eckart Pankoke zeigt auf,

Adam Müller: Der Streit zwischen Glück und Industrie, S. 272. Taylor: Quellen des Selbst, S. 667. 171 »Wenn man die von der Aufklärung vertretene Standardanschauung als eindimensional begreift, sieht man in ihr keinen Platz für das, was dem Leben Bedeutung verleiht. Es wirkt so, als ginge es im menschlichen Leben um nichts weiter als die Erfüllung der Begierden, doch die eigentliche Basis für starke Wertungen – also für das Vorhandensein von Begierden oder Zielen, deren Erfüllung inneren Wert hat – scheint zu fehlen.« (ebd., S. 666) 169 170

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»wie die Vorstellung der bezwingbaren fortuna – indem der Mensch die Geschichte in die Hand nehme – zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus durch eine Kritik zurückgewiesen werde, die den ›transitiven‹ durch einen ›reflexiven Glücksbegriff‹ ersetze, der Glück als etwas, das sich aus dem Menschen herausentwickeln müsse, betrachte. Eine haargenaue Datierung der Zäsur ließe sich schwerlich vornehmen – Anzeichen einer Krise des transitiven Glückskonzepts würden sich bereits eher abzeichnen. Als ein Indiz für den Umschlag wertete Pankoke die zunehmende Hinwendung – im Zuge der aufkommenden Romantik – zur Kunst.« 172

Wenn Pankokes Gesprächspartner kontern, dass die schroffe Gegenüberstellung dieser Glücksbegriffe keineswegs klar und jedenfalls viel zu schematisch sei, 173 liegt die Crux wohl – ähnlich wie bei Schulzes Scheidung der Innen- von einer Außenorientierung – darin, dass es sich hier um keinen kontradiktorischen, sondern einen polaren Gegensatz handelt, weshalb eine Verhaltensweise durchaus beide Orientierungsweisen graduell zulässt. Aufgrund der vom rasanten Wirtschaftswachstum erforderlichen Systematisierung sämtlicher Lebensbereiche sowie der positivistischen Untergrabung der romantisch-idealistischen Vorstellung einer individuellen Selbstäußerung einer sinnerfüllten Naturordnung darf indes Schillers Projektion des »ästhetischen Staates« als Auspizium eines verhängnisvollen nachromantischen Rückzuges aus der mechanisierten Welt gedeutet werden: Der Mensch scheint nur noch da ganz Mensch zu sein, wo er spielt, und Glück ist nicht mehr in der Politik oder der Öffentlichkeit, sondern nur noch im Reich des Schönen und der Kunst selbst erfahrbar. 174 Stellte dieser romantische Pessimismus in der wissenschaftlich-technischen Welt, aus welcher der seit den 40er Jahren sich sowohl als Wissenschaftsordnung, Lebensanschauung wie auch als politisches Aktionsprogramm durchsetzende Positivismus sämtliche theologischen und metaphysischen Werte systematisch verbannt hat, nur ein marginales Phänomen dar? Anvertraute sich die große Zahl vielmehr blindlings einem selbstbezeichnenden Positivismus, der überraschenderweise in einer hingebungsvollen »Religion der Humanität« (Comte) 175 mündet oder wie bei Durkheims Kampf gePankoke: Modernität des Glücks, S. 103 (Protokoll von Barheier). Vgl. ebd., S. 104. 174 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief und meine ausführlichen Auseinandersetzungen mit seinem Modell des ästhetischen Staates in Kapitel 3.32 in Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?. 175 Der Gründervater des Positivismus, Auguste Comte, projektiert in seinem zweiten 172 173

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gen anomischen Hedonismus in einer tröstlichen »Wiederverzauberung der Welt mit wissenschaftlichen Mitteln« 176 ? Bei der Taxierung des nachromantischen 19. Jahrhunderts als überwiegend pessimistisch oder optimistisch divergieren die Meinungen von Soziologen und Philosophen: Trotz der großen Wirtschaftskrisen und der teilweise zu verzeichnenden gravierenden Massenarbeitslosigkeiten obsiege, so meinen die einen, die Fortschrittseuphorie und der Glücksoptimismus in Anbetracht der verbesserten Lebensbedingungen, der gewaltigen Vervielfachung der menschlichen Möglichkeiten und des markanten Zusammenschrumpfens von Raum und Zeit dank der Erfindung der Maschine. 177 Legt man hingegen den Akzent auf die positivistische Entzauberung der christlichen sowie der romantisch-idealistischen Welt (1) und die sich vertiefende Kluft zwischen einem in untätiger Langeweile versinkendem, politisch entmachtetem Bürgertum und einem der totalen Verelendung entgegensteuernden Proletariat (2), scheinen nachteilige psychologische Faktoren das materiell-technische Glück zu unterminieren. Keineswegs ist (ad 2) nämlich, wie Tatarkiewicz treffend pointiert, allein das Faktum eklatanter Ungleichheit in Rechnung zu stellen, sondern vornehmlich folgende »psychologischgesellschaftliche Ursache«: Es »fühlten sich die benachteiligten Schichten gerade deshalb unglücklich, weil es begann, ihnen besser zu gehen, die privilegierten aber – weil es ihnen zu gut ging.« 178 SoHauptwerk System der positiven Politik einen quasi-religiösen Kult der Hingabe an das »große Wesen der Menschheit« (»humanité«), zu der hin die empirischen Wissenschaften und die Logik nur den Weg ebnen sollen: »Die entscheidende Bedingung für die Erreichung des Glücks, so wird nun deutlich, besteht für den Positivismus in der Begründung einer Soziologie, die es leistet, die Gefühle der Achtung, Verehrung und Liebe auszurichten auf eine für den Menschen erkennbare Allmacht, eben die ›humanité‹.« (Bernhard Plé: Aus der Krise zum neuen Glück, S. 36, S. 46) 176 So lautet das Verdikt Gerhard Vowinckels in: Ein unstillbarer Durst, S. 70. Durkheim knüpft das Glück der Menschheit an die zwingende Macht des Kollektivbewusstseins mit seinen unumstößlichen moralischen Gesetzen, welche die ungezügelten Selbstentfaltungsimpulse und Leidenschaften des einzelnen in klare Bahnen lenken sollen (vgl. Durkheim: Der Selbstmord, S. 435 ff.). 177 Vgl. die Diskussion im Anschluss an Zingerles Vortrag Georg Simmel über das Glück, S. 149, bei welcher Bernhard Plé auf die Befunde eines neueren Forschungsprojektes zum Thema »Weltbildwandel und Kulturkrise« rekurriert. 178 Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 269. »Erst jetzt begannen sie, ihr Schicksal mit dem anderer Schichten zu vergleichen, denn erst jetzt griffen sie den Gedanken auf, dass dieses auch ihr eigenes Schicksal sein könnte. Dieser Gedanke wurde zu einem Faktor für gesellschaftliche Reformen, ebenso aber zu einem Faktor der Unzufriedenheit. DaA

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lange die Aussicht, in »glücklichere Schichten« aufzusteigen, praktisch ausgeschlossen war, akzeptierte man seinen Zustand als natürlich und notwendig. Nachdem aber gewisse gesellschaftliche Fortschritte erzielt waren, entfiel die ganze »Natürlichkeit« der sozialen Benachteiligung. Während des weiteren (ad 1) für die frühe Neuzeit die Beschränkung von Dasein und Glückssuche auf die irdische, quantifizierte Welt eine schier unerschöpfliche Quelle des Optimismus darstellte, weil alles menschliche Tun nach dem Wegfall des göttlichen Maßstabes den Nimbus großer Gewichtigkeit und bahnbrechender Innovativität erhielt, tritt der Verlust erst im Laufe des Jahrhunderts allmählich ins Bewusstsein in Form von Leere, Haltlosigkeit, endlos-quälenden Selbstanalysen. 179 In dem Maße, wie die vom Glauben an den Fortschritt als säkularisiertem Heilsgeschehen getragenen Welt- und Lebensanschauungen an Überzeugungskraft einbüßen, macht sich Ernüchterung breit: »Man stellte fest, dass die Rationalisierung von Menschen- und Gesellschaftsbildern, dass die Relativierung aller Werte lähmend wirkte auf die Entschlossenheit, den Willen, das kulturelle und politische Selbstbehauptungsvermögen.« 180 Wenn in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen unter arbeitsteiligen Bedingungen der Arbeitende nicht nur von seinem Produkt entfremdet wird – das ihm nicht mehr gehört –, sondern er sich, degradiert zur bloßen Arbeitskraft (d. h. zur Ware) nicht mehr arbeitend verwirklichen kann und schließlich die Konkurrenz jede Korrelation von Individuum und Gattung vereitelt, verflüchtigt sich Karl Marx’ jugendlicher Traum vom kommunitarischen Gemeinschafts-»Glück der Millionen« (3) am fernen Horizont. 181 Einen ähnlichen Verlust attackierend, macht Alexis de Tocqueville, einer der frühen Kritiker des individualistischen Liberalismus, bei seinen polidurch wurde das 19. Jahrhundert zu einer Periode bestimmter gesellschaftlicher Reformen, gleichzeitig aber auch zu einem Zeitalter des Pessimismus der Massen, die von diesen Reformen profitierten. Die Reformen nämlich, die die Aspirationen weckten, glücklich zu sein, verringerten zunächst die Chancen hierfür.« (ebd., S. 270) 179 Vgl. ebd., S. 271. 180 Vowinckel: Ein unstillbarer Durst, S. 70. 181 Der Begriff »Glück« findet sich, wie Göbel aufzeigt, bei Marx fast ausschließlich im Frühwerk und weist stark naiv-utopische Züge auf (vgl. Andreas Göbel: »Unser Glück gehört Millionen«, S. 112). Glück wäre marxistisch als Selbstverwirklichung durch nicht-entfremdete, autonome Arbeit bei aufgehobener Arbeitsteilung zu verstehen, bei welcher der Mensch seine Wesenskräfte entwickeln und durch sein »produktives Leben« zugleich das Gattungsleben realisieren könnte (vgl. Marx: Die Frühschriften, S. 281).

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tischen Studien auf die drohende Gefahr aufmerksam, dass infolge der mit zunehmendem Lebensstandard gelockerten sozialen Bindungen Solidarität und Interesse am Gemeinwohl in totale Vereinzelung und politische Verantwortungslosigkeit umschlagen. Denn in einer reichen Gesellschaft »ist der Zusammenhalt zwischen den Individuen weniger notwendig, unsolidarisches Verhalten ist nicht mehr existenzbedrohend. Der einzelne ist zwar aufgrund von Arbeitsteiligkeit und Differenzierung viel enger mit anderen verflochten, aber er ist nicht auf einen bestimmten anderen angewiesen. Der andere, von dem er abhängt, ist austauschbar.« 182 Je mehr die Räume zur Verständigung über moralische oder politische Werte, zur Gewinnung gemeinsamer Handlungsorientierungen und damit zur sozialen Integration entfallen, desto frohlockender begrüßt man einerseits unter systemischen Vorzeichen das einsame, uneingeschränkt konkurrenzfähige Marktsubjekt, desto stärker breitet sich aber auch in der Lebenswelt die allgemeinen Ernüchterungswelle als Nährboden für das soziologische Kontrastphänomen des Glücks aus; für den Pessimismus. Ein nicht weniger unheilverheißendes Bild zeichnet Adam Müller in seiner provokatorischen Programmschrift Streit zwischen Glück und Industrie anlässlich des Schwindens jedes GemeinschaftsGlücks qua beglückender Geselligkeit oder geglückter Begegnung im Fortgang der sozialen Entfremdung: »Zugleich mit der Not, welche die Menschen zusammen bindet, wird auch die Liebe künstlich abgeleitet und abgewehrt; denn es ist besser, dass ein jeder für sich auf seine eigene Hand lebe und fertig werde. Weit auseinander bauen sie die ländliche Wohnungen; damit eine Feuersbrunst nicht um sich greifen könne, die Unglücklichen, löschen sie lieber auch jenes schönere Feuer der hülfreichen Liebe aus, welches sich im Beieinanderwohnen entzündet; damit jeder bequem und produktiv im Mittelpunkt seiner Grundstücke wohne, zerschneiden sie die natürlichen Bande der nachbarlichen Geselligkeit und zerstören alle die höheren Erzeugnisse, welche von diesem Bande abhängen. – Ja sie bringen es endlich noch dahin, das der Einzelne in seinem Neste wirklich allein sitzt.« 183 182 So lauten Prischings Analysen zu Alexis de Tocquevilles Publikationen über die Grundprobleme moderner Massendemokratien (etwa: Über die Demokratie in Amerika, 1835), und er fährt fort: »Die Verlockung ist allgegenwärtig, vom Samariter zum Passanten zu werden, zumal die reiche Gesellschaft sich verpflichtet, bezahlte Samariter für alle Fälle bereitzuhalten. Das wohlfartsstaatliche Bewusstsein ist – trotz der empirisch nachweisbaren ›Wohlfahrtsgeneigtheit‹ moderner Gesellschaften – nicht notwendig ein solidarisches Bewusstsein.« (Prisching: Das wohlfahrtsstaatliche Weltbild, S. 53) 183 Adam Müller: Streit zwischen Glück und Industrie, S. 273.

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Wie aber bereits Goethe auf der entscheidenden Schwelle vom transitiven zum reflexiven Glück bemerkte, ist der einzelne, auch wenn gilt: »Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit« (Goethe), unbedingt auf die Gemeinschaft angewiesen, da er sich nur dank der Spiegelung im anderen entfalten und erforschen kann. 184 Es scheint mithin ganz so, als hingen Optimismus und Pessimismus in Sachen Glück ausschließlich von der Wahl des Blickpunktes ab, da die Hochkonjunktur des Kapitalismus im 19. Jahrhundert als System oder als Lebenswelt betrachtet offenkundig in kontrastiven Farbtönen erscheint: Bindet man ein transitiv-technisches Glück an eine prosperierende Wirtschaft einer systemisch integrierten instrumentellen Gesellschaft egoistischer Marktsubjekte, stehen die Glückschancen zweifellos so gut wie noch nie. Geht man dagegen von einem reflexiv-ästhetischen Glück einer romantisch-schöpferischen Selbstaktualisierung aus, scheint in der Tat nur noch der Rückzug ins Reich des schönen Scheins offenzubleiben, wo die Lebenswelt in Ermangelung sozialer Integrationskraft mit allseitiger Entfremdung aufwartet und sich die frühromantische Vision eines sinnerfüllten universalpoetischen Universums in Weltschmerz auflöst. Wenn der Schritt von reiner ästhetischer Selbstreferentialität zur intersubjektiven Reflexivität als Quelle eines intransitiven, gleichwohl aber mitteilbaren Glücks romantischer Selbst-Darstellung nicht gelingt, wird das Glück solipsistischer Kunstwerkmonaden immer fragiler, und kann der »ästhetische Staat« freier und selbstzweckhaft spielender Menschen nur noch in den Köpfen auserlesener Künstlersubjekte existieren. 185 Andererseits florieren unbestreitbar als lebensweltliches Komplement des erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaftssystems gemeinsame »starke Wertungen« (Taylor) und Hintergrundüberzeugungen betreffs des »gelingenden« oder »glücklichen« Lebens: Man trifft auf das bürgerliche Ideal des »self made man« (Samuel Smiles), auf die Prinzipien »Selbsthilfe« und »Selbstdisziplin«, die laut Webers Analysen zum »Geist des Kapitalismus« durch die protestantische Berufsethik konsolidiert werden. 186 Mit dem an 184 Vgl. zur Utopie »glückender Geselligkeit« im frühen 19. Jahrhundert Pankoke: Modernität des Glücks, S. 95–99. Eine strukturelle Analyse des Subjektbegriffs erfolgt erst im Kapitel 5.1 bzw. 6.1. 185 Vgl. Schillers Beantwortung der Frage, wo der Staat des schönen Scheins anzutreffen sei, am Ende seiner Schrift: Über die ästhetische Erziehung des Menschen (27. Brief). 186 »Die innerweltliche protestantische Ethik«, so resümiert Weber seine ebenso viel-

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Robinson erinnernden »alterprobten« Sprichwort »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«, begrüßt der im 19. Jahrhundert auch in Deutschland außerordentlich beliebte Smiles in seinem vielgelesenen, in verschiedene Sprachen übersetzten Buch Selbsthilfe seinen Leser und führt ihm in seinem dreibändigen Werk Leben der Ingenieure (1861) die mustergültige Lebensform eines Ingenieurs vor Augen, die sich auf Disziplin, Fleiß, Sparsamkeit und Nüchternheit, verbunden mit einem entschlossenen egoistischen Aufstiegswillen stützt. Anhand hunderter von Exempeln heldenhafter historischer Größen animiert er ihn zu einem »fleißigen, mäßigen und rechtschaffenen Leben« 187 , frei von Missgunst gegenüber dem Geburtsadel oder trägen Hoffnungen auf die glücksbringende Technokratie. 188 Liegt also gar keine vom System der Lebenswelt im Zuge der Technisierung gleichsam aufoktroyierte »Urbanisierung der Lebensform« und »Technisierung der Kommunikation« vor, wie Habermas suggeriert, da diese vielmehr einem traditionalen, lebensweltlich-kulturellen Bedürfnis entspringen? Wäre angesichts einer solchen breiten lebensweltlichen Fundierung des Technisierungsprozesses nicht der romantischen Forderung nach einer ästhetisch-reflexiven Lebensform, der Ruf nach einer Synthese von Kunst und Leben sowie ihrer kapitulativen Weltflucht jede Berechtigung entzogen? Zunächst fällt auf, dass in den Werken der prominenten Schriftsteller, Repräsentanten und Sprachrohre des liberalen Bürgertums des 19. Jahrhunderts wie Samuel Smiles oder Gustav Freytag der Begriff »Glück« nur sehr spärlich auftaucht. Exemplarisch liegt bei Freytags – eher als historisches Dokument denn als literarisches Kunstwerk sein Interesse auf sich ziehendem – Kaufmannsroman Soll und Haben das ganze Gewicht auf dem Arbeitsethos, auf Fleiß, Disziplin und ehernen Grundsätzen als Wege zu einem bürgerlichen Glück einerseits, auf der Kultivierung eines (deutschen) Nationalcharakters andererseits. 189 Dies weckt den Verdacht, dass »insbesondere beachteten wie umstrittenen Thesen, »wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuss des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein.« (Max Weber: Die protestantische Ethik, S. 179) Auch der liberalistischen »Vereinzelung« leistet der Protestantismus aber Vorschub, denn in »der für die Menschen der Reformationszeit entscheidendsten Angelegenheit des Lebens: der ewigen Seligkeit, war der Mensch darauf verwiesen, seine Straße einsam zu ziehen« (ebd., S. 122). 187 Samuel Smiles: Selbsthilfe, S. 5. 188 Vgl. ebd., S. 17 und S. 1. 189 In Soll und Haben (1855) kontrastiert Freytag die Typologie des zeitgenössischen Bürgertums, repräsentiert durch den tüchtigen, arbeitsamen Anton Wohlfahrt, mit A

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die deutsche Gefühlstiefe […] nicht nach dem Glück, sondern nach dem heldenhaften Dasein« verlange – auch wenn es nur zu einem Spießbürgerheldentum reicht! 190 Unterstellt man dennoch die Existenz oder das implizite Ideal eines idyllisch-biederen bürgerlichen Glücks eines Anton Wohlfahrts, sind es gerade die deutschen Geister unter den romantischen und nachromantischen Pessimisten, welche dieses als »kleines« oder »illusionäres Glück« verlachen und verhöhnen. Vermittels einer »aktiven Selbstbeherrschung« und gesteigerter Selbstdisziplin nach dem descartesschen Modell, d. i. »einer systematisch durchgebildeten Methode rationaler Lebensführung […] mit dem Ziel, den status naturae zu überwinden, den Menschen der Macht der irrationalen Triebe und der Abhängigkeit von Welt und Natur zu entziehen«, 191 steuert man in Friedrich Nietzsches Augen geradewegs dem »kleinen Glück« der »letzten Menschen« zu, denen es in ihrer behaglichen Bescheidenheit recht wohl ist: »›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. […] ›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.« 192 Während das »große Glück« als Totalaffirmation oder Liebe zum gesteigerten, an hohen Zielen orientierten schöpferischen Leben angesehen werden kann, bezeichnet das »kleine Glück« ein passivhedonistisches, genügsames Glück derjenigen, »die mit wenigem schon zufrieden sind, weil nach vielem zu verlangen zu anstrengend ist«. 193 Da die moderne Wissenschaft und Technik als »wertneutrale« weder Sinnstiftung leisten noch Anleitungen zu Wert- und Zielsetdem klischeehaft gezeichneten Gegenstück in der Figur des habgierigen, ehrgeizigen Juden Veitel Itzig ohne Moral und Ideale. 190 Georg Kamphausen: Recht auf Glück?, S. 94. Kamphausen macht auch darauf aufmerksam, dass im 67 Seiten starken Sachverzeichnis von Max Webers monumentalem Werk Wirtschaft und Gesellschaft interessanterweise das Stichwort »Glück« fehlt (vgl. ebd., S. 95). Denn es steht für Weber fest, gleichsam als Gegenstrategie zum aufgeklärten Absolutismus: »Der letzte Wertmaßstab der Volkswirtschftspolitik ist nicht das Glück der Bürger, sondern die Staatsraison.« (ebd., S. 96) 191 Ebd., S. 135. 192 Nietzsche: Z, S. 19. Bemüht um eine konsistente Interpretation der zerstreuten Glücks-Reflexionen Nietzsches kommt man um die Differenz von »höherem« und »niederem« Glück (vgl. Arnold Zingerle: Georg Simmel über das Glück, S. 140) oder »großem« und »kleinem« Glück (vgl. Otto F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 224 ff.) nicht herum. 193 Bollnow: ebd., S. 225.

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zungen oder zur Glückssuche bieten, konkludiert auch Weber: »Dass man schliesslich in naivem Optimismus die Wissenschaft, das heißt: die auf sie gegründete Technik der Beherrschung des Lebens, als Weg zum Glück gefeiert hat, dies darf ich wohl nach Nietzsches vernichtender Kritik an jenen ›letzten Menschen‹, die ›das Glück erfunden haben‹, ganz beiseite lassen. Wer glaubt daran?« 194 Während man Amerika, wo es »als öffentliche Pflicht gilt, so glücklich wie nur irgend möglich zu sein«, ein Land des Pöbels, des Ungeistes und der Unkultur, ein Land des »bloß glücklichen Bewusstseins« schilt, 195 verweigern sich viele deutsche Nachromantiker einem solchen transitiven Glücksverständnis, einem »kleinen Glück« als rational-technisch erwirkter Behaglichkeit. Glück kann im lebensphilosophischen Sinne nicht mittels strategischer Konstruktion herbeigerufen werden, sondern nur indirekt durch ein gesteigertes schöpferisch-selbstaffirmatives Leben, wobei Nietzsche immer noch statt auf die Wissenschaft und Technik auf die Kunst als ihr Korrektiv setzt, expressiv-romantisch verstanden als »habitueller Rausch im Leibe« und »das große Stimulans zum Leben« 196 : »Insbesondere der deutsche Idealismus und – in seinem Gefolge – die kritische Theorie nebst ihren postmodernen Nachfahren halten die Verachtung des ›kleinen Glücks‹ für einen Ausweis einer existentiellen, d. h. wahrhaftigeren Lebensphilosophie. Sämtliche Instanzen der modernen Zivilisation, so lautet die zumeist verschwörungstheoretisch untermauerte Verdächtigung des bloß glücklichen (also per se ›falschen‹) Bewusstseins, wirken zusammen, um die Menschen glücklicher zu machen, indem sie ihenen Sicherheit und Bequemlichkeit verschaffen und das Gespür für das unverwirklichte Potential, die höheren Möglichkeiten menschlichen Lebens unterdrücken. Daraus folgt die bekannte Devise Herbert Marcuses: je besser, desto schlechter.« 197

So sehr Nietzsche das »Genügsamkeits-Gefühl« als kleines Glück der Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 598. »Es ist wohl kein Zufall, dass eine Gesellschaft wie die amerikanische, in der es als öffentliche Pflicht gilt, so glücklich wie nur irgend möglich zu sein, und die den Pessimismus nicht für eine philosophische Lebenshaltung, sondern für eine Krankheit hält, insbesondere dem deutschen Kritiker innerlich fremd bleiben muss. Das deutsche Urteil über die Glücksverheißungen der amerikanischen Kultur ist jedenfalls, sieht man von Ausnahmen ab, einmütig: in Amerika, so schrieb Ludwig Boerne, herrsche der Pöbel; Amerika sei daher kein Land der Freiheit, sondern ein Freiheitsgefängnis, das von Wohlstandsflegeln bewohnt werde, deren eigentlicher Gott das Geld sei.« (Kamphausen: Recht auf Glück?, S. 92) 196 Nietzsche: NF13, S. 295 und S. 194. 197 Kamphausen: Recht auf Glück?, S. 97 f. 194 195

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unschöpferischen Mittelmäßigen, d. h. der durch Kapitalismus, Demokratisierung oder Christentum Nivellierten, ein Dorn im Auge ist, insistiert er doch darauf, dass die meisten Menschen »nur eines geringes Glückes fähig« 198 sind. Im Gegensatz zum utilitaristischen Wunschziel des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl sind nach Nietzsche zu heroischer Größe und damit zum großen Glück nur »die Wenigsten« 199 auserkoren: »Dass man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu giebt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die Allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück; die Meisterschaft in Einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt.« 200 Die an Kurzsichtigkeit leidenden und daher immerfort blinzelnden »letzten Menschen«, obgleich sie in ihrer dem Materiellen verhafteten durchschnittlichen Existenz von einer nietzscheanischen »ästhetischen Lebensform« des großen Schöpfertums und Glücks weit entfernt sind, 201 werden von Nietzsche dennoch aufgrund ihrer asketischen, disziplinierten und spezialisierten »machinalen Tätigkeit« 202 zur Bereitstellung funktionstüchtiger Subsysteme von Wirtschaft und Verwaltung für das Emporkommen schöpferischer Künstlerindividuen einer »großen Kultur« gebilligt. Ungeachtet dieser ebenso realitätsfremden wie bedenklichen nietzscheanischen Projektion eines hierarchischen Künstlerstaates mit einem breiten Fundament an mittelmäßigem instrumentalisiertem Menschenmaterial verdient doch Nietzsches grundsätzliche Überlegung zu seiner Zeit und der Rolle des untergehenden Christentums Beachtung: Nicht die von Weber herausgestellten Momente selbstdisziplinierter rationaler Lebensführung als solche seien zu verachten, da sie durchaus einer lebenskünstlerischen Selbststilisierung dienen und ein »großes Glück« implizieren können, 203 sondern glücksabträglich werden sie erst in ihrer Verbindung mit Ohnmacht Nietzsche: M, S. 237. »Die oberste Kaste – ich nenne sie die Wenigsten – hat als die vollkommenste auch die Vorrechte der Wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit, die Güte auf Erden darzustellen.« (ders.: AC, S. 242) 200 Ebd., S. 244. 201 Pieper kontrastiert das Glück des »letzten Menschen« als Ausdruck einer »ökonomisch-utilitaristischen Lebensform« mit der von Nietzsche projektierten »ästhetischen« in: Glückssache, S. 126 ff. 202 Nietzsche: GM, S. 382. 203 »Die geistigsten Menschen als die Stärksten, finden ihr Glück, worin Andere ihren 198 199

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und Ressentiment, 204 wie sie die christlichen Priester zur Linderung von Leid und Schwäche unter den verbleibenden Gläubigen verbreiten. Solange in einer sich immer noch christlich nennenden Kultur die Priester die Menschen mit asketischen Idealen und der »religiösen Neurose« 205 vergiften, unterbinden sie nach Nietzsche das Setzen hoher Ideale und orignieller Lebensziele und damit die ästhetisch-gestalterische Verwirklichung der in einem Menschen steckenden Potentiale, weil sich jeder beim Verlangen nach Ordnung und einem behaglichen »kleinen Glück« auf den Einsatz eines Minimums an geistigen und körperlichen Kräften beschränkt. Gerade gegen solch durchschnittlich-unauffällige, angeblich christliche Existenzen wendet sich Sören Kierkegaard, um sie – paradoxerweise – als »ästhetische« zu entlarven! Aus Kierkegaards Warte ist nämlich die ganze sich für christlich erklärende kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunders in einem ungeheuerlichen »Sinnentrug« befangen, weil hinter der vorgehaltenen Maske der Christenheit lediglich die wahren Ziele ihrer Existenz: Genuss, Reichtum, Macht und die Mittel ihrer Erhaltung verdeckt würden. 206 Wo also in Webers Augen kraft der protestantischen »asketische[n] Bedeutung des festen Berufs« der arbeitsame Bürger gerade »ethisch verklärt« wird 207 – wodurch er vom »letzten Menschen« als »Fachmenschen ohne Geist« oder »Genussmenschen ohne Herz« noch weit entfernt wäre –, 208 wendet Kierkegaard seine ganze Kraft für den Nachweis auf, dass das vermeintlich »Ethische« als gemeinsamer lebensweltlicher Horizont bei den meisUntergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte gegen sich und Andere, im Versuch; ihre Lust ist die Selbstbezwingung: der Asketismus wird bei ihenen Natur, Bedürfnis, Instinkt.« (ders.: AC, S. 243) 204 Vgl. ders.: GM, S. 379–384. 205 Vgl. ders.: JGB, S. 67: »Wo nun auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit, Fasten und geschlechtliche Enthaltsamkeit.« 206 Vgl. Helmut Vetter: Einen Menschen finden, S. 13–37. »Das Ziel, in dessen Dienst die verschiedenen Werk-Gattungen gestellt wurden, hieß: ›Ohne Vollmacht aufmerksam zu machen auf das Religiöse, das Christliche‹ (Schriften über sich selbst, Gütersloh 1979–86, S. 10).« (ebd., S. 27) 207 »Wie die Einschärfung der asketischen Bedeutung des festen Berufs das moderne Fachmenschentum ethisch verklärt, so die providentielle Deutung der Profitchancen den Geschäftsmenschen. Die vornehme Lässigkeit des Seigneurs und die parvenümäßige Ostentation des Protzen sind der Askese gleichermaßen verhasst. Dagegen trifft ein voller Strahl ethischer Billigung den nüchternen bürgerlichen Selfmademan.« (Weber: Die protestantische Ethik, S. 172) 208 Vgl. ebd., S. 189. A

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ten Zeitgenossen eine reine Vertuschung des »Ästhetischen« darstelle, wobei gilt: »das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird.« 209 Da der Terminus »ästhetisch« augenscheinlich von Kierkegaard im Rückgang auf die ursprüngliche Wortbedeutung (»sinnliche, mit Lust verbundene Wahrnehmung«) sehr weit gefasst wird als unmittelbar sinnliches, von flüchtigen Interessen bestimmtes lebensweltliches Aufgehen in Situationen und im jeweiligen Augenblick, 210 kann sowohl der seine Talente auslebende Romantiker wie der bornierte, sich dem Beruf als Berufung verschreibende Spießbürger mit dieser Etikette versehen werden. »Unmittelbarkeit« als markanteste Kategorie des »Ästhetischen« (1) meint, wie Greve treffend resümiert, »das Vorgegebene; das, was das Individuum nicht selber erworben hat; das, wodurch es geprägt worden ist. Dazu gehört zum ersten die psychosomatische Konstitution mit all den Trieben, Affekten, Neigungen oder Ängsten. Dazu gehört zum zweiten die Lebenswelt, in der das Individuum sich vorfindet: das Zeitalter, die Kultur, die Gesellschaftsform, die soziale Klasse oder die spezifischen Familienverhältnisse. Unmittelbares oder ästhetisches Leben wäre also eines, das sich in diesen Bahnen bewegt, in den – schlagwortartig gesprochen – von Vererbung und Milieu schon vorgezeichneten Bahnen.« 211

Wie tief auch die Reflexion bei solchen das positivistische Menschenbild affirmierenden »ästhetischen« Existenzen greifen mag, so lautet Kierkegaards Prämisse, bleibt sie doch immer eine endliche, es ist der »Geist nicht als Geist, sondern unmittelbar bestimmt«: 212 Der Ästhetiker wählt sich niemals in unendlicher Weise im Verhältnis zu Gott, der ihn in die Welt gesetzt hat, sondern wählt immer nur aus zwischen einer Mannigfaltigkeit beliebiger endlicher Möglichkeiten, so dass »in strengerem Sinne keine Wahl« vorliege: »Wenn ein Mensch 209 Sören Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 2, S. 729. Vgl. dagegen Nietzsches Kontrastprogramm eines schöpferischen Lebens-als-Kunstwerk, bemerkenswerterweise augenscheinlich als Synthese des »Ästhetischen« und »Ethischen« konzipiert und am eigenen Exempel illustriert: Ecce homo. Wie man wird, was man ist! 210 So mahnt der Ethiker B den Ästhetiker A: »Je mehr also die Persönlichkeit in der Stimmung hindämmert, um so mehr ist das Individuum im Moment, und dies ist wiederum der adäquateste Ausdruck für die ästhetische Existenz: sie ist im Moment.« (ebd., S. 791) 211 Wilfried Greve: Künstler versus Bürger, S. 48. 212 Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 2, S. 732.

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ästhetisch eine Menge von Lebensaufgaben erwägt, […] so erhält er nicht leicht ein Entweder-Oder, sondern eine ganze Mannigfaltigkeit, weil das Selbstbestimmende in der Wahl hier nicht ethisch akzentuiert ist und weil, wenn man nicht absolut wählt, man nur für den Moment wählt und deshalb im nächsten Augenblick etwas anderes wählen kann.« 213 Um den im »Ästhetischen« Befangenen betreffs ihres Sinnentruges die Augen zu öffnen, versucht Kierkegaard bei seiner frühen »ästhetischen Schriftstellerei«, auf die sokratische Methode der Maieutik zurückgreifend, anhand fiktiver ästhetischer Figuren demonstrativ zutage zu fördern, dass auch das vermeintlich »kleine Glück« der erfolgreichen Berufsmenschen in Wahrheit Verzweiflung sei – mit der immanent logischen Konsequenz, dass in Wahrheit nicht nur die meisten Menschen »Ästhetiker«, sondern auch verzweifelt wären! 214 Konzentrieren wir uns nicht so sehr auf die höherstufigen, reflektierten Ästhetiker – die sich als eigentliche »Künstler« gleich dem romantischen Dichter A vom gewöhnlichen »Pfuscher« gern sorgfältig separiert sähen – 215 , sondern auf den bornierten Spießbürger und regelmäßigen Kirchengänger, der seine ästhetische Existenz auf funktional-technische Werte der systemischen Wirtschaftswelt wie Reichtum, Macht oder Berufserfolg gründet, 216 scheint dieser auf den ersten Blick »sein Glück zu machen in dieser Welt«: »Indem er eine Menge Menschen um sich sieht und viel beschäftigt ist mit allerhand weltlichen Angelegenheiten, indem er klug daran wird, wie es in der Welt zugeht, vergisst ein solcher Mensch sich selbst, wie er, göttlich verstanden, heißt, wagt nicht, an sich selbst zu glauben, findet es zu gewagt, er Ebd., S. 715 f. Vgl. zu Kierkegaards maieutischer Methode etwa Vetter: »Die ästhetischen Schriften gehen den faktischen Status des Adressaten an, seinen ›Sinnentrug‹. Sie beginnen auf dem Niveau der ästhetischen Existenz, was der mäeutischen Maxime ihres Autors entspricht: ›Dass man, wenn es einem in Wahrheit gelingen soll, einen Menschen an einen bestimmten Ort zu führen, vor allen Dingen darauf achten muss, ihn dort zu finden, wo er ist und allda zu beginnen hat.‹ (Schriften über sich selbst, Gütersloh 1979–86, S. 38)« (Helmut Vetter: Einen Menschen finden, S. 30) 215 »Lass uns nun diese Stadien ganz kurz durchlaufen, um zu Dir zu gelangen. Du bist vielleicht schon ein wenig ärgerlich über den allgemeinen Ausdruck für ästhetisch leben, den ich vorgebracht habe, und doch wirst Du seine Richtigkeit wohl kaum bestreiten können. […] Du meinst vielleicht, ich müsste so galant sein, Dich als Künstler zu behandeln und die Pfuscher, von denen Du im Leben wohl schon der Plage genug hast und mit denen Du in keiner Weise etwas gemein haben willst, mit Schweigen zu übergehen.« (Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 2, S. 731 f.) 216 Vgl. ebd., S. 734 f. 213 214

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selbst zu sein, und viel leichter und sicherer, zu sein wie die anderen, eine Nachäffung zu werden, eine Zahl in der Masse zu sein. Auf diese Form der Verzweiflung wird man nun so gut wie überhaupt nicht aufmerksam in der Welt. Ein solcher Mensch hat gerade, indem er sich so verlor, eine Vervollkommnungsfähigkeit erlangt, recht mitzugehen in Handel und Wandel, ja, sein Glück zu machen in der Welt. Hier ist keine Dummköpfigkeit, keine Schwierigkeit mit seinem Selbst und dessen Unendlichmachung, er ist abgeschliffen wie ein Kieselstein, gebräuchlich wie eine gangbare Münze. Keine Rede davon, dass ihn jemand für verzweifelt ansieht, er ist gerade ein Mensch, wie er sein soll.« 217

Wer sich dergestalt als »gangbare Münze« oder funktionstüchtiges Rädchen im gesellschaftlich-ökonomischen System »das Leben bequem und behaglich macht« 218 , ist zwar, obgleich er nur »vermeintlich glücklich ist, sich einbildet, glücklich zu sein, während er doch im Lichte der Wahrheit betrachtet unglücklich ist, […] weit davon entfernt, dass er wünscht, aus diesem Irrtum herausgerissen zu werden.« 219 Wie groß aber auch der Erfolg in irdischen Dingen eines solch in Handel und Wandel involvierten Ästhetikers sei, wird dieser von Anti-Climacus aus der Krankheit zum Tode doch niemals als Indiz göttlicher Erwähltheit gedeutet, da vielmehr um der Aufhebung der Verzweiflung als Missverhältnis im Selbst willen eine leidenschaftlich-inbrünstige »absolute Wahl« mit direktem Bezug zu Gott unabdingbar sei: 220 ein freiheitlicher, verpflichtender Entschluss, die in ewiger Gültigkeit gewählte eigene Persönlichkeit in den gegebenen Lebensverhältnissen kraft einer sinnstiftenden Lebensform kontinuierlich zu offenbaren. 221 Sucht man Distanz zu dieser reaktionären Position, welche offenkundig einen Sprung in den Glauben verlangt, kann man der »ästhetischen Unmittelbarkeit« (1) wohl auch ohne Gottesbezug durch die Wahl eines transsituativen und überzeitlichen »Selbst« entkommen (vgl. Kapitel 6.1). Die allermeisten verfehlen ihr Glück aber nicht nur, weil sie sich selbst im rasenden Tempo der Ders.: Die Krankheit zum Tode, S. 32. Ebd., S. 33. 219 Ebd., S. 41. 220 Vgl. ebd., S. 14 f. 221 »Indem nämlich die Wahl mit der ganzen Inbrunst der Persönlichkeit vorgenommen worden ist, ist sein Wesen geläutert und er selbst in ein unmittelbares Verhältnis zu der ewigen Macht gebracht, die das ganze Dasein allgegenwärtig durchdringt. Diese Verklärung, diese höhere Weihe erreicht der niemals, der bloß ästhetisch wählt.« (ders.: Entweder–Oder Bd. 2, S. 716) 217 218

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technisierten Welt vergessen, sondern auch wegen des vom Ethiker B ihnen unterstellten Genussstrebens als Kern einer jeden »ästhetischen« Lebensweise (2). »Jeder Mensch«, so postuliert dieser nämlich, »hat ein natürliches Bedürfnis, sich eine Lebensanschauung zu bilden, eine Vorstellung von der Bedeutung seines Lebens und seinem Ziel. Wer ästhetisch lebt, tut das auch, und der allgemeine Ausdruck, den man zu allen Zeiten und von den verschiedenen Stadien her gehört hat, lautet, man solle das Leben genießen.« 222 Indem er aber seine Lebensanschauung »an eine Bedingung geknüpft [habe], die nicht in seiner Macht steht«, wodurch sein Leben, auch wenn es – selbst auf die Dauer – momentanen Genuss böte, ständig vom Scheitern bedroht sei, schließt Kierkegaard: »Das Ästhetische als solches ist Verzweiflung« 223 . Nichts beweise dabei die Geistlosigkeit des »Ästhetikers« handgreiflicher als seine Reaktion auf ein sich infolge ungünstiger Schicksalswendung versagendes Genussstreben: Ohne aus seiner aktuellen Verzweiflung Konsequenzen zu ziehen, harrt er passiv der Hoffnung, der »Knacks« in seinem Selbst werde vorübergehen wie etwa ein unversehens in der Wohnung aufgetretener Rauch. 224 Während Weber als »Geist des Kapitalismus« einen »im Gewande einer ›Ethik‹ auftretenden, normengebundenen Lebensstil« 225 des Protestantismus nachweist, welcher die Kapitalakkumulation ohne Konsumtion lanciert, wendet sich Kierkegaard dezidiert gegen die Geistlosigkeit und das Defizit einer wahrhaft ethisch-religiösen Dimension des kapitalistischen Erfolgsstrebens und sein Umschlagen in Hedonismus. Obgleich, wie mir scheint, die Charakterisierung der »ästhetischen« Lebensanschauung als einer genuin »hedonistischen« durch den Ethiker B eine unzulässige Restriktion darstellt, da das Motiv einer unmittelbaren Hingabe an eine innerweltliche Aufgabe oder an das Entfalten seiner natürlichen Fähigkeiten keineswegs not-

Ebd., S. 731. Ebd., S. 798 und S. 821. 224 »Es geht ihm da im Verhältnis zu seinem Selbst, wie es einem Menschen im Verhältnis zu seiner Wohnung gehen kann […], dass diese ihm widerwärtig wird, weil da Rauch ist, oder gleichgültig aus welchem Grund auch immer; er verlässt sie also, aber er wandert nicht aus, er bezieht keine neue Wohnung, er bleibt dabei, die alte als seine Wohnung zu betrachten; er rechnet darauf, dass es wieder vorbeigehen soll.« (ders.: Die Krankheit zum Tode, S. 54) 225 Weber: Die protestantische Ethik, S. 49. 222 223

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wendig das Genussstreben sein muss, 226 lässt sich doch Kierkegaards Diagnose einer allgemeinen »Ästhetisierung« als zunehmendes Verfallensein ans Positive, ans sinnlich Gegebene gut im geistesgeschichtlichen Kontext verankern: Wie gerade B’s brieflicher Adressat A uns in seinen ironisch-selbstreflexiven Aphorismen zu erkennen gibt, ist die Hauptursache seiner unglücklichen Verzweiflung im Grunde nicht so sehr die Vergänglichkeit aller Genussmomente, wie B immer wieder suggeriert, 227 sondern zum einen die nihilistische, nachidealistische und -romantische Grundstimmung inmitten einer jeder ethisch-religiösen Sinnhaftigkeit beraubten, rein mechanischen Geschäftigkeit der Welt 228 sowie die dadurch implizierte, um sich greifende lähmende Leidenschaftslosigkeit. 229 »Die erste und unumgängliche Bedingung des Glücks ist der feste Glaube an eine sittliche Weltordnung«, warnt entsprechend der Schweizer Staatsrechtler Carl Hilty: »Ohne dieselbe, wenn die Welt vom Zufall oder von einem unerbittlichen, in seinem Verfahren gegen den Schwachen sogar grausamen Naturgesetz oder endlich von der List und Gewalt der Menschen regiert wird, kann von Glück für den einzelnen nicht mehr die Rede sein.« 230 Neben das Defizit an einer sittlichen Weltordnung als Inhalt leidenschaftlichen Glaubens tritt der Distanzverlust zur technisierten Welt, die Unfähigkeit zur kritischen Reflexion und zur ethisch-verbindlichen Selbstbestimmung. 231 Dieses undistanzierte, unmittelbare Ausgeliefertsein ans Positive und der allgemeine Sinn- und Wertverlust infolge eines Schwindens lebensweltlich-sozialer Integrationsformen im Laufe der Technisie226 Auch Greve hegt diesbezüglich gewiss berechtigte Zweifel: »Die Zweifel reichen sogar über B’s spezifische Frontstellung gegen den Romantiker A hinaus; sie betreffen seine Deutung ästhetischer Anschauung insgesamt. Indem er Hedonismus und naturhaftes Streben identifiziert, übernimmt er aus der Tradition eine durchaus strittige Grundannahme. Gegen sie ließe sich einwenden, dass neigungsgebundene Aktivität keineswegs auf Genuss ausgerichtet sei. Er bedeute nur die Folge gelingenden Handelns, dessen eigentlicher Zweck vielmehr im angestrebten Gegenstand selbst liege. Insofern könnte der Hedonismus nicht als die natürliche menschliche Einstellung gelten.« (Wilfried Greve: Kierkegaards maieutische Ethik, S. 75) 227 Vgl. B’s Analysen zum prototypischen Lüstling Nero, der am Ende von Leere und Langeweile übermannt wird (Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 2, S. 745 f.). 228 Vgl. ebd. Bd. 1, S. 34 oder S. 44 f. 229 »Lass andere darüber klagen, dass die Zeit böse sei, ich klage darüber, dass sie erbärmlich ist; denn sie ist ohne Leidenschaft.« (ebd., S. 37) 230 Carl Hilty: Glück, S. 22. 231 »Wozu ich tauge? Zu nichts oder zu allem Möglichen.« (Kierkegaard: Entweder– Oder Bd. 1, S. 35)

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rung und Rationalisierung bilden meines Erachtens den eigentlichen Nährboden für die Schwermut eines »Ästhetikers« (im Sinne 1 ästhetischer Unmittelbarkeit), 232 während die Flucht in den Hedonismus (2) eine Folge der Schwermut als der Unfähigkeit zum ethischen Selbstverhältnis, zu einem »Selbst« im emphatischen Sinne darstellt. Auch hierbei finde ich Unterstützung durch Greves akkurate Textexegese: »Erwachsen etwa aus einer theoretischen Einstellung, wie sie in den Bemerkungen zum Gottesbeweis anklingt, einer – als solche zumindest aufgefassten – Einsicht in die Wirklichkeit der Welt, konnte A’s Nihilismus vielmehr die Wurzel bilden für seine praktische Haltung. Nicht als Ursache, sondern als Folge ließe sich dann die Schwermut auffassen, als Rückwirkung des universalen Sinnverlusts. Und sein Hedonismus könnte etwa als letzter Versuch gedeutet werden, der Existenz wenigstens subjektiv einen Zweck abzugewinnen.« 233

Schenkt man Bells soziologischen Studien Glauben, soll die von Kierkegaard attackierte Zersetzung der protestantischen Ethik durch Hedonismus in engem Zusammenhang mit der Erfindung des Teilzahlungssystems und der zunehmenden Massenproduktion und -konsumtion stehen 234 und sich somit erst Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen haben: »Die wirkliche soziale Revolution der modernen Gesellschaft ereignete sich in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, als das Aufkommen der Massenproduktion und des hochentwickelten Konsums das Leben der Mittelschicht zu ändern begann. Damit wurde die protestantische Ethik als Lebensstil und soziale Realität der Mittelschicht durch einen hedonistischen Materialismus und die puritanische Moral durch einen psychologischen Eudaimonismus ersetzt.« 235

Die Wurzeln eines solchen hedonistischen Materialismus und psychologischen Eudaimonismus liegen aber, wie die bisherigen Darstellungen verraten, nicht nur weit zurück, sondern sind mannigfach Vgl. zum Phänomen der Schwermut ebd. Bd. 2, S. 743. Greve: Kierkegaards maieutische Ethik, S. 74. 234 »Die größte Triebkraft im Prozess der Zerstörung der protestantischen Ethik war die Erfindung des Teilzahlungssystems oder Sofortkredits. Früher musste man sparen, um zu kaufen. Mit der Kreditkarte konnte man jedoch unmittelbare Bedürfnisbefriedigung erlangen. Das System wurde durch Massenproduktion und Massenkonsumption, durch Weckung neuer Wünsche und Schaffung neuer Mittel zu ihrer Befriedigung grundlegend verändert.« (Bell: KWK, S. 30) 235 Ebd., S. 93. 232 233

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verzweigt und verflochten. Seit der Renaissance erhebt man ein wunschtheoretisches Glück zum Programm, das unzweifelhaft auf einem empirisch-hedonistischen Glücksverständnis basiert. Weit davon entfernt aber, dass nach dem humanistischen Wertwandel eine hedonistische Lebensanschauung zum Durchbruch gelangt wäre, rangen vielmehr das ästhetische und technische Moment im frühneuzeitlichen Glücks- nicht anders als im Selbst- und Weltverhältnis um die Vorrangstellung: Ohne den Genuss bei der Erfüllung der Wünsche und Neigungen zum Selbstzweck zu erheben, erwachen als wichtige Glückskomponenten das ästhetische Bestreben, sich selbst gleich einem Kunstwerk das eigene Gesetz zu geben, zum andern das Verlangen nach effizienter technischer Beherrschung und Verbesserung der Lebensumstände. Solange das Glück, der zu sein, der man ist, angesichts der Not der Zeit nahezu koinzidiert mit dem Glück, das zu haben, was man sich wünscht, und der Mensch vornehmlich als strategisch kalkulierende »res cogitans« oder als »homo faber« ins Rampenlicht tritt, hat das transitiv-technische Moment dabei zweifellos das Primat inne. Aufgrund einer durch die bürgerliche Gefühlskultur der »Empfindsamkeit« vorbereiteten Verinnerlichung und Privatisierung des Glücks erleben sowohl ein ästhetisch-reflexives Glücksverständnis wie auch ein Hedonismus in Reinkultur beim eigentlichen Beginn der Neuzeit und dem Durchbruch des Kapitalismus im 18. Jahrhundert einen mächtigen Aufschwung. Nach der Substitution der feudalen durch die kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen wappnet sich jedes vereinzelte Bürgersubjekt nach dem Vorbild des emanzipierten Künstlers mit den Marktstrategien Originalität und Individualität und setzt dazu an, im Rahmen einer sinnerfüllt-selbstzweckhaften Existenz und gemäß der von Montaigne antizipierten Form spielerischer Selbsterkundung seine ganz persönlichen Gefühlsregungen und gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten zu entdecken. Gleichzeitig gewinnt aber die optimistische liberalistische Überzeugung an Boden, dass Glück nichts anderes als ein egoistisches Gewinnstreben mit dem Ziel der Befriedigung möglichst vieler Neigungen sei, dank dessen zugleich das Wohl der Gemeinschaft gesteigert werde. Das Vergnügen, sofern es auf vernünftiger Planung und zuverlässigen Kenntnissen der »Natur« beruht, arriviert zum »höchsten Gut« des Menschen schlechthin, so dass man im Fortschritt von Naturwissenschaften und Technik eine euphorisch begrüßte Chance erblickt, in Verabschiedung aller althergebrachter religiöser und moralischer 124

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Vorurteile immer neue und vielfältigere Güter um der genussreichen Bedürfnisbefriedigung willen produzieren zu können. Die dabei neu geformten, immer exquisiteren künstlichen Bedürfnisse werden nachgerade zu Prämissen menschlichen Glücks und zu Wegbereitern einer von jedem Aberglauben gereinigten, allein von der Vernunft regierten Zeitalter allgemeiner Glückseligkeit erhoben. Während die Romantiker in klarer Frontstellung gegen einen solchen eindimensionalen Hedonismus und im Anschluss an die Sturm-undDrang-Bewegung auf ein reflexives und zerbrechliches, poetische Gefühle und Kräfte freilegendes und formendes Glück der Selbstentfaltung hoffen, scheint man im positivistischen Zeitalter überwältigenden Wirtschaftswachstums unwillkürlich in Hedonismus zurückzufallen, weil man sein »Selbst« vor lauter (selbst-)disziplinierter (Lebens-)Technik aus den Augen verloren hat. Von »ästhetischen« Vorstellungen vom guten oder glücklichen Leben kann im nachromantischen 19. Jahrhundert offenkundig nur dann noch gesprochen werden, wenn man wie Kierkegaard das »Ästhetische« in einem ganz weiten, ursprünglichen Wortsinne mit dem unmittelbaren Verhaftetsein an die sinnlich-materielle Welt oder mit sinnlich-hedonistischem Genuss identifiziert. Auf welche Weise soll nun der lange latente Hedonismus im 20. Jahrhundert erneut ins Rampenlicht getreten sein und in welcher Beziehung steht er zum »Ästhetischen« im engeren Sinne? Vergegenwärtigen wir uns, bevor wir die Relation des ästhetischen und hedonistischen Moments im Glücksverständnis ins 20. Jahrhundert hinein weiterverfolgen, nochmals als Hypothek des 19. Jahrhunderts diese doppelte Unsicherheit: Zum einen entschwinden im Zuge der Technisierung und ihrer erfolgreichen Allianz mit Wissenschaft und Wirtschaft allmählich die situationsbezogenen, außenorientierten klaren Wünsche wie diejenigen nach Bezwingung der Natur, gesellschaftlicher Anerkennung, politischer Macht oder verbesserten Lebensbedingungen, wodurch das transitive Glück seiner anfänglichen Luzidität verlustig geht und der Ausbreitung von Leere und Langeweile Raum lässt (vgl. Kapitel 2.1). 236 Gleichzeitig zum Zerbröckeln des systembezogenen Glücksoptimismus machen 236 Vgl. Schulze: »Das geistige Klima zur Zeit des Wirtschaftswunders ist ein Paradebeispiel für die Denkwelt des Habens. Glück ist hier in einer situationsbezogenen Terminologie definiert; die Wünsche der Menschen richten sich nach außen, auf die Umstände: Geld, Wohnung, Mobiliar, Autos, Haushaltsgeräte, Urlaub, Prestige. Als Gegenteil des

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sich lebensweltliche Zweifel breit an einem dank methodischer Selbstbeherrschung und rationaler Lebensführung nach den Kriterien instrumenteller Rationalität und technischer Effizienz erzielten guten und glücklichen Lebens. Verliert man nämlich endgültig jeden religiösen Bezugspunkt der puritanisch-protestantischen, pflichtbewussten Lebensform aus dem Auge, bleibt eine Leerform von Rationalität und Pflichterfüllung zurück – sei sie nun maßgeblich vom System der Lebenswelt aufoktroyiert oder nur unter dessen Einfluss ihres religiös-traditionellen Rahmens entkleidet; eine Hülle rein mechanischer Geschäftigkeit, die das Selbsthilfe-Projekt des »selfmademan« zur Karikatur verkommen lässt. 237 »Wer glaubt daran?« 238 »Ja, man wird vielleicht nicht irre gehen«, rapportiert Hilty, »wenn man annimmt, ein großer Teil des rücksichtslosen ›Realismus‹, der sich jetzt überall breit macht, sei keineswegs die Frucht der Überzeugung, dass man damit glücklich werden könne, sondern bloß diejenige der Verzweiflung an jedem andern Wege. Denn wenn weder Arbeit noch sogenannte Tugend den Frieden der Seele herbeiführen können, wenn die öffentliche Wirksamkeit, die guten Werke, der Patriotismus Humbug und die Religion größtenteils Formsache, wenn nicht gar bloße Phrase ohne jede objektive Gewissheit ist, wenn das also alles auch nur Eitelkeit der Eitelkeiten ist, dann ›Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot‹.« 239

Es erhärtet sich angesichts verschiedener Zeitdokumente der Verdacht, dass die Deutschen, stolz in ihrer Gefühlstiefe und ihrem erhabenen Pessimismus, alternativ zur amerikanischen pöbelhaften Unkultur, in der es geradewegs Pflicht ist, so glücklich wie nur irgend möglich zu sein, das unerreichbare Glück zugunsten eines fleißigen, erfolgreichen Lebens zunehmend aus dem Auge verlieren. – Ein plattes unästhetisches »kleines Glück«, befangen im systemischen HanGlücks gilt der objektiv feststellbare Mangel an begehrenswerten Gütern. Während man heute die Frage ›Wie geht’s?‹ überwiegend als Erkundigung nach dem Innenleben interpretiert, verstand man sie damals vor allem als Frage nach den objektiven Lebensbedingungen.« (Schulze: Das Projekt des schönen Lebens, S. 17) 237 Vgl. zur veränderten lebensweltlichen Einstellung zur Religion Webers konzises Fazit: »Solche vom ›kapitalistischen Geist‹ erfüllte Naturen pflegen heute, wenn nicht gerade kirchenfeindlich, so doch indifferent zu sein. Der Gedanke an die fromme Langeweile des Paradieses hat für ihre tatenfrohe Natur wenig Verlockendes, die Religion erscheint ihnen als ein Mittel, die Menschen vom Arbeiten auf dem Boden dieser Erde abzuziehen.« (Weber: Die protestantische Ethik, S. 59) Eine Perspektive, die uns nicht zuletzt von Nietzsches Polemik gegen das Christentum her vertraut sein dürfte. 238 Vgl. oben, S. 115. 239 Hilty: Glück, S. 16.

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del und Wandel unter Missachtung der großen schöpferischen individuellen Potentiale, ein wunschloses Unglück? Die romantische, antibürgerliche und antirationale Protesthaltung adaptierend, findet die aus diesem Dilemma resultierende nihilistische décadence-Stimmung des Fin-de-siècle ihren Ausdruck in Krisenphänomenen eines weltabgewandten Ästhetizismus, der gegenüber sämtlichen konventionellen Normen oder hedonistischen Lustkriterien den ästhetischen Wertmaßstab der schönen Form monopolisiert, 240 oder in einer dem Faschismus den Boden bereitenden entfesselten »Romantik des Irrationalen«, 241 bei welchen die Glücksfrage marginalisiert wird. Anlässlich des zweifachen Zweifels hinsichtlich eines transitiven Glücks, d. i. der Möglichkeit seiner kühl-rationalen Berechnung mittels planmäßiger Durchsetzung äußerer Ziele oder nüchterner Pflichterfüllung, bahnt sich eine Art »kopernikanische Wende« im wunschtheoretischen Alltagsverständnis von Glück an, welche die bereits in der Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts und der romantischen Opposition vorgefundenen Tendenzen der Verinnerlichung intensivieren. Als tieferliegende Grundlage dieser Zweifel müssen dabei die Nicht-Normativität der von der Lebenswelt entkoppelten, lediglich um die materiellen und formalrechtlichen Voraussetzungen eines gänzlich traditionsentbundenen und individualistischen Glücksstrebens bemühten Subsysteme, aus lebensweltlicher Perspektive die Angst vor dem Engpass einer jegliche Werte untergrabenden positivistisch-säkularen Weltanschauung in Anschlag gebracht werden: Indem »an die Stelle einer transzendenten Natur […] als harter Kern der Realität die Immanenz der Empfindungen und die Unmittelbarkeit des Faktischen« traten, d. h. in »dem Maße, wie sich die Realität, an die die Menschen glauben konnten, in etwas Thomas Manns Buddenbrooks spiegelt in literarisch konzentrierter Form die allmähliche Erosion der puritanischen, diszipliniert-rationalen bürgerlichen Lebensform, die sich, unter den Einfluss der pessimistischen Philosophie Schopenhauers geraten, am Ende der dekadenten Generationenfolge in lebensverneinenden Ästhetizismus transformiert. 241 Max Weber verurteilt die verheerende Fluchtverbindung vom (berechtigten) Unglauben an die Sinnstiftung oder Glücksfindung durch Wissenschaft und Rationalisierung zum Irrationalismus vehement: »Befremdlich ist nur der Weg, der jetzt eingeschlagen wird: dass nämlich das einzige, was bis dahin der Intellektualismus noch nicht berührt hatte: eben jene Sphären des Irrationalen, jetzt ins Bewusstsein erhoben und unter seine Lupe genommen werden. Denn darauf kommt die moderne intellektualistische Romantik des Irrationalen praktisch hinaus.« (Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 598) 240

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unmittelbar Erfahrbares verwandelte, erfasste die Menschen ein Schrecken vor der Immanenz.« 242 Aus Entsetzen vor dieser nackten Immanenz und distanzlos-unentrinnbaren Positivität, geworfen in ein lebensweltliches Orientierungsvakuum infolge der durchgängigen Rationalisierung und Entzauberung, zieht man den Horizont seiner Glückserwartungen ultimativ in das persönliche Gefühlsleben zurück: »Die Ziele des Handelns verlagern sich von der Situation auf das Subjekt, von den Umständen zu Erlebnissen, von außen nach innen«, 243 registriert Schulze, und Sennett unterstreicht: »Die westlichen Gesellschaften befinden sich auf dem Weg von in gewissem Sinne außen-geleiteten zu innen-geleiteten Verhältnissen – bloß, dass inmitten von Selbstversunkenheit keiner mehr sagen kann, was ›innen‹ ist.« 244 Wenn nun bei der innenorientierten Glückssuche »die Psyche als Zufluchtsort vor der Leere der Gesellschaft« 245 und der entzauberten Welt fungiert, ist zunächst kein totaler Rückzug in die Gefilde der Einsamkeit angesagt, sondern man macht Halt im Privatbereich: »Der Glaube an den moralischen Wert ›zwischenmenschlicher Nähe‹ ist in Wirklichkeit Produkt einer durch den Kapitalismus und den Säkularismus im 19. Jahrhundert hervorgerufenen tiefgreifenden Verschiebung«, expliziert Sennett. »Aufgrund dieser Verschiebung begannen die Menschen, persönlichen Sinn in unpersönlichen Situationen, in Objekten und in den objektiven Bedingungen der Gesellschaft selbst zu suchen. Aber dort fanden sie keinen Sinn; in dem Maße, wie die Welt psychomorph wurde, wurde sie zur Mystifikation. Deshalb kehrten sie sich von ihr ab, um in ihren privaten Lebensbereichen, insbesondere in der Familie, ein Ordnungsprinzip für die Wahrnehmung von Persönlichkeit zu finden.« 246

Obgleich auch Taylor bei seinen Analysen zur modernen Identität darauf insistiert, dass man in der Privatsphäre »nach einem Spiegelbild [suche], nach dem, was an unserer Psyche, an unseren Gefühlen authentisch ist«, 247 lässt sich wohl sein Ideal einer »Kernfamilie« zu einer Zeit, in der Single-Dasein und Alleinerziehung en vogue sind und Rortys Ruf nach radikal-privatistischer ironischer SelbsterschafSennett: Verfall und Ende, S. 250. Schulze: Das Projekt des schönen Lebens, S. 23. 244 Sennett: Verfall und Ende, S. 18. 245 Ebd., S. 50. 246 Ebd., S. 329 f. 247 Ebd., S. 16. Die Entsprechung bei Taylor lautet: »Mit dem Aufkommen der modernen Identität trocknet dieses öffentliche Leben aus. Die Gemeinschaft räumt das Feld, 242 243

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fung vielfach widerhallt, kaum wirksam restituieren. Inwiefern die totale Privatisierung und Verinnerlichung des Glücks dennoch nicht notwendig zu einer absoluten Vereinzelung der empfindenden Subjekte führt, sucht Schulze anhand kursierender »alltagsästhetischer Schemata« zu dokumentieren, die wir bei unserer Erörterung an späterer Stelle tangieren werden. 248 Nach der glückstheoretischen »kopernikanischen Wende« wird mithin das glückliche nicht anders als das »gute Leben […] definiert in Begriffen emotionaler Befriedigung«, so dass bezüglich eines wunschtheoretischen Glücks »die Erfüllung meiner Wünsche und Sehnsüchte im Fühlen evident werden muss«. 249 Wo bei einer außenorientierten Lebensauffassung als verlässliches Indiz glücklichen Erfülltseins das Ereichen äußerer Ziele figurierte, gilt bei innenorientierter beispielsweise der Kinderwunsch nicht dann als erfüllt, wenn tatsächlich Kinder da sind, sondern »erst dann, wenn sie die Eltern glücklich machen« 250 – ein circulus vitiosus? »Ob sie erfüllt werden oder nicht, ist letzliche Sache meines emotionalen Lebens«, 251 unterstreicht Taylor diese offenkundige Tautologie des Mutterglücks, welche den Übergang zu rein innenorientierten Wünschen des Seins anstelle der außenorientierten des Habens markiert. Unberücksichtigt lässt er dabei die in der kognitiven Emotionspsychologie zutagegeförderte Bewertungsabhängigkeit psychischer Reaktionen, derzufolge das emotionale vom reflexiven Leben eigentlich nicht getrennt werden kann (vgl. Kapitel 3.2): In Absetzung vom Behaviorismus, der Gefühle als eine Art von Reflex, d. h. als angeborene Reaktionsmuster deutet, schieben die kognitiven Bewertungstheorien zwischen Reiz und Reaktion eine kognitive Einschätzung der Situation, so zwar, dass nicht Reize oder Ereignisse die emotionale Reaktion determinierten, sondern persönliche Interpretationen und Bewertungen. Aufgrund dessen müsste aber ein Perspektivenwechsel in der Kogniund die Kernfamilie sichert sich eine Privatsphäre. Denn das mit einer modernen Identität ausgestattete Subjekt strebt nach Erfüllung.« (Taylor: Negative Freiheit?, S. 254) 248 Vgl. S. 112 ff. 249 Taylor: Negative Freiheit?, S. 255. 250 »Bei einer außenorientierten Lebensauffassung gilt beispielsweise das Ziel, Kinder zu haben, dann als erreicht, wenn die Kinder existieren, bei einer innenorientierten Lebensauffassung erst dann, wenn sie die Eltern glücklich machen oder ihnen wenigstens nicht zu sehr auf die Nerven gehen. Oder: Ob ein Auto fährt (außenverankertes Ziel), können alle beurteilen; ob man dabei ein schönes Fahrgefühl hat (innenverankertes Ziel), muss jeder für sich entscheiden.« (Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 37) 251 Taylor: Negative Freiheit?, S. 256. A

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tion als Überzeugungshintergrund unseres Erlebens stattfinden, welche nun weniger dem anvisierten äußeren Ziel (z. B. den Kindern) Beachtung schenkt, als vielmehr um die subjektive Erwartungshaltung, die Selbstinterpretation und -bewertung (der angehenden Mutter) kreist, wodurch wir gezwungen wären, uns permanent mit uns selbst zu beschäftigen. 252 Wenn aber das verinnerlichte Glück der Erlebnisintensivierung auch einer Reflexionsintensivierung bedarf, welche nach Kriterien der Selbstbewertung zu rufen scheint – woraus könnten sich diese nach dem Verlust eines lebensweltlich-kulturellen Wertefundus rekrutieren? Wenn wissen, was man will, bedeutet: wissen, was einem gefällt, da der Erlebniswert von Angeboten den Gebrauchswert bzw. die rein körperlichen Empfindungen bei weitem überspielt, rücken zwangsläufig »ästhetische Kriterien« des guten Geschmacks als einzig ausschlaggebende immer mehr von der Peripherie ins Zentrum lebensweltlicher Orientierung: »Waschmittel X wäscht so gut wie Waschmittel Y; Beförderungsprobleme lassen sich gleich gut mit veschiedenen Autos lösen; für das körperliche Empfinden ist es gleichgültig, ob man dieses oder jenes Hemd anzieht. Wir spüren die Folgen unserer Entscheidungen nicht auf der Ebene des primären Nutzens, denn dieser ist selbstverständlich. […] Unsere objektive Lebenssituation, soweit sie in Verfügungschancen über Gegenstände und Dienstleistungen besteht, zwingt uns dazu, ständig Unterscheidungen nach ästhetischen Kriterien vorzunehmen. Erleben wird vom Nebeneffekt zur Lebensaufgabe.« 253

Vor einer zum Kauf angepriesenen Palette zum Zweck der Reinlichkeit gleichdienlicher Seifen gerät die Intention des Habens einer Seife, welche uns ursprünglich zum Gang ins Kaufhaus animierte, miteins in Vergessenheit, und es richten sich jetzt alle Gedanken auf das Sein, die kunstvolle Selbstinszenierung mittels eines erlebnisaktiven Seifengebrauchs. Weil weder die emotionale Erfüllung des Seifenwunsches noch überhaupt eine seifenspezifische Entscheidung ohne ästhetische Stilfindung erzielt werden kann, greift man zu rettenden (werbetechnischen) Kategorien wie »wilde Frische, cremige Zartheit, erotische Formgebung«, 254 die unsere Seinsweise, unsere Befindlich252 »Im Projekt des schönen Lebens ist ein Reflexionsprogramm angelegt, da das Erfolgskriterium im Subjekt liegt.« (Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 52) 253 Ebd., S. 55. 254 »Ohne den Kompass der eigenen Erlebnisbedürfnisse ist der tägliche Konsum von

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keit näher bestimmen. Nachdem der primäre Nutzen eines Gegenstandes sowie die freie Verfügbarkeit von Dingen oder Dienstleistungen längst selbstverständlich geworden sind, verlagert sich unsere Entscheidungsfindung von der instrumentell-technischen auf die ästhetische Ebene. Obgleich Schulze »ästhetisch« oder die zentralästhetische Kategorie »schön« oft synonym mit »erlebnisorientiert« bzw. »hedonistisch« verwendet, scheinen mir solche »erlebnisorientierten Zusatzqualitäten« Indiz zu sein für einen im engeren Sinne ästhetischen Vorgang der distanzierten, experimentellen Form- und Stilbildung, da wissen, was einem gefällt, letztlich bedeutet: wissen, wer man sein will. An die Stelle einer erfolgsorient-technischen wäre dann eine »ästhetische Rechtfertigung« der Existenz getreten, und bezüglich der Gretchenfrage nach der Gewichtung von Hedonismus und Ästhetisierung scheint die Maxime von Kierkegaards Ästhetiker A zur Geltung zu kommen: »Man genießt nicht unmittelbar, sondern etwas ganz anderes, was man selbst willkürlich hineinlegt«. 255 Wenn aber kein unmittelbarer Genuss vorliegt, sondern man eine Situation oder ein Ereignis erst als »poetisierte« genießt, d. h. als subjektive, von den objektiven Eigenschaften der erlebten Wirklichkeit Distanz nehmende und sämtliche menschlichen Erkenntnisvermögen spielerisch aktivierende ästhetische Kreation, würde sich – entgegen Bells Präsumtion – der transitiv-technische Glücksbegriff an der besagten »kopernikanischen Wende« gar nicht in einen rein hedonistischen auflösen. So insistiert Schulze, die innenorientierte Lebensform sowohl als »unmittelbarste Form der Suche nach dem Glück« 256 wie als »Projekt des schönen Lebens« 257 charakterisierend, in der Tat auf dem ästhetischen Surplus solcher Projekte gegenüber positivistisch-spießbürgerlicher Unmittelbarkeit: Informationen, Unterhaltung, Waren und Dienstleistungen nicht zu bewerkstelligen. Wer mit dem schlichten Ziel in den Supermarkt geht, ein Stück Seife zu Sauberkeitszwecken zu erwerben, muss unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen. Seine Motivation reicht nicht aus, um sich zwischen den vielen Angeboten, die denselben Zweck erfüllen, zu entscheiden. Erst wenn sich der Konsument auf erlebnisorientierte Zusatzqualitäten einlässt, mit denen sich die Produkte hervortun – wilde Frische, cremige Zartheit, erotische Formgebung, Naturbelassenheit usw. –, ist er in der Lage, eine ganz bestimmte Seife wirklich zu wollen.« (ebd., S. 59) 255 Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 1, S. 348. Vgl. auch ebd., S. 41: »Der eigentliche Genuss liegt nicht in dem, was man genießt, sondern in der Vorstellung.« 256 »Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Suche nach dem Glück.« (Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 14) 257 »Innenorientierte Lebensauffassungen, die das Subjekt selbst ins Zentrum des A

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»Erlebnisorientierung schließt mehr ein als bloß Hedonismus. Wer den Urlaub hasst, sucht sein schönes Erlebnis vielleicht bei der Arbeit oder in seinen vier Wänden. Buchstäblich alles kann Menschen als schön gelten. In dem Satz ›Das ist schön‹ verrät sich eine Auffassung, die das Schöne außen verankert, in Gegenständen und Situationen. Er bezieht sich jedoch, auch wenn ihn der Sprecher nicht so meint, auf die Tätigkeit des Bewusstseins, unabhängig von den objektiven Eigenschaften der erlebten Wirklichkeit. Das Schöne kommt nicht von außen auf das Subjekt zu, sondern wird vom Subjekt in Gegenstände und Situationen hineingelegt. Die Wohnung zu putzen oder das Auto zu reparieren unterscheidet sich in der Möglichkeit des Schönseins nicht von Loireschlösschen, Bergkristallen und Rilke-Sonetten.« 258

Indem das, womit man die Wirklichkeit poetisiert – man nehme die »cremige Zartheit« oder »erotische Formgebung« – im Grunde nur als Ingredienzien einer lebenskünstlerischen Selbststilisierung Sinn machen, scheint der Genuss der ästhetisierten Welt zu konvergieren mit dem Selbstgenuss einer ästhetisch modellierten Persönlichkeit wie etwa des »Verführers« aus Kierkegaards Entweder-Oder. 259 Inwiefern sind aber dennoch die konzeptuellen Divergenzen zwischen der Lebensform des postmodernen Menschen und dem kierkegaardschen Ästhetiker einer höherstufigen Reflexion, dem romantischen Lebenskünstler, unübersehbar? Konzeptuell konvergent sind mit Sicherheit die wesentlichen Fundamente ihrer ästhetischen Welt- und Lebensanschauungen: die Grundüberzeugung von der Produziertheit und kreativen Reproduzierbarkeit von Erlebnissen. Ein brillantes Exempel statuiert diesbezüglich der Ästhetiker A mit seiner explizit künstlerischen Methode des poetischen Sich-Erinnerns und Vergessens, welche nicht darin liege, »dass man den Boden wechselt, sondern wie bei der wahren Wechselwirtschaft im Wechsel des Bewirtschaftungsverfahrens und der Fruchtarten.« 260 Ein ganz ähnliches Szenario einer kreativ-konstruktiven Umgarnung der Wirklichkeit skizziert Schulze, der aller-

Denkens und Handelns stellen, haben außenorientierte Lebensauffassungen verdrängt. Typisch für Menschen unserer Kultur ist das Projekt des schönen Lebens.« (ebd., S. 15). 258 Ebd., S. 39. 259 Vgl. Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 1, S. 354, in 2.2, S. 91 zitiert, sowie Schulze: ebd., S. 44 f. 260 Kierkegaard: ebd., S. 339. Vgl. auch A’s Metapher des Tapetenwebens aus Wirklichkeitselementen auf gebirgshoher Ritterburg ebd., S. 54.

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dings auf die »Unwillkürlichkeit« bestimmter »Ursprungserlebnisse« pocht: 261 »Erlebnisse werden nicht vom Subjekt empfangen, sondern von ihm gemacht. Was von außen kommt, wird erst durch Verarbeitung zum Erlebnis. Die Vorstellung der Aufnahme von Eindrücken muss ersetzt werden durch die Vorstellung von Assimilation, Metamorphose, gestaltender Aneignung. […] Erlebnisse entstehen in einem singulären inneren Universum. Was auch immer im Hier und Jetzt geschieht, ob man träumt, nachdenkt, ein Geräusch hört u. s. w. – das Ereignis wird erst durch seine Integration in einen schon vorhandenen Kontext zum Erlebnis.« 262

Jedes aktuelle Erleben ist also in dem Sinne »gemacht«, als es durch den momentanen kognitiven Hintergrund an modifizierbaren Erwartungen, Überzeugungen, Handlungsplänen, Selbst- und Situationsbewertungen unseres »inneren Universums« mitbestimmt wird. Je kärglicher sich nun das von außen dargebotene Erlebnismaterial ausnimmt, desto mehr Gewicht gewinnt das phantasievolle »Bewirtschaften« des anschaulich Gegebenen, die reflexive Aufbereitung früherer Erlebnisse – in Form des poetischen Sich-Erinnerns – bzw. die sich in der reflexiven Aneignung des Erlebten vollziehende Selbstkonstitution. 263 Darin muss zugleich die konzeptuelle Differenz in der Lebensanschauung eines romantischen und postmodernen Menschen erblickt werden: Während der Ästhetiker der Wechselwirtschaft auf das »Prinzip der Beschränkung, welches das einzig Rettende in der Welt« 264 sei, setzt, ist ein solches in der gegenwärti261 So ich recht sehe, dürfte Schulzes Distinktion von Ursprungs- und Reflexionserlebnis (in: Die Erlebnisgesellschaft, S. 44) aufgrund der prinzipiellen Subjektbestimmtheit von »Ursprungserlebnissen« auch nur als graduelle Polarisierung Sinn machen, da offenkundig nicht nur die äußeren Umstände, sondern auch der Erfahrungs- und Bewertungshorizont willkürlich variiert werden können. 262 Ebd. Zugegebenerweise liegt an der zitierten Stelle noch nicht zwingend eine ästhetische, sondern lediglich eine konstruktivistische erkenntnistheoretische Position vor. 263 Vgl. ebd., S. 45: »Reflexion ist der Versuch des Subjekts, seiner selbst habhaft zu werden. Durch Erinnern, Erzählen, Interpretieren, Bewerten gewinnen Ursprungserlebnisse festere Formen. Allerdings verändern sie sich dabei auch.« Trotz der unbestreitbaren Bezüge besteht aber wohl keine verallgemeinerbare Reziprozität von Isoliertheitsgrad und Erlebnisintensität, wie Schulze suggeriert: »Menschen in totaler Isolation dagegen erleben intensiv, obwohl sie außerhalb kein Material vorfinden. Sie verarbeiten entweder frühere Erlebnisse weiter, oder sie beschäftigen sich mit sich selbst (sofern sich beides unterscheiden lässt). Man könnte sagen: Sie machen sich zu ihrem eigenen Erlebnismaterial.« (ebd., S. 44) 264 Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 1, S. 339.

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gen Entgrenzung der realen Möglichkeiten weitgehend obsolet geworden. »Restriktionen durch Mangel an Geld, Zeit, Angeboten, Beschränkungen durch Zugangsbarrieren und Informationsdefizite, Zwänge durch soziale Kontrolle und Peinlichkeitsschranken sind fast schneller zurückgegangen, als wir es verkraften konnten«, 265 umschreibt Schulze die Erweiterung des kapitalistischen Möglichkeitsraums ex negativo, positiv als »Ansteigen des Lebensstandards, Zunahme der Freizeit, Expansion der Bildungsmöglichkeiten, technischer Fortschritt«. 266 Verlangte die romantische künstlerische Technik der Wechselwirtschaft das Abstreifen jeglicher tieferer Bindungen zur Wirklichkeit, weil bittere Erinnerungen oder enttäuschte Hoffnungen die gottgleiche schöpferische Souveränität beeinträchtigen könnten, 267 werden heute dank der unerschöpflichen Fülle feilgebotener Möglicheiten und des durch Medien und mikroelektronische Techniken stimulierten Glaubens an die durchgängige Gestaltbarkeit der Wirklichkeit die kaum mehr begrenzenden objektiven Bedingungen zum Zwecke des ästhetischen »Projektes eines schönen Lebens« experimentierfreudig arrangiert. Schulze spricht illustrativ von »Kulissen des Glücks« als »Szenarien möglichen und wählbaren Innenlebens« 268 , die – vom Erlebnismarkt über Selbstfindungsangebote bis hin zum Fitnesszenter – allen jederzeit zugänglich sind und eine ästhetische Selbstkonstitution ermöglichen, die nicht mehr auf mühsamer Situationsarbeit, sondern einem viel bequemeren Situationsmanagement beruht: »An die Stelle der Situationsarbeit, kennzeichnend für die einwirkende Existenz, tritt in der wählenden Existenz das Situationsmanagement, das Nehmen und Entsorgen von Lebensumständen. Situationsmanagement geht um ein Vielfaches schneller und bequemer vor sich als Situationsarbeit.« 269 Um der stilvollen Manipulation seines Innenlebens, um Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 19. Ebd., S. 33. 267 »Erst wenn man die Hoffnung über Bord geworfen hat, erst dann fängt man an, künstlerisch zu leben«, lautet A’s Programm (Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 1, S. 340), und es gilt: »Jedes Lebensmoment darf nur so viel Bedeutung für einen haben, dass man es in jedem beliebigen Augenblick vergessen kann; jedes einzelne Lebensmoment muss aber andererseits so viel Bedeutung für einen haben, dass man sich jeden Augenblick seiner erinnern kann.« (ebd., S. 340 f.) 268 Schulze: Kulissen des Glücks, S. 11. 269 Ders: Das Projekt des schönen Lebens, S. 24. Hierbei handelt es sich unzweideutig 265 266

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der Erreichung der innenorientierten Wünsche oder Ziele willen jongliert man nicht mehr auf künstlerische Weise mit wahrgenommenen oder erinnerten Wirklichkeitssegmenten – wodurch man sich unweigerlich der Gefahr der »Verzweiflung der Möglichkeit« aussetzte –, 270 sondern mit realen Projektionsflächen psychophysischer Prozesse. Je mehr man sich dabei um das Arrangement der äußeren Glückskulissen kapriziert, gerät die innerliche Einbettung oder reflexive Aufbereitung und Aneignung von Erlebnissen zum Zwecke der Selbstkonstitution aus dem Auge – und damit auch die frühromantische Ambition, im Rahmen eines »Lebens-als-Kunstwerk« alles Unwillkürliche willkürlich zu machen. Als Voraussetzung der »kopernikanischen Wende« von einem transitiven, außenorientierten zu einem in der Hauptsache innenorientierten, ästhetisch-hedonistischen Glück entpuppte sich somit die historische Expansion der Möglichkeiten: Zuverlässige ökonomische und rechtliche systemische Grundlagen zur Sicherung einer hohen Lebensqualität 271 einschließlich der von Bell bezeigten hedonismusfavorablen Errungenschaften des Kreditwesens und der Massenproduktion seitens der objektiven Möglichkeiten, die durch digitale und mikroelektronische Medien evozierte Überzeugung von der grundsätzlichen Produzierbarkeit und Revidierbarkeit sämtlicher Bereiche der Alltagswirklichkeit seitens der subjektiven, weil dank der Elimination kognitiver und kultureller Barrieren der Möglichkeitsraum erweitert wird: »Entscheidend ist, dass immer mehr Menschen ihre Existenz in einem umfassenden Sinn als gestaltbar ansehen. Damit eröffnen sie sich neue Möglichkeitsräume, die vorher durch kognitive Barrieren (Fatalismus, Schicksalsbegriff, Vorstellung der Gottgegebenheit) verschlossen waren.« 272 Neben die Bereitstellung eines Möglichkeitsraums zum spielerisch-experimentellen Umstellen von um eine »ästhetische« uneigentliche Wahl im Unterschied zur leidenschaftlichen »ethischen«. 270 Vgl. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Kapitel C b a, S. 34. 271 Mit Bell befinden sich die meisten Gesellschaftsdiagnostiker im Einklang darüber, dass erst in unserer Wohlstands- und Freizeitgesellschaft »der Wohlstand eine Ausbreitung und ein Niveau erreicht hat, das der ästhetischen, das heißt im wesentlichen der genießenden und individuell formgebenden Einstellung erheblich erleichtert, auf die Alltagspraxis überzugreifen. […] Ein rein genießerisches Leben zu führen ist eine mögliche Bedeutung und eine Variante von ästhetischer Existenz«, meint Früchtl gleichsam zur Verteidigung der kierkegaardschen Terminologie. Vgl. auch Hans Joas: Die Entstehung der Werte, S. 13. 272 Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 58. A

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Glückskulissen muss allerdings, damit das Ästhetische zur Schlüsselkategorie postmodernen Selbst- und Glücksverständnisses avancieren kann, eine dank der Pionierleistung der Avantgardekunst ins Rollen gebrachte »Ästhetisierung unserer Lebenswelt« treten. Infolge der sich Schlag auf Schlag folgenden aggressiven Vorstöße der Avantgarde wird der Werk- und Kunstbegriff auf immer weitere Wahrnehmungs- und Lebensbereiche ausgedehnt, bis dass die romantische Vision einer Verschmelzung von Kunst und Leben greifbar wird. Antwort auf die Entkunstung der Kunst, d. i. die Präsentation des Banalsten und Alltäglichsten als Kunst – man denke an Duchamps Pissoir –, ist die Verkunstung der Wirklichkeit, für welche wohl Wolfgang Welsch am meisten ästhetisches Flair bewiesen hat: 273 »Zweifellos erleben wir gegenwärtig einen Ästhetik-Boom. Er reicht von der individuellen Stilisierung über die Stadtgestaltung und die Ökonomie bis zur Theorie. Immer mehr Elemente in der Wirklichkeit werden ästhetisch überformt, und zunehmend gilt uns Wirklichkeit im ganzen als ästhetisches Konstrukt. […] Am offenkundigsten ist die Ästhetisierung im urbanen Raum, wo so gut wie alles in den letzten Jahren einem Facelifting unterzogen wurde. Die Einkaufszonen wurden elegant, chic, animatorisch gestaltet. Längst sind nicht mehr nur die Innenstädte, sondern ebenso die Randzonen und ländlichen Refugien von diesem Trend betroffen. Kaum ein Pflasterstein, keine Türklinke und kein öffentlicher Platz blieb vom Ästhetisierungs-Boom verschont.«274

Wenn inmitten dieses virulenten Ästhetisierungsbooms die Lebenswelt selbst als Insgesamt gemeinsamer sprachlicher und normativer Fundamente zum Erlebnismarkt mutiert, scheinen die letzten noch verbliebenen religiösen und ethischen Werte durch ästhetische substituiert zu werden. Schulzes glänzende Illustration der Umfunktionierung traditioneller, sozialintegrativer Handlungen zum ästhetischen Szenario für lauter selbstzweckhafte, genussüchtige Einzelindividuen sei hier in extenso zitiert: »Die Pracht der katholischen Messe, der Weihrauchduft und die Glockenund Orgelklänge sprachen die Erlebnisbereitschaft der Gottesdienstbesucher an, trotzdem war die Messe mehr als ein Event, weil die Erlebnisbereitschaft in einen religiösen Rahmen eingebunden war. Hinrichtungen wurden zwar 273 Vgl. zu diesen komplementären Tendenzen einer Entkunstung der Kunst und Verkunstung der Wirklichkeit Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, Kapitel 5.1. 274 Wolfgang Welsch: Zur Aktualität des Ästhetischen, S. 13 f.

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als Spektakel und Volksbelustigung inszeniert, […] trotzdem war die Hinrichtung nicht bloß eine Show, sondern der rituelle Vollzug dessen, was als ›gerechte Strafe‹ in einem überpersönlichen Bezugsrahmen von Gut und Böse definiert war. […] Dass das jeweilige Ereignis den Teilnehmern ›Spaß machte‹, dass sie sich nicht langweilten, dass sie etwas erlebten, war nur eine von mehreren Bedeutungsschichten des Ereignisses, oft genug nur eine List, um den religiösen oder sozialintegrativen Hauptzweck zu erreichen. Bei den Ereignissen der Erlebnisgesellschaft dagegen haben sich die Verhältnisse umgedreht. […] Immer noch gibt es beispielsweise kirchliche Messen und bürgerlich erscheindende Festlichkeiten, die Tendenz geht jedoch dahin, das zum kulturellen Spielmaterial gewordene Ablaufschema nur noch für den Zweck einer psychophysischen Erregung zu instrumentalisieren. Man projektiert Erlebnisgottesdienste und Jahresabschlussevents. Das Objektive mag sich dazu denken, wer will, öffentlich aber spielt es kaum noch eine Rolle.« 275

Muss aber in einer solchen »Event-« oder »fun-Kultur«, in welcher der Glückssuchende unter den zunehmenden Druck des Imperativs »Erlebe dein Leben!« 276 geraten ist, die Vokabel »ästhetisch« nicht wiederum im kierkegaardschen Sinne für rein sinnlichen Genuss eingesetzt werden, wie dies augenscheinlich bei Welschs ästhetisch-lebensweltlichen Studien geschieht, 277 um überhaupt noch Verwendung finden zu können? Hat Bell mit seinem ostentativen Attest eines grassierenden Hedonismus als einziger Rechtfertigungsbasis des Kapitalismus nach der Erosion des protestantischen Ethos am Ende doch recht behalten? Vergegenwärtigen wir uns betreffs des in Frage stehenden Verhältnisses von reflexiv-ästhetischem und hedonistischem Glück folgende Fundamentalprämisse Schulzes: »Erlebnisorientierung ist definiert als das Streben nach psychophysischen Zuständen positiver Valenz, also nach Genuss«, während die Suche nach einem persönlichen Stil »nur fakultativ, nicht konstitutiv« sei. 278 Wenn der postSchulze: Kulissen des Glücks, S. 89 f. Ders.: Die Erlebnisgesellschaft, S. 59. 277 »In dieser Oberflächenästhetisierung dominiert der vordergründigste ästhetische Wert: die Lust, das Amusement, der Genuss ohne Folgen. Dieser animatorische Trend reicht heute über die ästhetische Überformung einzelner Alltagsbestände – über das Styling von Objekten und erlebnisträchtigen Ambientes – bei weitem hinaus. Er bestimmt zunehmend die Form unserer Kultur im ganzen. Erlebnis und Entertainment sind in den letzten Jahren zu Leitlinien der Kultur geworden.« (Welsch: Zur Aktualität des Ästhetischen, S. 16) 278 Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 108. Neben dem für das Projekt des schönen 275 276

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moderne Glückskandidat bei seinem ehrgeizigen Projekt des schönen Lebens aber nicht primär die von ästhetischem Wohlgefallen begleitete Schönheit seines »Lebens-als-Kunstwerk« im Auge hat, wie wir bisher präsumierten, sondern den Genuss selbst, liegt tatsächlich eine hedonistische, keine reflexiv-ästhetische Lebensform vor. Allein infolge der uns in Verwirrung versetzenden Fülle der Möglichkeiten, vor die wir in immer breiteren Kreisen von Konsum, Freizeit und Ausbildung zur Wahl gestellt werden, sehen wir uns vermehrt gezwungen, auf ästhetische Kriterien auszuweichen: Um im immensen Angebot nicht einfach zu versinken, bleibt uns selbst bei zielgerichtetem Wollen und Wünschen oft nichts anderes übrig als ein ästhetisches Verhalten, bei dem wir uns jenseits der alltagspragmatischen Kausal- und Nutzenzusammenhänge in distanzierter, interesseloser Haltung allein auf den »guten Geschmack« verlassen. Da augenscheinlich im explodierenden Möglichkeitsraum des postindustriellen Zeitalters der unmittelbare Genuss, das Vergnügen keinen »Lebensstil« konstituieren kann, wie Bell postuliert, 279 reicht der Hedonismus als neue Rechtfertigungsbasis des Kapitalismus auf Kosten der protestantischen nicht aus, sondern scheint seinerseits ästhetisch gerechtfertigt werden zu müssen. Wenn allerdings nach den avantgardistischen Offensiven gegen sämtliche traditionell-ästhetische Regelkanons jeder Künstler, nach den Regeln seiner inkommensurablen Tätigkeit fahndend, seine Kunst gleichsam neu erfindet, 280 vermag eine ästhetische Orientierung kaum mehr Halt zu bieten. Soll die postmoderne »Ästhetisierung« tatsächlich mit Welsch als »lebensweltliche Übersetzung« der modernen künstlerischen Kategorien wie Stilpluralismus, Fragmentierung, Szenenwechsel und spielerische Kombination von Heterogenem dechiffriert werden, 281 scheint sich vielmehr jeder lebenskünstlerische Glücksmanager bei Lebens unabdingbaren Genuss eruiert Schulze die fakultativen Komponenten der Distinktion (stilistische Abgrenzung gegenüber anderen) und Lebensphilosophie (stilistische Eigenpositionierung). 279 Vgl. Bell: KWK, S. 30: »Der Hedonismus ist die kulturelle, wenn nicht gar moralische Rechtfertigung geworden – das Vergnügen als Lebensstil.« 280 Vgl. zu den Hauptcharakteristika (post-)moderner Kunst die einleitenden Bemerkungen zum 5. Kapitel von Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?. 281 Welschs dezidierte These lautet: »Bedeutsamer noch als die künstlerische Fortsetzung ist freilich die lebensweltliche Übersetzung. Aus den avantgarde-ästhetischen Paukenschlägen sind Rhythmen des Alltags geworden. Fragmentierung, Szenenwechsel, Kombination des Diversen, Geschmack an Irritation sind heute allgemein, von der Medienkultur über die Werbung bis zum Privatleben. Penthouse und Öko-Hütte, Zweit-

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seinem vorläufig-unverbindlichen »sampling« unerreichbar in die eigene »Vergnügungskabine« 282 einzuschließen. Analog zur Einbuße an ästhetischer Distanz im Zuge der avantgardekünstlerischen Vorstöße, denen beim kühnen Experimentieren nichts am produzierten Kunstwerk-Objekt, sondern alles an der Ausweitung der Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen mittels technischer Stimulierungen simultaner Sinneserregungen liegt, potenziert sich der bereits im 19. Jahrhundert registrierte Distanzverlust im Welt- und Selbstverhältnis: »Der Distanzverlust als ästhetisches, soziologisches und psychologisches Faktum heißt: für den Menschen und für seine Denkorganisation gibt es keine Grenzen, keine ordnenden Erfahrungen und Urteilsprinzipien mehr«, konstatiert Bell und zieht als Beleg die Filmkunst herbei:

»Der Einfluss der Filmtechnik – schnelle Einblenden, Rückblenden, Themengewebe und Aufbrechen von Sequenzen – hat, alles durchdringend, den Roman erfasst, liefert Modelle für multimediale Lichtshows und prägt selbst die Aufmachung der Werbungen und all die multisensorischen Reizquellen, die uns in der Welt, in die wir geworfen sind, tagtäglich überfluten. All dies muss unweigerlich alle alltäglichen Wahrnehmungen im Gesamtbereich menschlicher Erfahrungen verzerren. Resultat von Unmittelbarkeit, Wirkung, Simultaneität und Sinneserregung als ästhetische – und psychologische – Erfahrungsweise ist die Dramatisierung jeden Augenblicks, Spannungssteigerung bis zum äußersten und dennoch Ausbleiben von Lösungen, Versöhnungen […]. Es herrschen ständige Stimulierung und Desorientierung, doch wenn der psychodelische Augenblick vorüber ist, stellt sich die Leere ein.« 283 In dieser ästhetisch-lebensweltlichen »Dramatisierung des Augenblicks« wird der lebensweltliche Ruf nach Authentizität, nach authentischem Wollen und Fühlen laut: Unter dem Slogan »trial and error« einer risikofreudigen, spielerischen Experimentalkultur sucht man die glückspezifische Frage »Was will ich?« in ihrer gängigen Transposition auf die hedonistische »Was gefällt mir?« einer eindeutigen Klärung zuzuführen, indem man in rascher Folge Beruf, Partner, Auto und Wohnung wechselt. Wenn das »Ideal der Authentizibürgerschaft und Halbgeliebte, Termininversionen und Freizeitsprünge gehören zum Setting.« (Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 194) 282 Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 18. 283 Bell: KWK, S. 143 und S. 142. A

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tät« uns aber nur Früchtls formale Weisung »Tue, was du willst!« bzw. »Versuch wenigstens zu wissen, was du willst!« zuraunt, 284 wälzt man wohl mit gutem Recht die Qual der Wahl sogleich auf genussverheißende »ästhetische Schemata« ab. In Schulzes Worten ist damit eine normativ aufgeladene 285 »kollektive Kodierung des Erlebens gemeint, ein ästhetisches Programm, das die unendliche Menge der Möglichkeiten, die Welt zum Gegenstand des Erlebens zu machen, auf eine übersichtliche Zahl von Routinen reduziert.« 286 Doch fällt man da nicht von der Rinne einer unsteten, im fluktuierenden Chaos von Stilpluralität und Fragmentierung experimentierenden Patwork-Existenz in die Traufe massenkultureller Gleichschaltung vermöge standardisierter »Schemata des Fühlens« 287 ? Ohne die soziologische Gegenwartskontroverse darüber, ob sich die Konsum- und Erlebnisgesellschaft nun in vereinzelte, das Erlebnisangebot experimentell komponierende »Vergnügungskabinen« aufgelöst oder vielmehr in Teilkulturen ästhetisch gleichgeschalteter Individuen segmentiert habe, einer Entscheidung zuführen zu wollen, 288 gilt es Grundsätzliches zu bedenken: Lässt man sich auf eine Strukturanalyse des Phänomens »Erleben« ein, das als »positives Erleben« zur Zeit synonym mit »Glück« verwendet wird, entpuppt sich sowohl der Authentizitätswahn wie auch die kulturpessimistische 284 Nachdem in der Kunst des 20. Jahrhunderts das von Romantik und Geniekult verklärte Ideal von Originalität und Individualität »genüsslich ramponiert« worden sei, bleibt nach Früchtl nur noch die Authentizität als Ideal von Ich-Identität übrig: »Man verzehrt sich nicht nach dem mit der Aura der Unberührbarkeit versehenen Original, sondern gefällt sich bewusst im sampling, in der Aneignung von Aneignungen, dem Neuordnen des Bekannten. […] So bestätigt sich noch einmal, dass nicht Individualität, wohl aber Authentizität als Ideal von Ich-Identät steht.« Sein formales »Ideal von Authentizität« lautet dabei: »›Ein gelingendes Leben führst du, wenn du das tust, was du eigentlich willst, oder – eine Steigerung – wenn du, was immer du gerade tust, bejahend tust, wenn du es, anders formuliert, so tust, als würdest du es eigentlich wollen.‹« (Früchtl: Spielerische Selbstbeherrschung, S. 147 f. und 143 f.) 285 »Am gelegentlichen Stilwandel und den dadurch provozierten Reaktionen wird deutlich, dass Stilgemeinschaften Glaubensgemeinschaften sind, so dass Stilmobilität den Charakter einer normativen Konversion hat.«(Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 112) 286 Ebd., S. 128. 287 Ders.: Das Projekt, S. 28 288 Nach Schulze fordert gerade die eskalierende stilistische Vielfalt zur Vereinfachung durch Vereinheitlichung und Systematisierung der psychophysischen Semantik in Form kollektiver »ästhetischer Schemata« heraus (vgl. ders.: Die Erlebnisgesellschaft, S. 18 ff. und 76 f.).

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Auslegung unseres Wollens und Wünschens als bloße »Suggestion« durch den Erlebnismarkt als verfehlt. Denn was »erlebt« wird, ist wie bereits angemerkt »die emotionale Bedeutung eines Ereignisses« 289 , d. h. die Wertbindung der Person an ein bestimmtes Segment ihrer Um- und Mitwelt, die »Konkretisierung einer Welt-Selbst-Relation zu qualitativ unterschiedlicher Zustandsformen.« 290 Auch wenn alle Erlebnisse intentional auf Gegenstände oder Personen gerichtet sind, werden im Fühlen nicht irgendwelche Beschaffenheiten oder Eigenschaften derselben erfahren, sondern die Art unserer Beziehung zu diesen, d. h. der Sinn oder Wert, den wir ihnen zumessen, wobei gilt: »Wenn einmal eine Bindung an bestimmte Werte (z. B. Unversehrtheit und Wohlergehen von Kindern) gegeben ist, dann steht es der Person nicht mehr frei, angesichts einer Misshandlung nicht Wut, Trauer oder Mitleid zu empfinden.« 291 Die dem Erleben zugrundeliegenden Wertmaßstäbe, welche dafür verantwortlich sind, dass wir von einem Objekt überhaupt »berührt« und nicht »kalt gelassen« werden, 292 sind dabei weitgehend soziokulturell erworben als Bestandteile von sogenannten »emotionalen Schemata« 293 (vgl. Kapitel 3.2). Wenn wir aber zu unseren schönen Gefühlen, wie bereits Wittgenstein mit seinem Privatsprachenargument nachwies, keinen privilegierten Zugang haben – in welchem Falle wir gar nie wissen könnten, ob wir das »schöne Gefühl« auch richtig identifizieren –, sondern wir diese Empfindungen und entsprechenden Wertbindungen durch Wiederholungen erlernen, können sie nie »authentisch« sein, sondern immer nur »suggeriert«! 294 An die Adresse von ErlebDieter Ulich/Philipp Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 50. Ebd., S. 54 (vgl. auch oben S. 104). 291 Ebd., S. 56. 292 Vgl. ebd.: »Fühlen heißt Berührtsein, Involviertsein. […] Emotionale Reagibilität ist generell an das Vorhandensein von Wertbindungen geknüpft.« 293 Es handelt sich hierbei wohlgemerkt um heuristische Hilfskonstruktionen für »soziokulturell und individualgeschichtlich präformierte ›Mustervorlagen für die Vervielfältigung von Gefühlsregungen‹« (ebd., S. 89). 294 Vgl. dazu auch Schulzes kulturkritische Anmerkungen: »Doch das schöne Gefühl ist eine Leerformel. Wer nur weiß, dass er ein schönes Gefühl haben möchte, weiß bei weitem nicht genug, um sich orientieren zu können. Hat es einen Sinn, sich selbst zu erforschen, welches konkrete Gefühl man haben möchte? Nein, weil das Bedürfnis, sich so oder so zu fühlen, nur durch Selbstbeobachtung zu erkennen ist. Deren Ergebnis kann jedoch – wie das Ergebnis jeder Beobachtung – nicht von den Kategorien getrennt werden, mit denen man beobachtet. Daraus folgt, dass die Beschreibungen unserer ›Gefühlsbedürfnisse‹ die gerade aktuelle Semantik des Fühlens widerspiegeln, wie sie den 289 290

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nismarkt und Glücksindustrie lässt sich also nicht der generelle Vorwurf erheben, dass sie uns auf Kosten »authentischen« Fühlens positive Erlebnisse bloß »suggerieren«, sondern nur der speziellere gegen bestimmte immanente Wertmaßstäbe oder die Art der Indoktrination solcher Wertbeziehungen. Unter Berücksichtigung dieser emotionspsychologischen Erkenntnisse wäre mithin gegen die Unsicherheitsdezimierung durch sozial stabilisierte »ästhetische Schemata« als Varianten der »emotionalen« in glückstheoretischer Hinsicht nichts Prinzipielles einzuwenden. Wird der Genuss beim »Hochkulturschema« in der Kontemplation gesucht (Reizquellen: klassische Musik, Museum, Lektüre), findet man ihn beim »Trivialschema« in der Gemütlichkeit (deutscher Schlager, Fernsehquiz, Arztroman), beim »Spannungsschema« in der Action (Rockmusik, Thriller, Kneipen), wobei die entsprechenden internalisierten lebensanschaulichen Werte »Perfektion« bei Kulturleistungen, »Harmonie« und hedonistischer »Narzissmus« lauten. 295 Um allerdings das ästhetisch-hedonistische Glückserleben vor allen Verdächtigungen zu befreien, müssen wir auch die restlichen Komponenten bei der Aktualgenese von Gefühlsregungen in den Blick rücken: Neben die dispositionelle Komponente der »emotionalen Schemata« (1) tritt notwendig ein äußeres Ereignis als Emotionsauslöser (2), und der Hintergrund der Gefühlsgenese wird durch den situativen Kontext des Ereignisses (3) und die Momentanverfassung der Person, d. i. ihre augenblicklichen Überzeugungen, Stimmungen, Ziele und Handlungspläne (4) gebildet. 296 Fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit auf den Erlebnisreiz, fällt sofort die Paradoxie des Erlebnismarktes in die Augen, dass zwar durchaus Gegenstände als Ingredienzen persönlich zu installierender Glückskulissen kursieren (2), in ihrem Eigenwert aber aus der Sicht sowohl der Produzenten wie Rezipienten zunehmend an Bedeutung verlieren. Denn angeboten werden nicht eigentlich die Objekte selbst, die objektiven Erlebnisreize, sondern die dank ihnen erzielten Hochgefühle – sei es nun Coolness, Erregung, Entspannung oder Gemütlichkeit –, indem man mit bestimmten Codes den entsprechenden Assoziationshintergrund der ästhetischen Schemata zum Menschen im Alltagsleben der Gegenwart täglich von außen nahegelegt werden.« (Schulze: Das Projekt, S. 28) 295 Gemäß Schulzes Tabelle in: Die Erlebnisgesellschaft, S. 163. 296 Vgl. Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 84 f.

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Klingen bringt. 297 Wie sehr dabei einerseits die »Karriere des Genussmotivs« gemäß dem Verdikt der Kulturkritiker »vom Verhalten der Anbieter auf dem Erlebnismarkt ausgehen« mag, 298 werden doch seit der kopernikanischen Glückswende die Ziele der Glückssucher innenorientiert definiert, so dass Anbieter und Publikum hier perfekt Hand in Hand arbeiten. Am ausführlich zitierten Exempel der katholischen Messe oder dem bürgerlichen Volksfest tritt der Schwund des »Objektiven« in aller Deutlichkeit zutage, da ihnen nur noch als »Erlebnisgottesdienste und Jahresabschlussevents«, als Instrumente psychophysischer Ereignisse Überlebenschancen beschieden sind. Auf eine Kenntnis der überpersönlichen traditionsgebundenen Bedeutung der zum »kulturellen Spielmaterial« degradierten Messen oder sonstigen gesellschaftlichen Anlässe scheint nämlich verlustlos verzichtet werden zu können, so dass inhaltliche Tiefenstrukturen sukzessive bis zur Unkenntlichkeit von Nebenattributen und Oberflächenreizen überlagert werden. 299 Die Reizobjekte und Inszenierungen auf dem Erlebnismarkt »bedeuten nichts jenseits ihrer Oberfläche« und lassen sich daher laut Schulze problemlos reduzieren »auf eine Semantik von der Struktur des Satzes ›es gibt dieses und jenes‹«, 300 was nun einen »Ereignis-Autismus« im doppelten Sinne bedeute: »Ereignisse haben nur sich selbst als Rahmen, und die Teilnehmer an Ereignissen haben nur sich selbst als Deutungsinstanz.« 301 Wenn die Erlebnisanbieter Produkte oder Events statt aufgrund besonderer objektiver 297 »Um das Produkt mit einem Erlebnisversprechen zu verbinden, kommen verschiedene Techniken in Betracht: Werbung, Design, Verpackung, Ambiente des Verkaufs, Bezeichnung von Waren, Betitelung von Programmen und Veranstaltungen, Herstellen einer Assoziation zwischen dem Produkt und einer bestimmten Konsumentengruppe. […] Wenn das Publikum bereits weiß, für welches alltagsästhetische Schema ein bestimmtes Stilelement kodiert ist, muss der kulturelle Assoziationshintergrund des Angebots nicht erst in aufwendigen Kampagnen konstruiert werden.« (Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 450) 298 Vgl. ebd., S. 545. 299 »Mehr und mehr überlagern Nebenattribute und Oberflächenreize inhaltliche Tiefenstrukturen. Oft genügt die bloße Suggestion von Bedeutsamkeit, das Einstreuen von Signalen der Besonderheit, die symbolische Versicherung, dass sich der Urheber etwas gedacht habe und dass die Veranstaltung das Prädikat ›Hochkultur‹ verdiene. Urheber, Interpreten, Rezensenten und Publikum verbrüdern sich zu einer Bedeutungskumpanei, bei der alle Beteiligten einander schmeichelhafterweise unterstellen, dass sie wüssten, worum es eigentlich geht.« (ebd., S. 546) 300 Ders.: Kulissen des Glücks, S. 96. 301 Ebd., S. 93.

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Qualitäten oder unverkennbarem pragmatischem Wert allein als Erlebnisversprechen anpreisen und sich die Erlebnisgesellschaft primär nach innen orientiert, wird das Objekt unseres intentionalen Erlebens augenscheinlich instrumentalisiert für das Erleben selbst, und die ganze objektive Welt mutiert unter der Hand zum »Selbstbefriedigungsgerät« 302 . Unterminiert man aber durch die Funktionalisierung der äußeren Umstände und Personen für das eigene Innenleben nicht den elementaren Intentionalitätscharakter unserer Emotionen? Kann man da überhaupt noch etwas wahrnehmen und fühlen, wo das Wissen über einen Gegenstand und das echte Interesse für eine Person zugunsten des narzisstischen Verlangens nach intensiven Gefühlen ausgeblendet werden? Tatsächlich fällt der sein Leben nach ästhetischen Kriterien erlebnisrational gestaltende Glückssucher immer wieder dem sogenannten »hedonistischen Grundparadox« zum Opfer, auf das wir im glückssubjektivistischen Kapitel 4.1 nochmals zu sprechen kommen werden. Je mehr wir uns nämlich auf unsere schönen Erlebnisse konzentrieren und vice versa infolge unserer narzisstischen Innenorientiertheit die Gegenstände und Personen ihren Eigenwert verlieren, desto weniger können wir tatsächlich empfinden, wie es exemplarisch im intimsten Erlebnisbereich der Liebe die eskalierende Zahl der Sexualneurosen unter Beweis stellt. Narzissmus bezeichnet nach Sennett allgemein »eine Selbstbezogenheit, die nicht mehr zu erkennen vermag, was zur Sphäre des Selbst und der Selbst-Gratifikation gehört und was nicht. Zum Narzissmus gehört die bohrende Frage, was diese Person, dieses Ereignis ›für mich bedeuten‹. Diese Frage nach der ›Relevanz‹ anderer Menschen oder äußerer Handlungen für die jeweilige Person wird immer wieder von neuem gestellt, so dass die deutliche Wahrnehmung der Personen und Handlungen getrübt wird. Seltsamerweise verhindert gerade diese Versenkung ins eigene Selbst die Befriedigung der Bedürfnisse dieses Selbst; sie bewirkt, dass die Person in dem Augenblick, da sie ein Ziel erreicht hat oder mit einer anderen Person Verbindung aufnimmt, das Gefühl hat: ›Das ist es nicht, was ich wollte.‹ Der Narzissmus besitzt also die doppelte Eigenschaft, die Versenkung in die Bedürfnisse des Selbst zu verstärken und zugleich ihre Erfüllung zu blockieren.« 303

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Ebd., S. 35. Sennett: Verfall und Ende, S. 22.

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Wenn also beispielsweise im Zuge der penetranten Relevanzfrage der Partner zum austauschbaren »situativen Auslöser« einer inneren Erregung, der Ekstase oder eines »Superorgasmus« degradiert und »der Intimbereich derselben Logik unterworfen wird wie das Reisen, das Essen, das Wohnen, das Leben in seiner Gesamtheit«, 304 sind wir unfähig, einen liebenden Bezug zum Gegenüber aufzunehmen. Sobald man die sexuelle Lust aus der Liebesbeziehung isoliert und direkt anpeilt, hat das intentionale Erleben kein Bezugsobjekt mehr. »An die Stelle der Intentionalität tritt die Faktizität, an die Stelle der lustvollen Intention eines Wertes das an sich sinnlose Faktum ›Lust‹. Man hat dann nicht mehr etwas, woran man Lust haben kann, sondern man hat dann eben nur noch die Lust selbst; aber ohne Woran vergeht sie einem auch schon.« 305 Der verzweifelte Versuch, dank des Griffs zu einer raffinierten »Liebes-Technik« 306 oder dem erlebnisrationalen und noch so ästhetisch-stilbewussten Arrangieren eines erlebnisaktiven Umfeldes – »vom Intimschmuck bis zum Kondomsortiment, vom Zubehör für die Diversifikationen des Spartensex bis zur Potenzpille« 307 – seine Lust zu manipulieren, ist aufgrund dessen notwendig zum Scheitern verurteilt. Denn je mehr wir unsere Um- und Mitwelt ent-werten und instrumentalisieren, d. h. zur rein technisch handhabbaren szenischen Bühne unserer inneren Glücksgefühle, zu sogenannten »Glückskulissen« 308 umfunktionalisieren, entziehen wir unserem Erleben seinen Gegenstand. Während bei der poetischen Umgarnung und Bewirtschaftung eines beliebigen Wirklichkeitssegmentes nach Maßgabe des kierkegaardschen romantischen Ästhetikers das Abdriften in eine bodenlose phantastische Existenz droht, liegt die Crux der postmodernen ästhetischen Existenz über diesen zunehmenden Objektverlust hinaus bei der bereits monierten Missachtung des in Grenzen immerhin regulierbaren kognitiven Erlebnishintergrundes als Teil der persönSchulze: Kulissen, S. 35. Viktor Frankl: Der leidende Mensch, S. 178 (ohne Sperrungen). 306 Frankl kommentiert den »sexuellen Konsumationszwang« von heute so: »Es lässt sich leicht ermessen, wie sehr die Hyperintention und Hyperreflexion, bzw. ihr deletärer Einfluss auf Potenz und Orgasmus noch verstärkt werden, wenn der in seinem Willen zur Lust zum Scheitern verurteilte Mensch versucht, zu retten, was zu retten ist, indem er bei einer ›Liebes‹-Technik Zuflucht sucht. Die Aufklärungsindustrie raubt ihm nur den letzten Rest jener Unbefangenheit, die eine Bedingung und Voraussetzung normalen sexuellen Funktionierens ist.« (ebd., S. 10) 307 Schulze: Kulissen, S. 35. 308 Ders.: Die Erlebnisgesellschaft, S. 33. 304 305

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lichen Momentanverfassung (4). Wie gesehen konstituiert sich ein Erlebnis erst im Kontext von Überzeugungen, situativem Wissen und der von Werten durchsetzten Welt- und Lebensanschauung, auch wenn das ästhetische Glück des Augenblicks zugegebenerweise das kausale und pragmatisch-zielbewusste Alltagsleben transzendiert. 309 »Sinnliche Erfahrungen werden erst in Verbindung mit Erinnerungen, Phantasien, Zukunftserwartungen, Interpretationen und ähnlichen kognitiven Zutaten als lustvoll empfunden. Genuss ist abhängig von Komponenten, die nicht physikalisch messbar sind, sondern allenfalls erfragbar. Für das schöne Erlebnis sind die sinnlich wahrgenommenen Attribute der Situation […] nur Rohstoffe, aus denen das Subjekt eine Erlebnisgestalt zusammensetzt. Erst durch eine Fülle kognitiver Vernetzungen wird das Konkrete ästhetisch bedeutsam.« 310

Indem aber im Zuge der Entzauberung und Technisierung das soziokulturelle und ethisch-praktische lebensweltliche Wissen sukzessive durch reine Zweckrationalität abgelöst wurde, fällt das »Erlebnis« in eine Sinnleere verzettelter Daten eines grassierenden Erlebnis-Autismus, die seine Assimilation und reflexive Aneignung verhindert oder doch erschwert. Konzentriert man sich einzig und allein auf das stilgerechte erlebnisrationale Management bedeutungsloser Glückskulissen, ohne der reflexiven Folie unseres Erlebens Rechnung zu tragen, welche für die emotionale »Einschätzung« des Erlebten mitverantwortlich ist, kann sich das ersehnte »schöne Gefühl« weder als subjektiv bedeutsam in unserer Gefühlswelt etablieren noch auch fortentwickeln, sondern unterliegt dem bereits explizierten »Gesetz des abnehmenden Grenznutzens« (vgl. Kapitel 2.1). Wird also beispielsweise die Sexualität aus der Liebe isoliert und wuchert gleichsam »in das existentielle Vakuum hinein«, mündet die »sexuelle Inflation« entweder in Gewöhnung und Langeweile, weil die reife, entwicklungsfähige Sexualität eine Begegnung zwischen zwei einmaligen Subjekten einer individualisierten Partnerbeziehung voraussetzt, oder aber fordert zum raschen Partnerwechsel heraus. 311 Vgl. Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 103 f. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 107. 311 Vgl. Frankl: »Wer nicht an die reife Stufe menschlicher Sexualität herankommt, sondern an die unreife Stufe fixiert ist, ist außerstande, im Partner ein einmaliges und einzigartiges Subjekt zu sehen, mit einem Wort, eine Person. Vielmehr handelt es sich jeweils um eine Objektwahl ›ohne Ansehen der Person‹. Der Geschlechtsverkehr ist insofern wahllos, als das jeweilige Objekt nicht einmalig und einzigartig sein muss, son309 310

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Die ästhetisch-experimentelle Suche nach einem hedonistischen Glück muss also fehlschlagen, wo man sich statt auf die Qualität des Intentionsobjekts und den kognitiven Erlebnishintergrund allein auf die sinnliche Erfahrung konzentriert. Am Ende unseres historisch-soziologischen Streifzuges trafen wir somit auf eine brisante, wenngleich problematische Engführung des Technisierungs- und Ästhetisierungsprozesses: Entgegen Schulzes Einschätzung hat die technische Rationalität seit den Renaissance-Umbrüchen nicht nur »außerhalb der Handelnden« 312 – gemeint wohl: im technisch-maschinellen Bereich und bei der systemischen Handlungskoordination – eskaliert, sondern wie dargestellt auch in der Lebenswelt der Handelnden selbst, beispielsweise bei der Kalkulation eines ökonomischen Glücks des Habens oder der protestantischen rationalen Lebensführung (vgl. Kapitel 2.1). Je mehr seit dem Durchbruch des Kapitalismus die traditonellen, religiösen oder ethischen Werte durch technische Effizienzkriterien substituiert wurden, breitete sich lebensweltliche Leere, Unsicherheit, Orientierungsnot aus, welche zur Flucht nach Innen, zum Privaten, Intimen, in den Hedonismus stipulierten. Da die »äußere« Technisierung sich durch diese massenweise innere Emigrationsbewegung natürlich nicht irritieren ließ, wird der postmoderne Glückssucher überschüttet von einer Flut von Angeboten einer sensationellen Infrastruktur des Erlebens, die ihn vom Hedonismus weitertreibt in eine ästhetische Lebensform – sei es zu einer gemäß avantgardistischem Vorbild nach eigenen ästhetischen Regeln fahndenden Experimentalexistenz oder zur Adaption kollektiver ästhetischer Stilmuster. Diese ästhetische Überformung des hedonistischen Glücksstrebens unter der historischen Voraussetzung einer drastischen Expansion der kapitalistischen Möglichkeiten scheint sich dabei bestens in einen allgemeinen lebensweltlichen Ästhetisierungsboom einzugliedern. An diesem gemeinsamen Kulminationspunkt von Ästhetisierung und Technisierung erzwingt die Glückssuche nach Schulze eine »innenorientierte Variante der Zweckrationalität« 313 , die uns erlaubt, im Rahmen unseres »Projektes des schönen Lebens« unsere Umwelt so zu arrangiedern austauschbar und auswechselbar sein kann. Es muss zum Geschlechtsverkehr taugen.« (Frankl: Der Wille zum Sinn, S. 20 f.) 312 Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 419. 313 Ebd. »Erlebnisrationalität ist die Systematisierung der Erlebnisorientierung. Das Subjekt wird sich selbst zum Objekt, indem es Situationen zu Erlebniszwecken instrumentalisiert. Erlebnisrationalität ist der Versuch, durch Beeinflussung äußerer BedinA

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ren, dass wir sie stilgerecht und schön finden. Die Technik geriete dann im Zeichen einer innenorientierten Glückssuche tatsächlich gemäß Bells Diktum 314 in den Dienst eines ästhetischen Hedonismus, indem die instrumentell-technische Rationalität sich zur Erlebnisrationalität verfeinerte, mit deren Hilfe der Glücksaspirant durch Beeinflussung äußerer Bedingungen gewünschte innere Prozesse auszulösen vermag: »Mit der Ästhetisierung des Alltagslebens ist Modernisierung in ein neues Stadium eingetreten. Zunächst lagen die Zwecke moderner Rationalität außerhalb der Handelnden. Es ging um die Leistungskraft von Maschinen, um Gewinnmargen, um Effektivität von Arbeitsabläufen, um Verbesserungen der Verwaltung […]. Modernisierung des Erlebens bedeutet nun eine Wendung der Zweckdefinition nach innen. Die neue Zweckdefinition löst die alte nicht ab, sondern kommt hinzu. Während außengerichtete Modernisierung weiter voranschreitet, auch in der Infrastruktur des Erlebens (etwa mit der Entwicklung immer raffinierterer optischer und akustischer Kommunikations- und Reproduktionstechniken und mit der Organisation von Großinstitutionen, die massenhaft Erlebnisangebote produzieren), gewinnt seit einigen Jahrzehnten eine innenorientierte Variante der Zweckrationalität an Boden: Erlebnisrationalität.« 315

gungen gewünschte subjektive Prozesse auszulösen. Der Mensch wird zum Manager seiner eigenen Subjektivität, zum Manipulator seines Innenlebens.« (ebd, S. 40) 314 Vgl. die Einleitung in Kapitel 2, S. 55. 315 Schulze: ebd., S. 419.

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3 Grammatik des Glücks

Vortreffliches Verdienst der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ist unstreitig die Einsicht, dass die Sprache uns die Welt erschließt und sich in unserer Sprache unser Verhältnis zur Welt manifestiert. Gerade den Pionieren dieser sprachphilosophischen Richtung, den logischen Positivisten, war dabei die Vieldeutigkeit und Vagheit vieler unserer umgangssprachlichen Ausdrücke wie beispielsweise des »Glücks« ein ständiger Stein des Anstoßes. Lanciert man nämlich groß angelegte empirische Ermittlungen über das Alltagsverständnis von »Glück«, trifft man auf ein breit gefächertes Begriffsinventar, wobei viele Befragte Glück über konkrete Situationen zu definieren suchen, nach der Art von: »Glück ist, wenn …«! 1 Wider aller Erwarten lässt sich, wie bereits in der Einleitung moniert, die Glücks-Multivokation keineswegs vermindern, indem man sich vom Felde der Alltagssprache in dasjenige der Wissenschaften begibt. 2 Zwar bemühen sich nach eigenem Vorsatz viele Philosophen immer wieder systematisch um die Grundlagen eines glücksspezifischen Konsenses, scheinen aber doch den Dissens insgesamt erheblich zu verschärfen. »Worin das Glück besteht, darüber waren die Meinungen immer geteilt. 288 Ansichten zählte M. Terenius Varro und, ihm folgend, Augustinus«, rapportiert Spaemann: »Diese 288 Meinungen waren in Wirklichkeit 288 philosophische Theorien. Ohne philosophische Theorien würde sich der Pluralismus in bescheideneren Grenzen gehalten haben.« 3 Obgleich daher jede Glückstheorie mit einer hermeneutischen Anstrengung beginnen muss, d. h. mit der »metatheoretische[n] Aufgabe, die verwirrende Vgl. zu einigen neueren empirischen Glücksuntersuchungen Philipp Mayring: Psychologie des Glücks, S. 14 ff. »Das Alltagsverständnis definiert Glück meist über konkrete Situationen, in denen man sich glücklich fühlt (›Glück ist, wenn …‹). Diese Situationen können dabei ganz unterschiedlich sein.« (ebd., S. 16 f.) 2 Vgl. Kapitel 1, S. 12 f. 3 Vgl. Robert Spaemann: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, S. 1. Eine systematische Darstellung der wohl nicht ganz so zahlreichen psychologischen Glückskonzepte findet sich in: Mayring: Psychologie des Glücks, S. 79–86. 1

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Mehrdeutigkeit der Zielvorstellungen aufzulösen und auf dem Wege einer detaillierten Klärung der Grundbegriffe eine Aufstrukturierung des gesamten Phänomenbereichs vorzubereiten«, 4 darf diese doch nicht zum Visierpunkt der Untersuchung arrivieren. Neben die Analyse soll vielmehr Kritik der Sprache treten, deren Intention eine Infragestellung der historischen und v. a. gegenwärtigen, sprachlich vermittelten Weltverhältnisse bzw. Glücksverständnisse darstellt – gemäß Wittgensteins Motto: »Alle Philosophie ist ›Sprachkritik‹.« 5 Fasst man eine Sprachanalyse und -kritik ins Auge mit dem Ziel einer Klärung und allfälligen Transformation des gegenwärtigen glücksspezifischen Weltverhältnisses, überrascht zunächst folgendes: Das Renommee des Deutschen, sich weithin des Rufes einer hochdifferenzierten Sprache erfreuend, gerät regelmäßig unter Beschuss seitens der Glücksforscher, welche um die Konfrontation mit der Grammatik des Glücks nicht herumkommen. Während man nämlich im Griechischen die äußerliche Glückskomponente der eutychia von der innerlichen eudaimonia, im Lateinischen fortuna von felicitas und beatitudo, im Englischen luck von felicity und happiness oder im Französischen fortune von felicité und bonheur sondert, umspannt das deutsche »Glück« die Doppeldeutigkeit von »Glück haben« und »glücklich sein«, von »Zufall« und »Erfüllung«, und leistet damit einer alltagssprachlichen Unschärfe Vorschub. Exemplarisch bezeichnet das lateinische fortuna alles uns schicksalsmäßig ohne eigenes Zutun Zu-fallende wie ein Lottogewinn oder das Überleben eines schweren Unfalls und betrifft damit die Gesamtheit günstiger äußerer Lebensumstände, wohingegen seine beiden Kontrastbegriffe ein höchst positives (inneres) Erleben signalisieren. Sowohl am Glück der felicitas wie der beatitudo können wir uns mit persönlichem Einsatz wesentlich beteiligen, beim linearen Glücksbegriff der felicitas eher durch das Planen einer erfolgreichen Karriere jenseits von Gut und Böse, beim holistisch-»kreisförmigen« beatitudo-Glück dank einer Orientierung an normativen Gütekriterien. »Das Glück in der Bedeutung von felicitas hingegen kann man begehren und erstreben, wobei allerdings offen bleibt, ob das Begehrte auch erstrebenswert ist«, erläutert Annemarie Pieper: »Das Glück in der Bedeutung von beatitudo behebt diesen Mangel, indem es dem Streben nach Glück Kriterien des Erstrebenswerten zu Grunde legt und das Begeh4 5

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Hans Krämer: Integrative Ethik, S. 133. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 4.0031.

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ren an diesen Maßstäben des Gesollten ausrichtet.« 6 Wollte man den kursierenden Unschärfevorwurf an die Adresse der deutschen Sprache neutralisieren, ließe sich allenfalls verweisen auf die »Glückseligkeit«, die ursprünglich als inneres Erfülltsein dem für äußeres Wohlbefinden reservierten Terminus »Glück« gegenüberstand, spätestens im 19. Jahrhundert aber als »veraltet« allmählich in Vergessenheit geriet und die vielmonierte Multivokation zurückließ. 7 Beide Begriffe sind auffallend spät bezeugt; das mittelhochdeutsche »g(e)lücke« soll 1160 vom Rhein aus ins Deutsche gedrungen sein mit der mutmaßlichen Bedeutung von »Schließen« (eines Schlosses) und meinte dann soviel wie »etwas schließt, endigt, läuft gut aus« bzw. »trifft sich gut«. 8 Auch wenn der Fachterminus »Glückseligkeit« von den deutschen Philosophen des frühen 18. Jahrhunderts als Kontrastbegriff zur »eutychia« und Übersetzung von »eudaimonia« eingeführt wurde, 9 zeitigen der Säkularisierungsprozess der »Glückseligkeit« einerseits und der Subjektivierungsprozess des »Glücks« andererseits bereits im Laufe des Jahrhunderts merkliche Begriffsverschiebungen und -entdifferenzierungen. Sowohl das verinnerlichte »Glück« wie die enttheologisierte »Glückseligkeit« erlebten dabei in der vorkantianischen Aufklärung gegenüber dem äußerlich zu-gefallenen bzw. wissenschaftlich-technisch manipulierten fortuna-Glück mächtigen Aufschwung, da die Aufklärer dazu aufriefen, das Schicksal hinsichtlich des Ideals menschlicher Vollkommenheit in die eigene Hand zu nehmen. 10 Bis zu Crusius und Kant blieb die Vorstellung eines objekAnnemarie Pieper: Glückssache, S. 33. Tatarkiewicz zufolge lassen sich ähnliche Glücks-Polarisierungen auch bei der Entwicklung anderer Sprachen beobachten: »Noch vor einem Jahrhundert war die Vieldeutigkeit des ›Glücks‹ geringer. Unter Glück wurde nämlich nur das äußere Wohlergehen verstanden; dagegen wurde das innere Gefühl, die Fülle der Zufriedenheit, Glückseligkeit (szczesliwosc) genannt. Ähnlich war es auch in anderen Sprachen: neben Glück verwendete man Glückseligkeit, neben bonheur – félicité. Aber mit der Zeit begannen diese Ausdrücke als übertrieben, künstlich, veraltet empfunden zu werden, und kamen allmählich außer Gebrauch. Es erhielten sich dagegen nur: szczescie, Glück, bonheur in ihrer ganzen Vieldeutigkeit.« 8 Vgl. das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Bd. 4, 1. Abteilung, 5. Teil, S. 226–257 zu »Glück«, S. 342–350 zu »Glückseligkeit« (Synonym zu beatitudo, felicitas), wobei die Bedeutungsfächer beider Begriffe äußerst weit gespannt sind. »Glückseligkeit« weist häufig theologische Konnotationen auf, sich auf das ewige Heil im christlichen Sinne beziehend. 9 Vgl. Spaemann: Philosophie als Lehre, S. 1. 10 Insofern schrieben die deutschen Frühaufklärer die Tradition der sogenannten 6 7

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tiven, durch moralische Vollkommenheit (Tugend) erreichbaren Glücks in der beatitudo-Bedeutung zumindest in philosophischen Kreisen unangefochten, wobei Frank Grunert das »Glück« als einen in der Forschung unterbelichteten »Schlüsselbegriff des Zeitalters« schlechthin bezeichnet. 11 Gehen wir aber nochmals zu den philosophisch-begrifflichen antiken Wurzeln dieses in der frühen Aufklärung florierenden, unter einem objektiven normativen Maßstab stehenden Glücks zurück: Was meint der griechische Terminus »eudaimonia«, welcher im Unterschied zu »eutychia«, der unberechenbaren günstigen Fügung des Geschicks, durchaus erläuterungsbedürftig ist, und welche inhaltlichen Neubesetzungen erlebte er im Zuge verschiedener neuzeitlicher Subjektivierungs-, Säkularisierungs- und Psychologisierungsschübe? Welche deutsche Übersetzungsalternative von »eudaimonia« wäre zu favorisieren, wenn das deutsche Wort »Glück« augenscheinlich viel zu vage ist? Muss sich die Trennung von »eudaimonia« und »eutychia« nicht als künstlich erweisen, weil beide Komponenten letztlich für menschliches Glück harmonisch zusammenwirken müssen und sich dieses somit zwischen »selbstbewusster Glücksbemeisterung und unverfügbarer Schicksalsfügung« gleichsam einzupendeln hat? 12 Die tragisch-numinose Auffassung des griechischen Urwortes »eudaimonia«, wörtlich übersetzt: einen guten (»eu«) Dämon (»daimon«) habend, in der Huld der Götter stehend, besagte ursprünglich, dass der kurzlebige und kurzsichtige ohnmächtige Sterbliche keineswegs über Gelingen oder Misslingen seiner Vorhaben und Lebensziele verfügt, sondern dass Glück und Unglück gottgegeben sind. 13 »Glückseligkeitslehren« fort (vgl. Kapitel 2.1, S. 66 f.). Vgl. hierzu Eckart Pankoke: Modernität des Glücks, S. 84 ff. 11 Vgl. dazu Frank Grunerts Aufsatz: Die Objektivität des Glücks. »In der revidierten Tradition antiker – aristotelischer wie epikureischer und stoischer – Ethiken definierte die Aufklärung Glück als ›Endziel des uns möglichen Handelns‹ (Aristoteles) und machte es damit zu einem Schlüsselbegriff des Zeitalters, der in der Forschung noch immer keine zureichende Berücksichtigung gefunden hat.« (ebd., S. 352) Allein in der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts sollen dem Glück 50 selbständige Schriften gewidmet sein (vgl. Ricarda Winterswyl: Das Glück, S. 9). 12 Vgl. Wolfgang Janke: Das Glück der Sterblichen, S. 172. 13 Vgl. zu dieser frühen, in Tragödien, Pindars Oden und der Illias bezeugten Bedeutung von »eudaimonia« ebd., S. 24 ff. Eudaimonia meinte dann »eher die unausweichliche Notwendigkeit der von Zeus oder der Moira zugeteilten Fügung und eutychia mehr einen unvorhersehbaren, von der Tyche, der Zeustochter, begünstigten Erfolg.« (ebd., S. 24)

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Die Heraufkunft der vorsokratischen Kosmologie und der sokratischen Ethik, grob gesprochen der Übergang vom »Mythos« zum »Logos« 14 mit der Abkehr von »Götterhuld und Schicksalsgunst« hin zu menschlicher »Autarkie und Vortrefflichkeit« markiert geradezu einen glücksgrammatischen »Epochenwandel« 15 : Dass der Glückselige einen guten Dämon hat, bedeutet jetzt nicht mehr, dass er von den Göttern zufällig und unverdient mit günstigem Geschick beschenkt würde, da diese vielmehr für ihre Geneigtheit stets Gründe haben – seien es »menschliche Überheblichkeit, mangelnde Frömmigkeit oder generationenübergreifende Sympathien und Feindschaften« –, sondern lediglich, dass er »ein wohlgeratenes, gesegnetes, wunschgemäßes und preiswertes Leben führt.« 16 Laut Maximilian Forschner war dabei »für den Alltagsverstand ebenso wie für die Philosophie der Griechen im unbestimmt-allgemeinen klar, was unter eudaimonia des Menschen formal zu verstehen ist: die Menge der notwendigen und zureichenden Eigenschaften, die uns ein menschliches Leben als gelungen, als artspezifisch vollendet beurteilen lassen.« 17 Zerstritten war man demgegenüber bezüglich der materialen Bestimmungen des Glücks, d. h. der Konkretisierung dieser objektiv messbaren Eigenschaften oder »Güter« eines gelungenen, vollendeten, geglückten Lebens, wobei »Güter« sowohl äußerliche, körperliche wie seelische Strebensziele sein können. 18 Während im vorphilosophischen Eudaimonieverständnis die wesentlichen »Güter« mit äußerlichen bzw. körperlichen Werten wie Reichtum, Ehre, Gesundheit oder Lust identifiziert wurden und werden, 19 fahndeten die antiken Philosophen nach inneren seelischen Gütern als richtige Einstellung zu den äußeren oder körperlichen Gütern, die den angemessenen Umgang mit ihnen und damit ein »gutes Leben« garantieren. In expliziter Absetzung von den Alltagsvorstellungen propagierten sie als notwendige und hinreichende Eigenschaften Vgl. zu diesem Schematismus Dagmar Fenner: Wahrheit am Ende?, S. 39 ff. Vgl. Janke: Das Glück, S. 26. 16 Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 65. 17 Maximilian Forschner: Über das Glück des Menschen, S. 1. 18 Vgl. den Beginn von Kapitel 4.2. 19 »Glück und die Vorstellung von Glück, dass es Reichtum, Ehre, Macht, Gesundheit, langes Leben u. s. f. sei, sind älter als die Philosophie und halten sich, getragen von dem Bedürfnis des Menschen, unabhängig von ihr durch die Zeiten.« (Robert Spaemann: Artikel »Glück« in Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, S. 679) 14 15

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eine durch Erkenntnis, Übung und Gewöhnung erworbene Tugend (Tüchtigkeit) oder Charakterdisposition, zu welchen einzig und allein eine normative praktische Philosophie den Weg weisen könne. »Ohne gesunden Verstand ist niemand glücklich, und gesunden Verstand besitzt der nicht, der Schlechtes erstrebt statt Gutes. Glücklich ist daher, wer ein richtiges Urteil hat«, lesen wir exemplarisch bei Seneca. 20 Aufgabe der Philosophie war es also, ein begründetes praktisches Wissen von den tatsächlich erstrebenswerten menschlichen Eigenschaften oder Gütern mit dem entsprechenden Habitus zu etablieren, welche als das übergeordnete, wahrhaft menschliche »Gute« einen höheren Rang genossen als die übrigen »Güter«. 21 Der deutsche Nachfolgebegriff von »eudaimonia«, wie er sich Ende des 18. Jahrhunderts im verbindlichen Sprachgebrauch durchsetzt, steht nun eindeutig quer sowohl zum philosophischen, auf der Einsicht in objektive ontologische bzw. anthropologische Strukturen gegründeten Glücksmodell der griechischen Antike 22 wie auch zur »Glückseligkeit«-Übersetzung der an einem objektiven Tugendideal festhaltenden Frühaufklärer. Es scheint vielmehr, dass nach und nach die vorphilosophischen Vorstellungen selbst in den Gefilden der Philosophie heimisch werden. 23 »Vom philosophischen Glück der Antike ist in neuzeitlichen und modernen Texten zur praktischen Philosophie kaum noch die Rede; das Erbe hat ein vorphilosophischer Begriff des Nutzens, der Wohlfahrt und der Bedürfnisbefriedigung angetreL. Anaeus Seneca: Vom glückseligen Leben, Kapitel 6. Vgl. auch Epikur: Brief an Menoikeus, 1. Abschnitt. 21 Vgl. den Artikel »Güter« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 120: »Die philosophische Tradition (Platon, Aristoteles, Stoa, Kant) hat deshalb zwischen dem Guten und den Gütern genau unterschieden und das Gute in eine Beschaffenheit des Personseins gesetzt, die die richtige Einstellung zu den Gütern, die richtige Abwägung und den richtigen Gebrauch der äußeren, der leiblichen und der seelischen Güter einschließt oder zur Folge hat.« 22 Auch die hellenistischen Philosophenschulen, denen gemeinhin unterstellt wird, die moderne Subjektivierung und Privatisierung des Glücks ins Rollen gebracht zu haben, gründeten ihre Glückstheorien auf ontologische und anthropologische Grundannahmen und unterscheiden sich lediglich in der Gewichtung von Einsicht und Tugend: Während die Stoiker Glück als Tugend und Tugend als richtige Einsicht in die kosmischen Strukturen und entsprechendem »Leben gemäß der Natur« bestimmen (vgl. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, VII, 87 f.), stellen für Epikur sowohl die naturwissenschaftlichen Kenntnisse über die Welt wie das tugendhafte Leben nur – allerdings sowohl notwendige wie hinreichende – Mittel zum Glück dar (vgl. Epikur: Brief an Menoikeus, 10. Abschnitt, sowie Horn: Antike Lebenskunst, S. 126 f.). 23 Forschner: Über das Glück, S. 2. 20

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ten,« distanziert sich Forschner von dieser glücksgrammatischen Entwicklung. Anhand des von Martin Seel in den Glücksdiskurs introduzierten Begriffspaares von »Wohlergehen« und »Wohlbefinden« lassen sich diese in der Neuzeit virulenten folgenreichen glücksgrammatischen Verschiebungen hin zu einem eindimensionalen »Wohlbefinden«-Glück des gemeinen Alltagsverstandes verdeutlichen. »Wohlergehen« dient Seel dabei als »allgemeiner Terminus für ganz unterschiedliche Zustände einer positiven Lebenslage« und umfasst das Glück als eine Unterart: 24 »Das als Glück angesprochene Wohlergehen muss von einem bloßen Wohlbefinden unterschieden werden, und zwar sowohl von einem lediglich ›subjektiven‹ wie von einem lediglich ›objektiven‹ Wohlbefinden. Jemand, dem es gesundheitlich oder geschäftlich schlecht geht, kann sich gleichwohl subjektiv sehr wohl fühlen; jemand, der objektiv gesund ist, kann sich subjektiv krank fühlen. Man kann ohne Widerspruch Sätze sagen wie: ›Seine Lage ist miserabel, aber er fühlt sich pudelwohl‹; ›Ihre Situation ist glänzend, aber sie merkt es nicht.‹ Beim Wohlbefinden können subjektiver und objektiver Zustand auseinandertreten. Mit dem Glück verhält es sich anders; hier gehen subjektive und objektive Komponenten notwendig zusammen. Sowenig man glücklich sein kann, ohne dieses Glück auch zu spüren, sowenig ist jemand darum schon glücklich, weil er sich glücklich fühlt. […] Das illusionäre Glück ist ein positives Gestimmtsein, das die, die es haben, über die Wirklichkeit ihrer Lage täuscht; wüssten sie um diese Lage, wäre auch der Eindruck des Glücks zerstört. Wirkliches Glück hingegen besteht in der Erschließung einer aus der Perspektive der Beteiligten tatsächlich lohnenden Wirklichkeit des Lebens …« 25

Ohne das positive affektive Gestimmtsein aus ihren Glückskonzeptionen zu verbannen, figuriert die Lust doch bei dem von den antiken Philosophen projektierten, das »Wohlergehen« spezifizierenden »Erfüllungsglück« lediglich als »dazukommende Vollendung«: 26 »Es wäre allerdings falsch«, so stellt Christoph Horn klar, »wollte man der antiken Philosophie vorwerfen, ihre Glücksauffassung ignoriere die ›innere Einstellung‹ einer Person zugunsten äußerer Faktoren des Wohlergehens. Im Gegenteil, die persönliche Zufriedenheit bildet in den Glückstheorien des Altertums gerade das zentrale Element. Bezeichnend für die Antike ist aber, dass auch die Erlangung einer positiven Selbsteinschätzung auf objektivierVgl. Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 66. Ebd., S. 56 f. 26 Aristoteles: Eth. nic., 1174b, 31–1175a, 20. Zum epikureischen veränderten Lustbegriff vgl. weiter unten. 24 25

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bare Elemente zurückgeführt wurde, nämlich auf einen objektiv beschreibbaren Einstellungswandel.« 27

Andererseits werden günstige äußerliche und körperliche »natürliche Güter« von Aristoteles wie seitens gemäßigter Stoiker zwar durchaus als »Werkzeuge« zur Erlangung des Glücks begrüßt, da es »unmöglich oder doch nicht leicht« sei, ohne jegliche Mittel tugendhaft zu sein. Dennoch sind sie niemals hinreichend und notwendig im Grunde lediglich dann, wenn sie für das Leben als solches unabdingbar sind. 28 Glück als »Art des Wohlergehens« impliziert in Seels Begriffsraster per definitionem sowohl inneres wie auch äußeres »Wohlbefinden«, 29 ohne dass eine Komponente isoliert und zum alleinigen Glücksinhalt auserkoren werden dürfte. Im Zeichen eines empirisch-hedonistischen Programms der Neuzeit hingegen wird »Glück« tendenziös peu à peu auf das »Wohlbefinden« restringiert – sei es das äußere (Wohlstand, Macht) oder innere (»Empfindungsglück« 30 ) –, das nun als pars pro toto das eudaimonologische Feld beherrschen soll. Nach der christlich-mittelalterlichen Verjenseitigung des Glücks qua vollkommener göttlicher Glückseligkeit kann man diese neuzeitliche Zufluchtnahme zu vorphilosophischen Glücksformen wohl auch als Ausdruck einer heillosen Überforderung, als notwendige Entlastung von unerreichbaren Absolutheitsansprüchen lesen. In Anbetracht der heute angeblich »jedermann bedrängenden unheilvollen Folgen und Absurditäten einer massenhaft gelebten Interpretation von Glück als Rennen von Bedürfnisbefriedigung zu Bedürfnisbefriedigung« 31 drängt man indes vermehrt zur Rückkehr zu einem philosophischen Glücksbegriff: zu einem Glück also, das, im Sinne Seels auf der Einsicht in eine sich tatsächlich lohnende tätige Lebenswirklichkeit beruhend, »im Gegensatz zur Lust als ein dauerhafter, intensiver, reflexiv einholbarer und begründbarer Zustand zu verstehen« 32 wäre. Der philosophische Glücksbegriff, das Alltagsverständnis von Horn: Antike Lebenskunst, S. 63. Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1099a, 30-b, 8. In Kapitel 4.2 wird eingehend auf die Bedeutung äußerer Güter für das menschliche Glück einzutreten sein. 29 In Seels dem Glücksforscher zur Verfügung gestelltem Begriffsraster gilt: »Kein Wohlergehen ohne Wohlbefinden.« (Seel: Versuch, S. 59) 30 Vgl. zum Kontrast von »Empfindungs«- und »Erfüllungsglück« Horn: Antike Lebenskunst, S. 65. 31 Forschner: Über das Glück, S. 3. 32 Jörg Zirfas: Präsenz und Ewigkeit, S. 368. 27 28

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Glück als defizitär entlarvend, meint also weder zufällige, unverfügbare erfreuliche Bedingungen (eutychia) noch die neuzeitlichen eudaimonia-Substitute einer hohen objektiven Lebensqualität oder momentanen angenehmen Gemütsverfassung, sondern ein affektiv positiv erfahrenes, anhaltendes und stets auf Einsicht in die tatsächliche Lage gestütztes gelingendes Weltverhältnis. »Wir fassen dementsprechend Glück und Unglück auf als Weltverhältnisse, als qualifizierte Relationen zwischen Selbst und Welt und unterscheiden im Folgenden das in diesem Weltverhältnis begründete Glücksgefühl durch die Bezeichnung ›Lust‹ oder ›Gratifikation‹«, 33 lautet Hans Krämers prima facie überzeugender Definitionsvorschlag. Während der uns hier gleichsam als Schablone der weiteren Untersuchung dienende philosophische »eudaimonia«-Begriff der Antike angesichts der zahlreich lauernden Missverständnisgefahren gerne mit »gelingendem« oder »gutem Leben«, »menschlichem Gedeihen« oder »Wohlergehen« umschrieben wird, 34 ziehe ich den anschaulicheren Term »gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis« vor. Ein solches Glück als eine bestimmte aktive »Weise des Sichverhaltens zu den andern und zur Welt« 35 , nämlich als qualifizierter Einklang mit der Wirklichkeit, koinzidiert letzlich – vom Standpunkt des Subjekts aus gesehen – mit dem Glück erfolgreicher Selbstverwirklichung, die sich in der Interaktion mit Um- und Mitwelt vollzieht (vgl. Kapitel 6.1). Es ließe sich somit im Rahmen von Wolfgang Jankes existentialontologischer postmetaphysischer Glückslehre menschliches Glück tatsächlich auf die grundlegende Existenzbestimmung des »inter-esse« zurückführen: Menschliches Sein (»esse«) ist als Dasein immer auf ein Vorhaben, eine Sache oder Person ausgerichtet und dadurch »dazwischen« (»inter«), wobei der Mensch als »Bürger zweier Welten« Hans Krämer: Selbstverwirklichung, S. 94 f. Vgl. Seel: Versuch, S. 65. Ursula Wolf plädiert für den »künstlichen Terminus« des »guten Lebens«: »Die Übersetzung mit ›Glück‹ […], die man häufig findet, ist nicht sehr befriedigend. Denn erstens hat dieses Wort heute eine abgegriffene Bedeutung, die sich auf den hedonistischen Sinn eines möglichst angenehmen Lebens beschränkt. Zweitens meint es oft das äußere Glück, also den glücklichen Zufall. […] Die Rede vom ›inneren Glück‹ ist jedoch ebenfalls nicht ganz passend, weil eudaimonia das vollständig und in jeder Hinsicht gute Leben meint. Geeigneter als Übersetzung wäre ›Wohl‹, ›Wohlbefinden‹, ›Wohlergehen‹; diese Ausdrücke haben andererseits den Nachteil, dass sie eher etwas Passives zu bezeichnen scheinen, während die eudaimonia das ganze Leben und daher auch das Handeln umfasst.« (Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, S. 15 f.) 35 Emil Angehrn: Glück und Gelingen, S. 136. 33 34

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(Kant) grundlegend »an der vermittelnden Verwirklichung des unfesten, zwischen Gegensätzen schwankenden Daseins im gelingenden Leben« 36 interessiert sei. Auch aus seiner existentialontologischen Perspektive betrachtet laufen die meisten tradierten philosophischen Glückstheorien auf die Glücksdefinition einer gelingenden Vermittlung von Welt und Selbst, Realität und Idealität bzw. aller weltlicher Gegensätze hinaus, vor welche sich das menschliche Dasein mit Inter-esse gestellt sieht: »Glück des Menschen und der Friede eines geglückten Lebens sei das Gefühl der Harmonie in spannungsreicher Vielfalt, die Übereinstimmung mit sich selbst in der Gefahr der Nichtidentität, Einklang im Zwiespalt, Deckung des partiell und des total aufgeklärten Wollens, Liebe in Aufhebung des Hasses.« 37 Etwas konziser und leichter verständlich formuliert dies der von Janke ebenfalls als Kronzeuge herbeizitierte Ludwig Wittgenstein: »Um glücklich zu leben, muss ich in Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies heißt ja ›glücklich sein‹.« 38 Hingegen gehen wohl die Verteidiger des eutychia-Glücks fehl in der Annahme, gerade dieses Welt-Verhältnis-Glück harmonischer Übereinstimmung von Selbst und Welt beweise die Notwendigkeit des »Glückhabens« in einer postmodernen Welt des Fragmentarischen, des Unverfügbaren, der Kontingenzen. Man verwehrt sich vehement gegen die geläufige glücksgrammatische Unterstellung einer reinen »Zufallshomonymie« von »Glück haben« und »glücklich sein«, da vielmehr die Interferenzen zwischen beiden glückskonstitutiv und die viel monierte Doppeldeutigkeit infolgedessen als »durchaus sachgerecht zu begreifen« 39 sei. Den eutychia-Verächtern hält Emil Angehrn entgegen: »Glückhaben und Glücklichsein stehen nicht berührungslos nebeneinander. Zwischen ihnen bestehen Interferenzen, die nicht nur die äußere Bedingtheit des Glücks betreffen – die Tatsache, dass zum Glück auch günstige Umstände gehören – sondern das Wesen des Glücks ausmachen. Zum Glück gehört das Glücken, das Gelingen, das immer ein Moment der Unverfügbarkeit, des Zufalls in sich enthält.« 40

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Janke: Das Glück, S. 18. Ebd., S. 17. Ludwig Wittgenstein: Tagebücher 1914–1916, Aufzeichnung vom 8. 7. 1916, S. 169. Günther Bien: Über das Glück, S. 37 und S. 38. Angehrn: Glück und Gelingen, S. 126.

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Wie sehr aber auch unser Glück von außer unserer Macht stehenden – an sich weder günstigen noch ungünstigen – Ereignissen abhängig sein mag, auf die es notwendig bezogen ist, und wie wenig wir das Glücksgefühl eines gelingenden Weltverhältnisses direkt intendieren können, 41 ist doch das uns hier philosophisch und psychologisch interessierende »Erfüllungsglück« etwas kategorial anderes als ein günstiger Zufall, ein unverdienter Erfolg oder ein überraschendes Gelingen. Wenn Angehrn das Moment des glücklichen Gelingens hervorkehrt, es wohlweislich vom »glücklichen Zufall« oder »zufälligen Glücken« abgrenzend, 42 spricht er vom »Glückhaben« offenkundig nicht mehr im aristotelischen Sinne der eutychia, sondern nur noch in einem analogischen Sinne hinsichtlich der gemeinsamen Momente der (generellen) Nichtintendierbarkeit und (partiellen) Nichtbeherrschbarkeit. 43 Wo allerdings der neuzeitliche Stolz auf die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften wähnt, menschliches Glück »schulde sich einer unbedingten, absoluten, d. i. von allem Unverfügbar-Schicksalhaften losgelösten Freiheit«, 44 betrachtet es Janke mit gewissem Recht als Aufgabe einer zeitgenössischen Glückstheorie, »den Anteil der Schicksalsbedingtheit unserer Existenz für das Gelingen oder Misslingen guten Lebens wieder einzubeziehen«. 45 Obgleich wir trotz aller Futurologie das zukünftige Geschehen nur begrenzt voraussehen können und trotz aller Technik nicht alles Vorhandene frei verfügbar geworden ist, hat sich das »eudaimonia«-Glück eines gelingenden harmonischen WeltverhältnisAuch wenn Bien zunächst in vergleichbarer Absicht zwischen dem Zufalls- und Befindlichkeitsglück ein »dialektisches Bedingungsverhältnis« nachweisen will, gelangt er zum frappierenden Schluss, dass zwischen »den objektiven Lebensbedingungen und dem Lebensstandard einerseits und der psychologischen Zufriedenheit mit der Lebenssituation andererseits […] ein nur lockerer Zusammenhang besteht.« (Günther Bien: Über das Glück, S. 39) 42 Vgl. Angehrn: Glück und Gelingen, S. 135. 43 Vgl. zur Nichtintendierbarkeit des Glücks Kapitel 2.2, S. 144 f. oder Kapitel 4.1. Angehrn erinnert an Bilder wie »die indirekte Erlangung des Glücks, die Öffnung zur Welt als Kommen zu sich, das Vertrautsein des Unbekannten. Das Gelingen, auf das solche Umschreibungen verweisen und das Momente des Zufalls und der Nichtbeherrschbarkeit enthält, gehört konstitutiv zum Glück. Glücklichsein ist nicht einfacher Gegenbegriff zum Glückhaben, sondern der stärkere, umfassendere Begriff, der zumindest ein Moment des Glückhabens einschließt.« (ebd., S. 137) 44 Janke: Das Glück, S. 143. 45 Ebd., S. 166. Janke erinnert aus diesem Grunde an den alten Mythos der Moira (ebd., S. 166–172), an das stoische und christliche Fatum (vgl. ebd., S. 143–152 bzw. S. 153– 159). 41

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ses aber keineswegs resignativ dem »eutychia«-Glück in der blinden Hoffnung auf günstige Schicksalsfügungen oder entgegenkommende Zukunftsentwicklungen anzunähern. Während ich Jankes Vorwurf an die große Zahl postmoderner Lebenskunstlehren durchaus billige, sie würden es im Zeichen des neuzeitlichen Prinzips Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung oder Selbstbejahung unterlassen, auf die Existenz des Unvoraussehbaren und Unverfügbaren aufmerksam zu machen, 46 scheint mir eine gewisse »Gelassenheit« die geeignetere Haltung zur Außenwelt zu sein als Jankes absolute »Attinenz«. 47 Eine lebenswissenschaftliche Glückstheorie hat sich ganz auf die kompetente Art des Sich-Verhaltens zu Um- und Mitwelt zu konzentrieren, die eben immer auch Unverfügbares und Unvorhergesehenes enthalten (vgl. Kapitel 4.2 und 5.1): Rehabilitiert werden soll angesichts drohender »ontologischer Existenzvergessenheit« daher nicht das Zufalls-Glück der »eutychia«, das »Glück-Haben« im Verein mit einem revitalisierten Schicksalsglauben, sondern lediglich ein offener und geschärfter Blick auf das uns faktisch Begegnende oder Zufallende, welches erst die (wertneutrale) Basis eines gelingenden oder misslingenden Weltverhältnisses bildet.

3.1 Glück = Vermeidung des Unglücks? Positive versus negative Glückstheorien Propagierten die antiken Ethiken Glück als ein dauerhaft affektiv positiv erfahrenes, auf habitualisiertem einsichtsvollem Richtighandeln basierendes qualifiziertes Weltverhältnis, sucht man heute nach der Substitution sämtlicher metaphysisch-theologischer Sicherheiten durch fluktuierende Simulationen und flexible Relationen gerne Zuflucht zu einem eudaimonologischen Skeptizismus. Für die Grammatik des Glücks bedeutet dies, dass »Glück« neuzeitlich-säkular immer öfter ex negativo definiert wird als Vermeidung großen Unglücks, als

Vgl. ebd., S. 173. Neben dem oben erläuterten »inter-esse« erwähnt Janke als zweite wesentliche Existenzbestimmung glücklichen Lebens die »Attinenz« (vgl. ebd., S. 17). »Bedingung für ein volles Leben der Sterblichen aber ist die freie Bejahung absoluter Attinenz«, erklärt er; »das uns Zukommende und wirklich Betreffende ohne Abstriche und Auslassungen, ohne Verschleierungen und Entschuldigungen aufzufassen und sich anzueignen.« (ebd., S. 172)

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Abwesenheit von Leid, wie wir es bereits beim Pessimisten Schopenhauer angetroffen haben. 48 Im grassierenden »Unbehagen der Kultur« wird Sigmund Freud zufolge das Lustprinzip dergestalt zugunsten des Realitätsprinzips zurückgedrängt, dass man »sich bereits glücklich preist, dem Unglück entgangen zu sein«, 49 dem unausweichlichen »fait accompli«! Alle philosophischen Antworten auf die Glücksfrage sind laut Odo Marquard, seit das Christentum das Unglück zum unausweichlichen Thema erhoben hatte, »Relativierungen des Unglücks« 50 , wobei angesichts der Crux, wie denn etwas so Unrelativierbares wie Unglück relativiert werden könne, ganz unterschiedliche Kniffe ersonnen worden seien: Während das Christentum alles daran setzte, die »Welt selber mit ihren Unglücksbefunden und ihrer zentralen Unglücksursache, der Sünde zugunsten jener Welt des Heils« zu relativieren, versuchte die moderne Geschichtsphilosophie, »das Unglück in dieser Welt zu relativieren durch Teleologisierung des Unglücks«, welches somit zum »Mittel zum Zweck des bestmöglichen Glücks« umfunktioniert wurde. 51 Als weitere virulente Versuche nennt er die kantische Neutralisierung des Unglücks mitsamt dem Glück und die auf dem Kompensationsprinzip basierende Balancierung. 52 In Marquards Fußtapfen profiliert auch Otfried Höffe vor dem unerreichbaren »schattenlosen« göttlichen »Sonntagsglück« ein »Werktagsglück«, d. i. ein sinnfrustrationstolerantes Glück »aus Sicherheitsgründen«. 53 »Die Frage nach dem Glück bleibt abstrakt, wenn man sie abtrennt von der Frage nach dem Unglück. Denn für Menschen gibt es das nicht: das schattenlose Glück. Dass alles Zuträgliche vorhanden ist und alles Abträgliche fehlt: das ist nicht menschenmöglich. Das reine Glück ist nicht von dieser Welt: das kann auch der einsehen, der Zweifel hat daran, ob es – in einer Ewigkeit oder in einer Zukunft – eine andere Welt gibt, von der es sein könnte. In ›dieser Welt‹ jedoch – der Lebenswelt der Menschen – ist das Glück immer neben

Vgl. Kapitel 2.1, S. 79 f. Sigmund Freud: das Unbehagen in der Kultur, S. 43. 50 Odo Marquard: Glück im Unglück, S. 13. 51 Ebd., S. 14 und S. 16. 52 Vgl. ebd., S. 20 ff. und S. 22 ff. 53 Antithetisch zu Marquard empfiehlt Höffe allerdings eine »Erwartungsreserve« bezüglich des »Sonntagsglücks«: »Gegen Marquards Strategie der Mäßigung eines unmäßig gewordenen Sinnanspruchs, gegen seine Sinndiät durch Diätetik der Sinnerwartung, schlage ich vor, im ›Werktagsglück‹ fürs ›Sonntagsglück‹ offen zu bleiben.« (Otfried Höffe: Personale Bedingungen eines sinnerfüllten Lebens, S. 405) 48 49

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dem Unglück, trotz des Unglücks oder gar durch das Unglück […]. Menschliches Glück ist – ganz elementar – stets nur Glück im Unglück.« 54

»Glück als Abwesenheit von Leid« lautet dementsprechend ebenso Gerhard Schulzes glücksgrammatische Maxime im Rahmen seines Plädoyers für ein ökozentrisches Glücksmodell 55 wie Jörg Zirfas’ zweite unumstößliche »anthropologische Grundtatsache«. 56 Die antiken Glückskonzeptionen werden – bis auf die bisweilen tendenziös interpretierte aristotelische – aufgrund ihrer Ignoranz des Leidens und der Zerbrechlichkeit menschlichen Glücks in Bausch und Bogen verworfen. Ihr sokratisch-rationalistischer Optimismus, dank Einsicht und Übung ein für allemal eine Haltung zu finden, die für ein gelungenes und geglücktes Weltverhältnis unverbrüchlich Garantie leiste, verpönt und verlacht man als allzu naiv. Sind diese Einwände berechtigt und hält andererseits die skeptische ex-negativo-Glücksgrammatik jeder Kritik stand? Allen voran diskreditiert Martha Nussbaum Platons Tugendrigorismus in Anbetracht seines anti-tragischen, unsensiblen Ideals einer glücksverbürgenden rationalen und distanzierten Lebensführung, 57 demgegenüber sie die aristotelische eudaimonia-Version zu rehabilitieren sucht, welche gleich den attischen Tragödien der Leidanfälligkeit sowie irrationalen Komponenten (Unbeherrschtheit) menschlichen Weltverhaltens gebührend Rechnung trage. 58 Genauso, wie man bezweifeln kann, ob die Verletzlichkeit des Glücks überhaupt ein wesentliches Thema der Tragödien darstellt, 59 muss die plakative antithetische Konfrontation von Platon und Aristoteles mit Vorsicht genossen werden: Platon blendet das Leid, verursacht etwa durch den Verlust eines nahen Angehörigen, keineswegs von vornherein aus seinem Tugendrigorismus aus, sondern mahnt nur Marquard: Glück im Unglück, S. 11. Vgl. Gerhard Schulze: Das Projekt des schönen Lebens, S. 36. 56 Zirfas: Präsenz und Ewigkeit, S. 367. 57 Tatsächlich heißt es in einem frühen sokratischen Dialog unmissverständlich: »Und so wurden wir am Ende einig darüber […], überhaupt verhielte es sich immer so, dass wenn Weisheit da wäre, bei wem sie wäre, der keines guten Glücks weiter bedürfe.« (Platon: Euthydemos, 280b) Nicht weniger lakonisch lautet eine Stelle aus dem Staat: »Der Gerechte also ist glückselig und der Ungerechte elend.« (ders.: Politeia, 354a) 58 Vgl. Martha C. Nussbaum: The fragility of goodness. Kapitel 1 ist den Tragödiendichtern Aischylos und Sophokles dediziert, das 2. und 3. Platon und Aristoteles, wobei sie bezeichnenderweise mit »goodness without fragility?« bzw. »the fragility of the good human life« betitelt sind. 59 Vgl. Horns begründete Zweifel in: Antike Glückslehren, S. 151. 54 55

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zum richtigen, maßvollen Umgang mit ihm, indem er uns dazu aufruft, erstens die leidvolle Situation auf lange Sicht hin zu beurteilen, zweitens die »menschlichen Dinge« nicht überzubewerten und drittens uns baldmöglichst wieder den akuten Anforderungen des Alltagslebens zuzuwenden. 60 Andererseits bleibt auch für Aristoteles das Glück des Tugendhaften trotz schicksalshafter Wechselfälle von Leid und Schmerz beständig – ohne dass der Glückselige zu einem »Chamäleon« mutierte! »Denn offensichtlich, wenn wir dem Schicksal folgen wollten, so würden wir denselben Menschen oftmals bald glücklich, bald unglücklich nennen; der Glückselige wäre dann eine Art von Chamäleon und stünde auf ungesunder Grundlage. Oder ist es überhaupt falsch, den Glücksgütern nachzufolgen? Denn nicht in ihnen liegt das Gut und Schlecht, sondern, wie wir gesagt haben, das menschliche Leben bedarf zwar ihrer, doch entscheidend für die Glückseligkeit sind die tugendgemäßen Tätigkeiten, und für das Gegenteil die umgekehrten.« 61

Während weder das platonische noch das spätere stoische Glücksideal des tugendhaften Weisen Nussbaums diffamierende Prädikate weltfremder Affektlosigkeit oder Immunisierung gegen alle äußeren Widrigkeiten verdient, da dieses vielmehr eine animatorische Anleitung zur nicht-kognitiven Einübung in gesunde, angemessene Gefühlsreaktionen, zum Training im Umgang mit schicksalshaftem Leid darstellt, erweist sich auch das aristotelische als mit diesen vollständig kongruent: Wohl empfindet der Tugendhafte Leid aufgrund von Enttäuschungen, Versagungen oder Schicksalsschlägen, ja dieses »reibt die Glückseligkeit auf und trübt sie«, allein es wird »das Edle hindurchleuchten, wenn einer heiter viele und große Schicksalsschläge trägt, nicht aus Empfindungslosigkeit, sondern aus vornehmer und großer Gesinnung.« 62 Eine Minimierung oder gar Liquidation menschlichen Leidens, wie sie viele neuzeitliche Glückstheoretiker zum Programm erheben, erschien den antiken Philosophen bei ihren Fahndungen nach einer gelingend-glückenden Lebensform mithin peripher, weil sie sich beim Einüben in menschliche Tüchtigkeit (Tugend) begründeterweise auf das richtige theoretische und praktische Verhältnis zur affizieVgl. Platon: Politeia, 603e-604d. Aristoteles: Eth. nic., 1100b, 4–10. Auf das Verhältnis von Tugend und äußeren Glücksgütern werde ich im glücksobjektivistischen Kapitel 4.2 näher eintreten. 62 Aristoteles: Eth. nic., 1100b, 27–32. 60 61

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renden, oftmals leidvolle Affekte hervorrufenden Welt konzentrierten. 63 Selbst gemäß Epikur, der als »Urheber des ›negativen Hedonismus‹« 64 Glück als Lust und Lust als Abwesenheit von Unlust – d. h. von körperlichem Schmerz und seelischer Unruhe – definiert, soll die dank praktischer Philosophie erwirkte einsichtsvolle und tugendhafte Lebensführung eine das momentane körperliche und situative Leid transzendierende, ununterbrochene positive seelische Gesamtbefindlichkeit zeitigen: »Für all dies ist die Einsicht Ursprung und höchstes Gut. Daher ist die Einsicht sogar wertvoller als die Philosophie: ihr entstammen alle übrigen Tugenden, weil sie lehrt, dass es nicht möglich ist, lustvoll zu leben, ohne einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben, ebensowenig einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben, ohne lustvoll zu leben. Denn die Tugenden sind ursprünglich verwachsen mit dem lustvollen Leben, und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar.« 65

Epikur eruiert dabei drei hauptsächliche Ursachen menschlicher Unlust: 1. die Furcht vor den Göttern und dem Tod, 66 2. ungestillte Bedürfnisse 67 und 3. den Schmerz, welche er allesamt als zu vermeidende Irrtümer enthüllt. Nicht zuletzt in Anbetracht der noch zu erläuternden epikureischen »Psychotechnik« betreffs körperlicher Schmerzen ist offenkundig sowohl das carpe-diem-Ideal (Horaz) gesprengt wie auch einer von der momentanen Körperverfassung abhängigen Sinneslust durch die freie Tätigkeit und Befindlichkeit des Obgleich sich im Hellenismus aufgrund immer vertrackterer politischer Verhältnisse und der damit einhergehenden Restriktionen der persönlichen Handlungsfreiheit das Schwergewicht vom aktiven Welt-Verhalten (Bestform) zur tugendhaften CharakterHaltung verschiebt und das kontinuierlich mehr Raum einnehmende subjektive Wohlbefinden als Glückskomponente bei Epikur ein Höchstmaß erreicht, gilt: »Die antiken Konzeptionen des Glücks sind nie bloß subjektiv und situativ und niemals idiosynkratisch. Sie zielen sowohl auf das Wohlergehen als auch auf ein Wohlbefinden mit der Tendenz, das ›innere‹ Wohlbefinden als den entscheidenden Faktor herauszustellen. In der hellenistischen Zeit verstärkte sich diese Tendenz zur Subjektivierung.« Es stünden aber im »Hintergrund der antiken Auffassung […] auch beim verinnerlichten Glücksbegriff allgemeine Charaktere oder Menschentypen, nicht unverwechselbare, unnachahmliche Einzelpersönlichkeiten wie in der Moderne.« (Horn: Antike Lebenskunst, S. 63 f.) 64 Ebd., S. 73. 65 Epikur: Brief an Menoikeus, Abschnitt 10. Mit Einsicht (Phronesis) ist dabei eine Art praktische Vernunft (Klugheit), ein Wissen vom normativ Richtigen gemeint. 66 Epikur: Brief an Menoikeus, Abschnitte 2 und 3. 67 Ebd., Abschnitt 4. 63

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Geistes der Rang streitig gemacht. Wenn in der jüngeren Stoa die metaphysischen Aspekte vermehrt zugunsten der psychologischen zurückgedrängt werden, und der Weltbezug unter dem stoisch-zynischen Dictum »sustine et abstine!« bisweilen liquidiert scheint, sucht man doch prinzipiell das Glück nicht via Weltflucht, d. h. dem Meiden von Krankheit, Tod oder Armut, sondern nur vermöge des Unterbindens inadäquater affektiver Aversionen gegenüber natürlichen Dingen und Schicksalswendungen, die nicht in unserer Macht liegen. »Wenn du aber Krankheit, Tod oder Armut zu entgehen suchst, wirst du unglücklich sein«, warnt uns Epiktet: »Zieh also deine Abneigung von allen Dingen zurück, die wir nicht meistern, und übertrage sie auf das, was gegen die Natur ist unter den Dingen, die wir meistern.« 68 Bei einem historischen Dekodierungsversuch des antik-hellenistischen philosophischen Glücksbegriffs lässt sich mithin registrieren, dass Glück prinzipiell nicht mit einem passiven Lustzustand und der Abwesenheit alles Unzuträglichen verwechselt wird, sondern vielmehr einen qualifizierten Lebensvollzug als ausgewogenes Verhältnis von philosophischer Reflexion (Einsicht) und Handeln meint. »Bei weitem am besten ist es daher, Muße mit Handeln zu verbinden, sooft ein tätiges Leben durch zufällige Hindernisse oder durch politische Verhältnisse unmöglich wird«, so instruiert uns Seneca: »Denn niemals sind uns alle Wege derart versperrt, dass nicht Raum für ehrenhaftes Handeln bliebe.« 69 Auch im aristotelischen Glücks-Konzept reicht es keineswegs aus, über exzellente tugendhafte Charaktereigenschaften zu verfügen, sondern es gilt, diese in überragenden Handlungen stetig zu aktualisieren: Denn wie »in den olympischen Spielen nicht die Schönsten du Stärksten bekränzt werden, sondern jene, die kämpfen […], so werden auch jene die schönen und guten Dinge des Lebens gewinnen, die richtig handeln.« 70 Indes entpuppt Epiktet: Handbüchlein der Moral, Kapitel 1. Wo allerdings statt geistige Distanz gegenüber der Welt vielmehr Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit propagiert werden, droht in meinen Augen die Gefahr des Quietismus. Es ist kaum zu leugnen, dass man sowohl bei den Stoikern und bei Platon »orthodoxe Tendenzen« herauskristallisieren kann, welche Tugend allein auf unsere innere geistige Einstellung zu Dingen, zum Schicksal reduzieren, als auch bei der aristotelischen Glückslehre eine »dominante Sichtweise«, welche die geistige Tätigkeit als vollkommen autarke profiliert und als hinreichend konstitutiv für menschliches Glück erachtet (vgl. dazu Kapitel 4.2). 69 Seneca: Über die Ausgeglichenheit der Seele, Kapitel 4, 3. Abschnitt. 70 Aristoteles: Eth. nic., 1099a, 4 ff. Vgl. zum Glück als Grundzug eines tätigen Lebens Kapitel 5.1, S. 362. 68

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sich auch in systematischer Hinsicht die Forderung nach einem »Glück qua Abwesenheit von Leid« als anthropologisches Paradoxon: Führt man sich nämlich den prozessualen Charakter eines solchen Glücks des Handelnden vor Augen, gewahrt man, dass auch ein habitualisiertes, rationales Verhalten zur Um- und Mitwelt ohne Mühen und Anstrengungen, ohne »Muth zum Leiden«, wie ihn Nietzsche, der große Meister des »Pessimismus der Stärke«, 71 verkündet, weder denkbar noch auch wünschbar ist. Selbst gravierende ökonomische, persönliche oder gesundheitliche Probleme können uns zu einer schöpferischen Auseinandersetzung mit der Außenwelt, zu einer fruchtbaren »Integration sämtlicher Ungleichgewichte in die Gesamtpersönlichkeit« 72 zwingen, so dass mitunter nach Nietzsches eigener Erfahrung »Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-Leben« 73 bedeutet. Das alle leidvollen Irritationen transzendierende »große Glück« des Schaffenden erreiche daher nur, wer die Spannung zwischen den beiden Zwillingen »Glück« und »Unglück« nicht scheut – welche in diesem Kontext wohl soviel meinen wie situationsbedingte augenblickshafte positive oder negative Gefühlsregungen. Sie werden entweder miteinander groß beim Angehen und Überwinden immer neuer Widerstände oder aber bleiben zusammen klein im Bann eines »kleinen Glücks« der Behaglichkeit, welches Nietzsches Glückskandidat »wie ein kranker das Bett: zur Genesung – und sonst gar nicht« benutzen soll! 74 Angenommen, das von Nietzsche selbst nirgends bezeichnete »große Glück« koinzidiere mit einer Affirmation des schöpferischen Lebens insgesamt, einem »amor fati« bzw. der Gewissheit, alles weder vorwärts noch rückwärts anders haben zu wollen, 75 müsste es bei beiden ZwillingsFriedrich Nietzsche: M, S. 240 und GT, S. 12 (vgl. das Zitat in Fußnote 348, S. 244). Hans Zeier: Arbeit, Glück und Langeweile, S. 86. 73 Nietzsche: EH, S. 266. Vgl. auch ders.: NF10, S. 398. 74 »Wenn ihr Anhänger dieser Religion die selbe Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswerth, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: nun, dann habt ihr […] – die Religion der Behaglichkeit. Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen! – denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander groß wachsen oder, wie bei euch, mit einander – klein bleiben.« (ders.: FW, S. 566 f.) Vgl. zur Problematik der Differenz von »großem« und »kleinem« Glück Kapitel 2.2, S. 114 ff.. 75 Vgl. Nietzsches Formel für das amor fati in: EH, S. 297. 71 72

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zuständen mit derselben Intensität je nach »Tüchtigkeit« des Schaffenden heiter »hindurchleuchten«, ohne dass der Wert des Leidens (»Unglück«) lediglich in einer kontrastiven Intensivierung positiver Empfindungen (»Empfindungsglück«) läge. 76 Nietzsches Intuition, derzufolge die gebildeten »höheren Menschen« aufgrund intensiverer Reaktionen auf die Umwelt in gewisser Weise »glücklicher« und »unglücklicher« werden, kann als weiteres systematisches Gegenargument gegen den glücksgrammatischen Negativismus ins Feld geführt werden. »Die hohen Menschen unterscheiden sich von den niederen dadurch, dass sie unsäglich mehr sehen und hören und denkend sehen und hören – und eben diess unterscheidet den Menschen vom Thiere und die oberen Thiere von den unteren. Die Welt wird für Den immer voller, welcher in die Höhe der Menschlichkeit hinauf wächst; es werden immer mehr Angelhaken des Interesses nach ihm ausgeworfen; die Menge seiner Reize ist beständig im Wachsen und ebenso die Menge seiner Arten von Lust und Unlust, – der höhere Mensch wird immer zugleich glücklicher und unglücklicher.« 77

In einer von Erwin Scheuch kommentierten Untersuchung zum Glücksverständnis unterschiedlicher sozialer Schichten fand diese kühne These gleichsam einen vespäteten empirischen Beleg: Grundsätzlich werde als »Glück nicht die Abwesenheit des Negativen empfunden, sondern das Vorherrschen des Positiven«, 78 wobei Personen höherer sozialer Schichten nicht nur intensivere Leid- und Glücksempfindungen, sondern zumeist ein Überwiegen der positiven Erlebnisse zu verzeichnen hätten. Diese Differenz wird nachweislich durch die höheren psychischen, sozialen bzw. berufsspezifischen Kompetenzen konstituiert, dank deren sie auch auf ungünstige Schicksalsfügungen freier und heiterer reagieren und dadurch gewissermaSo will es Tatarkiewicz’ zweite These seiner glückslogischen Leidanalyse: »Warum ist das Leiden für das Glück notwendig? […] Zunächst deshalb, weil zur Erreichung von irgendetwas Anstrengung nötig ist, diese aber pflegt mit dem Leiden verbunden zu sein. […] Zweitens, das Leiden steigert das Glück durch die Stärke des Kontrasts […]. Drittens, das Leiden stellt für viele Menschen einen anregenden, belebenden Faktor dar.« (Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 220) 77 Nietzsche: FW, S. 539 f. 78 »Zwar hätten«, so fährt Scheuch fort, »sogenannte ›glückliche‹ Personen öfters mehr Klagen; aber noch größer war die Häufigkeit positiver Nennungen. Und mit der Zahl der Nennungen postiver und negativer Aspekte des eigenen Lebens nahm auch die Intensität zu, mit der auf jeden einzelnen Aspekt reagiert wurde.« (Erwin Scheuch: Vorstellungen von »Glück« in unterschiedlichen sozialen Schichten, S. 76) 76

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ßen zum »großen Glück« vorzustoßen vermögen. Indem Arbeiter aus niedrigeren sozialen Schichten über weit weniger Kontrolle und Korrekturmöglichkeiten gegenüber ihrer Umwelt verfügen, trifft man hier oft auf ein Verhalten nach dem »Prinzip des homöostatischen Reagierens«, das sie auf ein mittelmäßiges »kleines Glück« einpendeln lässt: Bei einer Folge unangenehmer Ereignisse werden die verbleibenden angenehmen Erlebnisse überbetont, wohingegen eine Kette von positiven Empfindungen banalisiert wird und man sich in unmäßigen Klagen über belanglose Beschwernisse ergibt. 79 Wenn demgegenüber »ein Individuum durch Einkommen, berufliche Fähigkeiten, Bildung und generelle Fähigkeiten als Person in der Lage [ist], auf ungünstige Entwicklungen mit Gegenaktionen antworten zu können, so braucht es sich nicht in dem Maße vor der Erkenntnis einer schlechten aktuellen Lage abzuwenden wie ein Mensch, der weitergehenden Entwicklungen um ihn als bloß passives Objekt ausgeliefert ist.« 80 Da die in Nietzsches prätentiöser Terminologie »höheren Menschen« sich nicht nur einer unabwendbaren Krisensituation aufrichtig und konstruktiv zu stellen vermögen, sondern auch zu tieferem Leid prädestiniert sind, müsste man das »große Glück« wohl weniger wie Scheuch quantitativ aus dem Überwiegen postitiver über negative Empfindungen errechnen, sondern an die Gewissheit koppeln, aufgrund weitreichender Qualifikationen auch zu ungünstigen Ereignissen immer wieder ein geeignetes Verhältnis finden zu können. 81 Angesichts dieser Zusammenhänge hätte man sein Glück unzweideutig statt auf Leidensdezimierung oder vorsätzliche Ausblendung unliebsamer Beschwernisse auf die Maximierung weltbezogener Konfliktbewältigungskompetenzen bzw. Weltverhältnisqualifikationen zu bauen sowie auf eine raffinierten »Psychotechnik« 82 nach Maßgabe der epikureischen Lusttheorie zum Umgang mit Schmerz und Leid: Selbst Schmerz als schwerlich wegrationalisierbares physisches Leid kann erstens als Durchgangsstadium zur Ereichung eines bestimmten Schaffensziels durchaus einen relativen positiven Wert erlangen; zweitens lässt er sich mittels erinnerter oder Vgl. ebd., S. 77 f. Ebd., S. 79. 81 Vgl. dazu meine analogen Reflexionen zum Verhältnis von Freude (als vorübergehender positiver Gefühlsregung) und Glück (als anhaltender positiver Stimmung) am Ende von Kapitel 3.2. 82 Vgl. Malte Hossenfelders modernisierende Interpretation in: Epikur, S. 94 f. 79 80

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erwarteter Lust kompensieren oder drittens vermöge des Rekurses auf eine medizinische Erfahrungsregel abmildern. 83 Keineswegs beschränkten sich die antiken Philosophen beim Konzipieren eines glückbringenden habituellen Weltverhältnisses auf ein rein kognitives Training, sondern antizipierten seelische Leidbewältigungstechniken, deren Signifikanz auch die modernen Glückspsychologen hervorzukehren pflegen. Wenn als einer der wesentlichsten Leidfaktoren in unserer Konkurrenzgesellschaft der Stress gelten kann, der infolge seiner Schwächung des Immunsystems Erkältungen oder mannigfaltige psychosomatische Störungen zeitigt, liegt auch diesem Leiden oft ein falsches oder unangemessenes Welt-Selbst-Verhältnis zugrunde, wie Hans Zeier aufzeigt. Obgleich die Art und Weise, wie jemand Stress erlebt und verarbeitet, zum Teil angeboren ist, ergibt sich vermeidbarer Stress häufig aus einer falschen Situationsbeurteilung, zu hohen Erwartungen oder Überschätzungen der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Zur Vermeidung solcher Informationsdefizite rät uns Zeier als »eigentliche Grundregel zur Stressbewältigung«, »das eigene Verhalten und seine Folgen genau zu beobachten und nüchtern zu analysieren.« »Situationsanalysen führen zur Erkenntnis, welches Verhalten in welcher Situation angezeigt ist«, erläutert Zeier weiter: »Wirkungsanalysen liefern die Information, wie sich die Umwelt verhält und beeinflusst werden kann, wie wir mit unserer Umwelt umgehen müssen.« 84 Erfolgreicher Umgang mit Stress bzw. Leid im allgemeinen kann dabei tatsächlich zu einer gewissen Immunisierung gegen Unglücksfaktoren führen, welche uns schwere Schicksalsschläge besser verkraften hilft. Die für ein glückliches Leben unabdingbare Leid- und Frustrationstoleranz verringert sich aber reziprok zum Erfolg der wissenschaftlich-technischen Errungenschaften, weil diese a) die trügerische Hoffnung wecken, alles sei nun beliebig machbar oder vermeidbar, 85 b) die alltäglichen Erfahrungsspielräume sukzessive enteignen: Je mehr wir gleichsam aus zweiter Hand, d. h. als Zaungäste von ins Haus gelieferten Sekundärerfahrungen leben, desto weniger kommen wir zum Analysieren, Kombinieren und Verarbeiten konkreter, gelebter Letztere These des epikureischen Tetrapharmakos besagt, dass »das Höchstmaß an Übeln entweder nur kurz dauere oder kurzen Schmerz zeitige.« (Epikur: Brief an Menoikeus, 10. Abschnitt) Zu These 1 vgl. Hossenfelder: Epikur, S. 47, zu 2 S. 62 f. 84 Zeier: Arbeit, Glück und Langeweile, S. 13 f. 85 Vgl. ebd., S. 81 f. 83

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Welt-Selbst-Verhältnisse, wodurch zwar die Wissensmenge wächst, die Erfahrung als »Verarbeitung des Wissens, Durchdringung des Gewussten« aber schwindet. 86 Freilich ermahnen auch Philosophen wie Marquard oder Höffe, die von mir zuvor vielleicht voreilig der Klasse der glücksgrammatischen Negativisten rubriziert wurden, obgleich sie menschliches Glück genuin vom Unglück her bedenken, zu einer »Tüchtigkeit der Seele zum menschlichen Glück«, 87 offenkundig an die seit Jahrhunderten verspielten antiken Glücksfähigkeiten anknüpfend. Während Marquards oben erläuterte geistesgeschichtliche Wegmarken von Relativierungsversuchen des Unglücks als Stressbewältigungsmethoden gedeutet werden könnten, appelliert Höffe, grundsätzlich für eine »philosophia moralis perennis« optierend, 88 an die von der neuzeitlichen Moralphilosophie verdrängten Tugenden Besonnenheit, Gelassenheit und Selbstvergessenheit. 89 Allein während – stellvertretend – Epikur die unbeirrbare Heiterkeit und teilnahmslosausgelassene Lebenskunst der unsterblichen Götter als durchaus von jedem vernünftigen Menschen approximativ realisierbar diagnostiziert, 90 gelangt man vor dem Hintergrund eines neuzeitlichen Glücksverständnisses eines zuständlich-lustvollen Wohlbefindens zu einem unvergleichlich pessimistischeren Fazit: »es geht nicht ohne Kompensation«, so Marquard im Rahmen seines skeptischen eudaimonologischen Kompensationskonzeptes konzis, »aber ob es mit Kompensation wirklich geht, das ist zweifelhaft.« 91 Als Sehnsuchts- oder Sonntagsglück, auf das sich angeblich das Verlangen Vgl. zu dieser Problematik das Kapitel 6 »Erfahrungsverluste« von Gertrud Höhler: Das Glück, S. 79–91 (Zitat ebd., S. 82). 87 Marquard: Glück im Unglück, S. 11. 88 Höffe: Personale Bedingungen, S. 419. 89 Vgl. ebd., S. 413–417 und S. 417 ff. Höffe überlässt aber in puncto neuer Sinn- und Glücksmöglichkeiten alles dem »multikompetenten« Individuum: »Wir reden heute gern von ›Sinnkrise‹ und machen für sie einen ›Sinnverlust‹ verantwortlich. Ich möchte statt dessen eine andere Diagnose vorschlagen: Gegen den Defätismus des Sinnverlustes eine Sensibilität für einen Sinngewinn, […]. Auch wenn wir die Sinnerwartungen aussondern, die von ihrer Struktur her Illusionen bleiben müssen, also das Genussleben und das bloße Streben nach Reichtum und Macht, bleibt uns eine Fülle von Sinnmöglichkeiten. Dieser Reichtum spiegelt die conditio humana wieder, die Weltoffenheit und Multikompetenz.« (ebd., S. 419) 90 Vgl. Epikur: Brief an Menoikeus, 2. Abschnitt sowie Horns Kommentar in: Antike Lebenskunst, S. 94 und S. 99. 91 Marquard: Glück im Unglück, S. 37. 86

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jedes Menschen »mit einer gewissen Notwendigkeit« richte, proklamiert Höffe »die vollständige, überdies weder von innen noch von außen bedrohte Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen«, 92 Marquard die Vorhandenheit alles Zuträglichen sowie Abwesenheit alles Abträglichen. Der Grund, warum durchaus vergleichbare glücksspezifische Kompetenzen der Leidbewältigung oder -kompensation in der Moderne miteins zu »Inkompetenzkompensationskompetenzen« 93 mutieren, ist also nicht allein die Liquidation zuverlässiger, einsehbarer ontologisch-anthropologischer Basiselemente durch Simulationsuniversen und negative Anthropologien oder das gravierende Defizit an direkter Erfahrung, sondern primär die unumschränkte Alleinherrschaft des neuzeitlich-kantischen, kontingenzenthobenen wunschtheoretischen Glückseligkeitsverständnisses, unser Gewohntsein an schnellen und reibungsfreien Lustgewinn. Die Realisierung eines an die kantische Glückseligkeit – d. i. des Zustandes eines Menschen, »dem es, im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Wille geht« – 94 angelehntes »Sehnsuchtsglück« ist aber von vornherein zum Scheitern verurteilt: »So sehr wir auf dieses Glück hoffen mögen – mit Leichtigkeit eines Träumers überspringt der Sehnsuchtsbegriff des Glücks alle Beschränkungen und Widersprüche der Wirklichkeit und malt sich einen Zustand ohne Konflikte aus; einen Zustand, der weder einen Streit zwischen den Neigungen desselben Menschen kennt, noch einen Konflikt zwischen den verschiedenen Menschen oder zwischen Menschen und Natur.« 95

Um die Bastion des glücksgrammatischen Negativismus zu sprengen, müsste man diesem daher ein positives Glücksideal entgegensetzen, das die übergreifende Qualität eines zwischen Lust und Schmerz, Freude und Leid oszillierenden schöpferischen Lebens Höffe: Personale Bedingungen, S. 400. Zugegebenerweise lässt sich dieser signifikante Neologismus Marquards (vgl. ders.: Abschied vom Prinzipiellen, S. 29) in seinem Glück-im-Unglück-Aufsatz mit den oben zitierten neuzeitlichen Relativierungsversuchen des Unglücks vermissen, und auch Höffe scheint solch starke Worte bewusst zu umgehen: Es liege, so verlautbart er, die erste Bedingung menschlichen Glücks »in der Bereitschaft und Kompetenz, auch ohne das vollkommene Heil, auch ohne die totale Versöhnung und den ewigen Frieden, einen Sinn zu finden. Es ist die Fähigkeit zum Sinn – trotz bleibender Sinndefizite, die Fähigkeit zum zweitbesten Sinn. Der zweitbeste Sinn ist kein Surrogat, kein Malz statt Kaffeebohnen, sondern Münchner Kaffee statt Neapolitaner Espresso.« (ebd., S. 402) 94 Vgl. Einleitung, S. 30. 95 Höffe: Personale Bedingungen, S. 400. 92 93

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ins Blickfeld rückte und statt auf einer konfliktfreien, starren Übereinstimmung mit der Welt auf einer lebendigen und dynamischen basierte. Denn das umgreifende »große Glück« ist nicht mittels passiven Wartens oder Genießens zu erlangen, sondern verlangt ein aktives Nutzen seiner Kräfte und qualifiziertes Gestalten seiner Lebensbedingungen auf der Grundlage persönlicher Potential- sowie Situationsanalysen: »Dass das gute Leben im ganzen ein glückliches sei, dass es nicht nur glückliche Episoden und Perioden durchläuft und in Aussicht stellt, sondern sich durch seine inneren Krisen hindurch stets auf neue zu einer erfüllten ›Situation des Lebens‹ forme, einer Situation, mit der wir als ganzer ›übereinstimmen‹ können, die wir so und nicht anders wieder wählen würden, wenn wir wieder wählen könnten – dies ist ein ebenso natürliches Telos wie schwer erfüllbares Optimum des menschlichen Lebens.« 96

Da das Leiden ein irreduzibler und wie gezeigt oft stimulierender Bestandteil menschlichen Lebens darstellt, macht es wenig Sinn, ein Lebensdauerglück ex negativo über die Vermeidung von Leid oder Unglück zu definieren. Bindet man es indes gemäß unserem Gegenvorschlag an ein »gelingendes Weltverhältnis« oder »gutes Leben« im Sinne der antiken eudaimonia zurück, braucht man das Leiden nicht zu verdammen, sondern an einen angemessenem Umgang mit ihm zu arbeiten. »Was für das episodische Glück gilt, trifft im verstärkten Maß auf das übergreifende eines guten Lebens zu«, resümiert Seel treffend: »Leidensfreiheit ist schon deshalb keine taugliche Bestimmung des individuellen Guten, weil dieses Gute mit nicht wenigen Formen des Leidens koexistieren kann. Würde man sich auf Leidensfreiheit als Bestimmung des Guten festlegen, wäre schon entschieden, dass es ein gutes menschliches Leben nicht gibt. Leiden ist ein unumgänglicher Bestandteil jedes menschlichen Lebens, folglich auch jedes guten; wie gut oder schlecht ein Leben ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie die Subjekte dieses Lebens mit den Erfahrungen des Leidens zu Rande kommen.« 97

Auch wenn aber der ambitiöse Glückssucher ein solch »schwer erfüllbares Optimum des menschlichen Lebens«, eine solche geglückte Übereinstimmung mit der Situation des leid- und krisendurchwobenen Lebens insgesamt anvisiert, mag er sich durch folgen96 97

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des bestechend logische Kalkül irritieren lassen, dank dessen die Waagschale des glücksgrammatischen Negativismus erneut in die Höhe zu schnellen scheint: Je anspruchsvoller unsere individuellen Anforderungen, Wünsche und Bedürfnisse bezüglich der Um- und Mitwelt, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer harmonischen Übereinstimmung; mit je weniger Erwartungen und Neigungen wir hingegen an die Welt herantreten, desto marginaler werden die Miseren sein, durch die hindurch wir immer wieder von neuem eine erfüllte, affektiv affirmierte Lebenslage zu modellieren haben. Gemäß einem beliebten Klischee war es ebendieses sogenannte »Prinzip der Zweckökonomie« 98 gewesen, welches das eudaimonologische, angeblich reduktionistische Allrezept der hellenistischen Philosophen evozierte. Während nämlich die griechische Klassik einem »objektiven Glück« qua Übereinstimmung mit einer universellen Weltordnung gehuldigt habe, in der jedes Wesen seinen Platz und seine Rolle zugewiesen bekommt, 99 hätte eine hellenistische »Subjektivierung des Glücksbegriffs« gezeitigt, dass Glück als ausschließlich psychologische Angelegenheit 100 »in nichts anderem als dem Bewusstsein, dass alle eigenen Zwecke erreicht werden«, 101 bestehe. Sowie sich nun im Zuge dieser Subjektivierung das »Prinzip der Zweckökonomie« siegesgewiss die Bahn brach, seien logisch schlüssig die zwei alternativen Wege eröffnet gewesen, an deren Kreuzung sich de facto die Geister der hellenistischen und neuzeitlichen Geister geschieden hätten: »Man versucht, entweder möglichst viel Befriedigung oder möglichst wenig Bedürfnisse zu haben«, lautet Malte Hossenfelders entsprechende Glücksformel. 102 Kaprizierten sich die Hellenisten – in durchaus kulturkritischer Absicht gegen das spätantike Sprießen verfeinerter Lüste und künstlicher Neigungen gerichtet – auf die Reduktion der Bedürfnisse zur Sicherung eines Maximums an dauerhaftem Vgl. Malte Hossenfelder: Die Rolle des Glückbegriffs in der Moralität, S. 180 f. Im Rahmen der kognitiven Psychologie subsumiert man die auf diesem Kalkül basierenden glückstheoretischen Konzepte unter die »Ziel-Erreichtes-Ansätze«: »Sie zeigen zwei Wege zum Glück auf: mehr Erfolge, positive Fakten […] oder weniger Erwartungen, geringere Ansprüche.« (Mayring: Psychologie des Glücks, S. 80) 99 Vgl. Hossenfelder: Die Rolle, S. 176 ff. 100 »Die strikte Subjektivierung der Eudämonie im Hellenismus hatte die weitere Folge, dass die Eudämonie zu einem rein psychologischen Phänomen wurde, das seinen Wert nicht mehr aus der Übereinstimmung mit der Weltordnung, sondern ganz aus sich selbst schöpfen musste.« (ders.: Epikur, S. 56) 101 Ders.: Die Rolle, S. 179. 102 Ebd. 98

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Lebensglück, setzte man in der Neuzeit alles auf die Befriedigung ins Maßlose gesteigerter Wünsche dank Naturbeherrschung und technischem know how. Fundiert würde also die hellenistische Lebenskunst durch die Überzeugung, »dass, wenn das Glück in der Erreichung aller Zwecke besteht und die Wahl unserer Zwecke bei uns liegt, dann der kürzeste und sicherste Weg zum Glück darin besteht, sich nur solche Zwecke zu setzen, bei denen kein Zweifel besteht, dass sie verwirklicht werden.« 103 Außer Frage steht die Berechtigung der gegenwärtigen Kritikwelle angesichts der neuzeitlichen Auslegung des eudaimonologischen Ökonomieprinzips, welche sich trotz des lancierten Standes eines unerschöpflichen Angebots an exquisiten Bedürfnissen und entsprechenden glücksverheißenden Befriedigungsmöglichkeiten »nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus konsumsoziologischen und -psychologischen Gründen als folgenreicher Irrtum erwiesen« hat. 104 Wie gut aber auch der Appell gemäßigter gegenwärtiger Glücksnegativisten nicht zur Vermeidung des Leids – wie seitens radikalerer Repräsentanten –, sondern zur Vermeidung der Nachfrage motiviert sein mag, 105 scheinen mir doch die an hellenistische Konzepte anknüpfenden Bedürfnisreduktionsprogramme sowohl in historischer wie prinzipieller systematischer Hinsicht korrekturbedürftig. Vor dem Horizont eines neuzeitlich-technischen Ökonomiedenkens muss nämlich das hellenistische, mittels Askese und Selbstgenügsamkeit erwirkte Glück zwangsläufig in einem schiefen Licht erscheinen und erweist sich als »nicht mehr sonderlich populär«, 106 als »Erfüllungs- und Wollensverzicht«, 107 als kläglicher glücksnega103 Ebd., S. 180. Vgl. auch Schummers Fazit: »Im Grundsatz der Bescheidung bzw. der Zweckökonomie sich nur solche Zwecke zu setzen, die man auch erreichen kann (Hossenfelder), waren sich bei allen Differenzen schon Kyniker, Stoiker, Epikureer und Skeptiker einig.« (Joachim Schummer: Einführung zu: Glück und Ethik, S. 11) 104 Ebd. Vgl. dazu Kapitel 2.1, S. 76–86. 105 Vgl. etwa Wilhelm Schmids Karikatur des »modernen Glücks« des Verbrauchs, sich nährend von der »Spirale des Konsums« und beständig »seiner politischen Missbrauchbarkeit« ausgesetzt, in Absetzung vom antiken »autarken Glück« des Gebrauchs (in: Lebenskunst als Ästhetik der Existenz, S. 90 f.) oder Höffes Engagement: »Das Sinndefizit, das wir heute beklagen, besteht in der Differenz von Sinnerwartung und Sinnerfüllung. Wenn zwischen beiden eine Kluft besteht, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine: wir erhöhen das Angebot an Sinnerfüllung. Ich plädiere – nicht allein, aber auch – für die andere Möglichkeit: wir vermindern die Nachfrage.« (Höffe: Personale Bedingungen, S. 401) 106 Vgl. Michael Baurmann/Hartmut Kliemt: Glück und Moral, S. 13. 107 »Unabhängigkeit gründet dann in Erfüllungs- und Wollensverzicht. So wird die Be-

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tivistischer »Ersatz für Erfüllung«: »Der stoische Ersatz für Erfüllung, für ›Glückseligkeit‹ heißt: Zufriedenheit. Und auch der epikureische Hedonismus empfiehlt letzten Endes diesen Ersatz.« 108 Trifft dieser beliebte Vorwurf vielleicht ähnlich in die Leere wie derjenige bornierter Ignoranz aller weltlicher Widrigkeiten? Grundsätzlich ist fraglich, ob Hossenfelders angeblich sowohl für die Klassik wie den Hellenismus verbindliche Glücksdefinition einer »Verwirklichung aller vorgesetzten Zwecke«, in einer präzisierten Fassung eines »Bewusstsein[s] der inneren Entspanntheit und Ruhe« als Folge des Bewusstseins gelungener Zweckerfüllung wirklich zutrifft. Führt seine daran anschließende Konklusion, derzufolge man damit »schon sehr nahe an der heute vorherrschenden Auffassung [wäre], dass das Glück ein bestimmtes Gefühl sei«, 109 nicht allzu leicht auf interpretatorische Abwege? Entpuppt sich möglicherweise die ganze Rede von einem »Prinzip der Zweckökonomie« als allzu neuzeitlich konzipierte Projektion? Das »Prinzip der Zweckökonomie« nährt sich eindeutig von neuzeitlichen glücksgrammatischen Grundfesten, die man den hellenistischen Philosophen wohl kaum unterschieben darf. Denn die konzeptuelle Divergenz zwischen Neuzeit und Antike wird zweifellos durch das dezidierte antike Verwerfen eines subjektiven Wohlbefinden-Glücks provoziert, auf welches gerade die neuzeitliche ökonomisch-technische Bedürfnismaximierung mit – idealiter – parallellaufender -befriedigung abzielt: Glück kann weder die ungestörte und sichere Stillung natürlicher oder notwendiger Bedürfnisse sein noch auch das Bewusstsein des Erreichens von vollständig in unserer Macht stehenden Zielen. Vielmehr stellt letzteres ein Nebeneffekt dar eines dank der Einsicht in normativ verbindliche ontologische und anthropologische Gegebenheiten sowie die wahre Werthaftigkeit aller Dinge gelingenden Weltverhältnisses. 110 Die zum ständigkeit des Glücks gegen die Instabilität äußerer Glücksgüter gesichert. Die Minimalisierung der Erwartungen, die Bedürfnislosigkeit erscheint als Schutz des Weisen gegen das Unglück, als Basis seines Glücks. Fraglos kann eine solche ›asketische‹ Haltung ernstzunehmende Aspekte von Glückserfahrung enthalten; die stoische Apathie oder epikureische Ataraxie sind Varianten ihrer Ausformulierung. Dennoch scheinen sie als ganze mit dem, was wir spontanerweise Glück nennen, nur in paradoxer Weise vereinbar.« (Angehrn: Der Begriff des Glücks, S. 43) 108 Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 90. Vgl. zu den grammatischen Spannungen zwischen Glück und Zufriedenheit Kapitel 3.2. 109 Hossenfelder: Die Rolle, S. 178 und 179. 110 Dass sich bei den Stoikern krypto-normative Sätze finden, d. h. von »erfahrungsA

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Habitus verfestigte, diesen Einsichten adäquate Tugend impliziert zwar tatsächlich die von Hossenfelder als Glück angesprochene »innere Entspanntheit und Ruhe«, die ataraxia oder apatheia der Seele, aufs vortrefflichste eingefangen durch die stoische Metapher vom »Wohlfluss des Lebens«. 111 Diese werden aber nicht in erster Linie mittels Vermeidung von Leid oder Bedürfnisreduktion und dem dadurch implizierten Bewusstsein problemloser Zweckerfüllung erzielt, sondern sind die Folge einer rational geplanten und anhand objektiver inhaltlicher Kriterien bewerteten Lebensführung und wären anstelle des neuzeitlichen Empfindungsglücks eher mit einer Art »Reflexionslust« zu identifizieren. Selbst bei Epikur geht es nämlich keineswegs um die Instruktion betreffs des Stillbarkeitsgrades von Bedürfnissen, sondern um die akkurate Analyse der anthropologischen Bedürfnisstruktur in normativ Absicht und mit dem Fazit, dass die anlagebedingten lebensnotwendigen Bedürfnisse aufgrund physikalischer Erkenntnisse jederzeit stillbar sind. 112 Während man beim ästhetisch-technischen neuzeitlichen Glücksverständnis (vgl. Kapitel 2.2) einer maximalen Bedürfnis- bzw. Wunschbefriedigung die Vernunft als instrumentelle auf die Eskalation der Macht über die Umstände sowie ihr erlebnisaktives Arrangement restringiert, basiert das antike Weltverhältnis-Glück als eine genuin ethische statt rein psychologische Angelegenheit auf einer die ausschließliche Ich-Bezogenheit sprengenden ethischen Beurteilung der Lebenssituation hinsichtlich objektiver glückskonstitutiver eudaimonia-Faktoren – sei es ein artspezifisches Telos, eine allgemeinmenschliche Bedürfnisstruktur oder eine bestimmte innere Einstellung zu gewissen Gütern. 113 Versucht man, vom neuzeitlichen ökonomischen Denken im mäßiger Kenntnis der Naturvorgänge« abgeleitete, in Aussageform verkleidete Anleitungen zu tugendhaftem Leben, steht außer Frage (vgl. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen, VII, 87 f. und VII, 102 f.) sowie Fußnote 22, S. 154. 111 Vgl. als Illustration dieser heiteren Seelenruhe Seneca: »Unsere Frage richtet sich also darauf, wie der Geist immer in gleichmäßiger und glücklicher Bewegung verbleibe, mit sich in segensreicher Übereinstimmung stehe, sein eigenes Tun freudig betrachte und diese Freude nicht unterbreche, vielmehr in einem Zustand der Ruhe verharre, ohne je überheblich oder niedergeschlagen zu sein.« (Seneca: Über die Ausgeglichenheit der Seele, 2. Kapitel, 1. Abschnitt) 112 Vgl. Epikur: Brief an Menoikeus, Abschnitt 4 f. 113 Auch Hossenfelder konzediert freilich, dass das hellenistische Prinzip der Zweckökonomie die Bedürfnisstruktur vorschreibe, »indem es nur stillbare Bedürfnisse gestattet. Welche Bedürfnisse aber stillbar sind und welche nicht, unterliegt nicht der privaten

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Zeichen einer Wunschbefriedigungstheorie des Glücks zu abstrahieren, tritt ans Licht, dass das stoische Ideal von Autarkie, Askese und Apathie eines glücklichen Weisen nicht ohne weiteres mit negativer Weltflucht-Freiheit, mit Erfüllungsverzicht oder doch mit äußerster Einschränkung aller Ansprüche an die Außenwelt kurzgeschlossen werden darf, wie dies praktische späthellenistische Direktiven nahezulegen scheinen. »Zuerst und zumeist frage«, so instruiert uns etwa Epiktet: »Ist es im Bereich dessen, was in unserer Gewalt steht, oder bezieht es sich auf das, worüber wir nicht verfügen? Und bezieht es sich auf etwas, worüber wir nicht verfügen? Und bezieht es sich auf das, worüber wir nicht verfügen, halte die Antwort bereit: Es geht mich also nichts an!« 114 Wenn sich der Weise vom Nichtphilosophen durch einen gemäßigten Strebensmodus und eine asketische Lebensführung auszeichnet, bedeutet dies laut einer neueren Interpretationsrichtung der sogenannten stoischen Oikeiosis-Lehre aber weniger eine Absage an die Instabilität äußerer und körperlicher Glücksgüter, sondern vielmehr die totale Affirmation menschlicher Autonomie, d. h. einer positiven Freiheit als Fähigkeit vernünftiger Zustimmung bzw. Ablehnung.115 Glücklich wird mithin nicht, wer aufgrund ökonomischen Raisonnements seine Bedürfnisse reduziert oder sich in völlige Isolation rettet, 116 sondern wer das menschliche telos der Vernünftigkeit verwirklicht und »der, von der Vernunft geleitet, nichts mehr wünscht und fürchtet«117 , dessen Leben m. a. W. »auf einem richtigen und festen Urteil ruht und daran festhält« 118 . Obgleich im Entscheidung des Einzelnen, sondern ist ein objektiver Tatbestand.« (Hossenfelder: Die Rolle, S. 181) 114 Epiktet: Handbüchlein der Moral, 1. Kapitel. 115 Während Kinder aus natürlichem Antrieb das zur Selbsterhaltung, d. h. zur Übereinstimmung mit ihrer Natur Notwendige tun, liegt der stoischen Oikeiosis-Konzeption die erwachsene Persönlichkeit zugrunde mit der freien Zustimmungsfähigkeit zu erstrebbaren Gütern (vgl. Horn: Antike Lebenskunst, S. 222 f.). 116 Vielmehr verfechten stoische Kosmopoliten: »Deshalb haben wir uns dank unserer Seelengröße nicht innerhalb der Mauern einer Stadt eingeschlossen, sondern sind in Verbindung getreten mit dem ganzen Erdkreis und haben als Vaterstadt für uns das Weltall beansprucht, damit es möglich sei, der Tugend ein weites Feld einzuräumen.« (Seneca: Über die Ausgeglichenheit, 4. Kapitel, 4. Abschnitt) 117 Auch diese Passage scheint freilich ambivalent: Freiheit erlange »man nur durch Gleichgültigkeit gegen das Schicksal. Daraus erwächst jenes unschätzbare Gut: die Ruhe und Erhabenheit einer Seele, die ihren festen Standpunkt gefunden hat, die frei von Furcht aus der Erkenntnis der Wahrheit eine hohe, bleibende Freude gewinnt.« (ders.: Vom glückseligen Leben, 5. Kapitel) 118 Ebd. A

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Späthellenismus zugegebenerweise kosmologische Fragen zugunsten erhöhter Aufmerksamkeit hinsichtlich der »eigenen Natur« zusehends ausgeblendet werden, ermahnt man emphatisch, dass sich der Weise »nicht den Zufälligkeiten des Menschenlebens, sondern seinen Irrungen« zu entziehen hat: »Es geht ihm nicht alles von der Hand, was er wollte, aber so, wie er es sich ausrechnete. Besonders aber rechnete er es sich aus, es könne seinem Vorhaben etwas in den Weg treten.« 119 Der Vorwurf »Ersatz statt Erfüllung« an die Adresse der hellenistischen Glücksphilosophen, die geflissentliche Eingemeindung ihrer Projekte in einen glücksgrammatischen Negativismus auf ökonomischer Grundlage scheint mir mithin unangebracht, weil statt negative Weltflucht-Freiheit eine Totalaffirmation menschlicher vernünftiger Zustimmungsfähigkeit, statt Bedürfnisreduktion im Anblick instabiler äußerer Glücksgüter vernunftgeleitete Distanz und überlegte Gelassenheit dem Unverfügbaren oder Unvorhergesehenen gegenüber gefordert war. Ein solch besonnenes und gelassenes »Sich-selbst-überlegen-sein« als charakterliche Grundhaltung wird aber mit Recht noch derzeit von Bien als »erste Glückseligkeitsbedingung« 120 , von Höffe als »Steigerung der Glücksfähigkeit« 121 gepriesen. Schließlich gilt es, die grundsätzliche glücksgrammatische Transformation der »Askese« in Rechnung zu stellen, die als ursprüngliches hellenistisches glückstherapeutisches Modell erst infolge christlicher Askesetraditionen den negativen Beigeschmack von Verzicht, Selbstbeschränkng und Ersatz auf sich zog: »Anders als in unserem modernen Begriffsverständnis stand ›Askese‹ nicht für eine Verzichtleistung mit dem Ziel, triebhafte und begehrliche Neigungen niederzukämpfen«, stellt Horn klar: »Gerade die Beschränkung auf einfache Güter sollte eine besonders genussvolle Lebensweise herbeiführen. […] Die Auffassung von Askese im Sinn einer Selbstbeschränkung ergab sich erst in der Neuzeit aufgrund der christlichen Askesetradition.« 122 Unter der Prämisse eines durch das ChrisDers.: Über die Ausgeglichenheit, Kapitel 13. »Gelassene Distanz zu sich und den Dingen der Welt ist die erste Glücklichkeitsbedingung.« (Bien: Über das Glück, S. 37) 121 Höffe: Personale Bedingungen, S. 414. 122 Horn: Antike Lebenskunst, S. 32. Die prinzipielle Ambivalenz des asketischen Ideals bringt auch Nietzsche ans Licht: Während der priesterliche Asket – oder Philosoph im Priestergewande – »das Leben wie einen Irrweg [behandelt], den man endlich rückwärts gehen müsse, bis dorthin, wo er anfängt«, gilt andererseits: »Ein gewisser Ascetismus 119 120

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tentum inthronisierten und dank Kant konsolisierten Konfliktmodells der Seele scheint sich der hellenistische Tugendheld um eines seichten Glücks willen die höchsten Lustmomente vorsätzlich zu versagen und sämtliche begehrlichen Neigungen zugunsten rationalen Handelns zwanghaft zu unterdrücken. Im Horizont des antiken Harmoniemodells der Seele jedoch, bei dem man weit davon enfernt war, nach kantischer Manier sämtliche Gefühle als »Krankheiten des Gemüts« 123 zu diffamieren und in der apatheia eine gewaltsame Meisterung der konfliktbereitenden Triebe und Begierden zu sehen, 124 erweisen sich die rationalen Antriebe des tugendhaften Weisen »problemlos handlungswirksam« und bereiten in ihrem harmonischen Verhältnis zu den Trieben und Emotionen gerade einer »besonders genussvollen Lebensweise« den Weg: Indem die antike »Tugendkonzeption auf einem Harmoniemodell« basiert, braucht der Tugendhafte »keinen Widerstand gegen irrationale Antriebe mehr zu leisten; er wählt die richtige Handlungsoption ohne innere Konflikte. Rationale Antriebe sind bei ihm stets problemlos handlungswirksam; er freut sich sogar am richtigen Handeln.« 125 Wenn bei der glückverheißenden hellenistischen, körperliche mit geistigen Übungen kombinierenden Askese weniger die Reduktion oder gar Suppression lustheischender irrationaler Seelenregungen intendiert ist, sondern deren Gestaltung und Formung, lässt sich leicht die systematische Crux des »Prinzips der Zweckökonomie« im allgemeinen – und seiner glücksnegativistischen, angeblich hellenistischen Auslegung im Speziellen – fixieren: Wie sich bei der systematischen Erörterung der Wunschtheorie des Glücks in Kapitel 4.1 manifestieren wird, ist eine Minimierung der Triebe und Wünsche auf der Glückssuche ebenso naiv und zum Scheitern verurteilt wie ihre Maximierung, da der Erfolg allein von deren gestaltgebenden Einbindung in eine Gesamtkonzeption des Lebens abhängig ist. Fragt […], eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichen Folgen.« (Nietzsche: GM, S. 362 und S. 356) 123 »Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar«, diagnostiziert Immanuel Kant (in: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A/B227), denn: »Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüts, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt.« (ebd., A204/B203) 124 Vgl. ders.: MS, A51 ff. 125 Horn: Antike Lebenskunst, S. 124. A

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man nun in historischer Absicht nach dem Gestaltungsprinzip der Hellenisten, trifft man hier nicht auf die neuzeitliche Version individualistischer Selbstverwirklichung, sondern auf eine tugendhafte, ethisch wertvolle philosophische Lebensform. Entgegen vieler seiner prätentiösen postmodernen Leser lässt nämlich auch Michel Foucault im dritten Band von Sexualität und Wahrheit keinen Zweifel daran, dass der in späthellenistischen Texten intensivierte Selbstbezug, der persistierende Appell, »sich selbst umzubilden« und »zu sich selbst zurückzukehren«, 126 die ganze Flut der im Bestreben der »Sorge um sich« versammelten Selbsttechniken noch lange keinen Individualismus im neuzeitlichen Sinne dokumentieren. Er zieht vielmehr mit Recht »die Realität dieses individualistischen Schubes und des sozialen und politischen Prozesses, der die Individuen aus ihren traditionellen Bindungen gelöst haben soll«, in Zweifel. 127 Weit davon entfernt, dass sich die asketischen Weisen qua Glückskandidaten aus dem zunehmend zerrütteten sozialen und politischen Rahmen zu absentieren hätten, kehrt auch Foucault als Ziel hellenistischer Askese und Selbstbescheidung einerseits die Fremdbeherrschung auf häuslichem und politischem Feld hervor – für welche die zuverlässige Selbstbeherrschung unabdingbare Voraussetzung ist –, 128 zum andern die Konstitution eines Moralsubjekts im Netz der traditionellen normativen Codes. 129 Nachdem wir sowohl von einem radikalen Glücksnegativismus Distanz nahmen, weil Glück sinnvollerweise nicht durch Abwesenheit von, sondern nur über den richtigen Umgang mit Leid und 126 Vgl. Foucaults Konglomerat von Belegstellen in: Die Sorge um sich, S. 64 ff. oder exemplarisch Seneca: Über die Ausgeglichenheit, 2. Kapitel, 3. Abschnitt. 127 Ebd., S. 58. Allerdings ist Foucault mit einigen irreführenden Repliken in Interviews an schiefen Interpretationen seiner Leser keineswegs unschuldig (vgl. etwa sein Interview Zur Genealogie der Ethik, S. 272 ff.). 128 Vgl. ders.: Die Sorge um sich, S. 128 und Foucaults generalisierendes Resümee: »Wir berühren hier einen der wichtigsten Punkte dieser einem selber gewidmeten Tätigkeit: sie bildet nicht eine Übung in Einsamkeit, sondern eine wahrhaft gesellschaftliche Praxis.« (ebd., S. 71). Darunter fallen »die Tätigkeiten des Hausherrn […], die Aufgaben der Fürsten der über seine Untertanen wacht, die Fürsorge, mit der man einen Kranken oder Verletzten umgibt, oder auch die Dienste, die man den Göttern oder den Toten erweist.« (ebd., S. 69) 129 Foucault spricht von der historisch-kulturellen »Schwierigkeit in der Art und Weise, wie das Individuum sich als moralisches Subjekt seiner Verhaltensweisen konstituieren kann, und an Anstrengungen, um in der Wendung auf sich das zu finden, was es ihm erlaubt, sich Regeln zu unterwerfen und seiner Existenz Ziele zu geben.« (ebd., S. 129)

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Schmerz definiert werden kann, wie auch von einem gemäßigten Negativismus der Bedürfnisreduktion, weil das Glück primär auf lebenskonzeptueller Gestaltung und Einbindung unserer Triebe und Wünsche basiert statt auf deren raffinierten ökonomisch-technischen Kalkulation, kehren wir gleichsam zum Ausgangspunkt unserer glücksgrammatischen Inventarisation zurück. Wählt man auf Kosten jedweden negativistischen Ansatzes als Plattform einer sprachkritischen Glücksanalyse ein formal-allgemeines Weltverhältnisglück, d. h. ein affektiv positiv erfahrenes, reflexiv einholbares und begründbares gelingendes Verhalten zur Um- und Mitwelt, scheint die obligate Frage nach dem definitionsrechtlichen »genus proximum« nämlich noch weitgehend ungeklärt. Befremdlich erschiene es doch, wenn menschliches Glück als etwas draußen in der Welt Lokalisiertes oder als beobachtbare habituelle Verhaltensweise verstanden werden sollte, auch wo man es von einem positiven (Glücks-)Gefühl begleiten lässt. Müsste »Glück« nicht entsprechend unserer Sprachintuitionen elementar als »Gefühl« verstanden werden, dem man qua »differentia specifica« immer noch eine »qualifizierte WeltSelbst-Relation« als dessen reflexiv einholbaren Grund beilegen könnte? Haben sich die philosophischen Glückstheoretiker nicht die Sicht zum ersehnten »Glück« eines jeden Alltagsmenschen vollständig verbarrikadiert, indem sie uns eine kognitiv überakzentuierte »Zufriedenheit« 130 als rationale Beurteilung unserer glückenden Gesamtsituation des Lebens schmackhaft machen wollen, bei welcher sich jeder Normalsterbliche um sein Glück betrogen vorkäme? Verstricken sich nicht die meisten theoretischen Glücksprojekte in Aporien oder Paradoxien, weil sie gemäß Mayrings Diagnose »in aller Regel eine emotionspsychologische Verankerung vermissen lassen« 131 und uns dadurch mit unserer vagen Sprachintuition des Glücks-als-Gefühl allein lassen?

130 Spaemanns vielzitierte Formel »Ersatz für Erfüllung« attackiert exakt eine solche »Zufriedenheit« als »Glücks«-Surrogat (vgl. oben). 131 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 87. Dies gilt etwa auch für Seel, wenn er die Gestimmtheit des Glücks mit der »Antwort auf die Gegenwart des Glücks« identifiziert: »So würde nochmals deutlich werden, dass Glück nicht in erster Linie ein Gefühlszustand oder eine Stimmung, sondern der freie Kontakt mit unterschiedlichen (und durchaus divergierenden) Wirklichkeiten des Lebens ist. Die Gestimmtheit des Glücks ist nicht die Ursache, sondern die zu seiner Gegenwart noch fehlende Antwort auf die Gegenwart des Glücks.« (Seel: Glück, S. 161)

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3.2 Glück = ein Gefühl? Physiologische versus kognitive Gefühlstheorien Da ich im Umkreis meiner methodenkritischen Präliminarien die bornierte spezialistische Disziplinarität attackierte und eine begriffliche Unschärfe bezüglich unserer seelischen Regungen wie Empfindungen, Affekte oder Stimmungen unstreitig verheerende Verwüstungen auf dem glücksgrammatischen Terrain zu zeitigen vermag, darf an dieser Stelle vor einer lexikalischen Recherche im Reich der Psychologie nicht zurückgeschreckt werden. Das vornehmlich in der psychologischen Forschung häufig als »genus proximum« von Glück in Anspruch genommene »Gefühl« meint – abstrahiert man kurzzeitig von den daselbst anzutreffenden Begriffskonfusionen – elementar ein »psychophysisches Grundphänomen des subjektiven, individuellen Erlebens einer Erregung (Spannung) oder Beruhigung (Entspannung), jeweils mehr oder minder deutlich von Lust und Unlust begleitet.« 132 Die bildungssprachlich im allgemeinen mit »Gefühl« identifizierte »Emotion« meint dabei strenggenommen eine unspezifische und unbewusste, »nach Lebhaftigkeit und Intensität individuell unterschiedlich ausgeprägte Anteilnahme und Erregbarkeit«, welche zusammen mit den aktuellen Gedanken und Phantasien eines Menschen die jeweilige Qualität eines bewussten Gefühls determiniert. 133 Dass »Gefühl« oder »Emotion« »eines der am schlechtesten definierten Konzepte in der Psychologie darstellt«, 134 liegt laut Erwin Roth zum einen daran, dass eine große Zahl empirischer Wissenschaftler die Relevanz begrifflicher Analysen für den Wert empirischer Befunde verkennt, und dass zum anderen die getroffenen feinen phänomenologischen Differenzierungen infolge der »Privatheit« emotionaler Vorgänge nur schwerlich empirisch verankert werden können: »Es ist sicher richtig, dass Diskussionen darüber, was dieses oder jenes psychische Phänomen denn sei bzw. wie es zu bestimmen sei, endlos geführt werden können, ohne dass eine Einigung erzielbar wäre, solange nicht eine überzeugende Verankerung in der Empirie gelingt. Es trifft aber auch zu, dass der Wert empirischer oder experimenteller Befunde von der Klarheit und Deutlichkeit der zu überprüfenden Hypothesen, insbesondere der in ihnen 132 133 134

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Eintrag »Gefühl«, in: Hillig, Axel (Bearb.): Die Psychologie (Schülerduden), S. 128. Vgl. den Eintrag »Emotion«, ebd., S. 92. Vgl. Lothar Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie, S. 25.

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enthaltenen Begriffe abhängt. […] Heutigen Autoren ist der Gebrauch und die Unterscheidung dieser Begriffe weit weniger selbstverständlich. Das mag einerseits daran liegen, dass man weniger an begrifflichen Analysen und deren Konsequenzen interessiert ist und andererseits daran, dass es experimentell nicht gelungen ist, die feinen phänomenologisch getroffenen Unterscheidungen in der Erfahrung zu verankern.« 135

Während beim »Affekt«, lexikalisch definiert als »intensiver, reaktiv entstandener und relativ kurzzeitiger Erregungszustand«, Urteilskraft, Kritikfähikgeit und Einsicht herabgesetzt sind und mitunter ganz fehlen, 136 lassen sich Gefühle heuristisch in folgende Komponenten zergliedern: »eine subjektive Erlebniskomponente, eine neuro-physiologische Erregungskomponente, eine kognitive Bewertungskomponente und eine interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente.« 137 Unter die kognitive Komponente werden dabei »Prozesse der Wahrnehmung innerer Zustände und äußerer Reize, Prozesse der Bewertung, Verarbeitung, Erinnerung und Prozesse der Kontrolle« 138 rubriziert. Die Komponente subjektives Erleben bezieht sich auf sämtliche vom Fühlenden selbst wahrgenommenen und als »Gefühl« gekennzeichneten Befindlichkeiten und setzt damit zweifellos Bewusstsein voraus. Unter physiologischem Aspekt gesehen dürfte ein Gefühl mit einer – sei es bewussten, sei es unbewussten – »subkortikal-limbischen Aktivation (oder Deaktivation)« identisch sein, 139 die mit physiologischen, anders als bei reinen »Sinnesempfindungen« eindeutig auf emotionale Reize zurückführbaren Veränderungen einhergehen kann. 140 Eine »EmpfinErwin Roth: Denken und Fühlen, S. 3 und S. 5. Vgl. den Eintrag »Affekt« in Hillig: Die Psychologie, S. 9. Nach Roths Angaben wird neuerdings auf diese Unterscheidung zwischen Emotionen (Gefühlen) und Affekten verzichtet (vgl. Roth: ebd., S. 6). 137 Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 35. 138 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 51. 139 Reinhard Pekrun: Emotion, Motivation und Persönlichkeit, S. 103. »Affektive Emotionsanteile sind auf einer physiologisch-neuroanatomischen Ebene vermutlich großteils oder vollständig zentralnervös-limbischen Zentren zuzuordnen […]. Dabei ist davon auszugehen, dass ein affektives Emotionserleben dann existiert, wenn eines oder mehrere dieser Zentren erregt sind.« (ebd.) 140 Da ein und derselbe Reiz wohl ebenso eine Sinnesempfindung wie eine emotionale Reaktion auslösen kann, klingt folgende Argumentation allerdings tautologisch: »Unter emotionalen physiologischen Reaktionen sollen physiologische Veränderungen verstanden werden, die auf emotionale Reize zurückzuführen sind. Ein Reiz kann als ›emotional‹ angesehen werden, wenn er normalerweise das Erleben von Emotionen und/oder emotionalem Verhalten auslöst.« (Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie., S. 29) 135 136

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dung« hingegen wie beispielsweise eine durch sinnliche Reize innerhalb oder außerhalb des Körpers ausgelöste Tast-, Schmerz- oder Organempfindung meint »die als Folge einer Reizeinwirkung durch nervliche Erregungsleitung vermittelte Sinneswahrnehmung«, wobei mitunter auch »Aktivitäten des Großhirns« beteiligt sind. 141 Begreift man »Gefühl« als komplexes, unter den genannten Aspekten messbares Phänomen – auf der Ausdrucksebene beispielsweise durch Verhaltensbeobachtung, auf der physiologischen etwa mittels Herzfrequenzmessungen –, irritiert doch die von empirischen Psychologen registrierte niedrige Kovariation dieser Komponenten, welche entweder auf gänzlich voneinander getrennte Phänomene oder aber die Ungenauigkeit der Messungen schließen lässt. 142 Statt das Desiderat eines empirisch-psychologischen Nachweises des theoretisch plausiblen engen Zusammenhanges der einzelnen Momente zu beklagen oder einen solchen gar zu erbringen, sollen in diesem Teilkapitel sowohl physiologische emotionspsychologische Ansätze mit Schwerpunkt auf der physiologischen wie auch kognitive Gefühlstheorien mit ihrem Primat der kognitiven Komponente diskutiert werden, um danach nach Vermittlungspositionen zu suchen. Da gemäß obigem Hinweis von Roth jede empirische Verankerung psychischer Phänomene einen zuverlässigen begrifflichen Apparat voraussetzt, müssen diesen gefühlstheoretischen Erörterungen mit ständiger Hinsicht auf das Glücksgefühl einige grundsätzliche glücksgrammatische Erwägungen vorangestellt werden: Zunächst gilt zu prüfen, ob sich anhand einer Konkretisierung gewisser genereller Gefühlskomponenten das Glücksgefühl von verwandten positiven Gefühlen terminologisch abgrenzen lässt. »Zufriedenheit« zum ersten kongruiert nicht wirklich mit »Glück«, weil bei der »Lebenszufriedenheit« die kognitive Gefühlskomponente in Form einer Beurteilung des Lebens insgesamt dominiert: »Zufriedenheit stellt die eher kognitive Wohlbefindenskomponente dar. Sie wird in der Regel über Prozesse des Abwägens definiert.« 143 Dennoch 141 Artikel »Empfindung« in Hillig: Die Psychologie, S. 92. Ein trennscharfes Kriterium zur Abgrenzung von »Gefühl« und »Empfindung« blieb allerdings in der bisherigen psychologischen Forschung Desiderat (vgl. Schmidt-Atzert: Emotionsychologie, S. 31). 142 Vgl. zu diesen Alternativen Schmidt-Atzert: ebd., S. 26 ff., zu den unterschiedlichen Messmethoden Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 61/72, oder William P. Alston: Emotion und Gefühl, S. 28. 143 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 75. Daher müsste man vermeiden, Glück gleich Tatarkiewicz unbedacht mit Zufriedenheit koinzidieren zu lassen, welche er in ihrer

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baut »Glück« als der weitere Begriff unmittelbar auf der Zufriedenheit auf, und Glück wird sinnvollerweise »als der umfassendere Begriff gefasst. Dies haben die kognitiven Glückskonzepte […] herausgearbeitet, dass Lebensglück immer auch auf Zufriedenheit aufbaut, auf einer Überzeugung beruht, dass man selbst das eigene Leben als gelungen (eigene Ziele als erreicht) einschätzt.« 144 Während das Glücksgefühl mit der Zufriedenheit sowohl die Transsituativität und zeitliche Stabilität wie auch die normative, die reine Ich-Bezogenheit sprengende Dimension teilt, sich aber von diesem durch das Moment intensiveren subjektiven Erlebens abhebt, lassen die Gefühle der »Freude« oder der »Lust« 145 in ihrer zeitlichen Begrenztheit und engen situativen Bezogenheit diese transsubjektive Normativität der Kognition vermissen. Auch wenn Philipp Mayring im Kontrast zu Martin Seels von mir applizierter Terminologie »Glück« im Rahmen eines in der Psychologie Anklang findenden Vier-Faktoren-Modells neben »Belastungsfreiheit«, »Freude« und »Zufriedenheit« dem »subjektiven Wohlbefinden« subsumiert, 146 kehrt er eingängig diese Aspekte des Transsituativen und Normativen hervor: »Glück muss als ein über Freuden hinausgehender Wohlbefindensfaktor gefasst werden«, als »ein allgemeines Lebensgefühl, dass man immer wieder zu freudigen Erlebnissen fähig ist«, denn er »beinhaltet einerseits Erlebnisse höchster Freude, weist aber über die aktuelle Situation hinaus«, andererseits »eine normative Komponente, die über die reine Ich-Bezogenheit hinausgeht.« 147 Bevor wir unsere Aufmerksamkeit direkt auf diese transsubjektive normative Gefühlskomponente lenken, fällt vorderhand ins Audoppelten Dimensionalität sicherlich trefflich entfaltet: »Schließlich sollte man auch den Begriff der Zufriedenheit richtig verstehen. In dem, was wir als Zufriedenheit bezeichnen, ist nicht nur ein gefühlsmäßiger Bestandteil, sondern auch ein intellektueller enthalten. Wer zufrieden ist, der freut sich nicht nur, sondern beurteilt auch das positiv, womit er zufrieden ist. Gerade deshalb bezeichnet man das Glück als Zufriedenheit.« (Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 24) 144 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 90. 145 Der Lust wird von der neueren Emotionspsychologie als eigenständige, nicht nur als grundierende oder begleitende Gefühlsqualität akkreditiert (vgl. Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 160). 146 Die Differenzierungskriterien bei diesem Ansatz (Lawton, Liang) sind die Gewichtung der emotionalen bzw. kognitiven Dimension und die zeitliche Ausdehnung. Vgl. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 74 f. 147 Ebd., S. 75. Das Verhältnis von Freude und Glück wird uns weiter unten nochmals beschäftigen. A

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ge, dass Glück hier als eine überzeitliche Fähigkeit zu Erlebnissen höchster Freude gefasst wird. Dies animiert uns zu einem weiteren Rekurs auf die Philosophiegeschichte, da bereits Aristoteles auf seiner Suche nach dem »genus proximum« des Glücks als tugendhaftem Weltverhältnis bei seelischen Erscheinungen deutlich eine aktuelle Zustands- und eine dispositionelle Bereitschaftskomponente unterscheidet. Aus diesem Grunde wird er mitunter als Vater des heute Renaissance feiernden state-trait-Ansatzes reklamiert, mithilfe dessen man euphorisch zahlreiche Widersprüche in der gegenwärtigen Glücksforschung auszumerzen verspricht.148 »Wenn es in der Seele drei Dinge gibt, die Leidenschaften, Fähigkeiten und Eigenschaften, so wird Tugend wohl eins von diesen dreien sein. Unter Leidenschaften verstehe ich Begierde, Zorn, Angst, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst und allgemein alles, bei dem Lust und Unlust dabei ist. Fähigkeiten sind jene, durch die wir zu solchen Leidenschaften bereit sind, wie etwa, dass wir fähig sind, Zorn, Schmerz oder Mitleid zu empfinden. Die Eigenschaften endlich sind es, durch die wir uns zu den Leidenschaften richtig oder falsch verhalten. Wenn wir zum Zorn rasch und hemmungslos geneigt sind, so verhalten wir uns falsch, wenn aber mäßig, dann richtig, …« 149

Die glückskonstitutiven (hier: ethischen) Tugenden können gemäß Aristoteles’ untrüglicher logischer Schlussfolgerung weder augenblickliche »Leidenschaften« sein – deren Beschreibung fraglos obiger Begriffsbestimmung von »Gefühl« korrespondiert – noch die angeborenen »Fähigkeiten«, d. h. Dispositionen zu bestimmten Gefühlen, da beide weder als gut noch schlecht taxierbar sind, sondern einzig und allein die willentlich erworbenen »Eigenschaften«, 150 bezüglich deren man zur moralischen Rechenschaft gezogen werden kann. 151 Obgleich Aristoteles zusammenfassend unspezifisch von drei »seelischen Dingen« spricht, ist die Tugend als erworbene Charaktereigenschaft, den Träger zu habituellem Richtighandeln und maßvollem, lenkendem Umgang mit sämtlichen Gefühlen befähigend, angesichts dieser normativ-ethischen Dimension zweifelsohne mehr als Vgl. ebd. Aristoteles: Eth. nic., 1105b, 20–28. 150 Vgl. ebd., 1106a, 11 f. 151 In der Philosophie der Neuzeit zeichnet sich hingegen die Tendenz ab, die habituellen, im Charakter der Person verankerten Gefühle (bzw. Dispositionen) als »Leidenschaften«, die plötzlichen aktuellen Gemütsbewegungen als »Emotionen« zu deklarieren (vgl. Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann: Zur Philosophie der Gefühle, S. 7 f.). 148 149

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eine bloße Gefühlsdisposition, wie gewisse Emotionspsychologen wähnen. 152 Indem »psychische Dinge« voreilig mit »Emotionen« identifiziert werden, gelangt man zum Schluss: »Aristoteles hat damit Emotionen als aktuelle Gefühlszustände (Passionen) und als Persönlichkeitseigenschaften (Tugenden) beschrieben, die heute unter dem Begriff ›State-trait-Ansatz‹ in der Emotionspsychologie diskutiert wird.« 153 Begreift man aber »traits« lediglich als im wesentlichen angeborene, ethisch indifferente »emotionale Reaktionsbereitschaften« bzw. charakterliche »Dispositionen« zu bestimmten Gefühlen, als »individuelle Tendenz, mit einer intra- und interindividuell vergleichbar hohen Wahrscheinlichkeit, also ›für gewöhnlich‹, in bestimmter Weise emotional zu reagieren« 154 , entsprechen sie statt den aristotelischen »Eigenschaften« vielmehr den »Fähigkeiten« – und sind damit als »genus-proximum«-Kandidaten für »Glück« aus aristotelischer Warte diskreditiert. Der Rückgang auf die Nikomachische Ethik gibt uns daher den Wink, das von Glückspsychologen irreführenderweise als analoges Korrelat zum Kontrast Angst (»state«) – Ängstlichkeit (»trait«) 155 präsentierte glücksgrammatische Paar Glückserleben (»state«) – Lebensglück (»trait«) kritisch zu überdenken, da das Lebensglück (»trait«) im Gegensatz zur Ängstlichkeit kaum auf eine dauerhafte Disponibilität zu bestimmten empirisch messbaren Gefühlszuständen reduziert werden kann: Von einem »Glück als Neigung (»propensity«) zu Glückserleben« (Stones/Kozma) hebt sich ein »biographisch entwickeltes Lebensglück« nämlich gemäß unseren definitorischen Abgrenzungen durch die elementare, aber lediglich für »Zufriedenheit« hinreichende Selbst- und Lebenseinschätzung sowie den von Aristoteles akzentuierten überindividuellen ethischen Maßstab dieser Beurteilung ab. Die kontraintuitive aristotelisch-griechische Identifikation von 152 Bei Mayring/Ulich findet sich beispielsweise folgender kryptischer Kommentar zur Nikomachischen Ethik: »Von den Emotionen als Tugenden (und Lastern) beschreibt Aristoteles Freundlichkeit, Scham, Scheu, Entrüstung, Seelengröße, Liebenswürdigkeit usw., dominiert werden sie aber alle vom Glück.« (dies.: Psychologie der Emotionen, S. 14) 153 Ebd. 154 Ebd., S. 30. Vgl. zu den Spielarten und Streitfragen eines solchen state-trait-Modells auch Pekrun: Emotion, Motivation und Persönlichkeit, S. 152 f. 155 Vgl. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 88 f. Das aktuelle Gefühlserleben (state) wird daselbst folgendermaßen charakterisiert: Extrem positive, überschwengliche Emotion, höhere Sensibilität gegenüber Innen- und Außenwelt, gesteigertes Selbstwertgefühl, soziale Aufgeschlossenheit, Spontaneität und Kreativität.

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»Glück« mit ethisch wertvoller »Charaktereigenschaft« und entsprechendem habituellem Richtighandeln (Tugend) wird indes im Laufe der hier vorzunehmenden Prüfung des »Gefühls« als mögliches »genus proximum« von »Glück« seinerseits durch zahlreiche andere emotionspsychologische Erkenntnisse in Frage gestellt werden. Auch wenn der im Vergleich zum triadischen aristotelischen Gefühl-Fähigkeit-Eigenschafts-Modell undifferenzierte, angeblich eudaimonologisch bahnbrechende »state«-»trait«-Ansatz bereits in den eigenen Reihen gesprengt wird, schrecken doch viele Spezialisten für die menschliche Seele vor einer Identifikation von Glück und eigenschaftsgebundener Tugend zurück: Man müsse keineswegs »so weit gehen wie die Glücksphilosophie (Eudaimonismus) und Glück als tugendhaftes Leben fassen, denn die Festlegung von moralischen Normen für ein glückliches Leben dürfte sehr schwer fallen. Auf der anderen Seite wären wir nicht bereit, einen Massenmörder, der voll Wohlbefinden in seinem Tun aufgeht, Lebensglück zu attestieren. Die normative Komponente im Lebensglück ist unverzichtbar […]. Wir wollen diese Komponente vorsichtig definieren als ein über die Ich-Bezogenheit Hinausgehen, als Transzendenz der subjektiven Grenzen.« 156

Wo Philipp Mayring zu Maß und Vorsicht mahnt in Anbetracht der unleugbaren Schwierigkeit, moralische Normen für ein glückliches Leben allgemeinverbindlich zu statuieren, wirft Rosemarie Hoffmann den philosophischen Glückstheoretikern mit ihrem hybriden Monopol für Glücksdefinitionen einen generellen, prätentiös-unangemessenen »axiomatischen Willen zur Allgemeingültigkeit« vor. 157 Dabei entgeht ihr aber offenkundig, dass ihre eigene empirische Untersuchung den Probanden eine bestimmte Glücksvorstellung, nämlich Glück als rein subjektiver, äußerst fragiler und wesentlich situationsgebundener momentaner Gefühlszustand geradezu auf156 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 91. Betreffs der Wichtigkeit der normativen Komponente in verwandten psychologischen Theoremen verweist Mayring auf Hellmann 1930, Fromm 1947, Scott 1971, Schulz-Hageleit 1997, Tatarkiewicz 1984 und Freund 1985. 157 »Allein die Philosophie schien bis jetzt berechtigt, zu definieren, was Glück sei«, verlautbart Hoffmann in fast schon pikiertem Ton; »Philosophische Betrachtungsweisen extrahieren den Begriff jedoch zumeist aus der Welt des vielfältig subjektiv Erfahrbaren und versuchen definitorische Rahmen abzustecken, innerhalb derer ›Glück‹ in einer für alle zutreffenden Weise beschrieben wird. Solch axiomatischer Wille zur Allgemeingültigkeit ist jedoch für die Psychologie nur sehr begrenzt aussagekräftig.« (Rosemarie Hoffmann: Zur Psychologie des Glücks, S. 12)

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oktroyiert. Werden doch zum Zwecke einer intersubjektiv gültigen, vollständigen Deskription des empirischen Phänomens »Glück« 105 Studenten und Lehrer der Uni München gebeten, sich an eine Situation zu erinnern, in der sie besonders glücklich waren und sich gedanklich und gefühlsmäßig vollständig in sie zurückversetzend, diese sprachlich festzuhalten. 158 Was gäbe uns indes das Recht zu normativen glückstheoretischen Direktiven, wenn zahlreiche empirische Studien Hoffmanns Ausganspunkt zu legitimieren scheinen, indem die große Masse in der Tat dem »state«-Konzept den Vorzug zu geben scheint? Oder stellt diese empirisch verifizierte deutliche Favorisierung eines episodisch-zuständlichen Glücks vielmehr bereits die Folge einer kulturspezifischen, kritikanfälligen Glücksideologie dar? 159 Diesem Ideologieverdacht Nahrung verschaffend, nehmen es im Anschluss an die von Wittgenstein initiierte analytische Tradition der Gefühlstheorien auf dem Felde der Psychologie heute die »sozialen Konstruktivisten« in Angriff, die obsolet gewordene Auffassung zu dekonstruieren, derzufolge Gefühlswörter private, nur dem jeweiligen Subjekt zugängliche natürliche Zustände benennen. Die Zerlegung der Gefühle in einzelne Komponenten wie subjektives Erleben, physiologische Veränderung, kognitive Bewertung und intersubjektives Ausdrucksverhalten als grundsätzlich verfehlt verwerfend, weil ihre nachträgliche Korrelierung die bereits monierte interpretatorische bzw. empirische Crux evoziert und ein konsistentes Bild von Gefühl somit vereitelt, erforschen sie vielmehr das Erlernen der Emotionswörter. »Wäre auch eine Sprache denkbar, in der Einer seine inneren Erlebnisse – seine Gefühle, Stimmungen, etc. – für den eigenen Gebrauch aufschreiben oder aussprechen könnte?« 160 , lautet Wittgensteins Gretchenfrage. »Glück«, »Freude« oder »Schmerz« entpuppen sich dabei tatsächlich als soziokulturell erworben, so zwar, 158 Vgl. zu den exakten Instruktionen zum Verfassen der Texte und der Untersuchungsgruppe ebd., S. 87 ff. Die Resultate der Studien werden weiter unten präsentiert (S. 193 ff.). 159 Bei einer Stichprobe von 74 amerikanischen Studenten wurde Glück von 22 % als vorwiegendes trait–, von 77 % als klares state-Konzept taxiert. Vgl. Mayrings Kompilation von Versuchsanordnung und Resultaten der betreffenden empirischen Studien, wobei er bemerkenswerterweise pointiert: »Dieses Ergebnis ist natürlich auch Ausdruck einer kulturspezifischen (hier USA) Glücksdefinition (Glücksideologie); in anderen Kulturkreisen dürfte die trait-Komponente häufiger gewählt werden.« (Mayring: Psychologie des Glücks, S. 88) 160 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 243.

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dass nicht gewisse biologische, innerliche abgeschlossene Vorgänge mit Gefühlswörter-Etiketten versehen werden, sondern die Gefühle nur dank der Verbindung mit bestimmten öffentlichen Kriterien und Regeln, welche die beobachtbaren Begleiterscheinungen der physiologischen Veränderungen, manifesten Reaktionsweisen sowie situativen Kontexte unserer Gefühle kontrollieren, erlebt werden können. Einen möglichen Sozialisationsprozess für das »Erleben« innerer Vorgänge, der sich im Vergleich zu demjenigen bei höherstrukturierten »Gefühlen« mutmaßlich bescheiden ausnehmen muss, skizziert Wittgenstein exemplarisch am Beispiel der Schmerz-»Empfindung« so: »Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen? […] Z. B. des Wortes ›Schmerz‹. Dies ist eine Möglichkeit: es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen Ausruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Die lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen. – ›So sagst du also, dass das Wort ›Schmerz‹ eigentlich das Schreien bedeute‹ – Im Gegenteil: der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht.« 161

Ohne seelische Vorgänge wie die Behavioristen auf das Verhalten zu reduzieren, hätten laut Wittgenstein eine Schmerzempfindung oder ein Glücksgefühl keinerlei Bedeutung für uns, wenn wir einen privilegierten Zugang zu ihnen hätten, da wir nur dank eines kriteriell überprüfbaren »Vollzugs« des Schmerzes oder des Glückserlebens im öffentlichen Raum Gewissheit über die Korrektheit des sprachlichen Bezugs erlangen können. Man vergesse bei solchen Debatten nämlich leicht, dass, »was uns interessieren muss, die Frage ist: Wie vergleichen wir diese Erlebnisse; was legen wir fest als Kriterium der Identität des Geschehnisses?« Denn gemäß Wittgensteins berühmt gewordenem Privatsprachenargument kann »nicht ein einziges Mal

161 Ebd., 244. Vgl. zum sozialen Lernprozess von Gefühlen Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie, S. 47 und S. 48 f., wo er Skinners entsprechende Studien präsentiert, sowie Ulichs Explikation: »In dem Maße, in dem Personen über verschiedene Gefühlstypen verfügen, sind sie auch zum Erleben unterschiedlicher Gefühlsqualitäten fähig. Die Betreuungspersonen kleiner Kinder helfen durch Kommentierung und Benennung der situationsentsprechenden Gefühle den Kindern, adäquate Reaktionsbereitschaften auszubilden und allmählich eine immer zutreffendere Kenntnis ›typischer‹ emotionsauslösender Ereignisse und Situationen zu entwickeln.« (Mayring/Ulich: Psychologie der Emotion, S. 97)

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nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein.« 162 Auch neueren psychologischen Forschungen zufolge ist die Sprache vor allen anderen Zeichensystemen dabei nicht nur das präziseste Mittel, Gefühle mitzuteilen, sondern auch das akkurateste Medium, um zu »fühlen«, indem man das diffus Erlebte nur semantisch exakt zu vereindeutigen vermag. 163 Es ist wohl davon auszugehen, dass nicht nur die Auflösung der festen, instinktartigen Assoziation von Wahrnehmung (situativem Reiz), physiologischer Reaktion, emotionalem Erleben und Ausdrucksverhalten (etwa das unwillkürliche Schreien bei übermäßigem Schmerz) eine entscheidende Kulturleistung darstellt, auf dass die entsprechenden soziokulturellen Synthesen in komplexen Gefühlsphänomenen erst vermittels langwieriger Lernprozesse der Ontobzw. Phylogenese eingeübt werden müssen, sondern dass wir zugleich damit die Fähigkeit erwerben, uns zu solchen Synthesen bewusst zu verhalten. Vor diesem Hintergrund darf weder der Vorwurf sublimierter oder bewusst unterdrückter Gefühlsausdrücke irritieren, 164 weil wie beim wittgensteinschen Schmerzexempel das ursprüngliche expressive Schreien durch einen simplen Wortausdruck substituiert werden kann, noch auch die zahllosen antagonistischen interkulturellen Gefühlsstudien. Genauso überzeugt nämlich, wie die einen die Existenz universaler emotionaler Gesichtsausdrücke für Freude, Niedergeschlagenheit, Wut oder Furcht bewiesen zu haben vorgeben, 165 dokumentieren die andern mit kontradiktorischen Zeugnissen: »es gibt keine ›natürliche‹ Sprache der Emotionen« 166 . Ohne auf die Schwierigkeiten eines solchen emotionsspezifischen Kulturvergleichs von den basalsten Übersetzungsschwierigkeiten von Emotionswörtern bis zur Wahl geeigneter Stimuli für emotiona-

Ebd., 322 und 199. Vgl. Brigitte Scheele: Emotionen als bedürfnisrelevante Bewertungszustände, S. 67 f. 164 Vgl. Alstons Einwand: »Mit einem besonderen Verhaltensmuster kann sie (die Emotion) deswegen nicht gleichgesetzt werden, weil es durchaus möglich ist, z. B. Angst zu haben und dennoch kein Fluchtverhalten irgendwelcher Art zu produzieren […]. Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht eine Tendenz zum Fortlaufen Bestandteil von Furcht ist.« (Alston: Emotion und Gefühl, S. 15 f.) Gefühle können nämlich heruntergespielt (1), zur Schau gestellt (2), verborgen (3) oder simuliert (4) werden (vgl. Paul Ekman: Universale emotionale Gesichtsausdrücke, S. 179). 165 Vgl. ebd., S. 147–185 oder Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie, S. 91 f. 166 Weston LaBarre: Die kulturelle Basis von Emotionen und Gesten, S. 161. 162 163

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le Reaktionen im einzelnen einzutreten, 167 wird meines Erachtens eine klare Grenze zwischen Physiologie und Kultur im emotionalen Bereich aus dem Grund nicht gezogen werden können, 168 weil diese in Abhängigkeit der unterschiedlichen sprachlichen bzw. kognitiven Ausdifferenzierung der verschiedenen Gefühlsklassen steht. Während die von »Lust« bzw. »Unlust« derivierte »Liebe« und »Freude« bzw. »Ärger«, »Trauer« und »Angst« an der Spitze der emotionspsychologischen Prototypenordnung anhand von mimischen oder photographischen Darstellungen kulturübergreifend relativ leicht identifizierbar sein dürften, bereiten die weiteren Differenzierungsstufen etwa der »Freude« zu »Glück«, »Eifer« und »Stolz« mit Sicherheit größere Schwierigkeiten. 169 So setzt exemplarisch die Ausdifferenzierung von »Freude« zu »Stolz« eine bestimmte kognitive Entwicklung voraus, nämlich den Erwerb der Fähigkeiten zur ursächlichen Lokalisation eines freudebereitenden Erfolgs in der eigenen Leistung und zu einem sozialen Vergleich, während die kindliche Freude lediglich vom erfolgreichen Handeln abhängt, ungeachtet dessen, ob es das eigene oder fremde sei. 170 Analog zur ontogenetischen Ausdifferenzierung der Gefühle beim Kind muss parallel zur phylogenetischen kognitiven Entwicklung der Menschheit »eine Art sozio-kultureller Evolution« emotionaler Differenzierungen angenommen werden. 171 Fahndet man also nach einem Gefühl, das als »genus proximum« von »Glück« in Gebrauch genommen werden könnte, zeichnete sich dieses zweifelsohne aus durch einen hohen Differenzierungsgrad, d. h. durch einen beachtlichen kulturellen, sprachlich-symbolischen und kognitiven Anteil. »Menschliche Emotionen«, so lautet die ent167 Vgl. dazu Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie, S. 50 und Ekman: Universale emotionale Gesichtsausdrücke, S. 178. 168 Vgl. etwa Weston LaBarre: »Die Sprache der Gesten in der ganzen Welt ist eine Mixtur von physiologisch bestimmten Reaktionen und kulturellen Handlungen, und es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, beide zu trennen.« (LaBarre: Die kulturelle Basis, S. 163) 169 Vgl. Blankenburgs Hierarchisierung der Gefühle (Wolfgang Blankenburg: Affektivität und Personsein aus psychiatrischer Sicht, S. 308), weiter unten zitiert. 170 Selbst der Behaviorist Watson, Gefühle (vorab die drei angeblich grundlegenden Gefühle Wut, Furcht und Liebe) als biologische, reflexartige Reaktionsmuster begreifend, musste bezüglich des Erwachsenenstadiums seine Theorie revozieren (vgl. Margret Baltes und Rainer Reisenzein: Emotionen aus der Sicht behavioristischer Lerntheorien, S. 52 f.). 171 Roth: Denken und Fühlen, S. 13.

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sprechende generalisierende These Hermann Langs, »begegnen in ihren Affektqualitäten so differenziert, dass sie zu ihrer Konstitution die Einwirkung sprachlich-symbolischer Prozesse voraussetzen; andererseits sind sie unabtrennbar mit dem somatischen Substrat verbunden.« 172 Unter der Prämisse des genuinen, von der sprachanalytischen Tradition akzentuierten Sprachcharakters unserer Gefühle im allgemeinen und des soeben aufgewiesenen späten Rangs im soziokulturellen Ausdifferenzierungs- und Lernprozesses von Glück im Speziellen macht es sicherlich Sinn, auch in Sachen Glück vom alltagssprachlichen Begriffsnetz und Erfahrungsschatz auszugehen, um dann schrittweise zu einem kritischen und normativen eudaimonologischen Wissen vorzustoßen. Wir wollen uns dabei auf die für unseren Kulturkreis repräsentativen, allerdings im universitären Milieu erhobenen empirischen Studien Hoffmanns stützen, bei denen sie wie erwähnt eine Phänomenologie des alltagssprachlichen »state«Glücks anvisiert. Denn eine Sammlung und Systematisierung von Sprichwörtern zeigt ein allzu schillerndes Bild von Glück »im Volksmund« und spiegelt damit wohl nicht zuletzt »eine Besonderheit von Spruchweisheiten: Sie sollen eben für jeden Zweck, für jede Situation passen. So kann man immer wieder sogar klare Gegensätze mit Sprichwörtern belegen.« 173 Es gilt also vielmehr auf dem Wege direkter Befragungen zu prüfen, ob in unserer Sprechgemeinschaft klar identifizierbare öffentliche Kriterien für das komplexe Phänomen »Glück« figurieren, und ob es infolge seiner hohen Kulturalität und Sprachlichkeit bestimmte – wenn auch nicht unmittelbar kontrollierbare – Kognitionen zur Voraussetzung hat. Auf der Suche nach prototypischen Situationen, in welchen man gemeinhin Glück empfindet, trifft man bei den von Hoffmann Examinierten an erster Stelle auf Interaktionen in einer Partnerschaftsbeziehung und Naturerlebnisse (zumeist Naturbetrachtungen), gefolgt von Erfolgserfahrungen, (reinen) Gesprächssituationen, Sport, Tanz und Meditation. 174 Manifeste Verhaltensweisen der erstgenannten Glückssituation wären etwa Offenheit, Nachsicht, Gefühlsbekundung, beim Naturerleben eher Wachheit, Aufnahmebereitschaft, gesteigerte Sensitivität. 175 Bezüglich der physiologischen Komponente Hermann Lang: Zur Phänomenologie der Affektivität in der Psychotherapie, S. 303. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 29. Ebd., S. 28 f. befindet sich eine Tabelle zu einem solchen Systematisierungsversuch sowie prototypische Beispiele. 174 Vgl. Hoffmann: Zur Psychologie des Glücks, S. 89. 175 Vgl. die Übersicht ebd., S. 102–108. 172 173

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lässt sich Glück »als Intensivierung der körperlichen Reaktionen, als körperliche Energie, als Steigerung der körperlichen Empfindungsbereitschaft und auch des spontanen körperlichen Ausdrucksvermögens«, einhergehend mit einer potenzierten Neigung zum Erotischen charakterisieren. 176 »Bei den meisten Menschen trennen drei bis fünf Herzschläge pro Minute das Glück vom Normalzustand«, affirmiert Stefan Klein in seinem naturwissenschaftlich orientierten Buch Die Glücksformel, und die »Haupttemperatur steigt um etwa ein Zehntel Grad, weil sich die Durchblutung verbessert.« 177 Obgleich Hoffmann beide bisher genannten Aspekte als Erlebnisdimensionen verbucht, 178 könnte als eigentlicher Kern des subjektiven Glückserlebens ein von Wärme durchflutetes Gefühl der Vereinigung mit der Welt, einer gefühlsmäßigen Einheit von Innen und Außen, des Sich-Öffnens bei gleichzeitiger totaler Selbstakzeptanz eruiert werden. 179 »Die Harmonie mit der Welt, der Glaube, dass wir in dieser Welt einen Platz finden werden, der zu uns passt und den wir gestalten können«, 180 eine genuine »Einheitserfahrung« wird übereinstimmend von vielen deutschsprachigen Autoren als Glück bezeichnet: »Wir sind glücklich, wenn nichts mehr trennt; alles in einem umgreifenden Sinn seinen Platz hat; eine mittelpunktlose Balance, die Dinge – zu denen ganz selbstverständlich auch wir selbst gehören – im Einklang hält.« 181 Konzentriert man sich auf ein situatives episodisches Glück der Ekstase oder der Kontemplation, treten als konstitutive kognitive Grundlagen keine Bewertungsprozesse ans 176 Ebd., S. 170. Vgl. zur Physiologie des Glücks mit seiner Lokalisation in bestimmten Hirnstrukturen sowie wohlbefindensrelevanten Transmittersubstanzen Mayring: Psychologie des Glücks, S. 59 ff. 177 Stefan Klein: Die Glücksformel, S. 28. 178 Auf der Grundlage einer Faktorenanalyse werden 12 interpretierbare Faktoren des Glückserlebens herausdestilliert: 1. Qualität der menschlichen Beziehungen (11,4 %), 2. Schöpferische Kraft (9,9 %), 3. Öffnung der Sinne (7 %), 4. Erotik (4,7 %), 5. Ruhe und Entspannung (3,8 %), 6. Spontaner Ausdruck überfließender Energie (3 %), 7. Ekstase (3,1 %), 8. Transzendenz (2,2 %), 9. Trance (2,2 %), 10. Zeiterleben (2 %), 11. Bejahung von Leben und Sinnhaftigkeit des Lebens (1,9 %), 12. Qualität der Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung (1,8 %). Vgl. Hoffmann: Zur Psychologie des Glücks, S. 159. 179 Vgl. ebd., S. 170 f. 180 Höhler: Das Glück, S. 260. 181 Georg Kohler: Die Philosophen und das Glück, S. 141. Der niederländischen phänomomenologische Anthropologen Strasser begreift Glück als »Vollendungserlebnis«, das in Form von Harmonie (Einheit), Entzückung, Chance, Zufriedenheit, Erlösung e. t. c. auftritt (vgl. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 55 f.).

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Licht, sondern vielmehr eine radikale »Veränderung der normalen Bewusstseinslage«, entweder ekstatisch in Richtung Erweiterung oder tranceartig als Verengung des Bewusstseins. 182 Während Hoffmann wohl mit gutem Recht von einer bio-psycho-sozialen Einheit von Emotionsprozessen ausgeht, ohne irgendeiner Glücksdimension den Primat einzuräumen, bleibt doch eine Reflexion des gesammelten empirischen Materials hinsichtlich der sprachlichen und kognitiven Ausdifferenzierung dieses soziokulturellen Spätproduktes bei ihrer explizit »untheoretisch eingestellte[n] Registrierung aller Phänomene« 183 Desiderat. Lässt sich die Korrelation der physiologischen Komponenten, der aktuellen Wahrnehmungsprozesse und unseres kognitiven Horizontes beim Glückserleben nicht anders theoretisch erhellen als im Rekurs auf Krügers Postulat schlechthinniger »Universalität« von Gefühlen – auch wenn die entsprechende »Trennung aus forschungspraktischen Gründen« zugegebenermaßen »artifiziell« bleibt? 184 Liegt der uneingeschränkten Affirmation der eigenen Individualität nicht ein bestimmtes kognitives Selbstkonzept, der Harmonie von Leben und Welt ein gewisses »Wertsystem (die Philosophie) des einzelnen« zugrunde, 185 welche die scheinbare Episodizität des »state«-Glücks immer schon sprengen und im Grunde jedermann einsichtig machen müssten, dass »Glück mehr als nur positives Gefühl ist« 186 ? Steht auch das episodische Glück grundsätzlich, wie Seel supponiert, »in einem Horizont übergreifender Glückserwartungen«, weil sämtliche augenblickshaften Glückserlebnisse »ihre Farbe und ihr Gewicht innerhalb der Situation eines in unterschiedlichen Maßen gelingenden oder misslingenden Lebens« 187 erlangen? Kulturanthropologische Vergleichsstudien zu Afrika und den USA gaben zur Polarisierung eines Glücks der Ruhe und des In-Ruhe-gelassen-Werdens versus eines Glücks der Bewegung, der Aufregung, der aktiven Beteiligung Anlass: 182 Ebd. Darüber hinaus werden gemäß dem Nachweis von Ulich/Mayring aktuelle Glückserlebnisse immer von ganz abstrakten Ideen wie Harmonie, Einheit, Freiheit, Schönheit begleitet (in: Psychologie der Emotionen, S. 167 f.). 183 Ebd., S. 172. 184 Vgl. ebd., S. 42 ff. 185 Vgl. ebd., S. 169 und S. 175. 186 So lautet Mayrings Kommentar zu den affektiven phänomenologischen Ansätzen von Hoffmann, Kern, Lersch, Strasser u. a. in: Psychologie des Glücks, S. 80. 187 Martin Seel: Glück, S. 148.

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»Wenn freudige Erregung Kinder nur in Schwierigkeiten bringt und wenn Zurückhaltung und emotionale Neutralität hohe Wertschätzung durch die Erwachsenen erfahren, dann werden solche Kinder allmählich ein Gefühl von persönlichem Glück entwickeln, das gekennzeichnet ist von Ruhe und In-Ruhe-gelassen-Werden. In euro-amerikanischen Kulturen scheint ›Glück‹ dagegen auch Schwung, Aufregung, Bewegung und Anteilnahme zu beinhalten.« 188

Die Forschungsergebnisse legen zugleich nahe, dass die soziokulturelle Ausdifferenzierung von Glück nicht nur durch die frühkindliche Ausbildung »emotionaler Schemata«, 189 sondern auch durch die Übernahme gewisser kognitiver Überzeugungen von gelingendem Leben und richtigem Weltverhalten insgesamt determiniert wird. Auch wenn das episodische Glück durchaus einen »Augenblick des Heraustretens aus der Kontinuität des bisherigen und auch des bisher erwarteten Lebens« darstellen kann, der »alles bisherige Wünschen und Wollen und damit auch die wohlüberlegteste Konzeption dessen, wer wir sein und was wir werden wollen« transzendiert und unsere Bewusstseinslage modifiziert, 190 scheint es als ein spezifisches Gefühl des harmonischen »In-der-Welt-Seins« 191 doch durch eine kulturell geformte, reflexiv einholbare Art des Weltverhältnisses, durch die geltenden Wertvorstellungen geprägt zu sein. 192 Versucht man infolgedessen auf theoretischer Ebene die grundsätzliche Rolle kognitiver Hintergrundannahmen bei der Aktualgenese von Gefühlen im Allgemeinen zu entschlüsseln, gewahrt man mit Erschrecken ein Auseinanderdriften der Forschung in Extrempositionen: Der von Wittgenstein seit der philosophischen Rehabilitation der Gefühle in der 188 Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 123. In einer kulturanthropologischen Vergleichsstudie stellte man unter Verwendung einfacher Schema-Zeichnungen fest, dass Mitglieder einer afrikanischen Dorfkultur »in einer flachen, leicht gezackten, eher langweiligen, ›faden‹ Linie den Ausdruck von Glück« sahen, während »amerikanische Kinder und Erwachsene eine weite, schwungvolle, schleifenförmige Linie als Ausdruck von Glück bevorzugten« (ebd., S. 124). 189 Vgl. dazu das Kapitel 2.2, S. 141 f. 190 Seel: Versuch, S. 106 und 107 191 Hoffmann: Zur Psychologie, S. 113. 192 Ulich expliziert bezüglich der »emotionalen Sozialisation« allgemein: »In verschiedenen Kulturen hält man unterschiedliche Emotionen für wertvoll, wichtig und sozialisationswürdig, und zwar entsprechend den in diesen Kulturen geltenden Wertvorstellungen und Werten. Die unterschiedlichen Akzentsetzungen drücken sich auch im Wortschatz für Emotionsbegriffe aus …« (Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 126)

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Renaissance und ihrer Verklärung in der Romantik erneut entfachte Gefühlsdiskurs gabelt sich in die gefühlstheoretische Wiederkehr der kognitiven Tradition, in welcher Gefühle mit Werturteilen identifiziert werden, und die dadurch provozierte Opposition strenger Gefühlsnaturalisten. Laut Alston sind die meisten die körperlichen Empfindungen hervorkehrenden Psychologen »durch behavioristische oder physikalistische Vorurteile daran gehindert […], die zentrale Bedeutung der Bewertung vollständig zu berücksichtigen«, wohingegen die Philosophen infolge der Faszination von letzterer kaum bereit seien, »den offensichtlichen Implikationen der common-senseBegriffe nachzugehen, so dass sie die Bedeutung der körperlichen Erregung als eines Kriteriums würdigen könnten.« 193 Um das Glücksgefühl, wie wir alle es in der einen oder anderen oben zitierten Situation schon erlebt haben, nicht nur phänomenologisch beschreiben, sondern auch theoretisch durchdringen zu können, ist ein Blick auf diese Kontroverse und ihre Konsequenzen für die Glücksdebatte unumgänglich. Beginnend mit der Partei physiologischer Gefühlstheoretiker, muss hier vor allem William James herbeizitiert werden mit seinem provokatorischen, zum geflügelten Wort arrivierten Theorem: Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen! Während wir gewöhnlich unterstellen, dass die beim emotionalen Erleben auftretenden körperlichen Veränderungen Folgen unserer Gefühle sind, kehrt James diese Reihenfolge kühn um – denn unsere Gefühle seien gar nichts anderes als das subjektive Erleben unmittelbarer physiologischer Reaktionen auf unsere Umwelt. 194 Als beliebtestes Paradebeispiel fungiert in der psychologischen Literatur die Bären-Episode: Führt der Anblick eines Bären zu peripheren, d. h. sich an der Grenze zwischen Körper und Umwelt manifestierenden Signalen wie Sträuben der Haare und Schweißausbruch, ergibt erst die Rückmeldung dieser physiologischen Modifika193 Alston: Emotion und Gefühl, S. 31. Vgl. zu diesem gefühlstheoretischen historischen Gang Fink-Eitel/Lohmann: Zur Philosophie der Gefühle, S. 10 f. Pekrun verurteilt das angeblich für die ganze Disziplin charakteristische entsprechende Pendeln innerhalb der Emotionspsychologie selbst als »Zeichen einer unreifen Wissenschaft« (Reinhard Pekrun: Emotion, Motivation und Persönlichkeit, S. 103). 194 Da unabhängig von James der dänische Physiologe Lange zu vergleichbaren Forschungsergebnissen gelangte, kursiert diese These in der Literatur unter »James-LangeTheorie« der Gefühle. Vgl. deren Darstellung in: Wulf-Uwe Meyer/Achim Schützwohl/ Rainer Reisenzein: Einführung in die Emotionspsychologie, Bd. 1, S. 90–108.

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tionen und ihre Verarbeitung zusammen mit dem ursprünglichen Wahrnehmungskonzept eine Gefühlsempfindung. 195 Entsprechend lautet Kleins glücksspezifischer Slogan: »Glück entspringt dem Körper!«, denn »Wohlbefinden entsteht erst dann, wenn das Gehirn die richtigen Signale von Herz, Haut, Muskeln empfängt und deutet.« 196 Unter der von gegenwärtigen Molekularbiologen verfochtenen Prämisse, »dass Gefühle tatsächlich den Reaktionen des Körpers folgen«, müssten wir im Rahmen eines physiologischen »Glückstrainings« zweifelsohne alles daran setzen, das »echte Lachen« einzustudieren, bei welchem »nicht nur die Mundwinkel nach oben wandern, sondern sich zudem die Augenwinkel zu Lachfältchen verziehen« – und ein dauerhaftes Glück wäre uns hold. 197 Obgleich anlässlich einer Adrenalin-Injektion zum Zwecke der Überprüfung dieser radikalen Thesen nur wenige Versuchspersonen tatsächlich die hinsichtlich bestimmter physiologischer Veränderungen erwarteten Gefühle empfanden, 198 ließe sich die sogenannte »James-Lange-Theorie« der Gefühle möglicherweise retten mittels ihrer Reduktion auf einen »Teilaspekt umfassenderer Theorien« 199 oder – gemäß James’ eigener Präzisionen – durch die Einschränkung ihres Geltungsbereichs auf die sogenannten »gröberen Emotionen« wie Zorn, Furcht oder Ärger, die im Gegensatz zu den »feineren« moralischen, intellektuellen oder ästhetischen Gefühlen mit starken körperlichen Reaktionen einhergehen. 200 Zur Klasse solch »gröberen« Gefühle zählt aber, schenkt man dem Psychoanalytiker Freud Glauben, auch das menschliche Glück, welches dieser mit der lustvollen Aufhebung einer rein physiologisch bedingten Spannung koinzidieren lässt. Dabei behandelt er irrtümlich Sexualität gleich wie Hunger ausschließlich als körperliche Mangelerscheinung, als spannungserzeugendes Bedürfnis, obwohl mit Fromm zu differenzieren wäre: »Hinsichtlich der Sexualität kann man ähnlich wie zwischen Hunger und Appetit unterscheiden. Freuds Sexualitätsbegriff geht davon aus, dass es sich um ein Bedürfnis handelt, das ausschließlich auf eine physiologisch bedingte Vgl. Dieter Ulich: Das Gefühl, S. 103 f. Klein: Die Glücksformel, S. 28 und S. 29. 197 Ebd., S. 36 und S. 39. Klein bezieht sich hier auf angeblich positive Ergebnisse bei entsprechenden Experimenten von Paul Ekman. 198 Vgl. Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie, S. 97. 199 So lautet Schmidt-Atzerts Vorschlag ebd., S. 109. 200 Vgl. dazu Meyer/Schützwohl: Einführung, S. 93. 195 196

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Spannung zurückgeht und das, wie auch der Hunger, durch Befriedigung gestillt wird. Freud übersieht jedoch, dass es sexuelle Wünsche und Lust gibt, die dem Appetit entsprechen, also lediglich im Bereich des Überflusses existieren und somit ein ausschließlich menschliches Phänomen sind. […] Sexuelle Lust aber, die wir Freude nennen, hat ihren Ursprung im Überfluss und in der Freiheit und ist ein Ausdruck sensueller und emotionaler Produktivität.« 201

Freud stilisiert hingegen – wohl im Einklang mit vielen seiner Patienten und zahlreicher unserer Zeitgenossen – 202 die Sexuallust zum Inbegriff und Maßstab menschlichen Glücks schlechthin, weil »die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gewähre« und es daher naheliege, »die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen«. 203 Wo im Zeichen eines mechanistisch-materialistischen Weltbildes menschliches Verhalten auf eine Manifestation instinktiver biologischer Triebe degradiert wird, wobei die Umwelt statt als emotionaler Reiz nur noch als Hindernis unmittelbarer Triebbefriedigung in den Blick rückt, 204 kann Glück konsequenterweise kein gelingendes Welt-Verhältnis sein, sondern lediglich die durch eine Triebbefriedigung evozierte Lust: Unter den Prämissen, dass jedes Gefühl entweder identisch oder doch liiert ist mit einer vage definierten »psychischen Energie«, 205 und dass die Regelung der Energieverteilung nach dem Gleichgewichtsprinzip funktioniert, müsste sich Glück tatsächlich automatisch mit der Erlangung eines inneren homöostatischen Gleichgewichts kraft der Aufhebung aller Reizzustände einstellen. Diese seine Glückstheorie fundierende physiologische Homöostasievorstellung Freuds wurde aber durch verschiedene empirische Studien falsifiziert: »Die Forschungen zur sensorischen Deprivation […], zur Neugiermotivation […] oder zum Sensation Seeking […] zeigen statt dessen, dass MenErich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 146 f. Vgl. Biens entsprechendes Fazit (in: Über das Glück, S. 31 ff.) oder Fromms Diagnose: »Die Bedeutung dieser Art von Lust steht außer Zweifel, und ebenso die Tatsache, dass sie im Leben vieler Menschen nahezu die einzige Form der Lust ist, die sie erleben.« (ebd., S. 143) 203 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 42. 204 Vgl. Falko Rheinberg: Motivation, S. 29 f. 205 »Problematisch an Freuds Auffassung ist vor allem die Bindung von Emotionen an eine vage definierte psychische ›Energie‹«, moniert Ulich in: Das Gefühl, S. 107. 201 202

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schen bei zu geringem Reizstrom aktiv auf Stimulationssuche gehen und damit einen individuell verschieden hohen Standard an Erregung sicherstellen. Die Triebreduktionshypothese gilt in ihrer allgemeinen Fassung heute als widerlegt.« 206 In der Folge wandten die sich speziell mit Glück befassenden nachfreudschen Analytiker dieses homöostatische Prinzip vorwiegend auf das metapsychologische Instanzenmodell von »Es«, »Ich«, und »Über-Ich« an, welche zu harmonisieren als biographische Aufgabe jedes Glückskandidaten angesehen wird. 207 Neben Freuds Glücksprogramm einer lustvollen Triebbefriedigung eröffnet die molekularbiologische Forschung unserer Zeit ein ganz neues und weites Feld für das wilde Wuchern physiologischer Glücksrezepte. Nachdem die Neurologie Einblick in das menschliche Gehirn ermöglichte und dabei bestimmte Gehirnareale mit eigenen Schaltkreisen für Freude, Lust und Euphorie in der linken Hirnhälfte entdeckte, schwört man auf das physiologische »Glückssystem«, das wir nur entsprechend anzuregen bzw. zu trainieren brauchten. 208 Dank biochemischer, dem Glückssucher via »Glückspillen« verabreichter Transmittersubstanzen wie Endorphin, Noradrenalin, Dopamin und Serotonin scheint man die wohlbefindensrelevanten Prozesse in solchen Glücksregionen unseres Gehirn über ein dichtes Geflecht von Hirnschaltungen leichterhand in Gang bringen zu können. 209 Während die auch vom Körper selbst produzierten, für die Rheinberg: Motivation, S. 32. Vgl. die Ansätze von Helene Deutsch, auch von Schmitz (1930), Adam (1981) und Grotjan (1971), skizziert in: Mayring: Psychologie des Glücks, S. 53 und S. 84 f. Freuds Instanzenmodell erläutert dieser selbst etwa in: Abriss der Psychoanalyse, S. 42–46. Da das »Es« bei seiner Absicht, gemäß dem Lustprinzip alle angeborenen faktischen Bedürfnisse des Individuums zu stillen, mit dem Realitätsprinzip des »Ich«, das den Kontakt zur Außenwelt regelt, und der moralischen Instanz des »Über-Ich« in Konflikt gerät, ist nach Freud nicht das Glück, sondern vielmehr die Vermeidung von Unglück primäres Lebensziel (vgl. Kapitel 3.1, S. 130 oder ders.: Das Unbehagen in der Kultur, S. 42). 208 Vgl. Klein: Die Glücksformel, S. 12 f. »Sehr wahrscheinlich ist es uns also angeboren, dass die linke Hirnhälfte mehr zur Entstehung positiver Gefühle, die rechte hingegen zum Auftreten negativer Gefühle beiträgt«, resümiert Klein die neusten Forschungsergebnisse (ebd., S. 55). 209 Vgl. dazu Mayring: Psychologie des Glücks, S. 61. »Ein zweiter Forschungszweig beschäftigt sich mit den Substanzen im Gehirn, die wohlbefindensrelevante Prozesse auslösen können (Transmitter). Ein Meilenstein der Forschung war hier die Entdeckung der Endorphine durch J. Hughes, 1975 […]. Man fand im menschlichen Gehirn Stoffe, die dem Morphium ähnlich sind und in geringsten Mengen vom Körper selbst her206 207

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Verbindungen zwischen Neuronen zuständigen Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin Erregung, Aktivation und euphorische Gefühle zeitigen, wirken Serotonin und Endorphin eher entspannend, Schmerz, Angst und depressive Gefühle mindernd. Auch wenn beispielsweise Dopamin nachweislich unsere Neugier, Phantasie, Lernbegierde, Kreativität und die Lust auf Sex erhöht, kann ein biochemisch stimulierter, unbändiger Drang nach Wissen, Macht und Sex gemäß einschlägigen Experimenten aber verheerende Folgen zeitigen und sich bis zur Raserei steigern, weil er weder Ziele noch Grenzen kennt. 210 Die beruhigenden Botenstoffe Serotonin und Endorphin demgegenüber, die in gebräuchlichen Medikamenten wie »Prozac« von Medien und Werbewelt als alleinseligmachende »Glückspillen« gepriesen werden, hellen zwar bei schweren Depressionen die dunklen Gefühle auf, induzieren aber mitnichten Glücksgefühle, weil sie prinzipiell »keine Pillen für Glück, sondern gegen Unglück sind« 211 . Gleichsam als drittes, hirnphysiologisches Argument gegen den Glücksnegativismus (vgl. Kapitel 3.1) brachte die neurologische Forschung nämlich an den Tag, dass »positive und negative Gefühle im Gehirn von unterschiedlichen Systemen erzeugt« werden. 212 Wer also meint, Wohlbefinden oder Glück stellten sich automatisch ein, sobald Leid oder Stress an ein Ende kämen, befindet sich auch aus physiologischer Warte im Irrtum! Die Crux reduktionistischer physiologischer Glückskonzepte, die entweder wie Freud von einer Erlebnisqualität lustvoller Triebbefriedigung oder aber von positiven, durch »Glückspillen« induzierten Zuständen ausgehen, liegt grundsätzlich darin, dass sie Glück nach dem wirkungsmechanischen Kausalmodell deklinieren. Dabei wird die kausale Ursache der zu erwirkenden Glücksempfindung äußerlich gedacht, so dass etwa hinsichtlich der von Freud profilierten Sexuallust die Eigenqualitäten des Triebobjektes völlig irrelevant sind oder sich betreffs einer begehrten Euphorie Dopamin und LSD als äquivalent erweisen. Die rein sinnlichen Lüste oder Genüsse, seien es diejegestellt werden (endogen hergestellte Morphine = Endorphine). Wie Morphium haben sie stimmungsaufhellende, euphorisierende und auch schmerzlindernde Funktion und werden vom Körper vor allem bei der Belastungs- und Schmerzbekämpfung eingesetzt.« (ebd., S. 60) 210 Vgl. die Therapieversuche vom jungen Arzt Oliver Sacks in Klein: Die Glücksformel, S. 102 ff. 211 Ebd., S. 212. 212 Ebd., S. 50. A

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nigen bei einer heißen Dusche am Wintermorgen, bei einer Massage im Wellnesscenter oder beim Sex, unterscheiden sich lediglich durch das »Instrument«, das sie erzeugt: »An der Entstehung aller Genüsse sind die Opioide beteiligt. Im Kern sind also alle Genüsse gleich. Was die Annehmlichkeit einer Massage von der eines kühlen Biers an einem heißen Sommertag unterscheidet, ist nicht die Grundmelodie im Gehirn, sondern gewissermaßen das Instrument, das die Klänge erzeugt: Das eine Mal kommen Signale von den druckempfindlichen Sensoren auf der Haut, das andere Mal von Zunge und Gaumen. Haben die Sinnesreize jedoch das Gehirn erreicht, lässt es in beiden Fällen das gleiche Wohlgefühl entstehen.« 213

Während ein solch simples kausalmechanisches Schema sämtlichen Sinnesempfindungen sicherlich angemessen ist, scheint ein »intentionales Modell, das zwischen Ursache und Gegenstand eines Vergnügens unterscheidet und das Objekt des Vergnügens als für dieses selbst konstitutiv erachtet«, 214 den meisten menschlichen Gefühlsphänomenen ungleich gerechter zu werden. Konform mit Anthony Kenny im Rahmen seiner systematischen analytischen Gefühlstheorie würde ich mithin die Intentionalität als Unterscheidungsmerkmal zwischen Gefühlen (wie Freude oder Furcht) und Körperempfindungen (wie Lust oder Schmerz) fungieren lassen, ohne dabei aber die weniger gerichteten Stimmungen zu diskreditieren. 215 Zudem findet sich die propositionale Struktur von Gefühlen, ihr Ausgerichtetsein auf ein Objekt (wie Freude über etwas) beim Menschen zweifellos selbst bei »gröberen«, d. h. eng mit aktuellen Körperempfindungen verkoppelten psychischen Phänomenen (wie Lust an etwas), so dass jeder Anlass fehlt, diese wie Kenny als geschlossene Klasse aus dem Reich der Gefühle zu verbannen. Vielmehr votiere ich daher mit Blankenburg für eine hierarchische Gefühlsskala zwischen den Polen Klein: Die Glücksformel, S. 123 f. Maximilian Forschner: Über das Vergnügen naturgemäßen Tuns, S. 158. Forschner weist auf, dass dieses Kausalmodell »nur sehr wenigen Vergnügen, und wohl auch den Hauptvergnügungen nur weniger Menschen« adäquat ist: »Es ist offensichtlich an der möglichen leiblich-sinnlichen Lust eines vom intentionalen Lebens- und Erlebniszusammenhangs isolierten Tast-, Geschmacks- oder Geruchsinns ausgerichtet«, d. h. an rein körperlichen Empfindungen (ebd., S. 157). Vgl. dazu Kapitel 4.1. 215 Vgl. Ernst Tugendhats kritische Auseinandersetzung mit Kennys Leugnung der Stimmungen in: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, S. 206, im Rekurs auf Anthony Kennys einschlägiges Werk Action, Emotion and Will (London 1963). Auf die Stimmungen werden wir weiter unten noch ausführlich zu sprechen kommen. 213 214

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leiblicher Empfindungen (Vitalgefühle) und geistigen Wertungen (z. B. Achtung), bei welcher jedes Gefühl als psychophysisches Grundphänomen bereits eine »geistige Verarbeitung, Reflexion und Stellungnahme der ›Person‹« 216 impliziert, und wo auch »gröberen Gefühlen« jederzeit eine Ausdifferenzierung offensteht. Wenn von der »Intentionalität« menschlicher Gefühle die Rede ist, 217 hat man allerdings nicht das Vorhandensein eines anvisierten Ziels, einer bewussten Absicht oder »Intention« (wie beim Handeln) vor Augen, sondern lediglich die Gerichtetheit, die Propositionalität unseres Fühlens, welche im Unterschied zur mechanischen, auf das unmittelbare Erleben von aktuellen Sinneseindrücken angewiesenen Ursache-Wirkung-Relation bei Empfindungen oder Wahrnehmungen zumindest teilweise bewusst sein muss. Das »Etwas«, worauf das Gefühl gerichtet ist, kann dabei ebenso wohl ein reales, wahrgenommenes Ding sein wie auch ein abstrakter Begriff des Denkens oder ein Produkt der Einbildungskraft. 218 In Applikation dieser grundsätzlichen gefühlstheoretischen Reflexionen auf die Glücksdebatte scheint man auch beim Glück eine solche »klassenimmanente« Differenzierung gemäß dem intentionalen, sprachlich-rationalen Moment vornehmen zu müssen: Während das Glücksgefühl in Freuds auf einer physiologischen Homöostasievorstellung basierenden Lusttheorie genuin aus einem biologischen Mangel, nämlich aus unbefriedigten Trieben resultiert und strenggenommen lediglich eine »Körperempfindung« darstellt, projektiert Fromm im Rahmen seiner humanistischen Psychologie eine Lust und ein Glück, die gerade einem Überfluss entspringen: Kommt es bei einem Glück aus Mangel lediglich darauf an, der physiologisch bedingten Spannung entsprechend dem kausalmechanischen Modell auf irgendeine Weise Abhilfe zu schaffen, setzt ein Glück ebenso wie eine Freude oder Lust aus Überfluss eine kognitive und emotionale Anstrengung sowie ein produktives Tätigsein in der Welt voraus. 216 »Auf der einen Seite – hierarchisch gedacht: ›ganz unten‹ – geht es um die Abgrenzung gegen leibliche Empfindnisse, sog. ›Vitalgefühle‹ und Befindlichkeiten. Auf der anderen Seite – ›ganz oben‹ – haben wir in der Nähe rationalen Wertens Gefühle wie die der ›Achtung‹, die wir nicht als ›Affekte‹ bezeichnen können. Es gibt also ein Spektrum zwischen leibnahen und meist sehr subjektzentrierten Gefüheln und den stufenweise ›höher‹ strukturierten Gefühlen.« (Blankenburg: Affektivität und Personsein, S. 308) 217 Vgl. etwa auch Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 145. 218 Vgl. dazu auch: Mayring/Ulich: Psychologie der Emotionen, S. 52.

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Transmittersubstanzen können insofern eine animatorische Rolle auf unserer Glückssuche spielen, als sie das Nervenwachstum und somit die Hirntätigkeit aktivieren und uns dadurch aus einer lähmenden, um uns selbst kreisenden Regungslosigkeit im Fühlen, Denken und Verhalten erlösen können. 219 Auch wenn wir bei unserem Glückserleben nicht immer ein bestimmtes Objekt oder Ereignis namhaft machen können, auf das es gerichtet ist, setzt es jedoch eine »produktive Orientierung« zur Außenwelt voraus: 220 »Glück« stelle sogar »die größte Leistung des Menschen [dar]; es ist die Antwort seiner Gesamtpersönlichkeit auf eine produktive Orientierung sich selbst und der Außenwelt gegenüber.« 221 Indem die Ziele oder Objekte unserer produktiven intentionalen Tätigkeit zweifelsohne als konstitutiv für das Glücks-Gefühl betrachtet werden müssen, kann ein Mensch entgegen den physiologischen Glücksprogrammen niemals allein anlässlich eines perfekt antrainierten, aber grund- und gegenstandslosen permanenten »echten Lächelns« glücklich sein. Die von Hoffmanns Probanden mit »Glück« attestierten Einheitserfahrungen bezüglich Um- und Mitwelt lassen sich folglich, wie die humanistischen Psychologen in Opposition zu den physiologischen Reduktionisten persistieren, nicht mittels eines Dopaminrausches oder einer homöostatischen Energieverteilung erzeugen, da beim Menschen anders als beim Tier die Probleme erst beginnen, wo alle Triebe befriedigt sind: Weil menschliches Glück nicht ein physiologisches Phänomen der Homöostase, sondern ein Phänomen des Überflusses, der Produktivität darstellt, 222 benötigt der Mensch, um das Gleichgewicht zwischen sich und der Welt beglückend zu erfahren, neben einem kulturellen Weltbild, das ihm als Orientierungsrahmen all seiVgl. Klein: Die Glücksformel, S. 213 ff. »Glück ist eine aus der inneren Produktivität des Menschen entstehende Leistung, kein Geschenk der Götter. Glück und Freude ist nicht die Befriedigung eines auf physiologischem oder psychologischem Mangel beruhenden Bedürfnisses; nicht die Beseitigung einer Spannung, sondern die Begleiterscheinung allen produktiven Tätigseins im Denken, Fühlen und Handeln.« (Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 147) Vgl. dazu auch das Zitat oben, S. 198 f.. 221 Ebd., S. 149 222 Vgl. ebd., S. 145 f.: »Obwohl sogar im Tier überschüssige Energie vorhanden ist, die sich im Spiel ausdrückt […], ist Überfluss doch im wesentlichen ein menschliches Phänomen. Es ist der Bereich der Produktivität, der inneren Aktivität. […] Die Evolution der menschlichen Rasse ist durch die Ausdehnung des Überflusses charakterisiert, jener überschüssigen Energien, welche für Zwecke zur Verfügung stehen, die über die bloßen Bedürfnisse hinausreichen.« 219 220

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nes Denkens und Handelns dient, auch seinem Gefühlsleben Richtung verleihende, wertgebundene Ziele und Aufgaben. 223 Auf der Ebene des universellen Gefühlsdiskurses ziehen aus dem offenkundigen Dilemma der »physiologischen« oder »Feelingtheorien«, die für viele höherstrukturierte Gefühle unleugbar konstitutive Intentionalität nicht erklären zu können, die »kognitiven« oder »Evaluationstheorien« ihren Vorteil und Gewinn, indem sie die Relevanz oder gar Priorität des wertenden Bezugs des Fühlenden zu einem bestimmten Gegenstand akzentuieren. 224 Zudem wird unstreitig eine große Zahl menschlicher Gefühle durch die Interpretation gegenwärtiger, vergangener oder zukünftiger Ereignisse entfacht und die meisten physiologischen Symptome, die man als Indiz eines bestimmten Gefühls deklariert, können auch in einem Kontext auftreten, in dem der Betroffene sich den fraglichen Gefühlszustand mitnichten attribuiert: Obgleich beim plötzlichen Kippen eines Stuhles, in dem die Versuchspersonen saßen, bei allen dieselben Erregungen des Herzschlags, der Schweißabsonderung und der Drüsensekretionen festgestellt werden konnten, gaben die zuvor gewarnten Personen an, keine Angst gehabt zu haben. 225 Angesichts dieser offenkundigen Unzulänglichkeiten einer Monopolisierung der körperlichen Komponente bei der Genese und Konstitution von Gefühlen zeichnet sich daher seit der »kognitiven Revolution« der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts 226 berechtigterweise eine Tendenz zur »›Kognitivierung‹ der Emotionspsychologie« 227 ab. Allen voran Richard Lazarus, einer der prominentesten Repräsentanten der antagonistischen Extremposition, ruft im Rückgriff auf Magda Arnolds Anregungen Gefühle schlicht als Produkte unserer kognitiven Einschätzungen des Erkannten aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Informationen aus. »Emotionen sind fast immer Folge, nicht Ursache der kognitiven Bewertungen. Daher sind ihnen auch nicht primär motivierende Funktionen (wie z. B. 223 Vgl. ebd., S. 45 f. sowie unsere Kritik am »hedonistischen Paradox« in Kapitel 2.2 bzw. 4.1. 224 Diese Ordnungsbegriffe entnehme ich Martin Löw-Beer: Zur Einschätzung von Gefühlen und Gefühlsleben, S. 95. 225 Vgl. zu diesem Experiment Alston: Emotion und Gefühl, S. 28. 226 Vgl. dazu Meyer/Schützwohl: Einführung, S. 16. In dieser »Revolution« wird die Hochburg der Behavioristen gesprengt, die seit den 20er Jahren eine Stillegung des Interesses an Gefühlen zu verschulden haben. 227 Scheele: Emotionen als bedürfnisrelevante Bewertungszustände, S. 10.

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bei Izard) zuzuschreiben; Entscheidungsgrundlage für das Handeln sind die kognitiven Einschätzungen. Emotionen sind auch nicht die (inhaltlich unspezifischen) Energielieferanten […]. Sondern Emotionen sind gefühlsmäßige Stellungnahmen und als solche komplexe Reaktionsmustern, die den kognitiven Bewertungen als deren emotionale Qualität folgen, also eigentlich Bestandteil dieser Bewertung sind. So drückt sich z. B. in der Angst emotionale Bewertung der kognitiven Einschätzung aus, einer Bedrohung nicht mit ausreichenden eigenen Mitteln begegenen zu können.« 228

Neben bewusst wertenden Stellungnahmen fallen dabei auch unwillkürlich aktivierte »appraisal«-Stile ins Gewicht, die sich im Laufe der Lebensgeschichte herauskristallisieren: Bewertungstendenzen für einzelne Ereignisklassen, d. h. die Bedeutungen, die wir bestimmten Vorkommnissen hinsichtlich unserer Ziele und Ideale gewohnheitsmäßig beimessen, sowie die Einschätzungen unserer Fähigkeiten zu deren Bewältigung. 229 Chrysipps bemerkenswerte Lehre, die kognitivistische Position eines Lazarus bei weitem an Rigorosität übertreffend, indem sie jedes Gefühl – sei es ein gesundes einer tugendhaften Seele oder das affektive als Manifestation eines Fehlurteils – mit einem Urteil unserer Vernunft identifiziert, stieß allerdings bereits bei seinen stoischen Mitstreitern auf heftigsten Widerstand, weil gerade den an- und abschwellenden Affektausbrüchen eine gewisse Eigendynamik gar nicht abgesprochen werden kann. 230 Vergleichbare aktuelle Einwände gegen jede derartige Überziehung des kognitiven Moments verweisen primär auf die Passivität der Gefühlserfahrungen im Kontrast zu bewussten Urteilen und Evaluationen, von denen man nicht in gleicher Weise »berührt« wird: »Gefühlen ist man ausgeliefert […]. Gefühle beschäftigen ihre Träger, egal, ob sie versuchen sie zu unterdrücken oder sie zu artikulieren. Dagegen kann man sich Bewertungen enthalten, oder wenn sie einem spontan einfallen, kann man sich anderen Themen zuwenden.« 231 Steuert man also einen »harten« kognitiven Kurs in der Gefühlstheorie an, zerschellt man leicht an der Ulich: Das Gefühl, S. 113. Vgl. ebd., S. 111–114. 230 Die schwerwiegendsten Vorwürfe trafen ihn von Seiten des Poseidonios. Vgl. dazu etwa Ingrid Craemer-Ruegenberg: Begrifflich-systematische Bestimmung von Gefühlen, S. 29 f. Nussbaum stellt allerdings klar, dass Chrysipps Urteilsbegriff wesentlich dynamischer war als der neuzeitliche (vgl. Martha C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 149). 231 Löw-Beer: Zur Einschätzung von Gefühlen, S. 97. 228 229

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ignorierten Klippe, dass der Mensch offenkundig von den »expliziten, ›kognitiv ausgearbeiteten‹ Gefühlszuständen nur sehr wenige im Vergleich zum Gros der eher ›impliziten‹ Gefühle« 232 erlebt, die höchstens unbewusste Kognitionen im Sinne von »appraisal«-Stilen zuzulassen scheinen. Zum zweiten wird – analog zum Vorwurf an die Adresse der physiologischen Theorien, Gefühle nicht von rein körperlichen Zuständen scheiden zu können – immer wieder das Defizit einer säuberlichen Sonderung der Gefühle von Urteilen moniert, 233 da erfahrungsgemäß dieselbe situative Einschätzung bei verschiedenen Beteiligten keineswegs dieselben (falls überhaupt) Gefühle zeitigt. »Zwei Menschen können eine Schlange in gleichem Maße als gefährlich ansehen«, so exemplifiziert Alston, »beide können die gleichen Schritte unternehmen, um der Gefahr zu begegnen, und doch ist der eine von Furcht gepackt und der andere behält einen kühlen Kopf.« 234 Wenn sich dieser Sachverhalt auf physiologischer Ebene vielleicht mit einem Hinweis auf die individuell ausgeprägte »Emotion«, die gefühlsmäßige Erregbarkeit einer Person erklären ließe, 235 würden Kognitivisten mit Scheele wohl auf die Differenz »kalter Kognitionen« (Urteil betreffs der objektiven Gefährlichkeit der Schlange) von »warmen« (Bewertung dieser objektiven Gefährlichkeit bezüglich unserer subjektiven Bedürfnisse oder Ziele) pochen, die uns weiter unten noch beschäftigen wird: Wer beispielsweise auf Abenteuer scharf ist, wird beim Anblick der besagten, objektiv als gefährlich einzustufenden Schlange subjektiv anderes fühlen als ein ruhebedürftiger Urlauber. Ohne somatische Reaktionen per se auszuschließen – welche vielmehr in den ganzheitlich erlebten Gefühlskomplex integriert sein sollen –, postulieren doch viele kognitive Gefühlstheoretiker im Einklang mit Lazarus, »dass Kognitionen als notwendige Antezedenzien von Emotionen anzusehen sind, Emotionen also ohne vorauslaufende Kognitionen nicht zustandekommen« 236 . Während die Kor232 Scheele: Emotionen, S. 24. »Auf diese Weise«, so konkludiert Scheele, »bringt sich der kognitive Ansatz also selbst um einen weiten, lebenspraktisch einflussreichen Phänomenbereich, weil er für dessen Modellierung zu voraussetzungsreich erscheint.« (ebd.) 233 Vgl. ebd., S. 96. 234 Alston: Emotion und Gefühl, S. 30. 235 Vgl. die Definition von »Emotion«, S. 148. 236 Pekrun: Emotion, S. 101. Pekrun münzt sein Statement hier auf das Insgesamt der kognitiven Emotionstheorien, währen Lazarus selbst die Kognitions-Emotions-Relation

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relation von kognitiven und emotionalen Prozessen vorab im Bereich negativer Gefühle wie Angst oder Depression durch eine breite empirische Befundlage konsolidiert wird, 237 lässt sich indes die von Kognitivisten postulierte zeitlich-kausale Sequenz Kognition-Emotion aufgrund der untrennbaren Verflochtenheit dieser rein internen Vorgänge kaum nachweisen. Dem dezidierten Urteil Brigitte Scheeles vertrauend, demzufolge dieses »(Schein-)Problem« der Frage nach einer Abfolge oder Sequenz von Kognition und Emotion, der Streit zwischen einem kognitiven und affektiven Vorher, die ganze Emotionspsychologie »streckenweise massiv zu paralysieren« droht, 238 wollen wir hier von einer solchen generellen zeitlichen Prioritätensetzung absehen. Betreffs des uns vornehmlich interessierenden Glücksgefühls werden von kognitiven Glückskonzeptionen etwa das Abwägen von affektiv positiv bzw. negativ gefärbten Ereignissen sowie die Einschätzung der eigenen Lebenslage vermittels eines sozialen Vergleichs oder mit Blick auf einen individuell gesetzten Standard ins Feld geführt. 239 Es steht außer Zweifel, dass eine kognitivsprachlich ausdifferenzierte Form von Glück kein rein affektives Phänomen sein kann, kausalmechanisch induziert durch den Anblick einer pittoresken Landschaft oder das Beisammensein mit einer attraktiven Person, da vielmehr unser Glückserleben zumeist auf mentalen Fähigkeiten der Speicherung, Abrufung, Kombination oder Antizipation affektiv gefärbter Ereignisse sowie dem Vergleich mit sozialen Standards einer Bezugsperson oder -gruppe basiert (vgl. Kapitel 4.2). Ungeachtet der unfruchtbaren Sequenzierungsfrage Kognition-Emotion stellt die durch kognitive Gedächtnisprozesse im Gehirn statt durch unmittelbaren sensorischen Input (sensu physiologischer Psychologen) initiierte Gefühlsgenese zwar eine »phylound ontogenetisch späte Form der Emotionsinduktion« 240 dar, muss eher als Teil-Ganzes-Verhältnis präzisiert. Bei Beck hingegen, einem weiteren Exponenten der kognitiven Psychologie, heißt es unmissverständlich, dass jeder bei der geschulten Selbstbeobachtung erkennen müsse, »dass seine Interpretation einer Situation seiner gefühlsmäßigen Reaktion vorangeht« (Aaron T. Beck: Wahrnehmung der Wirklichkeit und Neurose). 237 Daselbst wird die breite empirische Befundlage zu den depressiven und Angst-Gefühlen kompiliert. 238 Scheele: Emotionen, S. 17. Die paradigmatische Fehde zwischen Lazarus (kognitives Vorher) und Zajonc (affektives Vorher) vergleicht Scheele polemisch mit dem »Hornberger Schießen« (ebd.). 239 Vgl. Mayrings Bestandesaufnahme in: Psychologie des Glücks, S. 79. 240 Pekrun: Emotion, S. 107.

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aber laut Pekrun als eine sowohl »alltagstheoretisch wie psychologisch in ihrer Plausibilität kaum zu überbietende Annahme« 241 befunden werden. Weil der Mensch nicht vollständig durch seine Umwelt determiniert ist, sondern auf diese konstruierend einwirkt, braucht er nicht ununterbrochen gestreichelt zu werden, um sich geliebt zu fühlen, hat er nicht immerfort in euphorischen Zuständen zu schweben oder laufend Erfolge zu verbuchen, um glücklich zu sein: »Der Mensch als kognitiver Konstruktivist braucht die Folter nicht erst am eigenen Leib zu spüren, um darüber Zorn und Verzweiflung zu fühlen […]. Gerade in dieser reflexiven Möglichkeit des Menschen, Gefühle haben zu können, ohne sensorisch empfinden zu müssen, liegt seine Chance für ein sinnvolles, lebenswertes Überleben in einer Welt, die er sich sensorisch peu à peu ›entsorgt‹ hat. Um diese Möglichkeit, die er derzeit offensichtlich noch unzureichend nutzt, zu eruieren, zu stabilisieren und zu stärken, ist es notwendig, Emotion gerade nicht als reflexhaften organischen Überlebensmechanismus im Rahmen eines a-reflexiven Organismusmodells, sondern eben in Hinblick auf die konstruktiven Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen epistemologisch anzusetzen und auszuarbeiten.« 242

Während es mit Sicherheit nicht zuletzt mit Blick auf das Glücksphänomen das berechtigte Grundanliegen der kognitiven Gefühlstheoretiker ist, die semantische »dichotomisierende Unterscheidung mentaler Zustände in Emotion versus Kognition« 243 zu überwinden, versuchen vermittelnde Positionen zwischen Naturalisten und Kognitivisten, das physiologische und kognitive Moment menschlicher Gefühle zueinander ins Verhältnis zu setzen. Die Vorschläge einer »Vereinigungstheorie« sprießen bereits in so großer Zahl, dass in ihrer frappierenden strukturellen Affinität lediglich die Synthesemodelle von Aristoteles und Schachter/Singer zur Diskussion gestellt werden sollen. Im Zeichen einer Zweikomponententheorie weist Aristoteles auf, wie der Naturforscher ein und dasselbe Gefühl wie Zorn mittels physiologischer Veränderungen, der Philosoph aber durch Angabe von kognitiven, intentional-motivationalen Gründen zu bestimmen sucht, obgleich zweifelsohne für die Gefühlsgenese beide unverzichtbar sind: »Auf verschiedene Weise aber würden der Physiker und der Dialektiker über jeden der Affekte han-

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Ebd., S. 109. Scheele: Emotionen, S. 41. Ebd., S. 19. A

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deln, z. B. was der Zorn ist. Der eine würde ihn nämlich als Streben nach Wiedervergeltung des Schmerzes oder ähnlich definieren, der andere als Sieden des Blutes, das um das Herz fließt und warm ist. Der eine gibt von den Affekten die Materie wieder, der andere die Form und den Begriff.« 244 Wo Aristoteles sein viel erprobtes Begriffspaar Materie und Form bemüht, deklarieren Schachter/Singer die interpretationsbedürftige physiologische Erregung als quantitativen, für die Intensität eines Gefühls verantwortlichen Aspekt, die kognitive, situationsabhängige Interpretation dieser Erregung als qualitatives Moment, den Inhalt eines Gefühls determinierend. Gefühlsqualifizierende Funktion kommt mithin sowohl bei Aristoteles wie bei Schachter/Singer dem kognitiven Moment eines aktualisierten Welt- und Selbstbezugs zu, infolgedessen man ein Gefühl nur als ein spezifisches ausdrücken und verstehen kann, wenn man den Sachverhalt oder die Meinung angibt, auf die als ihrem »Wesen« es bezogen ist. 245 Angesichts eines solchen überzeugenden Synthesemodells braucht man wohl den Vorwurf vorsätzlicher Verengung des Glücksgefühls bei einer Konzentration auf die Analyse der Form bzw. Qualität als die kognitive Komponente von Gefühlen im allgemeinen und des Glücksgefühls im besonderen nicht länger fürchten zu müssen. Erneut der Verlockung einer irreführenden zeitlichen Sequenzierung zum Opfer fallend, beschreiben indes Schachter/Singer eine das Interesse der Forschung auf sich ziehende nicht-alltägliche Art von Gefühlen als erklärend-bewertende Interpretationen unspezifischer Körperveränderungen. Ihre Hypothese, derzufolge physiologische Erregungszustände nur dann Gefühle auslösen, wenn eine objekt- oder ereignisbezogene Ursachenzuschreibung gelingt (Attribution), ließ sich zwar experimentell im Anschluss an die Adrenalin-InjektionsAristoteles: De an., 403a, 28-b, 2. Vgl. dazu Ursula Wolf: Gefühle im Leben und in der Philosophie, S. 115 f., wo Wolf auch auf die Rhetorik-Stelle 1378a, 31 ff. rekurriert. Aristoteles teilt seine Position mit der großen Zahl antiker und römischer Denker: »Die meisten griechischen und römischen Denker«, so resümiert Nussbaum, gehen in der Tat so weit in Richtung Kognitivismus, dass sie »Überzeugungen als konstitutive Bestandteile der Gefühle zu betrachten, als einen Teil dessen, was deren Wesen ausmacht und sie von anderen Gefühlen unterscheidet. Denn es erscheint wenig einleuchtend, dass wir so komplexe Gefühle wie Zorn, Angst und Mitleid nur dadurch identifizieren können, dass wir uns auf die mit ihnen verbundenen Befindlichkeiten beziehen.« (Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 147 f.) 244 245

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Versuche von James/Lange in Grenzen bestätigen, 246 berechtigt aber sicherlich nicht zum Schluss, »Emotionen kämen immer bzw. nur aufgrund situationsbezogener nachträglicher Benennungen von wahrgenommenen Erregungen zustande.« 247 Gerade beim Glück aber, für welches wir nach einem adäquaten Zwei-Komponenten-Modell Ausschau halten, scheint Dieter Birnbachers rhetorische Frage, ob es bei einer hohen Lebensqualität oder einer Selbsteinschätzung als glücklich nun darauf ankomme, »hedonisch positive, also angenehme innere Zustände zu erleben«, oder vielmehr darauf, »das zu erleben, was man in reflexiver Einstellung positiv bewertet« 248 , eindeutig zugunsten letzterer Auffassung optiert werden zu müssen: »Was über meine Lebensqualität entscheidet«, so pointiert er, »ist nicht das Ausmaß, in dem sie mir angenehm (im hedonischen Sinne) sind, sondern das Ausmaß, in dem sie mir genehm (im Sinne meiner reflexiven Präferenzen) sind. Nicht Gefühlsqualitäten entscheiden über die Lebensqualität, sondern subjektive Bewertungen von Gefühlsqualitäten.« 249 Glücklich wäre ich demzufolge nicht dann, wenn ich innere Vorgänge erlebte, die jeder jederzeit haben möchte, sondern dann, wenn ich mich in einem Zustand befände, der gemäß meinem gegenwärtigen Wissensstand dem günstig ist, was mir wichtig ist, was ich meinem Leben zum Ziel gesetzt habe. 250 Eine solche Separation von reflexiver (nachträglicher) Deutung unserer Empfindungen von deren sensorischen Qualität lässt sich aber zweifellos nur in äußerst seltenen Sonderfällen vornehmen, wie Birnbacher selbst zu bedenken gibt. 251 Die von jeder zeitlichen Sequenzierung absehende Attributionsthese, wie 246 Vgl die ausführliche Besprechung der fraglichen Experimente in Meyer/Schützwohl: Einführung, S. 119–129 oder Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie, S. 99 f. 247 Ulich: Das Gefühl, S. 111. Da Schachter/Singer diese Art der Emotionsgenese aber ausdrücklich als nicht-alltäglichen Fall kennzeichnen, was in der einschlägigen Literatur zumeist vollständig unterschlagen wird (vgl. Meyer/Schützwohl: Einführung, S. 115 ff.), trifft diese Kritik ins Leere. 248 Dieter Birnbacher: Der Streit um die Lebensqualität, S. 136. 249 Ebd. 250 »Angenehme innere Zustände«, so expliziert Birnbacher, »sind nicht die Zustände, die jeder jederzeit haben will. Wenn ich z. B. arbeiten will, sind angenehme Zustände keineswegs das, was meine Lebensqualität erhöht. Lustgefühle sind nicht in jeder Lebenssituation willkommen und Schmerzen nicht in jeder unwillkommen.« (ebd.) 251 Es sei, so ermahnt er, »nicht immer ganz leicht, die Dimension der reflexiven Bewertung eines inneren Zustands von der sensorischen Qualität dieses Zustandes abzutrennen. Ein Schmerz, von dem man weiß, dass er nach kurzem nachlässt, ›fühlt‹ sich dadurch möglicherweise auch anders an als ein Schmerz, von dem man weiß, dass er einen auf Dauer begleiten wird.« (ebd.)

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sie auch Klein implizit zu vertreten scheint, entbehrt gleichwohl nicht einer erheblichen Plausibilität: »So sieht Glück aus. Wie alle Gefühle nimmt es seinen Ausgangspunkt ebenso sehr im Körper wie im Gehirn. Denn Wohlbefinden entsteht erst dann, wenn das Gehirn die richtigen Signale von Herz, Haut, Muskeln empfängt und deutet. […] Das Glück entspringt also mindestens ebenso sehr unserem Körper, Armen und Beinen, Herz und Haut, wie unseren Vorstellungen und Gedanken.« 252

Versuchen wir, statt uns auf mögliche Sonderfälle sei es vorgängiger (sensu Lazarus), sei es nachträglicher (sensu Schachter/Singer) reflexiver Prozesse zu versteifen, das bisher auf dem Felde der Emotionspsychologie zwischen den Eckpfeilern der physiologischen und kognitiven Modellentwürfen zusammengeraffte Wissen Revue passieren zu lassen und auf das Glücksgefühl zu fokussieren: Zunächst suchten wir Distanz zu den physiologischen Gefühlstheorien, welche Gefühle entweder mit dem Erleben körperlicher Veränderungen, den durch äußere Reize kausal verursachten Sinnesempfindungen (Genuss, Lust) oder aber mit biochemisch stimulierbaren Reizungen bestimmter Hirnareale identifizieren. Wo Freud, die Sexuallust zum Inbegriff und Maßstab menschlichen Glücks schlechthin stilisierend, die Erlangung eines inneren homöostatischen Gleichgewichts kraft der Aufhebung sämtlicher Mangelzustände empfiehlt, lenken Molekularbiologen unsere Aufmerksamkeit auf chemische Transmittersubstanzen wie Noradrenalin oder Dopamin, welche in Form von »Glückspillen« wohlbefindensrelevante Prozesse im sogenannten »Glückssystem« der linken Hirnhälfte in Gang zu bringen vermöchten. Weil im Unterschied zu Sinnesempfindungen sämtliche Gefühle propositionalen Charakters sind, favorisierten wir vor solch naturalistischen Kausalmodellen das von den kognitiven Gefühlstheoretikern applizierte intentionale, bei welchem die Gefühlsursache klar vom -gegenstand unterschieden und letzterer als konstitutiv für die Bestimmtheit und Qualität des Gefühls betrachtet werden muss. Um glücklich zu sein, reicht es infolgedessen niemals aus, die Mundwinkel zu einem exakt einstudierten Dauerlächeln hochzuziehen oder mittels Pillen euphorische Zustände zu induzieren, wie die Gefühlsphysiologen vermeinen. Die gefühlstheoretische Komplementärklasse zu den eindeutig gegenstandsbezogenen Gefühlsregungen: die weniger strukturierten Stimmungen, klammerten wir vorerst aus. 252

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Anders als bei der leiblich-sinnlichen Lust eines vom intentionalen Lebens- und Erlebniszusammenhang vollständig isolierten Tastoder Geschmackssinns wird affektives Erleben beim Menschen einerseits zumeist durch kognitive Gedächtnisprozesse des zentralen Nervensystems evoziert (Ursache), und basiert andererseits wesentlich auf reflexiven Prozessen, die in der Gesamtpersönlichkeit verankert und mit ihren Werten und Zielen untrennbar verknüpft sind (Grund, Wesen des Gefühls). Wenn Soziologen und Psychologen heute vermehrt vor einer »Tyrannei der Intimität« 253 warnen, hat man den insbesondere in Amerika (namentlich in Kalifornien) um sich greifenden infektuösen Intimitätskult im Auge, der die psychologischen und soziologischen Bedingungen einer bisher nur im Krankheitsfall einer Thalamusläsion begegneten »emotionalen Inkontinenz« 254 schafft. Nach allzu langer Zeit der Beherrschung oder gar Unterdrückung des inneren Trieb- und Gefühlslebens wird diese repressive Tendenz nach Viktor Frankls Diagnose heute derart überkompensiert und ins maßlos Permissive pervertiert, dass die forciert zu äußernden Gefühle akut in Gefahr geraten sind. 255 Wird auch zu Recht aus dem nachfreudschen Zeitalter etwa die sexuelle Heuchelei verbannt und erschallt allerorts der eindringliche Appell: »Jedes Gefühl heischt seine Äußerung, und jedes Bedürfnis seine Befriedigung«, ignoriert man doch bei diesem Ruf nach distanz- und bedingungsloser Gefühlsäußerung den konstitutiven Propositionalitätscharakter von Gefühlen, welcher sich im 253 Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (ausführlich zitiert in Kapitel 2.2). 254 Vgl. zu den Aberrationsformen menschlicher Affektivität auch Blankenburg: »Zu den Störungen der Affektivität im engeren Sinne gehören zum Beispiel: ›Affektlabilität‹, ›Affektdurchlässigkeit‹, ›Affektinkontinenz‹. Dabei handelt es sich um eine zunehmende Labilisierung der affektiven Ansprechbarkeit im Rahmen von hirnorganischen Psychosyndromen (z. B. bei älteren Menschen).« (Blankenburg: Affektivität und Personsein, S. 309) 255 »Gerade die angelsächsische Bevölkerung war viel zu lange Zeit unter dem Einfluss einer puritanischen Moral gestanden, die nicht nur die Beherrschung des Gefühls verlangt, sondern auch die Unterdrückung einer Gefühlsäußerung gefordert hatte. Analoges gilt von der Verdrängung der Sexualität. Seit Jahr und Tag jedoch wird diese Tendenz überkompensiert, und der gegenwärtige Trend ist, ins andere Extrem zu verfallen. […] Jedes Gefühl heischt seine Äußerung, und jedes Bedürfnis seine Befriedigung. Wir haben es mit einer emotionalen Inkontinenz zu tun, wie wir ihr im allgemeinen nur in Fällen von Thalamusläsion begegnen, in denen der Patient ohne adäquaten Anlass weinen oder lachen muss und dann eine Zeitlang nicht mehr aufhören kann, es zu tun.« (Viktor E. Frankl: Der Wille zum Sinn, S. 227 f.)

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»sensitivity training« oder in der »encounter group« schwerlich konstruieren lässt, ebenso wie deren notwendige mitteilungsbezogene, sozial eingeübte Ausdrucksgestaltung. Zur Eindämmung einer eskalierenden »emotionalen Inkontinenz« erscheint Scheeles engagiertes Plädoyer für eine »differenzierte reflexive Gefühlskultur«, die auf die »reflexive Möglichkeit des Menschen, Gefühle haben zu können, ohne sensorisch empfinden zu müssen«, den Ton legt, gerade in Sachen Glück dringend geboten: 256 Bei diesem onto- wie phylogenetischen Spätprodukt des emotionalen Sozialisationsprozesses, in der Prototypenordnung der Gefühle (neben »Eifer« und »Stolz«) als Ausdifferenzierung der »Freude« fungierend – welche neben »Liebe« ihrerseits eine Spezifizierung der emotional basalen »Lust« (neben »Unlust«) darstellt –, kann eine radikale Absage an sämtliche kulturellen, sprachlich-symbolischen und kognitiven Gefühlsanteile leicht eine regressive Diffusion des Phänomens zeitigen. Obgleich in methodischer Hinsicht der Ausgang vom alltagssprachlichen Glücks-Verständnis wie bei allen höherstrukturierten, sprachlich-kognitiv modellierten Gefühlen unstreitig Sinn macht, weil menschliches Erleben und Fühlen immer auch sprachlich begründet ist, 257 hat die Forschung unbedingt Begriffsentdifferenzierungen einen Riegel vorzuschieben, statt »die Zufälligkeiten und subjektiven Schwankungen individueller Glücksbegriffe« blind nachzuzeichnen, »ohne sie erklären zu können« 258 . Nachdem im Zuge der »Kognitivierung der Emotionspsychologie« in den 60er Jahren ans Licht trat, dass sich Gefühle nicht verstehen lassen, wenn nicht die wesensmäßigen, gefühlskonstitutiven Kognitionen, die im Gefühl implizierten kognitiven Momente des aktualisierten Welt- und Selbstbezugs zutage gefördert werden, ist augenscheinlich wenig damit getan, wie Hoffmann in ihren theorierenitenten Studien die einzelnen Faktoren unseres subjektiven Glückserlebens gewissenhaft zu zerpflücken und die Situationen seines Auftretens zu klassifizieren. Die elementaren Erkenntnisse der allgemeinen Gefühlstheorien auf den Glücksdiskurs applizierend, braucht der Mensch, um die von Hoffmanns Probanden als »Glück« ins Bild gesetzten Einheitsgefühle mit der Welt empfinden zu können, nicht immerfort von einer geliebten Person umarmt zu werden oder im trance-Zustand seine 256 257 258

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Vgl. Scheele: Emotionen, S. 41 (vgl. das Zitat S. 209). Vgl. oben, S. 191. Vgl. Mayrings methodenkritische Reflexionen in: Psychologie des Glücks, S. 63.

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schöpferische Kraft fließen zu spüren, weil diese gar nicht notwendig auf sensorische Reize angewiesen sind, sondern zumeist auf mentalen Prozessen der Erinnerung oder Antizipation beglückender Ereignisse beruhen. Obgleich unser Glücksgefühl, das im Kontrast zur Sinneslust statt einem psychophysischen Mangel einer produktiven Tätigkeit entspringt, anders als die »Freude über etwas« oft nicht auf ein ganz bestimmtes benennbares Objekt oder Ereignis gerichtet ist, stellt es doch immer die Begleiterscheinung eines intentionalen Lebensvollzugs, einer »produktive[n] Orientierung sich selbst und der Außenwelt gegenüber« dar, wobei die selbstgesetzten Ziele und Aufgaben als durchaus konstitutiv für dieses aufgefasst werden müssen. Wie kulturanthropologische Vergleichsstudien zeigen, wird unser Glücksgefühl wesentlich durch soziokulturell geformte, reflexiv einholbare Weisen des Weltverhältnisses geprägt; durch eine umfassende Welt- und Lebensanschauung als Orientierungsrahmen unseres Fühlens nicht weniger als unseres Handelns – der trotz postmodernen Proklamationen eines Endes aller »großen Metaerzählungen« mutmaßlich eine Residualexistenz fristet. Im emotionalen Sozialisationsprozess kristallisieren sich die Arten unseres allein im Medium der Sprache akkurat fasslichen und mitteilbaren Glücksgefühls heraus – sofern sie nicht im »sensitivity training« entgrenzt und somit wieder wegtrainiert werden –, untrennbar verknüpft mit bestimmten Situationen, in denen wir Glück bevorzugt empfinden und den ihm zugrundeliegenden maßstabbildenden Wertvorstellungen der entsprechenden Weltbezüge. Während beispielsweise in Afrika Glück wesentlich konfliktfreie Ruhe und In-Ruhe-gelassenWerden zu bedeuten scheint, stehen in unserem Kulturkreis die Qualität menschlicher Beziehungen, das kraftvolle Gelingen schöpferischer Aufgaben oder Leistungssituationen im Zentrum eines Glücks der Nähe, Offenheit, Einheit und der gesteigerten Reaktionsbereitschaft. Die in Hoffmanns Studie als Quelle des Glücks figurierenden Naturerlebnisse indes implizieren meines Erachtens ähnlich wie Kunsterlebnisse (Tanz) ein ästhetisches, interesseloses Wohlgefallen, bei dem alle unsere geistigen und sinnlichen Kräfte harmonieren, das aber genauso vom Glück unterschieden werden sollte wie die rein sinnlichen Vitalgefühle des Sports oder die Entspannungszustände dank Meditation. 259 259 Alle vier Anlässe (Naturerleben, Tanz, Sport, Meditation) werden in der empirischen Studie Hoffmanns als Situationen angeführt, in denen Menschen bevorzugt

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Zur Vermeidung von Einseitigkeiten und Radikalismen, wie sie seitens der Kognitivisten nicht minder als seitens der Physiologen grassieren, erwiesen sich die Zwei-Faktoren-Modelle von Aristoteles und Schachter/Singer als besonders geeignet: Ein Gefühl von Glück, vom Physiologen hinsichtlich des psychophysischen Erregungszustandes quantitativ bestimmt (Materie, Quantität) – gemäß Hoffmanns Studie als energetische Geladenheit und äußerste Sensibilisierung aller Sinne –, lässt sich allein aufgrund des qualitativen Moments des jeweiligen aktualisierten Weltverhältnisses in seiner Differenziertheit und Spezifität begreifen (Form, Qualität), ohne dass die Form vom Stoffe zu trennen wäre. Gegenüber zahlreichen zeitlichen Sequenzierungsversuchen von Kognition und Emotion hegten wir demzufolge Zweifel, weil einerseits aus einem expliziten, vorgängigen sozialen Vergleich oder dem bewussten Abwägen unserer Lebenslage hinsichtlich unserer individuellen Standards und erreichten Ziele (Lazarus) lediglich die unserem »Glück« den Boden bereitende »Zufriedenheit« resultiert. Zum zweiten ignoriert der von Schachter/Singer geortete Sonderfall einer Gefühlsgenese mit nachträglicher Bewertung angenehmer innerer Zustände die enge Korrelation von sensorischer Qualität und reflexiver Deutung derselben. Der alltägliche Fall der Gefühlsgenese indes, bei welcher der kognitive und physiologische Faktor in Absehung jeder zeitlichen Sequenzierung »vollständig miteinander verwoben sind«, scheint uns – obgleich Schachter/Singer sie leider nicht im Detail ausführen – auf den richtigen Weg bei der Suche nach dem gefühlsmäßigen »genus proximum« von Glück zu lenken: In einer gefahrvollen Situation wie bei der Bedrohung durch einen Bären wird unser im bisherigen Erfahrungserwerb angeeignetes oder gezielt situationsspezifisch erworbenes Hintergrundwissen aktiviert, was eine gefühlsrelevante Einschätzung – etwa: »Die Situation ist gefährlich (für mich)« – Glück empfinden (vgl. Hoffmann: Zur Psychologie, S. 89). Fromm dagegen subsumiert die letztere Art eines meditativ-entspannten Wohlgefühls der »Freude«, angesichts der fehlenden Propositionalität allerdings einer wenig komplexen Form derselben, welche in meinen Augen bereits stark in die Nähe der »Vitalgefühle« rückt: »… Die andere noch zu erörternde Form der Freude basiert nicht auf Anstrengung, sondern auf Entspannung; sie begleitet mühelose, doch angenehme Beschäftigungen. Die wichtige biologische Funktion der Entspannung besteht darin, dass sie den Rhythmus des Organismus, der ja nicht ständig aktiv sein kann, reguliert. Das Wort ›Vergnügen‹ ohne jede weitere Qualifikation ist eine sehr treffende Bezeichnung für diese sich aus Entspannung ergebende Art des Wohlgefühls.« (Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 148)

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evoziert, die ihrerseits eine physiologische Erregung (beispielsweise Furcht) zeitigt. 260 Auch wenn es entgegen dieser Darstellung zweifellos angemessener ist, »sowohl die Erregung als auch unsere Einschätzung als durch die Aktivierung des Situationswissens verursacht zu bezeichnen,« 261 erleben wir ein Gefühl nur dank der Attribution dieser Erregung auf die emotionale Einschätzung. Betreffs des BärenBeispiels würde das Gefühl »Furcht« dementsprechend aufgrund folgender Attribution erlebt werden können: »Ich bin (physiologisch) erregt, weil ich die Situation für gefährlich halte.« Während das in der Attribution unseres psychophysischen Spannungszustandes auf die »gefühlsrelevante Einschätzung« unserer Lage gipfelnde Erleben eines Gefühls dem Fühlenden unstreitig bewusst sein muss, hat sich hinsichtlich aller an der Gefühlsgenese beteiligten kognitiven Prozesse in der psychologischen Forschung die feindselig ausgefochtene »immediacy-awareness«-Kontroverse entfacht. 262 Gegen die Unfruchtbarkeit solcher Spiegelfechtereien opponierend, insistiert Scheele auf der Reflexivität, d. h. Bewusstheit der gegenstandsbezogenen und bedürfnisrelevanten kernintensionalen Bewertungsprozesse (2), über welche das Subjekt des Fühlens Auskunft geben kann, ohne dass es über den Prozess der Gefühlsgenese, das Zustandekommen dieser Bewertungsaspekte Bescheid zu wissen brauchte. 263 Das in unserem Fühlen aktivierte Situationswissen (1) werde indes, wie Scheele zu Recht moniert, von den AntiKognitivisten prätentiöserweise der a-kognitiven Theoriemodellierung zugeschlagen, weil solche Kognitionen (un-gewusst) durchaus präsent, nur nicht reflexiv repräsentiert sind. Prinzipiell seien nämlich folgende Kognitionsarten auseinanderzuhalten: »Nicht-Kognitionen (z. B. physiologische Erregung); unbewusste Kognitionen; präsente, aber nicht reflexiv repräsentierte (›ungewusste‹) Kognitio260 Vgl. dazu Meyer/Schützwohl: Einführung, S. 115 f. mit Berufung auf Schachter, S./ Singer, J. E.: Cognitive, social and physiological determinants of emotional state, in: Psychological Review, Jg. 1962, S. 380. 261 So lautet die kritische Korrektur ebd., S. 116 f. 262 Vgl. zu dieser Kontroverse Scheele, S. 61–66. Meyer/Schützwohl beschließen ihre Erläuterungen zu Schachter/Singers alltäglichem Fall der Gefühlsgenese folgendermaßen: »Möglicherweise laufen die beschriebenen Prozesse normalerweise sehr schnell und unbewusst ab (obwohl Schachter das nicht explizit sagt). Bewusst ist dem Individuum lediglich der resultierende emotionale Zustand.« (Meyer/Schützwohl: Einführung, S. 117). Roth indes taxiert die Klärung des Bewusstheitsgrades von Gefühlen zwar als »dringlich«, aber »derzeit nicht möglich« (Roth: Denken und Fühlen, S. 10). 263 Vgl. Scheele: Emotionen, S. 57.

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nen; reflexive (›bewusste‹) Kognitionen.« 264 Es gelte nach Scheeles dezidiertem Votum daher, diese vorwiegend »kalten Kognitionen«, d. h. unseren kognitiv-deskriptiven Weltbezug, als komplettierende Randintensionen neben den kernintensionalen reflexiven Kognitionen durchaus in Rechnung zu stellen, wenngleich jene bereits hinreichend für die Gefühlsqualität und -differenziertheit seien. 265 Man hat in ihren eigenen Worten »von der ›reflexiven Bewertung‹ als Kernintension des Emotions-Konstrukts auszugehen; das schließt aber keineswegs aus, nicht-reflexive Bewertungsprozesse im Sinne von Randintensionen als komplettierende Aspekte des emotionalen Erlebens mitzuberücksichtigen. Und genau dies ist der epistemologische Lösungsvorschlag: nämlich die Relation zwischen ›gewussten‹ (reflexiven) und ›un-gewussten‹ (gleichwohl vorhandenen) kognitiven (Bewertungs-) Prozessen beim Emotionserleben als Verhältnis von Kern- und Randintension anzusetzten.« 266

Liegt es aber nicht gerade an diesen – von Scheele zu ihren theoriemodellatorischen Zwecken vorsätzlich marginalisierten – nicht-reflexiven Randzonen, dass viele Glückssucher Schiffbruch erleiden? (Ad 1) Wenn wir Gefühle als vernünftig oder unvernünftig taxieren, unterstellen wir offenkundig immer schon einen kognitiven Hintergrund unseres Fühlens – sei er nun zentral und bewusst oder randständig-peripher und ungewusst: »Wir sagen Dinge wie ›Es ist unvernünftig von dir, solche Angst vor ihm zu haben‹, oder ›Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass du so entrüstet bist‹. Aber es ist schwer zu sehen, wie unwillkürliche körperliche Vorgänge oder Körperwahrnehmungen Gegenstand solcher Bewertungen sein könnten.« 267 Die sogenannten »kalten Kognitionen«, die im Unterschied zu »warmen« weder präskriptiv noch bedürfnisrelevant sind, sondern im schlicht deskriptiven Gewande auftreten, 268 werden von Ebd., S. 33 f. Vgl. ebd., S. 62 oder S. 45. 266 Ebd., S. 64. 267 Alston: Emotion und Gefühl, S. 30. 268 Das eigentlich Neue sind bei dieser von Scheele akzentuierten phänomenologischen Unterscheidung wohl lediglich die – gerade in ihrem hochabstrakten Milieu – etwas merkwürdig konkretistisch anmutenden Termini: »Deskriptive Kognitionen sind dann auf jeden Fall dem Bereich des ›kalten Bewusstseins‹ zuzuordnen, während emotional ›warmes Bewusstsein‹ eben durch bewertende Perspektiven konstituiert wird.« (Scheele: Emotionen, S. 63) Der Sache nach macht auch Tugendhat sie in der Gefühlsstruktur trefflich fest: »Jedesmal haben wir erstens einen deskriptiven Tatbestand – etwas wird erwartet, etwas ist gesagt oder getan worden usw. –, der zweitens als gut oder schlecht 264 265

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Scheele zwar als weniger bedeutsam buchstäblich an den Rand gedrängt, von zahlreichen Philosophen aber für unvernünftige, ungerechtfertigte Gefühle verantwortlich gemacht und an den Pranger gestellt. Ungeachtet der für unsere Gefühle zwar sowohl notwendigen wie hinreichenden bedürfnisrelevanten, subjektbezogenen »warmen« Einschätzungen eines Sachverhalts kann augenscheinlich jedes Gefühl allein aufgrund einer Verfehlung des deskriptiven Tatbestandes unter der Hand von einem »wirklichen« zu einem bloß »illusionären« mutieren: Einer Glücks-Chimäre sitzt jeder auf, der sich falsche (kalte) kognitive Vorstellungen von sich und der Welt macht und es somit bei einer wackeligen epistemischen Einbettung seiner Gefühle belässt. »Das illusionäre Glück«, so kommentiert Seel konzis, »ist ein positives Gestimmtsein, das die, die es haben, über die Wirklichkeit ihrer Lage täuscht; wüssten sie um diese Lage, wäre auch das Gefühl des Glücks zerstört.« 269 Wie die Liebe im Spezialfall des Verliebtseins – im Kontrast zur »produktiven Liebe« 270 – erfahrungsgemäß nicht nur im Volksmund »blind« macht, indem sie die geliebte Person in einem glanzvoll-irisierenden Licht erscheinen lässt und die liebende Person damit über ihre wahre Lage hinwegtäuscht, kann man auch in toto eine inadäquate pessimistische oder optimistische Weltsicht entwickeln: Da laut Wladyslaw Tatarkiewicz die Majorität der Menschen weder über hervorragende noch extrem ungünstige Lebensbedingungen verfügt, sind wir alle prädestiniert für die Übernahme genereller fremder Lagebeurteilungen – wie etwa der christlichen Überzeugung von der Nichtigkeit des diesseitigen Lebens relativ zum jenseitigen –, die auf unsere Glücksgefühle mächtigen Einfluss nehmen. 271 für mich oder andere erscheint.« (Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, S. 202) 269 Martin Seel: Glück, S. 147. 270 Vgl. Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 82 ff. Dieser »Spezialfall« ist, da er natürlich den Normalfall repräsentiert, nur speziell im Unterschied zur generellen Weltanschauungs-Illusion. 271 Vgl. Tatarkiewicz’ entsprechende Ausführungen und seine exemplarische Applikation auf die griechische Antike und das christliche Mittelalter: »Und genauso wie Gefühle Meinungen beeinflussen, so können auch umgekehrt Meinungen Gefühle beeinflussen. Nachdem ein Mensch die Meinung entwickelt hat, dass die Welt schlecht ist, wird er sich bereits allein dadurch weniger glücklich fühlen. Derjenige, der in optimistisch gestimmten Zeiten die Schönheit des Lebens empfindet, wird in pessimistischen Zeiten das Elend des Lebens verspüren. Auf diese Weise beeinflussen gewisse Ideen, die die Meinungen direkt beeinflussen, indirekt auch die Gefühle der Menschen und in Abhängigkeit davon, welche im betreffenden Zeitraum vorherrschen – optimistische oder pessimistiA

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(Ad 2:) Daneben existiert unzweideutig eine zweite Quelle möglicher Glücksillusionen, indem jedes uns faktisch widerfahrende oder aber vorstellungsmäßig repräsentierte Ereignis nicht nur randintensional unser entsprechendes Welt- und Selbstwissen aktiviert, sondern kernintensional unser Wertwissen provoziert: »Gefühle drücken«, so erläutert Ursula Wolf, »die Beziehung aus, in der etwas zu der Person/ihrem Leben steht, und zwar nicht irgendeine Beziehung, sondern eine qualitative und wertende Beziehung. Gefühle haben meist eine positive oder negative Färbung, […] und die qualitative Beziehung, die im Gefühl liegt, besteht darin, dass die Person im Gefühl etwas als gut oder schlecht für sich/ihr Leben erfährt.« 272 Eine positive Einschätzung des Referenzobjekts durch den Wahrnehmenden oder Vorstellenden geht mithin einher mit einem lustvollen »positiv gefärbten« Gefühl, eine negative mit einem unlustvollen »negativ gefärbten«. Gegen Wolf ließe sich einwenden, dass ein solch unmittelbarer Bezug zur Person als Subjekt der Wertung durchaus nicht bei allen Gefühlen vorhanden sein muss, gegen Scheele in analoger Weise, dass oft andere als »bedürfnisrelevante« Maßstäbe beim Fühlen ins Gewicht fallen 273 – können wir uns doch beispielsweise auch über den Erfolg eines Fremden freuen oder über Tierversuche in Wut geraten. Indem sich aber Wolf für die Rolle der Gefühle im Leben einer Person interessiert, d. h. soweit Gefühle konstitutiv sind »für den reflexiven Bezug zwischen der Person und allem anderen, dafür, dass alles für das Leben der Person eine Bedeutung hat und sie vor dem Hintergrund hat, dass es der Person um das eigene Leben und das Wie dieses Lebens geht« 274 , ist diese Einschränkung in ihrem Aufsatz zweifellos genauso legitim wie im Rahmen einer Glücksphilosophie: Im Unterschied zur Freude, die sich auch auf den Erfolg oder das Glück eines andern beziehen kann, betrifft das Glück ausschließlich die Relation eines Erlebnissubjekts zu seiner Umwelt. Nun kann dieses ominöse, von Wolf als Spezifikation der präsche –, nimmt das menschliche Leben in deser Periode entweder eine helle oder eine dunkle Färbung an.« (Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 261 f.) 272 Ursula Wolf: Gefühle im Leben und in der Philosophie, S. 114. 273 »Dafür, dass eine ›Katastrophe‹ nicht (nur) ›kalt bewertend‹ gedacht, sondern auch empfunden, d. h. emotiv bewertet wird, ist meines Erachtens ausschlaggebend nötig, dass die bewertungthematischen Ereignisse als bedürfnisrelevante empfunden werden.« (Scheele: Emotionen, S. 40) Allerdings muss zu ihren Gunsten hierbei die Weite ihres »Bedürfnis«-Konstrukts in Rechnung gestellt werden (vgl. unten). 274 Ebd., S. 115.

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skriptiven kernintensionalen Gefühlskomponente auf den glücksgrammatischen Plan gebrachte »gut für mich/mein Leben« entweder bedeuten, dass es für die Erhaltung meines Lebens förderlich ist oder aber, dass es meinem »guten Leben« günstig ist. Während die meisten philosophischen Gefühlstheoretiker darin übereinstimmen, dass ein verfehltes oder unvernünftiges Gefühl durch ein trügerisches Vernunfturteil zustande kommt, haben die einen wie Hume dabei lediglich eine Fehleinschätzung des kausalmechanischen Wirkzusammenhangs unserer lust- oder unlustvollen Gefühle der Zu- oder Abneigung durch die theoretische bzw. pragmatisch-technische Vernunft im Auge (2a), 275 wohingegen die anderen im Anschluss an Platon und Aristoteles eine »verfehlte Lebensform« infolge einer korrumpierten moralisch-praktischen Vernunft wittern (2b). 276 Da sich für den Menschen, der »bewusst und überlegt auf sein Sein strebend ausgerichtet ist«, nicht nur die Frage stellt, was für die Erhaltung seines Lebens gut ist oder mit welchen Mitteln das jeweils Angenehmste aus seinem Dasein herauszuschlagen ist, kann eine »falsche Lust« oder ein »illusionäres Glück« sich nicht nur aufgrund eines irrtümlichen technischen bzw. pragmatischen »warmen« Urteils entfalten, sondern ebenso Ausdruck einer moralisch verwerflichen, in der Gesamtpersönlichkeit verankerten Wertausrichtung sein: »Gut oder besser nennen wir, was wir auf Grund einer Überlegung vorziehen, wünschen und gegebenenfalls wollen«, legt Ernst Tugendhat klar. »Aber nicht einfach im Sinn des Überlebens. Vielmehr haben wir gesehen, dass schon für Aristoteles bei einem Wesen, das bewusst und überlegt auf sein 275 Hume geht davon aus, »dass Affekte der Vernunft nur widersprechen können, sofern sie von einem Urteil oder einer Meinung begleitet werden. Diesem so einleuchtenden und natürlichen Prinzip zufolge kann ein Affekt nur in zweierlei Sinn unvernünftig genannt werden. Erstens, wenn ein Affekt, wie Hoffnung, Furcht, […] auf der Voraussetzung des Daseins von Dingen beruht, die in Wirklichkeit nicht existieren. Zweitens, wenn wir bei der Betätigung eines Affektes Mittel wählen, die für den beabsichtigten Zweck nicht ausreichen, wenn wir uns also in unserem Urteil über Ursache und Wirkung täuschen.« (David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch 2, S. 153) 276 Vgl. zu dieser Differenz Horn: Antike Lebenskunst, S. 152 f. Von Platon heißt es: »Wie Hume meint er, Affekte seien erst aufgrund ihres Meinungsanteils zu beurteilen; anders als Hume versteht Platon aber unter jener Vernunft, an der Affekte orientiert sein sollen, nicht nur ein kognitives Vermögen, sondern zugleich eine Handlungsnorm. Während Hume nur eine Fehleinschätzung von Handlungsvoraussetzungen oder eine falsche Mittelwahl für unvernünftig hält, ist für Platon (wie für die Antike insgesamt) auch eine ›verfehlte Lebensführung‹ Ausdruck von Unvernunft.« (Horn: Antike Lebenskunst, S. 153)

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Sein strebend ausgerichtet ist, sich nicht nur die Frage stellt, was für die Erhaltung des Lebens gut ist, sondern die Frage nach dem guten Leben. Oder modern ausgedrückt und mit einem Begriff, den Heidegger nachher verwendet: es stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wo das Streben nicht wie bei den Tieren lediglich vom jeweils Angenehmen bzw. Unangenehmen bestimmt ist, wo es als Wille auf das Leben ausgerichtet ist, muss es sich auf ein bestimmtes Wie des Lebens, einen Zweck bzw. eine Sinngebung ausrichten, wenn der Wille nicht ins Leere gehen soll …« 277

Unter der Prämisse, dass der Mensch sein Leben nach einem Zweck, einer umfassenden Sinngebung, einer bestimmten Form auszurichten hat (vgl. Kapitel 5.1), kann ihm nach platonisch-aristotelischem wie nach stoisch-epikureischem Rezept niemals unser Glücksgefühl den richtigen Weg zum Glück weisen, sondern immer nur die Einsicht in die wahren Wertverhältnisse, in die richtige Lebensform. 278 Nicht jedes aktuelle subjektive Glücksgefühl indiziert nämlich schon ein tatsächliches Glück, so die Meinung der Alten, sondern nur die Glücksgefühle der Tugendhaften, wie die Analogie zur »falschen« oder »unechten Lust« verdeutlicht: »Wenn man endlich die schädlichen Lüste anbringt, so könnte man sagen, dass es sich da gar nicht um Lust handelt. Sind sie nämlich lustvoll für Menschen in schlechter Verfassung, so muss man annehmen, dass sie es eben nur für diese sind, wie auch bestimmte Dinge nur für Kranke gesund, süß oder bitter sind und nur Augenleidenden als weiß erscheinen.« 279

Obwohl uns ein solcher Tugendrigorismus heute unweigerlich abschreckt, besticht doch die logische Konsequenz des zugrundeliegenden Gedankens auch noch im nachmetaphysischen Zeitalter: Nachdem man in Überwindung physiologischer Gefühlstheorien erkannte, dass der Mensch nicht einfach auf ein homöostatisches Gleichgewicht aus ist wie eine Amöbe, insistieren auch kognitivistische Psychologen bei der Rede von »bedürfnisrelevanten MaßstäTugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, S. 207 f. Ein Affekt stellt sich gemäß der stoischen Gefühlstheorie grundsätzlich immer dann ein, wenn unsere Vernunft einem falschen »warmen« Urteil seine Zustimmung erteilt: etwa die Gier nach Reichtum infolge des affirmierten (irrtümlichen) Urteils, dass Reichtum etwas für uns Begehrenswertes sei. Entgegen einer weitverbreiteten Fehlinterpretation bedeutet »Glück« für die Stoiker zwar Affektlosigkeit, nicht aber Gefühllosigkeit, sondern ein ruhiger, unter Leitung der Vernunft und ihrer richtigen Einsicht stehender Seelenzustand mit durchwegs »gesunden Gefühlen« (eupathiai). 279 Aristoteles: Eth. nic., 1173b, 21–25. Vgl. dazu die Hedonismus-Analyse in Kapitel 4.1. 277 278

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ben« unserer warmen Urteile darauf, das Bedürfnis-Konstrukt »nicht im Sinne klassischer organismischer Explikationen […], sondern als Manifestation einer relativ überdauernden Werthaltung« 280 der Persönlichkeit zu verstehen. Als Gradmesser dessen, was für uns/für unser gutes Leben in einem emphatischen Sinne gut ist, kommen infolgedessen nicht sämtliche Gefühle in Frage – zumal sie zumeist »diffus und einander widersprechend« auftauchen –, 281 sondern nur diejenigen, die sich im Hinblick auf das ihnen allenfalls zugrundeliegende Lebenstelos oder strebensorientierende Wertgerüst reflexiv erschließen lassen. »Wer sich in einer bestimmten affektiven Erfahrung verstehen will«, so konkludiert Wolf, »müsste demnach versuchen, die Komplexität der äußeren und inneren Situation auf ein bestimmtes telos hin darzustellen, durch dessen Erreichen bzw. Nicht-Erreichen der positive Affekt verständlich wird.« 282 Versuchen wir, den Gedankengang zu verdichten: In jedem Gefühl manifestiert sich nicht nur kernintensional eine subjektive Beurteilung des uns faktisch Widerfahrenden oder mental Repräsentierten hinsichtlich dessen, ob es gut oder schlecht, speziell »für uns/für unser Leben« sei, sondern dieser »warme« kognitive Anteil eines aktuellen Gegenstandsbezugs macht die Qualität und Differenziertheit unseres Gefühls schlechthin aus. Von einer Beurteilung eines zukünftigen Ereignisses als gefährlich (für uns) oder seiner affektfreien Erwartung unterscheidet sich beispielsweise das Gefühl der Furcht im Grunde lediglich darin, dass trivialerweise »in ihr das künftige Übel zu einem jetzt empfundenen wird.« 283 Um die oft diffusen und schwankenden oder uns gar infolge falscher warmer sowie kalter Kognitionen irreleitenden Gefühle verstehen und explizieren zu können, gilt es daher, die Aufmerksamkeit auf den reflexiven Bezug zwischen einer komplexen Person und ihrer Umwelt zu lenken. EntScheele: Emotionen, S. 40. Vgl. Steinfaths Reflexionen: »Etwas ist dann gut für uns, wenn es in uns bestimmte positive Gefühle hervorruft, […] Gefühle fungieren dann eher als Anzeige denn als Grund dafür, dass etwas gut (oder schlecht) für uns ist. Doch häufig sind unsere Gefühle diffus und einander widersprechend; nicht selten fühlen wir uns von etwas oder jemand gleichermaßen angezogen wie abgestoßen …« (Holmer Steinfath: Selbstbejahung, Selbstreflexion und Sinnbedürfnis, S. 74) 282 Wolf: Gefühle, S. 116. Vgl. auch Nussbaum, die zwar grundsätzlich mit diesen logischen Folgerungen übereinstimmt, merkwürdigerweise aber dennoch daran festhält, Gefühle seien geeignet, »etwas zur Meinungsbildung beizutragen« (Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 150). 283 Tugendhat: Selbstbewusstsein, S. 202. 280 281

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sprechend scheint auf der Suche nach dem, was für uns in einem unübertreffbaren Maße gut ist und somit das als intensivstes positivstes Gefühl erlebte »Glück« impliziert, weniger unseren Gefühlen selbst als den zugrundeliegenden Werthaltungen ein methodischer Primat zuzukommen. Ob ein höchst positiv erlebtes Glücksgefühl hinsichtlich unserer »warmen Kognitionen« vernünftig und gerechtfertigt oder unvernünftig und illusorisch sei, lässt sich also niemals am Gefühl selbst erkennen – welches ja immer nur unsere begründete oder unbegründete Relevanzeinschätzung des Sachverhalts anzeigt –, sondern erfordert eine Erhellung der impliziten Wertungsweise. Konzentriert man sich auf diese implizite, kernintensional aber durchaus bewusste »warme Wertungsweise«, kann man sich offenkundig prinzipiell nicht nur in seinem pragmatisch-technischen Urteil über den kausalmechanischen Wirkzusammenhang unserer lustheischenden oder um unser Dasein bangenden Gefühle täuschen, sondern auch im moralisch-praktischen Urteil, dass das Angenehme, das Vergnügen ein Gut für uns darstelle: 284 »Gut« kann nämlich, wie sich zeigte, für das sowohl in vertikaler wie horizontaler Hinsicht hochkomplexe Wesen Mensch, das seinem Leben bewusst eine Form, eine Richtung, ein Ziel zu geben hat, weder das ihn bloß am Leben Erhaltende noch das seinen augenblicklichen Bedürfnissen angenehm Schmeichelnde bedeuten (2a) – weshalb mit den entsprechenden affirmativen Urteilen immer nur ein »illusionäres Glück« einhergehen kann –, sondern es verweist uns vielmehr weiter auf die Frage nach dem »guten Leben« (2b). Sowie aber das für die positive Qualität unserer Gefühle ausschlaggebende »gut für uns/für unser Leben« in den Rahmen einer Konzeption eines moralisch-praktischen »guten Lebens« einer Gesamtpersönlichkeit gestellt werden muss, dreht man sich augenscheinlich in einem vitiösen Zirkel, wenn man heute gemäß Taylors Diagnose gemeinhin dieses »gute Leben […] definiert in Begriffen emotionaler Befriedigung.« 285 Wie wäre diesem Zirkel zu entrinnen? (Ad 2b:) Entgegen dem ersten Anschein handelt es sich beim fraglichen Konzept eines »guten Lebens« als Horizont unserer be284 Mit dem »Leben als solchem« bzw. dem »bloßen Überleben«, bei den Stoikern in der Regel den »bevorzugten Adiaphora« subsumiert, verhält es sich wohl so, dass es zwar kein eigentliches »Gut« darstellt, aber durch die Ermöglichung eines »guten Lebens« doch immerhin ein abgeleitetes. 285 Charles Taylor: Negative Freiheit?, S. 255.

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gründeten und reflexiv einholbaren – sowohl positiven wie negativen – Gefühle keineswegs um eine rein subjektive, technisch-pragmatische Angelegenheit. Ohne dass man gleich Platon oder Aristoteles irgendwelche essentialistischen, metaphysikbefrachteten moralischen Wertmaßstäbe ins Feld zu führen brauchte, kann im Unterschied zum individuellen Erleben unserer Gefühle eine Explikation und Rechtfertigung derselben nur im Rekurs auf kursierende wertdurchsetzte intersubjektive Muster der Lebensdeutung und Selbstexplikation vonstatten gehen. Dies ist aber nur möglich, wenn solche soziokulturelle Vorstellungen vom »guten Leben« oder allgemein anerkannte Zielsetzungen, vor dessen Hintergrund unsere Gefühle einer Klärung zugeführt werden können, bereits vorher internalisiert worden sind. »Die Explikation des Selbstverständnisses ist anders als das Erleben von Gefühlen keine rein subjektive Angelegenheit«, legt Wolf klar; »sie kann nur von intersubjektiven Mustern der Lebensdeutung ausgehen. Genaugenommen ist schon der Inhalt der individuellen Affekte und der Zielsetzungen, auf die hin sie verständlich werden, eine Folge der Internalisierung sozialer Vorstellungen. Diese enthalten nicht nur Lebensorientierungen, sondern zugleich den Anspruch, dass die jeweilige Orientierung die richtige ist. Entsprechend ist auch die individuelle Artikulation eines Lebenstelos nicht nur eine Sache der Artikulation der faktischen gefühlsmäßigen Bewertung; sie enthält darüber hinaus die Frage, wie die gesellschaftlich vorgegebenen Lebenskonzeptionen reflektiert zu bewerten sind.« 286

Scheeles präzise Definition eines Gefühls als »bewertender Bewusstseinszustand, dessen emotive Valenz durch eine fokussierende Aktualisierung eigener, bedürfnisrelevanter Wertmaßstäbe zustande kommt, mit denen Welt-Selbst-Relationen beurteilt werden«, 287 bedarf demnach einer komplettierenden Erweiterung: Da ein explizierbares Glücksgefühl soziokulturell geformte Weisen des Weltverhältnisses und entsprechende intersubjektive Wertmaßstäbe widerspiegelt, verweist die sogenannte »individuelle Bedürfnisrelevanz« weiter auf gesellschaftlich vorgegebene Bedürfniskonstrukte und allgemeine Normen, welche wesentlich für die Art unserer Gefühle mitverantwortlich sind und bei einer kritischen Glückstheorie einer Prüfung unterzogen werden müssen. Zur Vermeidung erneuter kognitivistischer Einseitigkeiten müsste man darüber hinaus viel286 287

Wolf: Gefühle, S. 117. Scheele: Emotionen, S. 97. A

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leicht daran erinnern, dass es sich beim psychophysischen Phänomen »Gefühl« entsprechend unserer anfänglichen Begriffserklärung um ein bewusstes »Erleben einer Erregung (Spannung) oder Beruhigung (Entspannung)« handelt. 288 Auch wenn wir uns mittels dieser allgemeinen gefühlstheoretischen Erkenntnisse Klarheit über den Bewertungshorizont des Glücksgefühls verschaffen konnten, scheinen solche zeitlich begrenzte, vorübergehende Gefühls-Zustände einer psychophysischen Spannung oder Entspannung im Kontrast zur zeitlichen Stabilität des Glücks zu stehen, die wir neben der transsubjektiven Normativität zu Beginn dieses Kapitels als Erkennungsmerkmal von »Glück« und »Zufriedenheit« statuierten. 289 Es drängt sich angesichts dessen die grundsätzliche Frage auf, ob einzelne kernintensional gewusste und positiv taxierte Welt-Selbst-Bezüge – wie etwa eine erfüllende Interaktion innerhalb der Partnerschaft oder ein aktuelles Erfolgserlebnis – ausreichend für einen »glücklichen« Bewusstseinszustand sind, oder ob es sich dann immer nur um »Freude« handelt. Während wir aufgrund des bisher Entwickelten keine Schwierigkeiten mehr haben, »Glück« gegenüber subjektivem Wohlbefinden wie der Lust, dem Vergnügen oder Genuss abzugrenzen, die im Gegensatz zum intentionalen, nicht-illusionären Glück oder der echten Freude eng mit Sinnesempfindungen liiert und kausal induziert sind, ist die Demarkation zur Freude neu zu überdenken. Sowie die eingangs angeführte transsubjektive »normative Komponente« betreffs unseres »guten Lebens« als Abgrenzungskriterium zur »echten«, d. h. gerechtfertigten »Freude« disqualifiziert werden muss, weil diese von derselben Qualität und Differenziertheit ist wie das »Glück«, verbleibt lediglich die Signatur der Transsituativität und zeitlichen Stabilität des Glücks: Wenn der als Glücksgefühl gekennzeichnete Bewusstseinszustand eines vernünftigerweise als höchst positiv eingeschätzten Welt-Selbst-Bezugs anders als das Gefühl der Freude »über die aktuelle Situation hinaus[weist]« 290 und dessen zeitliche Grenzen sprengt, ließe sich dann das Glück als Summe positiver, freudvoller gefühlsmäßiger Einstellungen zu verschiedenen Sachverhalten, als 288 Scheeles Definition widerspricht wohl nicht unbedingt dieser S. 182 präsentierten Begriffsexplikation, sondern akzentuiert entsprechend ihrem kognitivistischem Ansatz lediglich, dass dieses Erleben bewusst ist und durch eine (ebenfalls bewusste) Bewertung des spannungsauslösenden Ereignisses konstituiert wird. 289 Vgl. S. 184 f. 290 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 75.

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»stetige oder integrierte Erfahrung von Freuden« 291 begreifen? Oder kann das Sich-Freuen ohne Integrationsanstrengungen einfach durch Wiederholung »zur Gewohnheit« werden und uns damit dauerhaftes Glück bescheren, wie Neurophysiologen postulieren und dem Glückskandidaten infolgedessen raten, »positive Emotionen zu kultivieren und negative Gefühle im Zaume zu halten« 292 ? Um der Klärung dieser brisanten Frage willen gilt es, einen Blick zu werfen auf die analytische Scheidung der Gefühlszustände in »Gefühlsregungen« und »Stimmungen«, welche unser glücksgrammatisches emotionspsychologisches Teilkapitel auf eine höhere Präzisionsstufe zu lancieren verspricht: Freude als prototypischer Fall einer Gefühlsregung stellt einen vorübergehenden, gemäß der empirischen psychologischen Forschung eine bis mehrere Stunden dauernder Gefühlszustand mit engem situativem Bezug dar, 293 bei welchem das im Sozialisationsprozess internalisierte »emotionale Schema« mit der entsprechenden spezifischen kulturellen »Wertbindung« an das Bezugsobjekt reaktiviert werden. Dabei hänge die »Promtheit und Intensität einer emotionalen Reaktion […] ganz wesentlich vom Grad der Passung (Entsprechung) zwischen Ereignis (Wahrnehmung) und entsprechenden Leerstellen der emotionalen Schemata ab.« 294 In qualitativer Hinsicht können den in Gefühlsregungen zum Ausdruck kommenden Wertbindungen ganz allgemein tradierte Werte des Guten, Wahren und Schönen zugrunde liegen wie beispielsweise das Wohlergehen von Kindern – welches je nach Situation entweder Freude oder Mitgefühl provoziert –, ohne dass diese in individuellen, sich aus sozialen Mustern und Vorstellungen von »gutem Leben« rekrutierenden Lebenskonzeptionen verankert sein müssen:

291 Freude und Glück unterscheiden sich auch nach Fromm »nicht in der Qualität, sondern nur insofern, als Freude sich auf einen einzelnen Akt bezieht, während man vom Glück sagen kann, es sei eine stetige oder integrierte Erfahrung von Freuden.« (Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 147 f.) 292 Klein: Die Glücksformel, S. 78. 293 Vgl. Pekrun: Emotion, S. 117 oder Ulich/Mayring: »Die Gefühlsregungen […] sind vorübergehende emotionale Zustände von meist kurzer Dauer (wie z. B. Wut), die durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst werden, einen ›Einsatz‹ sowie ein Auf- und Abklingen haben. Es können mehrere Gefühlsregungen gleichzeitig, auch in einem Mischungs- oder Ambivalenzverhältnis auftreten.« (Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 29) 294 Ebd., S. 85.

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»Kulturelle Bedeutungszuschreibungen und Bezugspersonen vermitteln, was uns als wertvoll oder wertlos, relevant oder irrelevant erscheinen soll. Wir lernen, in was wir involviert sein sollen oder nicht, wir lernen, was als das ›Gute, Wahre und Schöne‹ anzusehen ist. Wertbindungen lösen in einem hohen Maße die biologischen Notwendigkeiten der frühesten Kindheit ab […]. Wertbindungen sind, zusammenfassend, die evaluative Komponente von emotionalen Schemata, sie repräsentieren den Präferenzaspekt.« 295

Obgleich es zweifellos nahe läge, unser Glück, bei dem wir in der Regel keinen klaren singulären Gegenstandsbezug festzumachen verstehen wie bei freudigen Gefühlsregungen, als Summierung von Erlebnissen intensivster Freude zu begreifen, sofern sie nur einen persönlichen Welt-Selbst-Bezug im Rahmen unseres »guten Lebens« tangieren, macht doch gemäß den bisherigen Erörterungen das (bewusste) Addieren und Abwägen von positiven und negativen Faktoren allenfalls die Qualität der für unser Glück konstitutiven Zufriedenheit aus. Wenn das Glück in seiner Transsituativität und zeitlichen Stabilität anders aufgefasst werden soll denn als Aggregat oder auch integrierte Ganzheit heiterer Einzelereignisse, könnte es als Stimmung, als Dauertönung unserer »Momentanverfassung« gleichsam den komplementären randintensionalen Hintergrund zu Gefühlsregungen der Freude abgeben. Wie bereits Ende des zweiten Kapitels erörtert, sind an der Gefühlsgenese neben dem Außenwelt-Reiz oder Ereignis (1) und dem situativen Kontext (2) nämlich wesentlich die »emotionalen Schemata« (3) sowie die »Momentanverfassung« einer Person (4) beteiligt, wobei unter »Momentanverfassung« neben dem erwähnten kognitiven (kalten) Hintergrundwissen »Stimmungen, Überzeugungen, Bedürfnisse, Handlungspläne und körperliche Zustände« zu rubrizieren sind. 296 Stimmung, die somit als aussichtsreicher »genus-proximum«-Kandidat des Weltverhältnis-Glücks vorzugsweise unser Interesse verdient, definiert Ulich als »diffusen, wenig gegliederten, atmosphärischen Hintergrund des Erlebens« ohne Referenzobjekt oder -ereignis, als »Dauertönung des Erlebnisfeldes«, 297 was Kennys gefühlstheoretischen Ausschluss der Stimmungen zu rechtfertigen scheint. Mittels Scheeles Modellvorgaben aber ließe sich vielleicht angemessener von einer Verlagerung von 295 296 297

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Ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 29.

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kernintensionalen gegenstandsbezogenen Bewertungsprozessen bei Gefühlsregungen wie der Freude (speziell etwa der Genugtuung nach erfolgreicher Aufgabenbewältigung) 298 hin zum randintensionalen Kognitionshintergrund bei Stimmungen wie Glück sprechen, 299 ohne dass man dabei einen aktuellen, freudeerregenden Weltbezug zu negieren hätte. Denn freilich kann auch dieser Hintergrund gelegentlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten, können »Stimmungen auch selbst ›Figur‹ werden und das Bewusstsein dominieren, so z. B. wenn jemand klagt, er fühle sich seit Wochen depressiv.« 300 Konsultiert man hingegen Martin Heidegger, den Stimmungsspezialisten unter den Existenzphilosophen, erblickt auch er den Vorzug der Stimmungen vor den Gefühlsregungen gerade in ihrem Mangel an Gegenstandsbezogenheit und Gerichtetheit, in ihrer absoluten Rätselhaftigkeit und Undurchdringlichkeit, die uns vor das nackte »Dass« unseres Lebens wirft: »Auch wenn Dasein im Glauben seines ›Wohin‹ sicher ist oder um das ›Woher‹ zu wissen meint in rationaler Aufklärung«, ändere dies nichts am phänomenalen Tatbestand, dass die Stimmung das Dasein vor das Dass seines Da bringt, als welches es ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt.« 301 Geriete also in einer glücklichen Stimmung jeder konkrete Welt-Selbst-Bezug aus dem Auge, den wir mittels unserer »bedürfnisrelevanten Wertmaßstäbe« begutachten könnten? Wie phänomenal triftig Heideggers Charakterisierung der Stimmung als Geworfenheit in die Unausweichlichkeit des Existierenmüssens mit Blick auf die ihn vornehmlich interessierenden negativen Stimmungen wie Angst, Langeweile oder Depression vordergründig sein mag, verstellt sie doch meines Erachtens leicht das

298 Fromm oszilliert bei seiner Charakterisierung der »Genugtuung« wie zufällig zwischen »Form der Lust« und »Form der Freude«. Je nach dem zugrundeliegenden Wertmaßstab (Lustprinzip oder »gutes Leben«) kann es aber wohl in der Tat beides sein: »Etwas zu erreichen, das man sich vorgenommen hat, schafft Genugtuung, auch wenn die Aktivität selbst nicht unbedingt produktiv ist […]. Ein Mensch kann ebensoviel Genugtuung in einer guten Tennispartie wie in geschäftlichen Erfolgen finden. Wesentlich ist nur, dass die Aufgabe, die er durchführen will, eine gewisse Schwierigkeit bietet und dass er ein befriedigendes Ergebnis erreicht.« (Fromm: Psychoanlayse und Ethik, S. 148) 299 Vgl. zu dieser bereits erläuterten Relation von kern- und randintensionalen kognitiven Prozessen Scheele: Emotionen, S. 64. Scheeles Degradierung der Stimmungen zu »Vorformen« von Gefühlen scheint mir ungerechtfertigt (vgl. ebd., S. 57). 300 Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 29. 301 Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 136.

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Verständnis zu positiven Stimmungen wie Heiterkeit oder Glück. 302 Während Heidegger den welterschließenden Charakter der (negativen) Stimmungen lediglich in der Abwesenheit jeglichen bestimmbaren und artikulierbaren Weltbezugs festmacht, wodurch das Ganze der Welt, unser In-der-Welt-Sein in ihnen nur negativ gegeben wäre, 303 setzt Tugendhat gerade an, den positiven Strukturzusammenhang von Stimmungen zutage zu fördern: »Dieser besteht darin, dass es – was ja eigentlich selbstverständlich ist – eben das Sein ist, um das es geht, das als solches in der Stimmung als zu-seiendes erfahren wird. In der Stimmung erleiden wir den Rückstoß des Erfolgs und Misserfolgs unseres Wollens und Wünschens. Und insofern ›geht es‹ uns ›gut‹ oder ›schlecht‹. Wenn schließlich unser Wollen und Wünschen gar keinen Angriffspunkt mehr findet, wenn nichts mehr einen Sinn hat, ergibt sich eine Stimmung der Depression oder Verzweiflung.« 304

Gegen Kennys Diskreditierung der Stimmungen wendet Tugendhat zu Recht ein, dass »in dem Weltbezug der Stimmungen zwar auch ein Gegenstandsbezug, aber ein offener, unbestimmter« liege, der Kenny lediglich entgangen sei, weil er in Ermangelung eines Begriffs von Welt bzw. Handlungssituation »nur die Alternative zwischen objektbezogenen Gefühlen auf der einen Seite und bloßen Empfindungen (sensations) auf der anderen« kenne. 305 Der in Stimmungen sehr wohl vorhandene Weltbezug entpuppt sich mithin insofern als offen und unbestimmt, als im Gegensatz zu Gefühlsregungen hier nicht einzelne Welt-Selbst-Bezüge zur Bewertung gelangen, sondern die Ausrichtung unseres Wollens und Wünschens insgesamt, unsere komplexe Lebens- und Handlungssituation, das In-der-Welt-Sein als solches. Gehen wir also bei Gefühlsregungen wie der Freude ganz in dem uns positiv affizierenden Sachverhalt auf, tritt bei Stimmungen wie Glück die »Konfrontation mit sich in den Vordergrund« 306 , 302 Gemäß Tugendhat ist dabei »offensichtlich, dass Heidegger in § 29, wo er von der Befindlichkeit handelt, diese Phänomene im Auge hat« (Tugendhat: Selbstbewusstsein, S. 204 f.). 303 »In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Dasein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überantwortet wurde als dem Sein, das es exsistierend zu sein hat. Erschlossen besagt nicht, als solches erkannt. Und gerade in der gleichgültigsten und harmlosesten Alltäglichkeit kann das Sein des Daseins als nacktes ›Dass es ist und zu sein hat‹ aufbrechen. Das pure ›dass es ist‹ zeigt sich, das Woher und Wohin bleiben im Dunkel.« (Heidegger: Sein und Zeit, S. 134) 304 Tugendhat: Selbstbewusstsein, S. 208. 305 Ebd., S. 206. 306 Vgl. Tugendhat: »Während nun in den Affekten im engeren Sinn die Person auf den

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wobei allerdings das konkrete, situativ und zeitlich begrenzte »Sichrichten auf« der Gefühlsregungen immer schon durch unsere sich in der Stimmung manifestierende, positiv oder negativ getönte Werthaltung und Handlungseinstellung gegenüber dem Leben als Ganzes bedingt und stimuliert wird. »Die Stimmung hat je schon das In-derWelt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf … allererst möglich«, verlautbart übereinstimmend Heidegger, so dass Stimmungen offenkundig den »Bezugsrahmen auch für Gefühlsregungen« abgeben. 307 Stellt man jemanden vor die Stimmungs-Frage »Wie ist dir, wie geht es dir, wie fühlst du dich?«, erwartet man denn auch nicht die Antwort »worüber«, als vielmehr »warum« man gewisse Gefühle empfindet: 308 »Die genannten Fragen ›wie geht es dir?‹ usw. setzen eine einheitliche Gesamtbefindlichkeit voraus, und die Art der Frage (›wie ist dir?‹) scheint zu bezeugen, dass es sich nicht einfach um irgendeinen Zustand der Person handelt, sondern um die Zuständlichkeit, in der die Person mit sich konfrontiert wird; das aber kann nur heißen: mit ihrem Leben, ihrem Zu-Sein.« 309

Das »Warum«, dieser tiefere Grund unseres Fühlens, in welchem sich im Falle der Glücks-Stimmung die Einschätzung unserer gesamten Lebenssituation als gut und sinnvoll manifestiert, kann nun entweder als Ingredienz unserer »Momentanverfassung« neben dem bereits erwähnten »kalten« Situationswissen randintensional und unwillkürlich-ungewusst unseren ereignisbezogenen Gefühlsregungen eine positive Färbung verleihen, oder aber im Extremfall einer ausschließlichen wertenden Hinwendung zu unserem Zu-Sein als solchem unser Bewusstsein förmlich beherrschen. Wiederum sehen wir uns vor die interpretatorische Crux gestellt, ob der Ge-Stimmte nun im letzteren Fall ganz bewusst mit seinem Leben, seinem ZuSein konfrontiert und gleichsam zur Stellungnahme herausgefordert wird, oder ob wir vielmehr von unseren – sei es glücklichen, sei es jeweiligen Sachverhalt bezogen ist und sich nur miterfährt, sofern sie eben von dem ihr Wohl affizierenden Sachverhalt betroffen ist, tritt die Konfrontation mit sich in den Vordergrund in denjenigen affektiven Zuständen, die man mit Heidegger als Stimmungen bezeichnen kann.« (ebd., S. 204) 307 Heidegger: Sein und Zeit, S. 137 und Ulich/Mayring: Psychologie der Emotionen, S. 29. 308 Vgl. zu den Messverfahren von Stimmungen auf der Grundlage verschiedener Fragebögen zur Selbstbeschreibung etwa Schmidt-Atzert: Emotionspsychologie, S. 43 ff. 309 Tugendhat: Selbstbewusstsein, S. 206. A

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depressiven – Stimmungen nachgerade überfallen werden. »Die Stimmung überfällt«, heißt es lakonisch bei Heidegger. »Sie kommt weder von ›Außen‹ noch von ›Innen‹, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-Seins aus diesem selbst auf.« 310 Will man ihm Glauben schenken, lässt sich das in der Stimmung Offenbarte in keiner Weise reflexiv erschließen, »weil die Erschließungsmöglichkeiten des Erkennens viel zu kurz tragen gegenüber dem ursprünglichen Erschließen der Stimmungen, in denen das Dasein vor sein Sein als Da gebracht ist.« 311 Ähnlich wird im Psychologielexikon die Abhängigkeit unserer Stimmungen von der »körperlichen und seelischen Gesamtverfassung« sowie von unwillkürlich auf uns einwirkenden Umweltfaktoren betont, während sich die bewusste Einflussnahme auf gezielt einsetzbare Stimulanzien wie Musik oder Drogen zu beschränken scheint. 312 Otto F. Bollnow indes, das Glück in der Schicht der gehobenen Stimmungen verortend und Heideggers Monopol negativer Stimmungen brechend, 313 ebenso wie Tugendhat, der Ernst zu machen mahnt mit der von Heidegger selbst ins Spiel gebrachten Divergenz von »lastenden« und »gehobenen« Stimmungen, akzentuiert, die in der Glücks-Stimmung zu Bewusstsein kommende Beurteilung der Form, der Qualität unseres Lebens entspringe einer aktiven und reflexiven Auseinandersetzung mit unserer Umwelt: 314 »Wir unterscheiden das Glück von den bisher genannten Stimmungen der Fröhlichkeit, Lustigkeit u. s. w. dadurch, dass diese sich vom rein vitalen Dasein her im Menschen ausbreiten und in ihm herrschen können, ohne dass es Heidegger: Sein und Zeit, S. 136. Ebd., S. 134. 312 Vgl. Eintrag »Stimmung« in Hillig: Die Psychologie, S. 393. 313 Wo bei Kierkegaard Schwermut, Angst und Verzweiflung dominieren, stehen bei Sartre Angst und Ekel, bei Heidegger Angst und Langeweile im Zentrum – wohingegen Bollnow und Bloch der Existenzphilosophie eine heiterere Stimmung zu verpassen wagen! 314 Tugendhat spricht allerdings lediglich vage davon, dass das Leben, gezwungen vor die »Warum«-Frage, als gut/schlecht »erscheint« bzw. »erfahren werde«: »Wenn wir uns an der Frage ›wie geht es dir?‹ orientieren, so gibt es offenbar zwei einfachste Standardantworten: ›gut‹ und ›schlecht‹. Mit diesen gröbsten, unbestimmten Antworten ist eine Skala angezeigt, die von ›ich bin glücklich‹ bis zu ›ich bin verzweifelt‹ reicht, und diese Antworten scheinen etwas damit zu tun zu haben, ob einem das Leben ›sinnvoll‹ oder ›sinnlos‹ erscheint. Die Stimmung scheint uns also keineswegs vor das ›nackte‹ ZuSein zu bringen, vielmehr erfahren wir es in ihr immer in einem bestimmten Wie, als gut oder schlecht, sinnvoll oder sinnlos.« (Tugendhat: Selbstbewusstsein, S. 207) 310 311

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ihm besonders zum Bewusstsein kommt. Das Glück dagegen entspringt der Auseinandersetzung mit den Lebensumständen. Es ist darum wesensmäßig empfundenes Glück, Glück nicht nur als Gehobenheit des eigenen inneren Zustandes, sondern zugleich als Befriedigung über die äußeren Lebensumstände und darum von diesen mit abhängig.« 315

Während sich die einer state-Freude zugrunde liegenden traits wie Fröhlichkeit, Lustigkeit oder Heiterkeit vom rein vitalen Dasein her im Menschen entfalten und jener den Boden bereiten können, lässt sich der Grund unserer glücklichen Stimmung als eines komplexen, sprachlich-kognitiv differenzierten Phänomens nicht allein vermöge des Hinweises auf bewusste Manipulation durch Musik, Drogen oder auf zufällige günstige Lebensumstände oder Biorhythmen »erschließen«. Andererseits darf aber das qualitätsbildende, stimmungskonstitutive affirmative Urteil, das bedingungslose »Ja« zu unserem In-der-Welt-Sein, um nicht erneut dem Schein-Problem von kognitivem versus affektivem Vorher zum Opfer zu fallen, nicht in Form eines vorgängigen »Rechenschaftsberichtes« betreffs unserer äußeren Lebenssituation gedacht werden, obgleich es uns im Erleben der Stimmung bewusst sein muss. Die Gefahr ist groß, wie Tugendhat bei seinen Erläuterungen in einen Erklärungszirkel hineinzugeraten, wenn das Ja- und Neinsagen nicht nur auf den Lebenswillen zurückgeführt wird, sondern dieser wiederum im – positiven oder negativen – Gestimmtsein verankert sein soll. 316 Versucht man, dem Negativvotum Heideggers zum Trotz, das in der Stimmung Offenbarte reflexiv zu erschließen, empfiehlt sich der Weg über die negativen Stimmungen, weil die negativen Gefühle generell, zumeist natürlich in therapeutischer Absicht, wesentlich besser erforscht sind. 317 Entschlossen zu einem solchen erhellenden ex-negativo-Ausblick, kommt als Kontrastfolie zum Glück mit SiOtto F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 45. »Im Glück wird dasselbe bejaht, was im Unglück verneint wird, das In-der-WeltSein, und das ›Ja‹ vollzieht sich – wie jedes ›Ja‹ – auf dem Hintergrund eines möglichen ›Nein‹ und umgekehrt. Die Möglichkeit der Sinnlosigkeit ist die Folie des Glücks. Aber kann man, so könnten Sie fragen, die Stimmung – das Gefühl als ein ›Ja‹- bzw. ›Nein‹-Sagen verstehen? Gewiss nicht. In dem ›Ja‹- und ›Nein‹-Sagen, um das es hier geht, artikuliert sich vielmehr der Wille, der ›Lebenswille‹, aber dieser ist nur, was er ist, aus dem so-und-so-Betroffensein vom ›Dass ich bin und zu sein habe‹, das in der Stimmung erfahren wird.« (Tugendhat: Selbstbewusstsein, S. 209) Gemäß Scheeles emotionspsychologischem Modell wäre jedoch das Ja/Nein-Sagen konstitutiv und qualitätsbildend für eine Stimmung, welche eine bestimmte Willensmanifestation zur Folge hat. 317 Vgl. Mayring, der das seltsame Ausweichen vor dem Glück in der psychologischen 315 316

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cherheit weder »Pech« in Frage – wodurch nämlich das Glück auf seine von uns ausgegrenzte Zufallsbedeutung restringiert würde –, noch auch »Leid« oder »Schmerz«, da das Glück gemäß unseren in Kapitel 3.1 anhand antiker Glückskonzeptionen gewonnenen Einsichten gerade vom richtigen Umgang mit diesen abhängt. In Anbetracht dessen tendieren viele Ansätze wie diejenige von Tugendhat oder Fromm dazu, als Antonym für »Glück« die Stimmung der »Depression« zu profilieren, wobei sich diese methodische Prämisse dank einer hohen negativen Korrelation von Glück und Depression auch empirisch nahelegt: 318 »Das Gegenteil von Glück ist also nicht Kummer oder Schmerz, sondern die Depression, die aus innerer Sterilität und Unproduktivität entsteht.« 319 Auf der Ebene der psychischen Krankheiten träfe man als Gegensatzkonzept zur Depression allerdings statt auf »Glück« vielmehr auf »Manie« als komplementäre affektive Störung. Vergegenwärtigt man sich die klassischen Symptome der Manie: grundlose Heiterkeit, unüberlegte Hyperaktivität, sprunghafte Aufmerksamkeit, übersteigertes Selbstwertgefühl, verminderte soziale Hemmung, widerspricht dieses Syndrom aber ganz offenkundig einem kognitiv begründeten Glück harmonischen WeltSelbst-Verhaltens und führt infolge dieser Unbegründetheit den Kranken immer wieder in die depressive Stimmung zurück. 320 »Depression« eignet sich folglich nur dann zur glücksgrammatischen Gegensatzbildung, wenn sie nicht gemäß den klinisch-diagnostischen Leitlinien als »affektive Störung«, sondern als höchst negative Stimmung, als Ausdruck eines generalisierten »Neins« zur Welt aufgefasst wird. Freilich ist auch die Depression als Gegensatzkonzept zum Glück ein nicht leicht durchdringbares »Syndron oder Symptombündel von psychischen Auffälligkeiten«, 321 nämlich ein »multiForschung durch systematische Literaturauswertungen zu stützen weiß, in: Psychologie des Glücks, S. 8. 318 Einen Überblick über diese empirische Wohlbefindensforschung vermittelt Mayring, in: Psychologie des Glücks, S. 100. 319 Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 148. 320 Vgl. die aufschlussreiche Konfrontation von Glück und Manie in Mayring: Psychologie des Glücks, S. 103 f.: »Es wird schnell klar, dass das Symptombild der Manie auf aktionaler, emotionaler und kognitiver Ebene der hier vorgelegten Glücksdefinition widerspricht. Glückliche Menschen sind nur gemäßigt aktiv, bringen ihre Handlungen produktiv zu Ende, ihre positive Stimmung ist klar begründet, das Selbstwertgefühl zwar hoch, aber nicht übersteigert, sie sind bei vollem Bewusstsein, gehen eindeutigen Zielvorstellungen nach.« 321 Ulich: Das Gefühl, S. 216. Die vier von ihm aus der Forschungsliteratur destillierten

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faktorielles Geschehen«, 322 bei dem viele Faktoren ineinandergreifen müssen. Ich orientiere mich im Folgenden hauptsächlich am Rahmenkonzept des depressiven Syndroms, wie es von der Weltgesundheitsorganisation im ICD-10 unter F32 beschrieben wird. 323 Primäre Ursachen einer Depression können »schwere Verluste (Todesfälle, Trennungen), Misserfolge oder Konflikte, deren Bedeutung nicht erkannt wird,« 324 sein, ebenso aber organische und genetisch vererbte Faktoren wie ein Defizit an Neurotransmittern. Indes gehen, wie schon unsere kritische Bestandesaufnahme der physiologischen Glückstheorien zutage legte und durch empirische Befunde untermauert wird, die namentlich in den USA grassierenden biochemischen Theorien und Therapien fehl in der Annahme, mit der Potenzierung der Transmittersubstanzen (vorwiegend Noradrenalin und Serotonin) ließe sich jede depressive Stimmung liquidieren und somit eine Welt von Glücklichen lancieren, weil die therapeutische Behandlung der psychischen Ursachen der Depression durch depressionsmildernde Medikamente niemals überflüssig und aufschiebbar wird. 325 Sieht man von diesen organisch-genetischen Depressionsfaktoren ab und versucht, zu einem integrativen transaktionalen Modell vorzustoßen, begegnet die vom lateinischen de-pressio derivierte »Depression« auf psychischer Ebene als ein nicht mehr (allein) zu bewältigender Leidensdruck. Die durch zahlreiche aus dem Alltag jedem ebenso wohlvertraute wie unvermeidliche Situationen evozierten emotionalen Belastungen, d. i. »das Erleiden bzw. der Zustand des Erleidens von Mangelzuständen, Beinträchtigungen, Einbußen von möglichen positiven Erlebnis-, Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten«, 326 können den psychischen Leidensdruck derart eskalieren Symptomkomplexe depressiver Zustände werden im folgenden Text aufgeführt und mit arabischen Ziffern (1–4) versehen. 322 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 101. 323 Vgl. Horst Dilling u. a.: Internationale Klassifikation psychischer Störungen, S. 139 ff. sowie Hans-Joachim Haugs Erläuterungen in: Affektive Störungen, S. 137 ff. 324 Artikel »Depression« in Hillig: Die Psychologie, S. 71. 325 Vgl. ebd., S. 72. 326 Ulich: Das Gefühl, S. 148. Vgl. Ulichs konzise Zusammenstellung alltäglicher Belastungsfaktoren ebd., S. 182: »Wenn wir von unserem Erleben im Alltag ausgehen, dann zeigt sich, dass die Anlässe für emotionale Belastung sehr zahlreich und sehr verschiedenartig sein können. Da sind zunächst die kleinen Ärgernisse: Wir geraten in einen Verkehrsstau und verpassen einen wichtigen Termin; die Waschmaschine läuft aus; ein Schuhband reißt; ich kann vor Beginn einer Reise meinen Reisepass nicht finden; schlechtes Wetter verhindert einen lange geplanten Ausflug u. ä. m. Dann gibt es die A

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lassen, dass die harmlose flüchtige Unzufriedenheit in eine dauerhafte Depression einmündet. Was der einzelne dabei als emotional belastend erlebt, ist nicht nur bedingt durch die Art individuellen Empfindens (»Emotion«), sondern auch durch die Normen und Werte seiner sozialen Umwelt, die von einer kritischen Depressionsforschung gleich wie von einer kritischen Glückstheorie nicht ignoriert werden dürfen. Als illustratives Beispiel führe man sich etwa vor Augen: »Wenn in der Schule Leistungsversagen als belastend empfunden wird, dann auch deshalb, weil eine bestimmte Art des Lernens und Leistens in der Schule eben erwartet wird. Unsere Vorstellung von ›Glück‹ und ›Gesundheit‹, welche die Folie für das Erleben und Feststellen von Belastung bilden, sind nur innerhalb einer Kultur oder Gesellschaft wie z. B. westlicher Industriegesellschaften relativ einheitlich.« 327

Wie die kognitivistischen Depressionstheorien aufweisen, prinzipiell ausgehend von einer aktiven und bewussten Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt, können Menschen aufgrund emotional belastender Erfahrungen bestimmte Erlebnis-, Interpretations- und Denkweisen entwickeln, die alles nachfolgende Denken und Informationsverarbeiten, die Selbst- und Weltkonzepte 328 sowie Stimmungen prägen in Richtung auf eine schlechthinnige Verneinung des In-der-Welt-Seins als solchem. Ins Zentrum allseitiger Aufmerksamkeit ist in diesem Kontext Martin Seligmans Theorie der »erlernten Hilflosigkeit« gerückt, derzufolge ein sogenannter »pessimistischer Erklärungsstil«, welcher von der intensiven, häufigen Erfahrung von Nicht-Kontrollierbarkeit zum Bewusstsein genereller Hilflosigkeit einer anhaltenden Depression führt, folgende drei Dimensionen umfasst: a) Attribuierung auf internale statt externale Faktoren bzw. die Zuschreibung von persönlicher statt universeller Hilflosigkeit, d. h. ich halte nur mich allein

größeren Sorgen, die uns täglich und über eine lange, manchmal sehr lange Zeit hin belasten können: Die eigenen Kinder versagen in der Schule; man ist mit seiner Ehebeziehung unzufrieden oder sogar unglücklich; man hat dauerhaften Ärger mit seinem Vorgesetzten; man ist anfällig für Krankheiten oder leidet unter einer bestimmten Krankheit. Am schlimmsten sind schließlich Ereignisse, die wie z. B. schwere Krankheit oder Tod eines nahen Angehörigen möglicherweise dauerhaftes Unglück bedeuten.« 327 Ebd., S. 184. 328 Die Theorie solcher »persönlicher Konstrukte« werde ich in Kapitel 5.1 ausführlich erörtern.

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für ohnmächtig gegenüber gewissen (an sich) unkontrollierbaren Ereignissen. b) Attribuierung auf stabile statt variable Faktoren, d. h. ich schreibe den momentanen Kontrollverlust stabilen Faktoren wie etwa meiner Schüchternheit oder mangelnden Intelligenz zu. c) Attribuierung auf globale statt spezifische Faktoren, d. h. ich schließe von einer aktuellen Hilflosigkeit in begrenzten Situationen auf meine Unfähigkeit schlechthin, mit der Welt oder anderen Menschen umzugehen. 329

Damit soll – entgegen einem verbreiteten Selbst-Missverständnis dezidierter Kognitivisten – keineswegs suggeriert werden, der Grund einer unser Glück untergrabenden depressiven Stimmung sei lediglich ein »falsches Denken« 330 , wodurch wir erneut ins Oszillieren zwischen Extrempolen zurückfielen. Das »Nein« einer depressiven Dauertönung oder Stimmung kann sowohl einem offenkundig realitätsfremden und damit »falschen« pessimistischen Erklärungsstil entspringen als auch angesichts einer Konzentration emotional äußerst belastender Lebenssituationen durchaus begründet und berechtigt sein. In beiden Fällen muss der pessimistische Erklärungsstil erst im Verein mit ausgeprägter Inkompetenz im Umgang mit psychischen Belastungen als »krankhaft« eingestuft werden: 331 Der depressiv gestimmte Mensch ist »psychisch krank« in dem Sinne, dass er sich nicht nur subjektiv unwohl und hilflos fühlt, sondern infolge des übermächtigen Leidensdrucks nur noch über eine äußerst restringierte Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit äußeren Widerständen verfügt. Zur »seelischen Gesundheit« reicht es nämlich nicht aus, sich psychisch wohl zu befinden, sondern »man muss auch bestimmte Kompetenzen entwickelt haben, um Belastungen zu bewältigen, mit Spannungen und Anforderungen fertig zu werden.« 332 Grundsätzlich ist aber entsprechend der Kontinuitätsthese in der neueren Depressionsforschung zu konzedieren, dass zwischen nor-

329 Frei nach Sader, Manfred/Weber, Hannelore: Psychologie der Persönlichkeit, S. 90 f. Es handelt sich hierbei um eine wichtige Weiterentwicklung der Theorie von Seligman, nämlich um das Konzept der Kausalattribution (Abramson/Seligman/Teasdale 1979). Vgl. dazu auch Ulich: Das Gefühl, S. 221 ff. 330 Diesen Eindruck gewinnt man etwa bei der kognitiven Psychotherapie Becks (vgl. ders.: Wahrnehmung der Wirklichkeit und Neurose). 331 So ich recht sehe, sind solche Inkompetenzen nicht die Folgen pessimistischer Erklärungsstile, wohingegen bereits erworbene Kompetenzen durch einen solchen gleichsam »durchkreuzt« werden können. 332 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 76. Vgl. übereinstimmend den Eintrag »seelische Gesundheit« in Hillig: Die Psychologie, S. 358.

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malpsychologischen (traurigen) und pathologischen (depressiven) Erlebnisweisen keine klare Grenze gezogen werden kann. 333 Mitsamt ihren glücksspezifischen Komplementen wollen wir die Symptome einer Depression, d. s. die Konsequenzen unseres »Nein«s bzw. »Ja«s zum In-der-Welt-Sein, kurz ins Bild setzen: a) Der pessimistische Attributionsstil führt zu Angst, feindseliger Verschlossenheit, Vertrauensverlust und sozialem Rückzug. Demgegenüber ließen sich Offenheit, Toleranz, Nachsicht und gesteigerte Aufnahmebereitschaft in Hoffmanns Studien als manifeste Verhaltensweisen glücklicher Studenten registrieren und die Sozialbilität sich in anderen empirischen Untersuchungen als Glückskorrelat nachweisen. 334 Das Defizit an positiven Erfahrungen bei Depressiven, das dem Glück als günstigem Hintergrund freudiger Erlebnisse im Wege steht, versuchen Depressionstherapien mittels einer »Kleinen Schule des Genießens« 335 entgegenzutreten, obgleich anstelle solch oberflächlicher Symptombekämpfung wohl eine Revision des zugrundeliegenden Welt- und Selbstkonzeptes angebrachter wäre (vgl. Kapitel 5.1). b) Depressive Menschen gelangen zu einer äußerst negativen Selbsteinschätzung, geringen Erwartungen gegenüber sich selbst und der Umwelt und liefern sich ganz der Hilf- und Hoffnungslosigkeit aus. Der Glückliche hingegen nach Maßgabe von Hoffmanns Studenten hat eine höchst affirmative Selbstwahrnehmung und -bewertung zu verzeichnen und errechnet sich dementsprechend vorzügliche Zukunftschancen. c) Wer »Nein« sagt zur Welt insgesamt und seinem In-der-Welt-Sein als solchem, legt sich in schwere Fesseln innerer Sterilität, Unproduktivität, Passivität, Intitiativ- und Interesselosigkeit, welche jeden Ausbruchsversuch aus der lähmenden Hilflosigkeit bereits im Keime ersticken und auf die Dauer zum Abbau von Nervenzellen und einer drastischen Reduktion der Geistestätigkeit führen. 336 Um diese Fesseln zu sprengen, Vgl. Haug: Affektive Störungen, S. 136. Vgl. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 94. 335 Vgl. zum entsprechenden, offenbar erfolgreichen Therapieansatz von Lutz/Koppenhöfer ebd., S. 102, sowie Klein: Die Glücksformel, S. 237 f., mit Bezug auf die Therapiemethode des italienischen Psychiaters Giovanni Fava. Als erster Schritt aus einer depressiven Stimmung mögen solche »Wohlbefindenstherapien« durchaus hilfreich sein, bei denen die Patienten in sogenannten »Tagebüchern des Glücks« alle Situationen und Momente angenehmer Gefühle verzeichnen sollen, um die sich angewöhnten Fehlurteile einer totalen Negation allen positiven Erlebens selbständig korrigieren zu können. 336 Vgl. ebd., S. 210 f. 333 334

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müsste man sich Aussichten schaffen, Handlungsziele und -pläne mutig ins Auge fassen und damit erneutes Interesse am Lebensvollzug, an der Interaktion entfachen, wie es die Art des glücklicheren Akteurs und Weltenbürgers ist: »Ein depressiver Mensch ist ganz nach innen gerichtet, beschäftigt sich nur mit den eigenen Belangen und versucht, durch ständiges Grübeln die Ursachen seines Elends ausfindig zu machen. Gelingt es dagegen, den Blick nach außen zu wenden, bleibt für Sorgen und Ängste wenig Raum. Sich mit anderen Menschen und Dingen zu befassen durchbricht den Kreislauf der dunklen Gedanken und Gefühle.« 337

d) Leiden Depressive ständig an psychosomatischen Beschwerden, unter gravierender Schlaflosigkeit und beträchtlichem Libidoverlust, scheint der glücklich Gestimmte nach Aussagen der Probanden Hoffmanns von psychischer Energie und Lebenswillen geradewegs zu überströmen – was ihm seitens der ersteren nicht selten als krankhafter »Potenzwahn« angelastet wird. 338 Fassen wir die anhand der besser erforschten depressiven Symptomatik gewonnenen Merkmale glücklich gestimmter, d. h. ihr Leben insgesamt bejahender Persönlichkeiten entlang der vier Gefühlskomponenten zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Subjektiv erlebt wird die Glücksstimmung als totale Offenheit gegenüber der Welt bis hin zur harmonischen Einheit und Verschmelzung mit ihr, die aber koinzidiert mit der Gewissheit, die Welt bezüglich der Durchsetzung unserer wesentlichen Lebensziele »in Kontrolle zu haben« (1). Als physischer Code ließ sich eine gesteigerte Energie und Willenskraft auf der Grundlage einer erhöhten kreativen Phantasieund Denktätigkeit 339 eruieren (2), die sich im Verhalten als aktives Involviertsein in das Umweltgeschehen, als Toleranz und Lernbereitschaft manifestieren (4), was Fromms Kennzeichnung des Glücks als »Kriterium der Tüchtigkeit in der Kunst des Lebens« zu sanktionieren scheint: »Glück deutet darauf hin, dass der Mensch die Lösung des Problems der menschlichen Existenz gefunden hat: die produktiEbd., S. 240. Vgl. zum Zusammenhang von Stimmungen und unserer volitiven Gesamtdisposition Tugendhat: Selbstbewusstsein, S. 208. 339 Vgl. Kleins etwas plakative Statement: »Glückliche Menschen sind kreativer. Wie viele Studien zeigen, lösen sie Probleme besser und schneller. Glück macht klug, und zwar nicht nur für einen Augenblick, sondern auf Dauer. Positive Gefühle lassen die Nervenverbindungen im Gehirn wachsen – die Freude geht mit neuen Verknüpfungen in unseren Köpfen einher.« (Klein: Die Glücksformel, S. 16) 337 338

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ve Verwirklichung seiner Möglichkeiten und somit zugleich das Einssein mit der Welt und das Bewahren der Integrität seines Selbst.« 340 Die kognitive Komponente eines solchen affektiv positiv erlebten, aktiven und konstruktiven Weltverhältnisses, die affirmative Selbstbeurteilung und hohe Erwartung gegenüber sich selbst und der Umwelt (3) leitet uns von der psychischen auf die geistige Ebene der Glücksstimmung weiter. Mit ihrem Insistieren auf der Änderungsresistenz unserer positiven bzw. negativen Welt- und Selbsttheorien scheinen zwar Lernpsychologen wie Seymour Epstein den Menschen als geistiges Wesen gänzlich auszublenden: »Die gesamte lernpsychologische Forschungstradition beweist, dass Menschen und andere Organismen höherer Ordnung bestrebt sind, durch ihr Verhalten Positives zu erleben und Schmerz zu vermeiden. Der Mensch hat so lebenslang eine interessante Aufgabe zu erfüllen – schlicht wegen seiner biologischen Struktur. Sie besteht in der Konstruktion eines konzeptuellen Systems in der Weise, dass über vorhersehbare Zeitspannen eine optimale LustUnlust-Balance gewährleistet ist.« 341

Muss aber die gängige lernpsychologische Präsumtion, das Selbstund Weltkonzept eines Menschen diene aufgrund der »biologischen Struktur« höherer Lebewesen allein dazu, Schmerz und Leid zu dezimieren zugunsten von Freude und Lust, wirklich konzediert werden, so dass »Glück« als eine sich aus biologischen Gründen heranbildende, allenfalls mit gezieltem Training der wohlbefindensrelevanten Hirnareale verstärkte 342 »trait«-Disposition zu einem Maximum an »state«-Freuden bereits hinlänglich erklärt wäre? Sind nicht sämtliche unstreitig wesentlichen Glückssymptome wie Soziabilität, Aktivität, Kontrollüberzeugung oder Lebensenergie relativ zu unserer ganz bewusst gewählten und gestalteten Lebensform, dem Sinn und Gesamtplan unseres Lebens, welcher den unter (c) genannten Handlungszielen Halt und unserer Person Wert verleiht? 343 Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 148. Seymour Epstein: Entwurf einer Integrativen Persönlichkeitstheorie, S. 15 f. 342 Ein solches Glückstraining fordern Gefühlsphysiologen, denn: »Mit den richtigen Übungen kann man seine Glücksfähigkeit steigern. Wir können unsere natürliche Anlage für die guten Gefühle trainieren, so, wie wir uns eine Fremdsaprache aneignen.« (Klein: Die Glücksformel, S. 13) 343 Vgl. etwa Mayring mit Bezugnahme auf die gerontologische Forschung: »Ähnlich ist bei einer aktiven Persönlichkeit die Wahrscheinlichkeit angenehmer Erfahrungen größer. Allerdings ist hier die Beziehung nicht so eindeutig […]. So haben wir ja auch bei den Glücksuntersuchungen gesehen, dass es aktivere und kontemplativere Glückfor340 341

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Wie fest verankert eine frühkindliche »erlernte Hilflosigkeit« in einer Persönlichkeit auch sein mag, verfügt doch der Mensch über eine sogenannte »Trotzmacht des Geistes« (Frankl), mithilfe deren er jene – im Einklang mit den lerntheoretischen Prämissen der Verhaltenstherapie – auch wieder zu ver-lernen vermag. Natürlich sollte man dabei wiederum die kognitivistische Extremposition etwa von Aaron Beck vermeiden, der die Omnipotenz des »gesunden Menschenverstandes« verherrlicht, welche angeblich alle depressiven Patienten leichterhand von ihren »irrigen Vorstellungen von sich selbst und ihrer Welt« zu befreien befähigt. 344 Während das Physische und Psychische im menschlichen Organismus unabdingbar parallel geschaltet ist, kann sich der Geist des Menschen aber prinzipiell sowohl von seinen glücklichen wie auch von seinen depressiven Symptomen distanzieren und dem psychophysischen Treiben entgegentreten, wo es sich als situationsinadäquat herausstellt: »Ob ceteris paribus der eine Mensch sich von seiner endogenen Depression distanziert, während sich der andere in diese Depression fallenlässt, liegt nicht an der endogenen Depression, sondern an der geistigen Person. Und zwar leistet dieses Geistige – mit anderen Worten: die Person – den gekennzeichneten existentiellen Aufschwung über sich selbst hinaus kraft dessen, was wir in der Existenzanalyse die Trotzmacht des Geistes nennen. Und so sehen wir, wie dem psychophysischen Parallelismus ein psychonoetischer Antagonismus gegenübersteht.« 345

Wichtiger als eine höchste Lust garantierende unbeirrbare positive Selbsttheorie ist für das menschliche Glück dabei, wie Frankl an unzähligen Exempeln aus Extremsituationen in Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern nachweist, die begründete Überzeugung einer trotzmächtigen Person, ein gutes und sinnvolles Leben zu führen. 346 Wenn der Mensch daher mit unabwendbaren, emotional belasmen gibt […]. Es gibt passivere (›Schaukelstuhlstil‹) wie aktivere (›Angriffslustiger Stil‹) Lebensstile, die mit Glück und Wohlbefinden verbunden sind […]. Dies verweist auf den Lebensstil als wichtiges Glückskorrelat (vgl. auch Snow/Havighurst 1977).« (Mayring: Psvchologie des Glücks, S. 94) 344 Vgl. Beck: Wahrnehmung der Wirklichkeit, S. 18. 345 Viktor Frankl: Logotheraphie und Existenzanalyse, S. 62. 346 Frankl befindet sich dabei im Einklang mit Tugendhats S. 182 ausführlich zitierten philosophischen Reflexionen. »Ist doch der Mensch im Grunde ein Wesen auf der Suche nach Sinn, und wird er auf dieser Suche fündig, dann wird er auch glücklich – es ist nämlich der Sinn, wie sich nun herausstellt, was ihm jeweils den ›Grund‹ zum Glücklichsein gibt! Aber siehe da: einen Sinn vor Augen zu haben macht ihn nicht nur glückA

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tenden Umweltereignissen konfrontiert wird (etwa: Partnerverlust, Arbeitslosigkeit), kann weder ein partout optimistischer Erklärungsstil oder eine uns schmeichelnde Selbsttheorie noch ein freiwilliger Verzicht auf die eingebüßten Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung oder Selbstentfaltung das Abgleiten in depressive Passivität verhindern, sondern allein die kognitive, verantwortungsbewusste modifikatorische Ausgestaltung eines uns selbst einen Wert verleihenden Lebensplans, der uns nicht nur glücklich, sondern auch leidensfähig macht (vgl. Kapitel 5.1). Befinden wir uns andererseits in einem moralischen Konflikt mit den anerkannten gesellschaftlichen Normen oder in einer existenziellen Krise, kann zwar nicht die geistige Person erkranken, aber als Auslöser einer psychosomatischen Affektion durchaus selbst eine noogenetische neurotische Depression heraufbeschwören. 347 Halten wir abschließend fest: Während sich andere positive Stimmungen wie Fröhlichkeit oder Heiterkeit vom vitalen Dasein her in uns ausbreiten, werden wir vom Glück nicht in gleicher Weise »überfallen«, obschon die für eine Glücksstimmung charakteristische rein körperlich-energetischen Verfassung durch Musik, Drogen oder Anti-Depressiva unstreitig stimuliert werden kann. Beim Versuch, das in unserer Glücksstimmung Offenbarte zu erschließen, zeigte es sich, dass wir hier nicht dem »nackten Dass unseres Da-Seins« (Heidegger) ausgeliefert sind, sondern dass in ihm ein affirmatives Urteil bezüglich des Lebens insgesamt, unseres In-der-Welt-Seins als Ganzem zum Ausdruck kommt. Zu einem großen Teil muss diese »Beurteilung« als Resultat einer bewussten und aktiven Auseinandersetzung mit unserer Um- und Mitwelt betrachtet werden, wobei wir alles Widerfahrene – bewusst oder unbewusst – perpetuierend in ein umfassendes, ordnungsstiftendens Konstruktsystem zu integrieren bemüht sind. Diese Welt- und Selbstkonzepte prägen unseren Denkund Erlebnisstil in der Weise, dass ein optimistischer Erklärungsstil ein glückskonstitutives »Ja«, ein pessimistischer ein depressionsgefährdendes »Nein« provoziert. Bei einer Konzentration konfliktreicher, emotional belastender und unabwendbarer Umweltfaktoren lich, sondern auch leidensfähig, wovon Sie sich von den ehemaligen Insassen aller Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern zwischen Auschwitz und Stalingrad überzeugen lassen können.« (ders.: Der leidende Mensch, S. 54) Auf den Sinn-Begriff werden wir in Kapitel 5.1 näher eintreten. 347 Vgl. ders.: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 150.

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trägt aber auf der psychischen Ebene – abgesehen also von biochemisch auf unsere Stimmungen einwirkende Neurotransmittern – zu einer glücklichen Stimmung weniger ein kontrafaktischer blinder Optimismus bei, als vielmehr bewährte psychische Kompetenzen im Umgang mit Leid und Stress: Der chronisch-depressive Nein-Sager muss dann als »psychisch krank« tituliert werden, wenn er nicht nur subjektiv unter seinem emotionalen Leidensdruck zusammenzubrechen droht, sondern sich infolge seiner unproduktiven Verschlossenheit und seines sozialen Rückzugs sämtlicher Möglichkeiten eines konstruktiven kontrollmächtigen Umgangs mit der Um- und Mitwelt beraubt. Analog zum illusionären, auf einer optimistischen Verklärung der Faktizitäten gegründeten Glück kann ein realitätsfremder pessimistischer Attributionsstil zu einer gänzlich unangemessenen Welt- und Selbsteinschätzung führen und damit eine »illusionäre Depression« zeitigen. Ein wirkliches Glück und eine echte Depression gehen daher niemals quasi-automatisch aus der aktiven, bewussten Auseinandersetzung mit der Welt hervor, weil das zugrundeliegende affirmative bzw. negative Urteil die Einsicht in die tatsächliche Lebenslage voraussetzt. Damit bestätigt sich, dass die »(Un-)Zufriedenheit« als Ausdruck einer realitätsgerechten Einschätzung unserer Ziele und aktualisierten Handlungsmöglichkeiten die notwendige Basis beider Stimmungen bildet. Das »Ja« zu unserem In-der-Welt-Sein erfordert also, soll ein »illusionäres Gestimmtsein« ausgeschlossen werden, die kognitive Komponente der Zufriedenheit, welche eine adäquate Welt- und Selbstsicht, eine realistische Einschätzung unserer Handlungsmöglichkeiten und ihrer bereits erfolgten Aktualisierung verbürgt: Unser glückskonstitutives affirmatives Urteil scheint immer schon mehr zu sein als das Resultat des unwillkürlichen Aufeinandertreffens bestimmter glücksförderlicher oder -abträglicher Umweltfaktoren mit einer spezifischen Art subjektiven Erlebens bzw. Informationsverarbeitens, da weder ein wahres Glück noch eine wahre Depression durch einen an der Realität vorbeizielenden optimistischen oder pessimistischen Denk- und Erlebnisstil induziert werden kann. Grundsätzlich bejaht der Glückliche sein In-der-Welt-Sein nicht deswegen, weil seine Lebenskunst die Lust-Unlust-Balance zu optimieren erlaubt, sondern weil er sich im Rahmen eines »guten Lebens« Ziele setzt, die sowohl unter den gegebenen Umständen prinzipiell erreichbar sind wie auch durch die soziokulturellen Wertvorstellungen konsolidiert werden. Glück entpuppte sich mithin im Laufe unserer A

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vom griechischen »eudaimonia«-Begriff aus startenden glücksgrammatischen Studien als höchst positive Stimmung (»genus proximum«) aufgrund einer affirmativen Beurteilung der Qualität unseres Lebens als Ganzem im Hinblick auf ein harmonisches gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis unter Aktualisierung begründbarer und artikulierbarer Wertmaßstäbe (»differentia specifica«). Eine nicht-illusionäre Glücksstimmung setzt dabei notwendig die theoretische Einsicht in die tatsächliche Gesamtsituation unseres Lebens (randintensionales Urteil) sowie in soziokulturelle Werte (kernintentionales Urteil) voraus. Ebenso sind praktische Aneignungen mannigfaltiger Leidbewältigungskompetenzen und Qualifikationen zur Erhöhung unserer Kontrollfähigkeit angesichts der wechselhaften äußeren Lebensbedingungen unverzichtbar. Den von Nietzsche proklamierten »Pessimismus der Stärke« 348 auf der Grundlage einer tiefen Bejahung seiner selbst und der Welt, d. h. die Bejahung auch des Leids zum Zwecke einer qualitativen Steigerung des Daseins, ließe sich somit durchaus als Teilprogramm eines an antiken Strategien orientierten »Glückstrainings« begreifen. Glück ist aber nicht nach dem Vorbild der Alten zu definieren als ein wertvolles »gutes Leben«, ein tugendhaftes habituelles Richtighandeln, sondern vielmehr als dauerhafte Stimmung, welche die reflexiven, stellungnehmenden Auseinandersetzungen mit unserem bewusst konzipierten »guten Leben« begleitet und als atmosphärischer Hintergrund unser gesamtes Erleben positiv einfärbt.

348 Nietzsche spricht hier zwar nur im Namen der Starken, der Hyperboreer: »Ist Pessimismus nothwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? […] Giebt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmende Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst?« (Nietzsche: GT, S. 12) Dies kann entgegen Nietzsches Suggestionen natürlich nicht bedeuten, dass der Mensch leiden muss, um stark und glücklich zu sein, oder sich partout einem Fatalismus preiszugeben hat, wie Frankl richtig stellt: »Soll das nun heißen, Leiden sei notwendig, um Sinn zu finden? Das wäre ein grobes Missverständnis. Was ich meine, ist keineswegs, dass Leiden notwendig ist, vielmehr will ich sagen, dass Sinn möglich ist trotz Leiden, um nicht zu sagen, durch ein Leiden – vorausgesetzt, dass das Leiden notwendig ist, das heißt, dass die Ursache des Leidens nicht behoben und beseitigt werden kann …« (Frankl: Der leidende Mensch, S. 59)

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Man kann zweifellos mit Ernst Tugendhat oder Ursula Wolf davon ausgehen, dass sich jeder Mensch ungeachtet dessen, ob er glücklich oder moralisch sein will, unvermeidlich konfrontiert sieht mit der Frage, wie er – in einem prämoralischen Sinne 1 – leben, wie er sein Leben führen soll, allein aufgrund der Tatsache, dass der Mensch nicht einfach lebt, sondern ein Bewusstsein seines Lebens hat: 2 »Sie stellt sich gewissermaßen von selbst, einfach weil wir vor einem Spektrum von Lebensmöglichkeiten stehen und Lebewesen sind, die mit der Fähigkeit zu überlegen begabt sind.« 3 Nicht anders als bei der Prämisse einer allgemeinen Glückssuche4 weist Wolf richtig auf die Möglichkeit der unhinterfragten Übernahme kultureller Antworten hin, weshalb sich »jede individuelle Weise des Lebens, sei sie reflektiert gewählt oder einfach faktisch vollzogen, als eine Antwort (wenn auch im zweiten Fall nur eine implizite und nicht unbedingt eigene) auf diese Frage« 5 verstehen lässt. Im Einklang mit Tugendhats weiterführender These, dem Menschen als einem bewusst und überlegt seinem Leben eine Form gebenden Wesen gehe es bei seinem Streben nicht nur um die Erhaltung seines Lebens oder ein »möglichst angenehmes«, sondern vielmehr um ein »gutes Leben«, 6 ließen wir das vorangegangene glücksgrammatische Kapitel in folgender Begriffserklärung kulminieren: Glück ist ein dauerhaftes, äußerst intensives und positives affektives Gestimmtsein, wobei die Qualität einer nicht-illusionären Glücksstimmung durch die kernintensionale, auf intersubjektive Maßstäbe rekurrierende Beurteilung unseres Lebens insgesamt als eines guten und zusätzlich randintensional durch eine »Prämoralisch« bedeutet im Unterschied zu »amoralisch« lediglich, dass die Bezugnahme auf moralische Kriterien noch offen ist. (Vgl. dazu auch Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 52, Fußnote 2.) 2 Vgl. Ursula Wolf: Die Suche nach dem guten Leben, S. 11 ff. 3 Peter Stemmer: Was es heißt, ein gutes Leben zu leben, S. 47. 4 Vgl. Kapitel 1, S. 11. 5 Wolf: Die Suche nach dem guten Leben, S. 12. 6 Vgl. Kapitel 3.2, S. 221 f. 1

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realistische Einschätzung unserer Lebenssituation, unserer selbst wie unserer Um- und Mitwelt konstituiert wird. Damit stellt Glück einen »bewertenden Bewusstseinszustand« hinsichtlich unseres In-derWelt-Seins als solchem dar, weil nicht eine positive Bewertung einzelner Welt-Selbst-Bezüge vorgenommen wird wie bei Gefühlsregungen, sondern diejenige unseres gelingenden Weltverhältnisses generell, unserer Tüchtigkeit in der Kunst des Lebens überhaupt. Der Referenzgrund dieses im Unterschied zu momentanen Lustempfindungen reflexiv einholbaren und dauerhaften affektiven Gestimmtseins ist mithin das auf Einsicht in unsere tatsächliche Lebenslage gestützte gelingende Weltverhältnis, auf welches sich die philosophischen »eudaimonia«-Reflexionen der Griechen konzentrierten. Ob jemand glücklich gestimmt ist, auch wenn er infolge auftretender lokaler Widerstände durchaus in begrenzten Situationen seines Lebens vordergründig ver-stimmt sein mag, entscheidet sich an der Geschichte seines Lebens, an seiner »Lebenssituation, wie sie in die Vergangenheit zurückreicht und in die Zukunft vorausweist« 7 . Vergegenwärtigen wir uns nochmals folgende höchst plausible und phänomenal triftige Fundamentalprämissen, von denen auch in diesem Kapitel auszugehen ist: Wenn jeder, »dessen Tage nicht damit ausgefüllt sind, das schiere Überleben oder Weiterleben zu schaffen, jeder, der über Spielräume und Möglichkeiten verfügt und genug Zeit vor sich sieht, mit seinem Leben etwas anzufangen«, 8 allein aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit konfrontiert wird mit der Frage, wie er sein Leben leben soll, kann sich auch keiner einer – impliziten oder expliziten – wertenden Stellungnahme zu unterschiedlichen Lebensweisen entziehen, welche die Basis bildet für seine stimmungsfärbende Selbstbeurteilung, für sein Glück oder Unglück. Dabei drängt sich dem Fragenden, so sinniert Peter Stemmer, bei seinem tastenden Räsonnement zunächst und zumeist folgende TrivialantDie von Seel statuierte Diskrepanz zwischen »Glück« und »gutem Leben« erweist sich also vor dem Hintergrund unserer emotionspsychologischen Erkundungen als hinfällig: »Ob jemand glücklich ist, entscheidet sich an seiner (jeweiligen) Lebenssituation; ob jemand ein gutes Leben hat, entscheidet sich an der Geschichte seines Lebens. […] Denn das übergreifende Gelingen eines Lebens betrifft den Verlauf eines Lebens – durch unterschiedliche Zeiten – hindurch. Ob unser Leben ein gutes Leben ist, entscheidet sich also nicht an den einzelnen Lebenssituationen allein, sondern an der Geschichte dieses Lebens: daran, wie es gelungen ist, die unterschiedlichen – unterschiedlich glücklichen – Perioden unseres Lebens zu durchlaufen.« (Seel: Versuch, S. 71) 8 Stemmer: Was es heißt, S. 47. 7

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wort auf: »Leb’ das Leben, das unter denen, die dir möglich sind, das beste ist«! 9 Bei diesem schlichten Konsens angelangt, mit dem bereits Aristoteles seine Nikomachische Ethik eröffnet, 10 scheiden sich doch in steter Folge die philosophischen Geister in Anbetracht der Crux, nach welchen Kriterien eine solche Beurteilung des »bestmöglichen Lebens« zu erfolgen hat, in die oppositionellen Lager der Subjektivisten und Objektivisten, deren Kampfplatz in diesem Kapitel beleuchtet werden soll. Muss die stimmungsqualifizierende Taxierung unseres Lebens als eines »guten« wirklich durch intersubjektive Muster und kulturelle Normen konsolidiert sein, wie wir im vorangegangenen Kapitel suggerierten, oder sind vielmehr persönliche Präferenzen völlig zureichend? Gibt es gar etwas, das intrinsisch gut oder schlecht ist, wie objektive Werttheoretiker verfechten, etwa ein hoher Lebensstandard, Autonomie oder spezifische menschliche Eigenschaften? Oder lässt sich gemäß der einschlägigen Antithese der Subjektivisten die Frage nach dem guten Leben einzig und allein in bezug auf die maximale Erfüllung unserer individuellen Neigungen und Wünsche jenseits aller allgemeingültigen Kriterien beantworten? Bevor wir uns auf diese metatheoretische Debatte über eine subjektivistische oder objektivistische glückskonstitutive Beurteilung unseres »guten Lebens« einlassen, welche darüber entscheidet, ob Glück eine rein subjektive oder objektive Angelegenheit darstellt, muss das schillernde Begriffspaar Subjektivismus–Objektivismus in seine vielfältigen Fazetten zerlegt und auf deren jeweilige eudaimonologische Relevanz geprüft werden: 1) Subjektivismus und Objektivismus könnten zum einen als Synonyme zu den erkenntnistheoretischen Positionen von Idealismus und Realismus chargieren und wären dann allenfalls indirekt für unser glückliches bzw. unglückliches Leben von Belang, welches wir notwendig in der Außenwelt als prozessual-dynamisches Welt-Selbst-Verhältnis vollziehen. Für Subjektivisten oder Idealisten beruht die Realität der Dinge auf unserer subjektiven Erkenntnis- und Vorstellungskraft, wobei in den Augen der Radikalen unter ihren Repräsentanten, den Relativisten, überhaupt nur unseren Begriffen oder Beschreibungen von GegenEbd. Alles menschliche Streben zielt nämlich gemäß Aristoteles stets auf das, was wir für gut befinden: »Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben« (Aristoteles: Eth. nic., 1094a, 1 f.).

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ständen oder Sachverhalten Sein zukommt. Der naive Objektivist oder Realist hingegen plädiert für eine unabhängig von unserer Wahrnehmungstätigkeit existierende Außenwelt, zu der wir mittels unserer Erkenntnisorgane auch einen unmittelbaren Zugang hätten. Da wir diesen Problemkomplex bereits in der ontologisch-erkenntnistheoretischen Arbeit Wahrheit am Ende? verfolgten, 11 wird in der vorliegenden glückstheoretischen Studie ein nicht weiter begründeter »interner« (Hilary Putnam) oder besser: »reflektierter Realismus« vorausgesetzt, der zwar von einer unabhängig von unseren Wahrnehmungen und Begriffsnetzen existierenden Welt ausgeht, zu der wir aber immer nur mittels Sprache, reflexiver Aufarbeitung von Wissensannahmen und gemeinsamer systematischer Erfahrungen Zugang haben. Ein privatistischer Zugang und somit solipsistische Einzeluniversen oder Weltversionen sind dadurch prinzipiell ausgeschlossen. 2) In anthropologischer Hinsicht profilieren Subjektivisten den Menschen als wesentlich freies und sich selbst bestimmendes Wesen, wohingegen Objektivisten nach elementaren essentialistischen »Gütern«, d. h. artspezifischen Bedürfnissen oder Fähigkeiten des Menschen fahnden. Dieser für jede Glückstheorie unmittelbar relevante Kontroverse wollen wir, gleichfalls um eine reflektierte Mittelposition bemüht, in Kapitel 5.2 Raum geben. 3) Zumeist wird im Zuge der gegenwärtigen Renaissance des guten oder glücklichen Lebens die fragliche Opposition in ethisch-praktischem Sinne verstanden: Während sich der Subjektivist, einer radikalen Privatisierung aller Werte und einem Wertrelativismus huldigend, ausschließlich an inneren Gefühlen, Wünschen oder Bedürfnissen eines Einzelindividuums orientiert, postuliert der Objektivist von jedem Menschen einsehbare Werte oder eine allgemeine metaphysische Wertordnung, damit einem moralischen oder Wert-Realismus das Wort redend. Ohne uns in diesem Kapitel bereits auf die für ein Glück als »wertenden Bewusstseinszustand« zweifellos zentrale Frage einer ethisch-normativen Wertbegründung zu konzentrieren, die erst in Kapitel 6.2 mit Blick auf einen reflektierten diskursethischen Wertrealismus diskutiert werden soll, interessiert uns hier vorläufig ein allgemein lebenspraktischer Subjektivismus bzw. Objektivismus mit folgendem Unterscheidungsmerkmal: Wo sich subjektivistische Glückssucher grundsätzlich an die vorwiegend nonkognitivistischen, höchst positi11

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Vgl. v. a. Kapitel 1 und 6.

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Subjektive Glückstheorien: Hedonismus und die Wunschtheorie des Glücks

ven inneren Zustände des Einzelsubjekts halten (Kapitel 4.1), anvisieren objektivistische von öffentlicher Hand messbare materielle oder körperliche sogenannten »Glücksgüter« der Außenwelt (Kapitel 4.2). Wenn sich menschliches Glück weder rein subjektivistisch-innenorientiert noch rein objektivistisch-außenorientiert bestimmen lassen soll, bliebe zu klären, ob man gemäß Martin Seels Vorschlag zu einem »reflektierten Subjektivismus« 12 oder eher zu einem »reflektierten Objektivismus« tendieren – oder am besten auf dieser allgemeinen lebensanschaulichen Ebene bei einem zwischen subjektiven und objektiven Faktoren vermittelnden »transaktionalen Glücksmodell« Halt machen müsste.

4.1 Subjektive Glückstheorien: Hedonismus und die Wunschtheorie des Glücks Das »gute Leben«, nach welchem alle mit der Fähigkeit zur Reflexion begabten Wesen streben, ist gemäß der Einheitsparole der breiten Palette subjektivistischer Glückstheoretiker einzig und allein als maximale Erfüllung unserer individuellen Bedürfnisse, Neigungen, Wünsche und Interessen bzw. als das dadurch erreichte Maximum an subjektivem Wohlbefinden zu konkretisieren. Ob wir ein gutes Leben führen, bemisst sich demzufolge an unseren persönlichen nonkognitiven Einstellungen, d. h. im Rekurs auf unsere Gefühle, Wünsche oder das Wollen; danach, ob wir selbst unser Leben affektiv und/oder voluntativ bejahen können. Abgesehen davon, dass die erklärungsbedürftigen Vokabeln wie »Bedürfnis«, »Wunsch« oder »Wille« seitens der Psychologen nicht selten ebenso ad libitum appliziert werden wie auf Seiten weniger seelenkundiger Philosophen, scheint sich in der eudaimonologischen Literatur ein gewisses Gefälle zwischen nicht-teleologischen, extrem subjektivistischen Positionen wie dem Hedonismus benthamscher Provenienz (1) und eher elaborierteren teleologischen Ziel- oder Wunschtheorien sensu Seel (2) abzuzeichnen. 13 So klassifizieren etwa auch Anton Hügli und Peter Vgl. Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 61. Vgl. zur modernen Ethik generell, dazu neigend, jedem Individuum seine persönliche Vorstellung von Glück als subjektivem Wohlbefinden zuzubilligen, Seel: Versuch, S. 50, zum elaborierten teleologischen Glücksbegriff im Rahmen seiner eigenen reflektierten Wunschtheorie ebd., S. 89 ff.

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Schaber die subjektivistischen Konzeptionen in »hedonistische Theorien«, die das gute Leben auf der Basis eines entsprechenden Lustkalküls allein den angenehmen Empfindungen der einzelnen anheimstellen, und in »Wunschtheorien«, welche das Kriterium des »guten Lebens« im Maß der Erfüllung bestimmter oder hauptsächlichster Wünsche erblicken und auch eine Beurteilung und Gestaltung unserer Wünsche oder Interessen in Betracht ziehen. 14 Bevor wir uns mit diesen Ansätzen kritisch auseinandersetzen, tut eine konzise sprachanalytische Ortung der oben genannten Begriffe Not, um den grassierenden Obskuritäten bezüglich der Art nonkognitiver Einstellungen, welche als Beurteilungsinstanzen für unser »gutes Leben« fungieren sollen, einen Riegel vorzuschieben. 15 Wissenschaftstheoretischer Ausgangspunkt dieser terminologischen Erhellung, die zugleich einen bedeutsamen Fingerzeig auf das besagte glückssubjektivistische Gefälle zu liefern verspricht, soll die von Edmund Husserl inthronisierte und durch Georg von Wright präzisierte phänomenologische Methode bilden: Über unsere Triebe, Bedürfnisse, Wünsche, unser Wollen versuchen wir dadurch Aufschluss zu gewinnen, dass wir auf die verborgenen oder expliziten Ziele und Intentionen achten, die wir bei unserem »Verhalten«, d. h. unserem Handeln in einem weiteren Sinne, vorsprachlich-unbewusst oder bewusstsprachlich verfolgen. 16 Während das »Handeln« in einem engeren Sinne eine bewusste Zielsetzung und -verfolgung zur Voraussetzung hat, sind dem menschlichen »Verhalten« auch Tätigkeiten ohne Handlungsziele Vgl. Anton Hügli: Mutmaßungen über den Ort des Glücks in der Ethik der Neuzeit, S. 40 ff. oder Peter Schaber: Gründe für eine objektive Theorie des menschlichen Wohls, S. 149 ff. Allerdings versucht Schaber in seinem Aufsatz den Nachweis zu erbringen, dass es völlig zureichend sei, zwischen zwei Konzeptionen des guten Lebens, nämlich einer objektiven und der subjektiven Wunschtheorie zu unterscheiden, indem er die hedonistische Theorie kurzerhand zu einer Variante der objektiven ummünzt (vgl. ebd., S. 150 ff. und weiter unten). 15 Das um sich greifende Unbehagen seitens der objektiven Werttheoretiker gegenüber dem Lager aller Glückssubjektivisten einfangend, moniert Steiner: »Zählt nur das, was wir wollen oder auch das, was wir darüber hinaus einfach nur wünschen? Welche Rolle spielen Empfindungen, Affekte und Stimmungen? Oder es kann gefragt werden, wie sich im Rahmen eines reflektierten Subjektivismus evaluative Lernprozesse erklären lassen. Wie erwerben wir neue Wünsche, Wertvorstellungen etc. auf eine mehr als zufällige Weise?« (Holmer Steinfath: Die Thematik des guten Lebens in der gegenwärtigen Diskussion, S. 20) 16 Vgl. zu diesem phänomenologischen Ansatz und seinen kritischen Kernpunkten Alfred Schöpf: Wie kann man von seinen Bedürfnissen und Wünschen wissen?, S. 115 f. 14

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wie z. B. Niesen oder Stolpern zu subsumieren. Bei einem Blick auf die psychologischen Motivationstheorien springt dabei die Entzweiung der Interpretationsmodelle bezüglich der aktivierenden Zielausrichtung menschlichen Verhaltens in die Analyseperspektiven »Druck« und »Zug« in die Augen: 17 Triebe einerseits, zu denen die primären, angeborenen Trieb- und Vitalbedürfnisse gerechnet werden, sind psychische oder psychophysische Antriebe, die ohne Vermittlung des Bewusstseins entstehen und daher subjektiv als dranghaft, als drückend erlebt werden. Sie lösen eine unwillkürliche Reizsuche aus, d. h. sogenannte »Triebhandlungen« 18 , die immer schon mit einer bestimmten Zielklasse gekoppelt sind und automatisch zu einer von Lust begleiteten Aufhebung des psychophysischen Spannungszustandes hintendieren. Die »Gegenstände« solcher Aktivitäten sind dabei reine Mittel und somit prinzipiell substituierbar: 19 »Der Gegenstand eines Bedürfnisses unterscheidet sich von anderen Mitteln durch die besondere Klasse von Zielen, für die er ein notwendiges Mittel ist. Es handelt sich, um es negativ zu formulieren, nicht um Ziele, die wir uns nach Belieben setzen oder auf die wir nach Belieben verzichten können; vielmehr sind diese Ziele uns vorgegeben; unter normalen Umständen sind wir ihnen gegenüber nicht frei. Beispiele solcher Ziele sind Freiheit von Schmerz, Gesundheit, Gebrauch unserer Sinne und Glieder. Gegenstand eines Bedürfnisses sind die Mittel, die wir brauchen, um diese notwendigen Ziele zu erreichen, z. B. Nahrung, Kleidung, Medikamente.« 20

Gleich wie bei typischen Triebhandlungen mit vorgegebener Verhaltensausrichtung stehen wir bei unserem Wünschen unter dem Eindruck der Fremdkontrolle, auch wenn der »Drang« des Wunsches jetzt durch die (bewusste) Vorstellung eines befriedigten Zustandes oder eines begehrten Objektes entfacht wird. Der Wunsch als unspezifisches »Quasi-Bedürfnis« 21 zeitigt anders als die triebbeVgl. dazu Kapitel 1.3 (S. 14–18) in: Falko Rheinberg: Motivation. Geht man von einer engen Handlungsdefinition aus, stellt eine solche »Triebhandlung« zwangsläufig ein Oxymoron dar. 19 Vgl. den Eintrag »Trieb« in Hillig, Axel (Bearb.): Die Psychologie (Schülerduden), S. 417 f. Die besagte unwillkürliche Koppelung wird entweder als angeboren (wie beim psychoanalytischen Ansatz Freuds) oder als antrainiert vermittels zurückliegender Lernprozesse gedacht (so etwa beim behavioristischen Ansatz Hulls). 20 Friedo Ricken: Allgemeine Ethik, S. 172. 21 Den Begriff »Quasi-Bedürfnis« hat Kurt Lewin eigentlich geprägt für ein psychophysisches Spannungssystem, das sich im Unterschied zu echten Bedürfnissen aus einem 17 18

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dingten Bedürfnisse zumeist keine Handlung, da sich erstens die unseren phantastischen, nicht-elaborierten Wünschen zugrundeliegenden Situationseinschätzungen und erwartungsschweren Zukunftsperspektiven nicht an der objektiven Realität, sondern an der subjektiven Idealität orientieren: »Was ich wünsche, hängt von meinen Vorstellungen ab. Wenn ich dieses bestimmte Bild kaufen möchte, weil ich für einen echten van Gogh halte, dann hängt dieser Wunsch nicht davon ab, ob es tatsächlich ein echter van Gogh oder eine Fälschung ist; hinreichende Bedingung für den Wunsch ist, dass ich es für einen echten van Gogh halte. Wenn ich dagegen etwas benötige, weil es F ist, z. B. weil es schmerzstillend ist, dann muss es tatsächlich F sein, und es ist ohne Bedeutung, ob ich es für F halte oder nicht. Was ich brauche, hängt nicht von meinen Vorstellungen, sondern von der Wirklichkeit ab.« 22

Zum zweiten droht die vorstellungsmäßige verherrlichende Antizipation des ersehnten Zustandes unsere konkreten Handlungsplanungen und Aktivitätspotentiale oftmals zu lähmen. Beim Wollen hingegen – welches in der neueren Psychologie in der Regel an die Stelle des vorbelasteten Willens-Begriffes getreten ist – 23 kommt dank der willenskonstitutiven bewussten Entscheidung für ein bestimmtes Handlungsziel und dem Projektieren entsprechender Handlungsstrategien eine »Willenshandlung« zustande. Als Illustration dient häufig das Rubikonmodell von Heinz Heckhausen und Peter Gollwitzer, benannt nach dem Fluss, den Cäsar 49 v. Chr. nach langem Abwägen überschritt, wodurch unwiderruflich der Bürgerkrieg eröffnet war. Die durch den Rubikon symbolisierte Zäsur zwischen der Phase des Zu-Rate-Gehens, in welcher einige unserer in permanenter Überproduktion erzeugten Wünsche als »Motive« ernstgenommen und gegeneinander abgewogen werden (MotivatiVorsatz ergibt, etwas Bestimmtes zu tun, z. B. eine in Angriff genommene Aufgabe zu vollenden (vgl. Rheinberg: Motivation, S. 41 ff.). »Es ist ja ein erstaunliches Faktum, dass der Mensch eine außerordentliche Freiheit darin besitzt, sich irgendwelche, selbst sinnlose Handlungen vornehmen zu können, d. h. ein entsprechendes Quasibedürfnis in sich zu erzeugen. Diese Freiheit ist für den Menschen der Zivilisation charakteristisch.« (Kurt Lewin: Der reale Zusammenhang zwischen Quasibedürfnis und echten Bedürfnissen, S. 145) 22 Ricken: Allgemeine Ethik, S. 172. 23 Laut Welleck liegen die meisten Konfusionen bezüglich des Willensbegriffes »in der Hauptsache wohl an den – bewussten wie unbewussten – Nachwirkungen der Schopenhauerschen Philosophie« (A. Welleck: Exkurs über die Eigenständigkeit des Willens, S. 157), in welcher der Wille als blinder, unbewusster Drang figurierte.

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onsphase) und der realisierungsorientierten, bewussten Handlungsplanung (Volitionsphase) bildet die Intentionsentwicklung, d. h. die Entscheidung für eine bestimmte Handlung. 24 Im Kontrast zur Triebhandlung weicht beim Willensakt jedes Gefühl des Gestoßenwerdens demjenigen der souveränen Selbstkontrolle. Denn nach einer realitätsorientierten Musterung unserer mannigfaltigen Wünsche hinsichtlich ihrer Machbarkeit und der Erwünschtheit ihrer Realisierungskonsequenzen mutiert ein auserkorener Wunsch-Kandidat kraft eines Entschlusses zu einer klaren Absicht, einer Intention. 25 Auch wenn de facto »in jedem hoch genug strukturierten Lebewesen das Streben zwischen diesen Formen der (›bewussten‹) Bestrebung, also dem Wollen, und der (vorbewussten) Strebung, also des ›dunklen Dranges‹« bei fließender Grenze ständig wechselt, 26 können beide mit Wundt als »Grundformen einer aufsteigenden Entwicklung unseres Wollens betrachtet werden, 27 ohne dass sich die hier theoretisch konzipierte Divergenz zwischen Trieb und Wille bzw. Druck und Stoß dadurch erübrigte. Nachdem damit das Desiderat einer akkuraten Begriffsanalyse der im Lager der Glückssubjektivisten kursierenden notorisch vagen Termini wenigstens ansatzweise erfüllt sein dürfte, wollen wir uns allererst der extrem subjektivistischen hedonistischen Glücks-Variante zuwenden, wie sie paradigmatisch und Schule machend Jeremy Bentham prägte. Im soziologisch ausgerichteten Kapitel 2.2 zeichneten wir bereits nach, wie sich die hedonistische Glücksvorstellung im Zuge eines langen Technisierungs- und Ästhetisierungsprozesses herauskristallisierte, bis dass man heute das für die ganze Neuzeit typische flüchtig-episodische, vollständig verinnerlichte subjektive Empfindungsglück technisch zu manipulieren und mittels ästhetischer Kriterien zu überformen trachtet. Obgleich Bentham keine eigenständige Theorie oder Philosophie des Glücks präsentiert, steht doch im Zentrum des von ihm ins Rollen gebrachten und vorwiegend im Vgl. Heinz Heckhausen/Peter Gollwitzer u. a. (Hrsg.): Jenseits des Rubikon. Seel trifft hier die Sachlage ziemlich scharf: »Etwas zu wünschen heißt, ein Verlangen nach etwas, eine Neigung zu etwas zu haben, sei dies ein Zustand oder eine Tätigkeit; etwas zu wollen heißt, etwas […] Gewünschtes tatsächlich zu erstreben. Ein Wille, so lässt sich kurz sagen, ist ein effektiv handlungsleitender Wunsch« – wobei dieser dann allerdings wie gezeigt als »Intention« zu redefinieren wäre (Seel: Versuch, S. 89, Fußnote 34). 26 Welleck: Exkurs, S. 156. 27 Vgl. Wilhelm Wundt: Willenshandlung und Wahlhandlung, S. 392 ff. 24 25

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angelsächsischen Raum auf nachhaltige Begeisterung gestoßenen »Utilitarismus« folgendes auch unter der Etikette »Prinzip des größten Glücks« 28 figurierende Moralprinzip: »Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist jenes Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede Handlung in dem Maß billigt oder missbilligt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern, oder – das gleiche mit anderen Worten gesagt – dieses Glück zu befördern oder zu verhindern.« 29

Das von diesem Moralprinzip als handlungsleitendes, situativ eingebettetes »Teilziel« unseres prozessualen Lebensvollzugs propagierte »Glück« wird von Bentham befremdlicherweise beliebig substituiert durch »Gewinn, Vorteil, Freude«, 30 wobei er andernorts die Synonyma »Glück«, das »Gute«, die »Annehmlichkeit« oder den »Vorteil« zur Konfusion des sprachanalytisch qualifizierten Lesers auch wieder als »Formen der Freude« (»pleasure«) deklariert. 31 Unmissverständlicher als in Benthams Einleitung zu einem ambitiösen rechtsphilosophischen Monumentalwerk tritt in John Mills differenzierterer Programmschrift Der Utilitarismus zutage, dass das Kriterium für ein solches utilitaristisches »Glück« in der Tat das individuelle Ausmaß an »pleasure« (»Freude«/»Vergnügen«) ist: »Unter ›Glück‹ (happiness) ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter ›Unglück‹ (unhappiness) Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.« 32 In eklatantem Kontrast zu unseren glücksgrammatischen Erkundungen in Kapitel 3.2 wird mithin das »Glück« von einer ersten und wohl einflussreichsten Tradition des Utilitarismus auf einen rein episodischen und subjektiven Zustand von positiven Empfindungen von Freude/Lust reduziert, und das als Handlungsziel anvisierte »größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl« als quantitativ John Stuart Mill: Der Utilitarismus, S. 21. Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung, S. 56. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd., S. 81: »Das gleiche Verfahren lässt sich ebenso auf Freude und Leid anwenden, ganz gleich in welcher Gestalt sie auftreten und durch welche Namen man sie voneinander unterscheidet: auf Freude, ob sie nun Gutes genannt wird (das eigentlich die Ursache oder das Instrument der Freude ist), Gewinn (der entfernte Freude oder die Ursache oder das Instrument entfernter Freude ist), Annehmlichkeit oder Vorteil, Wohltat, Vergütung, Glück und so fort …« 32 Mill: Der Utilitarismus, S. 13. 28 29

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unübertreffbare Aufsummation solch positiver Zustände aller Beteiligter projektiert. Trotz Ermangelung einer allgemeingültigen Maßeinheit wähnt man dabei optimistisch, hinsichtlich folgender sechs Merkmale das Quantum an »pleasure« sowohl intra- wie intersubjektiv er- bzw. verrechnen zu können: 1. Intensität, 2. Dauer, 3. Gewissheit oder Ungewissheit des Eintreffens, 4. Nähe oder Ferne, 5. Folgenträchtigkeit, 6. Reinheit. 33 Solange aber eine exakte Maßeinheit fehlt, können die verschiedenen Gratifikationswerte von Freude oder Lust (also etwa bezüglich Dauer oder Intensität) nicht numerisch angegeben und damit strenggenommen auch nicht additiv bzw. subtraktiv verrechnet werden. 34 Wenn der »Nutzen« bzw. das »Glück« sowohl gemäß der Selbstbezeichnung wie auch in den Augen der Interpreten hier eindeutig »hedonistisch definiert« ist, 35 wurde diese Bestimmung doch keineswegs von sämtlichen späteren Richtungen des Utilitarismus akzeptiert. Bei ihrem Versuch, mittels der Kombination rationaler Elemente und empirischer Tatsachen eine Ethik ohne Metaphysik zu begründen, wird das »gute Leben« im Namen eines rein funktionalen und poietischen utilitaristischen Moralverständnisses augenscheinlich transformiert in ein »Leben, das so weit wie möglich frei von Unlust und in quantitativer wie qualitativer Hinsicht so reich wie möglich ist.« 36 Ein hedonistisch-utilitaristisches »gutes Leben bemisst sich entsprechend am Maß sub-

Vgl. Bentham: Eine Einführung, S. 80. Dagegen wenden Baurmann/Kliemt ein, »die Vorstellung von der Unverrrechenbarkeit der Befriedigungserlebnisse« leuchte »bei nüchterner Betrachtung jedoch kaum ein« (Baurmann/Kliemt: Glück und Moral, S. 10), weil wir alle beständig von unbewusst fungierenden »Umrechnungskursen« Gebrauch machen würden: »Auch der begeisterte Theaterliebhaber bekommt ab und an Hunger. Deshalb wird er keineswegs sein ganzes Geld für das Theater ausgeben. […] Auch dann, wenn die Verrechnung nicht bewusst und ausdrücklich vorgenommen wird, zeigen wir durch unser Wahlverhalten angesichts sich ausschließender Alternativen, welche ›Umrechnungskurse‹ jeweils für uns gelten.« (ebd., S. 10 f.) Ähnlich spricht Pieper, die an einem witzigen Exempel mithilfe einer numerischen Punkteskala das Nutzenkalkül durchspielt (vgl. Annemarie Pieper: Glückssache, S. 113 f.), von einer alltäglich-gewohnheitsmäßigen, weniger exakten »Faustregel, mit der wird die Vorzüge und Mängel einer Handlung über den Daumen peilen« (ebd., S. 115). 35 Vgl. Höffe: Einführung, S. 15. 36 Ebd., S. 21. Wollte man den dezidierten, gesellschaftspolitisch motivierten anti-egoistischen Grundzug des hedonistischen Kalküls im Utilitarismus Benthams in Rechnung stellen, müsste das »gute Leben« wohl als lose Reihe von »moralisch guten«, d. h. dem Utilitätsprinzip genügenden Handlungen definiert werden. 33 34

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jektiven Wohlbefindens, das sich in ihm realisiert« 37 . Maximilian Forschner bemerkt zu dieser im frühen Utilitarismus vollzogenen moralischen Transformation kritisch: »Der Utilitarismus hat seinen Namen demnach nicht von seiner Theorie des Wertvollen und des höchsten Guts, sondern von seiner Funktionalisierung der Moralität, von seiner objektiven Herabstufung des honestum auf den Rang des utile. Und seine Kernthese bezüglich der Relation dieses Nützlichen lautet: Ohne das Vorhandensein und den Einsatz nobler Charaktere kein Glück auf Erden; aber worauf es zielhaft ankommt, ist das Glück der Menschen und möglichst große Leidfreiheit allen Lebens.« 38

Wirft man – ungeachtet solch moralischer Bedenken – mit dem Anliegen einer näheren Begriffsbestimmung dieser subjektiv-episodischer »pleasures« als Synonym zu »Glück« erneut Bentham den Spielball zu, nennt er uns: »a) Die Sinnesfreuden. b) Die Freuden des Reichtums. c) Die Freuden der Kunstfertigkeit. d) Die Freuden der Freundschaft. e) Die Freuden eines guten Rufes. f) Die Freuden der Macht. g) Die Freuden der Frömmigkeit. h) Die Freuden des Wohlwollens. i) Die Freuden des Übelwollens. j) Die Freuden der Erinnerung. k) Die Freuden der Einbildungskraft. l) Die Freuden der Erwartung. m) Die gesellschaftlich fundierten Freuden. n) Die Freuden der Entspannung.« 39

Angesichts dieser bunt gemixten Kollektion heterogenster Arten von »Freuden« 40 nähren sich zuallererst Zweifel an der Korrektheit der hier gewählten Übersetzung des Allerweltswortes »pleasure« mit »Freude«. Denn diese nötigte uns zum (unsinnigen) Vorwurf an die Adresse Benthams, er subsumiere beim Versuch einer hedonistischen Glücksdefinition illegitimerweise einen rein sinnlichen Genuss der Sinnesempfindungen (a) – man denke an die Lust beim Essen, Trinken, der Sexualität – oder das Vergnügen bei körperlichen Entspannungszuständen (n) der »Freude«. Es handelt sich hier nämlich offenkundig um die Befriedigung primärer Bedürfnisse, d. h. von Trieben, welche mit subjektimmanenten Zielen wie Schmerzfreiheit oder Gliederausspannen automatisch gekoppelt sind und vermöge einer Aufhebung der psychophysischen Spannung einen reinen »DaPeter Schaber: Gründe für eine objektive Theorie des guten Lebens, S. 150. Maximilian Forschner: Über das Vergnügen naturgemäßen Tuns, S. 154. 39 Bentham: Eine Einführung, S. 83. 40 Auf diese Arten einfacher Freude lasse sich angeblich jede faktisch auftretende Freude zurückführen (vgl. ebd. Fußnote 12). 37 38

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seinswert« des Angenehmen aktualisieren. 41 Im Gegensatz zu einem solchen »Genuss« entspringen die eigentlichen »Freuden« als intentionale, bewertende Bewusstseinszustände bezüglich bestimmter Welt-Selbst-Relationen, zu denen die meisten anderen von Bentham ins Feld geführten Freuden – etwa »eines guten Rufes« (e) oder »des Wohlwollens« (h) – zählen, entweder sekundären, soziokulturell geprägten Bedürfnissen oder aber individuellen Interessen. Für diese, anstelle bloßer »Daseinswerte« das Dasein transzendierende »Sinnwerte« anpeilend, wäre die Vorstellung vom »Zug« sicherlich adäquater als das »Druck«-Modell. Weil er im Rahmen eines dezidiert quantitativen Hedonismus die Differenz zwischen »höheren« und »niederen« Bedürfnissen bzw. zwischen »Freude« und »Genuss« ignoriert, wie sie erst wieder von Mill – im Anschluss an Epikur – in Gebrauch genommen wird, 42 evoziert Bentham mithin ein verwirrendes »pleasure«-Übersetzungsdilemma. Viel gravierender ist aber meines Erachtens seine Verkennung von Form (Qualität) und Materie (Quantität) in der Struktur von komplexen menschlichen Gefühlen, über die sich selbst Mill mit seinem als qualitativ deklarierten und sich von Benthams primitiverer Form abgrenzenden Hedonismus nicht völlig im klaren zu sein scheint: Nur deshalb kann Bentham wohl das Vergnügen, die Lust reiner Sinnesempfindungen mit den verschiedensten Formen des Gefühls von Freude unter Ausblendung der gefühlskonstitutiven Intentionsobjekte zu verrechnen auffordern, weil er das Wesentliche eines Gefühls statt im qualitativen Moment der kognitiven Bewertung in der rein quantitativen physiologischen Veränderung bzw. im psychophysischen Spannungszustand erblickt. Ohne sich mit der Struktur Vgl. zur Differenz von »Daseins«- und »Sinnwerten« Lersch, demzufolge das Glück als »aktuelle Gestimmtheit« zwar in der Freude, nicht aber in der Lust oder dem Vergnügen zum Ausdruck kommt (Philipp Lersch: Aufbau der Person, S. 186). »In der Freude erscheint ihr Gegenstand als tragender Horizont des Daseins, als geschenkter Sinnwert, während im Vergnügen der Gegenstand lediglich die Bedeutung einer zufälligen und auswechselbaren Gelegenheit hat. Dem Sichvergnügen geht es um Daseins- und Bedeutungswerte, nicht aber um Sinnwerte. An Sinnwerten kann man sich nicht vergnügen, wohl aber kann man sich über sie freuen.« (ebd., S. 187) 42 Leider hat der Interpret auch bei Mill mit demselben Übersetzungsdilemma zu kämpfen. Am besten setzt man an die Stelle von »pleasure« gleich Forschner »Genuss und Freude« (vgl. Forschner: Über das Vergnügen, S. 159 f.) –, obgleich er »happiness« (»Glück«) von Wesen höherer Formen der »pleasure« und »content« (»Befriedigung«) von Wesen mit niedrigen entsprechenden Fähigkeiten kontrastiert (Mill: Der Utilitarismus, S. 17). 41

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menschlicher Gefühle vertraut zu machen, nivelliert er sämtliche Arten subjektiven Wohlbefindens auf die rein quantitative und dadurch – zumindest potentiell – quantifizierbare Dimension und lässt unter dem multivoken »pleasure« unsere komplexen Gefühle mit der nicht-intentionalen Lust sinnlicher Empfindungen koinzidieren, für deren Erlebnisqualität das Objekt des Vergnügens in keiner Weise konstitutiv, sondern als Mittel zur Erreichung bestimmter (triebhaft vorgegebener) Zielklassen beliebig substituierbar ist und daher aus dem hedonistischen Kalkül ausgeblendet werden kann. »Glück« qua subjektives Wohlbefinden wird also von Bentham im Kontrast zu Wunsch- und Zieltheoretikern des Glücks augenscheinlich nach dem von uns im Zusammenhang der physiologischen Glückstheorien bereits verworfenen Kausalmodell 43 dekliniert, das jede Art von »pleasure« als nicht-intentionale »Qualität der Selbstempfindung und Selbstwahrnehmung eines Lebewesens im Sinne einer Wirkung versteht, der bestimmte Ursachen nach einer Regel hervorbringende Faktoren zugeordnet werden können.« 44 Auch wenn der Utilitarismus insgesamt begründeterweise der »teleologischen Ethik« subsumiert wird, weil wir anstelle der Handlungsabsicht (wie beim »deontologischen« Ethiktyp) die voraussichtlichen Konsequenzen einer Handlung für alle an ihr Betroffenen zu erwägen angehalten werden, entpuppt sich aufgrund dessen das ihm zugrundeliegende Glücksverständnis als ateleologisch, so dass Höffes allgemeine utilitaristische Glücksdefinition einer »Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen« 45 eher auf Mill als auf Bentham zutrifft. Fragt man nämlich nach dem Gemeinsamen aller mit Glück identifizierten »pleasure«-Zuständlichkeiten, antwortet Bentham schlicht und einfach, sie seien – im Verein mit den komplementären »pains« – »allgemein als Empfindungen zu bezeichnen, für Vgl. Kapitel 3.2, S. 202 f. Forschner: Über das Vergnügen, S. 157. Forschner, den wir im oben erwähnten Kontext von Kapitel 3.2 bereits als Kronzeugen herbeizitierten, fährt im Einklang mit Lersch (vgl. Fußnote 41) folgendermaßen fort: »Diesem Modell ist wesentlich, dass Ursache und Wirkung per definitionem voneinander trennbare und isolierbare Phänomene sind. Wir haben das ganz und gar subjektive innerlich-private Wirkungsphänomen der Lust/ Unlustqualität der Empfindung, des Gefühls, des Erlebens von etwas einerseits; und wir haben die verschiedensten, nicht in ihrer Eigenart und objektiven Seinsweise, sondern nur in ihrer kausalen Rolle der Lusterzeugung und Unlustbehebung bedeutsamen Ursachenfaktoren andererseits. Die Ursachen sind der Wirkung äußerlich; sie sind somit, wenn sie denn die gleiche oder ähnlich Wirkung erzielen, gegenseitig ersetzbar.« 45 Artikel »Utilitarismus« in Otfried Höffe: Lexikon der Ethik, S. 312. 43 44

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die man sich interessiert«. 46 Bezüglich der »pleasures« als Zustände positiven Wohlbefindens könnte man dabei versuchsweise Schabers Spezifizierungsvorschlag in Gebrauch nehmen: »Ein subjektiver Zustand ist ein Zustand subjektiven Wohlbefindens, wenn die betroffene Person wünscht, dass dieser Zustand besteht« 47 , d. h. wenn ein positives persönliches Interesse an diesem Zustand zu verzeichnen ist. Verfolgt man allerdings Schabers Argumentationsgang weiter, scheint uns seine präzisierende Unterdividierung (1) zu diesen positiv-interessierenden Selbstempfindungen bzw. -wahrnehmungen unwillkürlich wieder dem teleologischen Prinzip der Wunschtheorien entgegenzuführen: »(1) Ein subjektiver Zustand x ist dann ein Zustand subjektiven Wohlbefindens, wenn oder sofern sein Bestehen gewünscht wird. (2) Das Bestehen des subjektiven Zustandes x wird dann gewünscht, wenn und sofern es sich dabei um einen Zustand subjektiven Wohlbefindens handelt.« 48

Weder lässt sich indes, wie Schaber aus diesen Alternativen deduzieren zu können glaubt, das hedonistische Konzept auf ersterem Wege unter die Wunschtheorien des Glücks subsumieren, 49 weil von den Wunschtheoretikern durchwegs und mit Grund nur außenbezogene, das Subjekt des Wünschens und seine Befindlichkeit transzendierende Wünsche zur Kenntnis genommen werden, noch auf dem zweiten in eine »objektive Theorie« des guten und glücklichen Lebens transformieren: »Damit wird deutlich, dass es sich bei der hedonistischen Theorie des guten Lebens um eine objektive Theorie des Guten handelt. Ob es einer Person gutgeht, bemisst sich für einen Hedonisten nämlich nicht an den Wünschen dieser Person, sondern an bestimmten psychischen Zuständen, in denen sich die betroffene Person befindet; Zustände, die wir aufgrund ihrer eigenen Natur anstreben.« 50

Auch wenn wir jedoch allein um des angenehmen subjektiven Zustandes willen das Fortbestehen desselben wünschen, erlaubt dies Bentham: Eine Einführung, S. 82. Schaber: Gründe für eine objektive Theorie, S. 151. 48 Ebd. 49 »Verstehen wir nun subjektives Wohlbefinden im Sinne von (1), dann setzen wir subjektives Wohlbefinden mit Wunscherfüllung gleich. Tun wir das, dann lässt sich die hedonistische Theorie von der Wunschtheorie […] jedoch nicht unterscheiden.« (ebd.) 50 Ebd., S. 151 f. 46 47

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mitnichten den Schuss auf »objektive Befindlichkeiten«, da Bentham für die Einschätzung unserer psychophysischen Zustände ja nicht »objektive« Messverfahren vorschreibt, sondern diese gänzlich der Introspektion des einzelnen, 51 behaftet mit all den ihr von Wittgenstein angelasteten Paradoxien, 52 überlässt. Konzentrieren wir uns, bevor wir die in der Regel unangefochtenen, bei genauerer Betrachtung jedoch nicht viel luzideren angeblichen »Vorzüge« des »qualitativen Hedonismus« Mills mustern, auf die weiteren meistmonierten allgemeinen Kritikpunkte des utilitaristischen Glücksverständnisses. Indem hedonistisches Gedankengut in der Neuzeit vorwiegend von den französischen Materialisten und den soeben referierten klassischen englischen Utilitaristen verbreitet und bis in unsere Zeit weitertradiert wurde, kann die hier in Konfrontation mit Vertretern des frühen Utilitarismus entwickelte Kritik zugleich als exemplarische Kritik am Hedonismus als solchem gelten. An erster Stelle jeder anti-utilitaristischen Agitation steht die sowohl logisch wie biologisch-anthropologisch schlichtweg schiefe Begründung des utilitaristischen »Prinzips des größtmöglichen Glücks«: Sowohl Bentham als auch Mill insistieren zwar darauf, ein direkter Beweis dieses Prinzips sei »ebenso unmöglich wie überflüssig« 53 , infolgedessen sich beide auf den indirekten Beweis in Form eines Nachweises kaprizieren, dass jede Kritik an jenem auf Gründen beruhe, die selbst im Nützlichkeitsprinzip verankert seien. 54 Dennoch appellieren sie andererseits an die uns allen gemeinsamen Erfahrungen, was ihnen den Vorwurf des »naturalistischen Fehlschlusses« (1) einAuch Rawls unterstellt dem Hedonisten als grundlegendes Entscheidungsverfahren diese Methode der Introspektion: »Er findet das letzte Ziel in einer bestimmten Eigenschaft des Fühlens oder Empfindens, die durch Selbstbeobachtung ausgemacht werden kann. Wenn man will, kann man annehmen, das Angenehme lasse sich mit einer Hinweisdefinition bestimmen als diejenige Eigenschaft, die den Empfindungen und Bewusstseinszuständen gemeinsam ist, denen gegenüber wir eine positive Einstellung haben und die wir unter sonst gleichen Umständen verlängern möchten.« (John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 602) 52 Vgl. Kapitel 3.2, S. 189 ff. 53 Bentham: Eine Einführung, S. 58. Vgl. die Parallelstelle bei Mill, wo es lapidar heißt: »Fragen nach letzten Zwecken sind eines direkten Beweises nicht fähig.« (Mill: Der Utilitarismus, S. 8) 54 Vgl. Mills entsprechende Unterstellung zu Lasten Immanuel Kants (ebd., S. 7 f.) oder Bentham: »Wenn jemand das Prinzip der Nützlichkeit zu bekämpfen versucht, so geschieht dies mit Gründen, die, ohne dass er sich dessen bewusst ist, auf eben diesem Prinzip beruhen.« (Bentham: Eine Einführung, S. 59) 51

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gebracht hat. 55 Mit den Worten: jeder Mensch befinde sich »unter dem Joch zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude«, begrüßt Bentham nämlich seinen Leser und schließt daraus, es sei »an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden.« 56 Durch die Analogie zum Reich sinnlicher Wahrnehmungen, wo der »einzige Beweis dafür, dass ein Gegenstand sichtbar« sei, darin bestehe, »dass man ihn tatsächlich sieht«, 57 lässt sich Mill zum Schluss verführen, »der einzige Beweis dafür, dass etwas wünschenswert« sei, bestehe darin, »dass die Menschen es tatsächlich wünschen.« 58 Mit einem Quentchen Logik durchschaut indes jeder leicht, dass das faktische Wünschen immer nur ein Beweis dafür sein kann, dass etwas grundsätzlich wünschbar ist, was wohl keiner anzufechten wagte, aber zu keinerlei normativen Aussagen über das Wünschenswerte berechtigt. Sieht man den hedonistischen Utilitaristen diesen logisch unzulässigen Schluss vom Sein aufs Sollen, d. h. vom Trachten des einzelnen nach Lust (»pleasure«) darauf, dass er auch danach trachten soll, einmal nach, 59 widerstrebt auch das an diesen individuellen Egoismus anschließende Plausibilitätsargument, welches uns das Glück aller »Betroffenen« als erstrebenswert schmackhaft machen will, dem gesunden Menschenverstand: Daraus, dass jeder einzelne sein eigenes Glück erstrebt, und dass die Summe des allgemeinen Glücks sich aus dem singulären Privat-Glück zusammensetzt, folgt weder dass der einzelne das allgemeine Glück erstrebt noch dass er es erstreben soll. Dieses irreführende Argument setzt also »das für individuelle Klugheitserwägungen zutreffende Kriterium, das persönliche Glück, mit dem für moralisches Handeln gültigen sozialen Kriterium, dem allgemeinen Glück, gleich«, kritisiert auch Höffe: »Tatsächlich folgt aus der angenommenen Prämisse nur, Da beide zwar vorgeben, sich auf reine Plausibilitätsargumente bzw. auf die Anleitung zur rationalen, schrittweisen Prüfung der eigenen Meinung zu beschränken (vgl. Mill: Der Utilitarismus, S. 9 f. bzw. Bentham: Eine Einführung, S. 59 f.), ohne sich aber daran zu halten, scheint mir dieser Vorwurf durchaus gerechtfertigt. 56 Bentham: ebd., S. 55. 57 Mill: Der Utilitarismus, S. 60. 58 Ebd., S. 61. 59 Natürlich kann man sich auch mit Ricken wundern, wozu in diesem Falle überhaupt eine Ethik nötig sei, denn: »Nach diesen programmatischen Sätzen seiner ›Introduction‹ zu urteilen, vertritt Bentham einen deterministischen Naturalismus. Lust und Schmerz bestimmen in einem, was wir tun werden und was wir tun sollen. Das Prinzip der Nützlichkeit ist nichts anderes als das Feststellen und Anerkennen dieser faktischen Determination unseres Handelns.« (Ricken: Allgemeine Ethik, S. 220 f.) 55

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dass für jeden irgendein Teil des allgemeinen Glücks bzw. dass jeder Teil des allgemeinen Glücks für irgend jemanden gut ist.« 60 Dieser Ernüchterungen in logischer Hinsicht nicht genug, die sowohl den »subjektiv-ethischen« wie den weiterführenden »objektiv-ethischen« Hedonismus als unbegründet demaskieren, können unsere Zweifel aber auch bereits am Fundament eines ethischen Hedonismus als solchem ansetzen: beim sogenannten »psychologischen Hedonismus« 61 (2): Muss tatsächlich als unumstößliches biologisches oder anthropologisches Faktum angesehen werden, dass der Mensch nach einem Maximum an unterschiedslosem »subjektivem Wohlbefinden« strebt und nur so glücklich werden kann? Anstelle der theoretischen Widerlegungen genügt gemäß dem Tenor der Zeitkritiker ein Blick auf die reale Gegenwart, um uns drastisch vor Augen zu führen, dass die vom radikalen Hedonismus angekurbelte und durch die moderne Bedürfnisindustrie lancierte »Jagd nach Glück« in Form einer ausschließlichen »Jagd nach Vergnügen« nur den Irrsinn der Menschheit widerspiegelt und direkt im Unglück endet. 62 Hütet man sich geflissentlich vor voreiligen kulturpessimistischen Generalthesen, ist auf biologischem bzw. anthropologischem Terrain unmittelbar evident, dass das auf Freud zurückgehende Homöostasieprinzip sowie das Trieb- oder Spannungsreduktionstheorem, welche das menschliche Streben dem Lustprinzip unterstellen, bezüglich des komplexen Menschenlebens viel zu kurz greifen und keineswegs die Grundgesetze menschlicher Motivation bilden. 63 Da wir lediglich im Reich unserer primären Bedürfnisse der als lustvoll erlebten Triebreduktion und Spannungslösung unterworfen sind, könnte der psychologische Hedonismus, sofern er »Lust« im engeren Sinne als rein sinnliche Empfindung begreift, auch nur für diesen Lebensbereich Gültigkeit beanspruchen. Wie bereits gezeigt, entspringt jenseits dieHöffe: Einführung, S. 24. Diese Terminologie dürfte unmittelbar evident sein (vgl. Kapitel 1, S. 14, Fußnote 15). 62 Vgl. Erich Fromm: Haben oder Sein, S. 17. »Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen«, lautet Fromms kulturpessimistische Fazit der End-70er-Jahre, »einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig, – jene Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit totzuschlagen, die sie ständig einzusparen versuchen.« 63 Dass die Forschung diese Thesen widerlegen konnte, berichteten wir bereits in Kapitel 3.2, S. 199 f. Vgl. zu solchen den philosophischen Hedonismus in der modernen Psychologie fortsetzenden Konzeptionen auch Gordon W. Allport: Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit, S. 87. 60 61

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ser Sicherheitsebene der Homöostase die mit unseren soziokulturellen sekundären Bedürfnissen und individuellen Interessen verbundene »Freude« einem reflektierten und geplanten Spannungsaufbau im Namen des »psychologischen Wachstums«, einer produktiven und anstrengenden Weiterentwicklung der Persönlichkeit qua beglückender »Selbsterfüllung«. 64 Obgleich der psychologische Hedonismus also offenkundig nur dann Chancen hat, wenn »Lust« wie bei Bentham und Mill im weiten Sinne von »pleasure« (»Lust«/»Freude«) verstanden wird, rückt beim gegenwärtigen naturwissenschaftlich orientierten Hedonismus nur noch das zuständliche, nicht mehr das prozessuale Wohlergehen in den Blick: War das antike »Erfüllungsglück« nur über ein im natürlichen Streben des Menschen verankertes »tugendhaftes Tätigsein«, d. h. die »optimale Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten« zu erlangen, plädiert die moderne (Natur-)Wissenschaft im Zeichen eines neuzeitlichen »Empfindungsglücks« lediglich noch für einen genussbringenden »optimalen Zustand des Organismus«, der in ihrer weithin akzeptierten reduktionistischen Sichtweise bereits das höchste erstrebenswerte und auch tatsächlich vom Menschen erstrebte Gut darstellt. 65 Im Gegensatz zur »biologischen Notwendigkeit« einer der »Sicherheitsmotivation« unterstehenden innerlich passiven Triebbefriedigung, bei der im wesentlichen »Daseinswerte« der rein sinnlichen Lust und des Vergnügens aktualisiert werden, scheint unser Glücksstreben als »anthropologische Notwendigkeit« grundsätzlich an die viel stärkere »Wachstumsmotivation« 66 mit den oben erwähnten »Sinn«- oder »Wachstumswerten« gekoppelt zu sein, d. h. an die auf der Distanznahme zu unseren z. T. kulturell überformten Triebreizen Vgl. Csikszentmihalyi: »Vergnügen ist ein wichtiger Bestandteil der Lebensqualität, bringt jedoch an sich noch kein Glück hervor. Schlaf, Ruhe, Essen und Sex verschaffen einem homöostatische Erfahrungen, die das Bewusstsein ordnen, wenn die Bedürfnisse des Körpers sich bemerkbar gemacht und psychische Entropie ausgelöst haben. Aber sie bewirken kein psychologisches Wachstum. Sie vermitteln dem Selbst keine Komplexität.« (Mihaly Csikszentmihalyi: Flow, das Geheimnis des Glücks, S. 70) 65 Vgl. Klein: Die Glücksformel, S. 48 f. Als einzige Gemeinsamkeit der beiden gegensätzlichen psychologisch-eudaimonologischen Thesenkomplexe verbleibt, wie Klein richtig herausstreicht, die Vorstellung von der generellen Machbarkeit des Glücks. Zum antiken Erfüllungsglück als »Folge einer Tätigkeit« bemerkt Klein im Geiste seiner Zeit: »Weil wir heute das Glück nur noch als einen angenehmen Zustand verstehen, fällt es uns nicht ganz leicht, diesen Gedanken zu folgen. […] Wir neigen dazu, Glück als Genuss ohne Vorgeschichte und Kosten zu begreifen, nicht als Prozess.« (ebd., S. 48) 66 Allport: Gestalt und Wachstum, S. 88. 64

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basierende, weltzugewandte und gesellschaftsorientierte Reifung unserer Gesamtpersönlichkeit. Auf die von Abraham Maslow statuierte Differenz zwischen Sicherheits- und Wachstumsmotivation rekurrierend, erläutert Gordon Allport diese fundamentalen anthropologischen Zusammenhänge, welche die Annahmen der radikalen psychologischen Hedonisten unterminieren, so: »Bevor das Kind in einem psychologischen Sinn wachsen kann, muss es ein Stadium erreicht haben, wo es seinen Eltern und seiner Umgebung vertraut, dass sie ihm Ernährung, Pflege und Sicherheit bieten. Wenn es dieses Stadium nicht erfolgreich durchläuft, wächst es als ängstliche und fordernde Person auf, die immer an die Befriedigung ihrer unmittelbaren Triebe fixiert ist. In psychiatrischen Krankenhäusern (aber auch im gewöhnlichen Leben) treffen wir Menschen, die anscheinend keine Fähigkeit zum Wachsen haben, sondern die ganz auf ihr vegetatives Leben konzentriert sind – auf die Befriedigung ihrer segmentalen (Trieb-)Bedürfnisse. […] Das gesunde Kind und der gesunde Erwachsene bauen kontinuierlich Spannung in der Form von neuen Interessen auf und gehen ihren Weg oberhalb der Sicherheitsebene der Homöostase.« 67

Natürlich stellen die meisten Genuss verheißenden, immer exquisiteren sekundären Bedürfnisse einer eskalierenden Vergnügungsindustrie wie etwa diejenigen nach Massage-Verwöhnungen im Wellnesscenter Phänomene des Überflusses jenseits des Homöostasieprinzips dar. Gleichwohl ist die anvisierte Lust auch hier eine durch Sinnesreize ausgelöste angenehme körperliche Empfindung, die das »Gefäß« des Menschen keineswegs wachsen lässt und lediglich für momentanen lustvollen »Nervenkitzel« sorgt, ohne den Menschen mit Freude oder Glück zu erfüllen. Während nach Allport die Fixierung eines erwachsenen Menschen auf die lustvolle Beseitigung physischer oder psychischer Mangelzustände bzw. auf die Lust bei solchen Befriedigungserlebnissen eindeutig krankhaft ist, diffamiert Fromm auch die grassierende Jagd nach genussreichem Nervenkitzel als »pathologisch« und somit als anthropologische Verirrung: »Die Vergnügungen der radikalen Hedonisten, die Befriedigung immer neuer Gelüste und das Vergnügungsgewerbe der heutigen Gesellschaft rufen einen Nervenkitzel verschiedenen Grades hervor, aber sie erfüllen den Menschen nicht mit Freude. Die Freudlosigkeit seines Lebens zwingt ihn im Gegenteil, immer wieder nach neuen und noch aufregenderen Vergnügungen 67

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zu suchen. […] Vergnügungen und Nervenkitzel hinterlassen ein Gefühl der Traurigkeit, wenn der Höhepunkt überschritten ist. Denn die Erregung wurde ausgekostet, aber das Gefäss ist nicht gewachsen.« 68

Zur Konsolidierung der eudaimonologischen Disqualifikation des »psychologischen Hedonismus«, demzufolge der Mensch mit biologischer Notwendigkeit nach einem Maximum an Lust mittels basaler physiologischer Spannungsreduktion oder ästhetisch-hedonistischer, künstlicher Oberflächenreizungen strebe, zugunsten eines humanistischen, die anthropologisch bedeutsame »Wachstumsmotivation« akzentuierenden Modells einer progressiven, spannungsaufbauenden und beglückenden Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit, gilt es, das »hedonistische Grundparadox« in Augenschein zu nehmen (3): Dieses von Henry Sidgwick und Nicolai Hartmann formulierte Paradox, demzufolge unser subjektives Wohlbefinden umso schwächer ausfällt, je intensiver es anvisiert wird, erklärt sich dadurch, dass grundsätzlich nur Werte, materielle Objekte oder deren Aneignung bzw. Besitz erstrebt werden können, alle Arten subjektiven Wohlbefindens hingegen »dazukommende Vollendung« 69 solch gerichteter Tätigkeiten darstellen. Die Utilitaristen Bentham und Mill ziehen hingegen den sogenannten »hedonistischen Fehlschluss«, der von der trivialen Tatsache, dass jede Bedürfnisbefriedigung, Wunscherfüllung und jeder Vollzug wertvoller, zielgerichteter Tätigkeiten uns Freude oder Vergnügen bereitet, alles menschliche Streben ziele per se auf subjektives Wohlbefinden ab. 70 Versuchen wir aber entsprechend dem Appell ihres utilitaristischen »Prinzips des größten Glücks« das eigene oder fremde Wohlgefühl zu intendieren, wäre dies allenfalls vermittels einer Reflexion auf bereits gemachte Erfahrungen einer Äquivalenz-Relation zwischen bestimmten Gütern oder Aktivitäten und den entsprechenden Gefühlsqualitäten möglich. Indem ein solches Räsonnement aber die notwendige Hingabe an den Gegenstand oder das erstrebte »Gute« bzw. Ders.: Haben oder Sein, S. 115. Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1174b, 32–1174a, 16: »Die Lust vollendet die Tätigkeit, aber nicht wie ein in ihr vorhandener Zustand, sondern als eine dazukommende Vollendung, wie die Schönheit beim Wachsenden. […] Das Leben ist eine Art von Tätigkeit, und jeder bemüht sich darum und darin, was er am meisten schätzt, der Musiker mit dem Gehör um die Lieder, der Wissbegierige mit dem Denken um die Wissenschaft usw., und die Lust vollendet die Tätigkeit und also auch das Leben, nach dem sie streben. Begreiflicherweise also streben sie nach der Lust.« Vgl. auch Kapitel 1, S. 33 f. 70 Vgl. dazu etwa Forschner: Über das Vergnügen, S. 156. 68 69

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Handlungsziel irritiert und hemmt, dezimiert sie auch das erhoffte Folgegefühl, so dass der utilitaristische wie jeder andere Hedonismus tatsächlich »in sich widersinnig ist« 71 . Während Aristoteles zunächst offenlässt, ob wir nun »um der Lust willen das Leben oder um des Lebens willen die Lust wünschen«, 72 tritt spätestens bei seiner abschließenden Evaluation der theoretischen und ethischen Lebensform klar ans Licht, dass die »Lust« sowohl in qualitativer wie quantitativer Hinsicht von der »Güte« bzw. »Vollkommenheit« der betreffenden Tätigkeit abhängt. »Lust« figuriert dann offenkundig nicht als selbständiges psychophysisches Phänomen, sondern begleitet das intentionale Phänomen der Freude, wobei sie statt der Entspannung bei der triebhaften Beseitigung eines Mangels dem Spannungsaufbau bei zielgerichteten, persönlichkeitsrelevanten Aktivitäten entspringt. 73 »Es würde auch keiner zu leben wünschen«, postuliert Aristoteles, »wenn er sein Leben lang nur den Verstand eines Kindes hätte, sich nach Kräften freute über das, worüber sich die Kinder freuen; noch würde er sich freuen, wenn er dabei äußerst Schimpfliches tun müsste, auch wenn er niemals Schmerz empfinden sollte. Auch würden wir uns um vieles bemühen, auch wenn es uns keine Lust brächte, wie um Sehen, Erinnerung, Wissen, Besitz der Tugenden. […] Dass also die Lust nicht das höchste Gute ist und dass nicht jede Lust wünschbar ist, scheint klar zu sein; ebenso, dass einige Formen der Lust wünschbar sind, die sich von den andern der Art und dem Ursprung nach unterscheiden.«74 Vgl. Hans Krämers Erläuterungen in: Integrative Ethik, S. 135 f.: »Da demnach ›Glück‹, Wohlgefühl, Lust dem Intendierenden und Handelnden nur umwegig, mittelbar und akzidentiellerweise zufallen können, sind sie konstitutionell ungeeignet, die Funktion von Teil- oder gar Letztzielen des Handelns zu übernehmen. Dies bedeutet aber, dass der Hedonismus dem Anspruch, auf der Basis von Gefühlsqualitäten eine selbständige Zielformation und einen eigenen Ethiktyp zu entwickeln, von irrtümlichen Voraussetzungen ausgeht und in sich widersinnig ist.« 72 Aristoteles: Eth. nic., 1175a, 18 f. 73 Wie zu Beginn von Kapitel 3.2, S. 182 dargestellt, wird jedes Gefühl mehr oder minder von Lust oder Unlust begleitet bzw. grundiert. 74 Aristoteles: Eth. nic., 1174a, 1–10. Vgl. auch ebd., 1176b, 24 ff., wo der Lebensform des Denkens die wertvollste und größte Lust zugesprochen wird aufgrund ihrer unübertreffbaren Vollkommenheit: »Dass man die anerkannt schimpflichen Lüste nicht Lust nennen darf, außer für Verdorbene, ist klar. […] Mag nun der vollkommene und glückselige Mensch eine oder mehrere Tätigkeiten haben, so werden jedenfalls die diese Tätigkeiten vollendenden Lustempfindungen im eigentlichen Sinne die Lust des Menschen heißen, die übrigen in sekundärem und vielfach nachgeordnetem Sinne, wie eben auch die Tätigkeiten.« (ebd., 1176a, 23–29) 71

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Bereits am Ende des Teilkapitels 2.2 wurde manifest, 75 dass der Mensch auf seiner von der paraphilosophischen Werbung und Literatur angekurbelten Glückssuche als direktem Streben nach Lust notwendig scheitern muss, weil der Mensch nicht direkt Freude oder Lust und schon gar nicht jede beliebige Art von Lust intendieren kann, sondern einen Grund für seine Lust, Freude oder sein Glück braucht: »Je mehr es dem Menschen um Lust geht, um so mehr vergeht sie ihm auch schon. Je mehr er nach Glück jagt, um so mehr verjagt er es auch schon. Um dies zu verstehen, brauchen wir nur das Vorurteil zu überwinden, dass der Mensch im Grunde darauf aus sei, glücklich zu sein; was er in Wirklichkeit will, ist nämlich, einen Grund dazu zu haben. Und hat er einmal einen Grund dazu, dann stellt sich das Glücksgefühl von selbst ein. In dem Maße hingegen, in dem er das Glücksgefühl direkt anpeilt, verliert er den Grund, den er dazu haben mag, aus den Augen, und das Glücksgefühl selbst sackt in sich zusammen.« 76

Wie eine große Zahl von Philosophen und humanistischen Psychologen überzeugend verfechten, scheint das »fundamentalontologische Charakteristikum« des menschlichen Existierens und Strebens gerade in der »Selbst-Transzendenz« zu liegen, so dass »der Konzentration auf die eigene Erlebnislust […] das Merkmal des Künstlichen, Nachträglichen, des Unnormalen, ja mitunter des nachgerade Verkehrten« anhaftet: 77 »Erst wenn die primäre gegenständliche Orientierung verfehlt wird und gescheitert ist, kommt es zu jener zuständlichen Interessiertheit, wie sie das neurotische Dasein so sehr auszeichnet«, berichtet der Psychiater Frankl; »denn dem wahren Menschen geht es nicht um irgendwelche Zustände in seiner Seele, sondern um die Gegenstände in der Welt: primär ist er auf sie hingeordnet und ausgerichtet und es ist erst der neurotische Mensch, der nicht mehr, wie der normale, gegenständlich orientiert, vielmehr zuständlich interessiert ist.« 78 Vgl. S. 144 f. Viktor Frankl: Der Wille zum Sinn, S. 20. Frankl illustriert dies am Paradebeispiel der Sexualität: »Die meisten Fälle von Potenzstörung und Frigidität sind gerade darauf zurückzuführen, dass der Patient sich zur sexuellen Leistungsfähigkeit und zur sexuellen Genussfähigkeit verpflichtet fühlt. […] Denn wirkliche menschliche Sexualität ist immer auch schon mehr als bloße Sexualität, und zwar insofern, als sie Ausdruck eines Liebesstrebens ist. Ist sie es aber nicht, kommt es auch nicht zu einem vollen Sexualgenuss.« (ebd., S. 21) 77 Forschner: Über das Vergnügen, S. 156. 78 Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 104. 75 76

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Nicht nur bezüglich Freude und Glück, sondern auch für sinnlichkörperliche »Lust und Genuss«, ist nach Emil Angehrn grundsätzlich »fraglich, ob sie in der intentio recta angestrebt, gar realisiert werden können – auch wenn dies für bestimmte, besonders physische Erlebnisformen zweifellos der Fall sein kann.« 79 Neben den Neurotikern sind es die Tieren und Kinder, welche, getrieben einzig und allein vom freudschen Lustprinzip, die Permanenz solcher lustvoller Zuständlichkeiten einfordern. Die Philosophen pflegen ihnen daher die Fähigkeit zum Glücklichsein radikal abzusprechen, weil sie aufgrund dessen ein vernunftgeleitetes, triebdistanziertes und an selbsttranszendierende Ziele gebundenes objektzentriertes Handeln vermissen lassen, selbst wo sie kunstvoll zielgerichtete Tätigkeiten im weiten Sinne (Verhalten) wie das Nestbauen verrichten: 80 »Sinnvollerweise nennen wir nun auch weder ein Rind noch ein Pferd noch irgendein anderes Tier glückselig«, lesen wir exemplarisch bei Aristoteles: »Denn keines von ihnen kann an einer solchen Tätigkeit teilhaben. Aus demselben Grunde ist auch ein Kind noch nicht glückselig. Denn es kann wegen seines Alters noch nicht derartig handeln. Preist man solche aber dennoch glückselig, so tut man es im Sinne einer Hoffnung.« 81 Damit wäre der empirischen Begründung des Hedonismus im Sinne Epikurs und Ciceros der Boden entzogen, da sie ihre Identifikation von Glück und Lust mit dem Verweis auf das Verhalten Neugeborener zu erledigen pflegen. 82 Bei den als Glückskandidaten in Frage kommenden gesunden, sich entfaltenden erwachsenen Persönlichkeiten scheint im Kontrast zur These des psychologischen Hedonismus mithin als anthropologische Konstante fungieren zu dürfen, dass sich das »Selbst und sein Befinden natürlicherweise nur im Schmerz und Bedürfnisdruck und unter den Bedingungen der Bedrückung und Behinderung in den Vordergrund [rücken], während wir den unbehinderten Vollzug objektzentrierter selbstwerthafter AktiEmil Angehrn: Der Begriff des Glücks und die Frage der Ethik, S. 37 f. »Es hieße Missbrauch treiben mit der Sprache, wollte man ein Tier glücklich nennen«, warnt Josef Pieper in: Glück und Kontemplation, S. 16, und Spaemann expliziert: »Wesen, die zwar extrovertiert leben, die aber eben deshalb jeweils ganz und unreflektiert im Mittelpunkt ihrer Umwelt stehen und allein vom Lustprinzip geleitet werden, weil für sie die objektiven Zwecke, zu denen sie das Lustprinzip führt, angefangen mit der Selbst- und Arterhaltung, gar nicht da sind. Der Vogel muss nicht an seine Jungen denken, wenn es ihn drängt, ein Nest zu bauen.« (Robert Spaemann: Die Zweideutigkeit des Glücks, S. 23) 81 Aristoteles: Eth. nic., 1099b, 22–1100a, 3. 82 Vgl. Epikur: Brief an Menoikeus, 5. Abschnitt. 79 80

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vitäten auch unter Bedingungen des Ernstes, der Anstrengung und Mühe als erfüllend und freudvoll erleben.« 83 Gefeit gegen die utilitaristischen Grundirrtümer des »hedonistischen Fehlschlusses« und des »hedonistischen Paradoxes« ist wohl auch jeder, der sich das Gedankenexperiment aus Robert Nozicks Anarchie, Staat und Utopie vergegenwärtigt, welches seither in bunten Variationen in der philosophischen Glücksdebatte zirkuliert. Nozicks Ausgangsfrage, ob für den Menschen noch etwas anderes von Bedeutung sei als Zustände subjektiven Wohlbefindens, tangiert nämlich unmittelbar unsere interpretatorische Crux, ob Benthams Glücksdefinition als Maximum von Lustempfindungen wirklich zureichend sei, und verschafft dem gegen Bentham erhobenen Naturalismus- und Determinismusvorwurf (4) Zündstoff: »Man stelle sich eine Erlebnismaschine vor, die einem jedes gewünschte Erlebnis vermittelt. Super-Neuropsychologen können das Gehirn so reizen, dass man glaubt und das Gefühl hat, man schriebe einen großen Roman, schlösse eine Freundschaft oder läse ein interessantes Buch. Dabei schwimmt man die ganze Zeit in einem Becken und hat Elektroden ans Gehirn angeschlossen. Sollte man sich lebenslang an diese Maschine anschließen lassen, so dass alle künftigen Erlebnisse im voraus festgelegt sind?« 84

Als argumentative Stützen dafür, warum man sich nicht an die Erlebnismaschine anschließen lassen und das gute Leben nicht über Bewusstseinszustände subjektiven Wohlbefindens definieren sollte, offeriert uns Nozick selbst: dass wir a) etwas wirklich und nicht nur vorgetäuscht tun, b) ein wirklicher, konkreter Mensch sein und c) uns in einer wirklichen Welt bewegen wollen. 85 Die Punkte a) und c) verweisen dabei augenscheinlich auf die wesenseigene Welthaftigkeit und Weltoffenheit des Menschen bzw. auf ein menschliches Glück als Weltverhältnis, welche uns gegen Nozicks Gedankenexperiment rebelllieren lassen, wir hätten lediglich den Eindruck, einen Roman zu schreiben oder eine Freundschaft zu schließen, statt tatsächlich einen zu schreiben oder einen Freund zu treffen. Dagegen scheint der mittlere Grund (b) zumindest ansatzweise das aufklärerische Ideal eines selbstbestimmten, autonomen Menschen aufleuchten zu lasForschner: Über das Vergnügen, S. 156. Robert Nozick: Anarchie, Staat und Utopie, S. 52. 85 Vgl. ebd., S. 52 f. Nozick bescheidet sich denn auch damit, »lediglich festzustellen, wie schwierig die Frage ist, was für die Menschen außer ihren Erlebnissen noch wichtig ist.« 83 84

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sen. 86 Obgleich Mill bei seinem Plädoyer für einen qualitativen Hedonismus prätendiert, dass die Würde der Menschen »einen so entscheidenden Teil ihres Glücks ausmacht, dass sie nichts, was mit ihm unvereinbar ist, länger als nur einen Augenblick lang zu entbehren imstande sind«, 87 ist wohl weniger das Würdegefühl unmittelbar glücksfördernd, weil Würde bzw. Autonomie als Fähigkeit zur rationalen Gestaltung unseres Lebens vielmehr überhaupt erst die Bedingungen der Möglichkeit eines guten und damit übergreifenden gelingenden Lebens sind. 88 Als kanadische Naturwissenschaftler Nozicks hypothetisches Gedankenexperiment im wirklichen Labor mit Ratten durchspielten, die sich selbst mittels Stromstößen in den im Hypothalamus eingeschobenen Elektroden stimulieren konnten, musste man hingegen feststellen: »Die Ratten riskierten zu sterben für ein bisschen Glück!« 89 Dem anti-hedonistischen Appell an Autonomie und Würde des Menschen folgt zumeist eine Attacke gegen die Episodizität des hedonistischen Glücksverständnisses mitsamt dem ihm zugrundeliegenden ungeschichtlichen Menschenbild (5) dicht auf der Ferse: Vergeblich versuche die hedonistische Reflexion alleinige Wirklichkeit der bewussten Gegenwart zu attestieren und somit einen »Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks« zu statuieren, denn sie scheitere notwendig daran, dass der Mensch ein »zeitstiftendes Wesen« sei, und daher auch die Struktur seines Erlebens als solche, die gelebte In dieser Weise legt auch Schaber das fragliche Gedankenexperiment aus: »Wir wollen in unserem Leben nicht nur Gückserfahrungen machen. Vielmehr wollen wir beispielsweise auch ein autonomes Leben führen; […] Und dies wollen wir nicht, weil wir glauben, Autonomie sei in jedem Fall glücksfördernd. Im Gegenteil. Wir wollen ein autonomes Leben, auch wenn wir wissen, dass dies zuweilen mit für uns negativen Erfahrungen verbunden ist.« (Schaber: Gründe für eine objektive Theorie, S. 152) 87 Mill: Der Utilitarismus, S. 17. Das »Gefühl der Würde« sei in jedem Menschen im Verhältnis zu ihren höheren Anlagen verschieden ausgeprägt (vgl. ebd.). 88 Vgl. zum Verhältnis von Glück und Freiheit Kapitel 4.2. Wenn Mill unmittelbar zuvor schreibt, die Präferenz des Menschen für ein Glück höherer geistiger Aktivitäten auf Kosten des niedrigeren Luststrebens ließe sich durchaus »der Freiheitsliebe und dem Streben nach Unabhängigkeit zuschreiben, woran die Stoiker appelliert haben und worin sie eines der wirksamsten Mittel gefunden haben, die Menschen zu diesem Widerstreben zu erziehen« (ebd.), könnte man tatsächlich mit Janke vermuten, »dass Mills vielfach schwankende Apologie des epikureischen Hedonismus sich der alten hellenistischen Gegenposition zuneigt, einer stoischen Weisheitslehre und Lebenskunst.« (Wolfgang Janke: Das Glück der Sterblichen, S. 115) 89 Vgl. zu diesem legendären Laborexperiment von James Olds Stefan Klein: Die Glücksformel, S. 137 f. 86

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Gegenwart ihres genuin vektoriellen Charakters gar nicht entkleidet werden könne. Spaemann analysiert dies trefflich so: »Die hedonistische Reflexion versucht, die Selbsttranszendenz eines zeitstiftenden, sich selbst zeitigenden Wesens zurückzunehmen. Wirklichkeit hat nur die bewusste Gegenwart. Aber der vektorielle Charakter, der Richtungssinn gehört zum Phänomen gelebter Gegenwart. Gegenwart ist nicht ein statischer Augenblick, für den das Vergangene und das Künftige symmetrische ›Ekstasen‹ sind. Wir können Gegenwart vielmehr einerseits denken als ›stehendes Jetzt‹, durch welches der Strom der Ereignisse hindurchfließt, das also einen stets wechselnden Gehalt hat, andererseits aber können wir sie verstehen als durch ihren Gehalt definiert und also mit diesem selbst vergehend, das heißt zur ›Vergangenheit‹ werdend. In der letzten Sicht ist Gegenwart nicht der Zeit enthoben und so Ursprung von Zeit, sondern selbst eine Dimension der Zeit und durch einen Richtungssinn bestimmt.« 90

Während in Nietzsches Bild die vorüberweidende Herde nicht weiß, »was Gestern, was Heute ist, […], frisst, ruht, verdaut, […] und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust; an den Pflock des Augenblicks«, mag der Mensch mitunter geneigt sein, an das Tier die Frage zu richten: »warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte« 91 ! Der Preis für das tierische Vergessenkönnen und die Lust des Augenblicks wäre wohl der menschliche Geist, weil einzig die Bewusstlosigkeit uns von jedem Gedanken an ein Früher oder Später abzuschneiden und den Augenblick gleichsam aus dem Horizont übergreifender Glückserwartungen gelingenden oder misslingenden Lebens zu entreißen vermöchte. 92 Da indes für das »Personsein« Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 55. Nietzsche: UB, S. 248. 92 Auch Seel stellt das »episodische Glück« – das in unseren Termini wohl mit »Freude« kongruierte – in einen umgreifenden Horizont zurück: »Wenn es zutrifft, dass episodisches Glück immer im Horizont einer übergreifenden Glückserwartung oder Glücksmöglichkeit – der eines gelingenden Lebens – steht, ist es dieses Glück, über das wir Aufschluss gewinnen müssen, wenn wir über das episodische Glück Aufschluss erhalten wollen. Von einfacher Zufriedenheit mit gegenwärtigen inneren und äußeren Zuständen hebt sich alles Glück (und alles Unglück) dadurch ab, dass es immer schon in diesem Zeithorizont vorauseilender Erwartungen und zurückreichender Erinnerungen steht.« (Seel: Versuch, S. 62 f.) 90 91

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eines Menschen gerade seine »exzentrische Position« 93 sowohl in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht konstitutiv ist, befindet er sich nicht nur immer schon »da draußen« bei der Welt (vgl. 3), sondern ist immer schon »sich vorweg«. »Das ›vor‹ und ›vorweg‹ zeigt die Zukunft an, als welche sie überhaupt erst ermöglicht, dass Dasein so sein kann, dass es ihm um sein Seinkönnen geht«, formuliert Heidegger in Sein und Zeit: »Das in der Zukunft gründende Sichentwerfen auf das ›Umwillen seiner selbst‹ ist ein Wesenscharakter der Existenzialität.« 94 Glück ist mithin im Unterschied zum bloßen augenblicklichen Wohlbefinden eine Daseinsmöglichkeit, die nur selbst- und zeitbewussten Lebewesen offensteht, 95 welche zur wertenden Stellungnahme zu ihrem Leben als Ganzem sowohl befähigt wie auch genötigt sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Integration unseres Lebens in ein zeitübergreifendes Ganzes, bei der das Vergangene im Lichte des zukünftigen »Umwillen« erinnert und das Künftige wiederum mit Blick auf das Vergangene projektiert wird, selbst »immer nur wieder ein Ereignis innerhalb dieses Ganzen sein kann.« 96 »So scheint in temporaler Sicht beides zum Glücksphänomen gehörig: Glück als erfüllter Augenblick und Glück als Transzendieren des momentanen Erlebnisses auf einen größeren Zeitabschnitt, idealiter eine Lebensganzheit hin«, erläutert Emil Angehrn die polare Grundstruktur des Glücks, wobei gilt: »Beides verweist auf ein Gegenüber. Nicht ein extensives Ganzes ist anvisiert, sondern eher eine Qualität jenes Moments, wo das Leben sich uns zu einem Ganzen zusammenschließt.« 97 Weil hingegen die Sammlung von Lustaugenblicken, die Erlebnisreihen der Ekstase mit nichts über sich hinausweisen und sich allenfalls zu einem bloß »extensiven Ganzen« formieren, gerinnen sie niemals zum Glück, sondern lassen anstelle eines komplexen (Glücks-)Gefühls lediglich eine Körperempfindung zurück. 98 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291 ff. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 327. 95 Vgl. Seel: Versuch, S. 63. Wir werden auf das Moment der Zeitlichkeit in Kapitel 5.1 zurückkommen. 96 Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 89. 97 Angehrn: Der Begriff des Glücks, S. 44. 98 Am Paradebeispiel der Liebe weist Höhler im Einklang mit Frankl (vgl. oben) auf: »Sinnbedürfnisse sind es im Grunde, die die Glückssucher in der Sexualität befriedigen wollen: der Rückzug auf das Fleisch als die letzte unbezweifelbare und vollverfügbare Wirklichkeit, über die jeder allein bestimmt. Aber die Sammlung der Lustaugenblicke gerinnt nicht zum Glück, schenkt auch nicht die erhoffte Geborgenheit, weil die Erleb93 94

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Lassen wir nach dieser fünffachen Kritik am hedonistischen Utilitarismus vornehmlich benthamscher Provenzienz – dem »naturalistischen Fehlschluss« (1), dem »psychologischen Hedonismus« (2), dem »hedonistischen Fehlschluss« der Intendierbarkeit der Lust (3), dem naturalistischen Determinismus (4) und der Ahistorizität (5) – Benthams Nachfolger Mill zu Worte kommen, der den »orthodoxen« Utilitarismus von seinen angeblich harmlosen Selbstmissverständnissen zu befreien ansetzt: Neben dem bereits erwähnten Hohelied auf die Würde des Menschen (ad 4), sprengt Mill auch den eudaimonologischen »Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks« (ad 5), indem er unter Glück »nicht ein Leben überschwenglicher Verzückung, sondern einzelne Augenblicke des Überschwangs inmitten eines Daseins, das wenige und schnell vorübergehende Phasen der Unlust, viele und vielfältige Freuden enthält« 99 , verstanden wissen will. Genauso aber, wie er mit diesem Lebensdauer-Glücksbegriff die ursprüngliche Identifikation von Glück und Lust durchkreuzt, gerät er gewissermaßen in Widerspruch zu seinem anfänglichen Grundsatz, »dass Lust und Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind« 100 , wenn er infolgedessen zur Grundhaltung der Bescheidenheit aufruft, »nicht mehr vom Leben zu erwarten, als es geben kann« 101 . Desgleichen scheint es in Anbetracht dieser elementaren Theoreme auch inkonsistent, zwischen verschiedenen Qualitäten von »pleasures« zu unterscheiden, nur weil per se einige »Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere« 102 . Gegen Benthams vielzitiertes provokatorisches Aperçu »quantity of pleasure being equal, pushpin is as good as poetry« zieht Mill nämlich mit der ebenso lakonischen Sentenz ins Feld: »Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufrienisreihen der Ekstase mit nichts über sich selbst hinausweisen.« (Gertrud Höhler: Das Glück, S. 77) 99 Mill: Der Utilitarismus, S. 23. 100 Ebd., S. 13. 101 Ebd. Mill lenkt dann den Leser sogleich ab auf das ausgewogene Verhältnis von Ruhe und Erregung als Kompensationsangebot für die entbehrte Lust, wodurch der Argumentationsgang in meinen Augen aber kaum an Luzidität gewinnt: »Die Hauptbestandteile eines befriedigten Lebens […] scheinen zwei zu sein: Ruhe und Erregung. Viele können, wie sie immer wieder feststellen, bei großer Ruhe mit sehr wenig Lust auskommen; viele finden sich bei großer Erregtheit mit einem beträchtlichen Maß an Schmerzen ab.« (ebd., S. 23 f.) 102 Mill: Der Utilitarismus, S. 15. A

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dener Narr.« 103 Wieso soll man aber für die geistigen Freuden um ihres höheren Wertes, ihrer »inneren Überlegenheit« 104 willen optieren und ein unzufriedener (»unsatisfied«) Sokrates sein, wo als einziges Handlungskriterium das Glück qua Maximum an Freude und Lust (»pleasure«) fungiert? Wenn ein versuchsweise ins nachmetaphysische Zeitalter versetzter Sokrates im Unterschied zum Schwein notwendig »unzufrieden« wäre aufgrund der Totalitätsvorstellungen und Vollkommenheitsausgriffe menschlicher Vernunft und seines dadurch implizierten neuzeitlich unstillbaren Vollkommenheitswahns 105 – führt dann wirklich der einzige Weg zum »sokratischen Glück« über eine massive Selbstbescheidung, wie Mill suggeriert? Fokussieren wir, um dem Gewirr solcher sich bei der Lektüre aufdrängender Fragen vorderhand zu entrinnen, zunächst unser Augenmerk auf Mills offenkundig den traditionellen platonischen Dualismus von sinnlichen versus geistigen Freuden reaktivierenden Schematismus »niedrigerer« (schweinischer) und »höherer« (sokratischer) »pleasures«. Mit wünschenswerter Klarheit insistiert Mill zwar darauf, den Vorteil oder Wert der »höheren« Freuden entgegen der bisherigen utilitaristischen Tradition nicht lediglich in der »größeren Dauerhaftigkeit, Verlässlichkeit, Unaufwendigkeit« zu erblicken, d. h. in quantitativen Merkmalen, sondern unter qualitativem Aspekt »in ihrer inneren Beschaffenheit«: »Es wäre unsinnig anzunehmen, dass der Wert einer Freude ausschliesslich von der Quantität abhängen sollte, wo doch in der Wertbestimmung all der anderen Dinge neben der Quantität auch die Qualität Berücksichtigung findet.« 106 Dennoch spricht er vage von verschiedenen »Quellen der Lust« 107 , ohne den strukturbildenden klassifizierenden Unterschied ihres sich einem simplen Kausalmodell widersetzenden intentionalen Charakters zu durchleuchten, wie wir ihn anlässlich des zweiten Einwandes zutage förderten. 108 Im Unterschied zur Quantität als dem Ebd. Ebd., S. 18. 105 »Es ist unbestreitbar, dass ein Wesen mit geringeren Fähigkeit die besten Aussichten hat, voll zufriedengestellt zu werden; während ein Wesen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben wird, dass alles Glück, das es von der Welt, so wie sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist.« (ebd., S. 17 f.) 106 Ebd., S. 15. 107 Ebd., S. 14. 108 In seiner wohlmeinenden Interpretation präsumiert Forschner, Mill sei sich dieses fundamentalen, qualitativ-strukturellen Unterschieds »zumindest implizit bewusst« gewesen: »Mill spricht in schillernder, gegenüber dem Unterschied einer kausalen oder 103 104

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Ausmaß oder der Intensität subjektiven Empfindens 109 – die also augenscheinlich mehr umfasst als die rein physiologisch-körperliche Seite eines Gefühls (Materie) –, wird daher betreffs der von Mill als Präferenzkriterium für die »höheren Freuden« auf den Plan gebrachten Qualität lediglich manifest, dass sie eindeutig nicht im alltagssprachlichen Sinne soviel meint wie »Wert« oder »Güte« eines Gefühls, sondern im Einklang mit unseren emotionspsychologischen Referenten dessen »Art« oder »innere Beschaffenheit« (Form/Wesen) kennzeichnet. 110 Während Mill mithin die moralisch bedeutsame qualitätsbildende Struktur höherer menschlicher Freuden im Dunkeln beläßt, nimmt er mit folgender These kurzerhand Zuflucht zu einer Anthropologie, die er misslicherweise einfach voraussetzt, ohne sie zu entfalten: »Fragt man mich nun, was ich meine, wenn ich von der unterschiedlichen Qualität von Freuden spreche, und was eine Freude – bloß als Freude, unabhängig von ihrem größeren Betrag – wertvoller als eine andere macht, so gibt es nur eine mögliche Antwort: von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide erfahren haben […], entschieden bevorzugt wird. […] Es ist nun aber eine unbestreitbare Tatsache, dass diejenigen, die mit beiden gleichermaßen bekannt und für beide gleichermaßen empfänglich sind, der Lebensweise entschieden den Vorzug geben, an der auch ihre höheren Fähigkeiten beteiligt sind.« 111

Es lässt sich in Anbetracht der von Mill imaginierten multikompetenten, mit der ganzen Palette menschlicher Freuden vertrauter anthropologischer »Richter« 112 tatsächlich mit Höffe mutmaßen, die höhere »Qualität« der geistigen Freude weise sich letzlich dadurch aus, dass man hier einfach »in einem höheren Maß Mensch ist als bei sinnlichen Freuden« 113 . Anhand des kontrafaktischen Gedankenintentionalen Interpretation neutralen Weise von verschiedenartigen Quellen der Lust (sources of pleasure). Aber dass er sich des Unterschieds zumindest implizit bewusst war, zeigt sich daran, dass er die Fixierung des älteren Utilitarismus auf die Lust ›bloß sinnlicher Empfindung‹ und den Rahmen einer unterscheidenden Bewertung nach rein quantitativen Gesichtspunkten […] durchbricht. Er will Arten der Lust gemäß ihrer inneren Beschaffenheit unterschieden wissen.« (Forschner: Über das Vergnügen, S. 158) 109 Vgl. Mill: Der Utilitarismus, S. 20. 110 Vgl. Kapitel 3.2, S. 210. 111 Mill: Der Utilitarismus, S. 16. 112 Als solche designiert sie Mill ebd., S. 19. 113 Höffe: Einführung, S. 23. A

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experiments – mit welchem Mill im Grunde das viel berühmtere von Nozick antizipiert (vgl. Kritikpunkt 4) –, ob sie darin einwilligen würden, »sich in eines der niederen Tiere verwandeln zu lassen, wenn man ihnen verspräche, dass sie die Befriedigungen des Tieres im vollen Umfange auskosten dürften«, 114 können angeblich alle Glücksaspiranten problemlos den Vorzug höherer Freuden verifizieren. Da auch die humanistischen Psychologen aufgrund zahlreicher empirischer Studien affirmieren: »Alle, die in ihren höheren wie auch niedrigeren Bedürfnissen befriedigt wurden, werten die höheren mehr als die niedrigeren«, 115 darf man Mills These wohl als anthropologische Konstante Ernst nehmen. Wenig glaubwürdig erscheint hingegen seine Abkoppelung der Qualität von der Quantität der Freude sowie die daraufhin lancierte Kontradiktion zwischen beiden: »Wird die eine von zwei Freuden von denen, die beide kennen und beurteilen können, so weit über die andere gestellt, dass sie sie auch dann noch vorziehen, wenn sie wissen, dass sie größere Unzufriedenheit verursacht, und die sie gegen noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könnten, nicht eintauschen möchten, sind wir berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben, die die Quantität so weit übertrifft, dass diese im Vergleich nur gering ins Gewicht fällt.« 116

Auf welche Weise soll die dürftige Quantität, d. i. die vermisste Intensität einer lustvollen Empfindung durch eine nicht näher erläuterte Art oder Qualität einer Freude gleichsam kompensiert werden können? Müsste sich bei den höheren »pleasures« nicht unwillkürlich die angeblich durch den unstillbaren neuzeitlichen Vollkommenheitswahn induzierte sokratische »Unzufriedenheit« zur »Quantité négligeable« diminuieren und sich andererseits synchron zur Eskalation der Qualität auch die Quantität subjektiven Wohlbefindens potenzieren, wenn doch das Empfindungsmaß spezifischer menschlicher »Freuden« – anders als dasjenige der kausal erzeugten »Lust« – gemäß unserer emotionspsychologischen Einsichten vom jeweiligen gefühlskonstitutiven Objektbezug abhängig ist? Versucht man sich, sowohl in rekonstruktiver wie korrektiver Absicht, mit Hilfe der Erkenntnisse der humanistischen Psychologie die von Mill leider ausgesparten anthropologischen Prämissen vor 114 115 116

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So lautet das experimentum crucis Mills in: Der Utilitarismus, S. 16. Abraham Maslow: Motivation und Persönlichkeit, S. 155 f. Mill: Der Utilitarismus, S. 16.

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Augen zu führen, gilt zuallererst klarzustellen: Während Mill in Sachen Gefühlsqualität explizit und emphatisch auf qualifizierte anthropologische Richter verweist, ordnet er doch die »höheren pleasures« nach der Klasse ihrer Referenzobjekte – sei es die Freude der Gemeinschaft oder die Freude an der Philosophie –, 117 damit implizit deren sie von den »niederen pleasures« abgrenzende intentionale Struktur konzedierend. »Pleasures«, die unter Beteiligung höherer psychischer und geistiger Fähigkeiten intentional auf Menschen oder Gegenstände in der Welt gerichtet sind, empfangen aber nicht nur ihre Gefühlsqualität durch die entsprechende Wertbindung – sei es eine liebende Gefühlsbindung an verehrte Menschen oder ein starkes Erkenntnisinteresse an exquisiten Objekten –, 118 sondern zugleich die Quantität subjektiven Erlebens. Da gemäß unseren emotionspsychologischen Analysen Qualität/Form und (die hier etwas enger gefasste) Quantität/Materie im einzig adäquaten Zwei-Faktoren-Modell elementar zwei Seiten ein und desselben Gefühls darstellen und das kognitive und physiologische Moment im subjektiven Gefühlserleben vollständig verschmelzen, kann es gar nicht anders sein, als dass eine durch ein dezidiert affirmatives Urteil über ein Referenzobjekt konstituierte Freude auch »dem menschlichen Empfinden am meisten zusagt« 119 , wodurch die von Mill heraufbeschworen Antinomie entschwände: »Es scheint weniger Widerspruch zwischen der ernsten Stimme der Pflicht und dem fröhlichen Aufruf zur Freude zu bestehen, als wir dachten«, registriert dementsprechend Maslow. »Auf dem höchsten Niveau des Lebens, das heißt des Seins, ist Pflicht Freude, man liebt die eigene Arbeit, und es gibt keinen Unterschied zwischen Arbeit und Urlaub.« 120 Man scheint als Interpret angesichts dessen nicht darum herumzukommen, Benthams zwar weniger differenzierten, auf sämtliche qualitativen Unterschiede verzichtenden Vgl. ebd., S. 24 f. Vgl. ebd. 119 Ebd., S. 19. Höffe legt diese obskure Stelle dahingehend aus, dass Mills Qualitätskriterium – gegen seinen Willen! – sich auf ein quantitatives zurückführen lasse: »Hier geht Mill also selbst von einer Vergleichbarkeit aus, die sich quantitativ als ›mehr oder weniger stark erstrebt‹ interpretieren lässt; auch wenn die Bewertung der verschiedenen Freuden nicht mehr mit dem übermäßig vereinfachten Instrumentarium von Benthams hedonistischem Kalkül auskommen mag, steht im Hintergrund ein quantitativer Begriff.« (Höffe: Einführung, S. 23) Indem Mill aber dezidiert erklärt, die »Richter« würden allein »der Art nach – ungeachtet ihrer Intensität« (Mill: Der Utilitarismus, S. 20) die höheren Freuden präferieren, scheint mir diese Deutung eher abwegig. 120 Maslow: Motivation, S. 159. 117 118

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Hedonismus als den konsequenteren zu favorisieren und Mills differenziertere Konzeption als unplausibel zu depravieren, denn, in Höffes Worten: »Im Rahmen einer hedonistischen Anthropologie liegt der letzte Grund dafür, nicht wie ein Schwein zu leben, doch darin, dass der Mensch als Mensch in der Lebensweise eines Schweines nicht seine Befriedigung, Erfüllung findet.« 121 Ungeachtet Mills künstlicher und irreführender Antinomie von Qualität und Quantität in unserem komplexen Gefühlserleben, wollen wir doch entlang der Leitfrage, warum der Mensch mit der Lust eines Schweines scheinbar nicht glücklich werden kann, vor deren unbedachten Diskreditierung nochmals einen Blick auf Mills intuitiv richtige, aber wenig fundierte Differenzierung werfen: Mills Ausgangspunkt, die Menschen vermöchten aufgrund der unleugbaren Existenz höherer psychischer und geistiger Fähigkeiten »nur darin ihr Glück zu sehen, worin deren Betätigung eingeschlossen ist«, 122 kongruiert prinzipiell mit dem auf Aristoteles zurückgehenden humanistischen Grundsatz, dass allen Lebewesen »die Tendenz inne[wohnt], die ihnen eigenen Möglichkeiten zu verwirklichen«. »Demzufolge«, so schliesst Erich Fromm, »muss man das Ziel des menschlichen Lebens in der Entfaltung der menschlichen Kräfte entsprechend den Gesetzen der Natur des Menschen sehen.« 123 Wie wir bereits im Zusammenhang mit dem zweiten Einwand gegen Benthams quantitativem Hedonismus aufwiesen, erlebt ein Mensch kein Glück im Sinne eines »Erfüllungsglücks« bei der mit den Schweinen gemeinsamen Lust der Triebreduktion und Spannungslösung (»contentment«) 124 , wenngleich die langfristig sichergestellte Stillung der primären physiologischen Bedürfnisse die in der Regel unabdingbare Höffe: Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus, S. 151. »Denn wenn die Quellen der Lust für Menschen und für Schweine genau dieselben wären, müsste die Lebensregel, die für die einen gut genug ist, auch für die anderen gut genug sein. Nur deswegen wird ja die Gleichsetzung des epikureischen Lebens mit dem tierischen als entwürdigend empfunden, weil die Lust des Tieres der menschlichen Vorstellung von Glück nicht gerecht wird. Die Menschen haben höhere Fähigkeiten als bloß tierische Gelüste und vermögen, sobald sie sich dieser einmal bewusst geworden sind, nur darin ihr Glück zu sehen, worin deren Betätigung eingeschlossen ist.« (Mill: Der Utilitarismus, S. 14) 123 Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 26 (ohne Sperrungen). 124 Vgl. zur Divergenz von »happiness« qua »Erfüllungsglück« und »contentment«, meist mit »Zufriedenheit« übersetzt, aber in Absetzung zur im glücksgrammatischen Kapitel festgelegten Terminologie besser als Bedürfnis-»Befriedigung« oder »Empfindungsglück« gefasst, Kapitel 3, S. 156. 121 122

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Basis für ein gutes und glückliches Leben darstellt. 125 Denn sobald die reinen Überlebens- und Sicherheitswerte der primären Bedürfnisse realisiert sind, tauchen auf einer höheren Ebene sekundäre Bedürfnisse mit den für menschliches Glück im Rahmen einer kontinuierlichen Persönlichkeitsentwicklung konstitutiven »Sinn«- oder »Wachstumswerte« auf, die zwar Maslow zufolge genauso wie erstere im Repertoire der »menschlichen Natur« vorhanden sein müssen, aber als späte phylo- und ontogenetische Evolutionsprodukte spezifisch menschlich sind. 126 Statt wie Mill die höheren pleasures aufgrund obskurer anthropologischer Prämissen gegen die niedrigen ins Rennen zu schicken, plädiert Maslow daher mit Recht dafür, die traditionelle, von Mill konsolidierte »Gegensätzlichkeit und wechselseitige Ausschließlichkeit« sowie den »ewigen Konflikt um die Vorherrschaft zwischen ihnen« endlich fallenzulassen und den leidigen Dualismus zu überwinden. 127 Da der Mensch erfahrungsgemäß sowohl bei der Befriedigung niedriger wie auch höherer Bedürfnisse in den Genuss subjektiven Wohlbefindens kommt, müsste der konsequente Hedonist in der Tat die Vorstellung von der Unverrechenbarkeit der Befriedigungserlebnisse verabschieden. 128 Desgleichen müsste man auf einen durch ausgewählte anthropologische Richter geeichten obskuren »Maßstab, an dem Qualität gemessen und mit der Quantität verglichen wird«, 129 verzichten, weil Qualität prinzipiell nicht gegen Quantität aufgerechnet werden kann. Allein wenn sich menschliches Glück, wie Mill durchaus richtig erkennt, nicht wie bei den Schweinen in einem Maximalbetrag subjektiven Wohlbefindens erschöpft, sondern die Erfüllung von sich auf der Sicherheitsebene befriedigter primärer Bedürfnisse erhebenden und sich auf die uns umgebende Außenwelt konzentrierenden sekundären Bedürfnissen und Interessen voraussetzt, hat man folgerichtig vom Hedonismus als solchem Abstand zu nehmen. Obgleich man in quantitativer Hinsicht also durchaus sämtliche Arten von »pleasures« im hedonistischen Kalkül verrechnen kann und im kompromisslosen Hedonismus mit dem ausschließlichen Ziel eines neuzeitlichen »Empfindungsglücks« auch verrechVgl. oben, S. 262 ff. und Kapitel 5.2. Vgl. zur These der biologischen Verankerung sekundärer Bedürfnisse Maslow: Motivation, S. 157 f., zur Hierarchie menschlicher Bedürfnisse ebd., S. 78. 127 Vgl. ebd., S. 158. 128 So lautet das in Fußnote 34, S. 255 ausführlich zitierte Votum Baurmann/Kliemts. 129 Mill: Der Utilitarismus, S. 21. 125 126

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nen sollte, legen uns auf unserer Glückssuche Anthropologie und psychologische Motivationstheorie begründeterweise nahe, den qualitativ gehaltvollen Freuden als Ausdruck gelungener Welt-SelbstRelationen und eines Wachstums unserer Persönlichkeit eindeutig das Primat einzuräumen und den hedonistischen Grundsatz preiszugeben. »Zufriedenstellung der Sicherheitsbedürfnisse führt maximal zu einem Gefühl der Erleichterung und Entspannung«, so attestiert Maslow Mills Intuition, mit welcher er die Bastion des orthodoxen Hedonismus sprengt; »höhere Bedürfnisbefriedigungen führen zu erwünschteren subjektiven Resultaten, das heißt zu tieferem Glück, Gelassenheit und Reichtum des Lebens.« 130 Stellt man zudem Gordon Allports »Prinzip funktioneller Autonomie« in Rechnung, müsste ein Sokrates dank seiner geistigen Freuden auch glücklich sein können ohne die »schweinische« Befriedigung seiner Primärbedürfnisse! 131 Der von Mill proklamierte »qualitative Hedonismus« stellt dabei nicht nur eine contradictio in adjecto dar, weil sich die Kontrastierung von qualitativem und quantitativem Moment unserer Freuden grundsätzlich als verfehlt erweist, sondern hat sich vom Grundsatz des Hedonismus, demzufolge Glück in einem Maximum an »pleasure« besteht, in mehreren Schritten so weit entfernt, dass er auf seinen Namen kaum mehr Anrecht erheben darf: Neben Mills Akzentuierung der menschlichen Würde als Bedingung menschlichen Glücks und der Projektion eines an Maß und Bescheidenheit appellierenden Lebensdauerglücks, widerspricht sein Insistieren auf der besonderen »Qualität« spezifisch menschlicher, d. h. »höherer« pleasures der hedonistischen Kernintention. Nicht die Maximierung subjektiven Wohlbefindens und die Minimierung von Schmerz/Unlust empfiehlt uns Mill nämlich anzuvisieren. Vielmehr leitet er uns an zur ÜberEbd., S. 155 (ohne Sperrungen). Vgl. zu Allports Prinzip »funktioneller Autonomie« Maslow: Motivation, S. 104 oder S. 161: »In der Erkenntnis, dass das Leben auf einem höheren Bedürfnisniveau manchmal relativ unabhängig von der Befriedigung niedrigerer Bedürfnisse […] werden kann, mag vielleicht die Lösung für ein uraltes Dilemma der Theologen liegen. Sie haben es immer für notwendig gehalten, Geist und Fleisch, Engel und Teufel zu versöhnen zu versuchen – das höhere und das niedrigere im menschlichen Organismus, doch keiner hat je eine befriedigende Lösung gefunden. Die funktionelle Autonomie des höheren Bedürfnislebens scheint ein Teil der Antwort zu sein. Das Höhere entfaltet sich nur auf der Basis des Niedrigeren, doch mag es, wenn es fest genug eingerichtet ist, relativ unabhängig vom Niedrigeren werden.« Auf dieses Prinzip werden wir noch verschiedentlich zu sprechen kommen. 130 131

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windung der Egozentrik; zur Pflege menschlicher Bindungen und sachorientierter Auseinandersetzung mit Dingen der Außenwelt, welche ein gelingendes Weltverhältnis stabilisieren und ein freudvolles und glückliches Leben begünstigen. Denn auch in Mills Augen verfehlen die meisten Menschen ihr Glück, weil sie egoistisch nur an sich selbst denken, statt sich der Gemeinschaft oder den interessanten Erkenntnisobjekten ihrer Umwelt zuzuwenden: »Wenn Menschen mit einem leidlich günstigen äußeren Schicksal am Leben nicht genug Freude finden, um es sich lebenswert erscheinen zu lassen, hat das seine Ursache gewöhnlich darin, dass sie nur an sich selbst denken. […] Dass ein Leben unbefriedigend ist, hat seine Ursache außer im Ego vor allem auch im Mangel an geistiger Bildung. Ein gebildeter Mensch – nicht nur der Philosoph, sondern jeder, dem die Quellen des Wissens aufgetan worden sind und der zumindest in gewissem Maße gelernt hat, seine Möglichkeiten zu verwirklichen – findet Gegenstände unerschöpflichen Interesses in allem, was ihn umgibt.« 132

Im Zentrum des sogenannten »qualitativen Hedonismus« steht offenbar »etwas Höheres«, das es auf Kosten der Lust anzustreben gilt, und es gibt laut Mill auch keinerlei »innere Notwendigkeit«, dass »jeder Mensch ein selbstsüchtiger Egozentriker sein muss, ein Mensch, der Gefühl und Interesse nur für das übrig hat, was sich um seine eigene erbärmliche Person dreht. Etwas Höheres als dies ist selbst jetzt schon vorbereitet genug, um einen Vorgeschmack davon zu geben, wohin die menschliche Gattung geführt werden könnte.« 133 Wo Mill im Zeichen der Preisgabe des Hedonismus zugunsten eines »Höheren« primär die Entfaltung geistiger »Interessen« empfiehlt, verweist uns Maslow vornehmlich auf die glückskonstitutive Erfüllung von höheren oder »sekundären Bedürfnissen«, die gleich 132 Mill: Der Utilitarismus, S. 24 und S. 25. Vgl. auch Forschners Kommentar: »Menschliches Glück, so lassen sich Mills Gedanken zusammenfassen, realisiert sich im Vergnügen unbehinderten naturgemäßen Tuns. Der menschlichen Natur gemäß ist geistgeprägtes Tun, das sich forschend und betrachtend, herstellend und handelnd auf die Dinge der Natur und der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt einlässt. Die Überwindung der Egozentrik, die Pflege menschlicher Bindungen, sachorientierte Beschäftigung mit Dingen, die Interesse verdienen, sind konstitutiv für gelingendes Leben. […] Man mag diese Ethik Hedonismus nennen. Aber es ist ein Hedonismus, der um des Vergnügens des Lebens willen anderes als die eigene Lust als um seiner selbst willen zu erstreben empfiehlt.« (Forschner: Über das Vergnügen, S. 167) 133 Mill: ebd., S. 26.

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den »primären« in der Natur des Menschen verankert sein sollen. Während er sich damit vordergründig betrachtet nicht anders als die psychologischen Hedonisten dem Vorwurf des naturalistischen Determinismus oder hedonistischen Fehlschlusses aussetzt, betont er jedoch gleichzeitig, dass die Stärke eines Bedürfnisses reziprok zum Höhenniveau abnehme: »Eine Untersuchung der Grundbedürfnisse hat gezeigt, dass sie, obwohl ihre Natur in einem erkennbaren Ausmaß instinktoid ist, in mancher Weise anders sind, wie die Instinkte, die uns so gut von den niedrigeren Lebewesen her bekannt sind. Am wichtigsten von allen Verschiedenheiten ist der unerwartete Befund, dass im Gegensatz zu der uralten Annahme, dass Instinkte stark, unerwünscht und unwandelbar sind, unsere Grundbedürfnisse, obzwar instinktoid, schwach sind.« »Die höheren Bedürfnisse sind subjektiv weniger dringlich. Sie sind weniger wahrnehmbar, weniger unmissverständlich, mehr mit anderen Bedürfnissen zu verwechseln, durch Suggestion, Imitation, falschen Glauben oder falsche Gewohnheit.« 134

Wenngleich also auch die »Natur« der höheren, mit steigendem Grade spezifisch menschlicheren Bedürfnisse noch »in einem erkennbaren Ausmaße instinktoid« sei, erfordern sie aufgrund ihrer zunehmenden Ablenkbarkeit, Suggestibilität und extremen Entwicklungsfähigkeit eine sorgfältige Erziehung und beharrliche Kultivierung sowie individuelle psychische und geistige Anstrengungen. »Die Fähigkeit, edlere Gefühle zu empfinden, ist in den meisten Naturen eine äußerst zarte Pflanze, die nicht nur an widrigen Einflüssen, sondern schon an mangelnder Pflege zugrunde gehen kann«, 135 konstatiert in analoger Weise Mill, und legt eine Verkümmerung des wahren menschlichen Glücks daher der »Erbärmlichkeit der gegenwärtigen Erziehung« sowie den »elenden gesellschaftlichen Verhältnisse[n]« zur Last. 136 Unsere sekundären Bedürfnisse wie dasjenige nach Liebe, Achtung oder nach Selbstverwirklichung entpuppen sich im Kontrast zu den primären als derart gestaltbar und soziokulturell beeinflussbar, dass hier letzlich »Gelerntes und Instinkthaftes« kaum mehr unterschieden werden können und sich somit Arnold Gehlens anthropologisches Diktum bestätigt, »dass der Mensch von Natur ein 134 Maslow: Motivation, S. 160 und S. 155. Gehlen spricht in diesem Zusammenhang von der »Verschiebbarkeit und Plastizität« menschlicher Bedürfnisse (vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch, S. 55). 135 Mill: Der Utilitarismus, S. 19. 136 Ebd., S. 23.

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Kulturwesen« sei. 137 Wenn aber die beispielsweise für unseren Kulturkreis typischen, institutionell stabilisierten sekundären Bedürfnisse wie Leistungs- oder Unabhängigkeitsbedürfnisse dem einzelnen bestimmte Wertvorstellungen und Ziele oktroyieren, stellt das durch sie bedingte menschliche Glück keineswegs mehr eine rein empirische, sondern eine gesellschaftliche, gestalt- und kritisierbare Angelegenheit dar (vgl. Kapitel 5.2). 138 Hinsichtlich der sich damit als notwendig entpuppten historisch-kulturellen Ausbildung und Entfaltung einer »geistigen Kultur« 139 zur Förderung sekundärer Bedürfnisse und Interessen appelliert Maslow statt an die geeignete Formung und Gestaltung unserer schwachen sekundären Bedürfnisse lediglich an den »Schutz gegen Kultur, Erziehung, Lernen […], mit einem Wort, dagegen, von der Umwelt überwältigt zu werden«, 140 und Mill schreibt bezüglich fraglicher höherer menschlicher Fähigkeiten kryptisch: »Es besteht jedoch der Natur der Sache nach kein Grund, warum eine gewisse geistige Kultur, wie sie das Verständnis und Interesse für Betrachtungen dieser Art erfordert, nicht das Erbteil jedes Menschen sein sollte, der in einem zivilisierten Land geboren wird.« 141 Eine solche »geistige Kultur« schiene indes nicht nur das Glück des einzelnen zu fördern, indem sie ihn vermittels der Aktualisierung verschiedenster »Sinn«oder »Wachstumswerte« auf höchster Entwicklungsstufe der »Freude der Selbstverwirklichung« zuführt, in welcher die ganze Hierarchie der »höheren pleasures« bei der Stillung sekundärer Bedürfnisse kulminiert, 142 sondern auch das Wohl der Gemeinschaft, in der er sich selbst zu verwirklichen hat. Denn die Höhe menschlicher Bedürfnisse kann laut Maslow als Gradmesser für deren Selbstlosigkeit fungieren und damit moralisches Handeln und das Gemeinwohl begüns-

Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral, S. 165. Anhand von Beobachtungen und Testdaten eruierte Murray als höhere sekundäre Bedürfnisse das Leistungsbedürfnis (need Achievement), Anschlussbedürfnis (need Affiliation) und Unabhängigkeitsbedürfnis (need autonomy) (vgl. Rheinberg: Motivation, S. 54). Vgl. zur Formbarkeit unserer Bedürfnisse, Neigungen und Wünsche Baurmann/ Kliemt: Glück und Moral, S. 12 f., zur Notwendigkeit einer »Kritik der eigenen Interessen« und Bedürfnissen Höffe: Einführung, S. 20 f. 139 Mill: Der Utilitarismus, S. 25. 140 Maslow: Motivation, S. 104. 141 Mill: Der Utilitarismus, S. 25. 142 Vgl. zum Bedürfnis nach Selbstverwirklichung Maslow: Motivation, S. 88 f. sowie Kapitel 5.2. 137 138

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tigen, wozu die von den Utilitaristen ins Feld geführten logisch fehlerhaften Klugheitserwägungen wie gezeigt nicht fähig sind. 143 »Bis zu einem gewissen Grad muss das Bedürfnis um so selbstloser sein, je höher es ist. Hunger ist stark egozentrisch; die einzige Art und Weise, ihn zu befriedigen, besteht darin, den eigenen Hunger zu befriedigen. Doch das Streben nach Liebe und Achtung bezieht notwendigerweise andere Menschen ein. Darüber hinaus enthält es auch Befriedigung für die anderen. Menschen, die genügend Grundbefriedigung haben, um nach Liebe und Respekt zu trachten (nicht nur nach Nahrung und Sicherheit), neigen dazu, solche Eigenschaften wie Loyalität, Freundlichkeit und staatsbürgerliche Bewusstheit zu entwickeln, bessere Eltern, Eheleute, Lehrer, Beamte und so weiter zu werden.« 144

Indem der Utilitarismus als Handlungsnorm das »größte Glück der größten Zahl« profiliert, erkennt auch Mill durchaus richtig, dass er »sein Ziel daher nur durch die Pflege eines edlen Charakters erreichen« kann. Dass Mill, auch hier wiederum einen künstlichen Antagonismus heraufbeschwörend, addiert: »selbst wenn für jeden einzelnen der eigene Edelmut eine Einbuße an Glück und nur jeweils der Edelmut der anderen einen Vorteil bedeuten würden«, 145 soll uns dabei nicht weiter irritieren. Da er ohne jeden Zweifel die Grenzen der extrem subjektivistischen eudaimonologischen Position eines kompromisslos-konsequenten Hedonismus sensu Bentham (1) sprengt, markiert Mill mit seinem hier nachgezeichneten, in verschiedenen Hinsichten inkonsistenten Programm deutlich den Übergang zu den elaborierten teleologischen Wunschtheorien (2): Denkt wohl jeder bei Benthams Plädoyer für eine Lustmaximierung mittels akkurater ökonomischer Kalkulation zunächst und zumeist an sinnliche, sich ohne besondere Anstrengung oder Erziehung einstellende Lust der instinktiven Befriedigung unserer Trieb- oder Vitalbedürfnisse, drängen sich bei Mills bemühtem Modifikationsversuch wie gezeigt höhere geistige und kulturelle Freuden unverkennbar in den Vordergrund, welche die Modellierung sekundärer Bedürfnisse oder Interessen zur Voraussetzung haben. Obgleich die sorgfältig kultivierten und institutionell stabilisierten sekundären Bedürfnisse im Kontrast zu Interessen – den individuellen Bereitschaften, sich mit bestimmten als 143 144 145

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Vgl. Fußnote 59, S. 261 f. Ebd. Mill: Der Utilitarismus, S. 21.

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wertvoll taxierten Zielen oder Objekten zu befassen – 146 Mangelzustände darstellen, die zur Beseitigung des psychophysischen Spannungsgefälles durch entsprechende Aktivitäten stimulieren, unterliegen sie mit steigendem Höhenniveau immer weniger der drückenden, vergangenheitsorientierten biologischen Notwendigkeit und mehr den zukunftsweisenden, wertgebundenen »Gesetze[n] des höheren Interesselebens« 147 . Adäquater als das Druck-Modell unwillkürlicher lustvoller »Triebhandlungen« scheint angesichts dieser kontrastiven Motivation für die freudvolle Befriedigung der viel leichter aufschiebbaren und modifizierbaren sekundären Bedürfnisse das Zug-Modell von Willenshandlungen zu sein, auch wenn wir die meisten kulturellen Werte oder sozial profilierten Ziele selbst zwar nicht bewusst gewählt haben, sondern nur zwischen ihnen auswählen und den Weg ihrer individuellen Ausgestaltung im komplexen Gefüge persönlicher Wünsche, Interessen und Bedürfnisse bestimmen können. 148 Welche Rolle sollen aber in diesem dichten Gewebe unsere Wünsche spielen, von deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung nach Meinung der nun ins Gespräch zu ziehenden Wunschtheoretiker im wesentlichen unser Glück abhängig sei? Lässt auch das anthropologische Fundament der subjektivistischen eudaimonologischen Wunschtheoretiker zu wünschen übrig, das wir erst in Kapitel 5.2 erschöpfend erhellen werden? Aus methodischen Gründen nahmen wir uns das Recht heraus, die Wunschtheorien des Glücks, nach Ansicht Schabers die »eigentlichen subjektiven Theorie[n] guten Lebens« 149 , als »elaborierter« zu charakterisieren im Vergleich zu den hedonistischen, weil zumindest prominente Repräsentanten folgendes untrüglich erkannten – und dieser Erkenntnis auch Rechnung trugen: Wo immer man sich verbreitet über Qualität oder Quantität subjektiven Wohlbefindens, kommt man gar nicht darum herum, implizit oder explizit »AusVgl. den Eintrag »Interesse« in Hillig: Die Psychologie, S. 189 f. Gehlen: Der Mensch, S. 59. 148 Angesichts des erheblich geringeren »Drucks« sind wir also prinzipiell fähig, uns zu den in unserem Kulturkreis kursierenden höheren Bedürfnissen und den durch sie repräsentierten Werten (kritisch) zu verhalten. Während die für unsere mannigfaltigen Freuden konstitutiven kulturellen Werte wie Leistung oder Unabhängigkeit – durch das Leistungs- bzw. Unabhängigkeitsbedürfnis repräsentiert – in der Regel unbewusst im Sozialisationsprozess internalisiert werden, hat man sie daher unbedingt einer Prüfung zu unterziehen, sobald – wie etwa betreffs der Leistung im Schulbetrieb – der »Zug« in einen »Druck« gleichsam umschlägt. 149 Schaber: Gründe, S. 153. 146 147

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sagen über die Verfassung menschlichen Lebens überhaupt« 150 zu machen. Auch die Überzeugungskraft einer subjektiven Theorie menschlichen Glücks steht damit gemäß dem dezidierten Diktum Martin Seels primär in Abhängigkeit von der Stichhaltigkeit der zugrundeliegenden »anthropologischen Hypothesen über Grundmöglichkeiten und Grundschwierigkeiten menschlicher Existenz«, 151 darüber hinaus von einer gelungenen »evaluative[n] Interpretation der Situation des Menschen«, d. i. einer beratenden Stellungnahme zur eruierten conditio humana hinsichtlich der aussichtsreichsten, für jeden Glückskandidaten »evaluativ besten« Lebensführung.152 Generelle Aussagen über Glück und gutes Leben sollen uns darüber informieren, »wie die erwähnten Grundmöglichkeiten am aussichtsreichsten ergriffen und die Grundschwierigkeiten am ehesten bewältigt werden können. Die gesuchten Aussagen sind also letztlich Aussagen darüber, was in der Lebensführung beliebiger Personen, aufs Ganze gesehen, gut für sie ist.« 153 Während sich bei unseren Analysen der hedonistischen Grundposition manifestierte, dass ein gutes menschliches Leben als Optimum wahlloser »pleasures« deutlich unterbestimmt ist und nur unter der Bedingung vorsätzlicher Ausblendung aller plausibler anthropologischer Elementareinsichten zum Garanten menschlichen Glücks auserkoren werden kann, fahndet Seel verdienstvollerweise nach einem möglichst von jedermann akzeptablen, philosophisch anspruchslosen trivialen Ausgangspunkt. Seine Wahl fällt auf folgenden: »Ich nehme an, dass es für alle, die überhaupt wertend zu ihrem Leben Stellung nehmen können, in ihrem Leben wichtig ist, dass sich nicht wenige ihrer Wünsche erfüllen.« 154 Wenn aber gilt, »dass es zu einem guten Leben gehört, dass sich nicht wenige Wünsche, die wir haben, erfüllen«, dürfte ein maximales subjektives Glück als bestmögliche »Verfassung menschlichen Lebens überhaupt« 155 entsprechend Kants Glücksdefinition konsequenterweise eines sein, in dem uns »alles nach Wunsch und Wille geht.« 156 Seel ruft allerdings sogleich zur Mäßigung auf, denn Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 77. Ebd., S. 78. 152 Mit »evaluativ gut« signalisiert Seel dabei stets den Kontrast zu »moralisch gut« (vgl. ebd., S. 78, Fußnote 24). 153 Ebd. 154 Ebd., S. 78 f. 155 Ebd., S. 79 und S. 77. 156 Vgl. Einleitung, S. 30. 150 151

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es sei besser, »statt ›alles‹ bescheidener ›nicht weniges‹ zu sagen, um das mit ›Glück‹ Gemeinte nicht unangemessen zu idealisieren«, 157 und warnt den übereifrigen glücksuchenden Leser vorweg, »dass Wunscherfüllung in Sachen guten Lebens zwar durchaus nicht wenig, aber doch beileibe nicht alles« sei. 158 Da eine von menschlichem Wünschen ihren Ausgang nehmende subjektive Glückstheorie der Autonomie, Intentionalität und sachorientierten Weltzugewandtheit menschlichen Denkens und Lebens gerecht wird und somit die Gefahr eines Abdriftens des älteren Utilitarismus in eine eudaimonologische Fixierung auf die nicht-propositionale Lust rein sinnlichen Empfindens nachhaltig bannt, scheinen mir ihre Vorzüge vor einem kruden Hedonismus evident zu sein. 159 Bevor wir weiterverfolgen, warum die als sowohl in deskriptiver wie evaluativer Hinsicht anthropologisch stichhaltiger Ausgangspunkt gebilligte Wunscherfüllung in Sachen Glück und gutes Leben nur notwendig, nicht aber hinreichend sei, steht eine phänomenologische Erhellung des Phänomens Wunsch aus: Wie sich bereits bei den terminologischen Explikationen zu Beginn dieses Teilkapitels herausstellte, stehen wir bei unseren Wünschen nicht anders als bei Trieb- oder Vitalbedürfnissen unter dem Eindruck des »Gestoßenseins«, der Fremdkontrolle, weil wir unsere Wünsche zwar selbst evozieren kraft der Imagination begehrenswerter Objekte oder ersehnter subjektiver Zustände, aber im Unterschied zu konkreten Zielprojektionen das kontrafaktisch-idealisierende Wunschdenken unsere Entschlusskräfte und Aktivitätspotentiale lahmgelegt. 160 Unsere spontanen Wünsche, leider »von der Psychologie noch kaum erforscht«, 161 quellen entweder aus dem Drang eines innerorganismischen physiologischen Spannungssystems primärer Bedürfnisse Seel: ebd., S. 88. Ebd., S. 80. 159 Schaber will die Überlegenheit der Wunschtheorie in ihrer Berücksichtigung der »Verschiedenartigkeit der menschlichen Ziele« erblicken, sie liegt aber wohl auf einer tieferen Ebene in ihrer Berücksichtigung menschlicher Zielausrichtung überhaupt: »Anders als die hedonistische Theorie kann die Wunschtheorie des Guten der Verschiedenartigkeit der menschlichen Ziele sehr gut Rechnung tragen. Das ist der wohl wichtigste Grund, sie der hedonistischen Theorie vorzuziehen.« (Schaber: Gründe für eine objektive Theorie, S. 154) 160 Vgl. S. 251 f. 161 »Wünschen, dieser Nährboden für Rastlosigkeit«, konstatiert Heckhausen poetisch, »ist von der Psychologie noch kaum erforscht worden. Wir wissen nicht, wieviele Wünsche in verschiedenen Lebensphasen so täglich entstehen, welken und schließlich ver157 158

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oder aus weltzugewandten und sachorientierten Interessenzusammenhängen mit sekundären geistig-kulturellen Bedürfnissen, wobei sich alles Wünschen zweifellos in einem weniger »hellen Bewusstseinslicht« vollzieht als das Wählen. 162 Wünsche lassen sich daher mit Alfred Schöpf als die »psychologische Seite der menschlichen Bedürfnisse« 163 oder auch als unspezifische oder »Quasi-Bedürfnisse« deklarieren, ohne dass man sie auf den Raum von Bedürfnissen restringieren sollte, da sie ebenfalls jenseits dieses vom Mangel überschatteten Raumes in der Umgebung reiner Interessen- oder Phantasiekomplexe ersprießen können. Hat man auch Seels wunschtheoretischen trivialen Ausgangspunkt bedenkenlos konzediert, demzufolge die Erfüllung solcher mit unseren Interessen oder Bedürfnissen liierten Wünsche wesentliches Ingrediens menschlichen Glücks darstelle, erkennt doch beim ersten kritischen Räsonnement jeder leicht, dass nicht sämtliche Wünsche in gleicher Weise glücksrelevant sind: Zunächst springt in die Augen, dass die Erfüllung oder Nichterfüllung vieler bei den meisten nicht-depressiven Menschen in ständiger Überproduktion sprudelnden Wünsche auf deren Glücksstimmung keinerlei Einfluss ausüben – der Wunsch etwa, dass den Drittweltländern ihre Schulden erlassen werden, oder dass sich die beruflichen Ziele eines zufälligen Mitpassagiers in einem Flugzeug realisieren. Im Anschluss an Griffins »Experience Requirement« statuiert Schaber daher folgende »Erfahrungsbedingung« für Wünsche, denen einzig im Rahmen einer Wunschtheorie Berücksichtigung gebühre: »Um für mich gut zu sein, muss die Wunscherfüllung etwas an meinem subjektiven Zustand ändern.« 164 Wenn eine Wunscherfüllung nur dann zum guten gehen; vor allem aber wie es einige bis zur Frucht bringen.« (Heinz Heckhausen: Wünschen – Wählen – Wollen, S. 3) 162 Daher werden Wünsche meist vermittels sogenannter »Phantasieproben« erfasst, d. h. die Personen werden gebeten, auf bestimmte thematische Anregungen hin frei erfundene Geschichten zu erzählen, während man sich beim Wählen der Fragebogeninstrumente bedient (vgl. ebd., S. 5). Die von Freud erkundeten »unbewussten Wünsche« allerdings dürfen im Rahmen einer Wunschtheorie mit Sicherheit marginalisiert werden (vgl. dazu Rheinberg: Motivation, S. 33 oder Alfred Schöpf: Wie kann man von seinen Bedürfnissen und Wünschen wissen?, S. 115–124). 163 Vgl. Alfred Schöpfs Artikel »Bedürfnis« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 20 f.: »Das menschliche Handeln ist von Bedürfnissen bestimmt. […] In den Vorstellungen und Affekten des Menschen drücken sich seine Bedürfnisse aus. Wir nennen diese psychologische Seite der Bedürfnisse seine Wünsche.« 164 Schaber: Gründe für eine objektive Theorie, S. 155.

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und glücklichen Leben einen Beitrag leistet, sofern sie etwas an meinem »subjektiven Zustand« ändert, d. h. anders als das Eintreten unserer Befürchtungen165 »das Wohl der betroffenen Person fördert« 166 – spielt man dann den Ball nicht unfreiwillig wieder den Hedonisten in die Hand, da trotz wunschtheoretischer Elaborierung letztlich das Wohlbefinden des einzelnen ausschlaggebend bliebe? Um nicht in die Unzulänglichkeiten eines extremen Subjektivismus zurückzufallen, der die Glücksrelevanz von Wünschen unbedacht der Introspektion oder dem Gutdünken des einzelnen anheimstellt, müsste man Schabers »Erfahrungsbedingung« wohl dergestalt revidieren: Von den Wünschen, die irgend etwas Mögliches oder Unmögliches in der faktischen oder einer bloß fiktiven Welt vorstellen, sollen in einer Glückstheorie nur diejenigen Beachtung finden, welche die unmittelbare Relation des Wünschenden zu seiner realen Außenwelt betreffen. 167 Wenn man mit Schaber in Rechnung zu stellen gewillt, dass nicht die Erfüllung jedweder Wünsche als Meilenstein auf unserem Weg zum Glück fungieren darf, ist aber neben der Restriktion auf solche, denen die Vorstellung einer ersehnten Relation des Subjekts zur realen Außenwelt zugrundeliegt, eine Analyse der Entstehungsbedingungen unserer Wünsche unabdingbar. Hinsichtlich ihrer Genese gilt es nämlich a) auf Anstoß seitens von Psychologen »neurotische Wünsche« (Erich Fromm), b) gemäß der Warnung philosophischer Glückstheoretiker die sogenannten »nicht-informierten Wünsche« (James Griffin) akkurat zu diskreditieren. (Ad a:) Während es ein Zeichen »normaler«, durch den Mangelzustand eines Bedürfnisses – Fromm denkt hier irritierenderweise ausschließlich an die physiologisch bedingten Primärbedürfnisse – evozierter Wünsche sei, dass sie gestillt seien, sobald die physiologische (bzw. psychophysische) Spannung behoben sei, liege es geradezu »im Wesen 165 Das »Befürchten ist die Kehrseite des Wünschens und häufig gehen Wünschen und Befürchten Hand in Hand«, stellt Heckhausen heraus (Heckhausen: Wünschen, S. 3). 166 Schaber: Gründe für eine objektive Theorie, S. 155. Die eigentliche Crux bestehe darin: »Ein informierter Wunsch kann befriedigt werden, ohne dass damit das Wohl der betroffenen Person befördert wird.« (ebd.) 167 Der Wunsch, eine Märchenprinzessin zu sein, ist damit ebenso liquidiert wie der Wunsch, ein zufälliger Bekannter möge Karriere machen. Dem Leser wird die Analogie zum emotionspsychologischen Kapitel nicht entgangen sein, wo wir aufwiesen, dass das Glück im Unterschied zur Freude, die sich auch auf den Erfolg oder das Glück eines anderen beziehen kann, immer nur die Relation eines Individuums zu seiner Welt betrifft (vgl. Kapitel 3.2, S. 220 f.).

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dieser irrationalen Wünsche, dass sie nicht befriedigt werden können.« 168 Lebhafte sexuelle Wünsche, ein starkes sexuelles Verlangen implizierend, können aufgrund einer krankhaften psychischen Verursachung, z. B. wenn ein unsicherer Mensch sich selbst seinen Wert beweisen muss vermittels einer Demonstration seiner angeblichen Unwiderstehlichkeit, trotz noch so vieler Erfüllungserlebnisse nie in eine genussvolle Aufhebung der Spannung einmünden: »Ein unsicherer Mensch, der sich selber seinen Wert beweisen muss, der anderen seine Unwiderstehlichkeit zeigen oder sie, indem er in ihnen sexuelle Wünsche erweckt, beherrschen will, wird leicht ein starkes sexuelles Verlangen verspüren und daher eine schmerzhafte Spannung, falls Wünsche nicht befriedigt werden. Er wird annehmen, dass die Intensität seiner Wünsche einem Verlangen seines Körpers entspreche, während in Wirklichkeit dieses Verlangen durch seine psychischen Bedürfnisse ausgelöst wird. Neurotische Schläfrigkeit ist ein weiteres Beispiel für ein Bedürfnis, bei dem man das Empfinden hat, es werde wie normale Müdigkeit durch körperliche Bedingungen hervorgerufen, obgleich es psychische Bedingungen, wie verdrängter Angst, Furcht oder Zorn, entspringt.« 169

Da die von Fromm als »neurotisch« oder – eher missverständlich – »irrational« deklarierten Wünsche in der fundamentalen Unsicherheit oder Angst, in einem psychischen Ungleichgewichts- oder Krankheitszustand, letzlich in einem »Mangel an Produktivität« gründen, mutiert hier der »Segen der Phantasie […] zum Fluch« 170 , ohne dass die Wunscherfüllung auch nur einen geringen Beitrag zum Glück der leidenden Person beizutragen vermöchte. 168 Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 145. Fromms schroffe Kontrastierung von gesunden »physiologischen« und neurotischen »psychischen« Bedürfnissen irritiert deswegen, weil sie suggeriert, allen nicht eindeutig physiologisch bedingten Bedürfnissen hafte etwas »Krankhaftes« an. Dies erinnert an Epikurs Statement, »dass die Begierden zum einen anlagebedingt (in der Natur verankert), zum anderen ziellos sind« (Epikur: Brief an Menoikeus, 4. Abschnitt), wobei letztere aufgrund ihres unstillbar-ziellosen Charakters unberücksichtigt bleiben sollten. Auch wenn die Werte und Ziele sekundärer Bedürfnisse dem einzelnen größere Freiheiten zubilligen als die überlebensnotwendigen primären, sind sie deswegen wohl nicht zwangsläufig »ziellos« und unstillbar. 169 Ebd., S. 144. 170 Ebd., S. 145. »In anderem Sinn wurzeln auch irrationale Wünsche in einem Mangel: in der Unsicherheit und Angst eines Menschen, die ihn dazu zwingen, andere zu hassen, beneiden oder sich ihnen zu unterwerfen; die Lust an der Erfüllung dieser Begierden beruht auf dem fundamentalen Mangel an Produktivität. Beide, sowohl die physiologischen wie die irrationalen psychischen Bedürfnisse, sind Teilerscheinungen eines Mangelsystems.« (ebd.)

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Die Abwesenheit von inneren Zwängen, von verzerrenden psychischen Faktoren wie Angst, Unsicherheit oder Depression, von tieferliegenden, verabscheuungswürdigen Motiven wie Neid, Ehrgeiz oder einem unangebrachten Unterlegenheitsgefühl stellt gleichsam die »individuell-psychologische Bedingung« 171 menschlicher Freiheit und freiheitlich-erfüllungsversprechenden Wünschens dar. Solange wir von inneren Konflikten, Komplexen und verdrängten Aggressionen geplagt werden, gehören unsere Wünsche nicht uns selbst und stehen unserem guten und glücklichen Leben im Wege, denn sie haben ihre Wurzeln in einer fragmentarisierten, sich selbst fremden Persönlichkeit. Solche psychischen Verzerrungen und Störungen einer Person bilden indes nicht nur den Nährboden für unglücksverheißende unstillbare »neurotische Wünsche« (a), sondern zeitigen in Kooperation mit entsprechenden ungesunden Gefühlen, Zwangsvorstellungen und Projektionen eine Deformation unseres Wahrnehmens und Denkens dergestalt, dass sie der Nicht-Informiertheit unserer Wünsche (b) mächtig Vorschub leisten. Verweisend auf Schopenhauers glänzende Illustration der Übermacht des essentiellen »Willens« – qua psychophysischem Drang des Organismus – über den bloß abgeleiteten erkennenden »Intellekt«, 172 akzentuiert Lersch den realitätsentstellenden Effekt übermäßiger Affekte sowie eines inadäquaten Selbstwertgefühls: »Vor allem sind es die Erregungsformen des Gefühls (Wut, Aufregung, Schreck, Furcht, Angst, Ekstase), durch die der noetische Horizont unseres Bewusstseins, in dem wir begriffliche Unterscheidungen, Urteile und Schlüsse vollziehen und so unser Weltbild ordnen, verdunkelt wird und wie hinter einem Nebel verschwindet. […] Besonders ist auch hervorzuheben, dass das Selbstwertgefühl und das Geltungsstreben in hohem Maße das Urteil sowohl über andere Menschen als auch über die eigene Person stören können.« 173

171 Josef Früchtl: Spielerische Selbstbeherrschung, S. 132. Als zweite wichtige Komponente tritt die später zu erläuternde »sozial-interaktive Bedingung« hinzu, welche von Psychologen sicherlich zu Unrecht gerne ausgeblendet oder marginalisiert wird. 172 Vgl. einig Kostprobe aus dem 2. Kapitel des 2. Buches von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung: »Dieser störende Einfluss der Thätigkeit des Willens auf den Intellekt ist aber nicht allein bei den durch die Affekte herbeigeführten Perturbationen nachzuweisen, sondern ebenfalls in manchen andern, allmäligeren und daher anhaltenderen Verfälschungen des Denkens durch unsere Neigungen. Die Hoffnung lässt uns was wir wünschen, die Furcht was wir besorgen, als wahrscheinlich und nahe erblicken, und Beide vergrößern ihren Gegenstand.« (ebd., S. 242) 173 Philipp Lersch: Aufbau der Person, S. 426 und S. 427.

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Da es mit Sicherheit nicht darum gehen kann, gemäß Schopenhauers Appell unser Wollen, sämtliche Affekte und Neigungen zu eliminieren, auf das ein »reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt«, 174 soll lediglich einer wuchernden Affektivität und maßlosen Begierden einer ungesunden Seele ein Riegel vorgeschoben werden zugunsten gesunder und vernünftiger Gefühle. 175 Obgleich uns die Genese unserer Wünsche niemals völlig transparent sein kann und somit ein Restrisiko psychischer Verzerrungsfaktoren niemals auszumerzen ist, 176 muss doch die »Ordnung im Bewusstsein« 177 und die Liquidation innerer Prismen und psychischer Widersprüche dem Glücksaspiranten oberstes Gebot sein. (Ad b:) Das Pochen auf die »Aufgeklärtheit« oder »Informiertheit« von glücksrelevanten Wünschen gehört längst zum guten Ton im Kreise der Wunschtheoretiker, ohne dass man sich darüber einig geworden wäre, ob James Griffin tatsächlich als erster den Finger auf diesen wesentlichen Umstand gelegt hat: Analog zu unserer im vorangegangenen Kapitel vorgenommenen Separation der vernünftigen und gerechtfertigten von den unvernünftigen und ungerechtfertigten Glücks- oder Freudegefühlen scheint es, um tiefgreifende Enttäuschungen abzuwenden, auch in Sachen Wünsche nämlich unumgänglich, vernünftige oder informierte von unvernünftigen oder unaufgeklärten abzusondern. 178 Neben der psychischen Gesundheit sollen die Wünschenden daher im kognitiven Bereich folgende Zusatzbedingung in Anschlag bringen:

Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, S. 210. Vgl. zum stoischen Programm »vernünftiger Gefühle« Kapitel 3.2, S. 222, Fußnote 278. 176 Stemmer legt klar, dass bezüglich menschlichen Wünschens oder Wollens keine Verifikation, sondern allenfalls Falsifikationen möglich sind, denn die »inneren und äußeren Einwirkungen sind zu vielfältig, zum Teil zu untergründig, zum Teil liegen sie zu weit in der Vergangenheit, als dass es möglich wäre, sie umfassend aufzudecken.« (Peter Stemmer: Was es heißt, S. 66) 177 »Beim optimalen Zustand innerer Erfahrung herrscht Ordnung im Bewusstsein«, postuliert Csikszentmihalyi (in: Flow, das Geheimnis des Glücks, S. 19), und diese kontrollierbare Ordnung in unserem Bewusstsein sowie im Haushalt psychischer Energien protegiere eine »optimale Erfahrung« (vgl. Kapitel 5.1). 178 Laut Griffin zählen Wünsche »only if ›rational‹ or ›informed‹« (Griffin: Well-being, S. 11). Das Attribut »vernünftig« wird auch von Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 446) und Seel (Versuch, S. 95) appliziert, allerdings nicht auf das vereinzelte Wünschen oder Wollen, sondern auf ganzheitliche Lebensentwürfe. 174 175

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»Gut ist für eine Person das, was die Person – ausreichend informiert über den Wunschgegenstand – wünscht oder wünschen würde. Für das gute Leben sind nicht einfach die aktuellen Wünsche, sondern vielmehr die informierten Wünsche einer Person maßgebend. Dabei ist ein Wunsch dann informiert, wenn er nicht auf falschen Überzeugungen aufruht.« 179

Werde ich beispielsweise vom sehnlichen Wunsch geplagt, ein von mir fälschlicherweise für einen echten van Gogh gehaltenes Bild zu besitzen, ist dieser Wunsch fraglos unvernünftig und die allfällige Glücksillusion bei seiner Erfüllung zum Platzen verurteilt, sollte sich die Unechtheit des Bildes herausstellen, weil laut Griffin immer »the ultimate, not the immediate object of my desire« zählt. 180 Trotz Steinfaths Bedenken, dass in solchen oder ähnlichen Fällen »nicht eigentlich unsere Wünsche (oder andere nonkognitive Einstellungen), sondern die epistemischen Meinungen, in die sie eingebettet sind«, falsch seien, werden Wünsche hinsichtlich unserer WeltSelbst-Relationen wohl noch deutlicher als Gefühle durch die epistemische Qualität der sie konstituierenden Vorstellungen eines gewünschten Objektes oder Sachverhalts geprägt, 181 so dass ihre glücksspezifischen Vorzüge an Rationalität bzw. Informiertheit mit denjenigen unserer Vorstellungen kongruieren. 182 Darüber hinaus, dass der wunschtheoretische Weg zu einem nicht-illusionären Glück notwendig über eine wertneutrale kognitive Kritik unserer Wünsche führt, weil mit Griffin Humes Abspaltung von Wunsch und Kognition (»understanding«) dezidiert zurückgewiesen werden muss, 183 darf man auch folgendes nicht ignorieren: 179 Schaber: Gründe, S. 154. Im Rekurs auf Richard Brandt (A Theory of the Good and the Right, 1979) komplettiert er, »dass informierte Wünsche darüber hinaus auch nicht aus logischen Fehlern hervorgehen dürfen« (ebd.), und repetiert damit die schon von Griffin als »sort of faults« aufgelisteten »lack of informations« einerseits, den »logical mistake« andererseits (Griffin: Well-being, S. 12). 180 Vgl. ebd. 181 Vgl. Kapitel 3.2, S. 217 ff. 182 Steinfaths Rede von kausalem und z. T. logischem Abhängigkeitsverhältnis von Wunsch und Kognition scheint mir obskur: »Hinzu kommt, dass unsere Wünsche kausal und zum Teil auch logisch von unseren Meinungen über die Welt und uns selbst abhängen, und zu diesen Meinungen der Glaube gehört, dass sie wahr sind.« (Steinfath: Selbstbejahung, S. 87) 183 »Hume was wrong to see desire and understanding (appetite and cognition) as distinct existences. He was wrong to make desire blind.« (Griffin: Well-being, S. 29) Allerdings fügt er sogleich hinzu: »But it is a variety of the same mistake to think that one can explain our fixing on desirability features purely in terms of understanding. It is a mistake not only to keep understanding out of all desire but also to keep desire out of all

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Werden wir zur Rechenschaft gezogen, warum wir dies oder jenes wünschen, rekurrieren wir gewöhnlich auf irgendwelche Werte, die mit der Vorstellung des gewünschten Gegenstandes assoziiert werden, weshalb unseren Wünschen neben den epistemischen Meinungen offenkundig auch evaluative oder Wertüberzeugungen zugrunde liegen. Wendet man sich diesem evaluativen Moment zu, scheinen hier sowohl eine Diagnose der »Irrationalität« unserer Wünsche wie allfällige Korrekturhinweise erheblich erschwert, man bewegt sich miteins auf dem Glatteis grassierender Unsicherheiten und Relativismen, bedrängt von Griffins diffizilen Fragen: »Could desire be a ground of value, or is it at the best only a mark of it? Are things valuable because desired, or desired, because valuable?« 184 Nun liegt es unzweifelhaft im Wesen eines Wunsches, dass wir das Gewünschte als wünschenswert, das heißt in irgendeiner Hinsicht als wertvoll taxieren, speziell bei den glücksrelevanten Wünschen als wertvoll für uns/für unser Leben. Obgleich sich daher phänomenologisch gesehen das Wünschen vom Bewerten nicht trennen lässt, müssen wir beim Verlangen nach einer Explikation oder Rechtfertigung unserer Wünsche gleich wie bei unserem Gefühlserleben die für sie konstitutiven impliziten Wertüberzeugungen offenlegen. 185 Während Werte in diesem Sinne als »Gründe« für unser Wünschen oder Fühlen fungieren (und nicht umgekehrt!), können uns Wünsche oder positive Gefühle als Wert-Marken immer dann in die Irre führen, wenn wir falschen Wertüberzeugungen anhängen. Doch wer entscheidet hier über richtig oder falsch? Die Prätention zahlreicher Wunschtheoretiker jedenfalls, »dass das, was Menschen unter informierten Bedingungen und in Abwesenheit verzerrender psychischer Faktoren wünschen, für sie jeweils objektiv gut ist«, 186 scheint mir einige heikle Angelegenheiten leichterhand zu überspielen: Gerade uns zum Räsonnement nötigende understanding. Some understanding«, so schließt er die nicht ganz transparente Passage, »is also a kind of movement.« (ebd.) 184 Ebd., S. 27. 185 Vgl. Kapitel 3.2, S. 224 f. 186 Schaber: Gründe, S. 164. Dies koinzidiert, so ich recht sehe, mit Griffins Position: »So desire is more than merely a mark of value. It is a ground, in the following sense: it is part of the full explanation of prudential value. But this does not give desire priority. Nor does the appearance of desiring in valuing mean that we are free to make an existential choice of values. The desires that count are not brute and unconstrained; they are informed. It is the strength of the notion of ›informed desire‹ that it straddles – that is, does not accept any sharp form of – the divide between reason and desire.« (ebd., S. 30)

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Wunschkonflikte wie beispielsweise das Oszillieren zwischen dem Wunsch zu rauchen und dem Wunsch, mit Rauchen aufzuhören, denen mit zusätzlichem (medizinischem) Aufklärungsmaterial selten beizukommen ist, demonstrieren eine genuine Unsicherheit darüber, was für mich/mein Leben eigentlich gut ist. Trotz psychischer Gesundheit und hinlänglicher Aufgeklärtheit prallen hier prinzipiell erwägbare differierende Bewertungshinsichten aufeinander: Werte des Angenehmen (beim Zigarettenkonsum) und Lebenserhaltungs- bzw. Sicherheitswerte (Gesundheit). Während höhere Wachstumswerte, welche unsere Persönlichkeit, unser Leben als Ganzes tangieren, bei diesem Wunschkonflikt offenkundig keine direkte Rolle spielen, müssten doch die Sicherheitswerte zur Stabilisierung des Fundamentes ihrer möglichen Aktualisierung vor den Werten des Angenehmen favorisiert werden. Anders als bei unseren basalen, eng mit Primärbedürfnissen gekoppelten Wünschen, wo eine bloße Indikation derselben uns aus dem Begründungsnotstand hinauszukatapultieren vermag, 187 und den reine Daseinswerte des Angenehmen verkörpernden Wünschen mit schlechthinniger Begründungsdispens 188 sind wir betreffs der Richtigkeit der unseren »höheren« Wünschen inhärenten, die Reifung unserer welthaften Persönlichkeit lotsenden soziokulturellen Wertvorstellungen grundsätzlich auf die öffentliche Kontrolle durch die Sprech- und Handlungsgemeinschaft angewiesen, worüber sich Wunschtheoretiker gerne hinwegsetzen. Da menschliches Glück sich wie gezeigt gerade auf der Realisation kultureller, durch sekundäre Bedürfnisse und Interessen repräsentierter Werte als Stabilisierungsfaktoren eines gelingenden Weltverhältnisses gründet, muss solchen Wünschen auch im Rahmen einer Wunschtheorie unbedingt das Primat zukommen. Wenn wir für unsere nicht-basalen »höheren Wünsche« erklärungshalber Werte ins Feld führen, die unverkennbar mit dem »Anspruch auf intersubjektive Übereinstimmung« auftreten, 189 kann es Vgl. Holmer Steinfath: Selbstbejahung, Selbstreflexion und Sinnbedürfnis, S. 89 f. Im Wunschbereich des Angenehmen scheint der Wert eines Wunschobjektes tatsächlich nur durch das momentan-faktische und subjektive Wünschen eines solipsistischen Individuums konstituiert zu werden, wie Griffin anhand einer Generalisierung eines simplen Spezialfalls erläutert: »There is a tradition, especially strong in the social sciences, that sees all preference on the model of the simplest tastes: a pre-existent motivation, not subject to criticism, unaffected by understanding; the explanation running from desire to value. But this is only one kind of cases.« (Griffin: Well-being, S. 28) 189 Steinfath: Selbstbejahung, S. 90. 187 188

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grundsätzlich nicht anders sein, als dass sich solche Wertvorstellungen in einem Interaktionsprozess herauskristallisieren: »Aber dort, wo dieser Anspruch tatsächlich berechtigt erscheint, gründet er nicht oder nur zum Teil in der Annahme, dass bei hinlänglicher kognitiver Aufklärung jeder für sich und isoliert von den anderen auf die gleichen Werte stoßen würde. Eine Konvergenz unserer Wertvorstellungen mit denen anderen ist vielmehr nur dann zu erwarten, wenn sich unsere Werte selbst von Anfang an einem Prozess der Interaktion mit anderen verdanken.« 190

Im Alleingang, isoliert von den anderen und jeder Wertdiskussion enthoben, können wir mithin höchstens für unsere basalen informierten Wünsche »Objektivität« oder »Richtigkeit« reklamieren, demgegenüber sich diejenige unserer höheren Wünsche erst im soziokulturellen Interaktionsprozess zu erweisen bzw. durchzusetzen hat. Denn das Vertrauen auf eine »menschliche Natur« findet seine Grenze zwangsläufig da, wo »Gelerntes und Instinkthaftes« kaum mehr zu trennen sind und sorgfältige Erziehung und beharrliche Kultivierung die höheren menschlichen Bedürfnisse und Interessen beschirmen, auf dass sie mannigfaltige Wünsche treiben. Statt an dieser Stelle auf die Gefahr eines wunschtheoretischen »Paternalismus« zu pochen, 191 bei dem eine aufgeklärte Elite der nicht-informierten Masse auf ihrer Glückssuche gleichsam die »richtigen« Wunschpräferenzen aufoktroyierte, sehe ich mit Josef Früchtl in dieser Bewährungssituation für höhere glücksrelevante Wünsche die neben die »individual-psychologische« notwendig hinzutretende »sozial-interaktive Bedingung wirklicher Freiheit«. 192 Ohne Zweifel bleiben dabei sämtliche im Sozialisationsprozess internalisierten Wertvorstellungen kritisierbar und die Einzelpersonen die jeweils Ebd. Vgl. etwa Rickens Kritik: »Nach dem informed-desire account könnten die Menschen erst nach einer idealisierten Erziehung glücklich werden, die bewirken würde, dass sie nur noch aufgeklärte Präferenzen haben. Es besteht die Gefahr, dass der informeddesire account die sittliche Autonomie der Menschen aufhebt und zu einem Paternalismus bzw. einem ›Government House Utilitarismus‹ führt.« (Ricken: Allgemeine Ethik, S. 224) 192 Vgl. Früchtl im Rekurs auf Charles Taylor und Isajah Berlin: »Das ist die sozial-interaktive Bedingung wirklicher Freiheit. Für die Klärung des Anliegens, was man wirklich oder authentisch will, benötigt das einzelne Subjekt die anderen, denn nur sie können verhindern, dass das durch unentwegte Interpretationen erkundete Selbstverständnis einer privatperspektivischen, aus Furcht, zwanghafter Verinnerlichung und Unreflektiertheit resultierenden Verzerrung unterliegt.« (Früchtl: Spielerische Selbstbeherrschung, S. 133) 190 191

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»letzte Instanz« ihres persönlichen Wunscherfüllungsglücks. 193 Auch wenn wir bezüglich dessen, was wirklich wünschenswert ist im Ganzen unseres Lebens, auf das Gespräch und die Interaktion mit anderen angewiesen sind, kann uns eine solche Beurteilung »nicht oktroyiert werden, solange sie nicht der Erfahrung des einzelnen entspricht, und sie darf nicht oktroyiert werden, weil dies der kritischen Autonomie, der ›negativen Freiheit‹ des einzelnen entgegenstünde.« 194 Die Dringlichkeit eines öffentlichen Diskurses tritt zweifelsohne nicht erst beim evaluativen Moment unserer Wünsche zutage, sondern vielmehr lassen sich auch die Abwesenheit von psychischen Verzerrungen in »neurotischen Wünschen« (a) oder von epistemischen Irrtümern in »nicht-informierten Wünschen« (b) im Grunde nur dann registrieren, wenn wir fähig und bereit sind, die Perspektiven anderer einzunehmen. Fokussieren wir doch beim inbrünstigen Wünschen in der Regel unsere ganze Aufmerksamkeit auf einseitig favorisierte Aspekte eines gewünschten Objektes oder Zustandes unter Ausblendung aller anderen, so dass ohne Ohr und Auge für die Perspektivenvielfalt von Gesprächspartnern, Freunden, Psychotherapeuten oder philosophischen Praktikern das Fiasko einer ernüchternden Enttäuschung bei der Wunscherfüllung vorprogrammiert ist. Obgleich uns Seels subjektiver wunschtheoretischer Ausgangspunkt, demzufolge es für unser gutes und glückliches Leben zentral sei, »dass sich nicht wenige Wünsche, die wir haben, erfüllen«, auf Anhieb sowohl in anthropologischer wie evaluativer Hinsicht imponierte, haben wir nicht nur das Terrain eines »einfachen Subjektivismus«, welcher für eine unkritische Erfüllung unserer faktischen augenblicklichen Wünsche plädiert, sondern auch dasjenige eines »reflektierten Subjektivismus« 195 längst hinter uns gelassen: 193 Vgl. Steinfath: »Im Rahmen einer kritischen Selbstreflexion können wir jedoch selbst die im Verlaufe unserer Sozialisation verinnerlichten oder im Gespräch (und anderen Formen der Interaktion) mit anderen entwickelten Wertvorstellungen hinterfragen. So richtig es beispielsweise ist, dass wir bestimmte intersubjektive Standards in Affekten wie Scham, Schuld oder Stolz als von uns anerkannte Maßstäbe für die Kritik unserer sonstigen Gefühle und Wünsche erfahren, so richtig ist doch auch, dass wir die Richtung der Kritik zuweilen auch umkehren: intersubjektive Standards also im Lichte unserer partikularen Gefühle und Wünsche anzweifeln können.« (Steinfath: Selbstbejahung, S. 91) 194 Früchtl: Spielerische Selbstbeherrschung, S. 133. 195 Seel: Versuch, S. 61.

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»Im Unterschied zu einem ›einfachen‹ Subjektivismus, der das gute Leben als Erfüllung der faktischen Wünsche einer Person bestimmt, lässt ein ›reflektierter‹ Subjektivismus die Wünsche (oder auch andere nonkognitive Einstellungen) einer Person jedoch nur dann als Maßstab für die Qualität ihres Lebens gelten, wenn sie bestimmten Formen einer (dem Anspruch nach) wertneutralen Kritik standhalten. Gegenstand der Kritik soll dabei nicht das sein, was sich eine Person wünscht, sondern die Art und Weise, wie sie es sich wünscht.«196

Leidet also Schabers Prätention, eine wohlverstandene subjektive Wunschtheorie schlage gleichsam notwendig in eine »objektive Theorie des guten Lebens« um, weil jede wohlinformierte und psychisch gesunde Person sich automatisch das (für sie) »objektiv Gute« wünscht, 197 nicht selber an einer perspektivischen Verkürzung, wenn doch zum Zwecke einer zuverlässigen Validierung glücksrelevanter subjektiver Wünsche diese der Kritik der Sprechgemeinschaft standhalten müssen? Trägt nicht auch Seels elaborierter Term eines »reflektierten Subjektivismus« 198 dieser intersubjektiven Entgrenzung der eigenen Perspektiven zu wenig Rechnung, dank der allein Wünsche vom obligaten Verdacht auf neurotische Verzerrung und epistemische sowie normative Nicht-Informiertheit befreit werden können? Ist dem Oszillieren zwischen Subjektivismus und Objektivismus in ethisch-normativer Hinsicht Halt zu bieten, wo der Wunschtheoretiker augenscheinlich den Maßstab der Wunschkritik »weder in das völlige Belieben der jeweiligen Person stellen kann noch dieser einfach von außen diktieren darf« 199 ? Steinfath: Die Thematik des guten Lebens, S. 18 f. Der Vorteil einer wunschtheoretischen »objektiven Theorie des guten Lebens« liegt laut Schaber gerade in ihrer Vereinbarkeit, mit der »Subjekt-Relativität«: »Wenn eine Person unter informierten Bedingungen und in Abwesenheit verzerrender psychischer Faktoren keine positive Einstellung zu x hat, dann ist x objektiv nicht gut für ihn. So gesehen gibt es auch für eine objektive Theorie des Guten eine Personenrelativität.« (Schaber: Gründe, S. 165) 198 Steinfath subsumiert dem »reflektierten Subjektivismus« des weiteren die Theorien von Rawls (1971), Brandt (1979), Tugendhat (1981), Griffin (1986) und Gauthier (1986), in: Die Thematik des guten Lebens, S. 18 f. 199 Vgl. Steinfaths Skepsis: »Das Grundproblem des reflektierten Subjektivismus besteht darin, dass er die Weise, wie eine Person selbst ihr Leben bewertet, nur unter bestimmten Bedingungen als autoritativ gelten lässt, er die Entscheidung über den Charakter dieser Bedingungen aber weder in das völlige Belieben der jeweiligen Person stellen kann noch dieser einfach von außen diktieren darf. Es ist eine offene Frage, ob es einen derartigen Mittelweg zwischen ›einfachem‹ Subjektivismus und Objektivismus überhaupt gibt.« (ebd., S. 20) Auch Griffin tut sich sichtlich schwer beim Gedanken, der 196 197

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Ohne diese terminologischen Dissonanzen zwischen Wunschtheoretikern in einem harmonischen Konsens auflösen zu wollen, weil das Verhältnis von Glück und ethischen Normen erst in Kapitel 6 detailliert erörtert werden soll, legen wir im Rahmen dieses Teilkapitels zu subjektiven Glückstheorien lediglich den Ton darauf, dass sowohl unter Hedonisten wie auch Wunschtheoretikern Stimmen laut werden, die legitimerweise für eine Überwindung eines »einfachen Subjektivismus« agitieren. Menschliches Glück, so der Tenor all dieser Stimmen, kann sich weder in einem Maximum an rein quantitativ erfasstem subjektivem Wohlbefinden erschöpfen, noch auch in der Erfüllung sämtlicher spontan und augenblicklich produzierter Wünsche. Da gemäß unserer präludierenden Gedanken dieses Kapitels der Mensch allein aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit zur Konfrontation mit der Frage verurteilt ist, wie er sein Leben als Ganzes leben soll, und sein Glück nichts anderes darstellt als das positive Gestimmtsein in Anbetracht eines sich in der Zeit seines Lebens bewährenden gelingenden Weltverhältnisses, erscheint es prinzipiell unangebracht, den Prozentsatz erfüllter ephemerer faktischer Wünsche oder die Summe erquicklicher episodischer Befindlichkeiten zum Maßstab eines »guten Lebens« zu erheben, weil damit der »innere Bezug auf das Gesamtleben des Handelnden« eliminiert würde. 200 Dieses prinzipientheoretische Argument findet darüber hinaus Unterstützung durch die bereits in Anschlag gebrachte alltägliche Erfahrung von Wunsch- oder Bedürfniskonflikten: Wer die Aufgabe, sein Leben als ein gutes zu bestimmen und zu vollziehen, damit erfüllt wähnt, dass er »aus Prinzip« entweder seinen naturwüchsigen genussheischenden Trieben oder aber den spontan in ihm aufkeimenWunschtheorie die Etikette »subjektiv« oder »objektiv« aufkleben zu müssen: »But, as we just saw in the last section, the dependence of prudential value on desires is much less simple, less a matter of all or nothing, than they assume. The best account of ›utility‹ makes it depend on some desires and not on others. So the distinction between objective and subjective, defined in the common way that I have defined it, does not mark an especially crucial distinction. It would be better if these terms (at least in this sense) were put into retirement. But if they are not, if the question ›Subjective or objective?‹ is pressed, then the answer has to be ›Both‹.« (Griffin: Well-being, S. 33) 200 Vgl. in bezug auf das hedonistische Prinzip Höffes negatives Fazit: »Gegen das Genussleben spricht also, dass der innere Bezug auf das Gesamtleben des Handelnden fehlt. Wer ›aus Prinzip‹ seinen momentan vorherrschenden naturwüchsigen Impulsen folgt, wer sich von ihnen grundsätzlich unmittelbar und vollständig bestimmen lässt, der verfehlt ein insgesamt gelungenes Leben und handelt insofern zutiefst unvernünftig.« (Otfried Höffe: Personale Bedingungen eines sinnerfüllten Lebens, S. 409) A

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den Wünschen folgt, sich unmittelbar und vollständig in ihr Joch einspannend, sieht sich spätestens dann um sein »Glück« betrogen, wenn das bunte Treiben der Triebe oder Wünsche in ein dichtes, ihn zu zerreißen drohendes antagonistisches Chaos einmündet. Nachdem wir unstreitig bei unserer synthetisierenden Analyse diverser wunschtheoretischer Glücksansätze von allem Anfang an mitnichten Ratschläge hinsichtlich der Optimierung der Erfüllung faktischer Wünsche im Sinne eines »einfachen Subjektivismus« empfingen, sondern vielmehr zu deren Kritik und Neubewertung angeleitet wurden, soll um eines besseren Theorieverständnisses willen abschließend ein Licht geworfen werden auf Harry Frankfurts Differenzierung von Wünschen erster und zweiter Ordnung oder Stufe, die im Laufe dieser Studie noch verschiedentlich eine Rolle spielen wird: Frankfurt zufolge bezieht sich ein Wunsch zweiter Ordnung im Gegensatz zu demjenigen erster Ordnung nicht auf ein erstrebtes Objekt oder einen ersehnten Zustand, sondern vielmehr auf einen Wunsch erster Ordnung, und solche Wünsche zeichnen in seinen Augen den Menschen als Person vor allen anderen Lebewesen aus. 201 Während man das Wünschen (erster Ordnung) auch den Tieren nicht abzuerkennen wagen wird, können doch nur die zur Selbstreflexion befähigten Menschen den Wunsch haben, einen Wunsch zu haben oder nicht zu haben, oder wünschen, einer ihrer Wünsche möge so stark sein, dass das Wünschen sich in ein Wollen transformiert. Jeder Mensch aber, der entsprechend Seels trivialem Ausgangspunkt im Namen eines guten und glücklichen Lebens wünscht, dass sich nicht wenige seiner faktischen Wünsche erfüllen, kann sich bei einem solchen Wunsch zweiter Stufe der Frage gar nicht entziehen, wie er seine Wünsche erster Ordnung bewerten soll, welche Wünsche auch bei Lichte besehen wünschenswert seien. Genauso, wie ein Mensch nicht darum herum kommt, sich unter den ihm möglichen Lebensweisen oder -formen für die jeweils beste zu entschließen, hat er in Anbetracht aller aktueller oder erst noch zu kultivierender Wünsche, deren weitgehende Erfüllung wesentlich zu 201 »Neben wünschen und wählen und bewegt werden, dies oder das zu tun, können Menschen außerdem wünschen, bestimmte Wünsche und Motive zu haben (oder nicht zu haben). Sie können, was ihre Vorlieben und Zwecke angeht, gern anders sein wollen, als sie sind. Viele Tiere scheinen durchaus zu, wie ich sagen will, ›Wünschen erster Stufe‹ fähig zu sein. Kein Tier außer dem Menschen scheint dagegen die Fähigkeit zur reflektierenden Selbstbewertung zu haben, die sich in der Bildung von Wünschen zweiter Stufe ausdrückt.« (Harry Frankfurt: Willensfreiheit und der Begriff der Person, S. 288)

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einem guten und glücklichen Leben gehört, nach Seel diejenigen zu selektieren, deren Verwirklichung auch tatsächlich Erfüllung versprechen: »Wer sich überhaupt wünschend zu seinen Wünschen verhalten kann, muss wünschen, (vorwiegend) solche Wünsche zu haben und zu verfolgen, deren Erfüllung er tatsächlich wünschen kann. Wer überhaupt in der Lage ist, sich zu der Art seiner Lebensführung verhalten zu können und verhalten zu müssen, sollte nach Situationen streben, die ihm Erfüllung bieten, die er wirklich als solche erfahren und bewerten kann.« 202

Doch wie erhalten wir Kenntnis darüber, ob ein einzulösender Wunsch de facto als Erfüllung »erfahren und bewertet« werden kann oder sogar eine »reichere Erfüllung« verspricht als ein mit ihm konkurrierender? 203 Liegen die Grenzen der Aufgeklärtheit unserer Wünsche zweiter Stufe nicht gerade darin, dass uns bei den Wünschen, die sich auf bisher entratene Objekte oder Zustände richten, schlichtweg die Erfahrung fehlt, wie es ist, im Besitz des Gewünschten zu sein? »Wie es ist, Vater zu sein, in seinem Beruf erfolgreich zu sein, in einem anderen Erdteil Helfer der Armen zu sein, können wir, solange wir es nicht sind, allenfalls ›von außen‹ aber nicht ›von innen‹ wissen«, scheint man Stemmer Recht geben zu müssen: »Dieses kognitive Defizit ist grundsätzlich nicht zu beheben.« 204 Oder stellt die Interpretation von Seels Kriterium einer »reicheren Erfüllung« im Sinne einer solchen hedonistischen Innenorientierung vielleicht ein genuines Missverständnis dar und führt ähnlich wie die Ende des Kapitels 2.2 skizzierte erlebnisorientierte Glückssuche in die Irre, weil dabei die kognitive Seite eines »Erfüllungsglücks«, unsere Selbstorganisation und Lebenskonzeption, vernachlässigt würde? Da Seels Kriterium einer »reicheren Erfüllung« ohne weitere Konkretisierungen zweifellos allzu vage bleibt, mag dem konfusen Wünschenden Taylors in unmittelbarem Anschluss an Frankfurts Stufenordnung projektierte Spezifizierung unterschiedlicher BewerSeel: Versuch, S. 92. Seel empfiehlt uns, »diejenigen Wünsche zu bevorzugen und zu maßgeblichen Gesichtspunkten des Handelns zu machen, deren Verwirklichung tatsächlich Erfüllung verspricht bzw. deren Verwirklichung die reichere Erfüllung verspricht.« (ebd.) 204 Stemmer fährt fort: »Denn wer sein Leben lebt, ist die Strecke nicht zuvor schon einmal zur Sicherheit abgefahren; er ist nicht ›streckenkundig‹, wie der Eisenbahner sagt.« (Stemmer: Was es heißt, S. 65 f.) Vgl. dagegen unsere Reflexionen in Kapitel 5.1, S. 364 f. 202 203

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tungshinsichten von Wünschen höherer Stufe den Ausweg aus dem Fliegenglas markieren: Bei einer sogenannten »schwachen« oder quantitativen Bewertung favorisiert der Wünschende einen Wunsch allein deswegen, weil das zu erwartende Ergebnis der Wunscherfüllung ihm angenehmer erscheint, weil es ihm die größtmögliche Befriedigung in Aussicht stellt. Er sinnt mithin darüber nach, »welches von zwei gewünschten Objekten ihn am meisten anzieht, so wie man eine Konditoreiauslage studiert, um zu überlegen, ob man ein Eclair oder ein Blätterteigstückchen nehmen will« 205 – wobei man sich mutmaßlich an vergangenen Gefühlserlebnissen orientieren, trotzdem aber am »Grundparadox des Hedonismus« scheitern kann. 206 Bei starken oder qualitativen Stellungnahmen zu unseren Wünschen hingegen werden diese im Lichte von evaluativen und kontrastiven Begriffen betrachtet, so zwar, dass letztlich ihre Vereinbarkeit mit der Art von Leben, die wir führen wollen, getestet wird: »In einem solchen Falle werden unsere Wünsche nach Kategorien eingeteilt wie höher oder niedriger, tugendhaft oder lasterhaft, mehr oder weniger befriedigend, mehr oder weniger verfeinert, tief oder oberflächlich, edel oder unwürdig. Sie werden als zu qualitativ verschiedenen Lebensweisen zugehörig eingestuft: fragmentiert oder integriert, entfremdet oder frei, heiligmäßig oder bloß menschlich, mutig oder kleinmütig usw.« 207

In Anlehnung an Kants Theorie hypothetischer und kategorischer Imperative könnte man versucht sein, die »schwache Wertung« als »technisch-pragmatische« zu deklarieren, weil hier situativ-kasuistische Überlegungen mit dem Ziel des augenblicklichen subjektiven Wohlbefindens dominieren, die »starke Wertung« im Dienste einer komplexen, reifen Persönlichkeit und eines insgesamt guten Lebens als »moralische« 208 . Sofern sich nun die von Taylor auf den Plan gebrachten dichotomischen Wunscharten zweiter Stufe nicht selber wieder in einer un205 Taylor: Negative Freiheit?, S. 10. Vgl. zur Differenz von starken und schwachen Werten Kapitel 6.2, S. 560. 206 »Dies reflektierende Erinnern an vergangene Gefühlserlebnisse«, so warnt Krämer, »kann aber in der Regel nur in abstracto erfolgen und daher auch nur schwach motivierend wirken. Eine hedonistische Ethik, die die Zielbestimmung des Handelns wesentlich in Gefühlsqualitäten setzt, lässt sich darauf nicht aufbauen.« (Hans Krämer: Integrative Ethik, S. 135) 207 Ebd. 208 Anstelle einer kantischen Ethik des kategorischen Imperativs macht Taylor allerdings »moralische Gefühle« als affektiven »ethischen Maßstab« stark.

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umstößlichen Hierarchie befinden, müsste man tatsächlich Schabers Missmut darüber teilen, mittels Wünschen zweiter Ordnung sei dem Konfligieren spontaner faktischer Wünsche mitnichten beizukommen, weil sich der Antagonismus lediglich auf einer höheren Ebene fortsetze. 209 Im Einklang mit unseren emotionspsychologischen Einsichten des letzten und den motivationstheoretischen Reflexionen des vorliegenden Kapitels hätte man aber anlässlich eines alltäglichen Konfliktes wie des erwähnten Zigaretten-Dilemmas darauf zu insistieren, dass für den Menschen weder das ihn bloß am Leben Erhaltende, d. h. die Befriedigung der Primärbedürfnisse nach Nahrung, Schmerzfreiheit oder Gesundheit, noch das rein Angenehme des Zigarettenkonsums als Kategorien einer »schwachen« Wertung wirklich gut und wünschenswert sind, sondern nur eine gelungene, zahlreiche glücksrelevante Wünsche umgreifende Konzeption seines Lebens insgesamt. Die pragmatisch-technische und die moralischpraktische Dimension unserer Wünsche zweiter Ordnung bilden mithin, wie auch Spaemann anhand seiner Interpretation des platonischen Dialoges Hippias minor schlüssig an den Tag legt, nicht allein verschiedene Bewertungshinsichten unserer bereits vorliegenden oder zu kultivierenden Wünsche, sondern stehen im Verhältnis Teil-Ganzes, wobei die ganzheitliche Betrachtungsweise unbedingte Priorität verdient. 210 Wir sollen beim Abwägen unserer Wünsche daher nicht so sehr darauf achten, mit welch raffinierten Handlungsstrategien eine optimale Befriedigung eines Maximums unserer partikularer Wünsche zu erzielen sei, sondern welche Wünsche sich, zugleich oder nacheinander, im Rahmen des von uns gewählten »guten Lebens« und im Sinne unserer qualitativen Selbstinterpreta209 »Genauso wie Wünsche erster Ordnung können auch Wünsche zweiter Ordnung konfligieren.« (Schaber: Gründe, S. 157 f.) Letzteres Dilemma konzedierend, warnt auch Frankfurt: »Wir können uns hinsichtlich unserer Wünsche zweiter Stufe ebensowohl unklar sein und im Zwiespalt befinden oder können uns über uns selbst genauso täuschen wie bei Wünschen erster Stufe.« (Frankfurt: Willensfreiheit, S. 296) 210 Spaemann spricht zwar nicht von Wünschen, sondern von Handlungen: »Wodurch unterscheiden sich diese beiden Gesichtspunkte? Sie sind nicht ›sektoriell‹ voneinander unterschieden und nicht einander äußerlich, so dass die Frage entstehen könnte, warum denn dem moralischen Gesichtspunkt jederzeit der Vorrang vor dem technischen zukommt. Die Beziehung der beiden Aspekte zueinander entspricht vielmehr der Beziehung des Ganzen zu den Teilen. Der ›moralische Gesichtspunkt‹ beurteilt die Handlung als gut oder schlecht in Hinsicht auf das Leben als Ganzes, der ›technische‹ im Hinblick auf die Erreichung partikularer Zwecke.« (Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 19)

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tion 211 realisieren lassen. Denn was wir letztlich erstreben, sind in Seels Worten gar nicht einzelne Wünsche, sondern »Konstellationen von Wünschen, die sich im Laufe eines Lebens mehr oder weniger erfüllen«, und das entsprechende Wunscherfüllungsglück entlarvt sich nicht als ein »(mehr oder weniger reicher) Zustand, sondern vielmehr ein (mehr oder weniger gelingender) Prozess der Wunscherfüllung«. 212 Ein gutes und glückliches Leben darf also auch im Zeichen einer reflektierten subjektiven Wunschtheorie nicht mit einem dank wildzügelloser Wunscherfüllung herausgeschlagenen Optimum quantifizierbaren Wohlbefindens verwechselt werden, sondern hängt ab von einer bestimmten Weise der Lebensführung, vom erfolgreichen Weg der Erfüllung einer planmäßigen Konstellation von Wünschen, von einer gelingenden Lebenskonzeption. Es drängt sich angesichts solcher globaler Pläne, bei denen nur nicht-neurotische Wünsche Berücksichtigung finden, die sich auf eine realistische, faktische oder doch zukünftig wahrscheinliche Relation Subjekt-Außenwelt beziehen und zudem sowohl in epistemischer wie evaluativer Hinsicht hinlänglich aufgeklärt sind, der Verdacht auf, die uns ursprünglich interessierenden »Wünsche« seien unter der Hand zu »Zielen« mutiert. Frankfurt unterteilt das Wünschen zweiter Stufe in ein solches mit ausschließlich reflexivem Bezug zu denjenigen erster Stufe und realitätsorientierte, handlungsrelevante »Volitionen«, bei denen ein gemusterter und selektierter Wunsch zur zielgerichteten Intention arriviert – wobei er einem Menschen ohne solche Volitionen zweiter Stufe schlechterdings das Menschsein abspricht: »Es ist logisch möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass ein Handelnder wohl Wünsche zweiter Stufe, aber keine Volitionen der zweiten Stufe hat. Ein solches Wesen wäre in meinen Augen keine Person.« 213 Da uns die Wunschtheoretiker des Glücks offenkundig zum »Wollen« mit realistischen Zielen bzw. zu in Lebensplänen verflochtenen Zielkomplexen und entsprechenden Handlungsstrategien ermahnen, steht im Kern einer Wunschtheorie des Glücks streng genommen nicht die 211 Statt als Problem der Befriedigungsqualität sollen Wunschkonflikte der genannten Art gemäß Taylors Anleitung als »Konflikt der Selbstinterpretation« betrachtet werden (vgl. Taylor: Negative Freiheit?, S. 18 f.). Auf seine in engem Zusammenhang damit stehenden Thesen zur Subjektkonstitution kraft starker Wertungen komme ich im Kapitel 6.1 zu sprechen. 212 Seel: Versuch, S. 92 und S. 96. 213 Frankfurt: Willensfreiheit, S. 292.

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Objektive Glückstheorien: Glücksgüterobjektivismus und die Lebensstandard

Erfüllung von Wünschen, sondern von Zielen – auf dass sie mit der im Kapitel 5.1 zu analysierenden »Zieltheorie des Glücks« koinzidierte. 214

4.2 Objektive Glückstheorien: Glücksgüterobjektivismus und die Lebensstandard – Lebensqualitätsforschung Nachdem sich ein radikaler Glückssubjektivismus, für ein rein quantitatives Optimum subjektiven Wohlbefindens propagierend, als inakzeptabel entpuppte, weil menschliches Glück prinzipiell an die unausweichliche Frage gekoppelt ist, wie man sein Leben als Ganzes leben will, und im Speziellen bei der Bewertung lebensstrukturierender höherer Bedürfnisse oder Wünsche jeder einzelne auf die korrektiven Perspektiven seiner Mitmenschen verwiesen ist, begeben wir uns gespannt ins gegnerische Lager der Glücksobjektivisten. Wirft man einen ersten Blick in die Runde, vermag man auch hier wieder kompatible theoretische Ansätze auszumachen, die sich grosso modo folgenden beiden, sich zugegebenerweise an verschiedenen Stellen überlappenden Thesenkomplexen subsumieren lassen: Grundsätzlich darüber im Einklang, dass ein gutes und glückliches Leben vom Reichtum an bestimmten »objektiven Gütern« abhängt, wählen die einen günstige Lebensumstände (»fortuna«), vornehmlich einen hohen Lebensstandard als »höchste Güter« aus (1), die anderen wesensmäßige menschliche Eigenschaften (2a) oder – neuzeitlicher – das ihren artspezifischen Bedürfnissen und Fähigkeiten Entgegenkommende bzw. Zuträgliche (2b). »Güter« sind dabei als Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt vorhanden oder doch im Rahmen des Möglichen liegend und verkörpern »Strebensziele in dem Sinne, dass sie als Voraussetzungen, Mittel und ›Material‹ den gelungenen Vollzug menschlichen Lebens ermöglichen«. 215 Im Kontrast zu endlichbegrenzten materiellen, körperlichen und gesellschaftlichen »objek214 Seel: Versuch, S. 93. Zu diesem Schluss gelangt etwa auch Hossenfelder, der statt von »Zielen« korrekterweise von »Zwecken« spricht, welche eine Reflexion auf die Mittel der Zielerreichung einschließen: »Denn Glück bedeutet das Erreichen aller eigenen Zwecke. Eigener Zweck aber bedeutet dasjenige, dessen Wirklichkeit ich tatsächlich erstrebe, das Ziel meines Handelns ist, im Unterschied zum bloßen Wunsch, der sich z. B. auch auf Unmögliches richten kann.« (Hossenfelder: Die Rolle des Glücksbegriffs in der Moralphilosophie, S. 183) 215 Vgl. den Artikel »Güter« in Otfried Höffe: Lexikon der Ethik, S. 120.

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tiven Gütern« können die vornehmlich von den Alten eruierten »typischen menschlichen Eigenschaften« (2a) auch »seelische Güter« darstellen, die in der Tradition der praktischen Philosophie entweder mit dem Prädikat der »eigentlichen oder hervorragendsten Güter« 216 prämiert oder als »das Gute« – sei es als moralisches, sei es als technisches Gut-Sein einer Person – 217 schlechterdings aus der Klasse der räumlich-zeitlichen »Güter« ausgegliedert wurden. Nachdem das ursprünglich objektive wesensmetaphysische Fundament des »Guten« im nachmetaphysischen Zeitalter arg ins Wanken geriet, wird »das Gute« der Dinge zumeist auf das technisch-relative Moment hinsichtlich der menschlichen Bedürfnisse reduziert, auf dass es mit den »Gütern« (2b) konvergiert, das spezifisch menschliche »Gute« (2a) funktionalisiert und in deren Dienst gestellt: »Das Gute ist demnach nicht ein Prädikat, das eine objektive Eigenschaft des Seienden beschreibt, sondern ein Relationsbegriff, in dem die wertende Einstellung eines Subjekts zu diesem Seienden zum Ausdruck kommt. Da menschliches Begehren auch und primär in seiner Bedürfnisstruktur wurzelt, wird das (außermoralisch) Gute vielfach in jene Güter gesetzt, die der Befriedigung der Bedürfnisse dienen. […] Das moralisch Gute wird dann meist funktional interpretiert als die Anerkennung und Befolgung jener Normen, die der Realisierung der Bedürfnisse des einzelnen oder einer Handlungsgemeinschaft dienen.« 218

Wem angesichts der typisch neuzeitlichen Deklaration des »den artspezifischen menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten Entgegenkommenden bzw. Zuträglichen« (2b) als höchste glücksrelevante »objektive Güter« die Meinungen der Subjektivisten und Objektivisten durchaus konziliant erscheinen, hat zu bedenken, dass wohl nicht unbedingt ein Dissens vorliegt »über das, was gut oder 216 So etwa bei Aristoteles: »Wenn nun die Güter dreigeteilt werden, und zwar so, dass die einen äußere Güter genannt werden, die zweiten körperliche, die dritten seelische, so nennen wir die seelischen die eigentlichsten und hervorragendsten Güter. Außerdem sprechen wir die entsprechenden Handlungen und Tätigkeiten der Seele zu. So befinden wir uns denn in schönster Übereinstimmung mit dieser Anschauung, die alt ist und von allen Philosophierenden geteilt wird.« (Aristoteles: Eth. nic., 1098b, 12–17) 217 In Höffes Lexikon der Ethik wird eine relative von einer absoluten Bedeutung des »Guten« gesondert, wobei die (technisch-)relative »das funktionale Tauglichsein von dinglichen Gegenständen, von Organen, Tieren, von Menschen für einen bestimmten Zweck« betrifft, die (moralisch-)absolute die Erfüllung der in einem Seienden »angelegte Möglichkeit, seine Vollendung« (Artikel »das Gute« ebd., S. 121). 218 Ebd., S. 122.

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Objektive Glückstheorien: Glücksgüterobjektivismus und die Lebensstandard

schlecht ist, sondern darüber, warum etwas gut oder schlecht ist«. 219 Während Subjektivisten das Gutsein eines ersehnten Objektes oder Zustandes auf die faktischen Bedürfnisse und Wünsche einzelner, also auf nonkognitive Einstellungen zurückbuchstabieren, manifestiert sich oder erschließt sich uns nach Meinung der Objektivisten in solchen affektiven Neigungen lediglich, was auch unabhängig von ihnen gut ist: »Nicht soll gelten, dass etwas gut ist, weil wir es (wie immer aufgeklärt oder unaufgeklärt) wollen, sondern es soll sich genau umgekehrt so verhalten, dass wir etwas (vernünftigerweise) wollen, weil es gut für uns ist.« 220 Abgesehen von dieser zweifelhaften Abkoppelung des »Guten« von menschlichen Einstellungen oder Handlungen, welche die objektivistischen Positionen von einer quasi-objektiven, auf hinlänglich aufgeklärte Wünsche setzenden Wunschtheorie sensu Schaber trennt, rekurrieren viele Objektivisten statt auf intuitiv erfassbare intrinsische Werteigenschaften (Eduard Moore) auf ebenso strittige, oft nicht näher explizierte anthropologische Prämissen: »Die Auflistung bestimmter ›objektiver‹ Güter beruht auf der anthropologischen Annahme, dass alle Menschen eine basale Bedürfnisnatur teilen. Selbst wenn man diese Annahme gelten lässt«, moniert Steinfath, »kann man jedoch fragen, ob eine ausgearbeitete objektive Theorie des guten Lebens nicht noch bei weitem stärkere – und damit natürlich auch anfechtbare – anthropologische Behauptungen aufstellen müsste. Es ist seit jeher das Dilemma von Appellen an die menschliche Natur gewesen, dass sie entweder inakzeptabe starke Annahmen machen müssen, die die gewünschten normativen Folgerungen schon in den Naturbegriff hineinstecken, oder so vage bleiben, dass sie keine Basis mehr für die erhofften normativen Unterscheidungen liefern.« 221

Zur Vermeidung solcher methodologischer Obskuritäten sollen anthropologische objektive Theorien (2) erst im entsprechenden Kon219 Steinfath: Die Thematik des guten Lebens in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion, S. 21. 220 Ebd., S. 20 f. 221 Ebd., S. 22 f. In dezidierter Absetzung von solchen fixen Listen objektiver Güter projektiert Schaber seine flexiblere, quasi-objektive Wunschtheorie (vgl. Kapitel 4.1, S. 259 f.): »Wenn objektive Theorien richtig sind, dann kann etwas für eine Person gut sein, ohne dass sie dies je wahrnimmt. […] Dieser Einwand trifft ohne Zweifel auf eine objektive Theorie zu, die das, was gut ist, über fixe Listen objektiv guter Dinge festlegt. Die objektive Theorie guten Lebens kann aber bedeutend flexibler sein.« (Schaber: Gründe, S. 165)

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text unserer Anthropologie des Glücks in Kapitel 5.2 als »ObjektiveListe-Theorien« des Glücks eingehend diskutiert werden. Konzentrieren wir uns mithin ganz auf die Argumentationsstrategien des Typus der ersteren Objektivisten (1), wappnen sich diese gerne mit dem argumentum ad personam, demzufolge menschliches Glück wesentlich endlich sei und sich unter endlichen Bedingungen vollziehe. Während man sich unter Glücksforschern in der Regel einig ist, dass die Erfahrbarkeit eines solch endlichen menschlichen Glücks bestimmte minimale Bedingungen voraussetzt, machen einige Philosophen mit Recht darauf aufmerksam, dass dank deren Benennung immer nur ein in der Neuzeit beliebter »negativer Begriff« von Glück gewonnen werden kann (vgl. Kapitel 3.1). 222 »Glück in dem umfassenden Sinne eines glücklichen Lebens oder Lebensabschnittes setzt immer einigermaßen günstige Umstände voraus«, heißt es etwa vorsichtig bei Rawls. 223 Demgegenüber münzen Werbewelt, Unterhaltungsindustrie und Massenmedien ostinat-suggestiv dieses Negativum zum Positivum, das Bedingende zum Unbedingten, das Mittel zum Zweck um. Gegenläufige Tendenz zur Verinnerlichung und Subjektivierung des Glücks in der modernen Erlebnisgesellschaft ist damit ohne Frage seine Veräußerlichung und Kommerzialisierung auf dem Feldzug einer eskalierenden Technisierung und Rationalisierung: Jugend via Facelifting, Schlankheit dank Diätprogrammen, Geld und Urlaub lauten populäre Glückskategorien bei einem ausufernden Angebot an erwerblichen körperlichen und materiellen Glücksgütern, von welchem wir bereits in Kapitel 2.1 eine kleine Impression zu vermitteln suchten. 224 »Glücksversprechen betören uns, wohin wir blicken. Die Werbung, die Politik, die Vergnügungsindustrie saugen unsere Glücksträume auf und winken mit Erfüllungen. Supermärkte des Glücks verwalten unsere Sehnsucht, Glücksangebote kanalisieren unseren Hunger nach dem Un222 »Menschliches Glück ist ein Wohlergehen endlicher und verletzlicher Lebewesen, die wissen, dass ihr Leben endlich und ihr Zustand verletzlich ist. Ihr Glück ist ein Glück in dieser Lage. […] Nur unter bestimmten Bedingungen jedoch ist diese Lage überhaupt so, dass in ihr Glück erfahren werden kann. Eine Klärung dieser Bedingungen kann sich an der Frage orientieren, unter welchen Bedingungen kein menschliches Glück möglich ist. Damit wird jener negative Begriff gewonnen, bei dem die moderne Ethik stehengeblieben ist. Es werden notwendige Bedingungen angegeben, unter denen Glück möglich, jedoch beileibe nicht immer wirklich ist.« (Seel: Glück, S. 148) 223 Rawls: Eine Theorie, S. 448. 224 Vgl. Kapitel 2.1, S. 74 f.

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verwechselbaren, nach dem eigenen Glück, das auf uns persönlich passt«, 225 registrieren Zeitgenossen nicht ohne kritischen Unterton. Wo das gute und glückliche Leben in Abhängigkeit von hochgradig außenorientierten Wünschen gerät, wähnt der Unglückliche das ihm zum Glück fehlende »objektive Gut« in den verwaltenden Supermärkten des Glücks irrtumsfrei festmachen zu können, 226 denn: »Zum Beispiel, ›Junge Menschen, die das Leben lieben‹ und sonnengebräunt daherkommen, ›rauchen Lord Extra‹ oder ›trinken Martini‹, und eben daran liegt es, dass sie das Leben so souverän beherrschen (suggeriert uns die Reklame). […] Die penetrante Propaganda, der heute jedermann täglich ausgesetzt ist und die ihm einredet, zur Lebensführung gehöre vor allem Jugend, Vitalität, Sex, Erfolg, Wohlstand, diese Propaganda, die nur die Linien der gewöhnlichen Erwartung von jedermann auszieht, treibt den alternden Menschen, dem freiich der Unterschied zwischen Leben-können und bloßem AmLeben-sein nicht mehr entgeht, in die Depression dessen, der das erfüllte Leben endgültig versäumt hat.« 227

Vermeinen mithin radikale Hedonisten das Glück mit der Befriedigung vorwiegend primärer Bedürfnisse oder der Erfüllung innenorientierter Wünsche zu erzielen, kaprizieren sich die Wunschtheoretiker im Allgemeinen auf außenorientierte, nicht-materielle Wünsche betreffs Werten wie Leistung, Achtung oder Unabhängigkeit, die Objektivisten hinwiederum, das Glück in Akquisition, Besitz oder Gebrauch materieller oder körperlicher Güter erblickend, auf außenorientierte materielle. Bevor wir die sowohl auf ökonomischem wie soziologischem Terrain viel debattierten Termini »Lebensstandard« und »Lebensqualität« zu explizieren versuchen, gilt es vorab, einige in der instrumentell-technischen Welt des Habens grassierende infektiöse eudaimonologische Denkfehler aufzudecken: Gleich diversen im vorangehenden Teilkapitel kritisierten subjektiHöhler: Das Glück, S. 16. »Zweifellos hängt es von der Erfüllung oder Nichterfüllung von vielerlei ›Lebensbedingungen‹ ab, wie gut oder schlecht wir leben können. Daher sind wir vorausblickend stets um die ›Sicherung‹ und ›Verbesserung‹ unserer Lebensbedingungen besorgt und bemüht, um Gehaltserhöhung, um die Überwindung einer Krankheit, um die Erfüllung geschlechtlichen Begehrens, um die Erlösung von Einsamkeit, um dies und jenes angebbare ›Gut‹ (in der Sprache der antiken Ethik ausgedrückt), das uns fehlt oder das wir verloren haben. Und gewöhnlich glaubt derjenige, der ›sich mühselig durchschlägt‹ oder an einer schweren Entbehrung leidet, diejenigen Güter präzisieren zu können, die nur gerade ihm abgehen – andere besitzen sie ja – und die ihm zu einem lebenswerten Leben verhelfen würden.« (Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 148 f.) 227 Ebd., S. 148. 225 226

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vistischen Repräsentanten von Hedonismus oder Wunschtheorie missachten Propaganda treibende Glücksgüterobjektivisten zum einen Freiheit und Würde des Menschen, ihr Recht auf suggestionsfreie, rational-aufgeklärte Lebensgestaltung (1) 228 , zum andern den spezifischen Zeit- und Vollzugscharakter menschlichen Lebens (2). 229 »So wichtig nämlich sein mag, was wir haben, so wichtig ist doch auch, wie wir damit umgehen«, pointiert Steinfath, 230 weshalb äußere Güter als bloße »Mittel« zum guten Leben niemals dessen »Form« determinieren können und somit als letzte Gesichtspunkte menschlichen Handelns diskreditiert sind. 231 Wo hingegen die uns zu innerorientiertem Wünschen animierenden subjektivistischen Hedonisten das ihrem Programm einen Strich durch die Rechnung machende »hedonistische Paradox« heraufbeschwören, provozieren die Objektivisten mit ihrem Insistieren auf äußerlichen, vermehrbaren Glücksgütern folgende bereits in Kapitel 2.1 demonstrierte psychologische Verwicklungen: Das psychologische »Grundgesetz der Gewöhnung« (3) zum einen zeitigt ein flüchtiges Vorüberhuschen der anvisierten Glückserfüllung mittels Schönheit oder Reichtum und lässt das Anspruchsniveau bezüglich materieller und körperlicher Güter in unerschwingliche Höhen schnellen. 232 Gemäß dem »Prinzip der Kompensation« (4) erhalten wir zum zweiten fast immer zugleich mit einem Gut auch ein Übel, sei es in Form von unerwünschten Nebenwirkungen, sei es ein Hypertrophieren kleiner Irritationen, die sich infolge des Gewöhnungsprinzips plötzlich bemerkbar machen. 233 Schließlich breiten sich mit zunehmendem Wohlstand wie gezeigt Langeweile und Orientierungsnot aus (5), 228 Vgl. zur Gefahr einer Versklavung und Manipulation des Glückssuchenden durch die Glücksgüterindustrie bzw. die entsprechenden Werbeagenturen Kapitel 2, S. 2.1, S. 82 ff. 229 Diese Kritikpunkte korrespondieren den Nummern (4) und (5) unserer Argumentensammlung gegen den hedonistischen Utilitarismus (vgl. S. 269 ff.). 230 Steinfath: Die Thematik des guten Lebens, S. 22. Vgl. dazu meine detaillierteren Erörterungen weiter unten, S. 325 f. (b). 231 »Güter sind als bestimmte objektive Weltgegebenheiten eo ipso begrenzt und lassen einen verschiedenen, einen vernünftigen und unvernünftigen Gebrauch zu. Sie können demgemäß keine letzten Gesichtspunkte des Handelns sein, sondern verweisen auf übergeordnete Gesichtspunkte (sc. der Qualität des Personseins und der Art des Lebensvollzugs), die allein die Bedingungen eines letzten Ziels und unbedingten Worumwillens des Handelns erfüllen können.« (Artikel »Güter« in: Höffe: Lexikon der Ethik, S. 120) 232 Vgl. Kapitel 2.2, S. 77. 233 Vgl. ebd., S. 77 f.

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weil es immer weniger Glücksgüter gibt, die wir noch nicht besitzen oder doch ohne Mühe besitzen könnten, und weil die Distanz dieser Güter zur Sphäre des Lebensnotwenigen ständig zunimmt. 234 Versucht man, nach dieser vorläufigen Erkundung einiger notorischer Unzulänglichkeiten auf dem Werbefeldzug populistischer Glücksgüterobjektivisten, tiefer in den entsprechenden Theoriekomplex einzudringen, hat man sich mit einer inflationierenden sozioökonomischen Terminologie von »Wohlfahrt« über »Lebensstandard« bis »Lebensqualität« anzulegen. Wenngleich diese laut Zapfers Warnung »in der Literatur nicht einheitlich« verwendet wird und »auch nicht deduktiv abgeleitet, sondern nur nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten festgelegt werden« kann, 235 bezeichnet sie doch Konzepte, die unzweideutig einen engen Bezug zum Glück aufweisen. Schenkt man Mayring Glauben, wird gegenwärtig die sowohl in finanzieller Hinsicht wie betreffs des zahlenmäßigen Aufgebotes an interviewten Versuchspersonen aufwendigste Glücksforschung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften betrieben, wo fragliche Schlag- oder Reizworte ihre Wurzeln haben. »Das gemeinsame Interesse von Politologie, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie an solchen Repräsentativumfragen ist dabei, über die Kenntnis des individuellen Glücks und Wohlbefindens des Menschen Rückschlüsse zu ziehen auf den Zustand der Gesellschaft, des Wirtschaftssystems.« 236 Während »Wohlfahrt« ursprünglich über den materiellen Wohlstand der Gesamtgesellschaft, d. h. die globale Akkumulation an Schiffen, Gold oder Bauwerken ermittelt wurde, ging man anfangs des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Utilitarismus dazu über, wie beim »Bruttosozialprodukt« die Summe der individuellen materiellen Güter zu errechnen. 237 Die entscheidende Wende auf dem sozioökonomisch-politischen Felde aber initiierte Franklin Roosevelt, indem er kraft der Durchsetzung zahlreicher sozialer Reformen wie die Stärkung der Gewerkschaften und eine Verschärfung der Steuerprogression die unkontrollierte liberalistische Marktwirtschaft einzudämmen in Angriff nahm. Der infolge eines stetigen WirtschaftsVgl. ebd., S. 78 ff. Wolfgang Zapf: Individuelle Wohlfahrt. Lebensbedingungen und wahrgenommene Lebensqualität, S. 23. Ähnliches rapportiert Alfred Bellebaum bezüglich des politischen Modewortes »Lebensqualität« im gleichnamigen Aufsatz, S. 8. 236 Philipp Mayring: Psychologie des Glücks, S. 31. 237 Auskunft über diesen historischen Hintergrund geben Mayring, ebd., und Wolfgang Glatzer: Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden, S. 49 f. 234 235

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wachstums eskalierende, in den Augen der Objektivisten allein glücksverbürgende »Lebensstandard« als Maßstab für die äußeren materiellen Güter wird in seiner Monopolstellung nun zunehmend in Frage gestellt. Seiner Politik des »New Deal«, in der Phase des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg in den USA von Kennedy und Johnson, in der BRD von Brandt aufgegriffen, wurde durch die sich ausbreitende Forderung nach mehr »Lebensqualität« Nachdruck verliehen: Synonym zu »persönliche Wohlfahrt« begann der Begriff seine steile Karriere in den 70er Jahren als Gegenkonzept zu einem zügellosen und einseitigen quantitativen Wirtschaftswachstum auf Kosten humaner und natürlicher Lebensbedingungen, als Kontrastbegriff zum rein materiellen »Lebensstandard«. 238 Da das »Lebensstandard«-Konzept als sich ganz auf die materielle Dimension konzentrierendes Teilprogramm des soeben untergrabenen Glücksgüterobjektivismus betrachtet werden kann und sich im emphatischen »Lebensqualität«-Modell die hochgradige Brisanz der eudaimonologischen Subjektivismus-Objektivismus-Debatte widerspiegelt, wollen wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf letztere fokussieren: Evoziert durch die rezente Erkenntnis, »dass wirtschaftliches Wachstum weder Maßstab noch alleiniges Mittel zur Humanisierung des Lebens« darstellt, 239 »dass Wachstum nicht notwendig glücklich macht und dass Mehr nicht immer Besser bedeutet«, 240 müsste der schillernde, überaus vage und vieldeutige Begriff Wolfgang Glatzer/Wolfgang Zapfs Appell zufolge eigentlich »als individuelle Konstellation von objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden« 241 definiert werden. Man hätte dann seitens 238 Vgl. Gerster: »Kritiker eines rein quantitativen Wirschaftswachstums – wie Erhard Eppler – haben Anfang der 70er Jahre den Begriff ›Lebensqualität‹ geprägt. Mit ihm wollten sie auf die zunehmende Zerstörung humaner und natürlicher Lebensbedingungen durch eine ungehemmte wirtschaftliche Entwicklung hinweisen. ›Lebensqualität‹ ist gewissermaßen der Gegenbegriff zu ›Lebensstandard‹, der infolge des (quantitativen) Wirtschaftswachstums stetig angestiegen ist. Die Kritiker dieses ungehemmten Wirtschaftswachstums treten besonders für ein gesundes Wohn- und Lebensumfeld, für humane Arbeitsbedingungen, Sozialstaatlichkeit, ein Höchstmaß an individueller Selbstverwirklichung sowie gleiche Bildungs- und Berufschancen für Frauen und Männer ein.« (Florian Gerster: Ansichten über Lebensqualität, S. 236) 239 Artikel »Lebensqualität« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 171. Die Basisdefinition lautet daselbst: »Lebensqualität bezeichnet die normativen und materiellen Bedingungen, die zur humanen Gestaltung des Lebens notwendig sind.« 240 Dieter Birnbacher: Der Streit um die Lebensqualität, S. 126. 241 Glatzer/Zapf: Lebensqualität in der Bundesrepublik, Vorwort S. 7. Vgl. auch Glatzer: Lebensqualität und subjektives Wohlbefinden, S. 50.

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der »objektiven Lebensbedingungen« sowohl materielle (»Lebensstandard«) wie soziokulturelle Güter in Rechnung zu stellen, konkret alle »beobachtbaren, ›tangiblen‹ Lebensverhältnisse: Einkommen, Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, Familienbeziehungen und soziale Kontakte, Gesundheit, soziale und politische Beteiligung«. »Subjektives Wohlbefinden« andererseits meinte die »vom Betroffenen selbst abgegebenen Einschätzungen über spezifische Lebensbedingungen und über das Leben im allgemeinen« in Form von »Zufriedenheitsangaben, aber auch generelle[n] kognitive[n] und emotive[n] Gehalte[n] wie Hoffnungen und Ängste, Glück und Einsamkeit, Erwartungen und Ansprüche, Kompetenzen und Unsicherheiten, wahrgenommene Konflikte und Prioritäten«. 242 Wenn als Indikatoren subjektiven Wohlbefindens »die Begriffe ›Zufriedenheit‹ und ›Glück‹ sowohl umgangssprachlich wie in sozialwissenschaftlichen Studien vorrangig verwendet« 243 werden, überlässt man jedem einzelnen seine persönliche Glücksvorstellung, wodurch der Verdacht genährt wird, dass man mit dieser Subsumption von »Glück« und »Zufriedenheit« unter die Komponente »subjektives Wohlbefinden« unfreiwillig wieder ins Lager der Glückssubjektivisten hinübergewechselt ist. Die Standard-Glücksfrage solcher breit angelegter Repräsentativuntersuchungen ohne Rücksicht auf die in der Psychologie da und dort entfachte Debatte über die Notwendigkeit einer »common response language« lautet dabei: »Alles zusammengenommen, wie – würden Sie sagen – läuft Ihr Leben in diesen Tagen? Würden Sie sagen, Sie sind sehr glücklich, etwas glücklich oder nicht so glücklich?« 244 Das Auseinanderdriften der neueren Wohlfahrtsforschung in einen objektivistischen und subjektivistischen Strang, 245 Zapf/Glatzers zweidimensionales Lebensqualitätskonstrukt mutwillig aufsprengend und scheinbar zu der uns in diesem Teilkapitel interessierenden Spaltung in einen eudaimonologischen Objektivismus und Zapf: Individuelle Wohlfahrt, S. 23. Glatzer: Lebenszufriedenheit und alternative Maße subjektiven Wohlbefindens, S. 177. 244 Mayring: Psychologie des Gücks, S. 32. 245 Zapf dokumentiert diese Divergenz in: Lebensbedingungen, S. 19 ff. »In der Entwicklung der neueren Wohlfahrtsforschung gibt es eine interessante Debatte zwischen ›Objektivisten‹ und ›Subjektivisten‹, die einmal mehr zeigt, dass von einem Defizit an theoretischen Beiträgen nicht die Rede sein kann. In dieser Debatte geht es darum, was die besten Kriterien, Beobachter und Referenzen für die individuelle Wohlfahrt sind.« 242 243

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Subjektivismus querstehend, kann in der Tat durch die einseitige Vereinnahmung des »Glücks« durch das »subjektive Wohlbefinden« Konfusionen zeitigen: Nachdem die »Lebensqualität« zur politischen Kampfparole arrivierte, weil ein hohes Maß an quantitativer Wohlfahrt, d. h. wirtschaftlichem Wohlstand und materiellem Lebensstandard, sich als Bürge für ein gutes und glückliches Leben disqualifiziert hatte, ging namentlich die amerikanische Forschung unter der Ägide Angus Campbells so weit, nicht nur Glück auf ein persönliches Wohlgefühl, sondern das Zweikomponentenmodell der Lebensqualität als solches weitgehend auf das Relat »subjektives Wohlbefinden« zu reduzieren. Unter der sozialpsychologischen Devise, »dass das, was Menschen als real ansehen, für sie auch real in seinen Konsequenzen sein wird«, 246 verheißt man eine definitive Auflösung des sogenannten »Zufriedenheitsparadoxes« gleich wie des »Unzufriedenheitsdilemmas« dank einer gänzlichen Eskamotierung der »objektiven Lebensbedingungen«: Gemeint ist das Zufriedenheitsparadox, dass Menschen in armen Ländern im Schnitt ebenso zufrieden sein können mit ihren Finanzen wie in reichen, bzw. das Unzufriedenheitsdilemma der unzufriedenen Privilegierten des reichen Westens. 247 Entgegen Dieter Birnbachers Supposition einer unvermeidlichen »disziplinären Spaltung« des Begriffs »Lebensqualität« 248 frönt man mithin seitens der Sozialwissenschaftlern und Politologen einem nicht minder radikalen Subjektivismus, als er in der Medizin Trend sei, 249 wo der Lebensqualitätsbegriff als Korrektiv herkömmlicher objektiver Bewertungsstandards betreffs des physisch-organologischen Funktionierens der »Maschine Mensch« derart ins Feld geführt wird, dass gefälligst jedem Patienten selbst vorbehalten bleibe, 246 Zapf: Individuelle Wohlfahrt, S. 20. Als sozialpsychologische Vorreiter werden hier W. J. Thomas und K. Lewin genannt, und zitiert wird A. Campbells Grundsatz, demzufolge »Wohlfahrt letzten Endes von den Betroffenen wahrgenommen werden muss.« 247 Vgl. zu den präziseren Datenerhebungen Mayring: Psychologie, S. 33, Glatzer: Lebensqualität, S. 60 oder Zapf: Individuelle Wohlfahrt, S. 20. Im Zusammenhang des Wohlfahrts-Objektivismus wird nochmals davon die Rede sein. 248 »Der sozialwissenschaftliche Begriff bezieht sich primär auf objektive Messgrößen und hat stark wertende Konnotationen; der in der Medizin gebräuchliche Begriff bezieht sich primär auf subjektive Messgrößen und wird eher deskriptiv verwendet; der eine bezieht sich primär auf kollektive, der andere primär auf individuelle Güter.« (Birnbacher: Der Streit, S. 132 f.) 249 Vgl. ebd., S. 132. Allerdings verhehlt Birnbacher nicht, dass gegenwärtig rund 60 verschiedene medizinische Testinstrumente zur Lebensqualität-Messung in Gebrauch sind (ebd., S. 130).

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ob und wann er sich krank fühle! »Es kann nicht auf seine objektive Gesundheit, Leistungsfähigkeit oder Selbständigkeit ankommen«, so heißt es dezidiert im Klartext, »sondern darauf, wie er seinen Zustand empfindet.« 250 Als Hauptargument für den Subjektivismus fungiert der allgemein herrschende Konsens betreffs des »intrinsischen Wertes« des subjektiven Wohlbefindens, »während strittig ist, wieweit für ein gutes Leben auch bestimmte objektive Fähigkeiten oder Leistungen unverzichtbar sind, etwa Gesundheit, physische Leistungsfähigkeit, Tätigsein […], Wissen […] oder Realitätskontakt.« 251 Wie richtig und begrüßenswert es beim Präzedenzfall der Gesundheit auch sein mag, der Medizin ihr objektivistisches Monopol der Definitionsmacht abzuerkennen und ihr quantitativ-technisches Denken im Sinne der Wiederherstellung von Organfunktionen oder einer Lebensverlängerung um jeden Preis an den Pranger zu stellen, wird doch keiner das illusionäre subjektive Glück eines Krebspatienten gutheißen, der sich im Morphiumrausch kerngesund wähnt oder sich über seine tatsächliche Lebenserwartung hinwegtäuscht. Statt aufgrund der Erkenntnis, dass objektive medizinische Indikatoren nur teilweise (neben anderen Faktoren) und indirekt zur Wiederherstellung des Patientenglücks beitragen, dieses ganz seinem individuellen Empfinden anheimzustellen, müsste er vielmehr als ganzheitliche Person, konfrontiert mit zahlreichen therapeutischen Sekundärfolgen etwa im sozialen und beruflichen Feld, in den Blick rücken. 252 Auch wenn es genauso irrtümlich ist, die Lebensqualität gleich den radikalen Objektivisten der neueren Wohlfahrtsforschung statt im inneren Empfinden des einzelnen ausschließlich im Vorhandensein objektiver Güter zu lokalisieren, bzw. analog dazu im Rahmen einer eudaimonologischen »Ressourcen-Theorie« das Glück über die einer Person zur Verfügung stehenden Ressourcen zu definieren, 253 muss doch das »subjektive Wohlbefinden« des einzelnen Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. 252 Birnbacher erwähnt zwar selbst die Bedeutung der von »objektivistisch« eingestellten Ärzten oft ungenügend berücksichtigten Sekundärfolgen oder Nebeneffekte einer Krankheit bzw. ihrer Therapie (vgl. ebd., S. 138), vermeint aber fälschlich, diese würden den Wert der Gesundheit als solcher in Frage stellen, wohingegen der singuläre Faktor »Gesundheit« lediglich in einen weiteren Problemhorizont gestellt wird. 253 Vgl. zur Ressourcen-Theorie des Glücks Mayring: Psychologie des Glücks, S. 79, zur hier konstruierten Analogie ebd., S. 92. Das scheinbare »Querstehen« des wohlfahrts250 251

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auf die jeweiligen »objektiven Lebensbedingungen«, das Glück des Patienten u. a. auf seinen tatsächlichen Gesundheitszustand bezogen bleiben. Damit bleiben dem Patienten die Möglichkeiten offen, aufgrund seiner spezifischen Lebenssituation, der jeweiligen Umstände, biographischen und charakterlichen Voraussetzungen ein anderes Verhältnis zur gleichen diagnostizierten Krankheit zu finden oder gegen die in seiner Gesellschaft herrschenden Wertvorstellungen zu opponieren, wenn etwa Gesundheit auf Leistungsfähigkeit reduziert wird. Genauso wie »Lebensqualität« gemäß Glatz/Zapfers Vorschlag nur als »Konstellation« von »objektiven Lebensbedingungen« und »subjektivem Wohlbefinden« Sinn macht, stellt auch »Glück« immer ein »relationales Konzept« dar, ein erst noch genauer zu bestimmendes Verhältnis von objektiven und subjektiven Relata. 254 Sowohl in modernen Wohlfahrts- wie glückstheoretischen Ansätzen stößt man daher allmählich zu transaktionalen Modellen vor, die eine reine Selbsteinschätzung für die Glücksdiagnose als defizitär entlarven 255 und das Glück in seiner »doppelten Natur« aufleuchten lassen: »Die doppelte Natur des Glücks ist von der folgenden Art: Es ist ein innerer Zustand, der aber der Hilfe von außen bedarf; wir haben es in uns, nicht aber durch uns. Die äußere Welt an sich verschafft uns das Glück nicht, auch ein günstiges Schicksal hilft nicht, wenn uns die entsprechende innere Haltung fehlt. Die innere Haltung aber muss auf die äußere Welt gerichtet sein.« 256

Wenn es also beim dringlichen Bestreben, dem grassierenden Glücks- bzw. Lebensqualitätssubjektivismus einen Riegel vorzuschieben, weder darum gehen kann, gleichsam vorkritisch-objektistaatlichen Schismas in Objektivismus und Subjektivismus zur gleichnamigen eudaimonologischen Kontroverse kann mithin kraft der Methode des Analogisierens in eine Parallelität überführt werden! 254 »Einerseits ist das Glücksempfinden – so subjektiv es auch sein mag – auch stark von objektiven Situationsbedingungen abhängig. Glück bezeichnet damit immer ein bestimmtes Verhältnis objektiver und subjektiver Faktoren, Glück ist ein relationales Konzept.« (Mayring: ebd., S. 9) Statt von einer »Abhängigkeit« unseres Glücksgefühls von objektiven Faktoren sollte vielleicht präziser von einem »Bezogensein« auf diese die Rede sein. 255 Mayring präsentiert die Modelle von M. P. Lawton (1984), bei welchem sich subjektives Wohlbefinden, objektive Umwelt, Lebensqualität und Verhaltenskompetenzen als vier Kreise überschneiden und ihren jeweiligen Beitrag zum Glück des Individuums leisten (vgl. ebd., S. 77), sowie dasjenige von E. M. Scott (1971), der das Glück zurückbindet an die Interkorrelation der Trias vom Selbst, den Anderen und der Umwelt (ebd., S. 93). 256 Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 143.

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vistisch noch auch populistisch-werbemäßig die Potenzierung bzw. Optimierung äußerer Güter zum alleinigen Glücksmaßstab zu verabsolutieren, gilt es, das Verhältnis der subjektiven und objektiven »sozialen Indikatoren« zu erhellen. Indes leidet dieses »klassische Erklärungsproblem« 257 einer jeden Lebensqualitätsforschung, welche den unfruchtbaren Antagonismus der Objektivisten und Subjektivisten (im soziologischen Sinne) zu überwinden trachtet, daran, »dass der Zusammenhang zwischen objektiven und subjektiven Variablen, z. B. zwischen Sozialstatus und Lebenszufriedenheit oder zwischen Einkommen und Einkommenszufriedenheit, geringer ist, als man unter der Annahme rationalen Handelns und Bewertens eigentlich erwarten könnte.« 258 Wo sich dennoch in einigen neueren Studien gewisse Korrespondenzen von Glücksempfindungen und objektiven Lebensbedingungen manifestieren, vorab im Bereich des »sozioökonomischen Status« einer Person (Einkommen, Beruf und Bildungsstand), dem Familienstand und der Gesundheit, 259 pflegen die Subjektivisten die Vernachlässigbarkeit solcher »Schein-Korrelationen« hervorzuheben, die Objektivisten jedoch deren Nichtlinearität irgendwelchen »Messfehlern« zur Last zu legen! Während die Nicht-Linearität zwischen individuellem Glücksgefühl und einzelnen objektiven Gütern wie Beruf, finanzieller Lage, Familie, Wohnverhältnissen oder Gesundheit nicht mehr überraschen dürfte, nachdem wir für ein transaktionales Glücksmodell plädierten, das aufgrund vielschichtig-vernetzter Umweltfaktoren ohne Zweifel multifaktoriell angelegt sein müsste, verlangt die Diskrepanz zwischen singulären äußerlichen oder körperlichen Gütern und der entsprechenden »Bereichszufriedenheit« 260 nach einer Explikation. 261 Zuallererst hat ein Glücksobjektivist in dem von uns definierten Zapf: Individuelle Wohlfahrt, S. 24. Ebd., S. 24 f. 259 Vgl. die Kompilation entsprechender Forschungsergebnisse in Elisabeth NoelleNeumann: Politik und Glück, S. 209 ff., Mayring: Psychologie des Glücks, S. 95 f. oder Csikszentmihalyi: Flow, S. 68 f. Allerdings muss man bei solchen Datenerhebungen akkurat darauf achten, dass die betreffenden Faktoren (etwa Gesundheit) tatsächlich nach objektiven (ärztliche Untersuchung), nicht nach subjektiven (Gesundheitsselbsteinschätzung) Indikatoren gemessen werden. 260 Vgl. Mayring: »Von Anbeginn hat man Wohlbefinden auch als bereichsspezifisches Konstrukt aufgefasst. Menschen, denen es finanziell gut geht, müssen noch lange nicht mit ihren Familienbeziehungen oder ihrer Gesundheit zufrieden sein. Die Bereichsspezifität bezieht sich vor allem auf die Erfassung von Zufriedenheit.« (ebd., S. 34) 261 Auch unter Soziologen provoziert diese leidige Diskrepanz immer wieder von neu257 258

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(philosophischen) Sinne (1), seinem Objektivismus eine einfache lineare Korrespondenzbeziehung von Glück und beobachtbaren äußeren Glücksgütern zugrundelegend, zwar nicht nach subjektivistischem Vorbild seinen Glauben an den Einfluss objektiver Lebensbedingungen auf das Glück qua persönliches »Wohlergehen« schlechthin preiszugeben, sondern lediglich denjenigen an eine monokausale und unvermittelte Wirkung einzelner Faktoren. Ein solch direkter Wirkzusammenhang existiert wohl allein im Bereich der primären physiologischen sowie der Sicherheitsbedürfnisse, wo der Mangel an unentbehrlichen materiellen bzw. sozialen Gütern unser Glück leichterhand untergräbt, indem das Bewusstsein bereits durch die Privation singulärer Güterklassen, seien es Nahrungsmittel oder minimale gesellschaftliche Organisationsformen, vollständig beherrscht werden kann. Im Falle des Nahrungsmangels beispielsweise lässt sich laut Maslow bezüglich des Unglücklichen nämlich ohne Übertreibung feststellen, »er sei hungrig, denn das Bewusstsein wird fast vollständig von Hunger erfüllt sein. Alle Fähigkeiten werden in den Dienst der Hunger-Befriedigung gestellt, und die Organisation der Fähigkeiten wird fast vollständig von dem einen Zweck, den Hunger zu stillen, determiniert.« 262 Ist aber die Armutsschwelle einmal überschritten, so dass das regelmäßige Einkommen für die lebensnotwendigen objektiven Güter ausreicht, scheint »Wohlstand mit Wohlbefinden kaum mehr etwas zu tun zu haben.« 263 Erneut tritt damit zutage, dass die Glücksgüterobjektivisten immer nur zu einem negativen Begriff von Glück den Weg zu ebnen vermögen, weil sehr niedriges Einkommen zwar Unglück, sehr hohes Einkommen aber bei weitem nicht schon Glück garantiert – entsprechend dem alten Sprichwort: »Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt«! 264 Auch Seel führt bei seiner ex-negativo-Approximation an das Glücksphänomen in ihrer Selektivität allerdings ziemlich willkürlich erscheinende »notwendige Bedingungen an […], unter denen Glück und gutes Leben nicht unmöglich, jedoch nicht zwangsläufig

em schier unerschöpfliche Erklärungshypothesen. Vgl. Zapfs bunte Sammlung in: Individuelle Wohlfahrt, S. 25. 262 Maslow: Motivation, S. 76. 263 So lautet Kleins Kommentar zu entsprechenden statistischen Erhebungen in: Die Glücksformel, S. 234. 264 Noelle-Neumann: Politik und Glück, S. 211. Auch Glatzer nimmt zu dieser alten Weisheit Zuflucht, in: Einkommensverteilung und Einkommenszufriedenheit, S. 55.

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schon wirklich sind« 265 ; nämlich Sicherheit und Gesundheit. 266 Es soll im Folgenden eruiert werden, welche medialen Elemente für die Beeinträchtigung der linearen Korrespondenz zwischen subjektiven und objektiven Relata jenseits der Sicherheitsebene der in unserem Kulturkreis zumeist ausreichend vorhandenen Grundgüter 267 verantwortlich sind. Ziel wäre es, im Rahmen dieses Plädoyers für eine stärkere Berücksichtigung der multifaktoriellen Wechselwirkung zwischen den Glücksuchenden und den objektiven äußeren Gütern in der Glücksforschung zugleich den Grundriss zu legen zu einem transaktionalen Glücksmodell, das die unfruchtbare Opposition von Glückssubjektivisten und -objektivisten zu überwinden vermöchte. Sind die Ressourcen an materiellen, körperlichen und sozialen Gütern für die Stillung der elementaren physiologischen und Sicherheitsbedürfnisse vorhanden, sorgt in erster Linie die kognitive Interpretation und vergleichende Bewertung unserer »objektiven Lebensbedingungen« für Divergenzen im »subjektiven Wohlbefinden« (a), welche unter objektivistischen Sozialwissenschaftlern als »Zufriedenheitsparadox« oder »Unzufriedenheitsdilemma« despektiert werden: Bei der Einschätzung und Bewertung seiner faktischen Lage sucht der Mensch unwillkürlich nach Maßstäben, mit denen er die eigene Situation vergleicht, und trifft dabei zunächst und zumeist auf den zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft vorherrschenden Durchschnitt als Bezugsgröße (aa). So gilt etwa betreffs der finanziellen Verhältnisse lapidar: »Wer für seine Zeit und sein Land überdurchschnittlich gut verdient, ist zufrieden, ganz egal wie hoch das Einkommen objektiv ist.« 268 In neueren Studien wird der Effekt der Abnahme unserer Zufriedenheit mit bestimmten objektiven Lebensbedingungen aufgrund einer relativen Benachteiligung, daraus resultierend, dass wir uns oft mit der sozio-ökonomischen BezugsSeel: Versuch, S. 83. Ebd., S. 83 ff. Als dritte Bedingung nennt Seel die »Freiheit«, welche sich wohl auf einer anderen Ebene befindet (vgl. unten). 267 Hinsichtlich der Sicherheitsbedürfnisse registriert Maslow, was zweifellos auch für sämtliche physiologischen Bedürfnisse gilt: »Der gesunde und von Glück begünstigte Erwachsene ist in unserer Kultur in seinen Sicherheitsbedürfnissen im großen und ganzen befriedigt. Die friedvolle, glatt funktionierende, stabile, gute Gesellschaft lässt ihre Mitglieder gewöhnlich sich sicher genug fühlen vor wilden Tieren, extremen Temperaturen, kriminellen Attacken, Mord, Chaos, Tyrannei und dergleichen.« (Maslow: Motivation, S. 82) 268 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 31. Vgl. zu den konkreten Nachweisen des sozialen Vergleichs Glatzer: Lebensqualität, S. 60 f. 265 266

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gruppe vergleichen, die unmittelbar über der jeweils eigenen Gruppe liegt, als »economic stress« deklariert. 269 Es ließe sich angesichts dessen mit Gertrud Höhler postulieren, Glück sei geradezu »eine Frage des Bezugssystems, in dem wir uns und unsere Lebensumstände sehen. Das Bezugssystem innerhalb der reichen Länder ist überwiegend an Sachwerten orientiert; folglich sind es die Glücksvorstellungen der Menschen auch.« 270 Neben solchen für das Einzelindividuum verbindlichen – seien es bewusst applizierte, seien es unbewusst wirksame – kollektiven Vergleichsmaßstäben und Bezugssystemen bilden sich auch die Glückseinschätzungen ganzer sozialer Gruppen prägende, allgemeine kulturelle Werthaltungen heraus, sogenannte gesellschaftliche »Glücksideologien« – etwa das »keep smiling«! –, 271 oder spezifischere im Sozialisationsprozess internalisierte, mit einzelnen Güterklassen gekoppelte Wertbindungen »emotionaler Schemata« wie der soeben genannte Primat materieller Werte (ab). Vermittels dieses Erklärungsansatzes des sozialen Vergleichs und der gesellschaftlichen Normen und Definitionen von »subjektivem Wohlergehen« vermag man die genannten Paradoxa bzw. Dilemmata zu entschärfen, dass trotz unterschiedlichstem materiellem Wohlstand, trotz heterogenster objektiver Lebensbedingungen in verschiedenen Volksgruppen die durchschnittlichen Zufriedenheitswerte doch ganz ähnlich ausfallen können. Erlauben diese unser Glück oft unwillkürlich beeinflussenden persönlichen Bezugssysteme und kognitiven gesellschaftlichen Mediatoren aber den Schluss, wir hätten uns von jeglichen güterbezogenen Vergleichsmaßstäben zu befreien, weil Glück »die Erlösung vom Vergleich, die Freiheit von Neid und Rivalität, die Befreiung aus der Relation von Mehr und Weniger« 272 darstelle? Können wir uns als Einzelindividuen überhaupt Vgl. dazu Höhler: Das Glück, S. 203 f. Ebd., S. 204. 271 Mayring kommentiert die umfassendste Datenerhebung der empirischen Glücksforschung zu 32 verschiedenen Ländern (Ruut Veenhoven 1984) so: »Wohl am überraschendsten ist, dass sich überall in der Welt (Ausnahme Indien) die Mehrzahl der Menschen als glücklich bezeichnet. In den meisten Untersuchungen sind es sogar über 90 %. Es scheint aber doch große Unterschiede zwischen den Ländern zu geben (im Gegensatz zur finanziellen Zufriedenheit, vgl. oben). Die Bewohner angelsächsischer und skandinavischer Staaten scheinen weitaus glücklicher zu sein als der Rest der Welt. Dies könnte auch Ausdruck einer bestimmen Glücksideologie sein (›Keep smiling‹).« (ebd., S. 36 f.) 272 »Solange wir den Sinn unseres Lebens nicht jenseits der Vergleichszwänge unterbringen können, wird es uns auch nicht gelingen, das Glück von diesen Rivalitäten frei269 270

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von allen kulturellen Werthaltungen lossagen, oder erhalten sämtliche objektiven Güter ihre Bedeutung und Werthaftigkeit allein durch soziokulturelle Interpretationsmuster? Pflastert der soziale Wettlauf, das ständige Vergleichen mit den messbaren Gütern unserer Mitmenschen als solcher bereits den Weg ins Unglück? Was den Verfechtern einer radikalsubjektivistischen Sozialindikatorenforschung als eminenter Vorteil einer auf das Wohlbefindens- oder Empfindungs-Glück reduzierten Lebensqualität erscheint, nämlich deren angeblich »weitgehende Unabhängigkeit von sozialen und kulturellen Wertvorstellungen« 273 , ist den objektivistischen Gegnern nicht nur Stein des Anstoßes, sondern wird infolge dieser Entdeckung der weitreichenden Relevanz sozialer Vergleichsgrößen und gesellschaftlicher Glücksideologien auch zu Recht in Zweifel gezogen. Wenn elegante französische Ethnologinnen in der Podiumsdiskussion über die Einführung der Pockenschutzimpfung in Drittweltländern, mit schmucken Foucault- und Derridazitaten um sich werfend, die »schlechthinnige Differenz« und die »radikale Andersheit« heraufbeschwören, appellieren daher objektivistische Essentialisten an das Gewissen der Menschheit, »dass es sicherlich besser sei, gesund statt krank zu sein, zu leben statt zu sterben.« 274 Gundsätzlich teile ich Martha Nussbaums doppelte Opposition sowohl gegen einen kruden Objektivismus, der in Entwicklungsländern die Lebensqualität immer noch anhand des Bruttosozialproduktes unter Missachtung der Ressourcenverteilung und sämtlicher nicht-materieller menschlicher Güter ermittelt, 275 wie auch gegen einen Subjektivismus, welcher sich getrost auf die oft überraschend positiv ausfallenden Zufriedenheitsäußerungen benachteiligter Volksgruppen verlässt, ohne den Druck sozialer Normen oder die Macht der Gewöhnung in Rechnung zu stellen. Denn letzteres subjektivistische zumachen. Glück ist aber die Erlösung vom Vergleich, die Freiheit von Neid und Rivalität, die Befreiung aus den Relationen von Mehr und Weniger; denn Glück ist reine ›Lebensqualität‹, die sich auf jeder Stufe der Quantitäten einstellen kann.« (Höhler: Das Glück, S. 205) 273 Vgl. Birnbacher: »Der dritte Grund für einen subjektivistischen Begriff hängt damit eng zusammen: seine weitgehende Unabhängigkeit von sozialen und kulturellen Wertvorstellungen. Je mehr objektive Komponenten in die Bestimmung des Begriffs aufgenommen werden, desto stärker gefährdet ist angesichts der Pluralität der Wertvorstellungen die Einheitlichkeit und überkulturelle Anwendbarkeit des Begriffs.« (Birnbacher: Der Streit, S. 135) 274 Martha C. Nussbaum: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, S. 199. 275 Vgl. ebd., S. 222. A

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Lebensqualität-Messverfahren führt in Nussbaums Augen »in einer Weltsituation, in der die auf das Leben der Armen, der Frauen und der Minderheiten einwirkenden sozialen Kräfte sich kaum wohltätig auswirken«, notwendig in die Irre: »Die Armen und Benachteiligten passen ihre Erwartungen und Hoffnungen dem niederen Lebensstandard an, den sie kennen. Konkrete Umstände weisen die Phantasie in ihre Schranken.« 276 Zweifellos muss infolgedessen die Ignoranz des historischen und gesellschaftlichen Kontextes in der Glücks- oder Lebensqualitätsforschung verheerende »ideologische Verzerrungen« zeitigen, wie Mayring nachweist: »An verschiedenden Stellen wurde bereits klar, dass die Vernachlässigung historischer und gesellschaftlicher Faktoren in der Glücksforschung zu ideologischen Verzerrungen führt. Wenn die Gerontologie Glück und Zufriedenheit rein individuell definiert und als Kriterien für erfolgreiches Altern einsetzt, so kann dies der Entlastung der Gesellschaft in ihrer Verantwortung für schlechte Lebensbedingungen im Alter dienen. Aber auch die christliche Theologie hängt mit ihrem Glücksbegriff an einer ahistorisch fixierten Bibelauslegung und gerät so in Ideologieverdacht. Keine der bisherigen Theorien des Glücks hat gesellschaftliche und historische Faktoren systematisch miteinbezogen.« 277

Bezüglich solcher gesellschaftlicher und historischer Faktoren menschlichen Glücks ist meines Erachtens aber nicht nur eine Liste von objektiven Gütern wie diejenige Nussbaums erforderlich, welche allen Menschen in gleicher Weise zum Zwecke eines guten und glücklichen Lebens zugänglich sein müssten (vgl. Kapitel 5.2), sondern primär eine demokratische Willensbildung zur gemeinsamen Bestimmung der Grundwerte menschlicher Lebenswelt bezüglich des Lebensstandards, der Gesundheit, der sozialen Sicherheit (ac). Denn offenkundig sind alle lebensweltlich bedeutsamen, selbst die elementarsten objektiven Güter, wenn auch in unterschiedlichem Maße, historisch und kulturell sowohl in ihrer Konkretisierung wie der gegenseitigen Gewichtung variant, 278 wie es sich etwa am BeiEbd., S. 206 und S. 223. Mayring: Psychologie, S. 63 f. Vgl. zu den divergierenden Ausgestaltungen von gesellschaftspolitischen Lebensqualität-Programmen Gerster: Ansichten über Lebensqualität, S. 240–246. 278 Vgl. dazu etwa Seels Erläuterungen zu den von ihm eruierten drei notwendigen Glücksbedingungen (siehe oben): »Was in unterschiedlichen Zeiten und für unterschiedliche Kulturen als Beeinträchtigung oder Gewährleistung von Sicherheit, Gesundheit und Freiheit gilt, unterscheidet sich sehr stark.« (Seel: Versuch, S. 85) 276 277

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spiel der zu den Grundgütern zählenden »Gesundheit« aufweisen lässt. Zeigt doch bereits der Vergleich verschiedener Zeitepochen, »dass der Begriff ›Gesundheit‹ ganz unterschiedliche Aspekte aufweist. Entsprechend den jeweiligen sozialgeschichtlichen Gegebenheiten wurde Gesundheit im Mittelalter als Leidensfähigkeit, in der Renaissance und im Barock als Genussfähigkeit und im Industriezeitalter als Leistungsfähigkeit definiert.« 279 Angesichts der Unausweichlichkeit einer genaueren Bestimmung solcher Grundgüter in einer historisch-kulturellen Sprech- und Handlungsgemeinschaft entpuppen sich Glück und Lebensqualität als normative, von sozialpolitischen Zielen und Entscheidungen abhängige Probleme: »Die Schwierigkeit, quantifizierbare Kriterien für diese Grunddaten zu gewinnen, lenkte auf das normative Problem der Lebensqualität: ihre Abhängigkeit von sozialpolitischen Zielen und Entscheidungen. Die Befriedigung von Grundbedürfnissen, die Freiheit von Not und Angst und die Förderung individueller Verantwortung und Selbstbestimmung stehen als sozialpolitische Ziele im Mittelpunkt bei der Bestimmung der Leitlinien des Lebensstandards und der sozialen Sicherung. Die Methode der Bestimmung von Lebensqualität durch demokratische Willensbildung soll selbst Bestandteil der Lebensqualität sein.« 280

Statt zur Beurteilung unserer ökonomischen oder gesellschaftlichen Lebenssituation auf diejenige Bezugsgruppe zu schielen, die oberhalb des eigenen Standards liegt, um damit zwangsläufig eine Bereichsunzufriedenheit zu provozieren, sollten wir uns also grundsätzlich an demokratisch festgesetzten Normen zur Lebensqualität orientieren. Da der Mensch auf Anerkennung durch seine Mitmenschen angewiesen ist (vgl. Kapitel 6.1), scheint indes jeder Versuch, jenseits von Neid, Rivalität und Vergleichszwängen eines individuellen Glücks zu frönen, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Nicht die Neigung zum sozialen Wettlauf als solchem ist aber als »kulturhistorisches Unglück« zu lesen und sollten wir uns um unseres Glücks willen abgewöhnen, klärt Höhler auf, sondern allein »die völlige Beliebigkeit der Vergleichsobjekte, die zum Programm der egalitären Demokratien gehört«: 281 Je weiter die an sich begrüßenswerte Chan279 Zeier: Arbeit, Glück und Langeweile, S. 83. Vgl. auch, ähnlich vielfältig, Tatarkiewiczs Palette verschiedener Gesundheitsaspekte in: Über das Glück, S. 138. 280 Artikel »Lebensqualität« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 171. 281 Höhler: Das Glück, S. 213.

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cengleichheit aller für den Besitz bzw. die Konsumation sämtlicher objektiven Güter fortschreitet, und je mehr die eigene Leistung anstelle von Herkunft und Schicksal für unsere Lebensqualität verantwortlich ist, desto mehr wird der einzelne implizit oder explizit dazu aufgefordert, sich mit jedem und in jeder Hinsicht zu vergleichen. Dabei muss aber jeder zwangsläufig entmutigt werden und ins Unglück stürzen, weil jeder in irgendeinem Güterbereich auf Vergleichsobjekte stoßen wird, die für ihn unerreichbar bleiben. Höhler ermahnt daher zu Recht alle Glückskandidaten, sich erstens nur mit Vergleichbaren unter ähnlichen Lebensbedingungen und mit ähnlichen Prioritätensetzungen hinsichtlich der verschiedenen äußeren Lebensbereiche wie Wohnung, Beruf oder Familie zu messen und zweitens auf eine qualitative Vergleichsbasis zu achten, so dass sich der Tischler nur mit dem Tischler, der Publizist nur mit dem Publizist zu konfrontieren hätte. Enttäuschungen sind nämlich vorprogrammiert in einer Gesellschaft, »die dem erworbenen Geld das größte Gewicht beimisst, die alle Lebensmöglichkeiten und damit auch das Glück ans Geld bindet«, 282 wodurch die für unser Glück als gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis wesentlichen persönlichen Qualitäten und Fähigkeiten nur noch an einem quantitativen Maßstab wie dem beruflichen Einkommen gemessen und damit gleichsam neutralisiert werden. Wollen wir nicht zur notorischen vergleichenden Unzufriedenheit verurteilt sein, müssen wir uns von den in unseren technisch-ökonomischen Denkmustern grassierenden Irrtümern befreien, das Mehr-Sein sei mit dem Mehr-Erwerb untrennbar verknüpft und als einziger Bezugspunkt des sozialen Bezugssystems unserer wohlhabenden westlichen Gesellschaft kämen nur erwerb- und konsumierbare Sachgüter in Frage. Es gilt, die Schemata der sozialen Anerkennung und unsere Bezugssysteme von den rein materiellen Gesichtspunkten des Erwerbs abzukoppeln, 283 weil gemäß groß angelegter Umfragen Menschen, die sich auf Geld und zahlbare Güter konzentrieren, aufgrund eines sie wie ein »Folterinstrument« umhertreibenden Ehrgeizes generell unzufriedener sind als »andere, die eher nach guten Beziehungen zu ihren Mitmenschen streben, ihre Talente entwickeln oder sich für die Gesellschaft einsetzen wollen.« 284 282 283 284

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Ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 214 f. Vgl. Klein: Die Glücksformel, S. 234 f., wobei sich Klein auf eine in verschiedenen

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Beim Besitz oder der Verfügbarkeit äußerer materieller, körperlicher und sozialer Güter kommt es, wie bereits in unseren Vorabklärungen zum Glücksgüterobjektivismus zutage trat, zweifelsohne nicht nur auf ihre zumeist gesellschaftlich bedingte kognitive und emotionale Bewertung (a), sondern zentral auf den Umgang mit denselben an; auf die Handlungsmöglichkeiten und die daraus resultierende Befriedigung, zu welchen die objektiven Güter die Voraussetzungen schaffen (b). Gegen John Rawls’ Minimalkonzeption eines »guten Lebens« anhand einer Liste von Grundgütern wendet Amartya Sen, ein Theoretiker der Wohlfahrtsökonomie, daher berechtigterweise ein, die »Lebensqualität« und selbst der »Lebensstandard« definiere sich weniger über objektive Güter als vielmehr dadurch, wozu diese die Menschen befähigen, wie weit es den Menschen gelingt, aus ihnen Nutzen oder Glück zu ziehen: »Was letztlich im Vordergrund stehen muss, ist das Leben, das wir führen; das, was wir tun oder nicht tun können, das, was wir sein oder nicht sein können. […] Das Entscheidende ist, dass der Lebensstandard tatsächlich eine Frage der tatsächlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten ist und sich nicht direkt an Wohlstand, Gütern oder Nutzen festmachen lässt.« 285

Während Sen gleich Nussbaum davon ausgeht, dass es universelle objektive Güter wie Nahrung, Gesundheit oder gesellschaftliche Achtung gibt (vgl. Kapitel 5.2), fungieren diese Güter bei Sen nur im Bereich der Fähigkeiten als »absolute« Begriffe – d. h. etwa als Fähigkeit, gut genährt und gesund zu sein oder sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen –, wohingegen sie im Bereich von Waren oder Merkmalen meist eine »relative« Form annehmen, da beispielsweise gute Ernährung und Gesundheit in einer reicheren Gesellschaft viel mehr materielle Güter erfordern. 286 Sens Auszeichnung Ländern durgeführte Umfrage der Sozialpsychologen Richard Ryan, Tim Kasser und Peter Schmuck abstützt. 285 Amartya Sen: Der Lebensstandard, S. 37. 286 »Um ein Leben ohne Scham zu führen, um fähig zu sein, Freunde zu besuchen und zu bewirten, um an dem teilhaben zu können, was in verschiedenen Bereichen geboten wird und worüber die anderen reden, bedarf es in einer Gesellschaft, die generell reicher ist und in der die meisten Menschen etwa über Autos, eine große Auswahl an Kleidung, Radios, Fernsehgeräte usw. verfügen, kostspieligerer Güter und Dienstleistungen. Somit erfordern einige (für einen ›Mindest‹-Lebensstandard relevante) Fähigkeiten in einer reicheren Gesellschaft mehr Realeinkommen und Wohlstand in Form von Güterbesitz als in ärmeren. Die gleichen absoluten Fähigkeiten können also relativ mehr Einkommen (und Güter) erfordern. Es ist folglich überhaupt nicht unverständlich, im Bereich A

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der inneren Fähigkeiten mit dem Prädikat »absolut« gegenüber den »relativen« äußeren Gütern scheint mir allerdings insofern irreführend, als die für universelle objektive Güter charakteristischen spezifischen Fähigkeiten strenggenommen auch nur als kulturrelative konkretisierte vorkommen, wie obiges Exempel der für alle Menschen wünschenswerten »Gesundheit« zeigt, die einmal als Genussfähigkeit, einmal als Leistungsfähigkeit interpretiert werden kann. 287 Obgleich die Ausbildung und Förderung beliebiger und möglichst vieler Fähigkeiten im Umgang mit Gütern sicherlich nicht politisches Ziel sein kann, lässt Sen zudem den für ein gutes und glückliches Leben notwendigen Raum »absoluter« Fähigkeiten inhaltlich weitgehend offen. 288 Um die Richtungslosigkeit seines Projekts aufzufangen, wäre daher eine von Nussbaum in Ansätzen entwickelte normative »Theorie des guten Lebens« unabdingbar, die aus ethischen Gründen bestimmte Fähigkeiten im Umgang mit äußeren Gütern besonders auszeichnet und protegiert und den Menschen dadurch den Weg zum Glück ebnet. Schließlich trägt Sen, in edler Absicht für die Sprengung des traditionellen »Lebensstandard«-Konzepts als Maßstab für rein materielle Güter plädierend, zweifellos zur oben monierten Uneinheitlichkeit der sozioökonomischen Begriffsverwendung bei. 289 Neben der kollektiven, wiederum am besten auf demokratische Weise zu erlangenden Auszeichnung bestimmter menschlicher Fähigkeiten und dem entsprechenden Umgang mit objektiven Gütern hat der einzelne die kontinuierliche Selektion und Realisation solcher Fähigkeiten kraft einer individuellen Lebenskonzeption vorzunehmen (ba). Glück, Lebensqualität und -standard müssen »direkt mit dem Leben zusammenhängen, das jemand führt, und nicht mit den Ressourcen, die jemand hat, um ein bestimmtes Leben zu führen«, 290 der Einkommen eine ›relativistische‹ Auffassung zu vertreten, auch wenn Armut im Sinne der gleichen absouten Grundfähigkeiten definiert wird.« (ebd., S. 39 f.) 287 Analog zum Bedürfniskonzept schiene es mir hilfreicher, Fähigkeiten entweder als »Grundfähigkeiten«, d. h. (absolute) umfassende Kategorien, oder als konkrete (relative) spezifische »Fähigkeiten« zu begreifen. 288 Williams warnt in einer Replik auf Sen vor der Trivialisierung bei der Ausweitung dieses Möglichkeitsraums, da es offenkundig ein Irrtum ist, »Fähigkeiten schlicht von der Verfügung über Waren abzuleiten«, wodurch »jede Vergrößerung des Warenangebots mit logischer Notwendigkeit neue Fähigkeiten schaffen« müsste (Bernard Williams: Der Lebensstandard: Interessen und Fähigkeiten, S. 104). 289 Vgl. S. 252. 290 Sen: Der Lebensstandard, S. 36

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akzentuiert auch Sen. Denn Glück ist mehr als eine positive Bilanz einzelner Bereichszufriedenheiten, weil es sich qua Stimmung auf das gute und gelungene Leben insgesamt bezieht (vgl. Kapitel 3.2). So garantiert eine hohe, diskursethisch gewonnenen normativen Grunddaten genügende »Lebensqualität« im besten Fall »Bereichszufriedenheiten« bezüglich Wohnung, Arbeit oder Familie, aber bei weitem noch kein Glück, solange dem Leben konkrete Aufgaben und Ziele fehlen. »Einmal den Fall angenommen, jemand sei ›kerngesund‹, lebe wie im Schlaraffenland und noch dazu im Venusberg, so wäre sein Leben immer noch ›sinnlos‹, nicht lebenswert. Zu einem gelingenden Leben bedarf es vielmehr unabdingbar einer Aufgabe, deren Erfüllung den Betroffenen über den engen Horizont seiner selbstbefangenen Selbstbesorgung hinausführt, z. B. einer Aufgabe fürsorgenden Handelns oder einer Aufgabe mitverantwortenden Handelns im Rahmen einer Institution.« 291

Menschliches Glück setzt mithin das Ergreifen von fürsorgenden, mitverantwortenden oder liebenden Aufgaben in der objektiven Außenwelt voraus, so zwar, dass diese in einem übergreifenden Lebenskonzept verankert sind und die entsprechenden Bereichszufriedenheiten oder faktoriellen Lebensqualitäten Puzzles eines kohärenten Glücksbildes darstellen (vgl. Kapitel 5.1). Im Banne neu aufkeimender psychologischer »Relativitätstheorien« wähnt man infolgedessen, sämtliche äußeren Güter würden weniger durch soziokulturelle Standards, als vielmehr durch unsere persönlichen, an unser individuelles Lebenskonzept gebundenen Ziele und Ansprüche relativiert, vor dessen Hintergrund sie in einem je anderen Lichte erscheinen. Wie die »Adaption level theory« der psychologischen Relativitätstheorien des Glücks belegt, scheint der Mensch sogar über eine gewisse »Immunisierung« gegenüber plötzlichen, sowohl positiven als auch negativen Schicksalswendungen wie Lottogewinn oder unfallbedingte Querschnittlähmung zu sein, indem er lernt, sein Leben unter den gänzlich veränderten objektiven Lebensbedingungen (anders) zu betrachten und zu konzipieren. 292 Werden dadurch aber nicht die 291 Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 171. Zum selben Resultat kommt auch Birnbacher in: Der Streit, S. 143. 292 Es scheint mir mit diesen Studien allerdings weniger der Nachweis gelungen, dass für Glück anstelle eines äußeren sozialen Vergleichs interne subjektive Maßstäbe, Ziele und Ansprüche ausschlaggebend seien, da sich ja mit dem Lottogewinn oder der Querschnittlähmung auch die Bezugsgruppe ändert und man sich jetzt also etwa mit den

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objektiven Güter in der Um- und Mitwelt zu bloßen Mitteln der Realisierung eines subjektiven Lebenskonzeptes und eines entsprechenden Lebensglücks degradiert? Sucht man einmal mehr bei den Alten Rat, unterstreicht Aristoteles zunächst unsere obige Einsicht, dass elementare, uns vor dem Sturz in großes Unglück bewahrende Güter in angemessener Weise unabdingbar sind, 293 wobei »das eine mit Notwendigkeit dabei sein [müsse], das andere ist in Form von Werkzeugen behilflich und nützlich. […] Es ist nämlich unmöglich oder doch nicht leicht, das Edle zu tun, wenn man keine Mittel zur Verfügung hat. Denn vieles richtet man aus durch Freunde, Reichtum und politische Macht, die sozusagen als Werkzeuge dienen.« 294 Prinzipiell soll man bei der Glückssuche indes das ganze Gewicht auf die Wahl der richtigen Lebensform legen, in deren Dienst sämtliche nicht-lebensnotwendigen Güter stehen. Analog zum Musizieren kommt es Aristoteles zufolge zwar auch auf die äußeren Güter an, d. h. auf die Qualität des gespielten Instrumentes, während doch der Grund des hinreißenden Spiels wie des Glücks mitnichten beim Musik-Instrument, dem Werkzeug liege, sondern vielmehr in der musikalischen Kunstfertigkeit, in der Lebenskunst, der Tugend. Irrtümlicherweise vertreten also »die Leute auch die Ansicht, die Ursachen der Glückseligkeit lägen in den äußeren Gütern, als gäbe man für ein helltönendes und schönes Kitharaspiel eher das Instrument als Grund an als die Kunstfertigkeit« 295 ! Den psychologischen Relativitätstheorien wäre dabei entgegenzuhalten, dass durch den persönlichen Entscheid für das Erlernen des Musikerhandwerks aufgrund spezifischer Begabungen keineswegs ein Millionären oder den Behinderten zu messen hat. »In einer eindrucksvollen Studie belegen Ph. Brickman u. a. (1978) die Relativität von Glück. Sie verglichen Unfallopfer (Querschnittlähmung) mit Lotteriegewinnern (Hauptgewinn) in ihren Glückseinschätzungen im Längsschnitt und fanden bereits nach einem halben Jahr ein Einpendeln der Glücksgefühle, auch Zukunft und Vergangenheit gegenüber. Die ›Adaption level theory‹ wird als Erklärung dafür herangezogen, dass sich Glückseinschätzungen am individuellen Maßstab bemessen, der durch hervorspringende globale Erfahrungen nur leicht verändert wird, dadurch aber diese Erfahrung relativiert.« (Mayring: Psychologie, S. 54 f.) 293 Im Übermaß vorhanden taxiert Aristoteles dieselben lebensnotwendigen Güter als Übel. »Denn die günstigen Umstände selbst, wenn sie im Übermaß vorhanden sind, hindern, und dann ist es vielleicht gar nicht mehr richtig, sie günstige Umstände zu nennen, denn ihre Bestimmung hängt von der Glückseligkeit ab.« (Aristoteles: Eth. nic., 1153b, 18–24) 294 Ebd., 1099b, 26 ff. 295 Ders.: Polit., 1332a, 25 f.

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rein interner Glücksmaßstab statuiert wird, sondern dass dadurch gerade der soziale Vergleich mit anderen Musikern und ihren Instrumenten unumgänglich geworden ist. Selbst wenn er immer nur auf »Übel« trifft, wird der mit allem Lebensnotwendigen versorgte, sich für die bestmögliche menschliche Lebensform entscheidende Mensch nach Aristoteles »e'dafflmwn« (glücklich), wenngleich nicht »makari@« (überglücklich, vollkommen glücklich im Sinne göttlicher Glückseligkeit), 296 genauso wie sich auch das hochkarätige Spiel eines großartigen Tonkünstlers niemals vollenden kann, solange er auf einem mittelmäßigen Instrument zu musizieren hat. Er mahnt uns nichtsdestotrotz, es sei besser, ja sogar unumgänglich, durch Tugend glücklich zu werden statt durch entgegenkommende Umstände: »Wenn es nun besser ist, auf diese Weise glücklich zu sein als durch den Zufall, so ist auch anzunehmen, dass es sich tatsächlich so verhält, da doch das Naturgemäße so geworden ist, wie es am besten ist«! 297 Wenn es auf den ersten Blick scheint, sowohl das aristotelische Tugendglück als auch die Relativitätstheorie des Glücks depravierten alle äußeren und körperlichen Güter zu bloßen Mitteln zum Zweck des höchsten menschlichen Guts (des Glücks), was einem dem Objektiven gerade zu seinem Recht verhelfen wollenden Transaktionismus gänzlich ins Gesicht schlüge, gilt doch andererseits: Wie schon mehrfach von uns hervorgekehrt und auch von einer »inklusiven« Interpretation der aristotelischen Glückslehre bedacht, 298 lässt sich erstens dieses umgreifende Ziel keineswegs direkt anpeilen, sondern nur indirekt realisieren kraft der aktiven Hingabe an zahlreiche im Rahmen unseres »guten Lebens« wesentliche Einzelgüter, so dass diese statt als Mittel vielmehr als Teile eines Ganzen begriffen werden müssten. Aristoteles betont gerade, »dass die eudaimonia nicht im Sinn eines Produkts oder Resultats als das Ziel menschlichen Lebens zu verstehen sei. Zwischen dem höchsten Gut und den verschiedenen Einzel296 Leider wird diese sprachliche Differenzierung der Eth. nic. zwischen »e'dafflmwn« und »makari@« – wobei letzteres eine Steigerung des ersteren Zustandes zu sein scheint und mit göttlicher Glückseligkeit kongruiert –, von den meisten deutschen Übersetzern unterschlagen, indes von Tatarkiewicz eigens hervorgehobenen (vgl. Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 41). Allerdings, so weist Joachim Ritter nach, hält sich Aristoteles nicht konsequent an diesen Sprachgebrauch (vgl. ders.: Metaphysik und Politik, S. 57 f.). 297 Ebd., 1099b, 20 f. 298 Dieser »inklusive« Interpretationsansatz geht zurück auf John Ackrill (Aristotle on Eudaimonia, 1995).

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gütern bestehe vielmehr ein Zusammenhang des Ganzen zu seinen Teilen.« 299 Die Wahl der »richtigen Lebensform« mit handlungsleitenden Zielen und Aufgaben in der Außenwelt muss zudem systematisch betrachtet durch die vorhandenen Güter und faktischen Lebensumstände motiviert und auf unsere individuellen Fähigkeiten und charakterlichen Dispositionen adjustiert sein. Zur Vermeidung permanenter Konfrontationen mit »Übeln« sollte man schließlich über eine gewisse Variationsbreite von Handlungsstrategien verfügen (bb), welche die Korrelationsbeziehung von subjektivem Wohlergehen und objektiven Lebensbedingungen zu unseren Gunsten beeinflussen können. Während bei Aristoteles der »Tugendhafte« dank langjähriger Einübung in die »richtige« Lebensform sämtlichen Lebensumständen als der »Materie« seines Handelns stets die adäquate »Form« aufprägt, weil »der wahrhaft Gute und Verständige jede Art von Schicksal in guter Haltung trägt und in der gegebenen Lage stets das Beste tut«, 300 müsste wohl ein zeitgemäßer Lebenskünstler als »multikompetentes« Individuum 301 mit vielfältigen Handlungszenarien pluraler Lebensformen virtuos zu jonglieren lernen. Wo es trotz aller Viruosität nicht gelingt, zum Zwecke einer eudaimonologisch wünschenswerten »progressiven Zufriedenheit« die widerständische Welt dionysisch-aktiv 302 in nützliche Glücksgüter zu transformieren, ließe sich vielleicht über den Weg der Anpassung im Verein mit einer prometheischen Situationsumdeutung – gemäß dem subjektivistischen Motto: »Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur falsche Kleidung«! 303 – wenigstens eine »Pseudo299 Horn illustriert dies so: »Angenommen, jemand wollte die konstitutiven Faktoren eines gelungenen Urlaubs zusammenstellen. Dann könnte er beispielsweise den Genuss einer schönen Landschaft oder eine angenehme Lektüre als solche Faktoren anführen (Teil-Ganzes-Relation). Die Frage, aus welchen wesentlichen Bestandteilen sich ein gelungener Urlaub zusammensetzt, ob z. B. ein angenehmes Tennisspiel dazugehört, wäre dann von gänzlich anderer Art als die Frage, was ich tun muss, um tatsächlich ein erfreuliches Tennisspiel zu erreichen; eine Frage der zweiten Art wäre etwa, wie ich den Tennisschläger richtig halten muss (Zweck-Mittel-Relation).« (Horn: Antike Lebenskunst, S. 84) 300 Aristoteles: Eth. nic., 1100b, 32–1101a, 2. Vgl. zum Bild der »äußeren Güter« qua »Materie« und dem formenden Geist Pierre Aubenque: Die Kohärenz der aristotelischen Eudaimonia-Lehre, S. 53. 301 Vgl. Höffes Statement in Kapitel 3.1, S. 170. 302 »Dionysisch« wird hier im Sinne von begeisterter, schöpferischer Zuwendung zum Leben verstanden. 303 Daher gelte, so der weise Rat von Bien, »die richtige und gültige Einsicht, die hier für einen konkreten einzelnen Lebenszusammenhang festgehalten ist, sich nutzbar zu ma-

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zufriedenheit« oder aber dank einer buddhistischen Dezimierung unseres Ziels- und Anspruchsniveaus eine »resignative Zufriedenheit« erlangen. 304 Vom Glücksideal antiker Tugendethiker gilt es zweifellos immer dann Abstand zu nehmen, wenn die Außenweltbedingungen gänzlich ausgeblendet werden zugunsten rein innerer Güter einer angemessenen Haltung zu den äußeren Gütern, so dass gemäß einem renommierten stoischen Paradox der Mensch inmitten der schlimmsten Leiden und der Folter glücklich sein könnte aufgrund seiner weisen Welt-Stellung. 305 Für Platon und die Stoiker, genauso aber für ihren angeblichen Antipoden Aristoteles einer »dominanten« Lesart 306 ist nämlich die geistige Tätigkeit die edelste und scheint bisweilen ganz allein konstitutiv für das »vollkommene Glück«: »Wenn also nun zwar unter den tugendhaften Handlungen diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, an Schönheit und Größe obenanstehen und sie trotzdem mit der Muße unvereinbar und auf ein außer ihnen liegendes Ziel gerichtet sind, also nicht ihrer selbst wegen begehrt werden, und wenn dagegen die betrachtende Tätigkeit des Geistes an Ernst hervorzuragen scheint, und keinen anderen Zweck hat als sich selbst, auch eine eigentümliche Lust in sich schließt, die die Tätigkeit steigert, so sieht man klar, dass in dieser Tätigkeit, soweit sie menschenmöglich ist, die Autarkie, die Muße, die Freiheit von Ermüdung und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beilegt, sich finden wird. Somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit (teleffla eudaimonffla) des Menschen.« 307

In Anbetracht solcher vollendeter Glückseligkeit gottgleichen Denkens erscheint dann aus Senecas Sicht alles Äußerliche »wertlos«: »Was hinderte uns zu sagen, ein glückliches Leben bestehe darin, dass der Geist frei und hochgesinnt sei, unerschrocken und fest, erhaben über Furcht chen im Umgang mit dem Weltlauf überhaupt und mit dem, was uns von dort aus zukommt.« (Bien: Über das Glück, S. 37) 304 Diese Zufriedenheitsformen entstammen der Arbeitszufriedenheitforschung, wo allerdings sechs Varianten differenziert werden (vgl. Mayring: Psychologie, S. 81). 305 Vgl. die Anekdote von Epikur, den man als Sklaven derart gefoltert hatte, dass er seinen Herrn warnte: »Du wirst mir das Bein brechen«, und als dies tatsächlich eintraf, kühl verlautbarte: »Habe ich’s Dir nicht gesagt?« – Alle, die solchen Menschen Glück attribuieren, so kommentiert Aristoteles, »behaupten absichtlich oder unabsichtlich Nichtiges« (Aristoteles: Eth. nic., 1153b, 19 f.). 306 Vgl. dazu Horn: Antike Lebenskunst, S. 84. 307 Aristoteles: Eth. nic., 1177a, 16 f. und 1177b, 16–25. A

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und Begierde, der nur ein Gut kennt, die Sittlichkeit, und nur ein Übel, die Unsittlichkeit, dem alles andere wertlos ist, nicht imstande, das glückselige Leben zu fördern oder es zu schmälern, und ohne Gewinn oder Schaden für das höchste Gut kommend oder scheidend.« 308

Sowohl im Rahmen einer »dominanten« Aristoteles-Interpretation wie auch unter »orthodoxen« Stoikern zeichnet sich der tugendhafte Denker gegenüber dem ethisch Handelnden also gerade durch ein Höchstmaß an göttlicher Autarkie aus. »Was zum Leben erforderlich ist, dessen bedarf der Weise wie der Gerechte und die übrigen. Sind sie aber mit dergleichen ausreichend versehen, so bedarf der Gerechte noch solche, gegen die und mit denen er gerecht handeln kann«, 309 registriert Aristoteles richtig. Sofern allerdings auch der Betrachtende »Mensch ist und mit vielen zusammen lebt«, konzediert er gleich darauf, »wird er denn solcher Dinge bedürfen, um als Mensch unter Menschen zu leben.« 310 Trotz des aristotelischen Appells, niemals »als Menschen nur an Menschliches und als Sterbliche nur an Sterbliches zu denken«, 311 kann das menschliche Glück evidentermaßen nicht ausschließliche Folge eines reinen Sich-Selbst-Denkens des Geistes sein, sondern erfordert aufgrund der auch von Aristoteles bekräftigten anthropologischen Grundfesten ein Handeln in der Außenwelt und mit anderen zusammen (vgl. Kapitel 5), weshalb wir vor der Abhängigkeit von Dingen und Menschen nicht zurückschrecken dürfen. Die uns vornehmlich von den Epikureern, Kynikern und Stoikern suggerierte Antinomie, derzufolge wir umso abhängiger, unfreier und damit unglücklicher werden, je mehr wir aktiv in der Um- und Mitwelt involviert und damit von den wahren Glücksgütern abgelenkt sind, entpuppt sich als scheinbare, weil sie auf einer irrigen Generalisierung 308 Lucius A. Seneca: Vom glückseligen Leben, 5. Abschnitt. Das Glück als Tugend qua Einsicht scheint gerade bei Seneca zu einem duldsamen Quietismus anzuleiten: »Was man nach den allgemeinen Gesetzen der Weltordnung zu erdulden hat, das erdulde man hochherzig.« (ebd., 15. Abschnitt) Andererseits benötige der Tugendhafte dennoch »einige Gunst des Geschicks, solange er noch den Kampf des Lebens kämpft, bis er einmal diesen Knoten löst und jedes Band der Sterblichkeit.« (ebd., 16. Abschnitt) Damit träte er in die Nähe der unorthodoxen Stoiker, welche an sich gleichgültige Dinge (adiaphora) in bevorzugte und zurückgestellte auffächern, wobei die bevorzugten materiellen (Reichtum) oder körperlichen (Leben, Gesundheit) als Mittel zum tugendhaften Leben durchaus gebilligt werden (vgl. Diogenes Laertius, VII, 105). 309 Ebd., 1177a, 28–31. 310 Ebd., 1178b, 5 ff. 311 Ebd., 1177b, 33 f.

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basiert: »Wenn einige Abhängigkeiten lästig sind, so heißt das noch nicht, dass dies für alle gilt«, stellt Tatarkiewicz klar: »Falls jemand etwas zu seinem Glück benötigt, so ist er davon in seinem Glück abhängig. Je abhängiger er aber ist, desto weniger – so behaupten einige – ist er glücklich. Denn für das Glück benötigt man Freiheit, jede Abhängigkeit aber verringert die Freiheit, also – eine Antinomie; alles, was zur Erhöhung des Glücks beiträgt, trägt in gleicher Weise zu dessen Verringerung bei. Daher das Misstrauen gegenüber Dingen, die zum Glück beitragen sollen, und daher das kynisch-stoische Ideal der Unabhängigkeit, der Befreiung von der Übermacht der äußeren Welt: Derjenige ist nicht frei, der äußere Dinge benötigt. Tatsächlich sind wir Gefangene vieler Dinge, die wir brauchen, an die wir uns gewöhnt haben und die wir besitzen. Teilweise aber ist dies eine unvermeidliche Gefangenschaft, die auch zum Teil für das Glück schädlich ist: es ist unmöglich, sich von allem im Leben zu befreien, sich aller Dinge zu entledigen, weil das Leben sonst leer wäre.« 312

Da wir ein »gutes Leben«, viele fürsorgende, mitverantwortende Aufgaben und Ziele in der Außenwelt miteinander verknüpfend, nicht in totaler Isolation, Einsamkeit und Unabhängigkeit vollziehen können, sondern nur inmitten eines dichten Netzes von »Abhängigkeiten« hinsichtlich materieller, körperlicher und sozialer Güter, kann sinnvollerweise weder völlige Unabhängigkeit noch Willkürfreiheit als Grundbedingung menschlichen Glücks reklamiert werden, sondern in ausreichendem Maße gewährleistete Handlungsund Willensfreiheit (bc): Neben der formal positiv gefassten Freiheit qua Wahlfreiheit, d. i. der genuinen menschlichen Fähigkeit nicht-instinktiven, willentlichen Handelns und Wählens zwischen Alternativen, muss auch die negative Bedingung der Handlungsfreiheit erfüllt sein, d. i. die Abwesenheit innerer (Neurosen) und äußerer Zwänge (gesellschaftliche oder politische Nötigung), sowie die material-positiv gefasste Willensfreiheit als sittliche Selbstbestimmung und verantwortungsvolle Wahl des Lebensweges. 313 Diese Formen von Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 145. Seel konkretisiert »Freiheit« als dritte Bedingung der Möglichkeit menschlichen Glücks (vgl. oben) so: »Freiheit meint hier zunächst so etwas Elementares wie Bewegungsfreiheit und außerdem die Möglichkeit, einige für das eigene Leben wichtige Dinge selbst zu entscheiden.« (Seel: Versuch, S. 85) Diese auf ein Minimum reduzierte »Handlungsfreiheit« ist wohl noch allzu unterbestimmt als eudaimonologische Basis. Zur Selbstbestimmung qua »Willensfreiheit«, die er an späterer Stelle geradezu mit Glück kongruieren lässt, vermerkt Seel: »Das übergreifende Glück eines gelingenden Lebens besteht nach diesem Vorschlag darin, den eigenen Lebensweg frei wählen zu können. […] Sie liegt darauf, dass ich in der Lage bin, mein Handeln selbst zu wählen, 312 313

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menschlicher Freiheit bilden aber lediglich die Bedingung für menschliches Glück, ohne dass eine von ihnen mit Glück identifiziert werden darf, wie Martin Seel es vorschlägt. 314 Wenn der Mensch nur im Umgang mit objektiven Gütern und damit in einem mehr oder weniger weitmaschigen Bezugsnetz glücklich werden kann – welche Art von »Abhängigkeiten« muss selbst der Glücksobjektivist verurteilen? »Das gute Leben«, so bietet Seel dem Objektivisten mit Blick auf fragliche, in diesem Teilkapitel nur vorläufig anzutippende diffizile Freiheitsproblematik an, »ist eines, das sich im Modus freier Weltbegegnung vollzieht. […] Das gute Leben ist ein für präferierte Situationen und Betätigungen offenes und in dieser Offenheit vollzugsorientiertes Leben. Es ist frei für die dem Subjekt dieses Lebens jeweils günstigste Weise der Begegnung mit der jeweiligen Umwelt dieses Lebens. Es spielt sich in einem Spielraum der Weltbegegnung ab, der auf vielfache Weise eingeschränkt und verstellt werden kann, wodurch es zu einem weniger guten, schlechten oder elenden Leben wird – wenn es denn je in einer günstigen Lebenslage war.« 315

Gewinnt man zunächst den Eindruck, dass Weltoffenheit und ein adäquates Lebenskonzept für ein gutes und glückliches Leben völlig zureichend sind, rückt Seel immer deutlicher den »Spielraum der Weltbegegnung« ins Zentrum, der uns in den gegebenen faktischen Lebensbedingungen im Sinne der Handlungsfreiheit offenes Reagieren entweder ermöglicht oder aber verstellt. Wohl nicht zufällig illustriert er mittels Paradebeispielen von benachteiligten Schwachen (Kinder, Schwerkranke, Behinderte) – zu denen sich ohne weiteres »gesunde« Minoritäten (Dunkelhäutige, Frauen, Musiker) assoziieren ließen –, dass eine allzu große Einschränkung des objektiven Spielraums freier Lebensgestaltung (wie mangelnde Zuwendung beim Kranken oder Übeverbot des Musikers) das persönliche Glück zu unterminieren vermag. Was wir benötigen, ist also weder schlechthinnige Unabhängigkeit von der Außenwelt noch freie willauch und gerade dann, wenn manches nicht nach Wunsch und Willen geht. Ein gutes Leben in diesem Sinne hat, wem es gelingt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – und wer erwarten kann, dass es ihm weiterhin gelingen werde.« (ebd., S. 114) Das ethischsitttliche Moment der Willensfreiheit wird hier allerdings ausgeblendet (vgl. unten). 314 »Das übergreifende Glück eines gelingenden Lebens besteht nach diesem Vorschlag darin, den eigenen Lebensweg frei wählen zu können. […] Ein gutes Leben in diesem Sinn hat, wem es gelingt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen …« (ebd., S. 114) 315 Ders.: Wege einer Philosophie des Glücks, S. 121.

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kürliche Verfügbarkeit über alle gewünschten materiellen, körperlichen und sozialen Güter, sondern ein ausreichender Spielraum zur Selbstbestimmung im gesellschaftlichen und politischen Kontext einer mit anderen geteilten Lebenspraxis und Kultur, 316 der unsere Beziehung zur Außenwelt nicht auf teilnahmslose Anpassung und resignative Zurücknahme bedeutsamer Lebensziele reduziert. Auch die humanistischen Psychologen pflegen diesen Aspekt als wichtigen Faktor gelingenden und glücklichen Lebens hervozuheben und projektieren bisweilen utopische Bilder einer sogenannten »permissiven Umwelt« 317 : »Ein zweiter Gesichtspunkt des Lebensgelingens hat mit der Beziehung des Individuums zu Lebensumständen zu tun. Diese mögen so günstig gewesen sein, dass das Individuum seine Möglichkeiten verwirklichen, das heißt, seine Eigenart und Gaben verwenden konnte oder aber, dass es sich an schwierige Verhältnisse anpassen musste.« 318 Da die materiellen Güter endlich sind, und die Ansprüche hinsichtlich aller drei Güterarten sowie die Vorstellungen von Lebensqualität vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lebensentwürfe zweifellos variieren können, sind soziale Werte und rechtliche Normen des Zusammenlebens unabdingbar, welche gemäß der Devise, »dass die Ordnung der verfügbaren Sachmittel der Ordnung der Menschen und der Gesellschaft dienstbar gemacht werden soll und nicht umgekehrt«, 319 das »Gemeinwohl« sichern sollen (vgl. Kapitel 6.2). Neben der materialen Bestimmung der Grunddaten und Grenzwerte der menschlichen Lebenswelt sowie der Belastbarkeit der Natur im Zeichen eines demokratisch-gesellschaftspolitischen staatlichen Lebensqualitätsprogramms hat »Lebensqualität« mithin im 316 Vgl. Seels konzises Diktum: »Um Autarkie geht es nicht …« (ders.: Versuch, S. 129) Auf die Freiheitsproblematik werde ich in Kapitel 6.2 zurückkommen. 317 Vgl. Maslows sozialutopische Forderung: »Um zu entdecken, was ein menschliches Wesen braucht und was es ist, ist es notwendig, besondere Bedingungen herzustellen, die den Ausdruck dieser Bedürfnisse und Fähigkeiten fördern, und die sie ermuntern und ermöglichen. Im Allgemeinen können solche Bedingungen unter dem Titel der Permissivität, zu befriedigen und auszudrücken, zusammengefasst werden. […] Vom Standpunkt der Förderung von Selbstverwirklichung oder Gesundheit aus ist eine gute Umwelt (in der Theorie) eine, die alle notwendigen Rohmaterialien anbietet und dann aus dem Weg geht und beiseite tritt, um den (durchschnittlichen) Organismus seine Wünsche und Forderungen äußern und seine Wahl treffen zu lassen.« (Maslow: Motivation, S. 379 und 380) 318 Charlotte Bühler: Psychologische Probleme unserer Zeit, S. 16. 319 Artikel »Lebensqualität« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 171.

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Sinne des Gemeinwohls als »ethischer Imperativ mit ethischer Relevanz« 320 zu fungieren, auf dass er etwa dem Konfligieren der subjektiven Wohnqualitätsprojektionen eines Berufsmusikers und eines benachbarten ruheliebenden Rentners ein friedliches Ende bereite. Während Höffe die Aufgabe, mit der ein Staat betreut werden soll, »primär nicht in der Minimierung von Einschränkungen und Maximierung von Freiräumen, sondern in der Gleichheit und Wechselseitigkeit von Einschränkung und Sicherung der Willkürfreiheiten« (qua uneingeschränkte Handlungsfreiheiten) erblickt, 321 müsste die private Willkürfreiheit wohl vielmehr dank demokratischer Willensbildung gleichsam in autonome sittliche, diskursethisch transformierte Willensfreiheit umschlagen: Ein nach dem aristotelischen Polismodell idealisierter Staat hätte demzufolge nicht nur entsprechend einem historisch-kulturellen Menschenbild und Politikverständnis Maßnahmen zur gesetzlichen Kranken- und Sozialversicherung, zum öffentlichen Schulwesen, zur Förderung individueller Verantwortung und Selbstbestimmung sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen zu treffen, 322 sondern müsste zudem »füglich sein Augenmerk darauf richten, wie ein Mann rechtschaffen wird«, 323 d. h. die Form seines »guten Lebens« an den kursierenden soziokulturellen Vorstellungen und allgemein anerkannten Zielsetzungen bemisst bzw. konsensuell abstützt. 324 Ebd. Ebd., Artikel »Freiheit«, S. 78 f. 322 Trotz der Vielfalt der Kulturen und politischen Strömungen lassen sich laut Gerster doch einge gemeinsame Schwerpunkte bei solchen staatlichen Lebensqualitätsprogrammen herausdestillieren, die sich selbstverständlich auf viel weitere Bereiche als dasjenige rein äußerlicher Güter erstrecken: »Bei allen Unterschieden – die oft nur Nuancen sind – kristallisieren sich als Merkmale für Lebensqualität heraus: Gleichberechtigung von Mann und Frau in Familie und Beruf. Die Selbstverwirklichung des einzelnen. Die Gewährleistung von Chancengleichheit (insbesondere im Bildungswesen). Ein gesundes Wohnumfeld. Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Tendenziell kürzere Arbeitszeiten zugunsten von mehr Freizeit.« (Gerster: Ansichten über Lebensqualität, S. 246) 323 »Also wünschen wir, dass der Zustand des Staates wohl auch Dinge beinhalte, über die der Zufall entscheidet (wir nehmen nämlich an, dass er entscheidend ist). Doch dass der Staat rechtschaffen ist, ist nicht mehr ein Werk des Zufalls, vielmehr das von Verständnis und freier Entscheidung. Aber ein rechtschaffener Staat zeigt sich doch gerade darin, dass die Bürger, die teilhaben an der Staatsverfassung, selbst rechtschaffen sind. Bei uns aber haben alle Bürger Anteil an der Staatsverfassung. Man muss füglich darauf sein Augenmerk richten, wie ein Mann rechtschaffen wird.« (Aristoteles: Polit., 1332a, 29–35) 324 Vgl. zum Verhältnis von Glück und Staat Kapitel 6.2. 320 321

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Objektive Glückstheorien: Glücksgüterobjektivismus und die Lebensstandard

Da wir zugegebenerweise bei unserer Erörterung objektivistischer Glückserwägungen sehr weitläufige und viel befahrene Umund Abwege zurückgelegt haben, lohnt es sich, den in diesem Teilkapitel beschrittenen Pfad Revue passieren zu lassen: Während laut unserer Eingangsdefinition ein jeder Glücksobjektivist prätendiert, ein gutes und glückliches Leben hänge wesentlich vom Reichtum an bestimmten »objektiven Gütern« ab, konzentrierten wir uns in der Folge ausdrücklich auf jene, welche diese »Güter« mit günstigen objektiven Lebensbedingungen, d. h. ausreichenden Ressourcen an materiellen, körperlichen und sozialen Gütern identifizieren, wohingegen wir die Erörterung anthropologischer Spielarten auf das Teilkapitel 5.2 vertagten. Vom vorphilosophischen Glücksgüterobjektivismus, wie er von der Werbewelt und Unterhaltungsindustrie lauthals propagiert wird, suchten wir rasch wieder Distanz, weil hier elementar Freiheit und Würde des Menschen sowie der spezifische Zeit- und Vollzugscharakter menschlichen Lebens missachtet und darüber hinaus die psychologischen Grundgesetze der Gewöhnung und der Kompensation vernachlässigt werden. Da auch diejenigen Objektivisten, die als Maßstab für Glück den infolge eines einseitigen quantitativen Wirtschaftswachstums ständig steigenden »Lebensstandard« figurieren lassen, ein auf die materiellen Güter beschränktes Teilprogramm des Glücksgüterobjektivismus verfechten, wandten wir uns dem sozioökonomisch-politisch hochbrisanten Kontrast-Programm der »Lebensqualität« zu. Karriere machte nämlich der »Lebensqualität«-Begriff, nach Glatzer/Zapf zu definieren als individuelle Konstellation von objektiven Lebensbedingungen (äußere Güter) und subjektivem Wohlbefinden (Glück, Zufriedenheit), aufgrund der Erkenntnis, dass eine Eskalation an materiellen Gütern und eine immer breitere Palette feilgebotener Glücksgüter die Menschen keineswegs glücklicher machen. Doch auch wenn man dank des emphatischen Appells an eine humane und natürliche Lebenswelt seitens der Kritiker eines ungehemmten Wirtschaftwachstums in der Lebensqualitätsforschung nun auch gesundheitliche und soziale äußere Güter mitberücksichtigt, irritiert weiterhin die frappante Kluft zwischen objektiven Faktoren und den Bereichszufriedenheitswerten, was den – vornehmlich amerikanischen – sozialwissenschaftlichen Subjektivisten scheinbar das Recht gab, »Lebensqualität« auf die Komponente »subjektives Wohlbefinden« und dieses auf ein privates Empfindungsglück zu reduzieren. Ohne ins andere Extrem der Objektivisten zu verfallen, welche starrsinnig A

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»Lebensqualität« am Bruttosozialprodukt und »Glück« an den einer Person zur Verfügung stehenden Ressourcen messen zu können meinen, versuchten wir doch im Rahmen eines Zweikomponentenmodells der »Lebensqualität« bzw. einer transaktionalen Glückstheorie den äußeren Gütern in eudaimonologischer Hinsicht zu ihrem Recht zu verhelfen. Wir nahmen also zu prüfen in Angriff, was sich an typisch menschlichen Mediatoren eruieren lässt, welche eine monokausale und direkte Einwirkung bestimmter objektiver Güter auf unser Glück vereiteln und dadurch die Forschung in Konfusionen verstricken. Gesetzt, dass sich zwischen den lebensnotwendigen elementaren Grundgütern und den nicht-notwendigen tatsächlich eine augenfällige Scheidung vornehmen lässt, kann Glück prinzipiell nur da erfahren werden, wo die entsprechenden Ressourcen an lebensnotwendigen in ausreichendem Maße vorhanden sind. Indem die Privation jeder einzelnen dieser Güterklassen leichterhand unser Bewusstsein zu beherrschen vermag, legt sich im Bereich unserer physiologischen und Sicherheitsbedürfnisse die Supposition einer linearen, direkten Korrespondenzrelation zwischen Gütermangel und Unglück nahe. Da ein gutes und glückliches Leben zwar durch das Defizit lebensnotwendiger objektiver Güter verhindert, durch ihren Besitz aber niemals garantiert werden kann – gemäß dem Sprichwort »Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt« –, weil letztlich alles auf unsere Bewertung, unseren Umgang mit denselben ankommt, stoßen radikale Glückobjektivisten nur bis zu einem negativen Glücksbegriff vor. Wo immer aber die Ressourcen an lebensnotwendigen materiellen, körperlichen und sozialen Gütern gewährleistet sind, kommen zum einen mannigfaltige kognitive bzw. emotive gesellschaftliche Mediatoren der Bewertung zum Tragen: An erster Stelle nannten wir den sozialen Vergleich, da der einzelne bei der Einschätzung seiner objektiven Lage zunächst und zumeist den in seiner Gesellschaft figurierenden Durchschnitt als Bezugsgröße herbeizieht (aa), daneben generelle kulturelle Werthaltungen, sogenannte gesellschaftliche »Glücksideologien« oder einzelne Wertbindungen »emotionaler Schemata« (ab). Zur Garantie von Bereichszufriedenheiten jenseits trügerischer resignativer Anpassung oder sozialem Druck erwies sich eine demokratische gesellschaftliche Bestimmung von Grundwerten menschlicher Lebenswelt bezüglich der äußeren Güter wie Lebensstandard, Gesundheit und sozialer Sicherheit als unabdingbar, die sich sowohl in ihrer konkreten Ausgestaltung wie auch 338

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in ihrer gegenseitigen Gewichtung als historisch und kulturell variant entpuppten. Weniger transparent als die gesellschaftlich bedingten Mediatoren zeigten sich die individuellen, obgleich nicht zu verkennen ist, dass die genannten objektiven Güter vor dem Horizont einer persönlichen Konzeption eines »guten Lebens«, einem Lebensplan mit spezifischen Aufgaben und Zielen in einem je ganz anderen Licht erscheinen können (ba). Wie ein transaktionaler Glücksansatz akzentuiert, sind die von unseren Plänen tangierten objektiven Güter dabei keine bloßen Werkzeuge oder Mittel zum Zweck unseres obersten Handlungsziels, des Glücks. Vielmehr können wir Glück erstens gar nie direkt anpeilen, sondern nur kraft der erfolgreichen Hinwendung an Dinge oder Personen der Außenwelt erfahren, und zweitens haben wir diese Aufgaben und Ziele im Rahmen unserer Lebensform sinnvollerweise auf die vorhandenen Güter und faktischen Lebensbedingungen zu adjustieren. Um die Korrelationsbeziehung zwischen persönlichem Wohlergehen und objektiven Gütern zu unseren Gunsten beeinflussen zu können, müssen wir uns neben realistischen Zielsetzungen das Jonglieren mit mannigfaltigen Handlungsstrategien im Falle widerständiger Lebensbedingungen, von »Übeln«, antrainieren (bb). Auch wenn gemäß einer illustrativen Analogie des Aristoteles die hochkarätige Tonkunst eines Musikers gleich wie die tugendhafte Lebensführung eines Menschen zwar den Grund des vortrefflichen Spiels bzw. des gelingenden Lebens darstellt und ein guter Musiker auch auf einem schlechten Instrument gut zu spielen weiß, wird sich sein Spiel doch nur auf einem exquisiten Instrument zur Vollkommenheit entwickeln können, bzw. lässt sich ein vollendetes Glück nur bei einem wunschgemäßen Entgegenkommen der Ereignisse bezüglich unseres Lebensentwurfs realisieren. Damit unsere Außenweltbeziehungen niemals zur teilnahmslosen Anpassung und notorisch-resignativen Zurücknahme bedeutender Lebensziele verkommt, sollten wir daher im Namen unseres Glücks weder totale Unabhängigkeit von äußeren Bedingungen noch radikale Willkürfreiheit reklamieren, sondern einen Spielraum freier Weltbegegnung, ein Minimum an Handlungs- und Willensfreiheit (bc). Um diese zu gewährleisten und zugleich die Ordnung der verfügbaren Güter der Ordnung der Gesellschaft dienstbar zu machen, hat der Staat anläßlich eines gesellschaftspolitischen Lebensqualitätsprogramms auf demokratischem Wege Grundnormen des Zusammenlebens zu dekretieren, welche im Sinne des Gemeinwohls dafür sorA

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gen, dass die subjektiven Lebenskonzepte harmonieren, in dem sich der einzelne auf Kosten seiner Willkürfreiheit und im Zeichen einer dikskursethisch transformierten Willensfreiheit an soziokulturellen Werten und allgemein anerkannten Zielsetzungen orientiert.

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5 Anthropologie des Glücks

»Der Mensch ist entziffert« – so lauten die Headlines der Tageszeitungen vom legendären 12. Februar 2001. Es ist der Tag, an dem das, was man seit Monaten spekulativ antizipierte und kaum mehr erwarten konnte, nun von den zwei konkurrierenden Forscherteams, Craig Venter als Präsident der Firma Celera Genomics und den Wissenschaftlern des internationalen Humangenom-Projekts, der Weltöffentlichkeit unterbreitet wird: Das Erbgut des Menschen, drei Milliarden Buchstaben bzw. Erbmerkmale umfassend, aber mit 30 000 Genen wider Erwarten nicht viel umfangreicher als dasjenige der Fruchtfliege, wird publik gemacht, auf dass jeder im monumentalen Buch des Lebens, vielmehr in der ganzen Bücherei des Lebens zu lesen vermag. Doch ist der Triumph wirklich berechtigt? Weiß man nun »alles über den Menschen«, oder hat man ihm lediglich die Krone der Schöpfung vom Haupt genommen? Sind wir »nichts als« 1 Gen-Automaten? Wenige Wochen davor wurde im Berliner Gropius-Bau das »Jahr der Lebenswissenschaften« ausgerufen, wobei man jenen frappierenderweise allein die Naturwissenschaften Biologie und Medizin, insbesondere aber Bio- und Gentechnik rubriziert. Noch vor der Rede der technikfreundlichen Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn meldete sich daher Bundespräsident Johannes Rau mit Recht kritisch zu Wort, verlangte eine Demokratisierung der intransparenten technologischen Wissenschaften im Sinne der vielbeschworenen politisch mündigen Wissensgesellschaft und warnte vor einer Verletzung der Menschenwürde. Wer wendet denn ab, dass Menschen jetzt nicht nur aufgrund ihrer anderen Hautfarbe oder ihrer dissidenten politischen Ansichten, sondern auch anlässlich ihrer genetischen Ausstattung etwa am Arbeitsplatz oder beim Abschluss von Versicherungen diskriminiert werden? Müsste man nicht der blinden Technikeuphorie und einem grassierenden wissenschaftlichen Reduktionismus zum Trotz den anthropologischen Horizont Vgl. Frankls Attacke gegen den wissenschaftlichen Nihilismus und Reduktionismus vornehmlich auf dem Felde der Psychologie (Kapitel 1, S. 45).

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wieder etwas weiter ziehen und die Assoziation der »Lebenswissenschaften« wieder etwas integrativer gestalten? 2 Sollte etwa auch das Glück des Menschen durch einen komplett-intakten Genpool garantiert sein? »Jede Glückskonzeption reflektiert auf die Natur des Menschen: Sie ist wesentlich Anthropologie«, erklärt Zirfas apodiktisch: »Das Glück des Menschen kann nur definiert werden, wenn das Wesen des Menschen definiert wurde. Die Idee des Glücks steht im Einklang, in einer Identitätskonzeption, mit der Idee des Menschen.« 3 Zunächst ist evident, dass die Frage nach dem Glück, wie sie seit Aristoteles auf philosophische Weise gestellt wurde, immer mit der Frage nach dem Glück des Menschen kongruierte und somit implizit mit derjenigen nach der »Natur« oder der »Bestimmung« des Menschen, nach der conditio humana als den »Grundmöglichkeiten und Grundschwierigkeiten menschlicher Existenz« 4 verkoppelt war. So geht es auch in vorliegender Arbeit stillschweigend weder um das Glück der Götter oder Engel noch dasjenige des Tieres, sondern ausschließlich um das Glück des Menschen, auch wenn dieser bisweilen nach dem göttlichen oder tierischen »Glücke eifersüchtig hinblickt« 5 . Wenn ich wissen will, was das Glück des Menschen sei, muss ich wissen, wer oder was der Mensch ist, was dadurch erschwert wird, dass der Mensch in verschiedenen Epochen und Kulturen bald als »animal rationale« oder »animal metaphysicum«, bald als Arbeits- oder Sprachwesen, bald als Sinn- oder Gottessucher definiert wurde und sich dadurch einer generellen Bestimmung entzieht. Nicht das Glücklichsein selbst zwar, aber doch das menschliche Streben nach Glück funEine integrative »Lebenswissenschaft« schwebte bereits Alfred Adler und den humanistischen Psychologen vor (vgl. ebd., S. 46). 3 Jörg Zirfas: Präsenz und Ewigkeit. Eine Anthropologie des Glücks, S. 16. 4 So lesen wir exemplarisch bei Martin Seels Versuch über die Form des Glücks: »Im Hintergrund meiner Betrachtungen stehen also anthropologische Hypothesen über Grundmöglichkeiten und Grundschwierigkeiten menschlicher Existenz.« (ebd., S. 78) Vgl. dazu Kapitel 4.1, S. 285 f., wo wir das Zutagefördern der zumeist impliziten anthropologischen Grundannahmen als Vorzug der Wunschtheorien des Glücks hervorstrichen. 5 Vor einer Herde von glücklich weidenden Tieren, an den Pfahl des Augenblicks gefesselt, befindet sich der Mensch nach Nietzsche in folgendem Dilemma: »Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier.« (Friedrich Nietzsche: UB, S. 248) 2

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giert dabei in den meisten philosophischen Konzeptionen seit Aristoteles als »anthropologische Konstante«, d. h. als Eigenschaft oder Verhaltensweise des Menschen, die ihm unabhängig von allen individuellen, kulturellen, ökonomischen und historischen Unterschieden zukommt (vgl. Kapitel 1). Somit scheint der Mensch, wesensmäßig, aber nicht instinktsicher nach Glück strebend, zwar ein Glücks-Mängelwesen und somit von Natur aus unglücklich, aber durchaus des Glückes fähig zu sein, woraus sich eine »eudaimonologische Bildungsnotwendigkeit« 6 ableiten ließe. Formale Bedingung menschlichen Glücks wäre infolgedessen ein geglückter eudaimonologischer Bildungsweg, was voraussetzt, dass der Mensch darüber reflektiert, wie er sein persönliches Glück erreichen kann und will. Weil der Mensch nicht von Natur aus glücklich ist, soviel steht also fest, hat er sein Glück zu kultivieren. Zur Debatte steht in diesem anthropologisch ausgerichteten Kapitel, ob es tatsächlich so etwas wie eine »Natur«, ein »Wesen« des Menschen gibt, und ob eine Aktualisierung, eine Vollendung der im Menschen potentiell angelegten spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften notwendig Glück nach sich ziehen. Liest man die Nikomachische Ethik als eudaimonologisches Bildungsprogramm für das Glücks-Mängelwesen Mensch, um sich den bisherigen Gedankengang an einem konkreten Exempel zu vergegenwärtigen, holt uns Aristoteles da ab, wo wir stehen, und wir teilen ohne Mühe seinen Ausgangspunkt: Jede Erkenntnis und jeder Entschluss ist auf ein ganz bestimmtes Gut ausgerichtet, d. h. auf ein als gut taxiertes Ziel, wobei als höchstes und umfassendstes aller praktischen Güter die Glückseligkeit geortet wird. Obgleich wir uns alle Ziele setzen in der Überzeugung, sie würden uns dem Glück entgegenführen, entlarvt Aristoteles mindestens zwei von der Mehrzahl der Menschen gewählte Wege als Irrtümer: Zum einen das Leben des Genusses mit dem einzigen Ziel des Lustgewinns, weil wir dann nicht menschlich, sondern völlig sklavisch wie das Vieh existierten, zum zweiten die kaufmännische Lebensform, weil der Reichtum kein eigentliches Ziel, sondern immer nur Mittel zum Zweck darstelle. 7 Um genauer und unabhängig von allen kontingenten faktischen Irr- und Abwegen zu eruieren, was menschliches Glück tatsächlich sei und wie man es erreichen könne, rät Aristoteles zum Studium der 6 7

Zirfas: Präsenz und Ewigkeit, S. 15. Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1095b, 14–1096a, 10. A

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menschlichen Natur, zur Ermittlung der anthropologischen Bestimmung des Menschen, 8 seines »objektiven Guts« oder »moralischen telos«. 9 Während Aristoteles dieses höchste Gut untrüglich in der eigentümlichen menschlichen Leistung des Denkens zu erkennen glaubt, weshalb er uns das vollendete autarke Menschenglück bei einer philosophischen, ganz der Weisheit gewidmeten Lebensform verheißt, 10 werden wir heute konfrontiert mit langen Listen objektiver Güter in Form elementarer menschlicher Eigenschaften oder Funktionsfähigkeiten wie die Benutzung unserer Sinnes-, Phantasieund Denkvermögen, Gesundheit oder die Pflege von anteilnehmenden Beziehungen zu Menschen und Tieren, 11 welche wohl eher bescheidene Wegmarken als den Weg zum Glück selbst repräsentieren. Sind sie vielleicht auch Ausdruck dafür, dass der Mensch unserer wissenschaftlich-technischen westlichen Zivilisation sich selbst zum Problem wurde, indem er zwar »nicht mehr weiß, was er ist; zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß« 12 ? Wäre es überdies nicht grundsätzlich widersinnig, die »Natur« des Menschen mittels Zivilisierung und kultureller Leistungen zu überwinden bzw. »Kultur« zur »zweiten Natur« des Menschen zu krönen, um sich dann doch wieder am Maßstab einer »menschlichen Natur« oder »natürlichen Bestimmung« des Menschen zu orientieren? Auch Horn bekräftigt: »Aristoteles will also die Bedingungen eines guten oder gelungenen menschlichen Lebens (eu zen) im Unterschied zu den Umständen des bloßen Lebens (zen) aufdecken. Ein gelungenes Leben kommt dadurch zustande, dass jemand möglichst häufig und intensiv die bestmögliche in der menschlichen Natur angelegte Tätigkeit ausführt; von dieser Tätigkeit soll die Lebensführung insgesamt geprägt sein. Soweit beruht das aristotelische Modell auf einer Anthropologie.« (Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 80) 9 Vgl. den Beginn des Kapitels 4.2, in welchem wir die objektiven Glückstheorien abzüglich der hier interessierenden wesenseigenen menschlichen Eigenschaften (2a) bzw. dem ihnen Zuträglichen (2b) präsentierten. 10 Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1. Buch: 1097b, 22–1098a, 20 und 10. Buch: 1177a, 12– 1178b, 32. 11 Es handelt sich hierbei um Punkte 4, 2 und 7/8 aus der »starken vagen Konzeption« eines »objektiv guten« Lebens von Martha Nussbaum: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, S. 214. 12 »In keinem Zeitalter sind die Ansichten über Wesen und Ursprung des Menschen unsicherer, unbestimmter und mannigfaltiger gewesen, als in dem unsrigen […]. Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos problematisch geworden ist: in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß.« (Max Scheler: Späte Schriften, S. 15) 8

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Wenn Aussagen über das Glück des Menschen notwendig eingebettet sein müssen in anthropologische Grundannahmen über die conditio humana und die »Idee« des Menschen, muss eine Glückstheorie in eine umfassende Human- oder Lebenswissenschaft integriert werden. Jede Human- oder Lebenswissenschaft aber, die ihren Namen verdient, hat zweifelsohne mit einer historisch-kulturellen Relativierung der »menschlichen Natur« zu beginnen: Die »Natur«, »Idee« oder »Bestimmung« des Menschen kann prinzipiell nicht empirisch erkundet, rein objektiv beschrieben und erklärt werden, da auch eine vollständige Auflistung der biologischen sowie genetischen Ausstattung des Menschen die Frage nach seinem »Wesen« niemals ausreichend beantworten kann. Was der Mensch, was sein Wesen und seine unumstößliche Grundsituation sei, manifestiert sich vielmehr erst in einer Sinndeutung aller empirisch erschließbarer Sachverhalte in einem bestimmten historisch-gesellschaftlichen Kontext. Gemäß einer von Kant eingeführten begrifflichen Differenzierung zielt eine physiologische Anthropologie »auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.« 13 Wo der naturwissenschaftlich ausgerichtete, somatisch-physische Menschenforscher 14 ausgeprägte Artikulationsorgane, freigelegte Hände, eine spezifisch ausgebildete Großhirnrinde und ein verhältnismäßig großes Gehirnvolumen konstatiert und damit einen »natursystematischen Begriff des Menschen« 15 prägt, richtet der geisteswissenschaftliche, pragmatisch-ethisch interessierte Anthropologe sein Augenmerk darauf, wozu dies alles den Menschen befähigt, was er, mit welchem Sinn und Zweck, in verschiedenen historischen und gesellschaftlichen Situationen tatsächlich daraus gemacht hat oder, aus welchem Grund auch immer, machen sollte. Obige in Frageform gefasste Paradoxie wurzelt natürlich in dieser Multivokation des »Natur«-Begriffes, einmal empirisch-deskriptiv, dann normativ im Sinne einer Wesensdefinition verstanden. WähKant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, A/B4. 14 Die somatisch-physische Anthropologie wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Daubenton, Blumenbach und Sömmering als Zweig der Biologie begründet. Vgl. Michael Landmann: Philosophische Anthropologie, S. 5. 15 Max Scheler spricht angesichts solcher morphologischer Sondermerkmale im Gegensatz zum philosophischen »Wesensbegriff des Menschen« vom »natursystematischen Begriff vom Menschen« (Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 11). 13

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rend Diemer angesichts dessen kompromisslos fordert, man solle dieses »Wort aus der anthropologischen Diskussion eliminieren«, 16 setze ich den emphatischen Naturbegriff zur Abgrenzung gegen den nicht-emphatischen in Gänsefüßchen. An die »Natur« oder das »Wesen« des Menschen kommt man aus kulturrelativistischer Sicht nicht mittels einer Analyse dessen näher, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat, sondern nur kraft eines verstehenden Nachvollzugs der Art und Weise, wie Menschen diese Wirklichkeit erfahren, sich vor dem Hintergrund historisch-gesellschaftlicher Wert- und Deutungsschemata ein »Bild« des Menschen machen und sich auf dieses hin entfalten. Philosophische Anthropologie wäre dann das Medium der Selbstbestimmung und (inter-)kulturellen Verständigung hinsichtlich des Menschseins im emphatischen pragmatisch-ethischen Sinne, ohne welche eine willkürliche teleologische Entfaltung der menschlichen »Natur« nicht möglich ist. Sowohl die geisteswissenschaftliche wie die somatisch-physische Anthropologie – also sämtliche anthropologischen Spezialdisziplinen wie Pädagogik, Biologie oder Medizin – basieren wiederum auf einem rudimentären Vorverständnis vom »Menschen«, auf der Projektion eines »Invarianten-Modells Mensch als Normal-Orientierungs-Modell für das Reden vom und über den Menschen« 17 , dank dessen eine Verständigung über die »Idee« des Menschen erst möglich wird. Auch Angehörigen fremder Kulturen und Zeiten wie beispielsweise dem Neandertaler attestieren wir den Dualismus von Geist und Sinnlichkeit, eine Triebstruktur, Verhalten und Handeln, oder die von Nussbaum aufgeführten, für ein menschliches Leben« notwendigen Güter. Zur Vermeidung sowohl eines Rückfalls in einen »anthropologischen Kolonialismus« 18 , bei welchem eine Ideologie der »Natürlichkeit« von bestimmten Menschengruppen propagiert und anderen aufoktroyiert wird, als auch der Rechtfertigung widriger historisch-sozialer und ökonomischer Verhältnisse durch ihre Aufnahme als angeblich konstitutive Momente in einem bewusst historisierten, relativierten Wesensbegriff, pocht man heute vermehrt auf die Notwendigkeit einer solch bescheidenen anthropologiAlwin Diemer: Philosophische Anthropologie, S. 226 Ebd., S. 18. Diemer beschränkt die Aufgabe einer philosophischen Anthropologie bescheidenerweise auf die Herausarbeitung eines solchen Modells, welches, wie auch er akzentuiert, mit der Erarbeitung einer »Wesensdefinition des Menschen noch nichts zu tun« habe (vgl. ebd.). 18 Ebd., S. 19. 16 17

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schen Normalidee allgemeinmenschlicher Grundgüter. 19 Ob es tatsächlich sinnvoll oder angesichts immer drastischerer Kluften zwischen Wohlhabenden und Ausgegrenzten sogar notwendig ist, den Menschen primär über ein nicht-emphatisches »Normal-Orientierungsmodell« zu verstehen, das auch interkulturelle Vergleiche ermöglicht, wird noch zu klären sein. Wenn man das menschliche Wesen, die menschliche »Natur« in ihre Abhängigkeit von historischen und gesellschaftlichen Sinn- und Deutungsmustern zurückstellt, bedeutet dies meines Erachtens aber keineswegs, philosophische Anthropologie zur Ideologie zu depravieren, da ihre Aufgabe vielmehr in der kritischen Prüfung etablierter Leitvorstellungen besteht. Welche Bedeutung und welche Konsequenzen haben aber anthropologische Reflexionen hinsichtlich des Selbstverständnisses und indirekt des Glücksverständnisses der Menschen? Indem eine integrative Human- oder Lebenswissenschaft vom Menschen nicht nur im Zeichen einer naturwissenschaftlich-erklärenden Anthropologie einen natursystematischen Begriff, sondern auch einen Wesensbegriff aus einer geisteswissenschaftlich-verstehenden Perspektive zu gewinnen sucht, ist sie konfrontiert mit der Schwierigkeit, zwischen Natur- und Kulturmensch keine klare Grenze ziehen zu können. Auch wenn in Gehlens Worten grundsätzlich gilt: »der Mensch muss sein Wesen deuten und von daher sich selbst und anderen gegenüber stellungnehmend sich verhalten«, 20 besteht diese Notwendigkeit doch nur graduell, ohne dass hinsichtlich des »gewissen Grades« untrügliche Zahlenangaben erwartet werden dürften. »Der Mensch ist bis zu einem gewissen Grade dazu verurteilt, so zu sein, wie er interpretiert wird, bzw. er hat bis zu einem gewissen Grade die Freiheit, sich zu interpretieren.« 21 Im Schnittfeld Als vehementer Gegner einer vorsätzlichen Relativierung und Historisierung des Wesensbegriffs, durch welche die Not zur Tugend umgemünzt werden, zeigt sich Kunz: »Der Historismus (und Soziologismus) behält stets dort recht, wo er ein sich selbst verabsolutierendes, als ›endgültig‹ oder ›apriorisch‹ sich anbietendes anthropologisches Diktum auf die seine Geltung begrenzenden geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des Forschers hin relativiert. […] Aber völlig verfehlt scheint es uns zu sein, aus der ›Not‹ der historischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Abhängigkeiten des Anthropologen eine polemische ›Tugend‹ zu machen und das Wesen als Funktion der jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Situation einschließlich iherer praktischen Veränderung zu bestimmen, wie es Marcuse getan hat.« (Hans Kunz: Grundfragen der psychoanalytischen Anthropologie, S. 30) 20 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, S. 9. 21 Dietmar Kamper: Geschichte und menschliche Natur, S. 33. »Genau hier: in dem ›ge19

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der allgemeinsten Anlagen seiner besonderen WahrnehmungsDenk- und Handlungsweisen, welche die Natur ihm als festes Erbteil mitgab, und dem Insgesamt kultureller Werte und Ideale seiner Lebenswelt stehend, verändern die anthropologischen Erkenntnisse des Menschen zweifelsohne seinen offenen Seinsbestand: 22 Die Idee, die er sich von sich macht, gewinnt die bestimmende Kraft eines Ideals und avanciert zum ethischen Postulat. Eine umfassende lebenswissenschaftliche Anthropologie enthielte also neben der Deskription dessen, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat (Naturwissenschaft) sowie der unterschiedlichen kulturellen Stellungnahmen zu diesem (Kulturanthropologie) eine kritisch-normative Interpretation der natürlich-kulturellen Situation des Menschen (Ethik). Bereits im Altertum initiierten die Sophisten eine bahnbrechende »anthropologische Wende«, 23 indem sie mit Verweis auf das damals verfügbare ethnologische Material klarstellten, dass unsere kulturellen Einrichtungen von Sitte und Recht nicht naturgegeben (fÐsei), sondern von Menschenhand gesetzt (qffsei) und somit beliebig modifizierbar seien, wodurch sie die Vorstellung vom Menschen als Kulturwesen wachriefen und das simple Schema Griechen-Barbaren zu überwinden trachteten. Als Wurzeln der modernen selbstbezeichnenden, d. h. expliziten »Philosophischen Anthropologie« werden trotz der unerschöpflichen kulturellen Vielfalt an Menschenbildern in der europäisch-abendländischen Tradition zumeist folgende zwei ermittelt: Die griechischantike und die jüdisch-christliche Idee des Menschen. 24 Von den Griechen wird der Mensch, wie bereits ins Bild gesetzt, als Vernunftwissen Grade‹, liegt das Problem des Menschen und der Anthropologie«, warnt uns Kamper (ebd.). 22 Vgl. Landmann: »Normalerweise ruft eine Erkenntnis bei der erkannten Sache keine Veränderung hervor. Die Dinge haben ihren festen Seinsbestand, und die von außen an sie herantretende Erkenntnis bedeutet für sie keinen Eingriff. […] Der Mensch dagegen macht von dieser allgemeinen Regel eine Ausnahme. Er hat keinen unveränderlich abgeschlossenen Seinsbestand.« (Landmann: Philosophische Anthropologie, S. 7) 23 Nachdem sich die Vorsokratiker überwiegend mit Naturphilosophie befassten, entdeckte Sokrates den Menschen unter der Perspektive der Ethik und der Sozialphilosophie, die Sophisten aber unter der Perspektive der Kulturphilosophie. Landmanns Schluss, letztere seien »die ersten Anthropologen, weil sie die ersten Kulturphilosophen« waren (ebd., S. 30), ist natürlich bei unserem weiten Anthropologie-Begriff keineswegs zwingend. 24 Vgl. etwa Diemer: Philosophische Anthropologie, S. 35 f. oder Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 9. Scheler nennt als dritten anthropologischen Gedankenkreis denjenigen der modernen Naturwissenschaften und der genetischen Psychologie.

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wesen definiert, so zwar, dass hier der besagte kulturanthropologische Rückkoppelungseffekt aufs schönste zum Tragen kommt. Denn einerseits ist diese Idee des Menschen »bereits Ausdruck ihrer auf Rationalität, auf Form, Gesetz, Exaktheit gerichteten Kultur, aber gleichzeitig wirkt diese Anthropologie auf die Kultur zurück, weil die Menschen das, was sie ihrem Wesen nach zu sein glauben, immer mehr auch sein wollen.« 25 Wenn das oberste menschliche Gut die Entfaltung der Vernunft darstellt, so lautet die untrügliche Logik des Aristoteles, kann nur derjenige glücklich genannt werden, der sein Leben rational führt und in den Dienst der Weisheit als seines höchsten Strebensziels stellt. Für den Christen jedoch, der den Menschen als Ebenbild Gottes versteht und daraus sowohl eine Solidaritätshaltung gegenüber allen anderen gottgeschaffenen Mitkreaturen wie auch einen Herrschaftsauftrag über alles Gott weniger Ähnliche ableitet, liegt der Daseinsschwerpunkt eindeutig im Jenseits: 26 Sofern der Mensch sein irdisches Dasein demutsvoll auf Gott ausrichtet, kann er zwar bereits im Diesseits mit einer unvollkommenen Glückseligkeit (»beatitudo imperfecta«) rechnen, wohingegen ihn vollendete Glückseligkeit (»beatitudo perfecta«) erst im himmlischen Gottesreich erwartet. 27 Um glücklich zu sein, so bestätigen beide Traditionsstränge an den Wurzeln europäisch-abendländischer Anthropologie, muss man allererst Klarheit darüber erlangen, was der Mensch eigentlich sei. Setzt man sich seine Ziele im Rahmen des traditionellen Menschenbildes, der gängigen Leitvorstellung von »Natur« oder »Bestimmung« des Menschen, orientiert man sich augenscheinlich nicht an empirischen, beobachtbaren Natur-Tatsachen, sondern vielmehr an soziokulturellen, weshalb (kultur-)anthropologische wie eudaiamonologische Reflexionen immer zugleich eine deskriptive wie kritisch-normative Komponente aufweisen. Schreitet man in die Neuzeit vor, scheint hier die Etablierung und wissenschaftliche Institutionalisierung der Anthropologie mit einer gravierenden Krise des menschlichen Selbstverständnisses zusammenzufallen. Nach der Erschütterung des religiösen Menschenbildes in der Spätscholastik, beraubt jeder konsolidierenden LebensDiemer: ebd., S. 9. Vgl. zum christlichen Menschenbild Erich Benz: Der Mensch in christlicher Sicht, insbes. S. 374 ff. Die Idee vom Menschen als Bild Gottes nährt sich von der Bibelstelle 1. Mose 1.27: »Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.« 27 Vgl. Bernhard Lang: Die christliche Verheißung, S. 121 ff. 25 26

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und Weltordnung, wird der neuzeitliche Mensch sich selbst nämlich peu à peu zum Problem: »Im Tiefsten aber entspringt die Frage nach dem Menschen weder der Philosophie noch den Wissenschaften, sondern einer Not der Zeit.« 28 Aufgerufen zur radikalen Selbstbefreiung und Selbstermächtigung zum Zwecke der Wiedergeburt des Menschen aus dem Geist der Antike versucht der Mensch, sich nicht mehr von der göttlichen Schöpfung noch auch von kosmologischen Strukturen her zu deuten, sondern sich »aus sich selbst heraus zu verstehen« (Wilhelm Dilthey). In seiner an der Schwelle zur Neuzeit verfassten Rede Über die Würde des Menschen (1486) erblickt Giovanni Pico della Mirandola die Würde als höchstes Gut der Menschen daher weder in bestimmten empirisch beschreibbaren Seinsbestimmungen noch in artspezifischen Fähigkeiten (wie etwa das Denken der Vernunft), sondern vielmehr in der menschlichen Freiheit, sich selbst zu gestalten, dabei entweder zum Göttlichen aufsteigend oder zum Tierischen degenerierend. Diese Freiheit der Wahl, der individuellen Selbstbestimmung und Zielsetzung verspricht denn auch verheißungsvoll, das Glück des neuzeitlichen Menschen zu begründen: »Müssen wir darin nicht zugleich die höchste Freigiebigkeit Gottvaters und das höchste Glück des Menschen bewundern? Des Menschen, dem es gegeben ist, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will. Denn die Tiere, sobald sie geboren werden, tragen vom Mutterleibe an das mit sich, was sie später besitzen werden, wie Lucilius sagt. Die höchsten Geister aber sind von Anfang an oder bald darauf das gewesen, was sie in alle Ewigkeiten sein werden. In den Menschen aber hat der Vater gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art hineingelegt.« 29

Der Mensch ist mithin – wie es später von existenzialistischen Humanisten verkündet wird –, »nichts anderes als wozu er sich macht« 30 ! Trotz der enthusiastischen Wiederentdeckung des Menschen in der humanistischen Renaissance 31 und der aufklärerischen ErzieLandmann fährt fort: »In allen Zeiten einer konsolidierten Lebensordnung hat der Mensch ein umrissenes Bild von sich. Er glaubt zu wissen, wer er ist, und braucht deshalb nicht nach sich zu fragen. Dem heutigen Menschen dagegen, trotz oder vielleicht gerade wegen seines mannigfaltigen Sichauskennens in der Menschenwelt, fehlt ein solches gültiges Bild von sich.« (Landmann: Philosophische Anthropologie, S. 40) 29 Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, S. 11. Vgl. zum Glücksverständnis der Renaissance generell Kapitel 2.1, S. 62 ff. 30 Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, S. 11. 31 Es war der protestantische Humanist Otto Casmann, der als erster den Ausdruck 28

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hungsbestrebungen zur Mündigkeit und zu verantwortungsbewussten sittlichen Persönlichkeiten, 32 schlug die Tugend der Selbstbestimmung, im 18. Jahrhundert geradezu ein Synonym zu Glück, 33 im Zuge mehrerer Individualisierungsschübe allmählich in Not und Ratlosigkeit um. Die moderne Philosophische Anthropologie wird im Grunde »seit ihrer Geburtsstunde durch Skepsis begleitet«, registriert Heinz Paetzold, und »verdankt sich in ihren Ursprüngen einer spezifisch historischen Erfahrung, nämlich der Erfahrung eines alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassenden Traditionsbruches.« 34 Ausgestattet mit den Samen aller Möglichkeiten und Lebenskeime jeder Art, weiß der Mensch immer weniger, was er wünscht, je tiefer die historische Erfahrung eines schlechthinnigen Traditionsbruches greift. Lanciert wurde diese einerseits durch die von den neu ins Leben gerufenen vergleichenden Geisteswissenschaften wie Ethnologie, Völkerpsychologie und Universalhistorie akkumulierten Kenntnisse über fremde Kulturen, die von den Aufklärern und Neuhumanisten vorderhand noch »in einer Philosophie der zur Menschheit erweiterten Geschichte aufgefangen und verarbeitet« 35 werden konnten. Zum zweiten haben die ungleich mächtiger aufstrebenden Naturwissenschaften sämtliche idealistischen Menschenbilder wirkungsvoll denunziert, ohne dass sich deren eigene reduktionistische, materialistische Gegenmodelle vom Menschen als Maschine (Julien La Mettrie) bis hin zum Triebwesen Mensch (Sigmund Freud) hätten durchsetzen können, weil sie dem von den Aufklärern unaufhaltsam ins Rollen gebrachten Gang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit allzu offenkundig im Wege standen. Zwar setzt auch die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts, in dessen 20er Jahre sämtliche philosophischen Disziplinen »auf Anthropologie zu kon»Anthropologie« in einem Werktitel verwendete, nämlich in: Anthropologische Psychologie oder Lehre von der menschlichen Seele von 1596 (vgl. Landmann: Philosophische Anthropologie, S. 5). »Anthropologie« figuriert aber bereits seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts als Bezeichnung für die Lehre vom »Wesen« oder der »Natur« des Menschen, meist wie bei Casmann in Körperlehre (Medizin) und Seelenlehre (Psycholgie) unterdividiert. 32 Im Gegensatz zur neu aufblühenden Anthropologie versuchte Kant, die Anthropologie kritisch in der Ethik zu begründen, weil der Mensch seine unantastbare Würde laut Kant erst dank Moralität gemäß dem Kategorischen Imperativ erlangt. Vgl. zur kantischen Anthropologie Johannes Schwartländer: Der Mensch ist Person, S. 7 und S. 18. 33 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Die Angst vor dem Glück, S. 153 oder Kapitel 2.2, S. 96 f. 34 Heinz Paetzold: Der Mensch, S. 453. 35 Ebd. A

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vergieren« 36 scheinen, mit einer »Wende zur Natur« ein, d. h. mit einem Blick auf die konkreten Forschungsresultate von Biologie, Ethnologie, Psychologie und Medizin. Ihr erklärtes Ziel war es aber, deren fraktionierende Betrachtungsweise mittels eines eigenen Zugangs zum menschlichen Sein zu überwinden, um zu vereiteln, dass vom Menschen »ein bloßer Draht [übrigbleibt], an dem die zur Marionette gewordene Existenz ihre toten Bewegungen ausführt« 37 . Doch was sind die Alternativen? Ohne dass wir hier sämtliche Kategorien der modernen Philosophischen Anthropologie ins Feld zu führen brauchten, sollen doch einige der durch ihre drei Hauptexponenten Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen angeregte Grundtendenzen sichtbar gemacht werden, soweit sie für ein anthropologisches Fundament einer aktuellen Glücksphilosophie von Bedeutung sind. Zunächst fällt auf, dass man vor jeder inhaltlichen und konkreten Bestimmung des menschlichen Wesens oder seines objektiv »Guten«, also vor dem »Was« des Menschen zurückscheut zugunsten formal-offenhaltender anthropologischer Konstanten. Eine erste solche universelle Konstante wird durch den Komplex Instinktreduktion, Antriebsüberschuss und Plastizität der Triebe umschrieben: Während Gehlen unter »Instinktreduktion die spezifisch menschliche Entbindung oder Abschaltung auch elementarer Bedürfnisse von der physischen Motorik versteht, die kaum mehr über erblich festgelegte, angeboren zweckmässige Verlaufsformen – eben instinktive – verfügt und deswegen ›menschlich‹ ist, d. h. unendlich variabel und reizoffen«, identifiziert er »Antriebsüberschuss« mit »einer durch Reduktion der Instinkte und ihrer Umweltentfesselung entlasteten, freiwerdenden Triebkraft, die in Leistungsenergie umsetzbar ist und der chronischen Dauerbedürftigkeit des Menschen zur Verfügung steht.« 38 Wo Freud im Rahmen seines späteren psychodynamischen Menschenmodells einen Dualismus von Lebens- und Todestrieben postuliert, die in gänzlicher Absehung der situativen Umwelt auf Selbsterhaltung und sexuelle Befriedigung bzw. auf Zerstörung von Leben zielen, automatisch mit bestimmten Objektklassen gekoppelt sind und allen-

Landmann: Philosophische Anthropologie, S. 37. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 37. 38 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 21. Vgl. auch ders.: Der Mensch, S. 57 ff. 36 37

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falls verdrängt, verkehrt oder sublimiert werden können, 39 diagnostiziert Gehlen eine »Plastizität« des menschlichen Antriebslebens als eine genuine Entwicklungsfähigkeit und »Weltoffenheit« aller menschlichen Antriebe. Statt wie Freud den absurden Beleg erbringen zu wollen, der platonische »Eros« beweise mit »seiner Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechtliebe […] eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft, der Libido der Psychoanalyse« 40 – obgleich der philosophische Eros an der Stelle lustvoller Entladungen von Triebspannungen die Zeugung unsterblicher, das IrdischMenschliche transzendierender guter Taten und Gedanken anvisiert –, 41 gilt es vice versa mit Gehlen die extreme geistige Formund Lenkbarkeit unserer instinktentbundenen Triebkräfte in Rechnung zu stellen. Mag man Freuds libidinöse Engstirnigkeit nun der materialistisch-physikalistischen Denkweise oder der spezifischen, vorwiegend weiblichen bürgerlichen Klientel seiner Zeit zur Last legen, verfügen Schelers antagonistische anthropologische Schlagworte der »Weltoffenheit« und »Sachlichkeit« im Anschluss an Gehlens Instinktreduktions-Theorem zweifelsohne über bedeutend mehr Überzeugungskraft. »Ein ›geistiges‹ Wesen ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ›umweltfrei‹ und, wie wir es nennen wollen, ›weltoffen‹ : Ein solches Wesen hat ›Welt‹.« 42 Ist das Tier mit seiner Umwelt verzahnt und geht jede seiner Handlungen oder Reaktionen aus von einer physiologischen Zuständlichkeit seines Nervensystems, der auf der psychischen Seite Instinkte, Triebimpulse und sinnliche Wahrnehmungen zugeordnet sind«, 43 erhält der Vgl. zu Freuds psychodynamischer Trieblehre Hermann-Josef Fisseni: Persönlichkeitspsychologie, S. 16 ff. sowie Kapitel 3.2, S. 199. 40 Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 54, im Rekurs auf eine Studie von Nachmansohn und Pfister mit dem provokatorischen Titel Platon als Vorläufer der Psychoanlayse. 41 Im Gegensatz zum freudschen »Eros«, der sich aus den rein sinnlichen Trieben der Selbsterhaltung und der Sexualität zusammensetzt, wird der platonische Eros im Symposion als dämonischer Mittler zwischen Menschlichem und Göttlichem eingeführt (vgl. ebd., 203a), den die Menschen als ein Begehren nach dem Schönen erfahren (204b). Obgleich es sich zumeist an schönen sinnlichen Objekten (Leibern) entzündet, ist das Ziel des erotischen Strebens keineswegs die lustvolle Entladung der Triebspannung nach dem Modell geschlechtlicher Vereinigung, sondern die »Erzeugung und Ausgeburt im Schönen« zur Erlangung der Unsterblichkeit (206e), wobei geistige Geburten bei weitem höher bewertet werden als leibliche (209d). 42 Scheler: Die Stellung des Menschen, S. 38. 43 Ebd., S. 39. 39

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Mensch im Verkehr mit der Wirklichkeit wesentliche Impulse von einer objektiven Außenwelt. Sein »Verhalten wird vom puren Sosein eines zum Gegenstand erhobenen Anschauungs- und Vorstellungskomplexes ›motiviert‹, und dies prinzipiell unabhängig von der physiologischen und psychischen Zuständlichkeit des menschlichen Organismus«. 44 Während das Tier auf einen ganz bestimmten Ausschnitt der Welt gleichsam instinktmäßig getrimmt ist, in welchem es sämtliche Dinge nur als Korrelate seiner vitalen Interessen wahrnimmt, so dass die Welt in Fressbares und Nicht-Fressbares, Geschlechtsgenossen und Geschlechtspartner, Beruhigendes und Beängstigendes zerfällt, 45 hat der Mensch also eine Welt von sachlichem Gehalt und mit viel weiterem Horizont vor sich, in der er sich allein kraft systematischer objektiver Erfahrung, soziokulturellen Deutungsschemata und intersubjektiven Werthierarchien zu orientieren vermag. 46 Wenn die Menschen trotz Weltoffenheit und Überflutung durch ungefilterte lebensneutrale Umweltreize handlungsmächtig bleiben wollen, haben sie sich mithin eine Kultur als »zweite Natur« zu erarbeiten, und sich damit zugleich als genuin »soziale Wesen« auszuweisen: »Der Inbegriff der von ihm ins Leben umgearbeiteten Natur heißt Kultur, und die Kultur ist die menschliche Welt.« 47 Auch die von Plessner hervorgekehrte anthropologische Konstante der »exzentrischen Positionalität« illustriert im Grunde diese typisch menschliche Welt-Stellung: Lebt das Tier »zentrisch«, sich naiv im Zentrum der Welt wähnend, kann sich der Mensch von seiner Umwelt sowie seinem Körper distanzieren und sich bewusst zu ihnen ins Verhältnis setzen – er lebt sein Leben in »vermittelter Unmittelbarkeit« und »natürlicher Künstlichkeit«, auf Ebd., S. 40. Vgl. die Forschungsergebnisse Uexkülls, kompiliert in: Landmann: Philosophische Anthropologie, S. 162 ff. oder Gehlen: Der Mensch, S. 35 ff. 46 Auch wenn der Umkreis des vom Menschen tatsächlich Erkannten immer noch sehr begrenzt ist und damit sein Erkennen in quantitativer Hinsicht »perspektivisch« ist, weshalb für Nietzsche das menschliche Pathos der reinen objektiven Erkenntnis lediglich ein Ausdruck von Vermessenheit darstellt (vgl. Nietzsche: ÜWL, S. 875 f.), ist doch der Kontrast zwischen der tierischen Vital- und der menschlichen Erkenntnisbeziehung zur Außenwelt ein prinzipieller, qualitativer. Arthur Schopenhauer behält daher bei seiner Schilderung einer sich aus dem Dienst des Willens befreienden Erkenntnis des (genialen) Intellekts (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, 3. Buch, § 34) trotz Nietzsches Polemik gegen ein solches »klares Weltauge« oder »reines interesseloses Erkenntnissubjekt« (vgl. etwa GM, S. 347 ff.) grundsätzlich Recht. 47 Gehlen: Der Mensch, S. 38. 44 45

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einem »utopischen Standort«. 48 Doch was ist mit solchen formalen Kategorien tatsächlich gewonnen hinsichtlich unseres Menschseinkönnens oder unserer Glücksfähigkeit? Grundsätzlich kann man mit Dietmar Kamper resümieren, dass der »Anspruch der modernen Anthropologie, die säkulare Verunsicherung des Menschen durch Wissenschaft überwinden zu können, […] bis heute nicht eingelöst« ist, 49 dass man den Menschen als Problem offengehalten hat: Der Mensch weiß, inhaltlich gesehen, genauso wenig, was er eigentlich sei, was er aus sich machen kann oder soll. Vielmehr lässt sich mit Kamper sogar monieren, dass das noch von Scheler artikulierte Wissen des Nichtwissens durch die Fülle anthropologischer, zumeist mit naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen gespickter Thesen zunehmend verstellt und verdeckt wurde. »Anthropologie als philosophische Disziplin hat, so betrachtet, selbst dazu beigetragen, dass das Problem des Menschen unversehens verschwand und die anthropologische Frage zu einer belanglosen Frage wurde.« 50 Nachdem sich im Laufe einer schleichenden Entschärfung der anthropologischen Was-ist-Frage generös die naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen wie Medizin oder Biologie bzw. Gen- oder Biotechnik unter der sympathieerregenden Etikette »Lebenswissenschaften« ihrer zuverlässig anzunehmen schienen, und die Werbewelt uns mit veröffentlichten Antworten dazu, was der Mensch an objektiven Gütern von der Zigarettenmarke bis zum Wellnesscenter braucht, um sein Menschsein optimal entfalten zu können, nachgerade zuschütten, wäre es an der Zeit, der Frage ihren Ernst und ihre Tragweite zurückzuerstatten. Auch wenn die oben zitierten namhaften Anthropologien von Scheler, Plessner und Gehlen in Kampers Worten längst »überwehten Trümmern eines Hauses, das nie fertig wurde«, 51 gleichen, müsste man sich anlässlich eines ernsthaften anthropologischen Neuaufbaus im Namen einer integrativen Lebenswissenschaft wohl auf dieses Fundament besinnen. In Frontstellung gegen einen einseitigen Spiritualismus wie einen ebenso einseitigen komplementären Materialismus – sei es in La Mettries formal-mechanischer oder Freuds vitalistisch-triebdynaSo lauten die drei »anthropolgischen Grundgesetze«, welche die Hauptmerkmale der menschlichen Lebenssituation exzentrischer Positionalität beschreiben (vgl. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 309–346). 49 Kamper: Geschichte und menschliche Natur, S. 27. 50 Ebd., S. 28 f. 51 Ebd., S. 29. 48

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mischer Variante – plädieren sie nämlich mit Recht für eine grundlegende Durchdringung von Natur und Kultur, für eine Überwindung des Dualismus von Geist und Körper 52, von Geist und Leben 53 in der menschlichen Interaktion. Eine anthropologische Fundierung der Glücksforschung müsste daher, statt das Subjekt des Glücks nach kartesischem Vorbild auf ein »epistemisches Subjekt« 54 oder mit Gehlen irreführenderweise auf ein »biologisches Mängelwesen« 55 zu restringieren, »in den Mittelpunkt aller weiteren Probleme und Fragen die Handlung stellen, und den Menschen als ein handelndes Wesen definieren – oder als ein voraussehendes oder kulturschaffendes, was dasselbe ist.« 56 Instinktreduktion, Plastizität der Triebe, Weltoffenheit und exzentrische Positionalität implizieren also die anthropologische Fundamentalprämisse: »Der Mensch lebt nicht, sondern er führt sein Leben«, 57 wobei er im handelnden Lebensvollzug zugleich die Kluft zwischen Geist und Sinnlichkeit, Idealität und Realität zu überbrücken vermag. Ein eudaimonologischer Bildungsweg des glücksfähigen Glücks-Mängelwesens Mensch beginnt daher niemals mit dem biologischen Leben, sondern mit der anthropologisch-ethischen Frage nach dem Leben-Können, nach einer »guten« Lebensführung, nach der individuell bestmöglichen Lebens-Form. Was bei der Konzentration auf die spezifisch menschliche Positionalität bei allen drei anthropologischen Protagonisten jedoch in den Hintergrund gerät, ist die im 18. Jahrhundert anlässlich der Blüte der Geschichtsphilosophie entdeckte genuine »Geschichtlichkeit« oder »Teleologie« des Vgl. Mühl: »Wenn die verschiedenen Fragen, auf die Plessner in der Philosophie und Soziologie Antworten sucht, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden sollen, so findet sich dieser in dem Bemühen, den cartesischen Dualismus von Geist und Körper zu überwinden.« (Martin Mühl: Die Handlungsrelativität der Sinne, S. 110) 53 »Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet – es ist ein Grundirrtum, sie in eine ursprüngliche Feindschaft, in einen ursprünglichen Kampfzustand zu bringen«, wendet Scheler gegen Ludwig Klages (Der Geist als Widersacher der Seele) ein (in: Die Stellung des Menschen, S. 87) 54 Pico della Mirandolas anthropologisch hoffnungsvoller Einsatz der Renaissance fand lange Zeit kaum Nachhall, weil man sich seit Descartes’ bedeutsamer neuzeitlicher Wende zum Subjekt nicht mehr eigentlich mit dem Menschen, sondern lediglich mit dem menschlichen Bewusstsein befasste. 55 Vgl. Gehlen: Der Mensch, S. 83. 56 Ders.: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, S. 49. 57 Ders.: Der Mensch, S. 165. Vgl. auch Plessners Formulierung zur menschlichen Antinomie, »sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt« (Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 310). 52

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Menschen, der voraussehend und zwecksetzend ein Leben führt, 58 wenngleich Gehlen betreffs der menschlichen Bedürfnisstruktur am Rande notiert: »Die Teleologie dieser Ausstattung für ein in die Zukunft hinein und nicht nur aus inneren Impulsen, sondern auch aus den wechselnden Weltbedingungen heraus handelndes Wesen ist klar.« 59 Nicht nur bei der aristotelischen Strebensethik mit ihrem Ausgangspunkt, jedes Erkennen und Handeln sei bewusst auf ein Ziel, auf ein »Gut« ausgerichtet, sondern auch in der Neuzeit wird das Glück wie bei Pico della Mirandola immer wieder auf die menschliche Fähigkeit des Zweckesetzens, basierend auf dem »Sich-vorwegsein«- und dem »Vorlaufen-Können« als Modi des exzentrischen Außersichseins, zurückgeführt. Die fundamentalanthropologischen Kernthesen der aristotelischen Glückskonzeption der Nikomachischen Ethik, dass »menschliches Tun sich nur im Blick auf ein eigentümliches telos begreifen lässt«, genauer dass »die apriorische Form möglicher menschlicher Orientierungen als Sinnentwürfe mit entsprechenden Erfüllungsgestalten« verstanden werden muss, 60 und dass das Glück als formaler Titel für die Erfüllung eines das ganze Leben umgreifenden Sinnentwurfs fungiert, scheinen daher problemlos konsensfähig mit neuzeitlichen Glücksvorstellungen. Allein während Aristoteles über diese Analyse der teleologischen menschlichen Handlungsstruktur hinaus das wahre Glück des Menschen unzweideutig an eine intensive und kontinuierliche Entfaltung der bestmöglichen in der Natur des Menschen angelegten Tätigkeit als seines ergon koppelt, 61 haben die neuzeitlichen Naturwissenschaften Vgl. Kapitel 4.1, S. 270 ff. oder Heidegger: »Der Satz: das Dasein ist geschichtlich, bewährt sich als existenzial-ontologische Fundamentalaussage.« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 332) Vgl. zu den zeitlichen Phänomenen des »Vorlaufens« und des »Sich-vorweg-Seins« ebd., S. 264 und 327. 59 Gehlen: Der Mensch, S. 56. 60 Gegen Alasdair MacIntyre, der in Der Verlust der Tugend prätendiert, die Ethik des Aristoteles setze »seine metaphysische Biologie« (ebd., S. 200 sowie S. 218) voraus, d. h. eine umfassende teleologische Ontologie, opponiert Rentsch: »Es findet sich aber kein metaphysisches Argument in der NE, sondern Aristoteles rekurriert stets und ausschließlich auf Paradigmen aus der menschlichen Handlungswelt, um Sinnentwürfe zu erläutern. […] Vielmehr sind die Bestimmungen des Aristoteles im eigentlichen Wortsinn fundamentalanthropologische Bestimmungen, unabhängig sowohl von den jeweils faktischen als Paradigmen fungierenden Sinnentwürfen ebenso wie von einer metaphysischen Naturordnung.« (Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität, S. 290, Zitate ebd.) 61 Vgl. oben, S. 343 f. 58

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den Glauben an solche natürlichen immanenten Zwecke nachhaltig liquidiert. Die in diesem Kapitel eine zentrale Rolle spielende Teleologie hat in ihrer klassischen objektiven Form an der Schwelle zur Neuzeit gewissermaßen eine Inversion erfahren, indem Zwecke nur noch als Selbsterhaltungstendenzen weiter toleriert werden: »Der klassische Gedanke der Zweckhierarchie setzte so etwas wie eine objektive Teleologie voraus: Dinge sind nicht nur für sich selbst Zweck, sondern sie sind an sich Naturzwecke. Die neuzeitliche Ontologie aber kennt Zwecke nur als Tendenzen der Selbsterhaltung, d. h. der Erhaltung dessen, was ist. Man kann die Definition der Teleologie als Selbsterhaltungstendenz eine Inversion der Teleologie nennen.« 62

An die Stelle einer Teleologie mit objektiven, immanenten Naturzwecken tritt zunächst bei Kant ein lediglich heuristisches, exzeptionell für die biologische Forschung reserviertes Prinzip, 63 in kybernetischen Modellen die »Teleonomie« als »zufällige Zweckmäßigkeit« bzw. Finalität mit dem einzigen Ziel der Aufrechterhaltung des Systems, bis dass das neuzeitliche antiteleologische Programm selbst vor dem Bereich menschlichen Handelns nicht mehr Halt macht und die Behavioristen trotz des Selbstverständnisses des Handelnden dieses zum Fall nichtteleologischen Naturvorgehens erklären. Nur wenn man den Menschen im Zeichen eines grassierenden biologisch-reduktiven Denkens neben das Tier stellt, ihn ausschließlich unter der einseitigen biologischen Perspektive der Morphologie betrachtet und die Tauglichkeit seiner Organe und Instinkte für das restringierte telos »Selbsterhaltung« prüft, kann man ihn wie Gehlen in Herders Fußstapfen als »Mängelwesen« diskreditieren: »Dieses Dilemma hat seinen Grund darin, dass sowohl der Mensch wie die Menschenaffen (und weitere Tiere) unter einem allgemeinen Begriff von Tierheit, der an den nicht-menschlichen Tieren gewonnen wurde, begriffen werden, so dass für die Bestimmung des Menschen nur der biologische Reduktionismus oder der Dualismus als Lösung übrigbleiben.« 64 Robert Spaemann: Philosophische Essays, S. 45. Vgl. Kant: KU, zweiter Teil. 64 Gerd Haeffner: Philosophische Anthropologie, S. 22. Zwar haben zahlreiche Kritiker Gehlen zugute gehalten, dass er »die Mängellage des Menschen nicht real, sondern nur für die Erklärung an den Anfang stellt«, also einen fiktiven Ausgangspunkt seiner Einheitstheorie von Natur- und Kulturmensch wählt (vgl. Landmann: Philosophische Anthroplogie, S. 152). »Wenn der Mensch hier und in dieser Beziehung, im Vergleich zum Tier als ›Mängelwesen‹ erscheint, so akzentuiert eine solche Bezeichnung eine Ver62 63

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Gehlens Hypothese: »Die Aufgabe des Menschen besteht in erster Linie darin, überhaupt am Leben zu bleiben«, 65 wozu er Sprache und Kultur als Entlastung benötigt, verkennt aber grundlegend, »dass für den Menschen, indem er durch Sprache und Arbeit über das Nurlebende hinauswächst, das Leben-können gerade aufhört, sich in der Selbsterhaltung zu erschöpfen«. 66 Sowie der Mensch, von Anfang an und wesensmäßig eine Synthese von Natur- und Kulturwesen, statt die Frage nach dem Über-Leben sich diejenige nach dem Leben-Können, nach einem gelingenden erfüllten oder lebenswerten Leben stellt, 67 ließe sich eine moderne Teleologie – vornehmlich im anthropologischen Kontext – als »Postulat der sinnverstehenden Vernunft« 68 begreifen: Der dem Menschen immanente Maßstab, das »Wesen« oder »telos« des Menschen, wäre weder die Sicherung der Selbsterhaltung noch die Weitergabe biologischen Lebens, sondern läge »in der individuell-sozial zu erreichenden, ›echt menschlichen‹ Lebensgestalt«, in der »Idee des sinnvollen Lebens« 69 – Begriffe, die freilich einer im vorliegenden Kapitel zu leistenden Erläuterung bedürfen. Fassen wir zusammen: Formal und fundamentalanthropologisch gesehen ist der Mensch ein exzentrisches, weltoffenes und geschichtliches Wesen, das sein Leben zu führen hat, indem es gemäß dem Teleologie-Postulat der sinnverstehenden Vernunft die partialen Handlungsziele in einem übergreifenden Sinnentwurf integriert. Auf diese fundamentalanthropologischen Prämissen stützt sich unzweifelhaft folgende Glücksdefinition, die im ersten, den Zieltheogleichsbeziehung, hat also nur einen transitorischen Wert, ist kein ›Substanzbegriff‹«, liest man entsprechend bei Gehlen (in: Der Mensch, S. 20). Dieser methodischen Vorgabe lässt sich indes entgegenhalten, dass sich Gehlen erstens nicht durchgängig an sie hält, sondern die Als-ob-Mängelkonstitution des Menschen immer wieder als realen Tatbestand hinstellt (vgl. ders.: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, S. 17 f. oder 46 ff.), und zweitens damit seine eigene methodische Prämisse torpediert, den Menschen als geschlossenes Funktionssystem aus sich selbst heraus begreifen zu wollen (vgl. ders.: Der Mensch, S. 16 f.). 65 Gehlen: Der Mensch, S. 63. 66 Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 146. Kamlah fährt fort: »Schon allein der Vorblick der ›Sorge‹ um künftige Chancen und Entbehrungen, der dem Menschen durch die Sprache zuteil wurde, macht es unmöglich, ihn auf der festgehaltenen biologischen Ebene der Lebens- und Arterhaltung mit anderen Lebewesen zu vergleichen …« 67 Vgl. ebd., S. 147. 68 Spaemann: Philosophische Essays, S. 53. 69 Haeffner: Philosophische Anthropologie, S. 27. A

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rien des Glücks gewidmeten Teilkapitel (5.1) näher erläutert werden soll: »Jemand ist glücklich«, so Rawls, »wenn seine Pläne vorankommen, wenn seine wichtigeren Ziele sich erfüllen, und wenn er sicher ist, dass dieser Zustand fortdauern wird.« 70 Um glücklich zu sein, scheint es unabdingbar und vordringlich, allgemeine formale Fragen nach der motivationalen Struktur menschlichen Lebens, der Art und Weise angemessener Zielsetzungen und nach Gütekriterien unserer persönlichen Lebens- und Selbstkonzepte zu klären. Im zweiten Teilkapitel (5.2) soll als inhaltliche Füllung des somit erstellten formalanthropologisch-eudaimonologischen Grundgerüsts ein Blick geworfen werden auf die anthropologischen »Objektive-Listen«-Theorien, welche nach artspezifischen menschlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten oder Seinsmöglichkeiten fahnden, wodurch das Abstraktionsniveau der Zieltheorien erheblich gesenkt wird. Hier gilt zu prüfen, inwieweit es für das menschliche Glück notwendig oder gar hinreichend sei, die in jedem Menschen potentiell angelegten »objektiven Güter« oder »objektiven teloi« zu aktualisieren, oder ob grundsätzlich nur bestimmte allgemein anerkannte Anlagen und diese nur auf eine gesellschaftlich legitimierte Weise zu entfalten seien. Zur Diskussion steht mithin diejenige »Glückskonzeption, die auf eine Entwicklung und Verwirklichung unserer Anlagen zielt« – ein Ansatz, der laut Michael Baurmann/Hartmut Kliemt »dem gegenwärtigen Menschen gefühlsmäßig so nahe [steht], dass er sich geradezu ›von selbst‹ versteht.« 71 Diese inhaltlichen anthropologischen Modelle, die wir im glücksobjektivistischen Kapitel 4.2 noch aussparten, bilden zugleich die Brücke zur Selbstverwirklichungstheorie des Glücks, welche in Kapitel 6.1 exponiert werden soll.

5.1 Formalanthropologie: Zieltheorien des Glücks Eine große Zahl der Glückssubjektivisten meint, wie sich in Kapitel 4.1 zeigte, dem Wesen des modernen Menschen und der conditio humana unserer Zeit dann am besten Rechnung zu tragen und damit ihrer Glückstheorie größtmögliche Plausibilität zu verschaffen, wenn sie das menschliche Glück an der Erfüllung von persönlichen Wünschen oder Zielen festmacht: »Dass sich unsere Wünsche erfüllen«, 70 71

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John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 447. Michael Baurmann/Hartmut Kliemt: Glück und Moral, S. 13 f.

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so lässt exemplarisch Martin Seel verlauten, »ist das einfachste und naheliegendste Verständnis von Glück.« 72 Da bei unserer Darstellung der Wunschtheorie des Glücks jedoch zutage trat, dass die meisten ihrer Repräsentanten im Sinne eines »reflektierten Subjektivismus« nur menschliche Wünsche zweiter Ordnung und unter diesen allein die realitätsorientierten, handlungsrelevanten »Volitionen« (Harry Frankfurt) im Auge haben, bei denen sich ein geprüfter und vor allen anderen favorisierter Wunsch mittels eines Entschlusses zur zielgerichteten Intention transformiert hat, 73 verdient »Zieltheorie des Glücks« als präziserer Term den Vorzug vor der »Wunschtheorie des Glücks«. »Ein Zuviel an Zielen kann zwar vermehrte Enttäuschung schaffen, trotzdem ist die Entwicklung von Lebenszielen und Interessen eine Voraussetzung für Glück«, 74 bekräftigt der Psychologe Philipp Mayring mit Blick auf das Ergebnis mannigfaltiger empirischer psychologischer Studien, dass das Ausmaß an Lebenszufriedenheit und Glück eines Menschen eindeutig in Abhängigkeit von der Entwicklung und der Art seiner persönlichen Lebensziele steht. 75 Aufgrund der fundamentalanthropologischen, von gegenwärtigen Handlungstheoretikern bestätigten aristotelischen Einsicht in die teleologische Struktur menschlichen Handelns als der »Grundform menschlichen Verhaltens schlechthin« 76 und der analytischen Wahrheit, dass wir die dabei anvisierten praktischen Güter immer auch erlangen wollen, 77 liegt der Schluss zweifellos nahe, dass sich die für unsere Glücks-Stimmung konstitutive Beurteilung der übergreifenden Qualität unseres Lebens auf die Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 88. Vgl. Kapitel 4.1, insbesondere S. 304 f. 74 Philipp Mayring: Psychologie des Glücks, S. 95. 75 Vgl. Bowi: »Theoretische Grundlagen für ihre Überlegungen bilden Studien, die Zusammenhänge zwischen Zielen und dem Ausmaß an erlebter Lebenszufriedenheit hervorheben (Bühler 1969, Levinson, Darrow, Klein, Levinson und Mckee 1978), sowie Untersuchungen, die feststellten, dass Personen mit persönlichen Zielen ihr Leben für bedeutungsvoller halten (Klinger 1977) und ihren Lebensabend insgesamt befriedigender erleben (Lowenthal 1971).« (Ulrike Bowi: Der Einfluss von Motiven auf Zielsetzung und Zielrealisierung, S. 8) 76 Frank Heuberger: Problemlösendes Handeln, S. 46. Vgl. zur Differenz von Handlungen im engeren Sinne und Verhalten ohne (bewusste) Handlungsziele Kapitel 4.1, S. 250. 77 Vgl. Hossenfelder: Die Rolle des Glücksbegriffs, S. 183. Analytisch wahr ist dies, weil ein Ziel per definitionem »dasjenige, dessen Wirklichkeit ich tatsächlich erstrebe« (ebd.) meint. 72 73

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unserer wesentlichen Ziele abstützt: »Jeder Mensch hat ein Bild vor Augen, gleich wie verschwommen, was er vor seinem Tod erreichen möchte. Wie nahe wir an dieses Ziel herankommen, wird zum Maßstab unserer Lebensqualität. Wenn es außerhalb unserer Reichweite bleibt, werden wir vorwurfsvoll und resignieren, wenn es zumindest teilweise erreicht wird, erleben wir Glück und Zufriedenheit.« 78 Zufriedenheit erwies sich streng genommen bei unseren glücksgrammatischen Studien als die kognitive Gefühlskomponente und unabdingbare Grundlage unserer Glücks-Stimmung, indem sie für eine realitätsgerechte Einschätzung unserer Ziele und aktualisierter Handlungsmöglichkeiten bürgt. 79 »Das Glück besteht also in der Verwirklichung aller eigenen Zwecke«, 80 schließt auch Hossenfelder, wobei der »Zweck« ein »Ziel« darstellt, für dessen konkrete Verfolgung wir bereits den Einsatz spezifischer Mittel in Aussicht genommen haben. Begreift man mithin entsprechend unserer einführenden anthropologischen Erörterungen den Menschen als weltoffenes, exzentrisches »handelndes Wesen«, das nicht lebt, sondern sein Leben vorausschauend und zweckesetzend zu führen hat, wird Glück nicht irrtümlich auf das »Empfindungsglück« als Optimum an episodischem, hedonistischem, passiv-zuständlichem subjektivem Wohlbefinden restringiert, 81 sondern im Einklang mit dem philosophischen griechischen eudaimonia-Begriff »als Grundzug eines tätigen Lebens verstanden«. 82 Nicht nur besteht aber aus fundamentalanthropologisch Sicht bezüglich des menschlichen Lebensvollzugs »geradezu ein Finalisierungszwang, da ohne vorgängige Zielsetzung kein Sichverhalten oder gar Handeln möglich ist«, 83 so dass unser Glück von der Erfüllung einzelner (wesentlicher) Ziele abhängig ist. Mihaly Csikszentmihalyi: Flow, S. 24. Vgl. Kapitel 3.2, S. 184 f. und S. 243 f. 80 Malte Hossenfelder: Die Rolle des Glücksbegriffs in der Moralphilosophie, S. 182. 81 Die Irrtümer bei der Vorstellung eines solchen hedonistischen Empfindungsglücks brachten wir in Kapitel 4.1, S. 260–272 ans Licht. 82 Artikel »Glück« in Otfried Höffe (Hrsg.): Lexikon der Ethik, S. 112. Vgl. dazu mein glücksgrammatisches Kapitel 3.1, insbesondere S. 165 mit Bezugnahme auf Aristoteles. Wenn Josef Pieper in seinem Büchlein Glück und Kontemplation postuliert, »das tätige Leben hat seinen letzten Sinn darin, das Glück der Kontemplation möglich zu machen« (ebd., S. 97), liegt eine Verkennung der fundamentalanthropologischen Tatsachen vor, obgleich sie der hier rezipierte Aristoteles in der Nikomachischen Ethik untrüglich erkannte. 83 Hans Krämer: Integrative Ethik, S. 129. 78 79

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Indem jede Handlung, jedes Sichverhalten nur in seiner Verlängerung »nach hinten« in die Vergangenheit und »nach vorne« hin in die Zukunft überhaupt verstehbar wird und Sinn macht, lässt sich vielmehr sogar von einem »minimalen qualitativen Holismus« menschlicher Praxis sprechen. 84 Bevor wir daher die glücksfavorable Art und Weise unserer Zielsetzungen im Rekurs auf vorwiegend psychologische Recherchen zu erhellen suchen, soll, dem Holismus menschlicher Praxis Rechnung tragend, folgende bereits im glückssubjektivistischen Kapitel 4.1 in der Auseinandersetzung mit den »Wunschtheoretikern« gewonnene Einsicht ins Gedächtnis gerufen werden: Menschliches Glück stellt sich mitnichten bei einer blindzügellosen Erfüllung all unserer augenblickshaft aufleuchtenden Wünsche ein, sondern nur aufgrund der erfolgreichen Realisation einer planmäßigen Konstellation von sorgfältig auf ihre Vernünftigkeit (Nicht-Neurotizität) und Aufgeklärtheit (epistemische Informiertheit) geprüften Wünsche. 85 Man kann geradezu als plausible fundamentalanthropologische Prämisse formulieren, »ein Mensch lasse sich auffassen als ein menschliches Leben, das nach einem Plan gelebt wird.« 86 Es gilt folglich in diesem Teilkapitel nicht nur, einzelne Ziele zu analysieren, sondern darüber hinaus und vorgängig ihren Gesamtzusammenhang in Lebensplänen nachzuzeichnen. Für ein zeitstiftendes, auf eine orientierungskonstitutive Erfüllungsrichtung eines umfassenden Sinnentwurfs angewiesenes Wesen 87 gründet sich Glück mithin nicht nur auf die richtige Wahl einzelner Ziele, sondern notwendig auf ein integriertes Set, auf einen Gesamtzusammenhang bzw. zeitlichen Plan koordinierter Lebensziele. 88 Vor dem Horizont der erst noch zu erläuternden »Flow-Theorie« des Glücks appelliert Mihaly Csikszentmihalyi entsprechend an den Glücksucher: »Man braucht einen Gesamtzusammenhang von Zielen, um das Alltagsleben sinnvoll zu gestalten. Wenn man von einer flow-Aktivität zur nächsten schreitet, ohne sie sinnvoll miteinander zu verbinden, wird es am Ende des Lebens schwer, auf die vergangenen Jahre zurückzublicken und einen Sinn in Vgl. Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität, S. 116 f. Vgl. Kapitel 4.1, S. 289–304 f. 86 John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 446, wobei Rawls dieses Menschenbild von Josiah Royce übernimmt. 87 Vgl. dazu Rentsch: Die Konstitution, S. 127 f. 88 Vgl. Rawls bereits oben, S. 360 zitierte Glücksdefinition in: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 447. 84 85

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dem Geschehen zu finden. Wenn man optimale Erfahrung erreichen will, muss man Harmonie in allem finden, was man tut. Diese letzte Aufgabe der flow-Theorie bedeutet, die Gesamtheit des Lebens zu einer einzigen flowAktivität zu gestalten, mit einheitlichen Zielen, die allem beständig Sinn verleihen.« 89

Solche globale Zielkonstruktionen lassen sich prinzipiell sowohl temporär nach der Dringlichkeit von einzelnen Lebenszielen wie hierarchisch gemäß ihrer Allgemeinheit gliedern und strukturieren: 90 Während dringlicheren Zielen unbedingte zeitliche Priorität zukommt, bilden die allgemeinsten und für unser Leben wesentlichsten Ziele die Spitze einer hierarchischen Ordnung: »Ein Plan besteht also aus Teilplänen«, expliziert John Rawls, »die in geeigneter Weise eine Hierarchie bilden, und seine allgemeineren Züge entsprechen den beständigeren Zielen und Interessen, die einander ergänzen. Da sich diese nur in groben Zügen voraussehen lassen, wird über die konkreten Seiten der Teilpläne im Laufe der Zeit unabhängig entschieden.« 91 Im Gegensatz zu langfristigen, persönlichkeitskonstitutiven, durch implizite allgemeine Ziele standardisierten Verhaltenstrends müssen kurzfristige und konkrete Ziele bewusst und reflexiv auf die jeweilige Situation abgestimmt werden. 92 Wie bereits in Kapitel 4.1 angemerkt, wird unsere Lebensplanung oftmals dadurch erschwert, dass uns einerseits zukünftige Wünsche oder Teilziele verborgen sind und uns zum anderen schlechterdings die Erfahrung fehlt, wie es ist, wenn man das generelle Ziel, Vater oder Mutter zu sein, oder ein bestimmtes anvisiertes Karriereziel in concreto realisiert hat. 93 Trotz dieser unvermeidbaren individuellen und situativen Erfahrungsdefizienz hinsichtlich der tatsächlich erfüllenden und beglückenden (zukünftigen) Ziele werden einerseits spätere Wünsche entsprechend unserer Lebenspläne und Zukunftsperspektiven präformiert: »Ziel der Überlegung ist ein Plan, der unsere Tätigkeiten auf die beste Weise organisiert und unsere späteren Wünsche so beeinflusst, dass sich unsere Ziele und Interessen auf fruchtbare Weise zu einem Verhaltensplan zusammenfassen lassen.« 94 Andererseits ist mit Rentsch eine »Untrennbarkeit 89 90 91 92 93 94

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Csikszentmihalyi: Flow. S. 280. Vgl. Holmer Steinfath: Selbstbejahung, Selbstreflexion und Sinnbedürfnis, S. 77. Rawls: Eine Theorie, S. 449. Vgl. Bowi: Der Einfluss von Motiven, S. 51. Vgl. Kapitel 4.1, S. 301. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 449.

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von Entwurf und Erfüllung« in dem Sinne zu konstatieren, »dass wir jeweils im Vollzug unserer Sinnentwürfe schon ein Vorverständnis gelungener Praxis, sinnvollen Zusammenlebens und in diesem Sinne ›erfüllter‹ Verhältnisse besitzen«, denn: »Wir kommen in unseren praktischen Lebenssituationen bereits her von – wenn auch vielfach gebrochenen und rudimentären – Erfahrungen gelungenen Lebens.« 95 Indem wir nämlich nicht nur immer schon in einer gemeinsamen Welt »da« sind, sondern auch ein Reservoir bewährter Sinnentwürfe einzelner Identifikationsfiguren oder sozialer Institutionen vorfinden, haben wir die Teleologie unseres Daseins als »Postulat der sinnverstehenden Vernunft« 96 keineswegs im luftleeren Raum zu konstruieren. Wenn wir aber das höchste telos oder Wesen des Menschen präliminarisch in der individuell-sozial zu erreichenden »›echt menschlichen‹ Lebensgestalt«, in der »Idee des sinnvollen Lebens« zu erblicken meinten, 97 und auch die soeben applizierte formalanthropologische Grammatik eine Affinität von »Sinn« und »Glück« manifestiert, tut eine klare sprachliche Abgrenzung Not. Kann jeder Lebensplan als Sinnentwurf und jedes sinnvolle Leben als ein glückliches Leben identifiziert werden? Ist das »Sinn«-Konzept überhaupt präzise genug, um in einer Lebenswissenschaft Verwendung finden zu dürfen? »Sinn« kann, rein formal betrachtet, menschlichen Handlungen, Strebungen oder dem menschlichen Leben als solchem immer dann attribuiert werden, wenn man bestimmbare und rechtfertigbare Ziele oder Zwecke anzufügen weiß, die ihnen zugrunde liegen. 98 Bei der allgegenwärtigen Frage nach dem Sinn des Lebens insgesamt »bezieht sich das Wort auf die Annahme, dass alle Ereignisse mit Blick auf ein letztes Ziel miteinander verbunden sind, dass es eine zeitliche Ordnung, einen kausalen Zusammenhang zwischen ihnen gibt«, entsprechend der Grunddevise: »ein einheitlicher Zweck gibt dem Leben Sinn.« 99 Da wir gemäß der aristotelischen HandlungsRentsch: Die Konstitution, S. 128. Dabei gelte: »Wir sind keine subjektiven Innenräume, keine voneinander isolierten mikrokosmischen Schachteln. Wir sind mit unseren Sinnentwürfen je bereits in eine gemeinsame Praxis und deren normative Modi – deren Erfüllungsgestalten – eingelassen. Nur so sind wir zu uns selbst gekommen und zu uns selbst geworden.« (ebd., S. 224) 96 Spaemann: Philosophische Essays, S. 53, vgl. oben, S. 359. 97 Vgl. ebd. 98 Vgl. den Artikel »Sinn« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 267. 99 Csikszentmihalyi: Flow, S. 283 und S. 284. Als Paradeexempla für in höchstem Maße 95

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theorie immer nur nach dem »Guten« streben, d. h. nur etwas als positiv Bewertetes zum Ziel erwählen, dürfte die Lebenssinn-Suche tatsächlich »identisch mit der Suche nach Bejahenswertem sein.« 100 »Ein sinnerfülltes Leben ist«, so lässt sich infolgedessen mit Susan Wolf schließen, »im wesentlichen ein Leben, in dem man sich aktiv mit lohnenswerten Vorhaben beschäftigt.« 101 Wer sein Leben vorwiegend mit wertvollen und lohnenswerten Tätigkeiten verbringt, so dass also »ein Leben für das Subjekt dieses Lebens sinnvoll ist, wird es von ihm auch als ein gutes Leben bewertet werden können.« 102 Um der inhaltlichen Präzisierung der Sinn-Frage willen sieht man sich angesichts des Dilemmas, nach welchen Kriterien individuelle Lebensziele als gerechtfertigt oder persönliche Tätigkeiten als wertvoll und lohnenswert zu anerkennen seien, zurückversetzt auf den Kampfplatz zwischen Subjektivisten und Objektivisten: Wenn die Sinnfrage, wie es auch Zarathustra in seiner Rede »Von tausend und Einem Ziele« verkündet, untrennbar mit der Wertfrage verkoppelt ist, so dass ohne Wert und Sinn »die Nuss des Daseins hohl« wäre, 103 muss der einzelne zwar seinem Leben selbst einen Sinn geben mittels den seinen Begabungen und Fähigkeiten adäquaten Zielsetzungen, 104 zugleich aber seine individuellen Wünsche und Strebungen mit den sozialen, niemals solipsistisch begründbaren Werten und Normen vermitteln: »Die Frage nach einem vernünftig zu begreifenden Lebenssinn gehört nicht in den Bereich des privatistischen Irrationalismus, sondern zum gemeinsamen und öffentlichen

gelungene Sinn- und Einheitsstiftungen figurieren daselbst die Lebensprojekte von Napoleon und Mutter Teresa. Vgl. auch Heideggers übereinstimmende Definition: »Der Begriff des Sinnes umfasst das formale Gerüst dessen, was notwendig zu dem gehört, was verstehende Auslegung artikuliert. Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird.« (Heidegger: Sein und Zeit, S. 151, ohne Hervorhebungen) 100 Wilhelm Schmid: Lebenskunst als Ästhetik der Existenz, S. 88. 101 Susan Wolf: Glück und Sinn. Zwei Aspekte des guten Lebens, S. 170. 102 Martin Seel: Wege einer Philosophie des Glücks, S. 116. Seels subjektivistischen Zusatz: »gleichgültig, was andere über den Sinn dieses Lebens denken«, wollen wir indes skeptisch einklammern. 103 »Durch das Schätzen erst giebt es Werth: und ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl.« (Friedrich Nietzsche: Z, S. 75) 104 So lautet die ebenfalls subjektrelative Sinn-Bestimmung Fromms: »Der Mensch muss die Verantwortung für sich selbst akzeptieren und sich damit abfinden, dass er seinem Leben nur durch die Entfaltung seiner eigenen Kräfte Sinn geben kann.« (Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 44)

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Leben der Menschen.« 105 Obgleich die Sinnfrage erst nach dem neuzeitlichen Zerbröckeln von festen religiösen und traditionalen intersubjektiven Strukturen ihren Durchbruch erlebte, ist jeder individuelle Sinnentwurf notwendig eingebettet in eine gemeinsame Weltanschauung als Grundlage unseres zielstrebigen Agierens in die Welt hinein, so dass Sinn immer zugleich in unserem Leben wie in der geteilten Lebenswelt aufleuchten muss. »Wer keinen Sinn in der Welt sieht, weiß auch nichts mit sich und der Welt anzufangen und wird teilnahmslos. Teilnahmslosigkeit am Weltgeschehen führt zu einem Warten ins Leere hinein, zu einem Warten ohne Erwartung. […] Von existentieller Langeweile geplagte Menschen nehmen meist auch eine sehr negative Haltung gegenüber dem Staat und anderen gesellschaftlichen Insitutionen ein. Durch ihre Erwartungshaltung bestärkt, erhärtet sich ihre Ansicht, dass in unserem Staat und in unserer Gesellschaft alles im argen liegt. Jeder Mensch braucht ein sinnstiftendes Weltbild, mit dem er sich identifizieren kann, und das ihm Aufgaben stellt, die er erfüllen will. Dieses Weltbild kann religiös und/oder philosophisch begründet sein.« 106

Statt privatissime erzeugt, muss er mithin gefunden werden 107 im Wechselverhältnis von individuellem Sinnerleben, der Erfahrung von Erfüllung beim Realisieren persönlich strukturierter Lebenspläne und dem solidarischen oder normativen Sinnhorizont der öffentlichen Welt. 108 Wenn der Sinnfaktor bei unmittelbaren empirischen Befragungen nur schwach mit Lebensglück korreliert, 109 ist dies wohl nicht zuletzt der alltagssprachlichen Obskurität des Sinn-Konzeptes zur Last zu legen, weshalb sich fragliche Korrelativität sicherlich weit besser auf indirektem Wege über das Erfassen von Bedeutsamkeit, interner Vernetztheit und weltanschaulicher Verankerung unserer Rentsch: Die Konstitution, S. 204. Hans Zeier: Arbeit, Glück und Langeweile, S. 152 f. 107 »Sinn muss gefunden, kann aber nicht erzeugt werden. Was sich erzeugen lässt, ist entweder subjektiver Sinn, ein bloßes Sinngefühl, oder – Unsinn.« (Viktor Frankl: Der leidende Mensch, S. 15) 108 Vgl. zu dieser Vermittlungsleistung Nancy Cantors Lebensaufgaben-Forschung in: Manfred Sader/Hannelore Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 139 f., Rentsch: Die Konstitution, S. 210 f. oder Höffe: Lexikon der Ethik, S. 267 f. 109 »Einen Lebenssinn gefunden zu haben, stellt ein – wenn auch schwächeres – Glückskorrelat dar. Theoretische Ansätze betonen dieses Element ja sehr. […] Auch Religiosität als eine Form des Lebenssinns korreliert in einigen Studien mit Glück. Bei Frauen und bei alten Menschen scheint diese Dimension wichtiger zu sein …« (Mayring: Psychologie des Glücks, S. 95) 105 106

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Lebensziele sowie die persönlichkeitsintegrierende Kraft eines umfassenden Sinnentwurfs ermitteln ließe. 110 Beunruhigender als diese Schwierigkeiten einer empirischen Verifikation ist der durch unsere Alltagserfahrung geweckte Zweifel an der Möglichkeit und Wirklichkeit solch ausdividierter Verhaltenskontrollen und handlungsleitender Sinnkonstrukte überhaupt. Wird der nach Glück strebende Mensch nicht größtenteils von unbewusst und naturhaft in ihm keimenden Motiven getrieben, wie dies etwa Friedrich Nietzsche im Rahmen seiner Selberlebensbeschreibung ins Bild setzt, so dass ein noch so raffiniertes eudaimonologisches Bildungsprogramm im Zeichen einer Zieltheorie des Glücks von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre? »Man muss die ganze Oberfläche des Bewusstseins – Bewusstsein ist eine Oberfläche – rein erhalten von irgend einem großen Imperative. Vorsicht selbst vor jedem großen Worte, jeder großen Attitüde! Lauter Gefahren, dass der Instinkt zu früh ›sich versteht‹ – Inzwischen wächst und wächst die organisierende, die zur Herrschaft berufne ›Idee‹ in der Tiefe, – sie beginnt zu befehlen, sie leitet langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück, sie bereitet einzelne Qualitäten und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich erweisen werden, – sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen aus, bevor sie irgend Etwas von der dominirenden Aufgabe, von ›Ziel‹, ›Zweck‹, ›Sinn‹ verlauten lässt.« 111

Wächst beim Menschen – oder nur beim »Übermenschen« – die verhaltensdeterminierende »Idee« instinktiv hervor wie die von der Potenz zum Akt drängende »Idee« eines Tieres oder eines Baumes, 112 so dass sich sämtliche anthropologischen, ethischen und eudaimonologischen Reflexionen erübrigten? Wählen die Menschen gar nicht bewusst ihre um des Glücks willen in einem umfassenden Sinnentwurf zu integrierenden Handlungsmotive oder Ziele aus? Grundsätzlich wird in der Motivationspsychologie, die sich um Erklärungsmodelle für teleologisches, also zielgerichtetes Verhalten (Handeln in einem weiten Sinne) bemüht, ein Motiv als »Beweggrund, Antrieb, Ursache, Zweck, Leitgedanke oder Bestimmungsgrund menschlichen Verhaltens« definiert: Als Motive gelten »alle 110 Auch Mayring legt nämlich nahe: »Dieser Sinnfaktor wirkt dabei einerseits in seiner persönlichkeitsintegrierenden Kraft; und Glück wurde ja als die ganze Persönlichkeit betreffend dargestellt […]. Andererseits werden daraus erreichbare und befriedigende Lebensziele abgeleitet.« (ebd.) 111 Nietzsche: EH, S. 294. 112 Vgl. das Zitat in Kapitel 1, Fußnote 43, S. 20.

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einer zielgerichteten Handlung vorauslaufenden, situationsübergreifenden und zeitlich stabilen individuellen Besonderheiten«, 113 die uns entweder drängen (Bedürfnisse) oder anziehen (Zwecke) können. Während der Jurist bei der Frage nach dem Tatmotiv an die Adresse eines Verbrechers die Nennung einer rationalen Absicht, eines klaren Ziels erwartet, dringt die Frage nach dem persönlichkeitsspezifischen Motiv seitens des Psychologen tief in seelische Bereiche – bis zu Nietzsches instinktiv wachsender »Idee« – hinein: »Das Motiv ist der Beweggrund, ist die Quelle, aus der die Handlung entquillt. Die Absicht ist das Ziel, auf das die Handlung gerichtet ist. Bei der Vorbereitung der Handlung wird dieses Ziel dem Täter häufig vor Augen schweben, aber er wird sich des Motivs in sehr vielen Fällen gar nicht bewusst sein. Dieses Motiv, diese Herkunft, diese Quelle sitzt im Wesen, im Charakter, im ›Grunde‹ des Menschen, auf den ja die ganze Aufmerksamkeit des Psychologen gerichtet ist. Nach den Motiven forschen, heißt, nach den Wesenszügen der Menschen forschen. Motivforschung ist Persönlichkeitsforschung.«114

Wirft man angesichts dieser Verkoppelung der Motiv- mit der Persönlichkeitsforschung einen Blick auf die Persönlichkeitspsychologie, treffen wir hier auf die Opposition zwischen Eigenschaftstheoretikern oder Personalisten und den Situationisten, deren Grundthesen daher kurz vorgestellt werden müssen, um das menschliche Glücksstreben transparent zu machen. Die Gretchenfrage bei dieser Kontroverse lautet: »Ist das Individuum eher Produkt überdauernder Eigenschaften, die transsituativ stabil bleiben und mit konsistenen Verhaltensweisen einhergehen (Personalismus, Trait-Ansatz), oder sind Erleben und Verhalten situationsabhängig instabil und variabel (Situationismus)?« 115 Die Eigenschaftstheoretiker bestimmen die Persönlichkeit wie in der eben zitierten Stellungnahme als Produkt überdauernder, transsituativ stabiler und ihr konsistentes Verhalten vollständig determinierender Eigenschaftsmuster. 116 Aus ihrer Warte scheint es so, als ob die für unsere meist unbewussten Motive verantwortliche chaArtikel »Motiv« in Axel Hillig (Bearb.): Die Psychologie (Schülerduden), S. 255. H. W. Gruhle: Ursache, Grund, Motiv, Auflösung, S. 41. 115 Hans Mogel: Persönlichkeitspsychologie, S. 97. 116 Der Persönlichkeitsbegriff hat in der Psychologie weitgehend denjenigen des »Charakters« abgelöst und fungiert unter Eigenschaftstheoretikern »als umfassende Bezeichnung für die Beschreibung und Erklärung des einzigartigen und individuellen Musters von Eigenschaften eines Menschen, die relativ überdauernd dessen Verhalten bestim113 114

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rakterliche Disposition einer Persönlichkeit »alleine, ohne Rücksicht auf das Schicksal, über das Glück eines Menschen entscheidet«, weshalb »glückliche Naturen« wie Cato der Ältere oder Napoleon unter schlechthin jeder Lebensbedingung zum Glück auserkoren wären: »Livius schrieb über Cato den Älteren, er habe eine solche Natur gehabt, dass er unter jeden Lebensbedingungen hätte glücklich sein können. Das gleiche dachte Bonaparte über sich selbst: Bereits auf Elba ließ er an dem Haus, in dem er wohnte, die Aufschrift anbringen: ›Napoleo ubicumque felix‹, ›Napoleon ist überall glücklich‹. Genauso aber gibt es Menschen, deren eigene Veranlagung sie auf unvermeidliche Art unglücklich macht. Was auch immer sie trifft, sei es auch das Günstigste, zerschlägt sich an ihrer Haltung und erhöht lediglich ihre Unzufriedenheit mit dem Schicksal und mit sich selbst, verstärkt ihr Gefühl der Nichtigkeit, des Unglücks.« 117

Da sich in groß angelegten Längsschnittstudien immer wieder eine hohe intraindividuelle Stabilität des Glücks ergab, so zwar, dass sich das Niveau an persönlichem Lebensglück nur wenig veränderte bei einem völligen Umsturz der Lebensumstände, 118 scheint eine enge Korrelation von Glück und den für unsere Handlungsmotivation ausschlaggebenden Persönlichkeitsfaktoren außer Zweifel zu stehen: Ausgehend von den beiden Grunddimensionen Extraversion und Neurotizismus im eigenschaftstheoretischen Persönlichkeitsmodell von Jürgen Eysenck 119 etwa eruierte man die Freiheit von psychischen und psychosomatischen Beschwerden auf der Neurotizismusachse, Soziabilität und Aktivität bezüglich der Extraversionseben als wesentliche Glückskorrelate. 120 Wer also aufgrund dieser Eigenschaften äußerst aktiv und sozial engagiert ist, wäre zum Glück geradezu prädestiniert. Bereits Arthur Schopenhauer schwärmte vom Frohsinn des heiteren sanguinischen »Temperaments«, lexikalisch eingeführt als »die men (Eigenschaftstheorien).« (Artikel »Persönlichkeit« in Hillig: Die Psychologie, S. 287) 117 Wladyslaw Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 212 und S. 213. Tatarkiewicz beschreibt solche scheinbar schicksalsresistente Glücks- oder Unglücksnaturen allerdings als Ausnahmefälle: »Im allgemeinen tritt die glücklichmachende Funktion des Charakters nur dann zutage, wenn sie auf das entsprechende Schicksal trifft« (ebd., S. 212). 118 Vgl. zu diesen Studien von Costa/McCrae oder McCrae/Zimmermann Mayring: Psychologie des Glücks, S. 84. 119 Mit der Eigenschaftstheorie der Persönlichkeitspsychologie verbindet man in der Regel die Namen Gordon Allport, Jürgen Eysenck und Raymond Cattell. Vgl. dazu Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 95–105. 120 Vgl. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 94.

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für ein Individuum spezifische, relativ konstante Weise des Fühlens, Erlebens, Handelns und Reagierens«: 121 »Was nun aber, von ihnen allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes; denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist, hat allemal Ursache es zu sein: nämlich eben diese, dass er es ist. Nichts kann so sehr wie diese Eigenschaft jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist.« 122

Gewissermaßen als moderne naturwissenschaftliche Bestätigung dieser Hypothese propagieren Neuropsychologen der Gegenwart die »Erblichkeit des Glücks«, weil sich eine konstante, mutmaßlich angeborene Verteilung der Hirnströme auf den beiden Hirnhälften mit direkter Auswirkung auf Temperament und Verhalten nachweisen ließ: Personen mit starkem Übergewicht und erhöhter Aktivität des linken Stirnhirns scheinen »wahre Sonntagskinder« mit einem »Glücksgen« zu sein, denen es in die Wiege gelegt wurde, das Leben von seiner schönen Seite zu sehen. »Offenbar gibt es also eine Grundstimmung des Gehirns, die festlegt, auf welche Art von Reizen wir stärker und schwächer reagieren: Je nach Gemütsverfassung leben wir in einer rosarot oder grau grundierten Welt«, postuliert Stefan Klein und zitiert einen namhaften Forscher in diesem Bereich mit folgenden entmutigenden Worten: »Möglicherweise sind alle Versuche, glücklicher zu werden, genauso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch, größer zu werden«! 123 Von den »Sonntagskinder« gelte, was an Eysencks Ergebnisse erinnert: »Sie haben Selbstvertrauen, sind optimistisch und oft ausgelassen. Der Umgang mit anderen fällt ihnen leicht.« 124 Doch ist unser Charakter wirklich unverrückbar und angeboren, wie Schopenhauer im Einklang mit den Eigenschaftstheoretikern suggeriert? 125 Lässt sich unsere Persönlichkeit auf feste 121 Artikel »Temperament« in Hillig: Die Psychologie, S. 404. Seit Hippokrates versucht man hartnäckig, die verschiedenen »Temperamente« mit biologischen Begebenheiten, seinerzeit mit Körpersäften, in Beziehung zu bringen. Vgl. zur vielfach gescheiterten neueren Suche nach empirisch unabhängigen Faktoren der Temperamente Gordon Allport: Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit, S. 33. 122 Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 28. 123 Stefan Klein: Die Glücksformel, S. 62 und S. 63. 124 Ebd., S. 61. 125 Schopenhauer eliminiert jede Freiheit aus dem menschlichen Handeln: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwen-

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Eigenschaften oder Temperamente mit realer Basis neurophysiologischer Substanzen bzw. biochemischer Prozesse reduzieren? 126 Kann es sinnvoll sein, in Absehung von den jeweiligen Lebensumständen und der in Bezug auf diese gewählten Lebensziele und -pläne bestimmte genetische Eigenschaftsmuster als monokausal wirkende Glückskorrelate zu postulieren? Obgleich die Eigenschaftstheoretiker zu Recht auf dem Einfluss von Charaktereigenschaften wie Extraversion oder Neurotizismus sowohl auf das Verhalten wie die glückliche oder unglückliche Stimmungslage eines Menschen pochen, dürfen diese nicht einfach als genetisch vererbt und statisch angenommen werden. Es gibt nämlich »grundsätzlich keine direkten Genwirkungen auf das Verhalten«, da die Gene vielmehr »mit Hilfe von Träger- und Übermittlersubstanzen ein Potential zur Ausbildung von Verhaltensmerkmalen beinhalten« und also lediglich eine sogenannte »Reaktionsnorm« festlegen. 127 Wie insbesondere die Recherchen zu eineiigen Zwillingen nachweisen, sind auf der Basis identischer, sozusagen »neutraler« Genotypen ganz unterschiedliche Reaktionen, Handlungsorientierungen und damit völlig divergente Lebensformen möglich. Frankl resümiert eine Studie zu zwei Zwillingsbrüdern mit der identischen Charaktereigenschaft »Raffinement«, von denen der eine ein raffinierter Krimineller, der andere ein – ebenso raffinierter! – Kriminalist wurde: »Die angeborene Charaktereigenschaft ›Raffinement‹ war bei beiden identisch, aber an sich wertneutral, das heißt, weder ein Laster noch eine Tugend.« 128 Auch wenn die Konkretisierung solcher Handlungsrichtungen und Lebenspläne innerhalb der vorgegebenen genetischen Reaktionsnorm unstreitig in Abhängigkeit von Sozialisations- und äußeren Lebensbedingungen steht, überträgt man gerade in der Zwillingsforschung seitens der oppositionellen Situationisten Schuld und Verantwortung für eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur und ihre Glückserwartung oft allzu schnell der Umdige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs.« (Schopenhauer: Über die Freiheit des menschlichen Willens, S. 95) 126 Dies behaupten einhellig die drei bereits benannten Eigenschaftstheoretiker Allport, Eysenck und Cattell. Vgl. Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 102: »Sie nehmen an, dass der zugeschrieben Verhaltensbeständigkeit neurophysiologische Strukturen oder biochemische Prozesse zugrundeliegen, die die Beständigkeit ›real‹ werden lassen.« 127 Hanns Martin Trautner: Allgemeine Entwicklungspsychologie, S. 71 und S. 70. 128 Viktor Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 90.

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und Mitwelt. Die Wechselwirkungstheorie der Persönlichkeit, eine ebenfalls aus der Kritik an der Eigenschaftstheorie hervorgegangene Zwei-Faktoren-Theorie der Persönlichkeitsentwicklung, trägt demgegenüber sowohl dem Genotypen wie dem Außenwelteinfluss Rechnung infolge der für jede Zieltheorie des Glücks fundamentalen Erkenntnis: »Was ein bestimmtes Gen im Organismus ausrichtet, hängt in hohem Maße von Wechselwirkungen mit der Außenwelt ab.« 129 Indem sie nicht länger die Komplexität in der psychologischen Persönlichkeitsforschung der Praktikabilität aufopfern, werden die dynamisch-interaktionistischen Wechselwirkungstheorien vor den monokausalen Erklärungsmodellen der Persönlichkeit, der Eigenschaftstheorie und dem Situationismus, dem komplexen menschlichen Wesen sicherlich ungleich gerechter. 130 Persönlichkeit wird hier »als das System individueller Erwartungen und Bewertungen aufgefasst, die ein Mensch im Hinblick auf die Konsequenzen von eigenen Handlungen oder Ereignissen entwickelt hat, um sich dann entsprechend zu verhalten«, 131 man identifiziert sie mit einem »persönlichen Konstrukt« (George Kelly) 132 von individuellen Erwartungshaltungen, Organisationsstrukturen und Wertmaßstäben. Trotz aller offenkundigen Vorteile gegenüber den einseitigen Persönlichkeitsmodellen der Eigenschaftstheoretiker und Situationisten liegt die Gefahr der Wechselwirkungstheorie indes darin, die Wechselwirkung zwischen Mensch, Verhalten und sozialisationsund statusbedingter Lebenssituation als »reziproken Determinis-

Ebd., S. 65. »So selbstverständlich die Annahme einer Wechselwirkung beider Komponenten ist, so spärlich sind bis jetzt Untersuchungen und systematische Ansätze auf diesem Gebiet«, bedauert Rolf Oerter (in: Entwicklung als lebenslanger Prozess, S. 14), und Leontjevs moniert: »Die scheinbare Unüberwindlichkeit der Zwei-Faktoren-Theorie führt dazu, dass sich der Streit hauptsächlich an der Frage nach der Bedeutung jedes dieser Faktoren entzündet: die einen bestehen darauf, dass die Hauptdeterminante die Vererbung ist und dass die Außenwelt und die sozialen Einflüsse lediglich die Art der Realisierung des Programms bestimmen, mit dem der Mensch geboren wird; die anderen leiten die wichtigsten Besonderheiten der Persönlichkeit unmittelbar von den Besonderheiten der sozialen Umwelt, von den ›soziokulturellen Matrizen‹ ab.« (Aleksej Leontjev: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, S. 66 f.) 131 Artikel »Persönlichkeit« in Hillig: Die Psychologie, S. 287. 132 In der kognitiven Persönlichkeitstheorie George Kellys (vgl. Theorie der persönlichen Konstrukte) ist die Persönlichkeit eines Individuums dessen Konstruktsystem, auch wenn erst seine Schüler griffige Persönlichkeitsdefinitionen präsentieren (vgl. dazu auch Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 46–62). 129 130

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mus« 133 zu begreifen, so dass die Formierung des persönlichen Konstrukts ohne Subjekt vonstatten ginge. Wird die Persönlichkeit als kompliziertes System von Organisatorbedingungen deklariert, welches zugleich »Ergebnis und Voraussetzung der individuellen Verarbeitung von Lebensverhältnissen« 134 darstellt und die handlungsleitende Motivation als »zentrale Systemfunktion« 135 impliziert, scheint man die fundamentalanthropologische Kategorie der exzentrischen Positionalität, die menschliche Freiheit gegenüber genetischer Anlage und sozialer Lage in einem kruden Determinismus zu ertränken. Auch die »Systemfunktion« Glück oder Unglück als stimmungsmäßiger Grundzug eines aktiven Lebens wären zugleich Ergebnis und Voraussetzung dieser Aktivität, indem das sich im Interaktionsprozess mit der Welt ausbildende, wert- und ordnungsstiftende persönliche Konstruktsystem nicht nur vermöge der Erkenntnisformen unsere Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit und mittels der Motivationsstruktur unser Handeln, sondern aufgrund bestimmter emotionaler Schemata zugleich eine dominante Stimmung stabilisierte. Ähnliches mag Wladyslaw Tatarkiewicz vorgeschwebt haben, wenn er – allerdings ohne Rekurs auf Persönlichkeitskonstrukte – die verschlungenen Wechselwirkungen von Persönlichkeitsdispositionen, äußerem Schicksal und menschliches Glück folgendermaßen illustriert: »Es ist von den Dispositionen des Menschen abhängig, worin er sein Glück findet; aber auch umgekehrt formen sich seine Dispositionen in Abhängigkeit von den Quellen des Glücks, denen er in seinem Leben begegnet ist. Dem einen hat die Ehefrau das Glück gegeben, weil er das Familienleben liebte, ein anderer hat das Familienleben liebgewonnen, weil er eine gute Frau gefunden hat. Das Schicksal ist in doppelter Weise auf das Glück und Unglück von Einfluss: direkt dadurch, dass es Dinge liefert, die uns erfreuen oder besorgt machen, indirekt dadurch, dass es die Fähigkeit, sich Sorgen zu machen und sich zu freuen, herausbildet. Aber auch die Persönlichkeit hat einen doppelten Einfluss auf Glück und Unglück: einmal, weil sie dafür empfänglich macht, sich zu freuen oder sich zu sorgen und zweitens dadurch, dass sie das Schicksal des Menschen so gestaltet, dass er sich daran erfreut oder sich über es grämt.« 136 133 So tut es etwa Albert Bandura in: Sozial foundations of thought and action, New York 1986 (vgl. ebd, S. 101). 134 Mogel: Persönlichkeitspsychologie, S. 98. 135 Vgl. ebd., S. 111. 136 Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 200 f.

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Wenn ein Mensch der einschlägigen Selbstkonzeptforschung zufolge »schlicht wegen seiner biologischen Struktur« sein persönliches System in Konfrontation mit der Außenwelt auf die Weise konstruiert, »dass über vorhersehbare Zeitspannen eine optimale Lust-UnlustBalance gewährleistet ist« 137 – fiele dann nicht das allfällige Scheitern unseres Glücksstrebens einem Konstruktionsfehler, d. h. einem ineffizienten oder defizitären Konstruktsystem zu Lasten? Sind wir wenigstens für dieses irgendwie verantwortlich, oder bildet es vielmehr ein notwendiges Produkt etwaiger ungünstiger Erfahrungen, aus denen es unwillkürlich hervorgeht, und die uns für negative Stimmungen empfänglich machen, 138 so dass unser Glück einfach Glückssache wäre? Wollen wir in letzter Minute das Verschwinden des Subjekts der Zieltheorien des Glücks verhindern, müsste es gelingen, über den kognitiven Status des persönlichen Konstrukts sowie die prinzipielle Rolle des Selbstbewusstseins Klarheit zu gewinnen. Grundsätzlich ist die große Zahl der Theorien zu den persönlichen Konstrukten aus der Opposition gegen eine simple Reiz-Reaktions-Psychologie hervorgegangen, welche das menschliche Handeln als ein bloßes Reagieren auf äußere Umweltreize interpretiert. »Unser Handeln wird nicht durch extern gegebene Umweltvariablen, sondern durch deren phänomenale Korrelate in unseren Kognitionen beeinflusst«, 139 lautet dementsprechend die gemeinsame Grunddevise. Da unser Handeln nicht mehr wie beim Tier durch angeborene instinktive Verhaltensmuster determiniert ist, der Mensch aber aus rein pragmatischen Gründen nicht jeden Schritt als Folge freier und bewusster Entscheidung vollziehen kann, legt sich ein kognitives Motivationsmodell nahe, bei dem die handlungsleitenden Kognitionen im Einklang mit Brigitte Scheeles in Kapitel 3.2 erläuterten Gefühlstheorie zwar präsent, aber ungewusst sind. 140 Obgleich sie nicht reflexiv repräsentiert und damit bewusst sind, sollen sie jederzeit verfügbar sein: 141 137 Seymour Epstein: Entwurf einer integrativen Persönlichkeitstheorie, S. 16. Vgl. die ausführlichen Zitate in Kapitel 3.2, S. 240. 138 Vgl. die am Ende von Kapitel 3.2 vorgestellte Depressionstheorie von Seligman zur »erlernten Hilflosigkeit«, S. 236 f. 139 Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 52 f. 140 Vgl. Kapitel 3.2, S. 217 f. 141 »Organisatorenbedingungen sind als historische Erlebnis- und Verhaltensbedingungen Produkt aus der gemachten Erfahrung, wie sie dem Individuum psychisch als Gedächtnisinhalte und in Form von Konzepten, Symbolen und Schemata verfügbar sind.

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»Das Erweiterte Kognitive Motivationsmodell ist streng rationalistisch. Es wird zwar nicht behauptet, dass die Person alle erwartungs- und anreizbezogenen Kalkulationen bewusst durchführt. Das wäre beispielsweise in Routinesituationen gänzlich überflüssig, weil hier die betreffenden Einschätzungen schon längst implizit gegeben sind. Es wird aber unterstellt, dass man mit dem Modell die kognitiven Prozesse rekonstruieren kann, die unser Handeln beeinflussen, auch ohne dabei notwendig die Form bewusster Überlegungen annehmen zu müssen.« 142

Da das exzentrische und zugleich geschichtliche Wesen Mensch ein Leben führt, das mehr ist als die Summe all seiner bewussten sowie kognitiv-ungewusst gesteuerter Routinehandlungen, müssten auch komplexere teleologische Handlungsmuster, Motivzusammenhänge und Leitlinien unseres Lebens ohne reflexive Repräsentation jederzeit verfügbar sein. Welchen Einfluss haben wir aber auf die Genese und die Umstrukturierung eines solchen rekonstruierbaren persönlichen Konstruktes bzw. eines Systems von mannigfaltigen Konstrukten oder Organisatorenbedingungen? Die psychologischen Forscher tendieren generell dazu, solche Konstruktsysteme in frühster Kindheit »›unabsichtlich‹ aus der Interaktion mit der Umwelt« 143 hervorgehen zu lassen, wobei die Nähe zum behavioristischen klassischen Konditionieren, d. h. dem Lernen bedingter Reflexe dank sozialer Belohnung (Verstärkung), oft unverkennbar ist. 144 In der von Eric Berne begründeten und von Claude Steiner weiterentwickleten Transaktionsanalyse (TA) etwa geht man davon aus, dass unsere Lebenspläne, sogenannte »Skripts« als »komplexe Systeme von Transaktionen, die sich wiederholen, fortschreiben und das Verhalten eines Menschen über ein Leben hinweg bestimmen können«, 145 bereits in den ersten Lebensjahren im Laufe der Primärsozialisation vermittelt und erworben werden: »Ein Skript Verfügbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit Bewusstheit; neben bewussten sind auch unbewusste Bedingungen eingeschlossen, da sie vorhanden und für eine Erklärung motivierten Verhaltens manchmal unerlässlich sind.« (Mogel: Persönlichkeitspsychologie, S. 103 f.) 142 Rheinberg: Motivation, S. 131. Der Protagonist der Theorie der persönlichen Konstrukte wähnt sich misslicherweise einfach »glücklich, all diese Begriffe wie Intellekt, Wille und Gefühle über Bord geworfen zu haben« und konstatiert lakonisch, das System persönlicher Konstrukte sei »nicht mehr bewusst als unbewusst, nicht mehr intellektuell als emotional« (Kelly: Der Motivationsbegriff als irreführendes Konstrukt, S. 507). 143 Epstein: Entwurf einer integrativen Persönlichkeitstheorie, S. 16. 144 Vgl. ebd., S. 17 f. 145 Claude Steiner: Wie man Lebenspläne verändert, S. 11.

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ist ein Lebensplan, der die Grundzüge all dessen enthält, was einer Person zustoßen wird; dieser Plan ist nicht von den Göttern vorgezeichnet, er hat vielmehr seinen Ursprung in den ersten Lebensjahren und in vorschnellen und verfrühten Entscheidungen des jungen Menschen.« 146 Einer medizinisch-biologistischen Denkweise verpflichtet, ortet demgegenüber Alfred Adler solche frühkindlichen Projektionen eines konstruktartigen sinnstiftenden »Leitbildes« oder »Lebensstils« 147 in einer angeborenen Organminderwertigkeit, so zwar, dass sich der durch Nietzsche inspirierte, dem Leitbild entgegenstrebende Wille zur Macht oder zur Vollkommenheit als eine Überkompensation funktionsgeschädigter Organe entlarvte! 148 »Wenn das Leitbild, jene das Ziel verkörpernde Persönlichkeit der frühen Kindheit, ausgeformt ist, liegt die Leitlinie fest, und das Individuum findet seine endgültige Orientierung. Genau aufgrund dieser Tatsache sind wir imstande vorauszusagen, was im späteren Leben geschehen wird. Von jenem Zeitpunkt an folgen die Wahrnehmungen des Individuums zwangsläufig einer von der Lebenslinie festgelegten Spur. Das Kind wird fortan gegebene Situationen nicht so wahrnehmen, wie sie tatsächlich auftreten, sondern nach einem persönlichen Wahrnehmungsschema, mit anderen Worten, es wird Situationen voreingenommen, nach Maßgabe seiner eigenen Interessen wahrnehmen.« 149

Auf das unsere Wahrnehmungs-, Motivations- und Gefühlsschemata prägende »Leitbild« oder »Lebensziel« scheint aber nach Adlers nicht immer ganz stringenten Ausführungen ebenso sehr die Sozialgesinnung oder die nächstliegende Identifikationsfigur der Umgebung wie der angeborene Organschaden einzuwirken: »Kinder halten nach dem stärksten Menschen ihrer Umwelt Ausschau und machen ihn zu ihrem Vorbild oder Ziel«, d. h. sie wollen etwa »Lastwagenfahrer werden, weil sie der Meinung sind, solche Männer seien die stärksten«, 150 oder sie wollen Henker werden, was Adler als symbolischen Ausdruck ihrer Sozialgesinnung deutet. 151 Indizieren Ebd., S. 71. »Der Lebensstil wird nach unserer Erfahrung in der frühsten Kindheit ausgestaltet.« (Alfred Adler: Der Sinn des Lebens, S. 65) 148 Es gelte: »Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt.« (ebd.) »Folglich kann man sagen, dass wir uns nur Klarheit darüber verschaffen müssen, welches Organ eines Kindes geschädigt ist, um herausfinden zu können, wo seine Interessen liegen.« (ders.: Lebenskenntnis, S. 17) 149 Ebd., S. 16. 150 Ebd., S. 15. 151 Vgl. ebd., S. 16. 146 147

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solche kindlichen, sich später meist auflösenden Selbst-Konstrukte nicht gerade, dass die Persönlichkeit qua individuelles Leitbild erst dann konstruiert werden kann, wenn in der mit der Pubertät einhergehenden Adoleszenzkrise eine Reihe von übernommenen und aufgelösten Identifikationen mit Bezugspersonen ein Ende findet und eine »Ich-Identität« (Erik Erikson) erlangt wird? Mag sich auch ein rudimentäres frühkindliches Selbstkonzept, ein »Leitbild« als »jene das Ziel verkörpernde Persönlichkeit der frühen Kindheit« aus der Korrelation von Genotyp und Außenwelt quasi-automatisch zum biologischen Zwecke einer idealen »Äquilibration« (Jean Piaget) oder optimalen Lust-Unlust-Balance herausentwickeln, wie Seymour Epstein postuliert, muss man doch mit George Mead gegen Adler präzisieren: »Das Kind hat keinen definitiven Charakter, keine definitive Persönlichkeit.« 152 Persönlichkeit und Charakter im emphatischen Sinne setzen nämlich Selbstbewusstsein, Autonomie und Ich-Identität voraus. Der Adoleszente muss sich also kraft der Einnahme der gesellschaftlichen Haltungen der anderen selbst zum Objekt werden 153 und sich in bewusster Distanznahme sowohl von den unabsichtlich übernommenen, oft durch die Eltern aufoktroyierten rudimentären »Leitbildern« oder »Skripts« wie auch den spielerisch-experimentell erprobten jugendlichen Rollen-Identäten lösen und sich zu gleichwohl sozial anerkannten, »immer endgültigeren Selbstdefintionen, zu irreversiblen Rollen und so zu Festlegungen ›fürs Leben‹« 154 durchringen. Auch wenn man sich bei dieser von Erikson und den meisten Philosophen prononcierten »bewussten Selbstwahl«, 155 bei dieser bewussten EntGeorge Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 201. Vgl. ebd., S. 180 und 214 f. 154 Erik Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 137. »Denn es ist für die Identitätsbildung des jungen Menschen sehr wesentlich, dass er eine Antwort erhält und dass ihm Funktion und Stand zuerkannt werden als einer Person, deren allmähliches Wachsen und sich Wandeln Sinn hat in den Augen derer, die Sinn für ihn zu haben beginnen.« (ebd., S. 138) Vgl. zu dieser Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsfindung in der Pubertät ders.: Der vollständige Lebenszyklus, S. 94–98. 155 Sartre spricht von einer fundamentalen ursprünglichen Wahl seiner selbst in der Welt, die mit dem Selbst-Bewusstsein koinzidiert: »Aber das bedeutet nicht, dass die tiefe Wahl deshalb unbewusst wäre. […] Und da unser Sein eben unsere ursprüngliche Wahl ist, ist das Bewusstsein (von) Wahl identisch mit dem Bewusstsein, das wir (von) uns haben. Man muss sich bewusst sein, um zu wählen, und man muss wählen, um sich bewusst zu sein. Wahl und Bewusstsein sind ein und dasselbe.« (Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 800 f.) 152 153

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scheidung für einen umfassenden Lebensplan mit einer hierarchischen Rollenskala durchaus an den Erwartungshaltungen und moralischen Normen seiner Umgebung orientieren kann, entsteht doch durch sie etwas kategorial anderes als eine bloße Synthese der Kindheitsidentifikationen, 156 weil sie einhergeht mit einer tiefgreifenden »kognitiven Transformation« 157 : Schenkt man Lawrence Kohlbergs auch von Philosophen gern appliziertem sechsstufigem entwicklungslogischem Schema Glauben, gibt es an der Pforte zum Erwachsenendasein eine Korrespondenz der Festigung der Identität mit dem Übergang von einer konventionellen zu einer prinzipienorientierten Moral, 158 welcher auf der Ausbildung spezifischer kognitiver Fähigkeiten eines sittlichen Bewusstseins oder ethischen Prinzipienbewusstseins basiert. 159 Dank dieser Kompetenz in eigenständigem moralischem Urteilen und Handeln überwindet die angehende Persönlichkeit den Wertrelativismus der Adoleszenzkrise als Folge sogenannter »kritischer Lebensereignisse«, v. a. des Verlassens des Elternhauses und der damit verbundenen Konfrontation mit divergierenden Rollen- und Wertsystemen. 160 Von vielen Existentialisten wurde eine solche dem pubertären Probe-Identifizieren ein Ende setzende »absolute Selbstwahl«, in der man sich für das Wollen selbst, für die ethische Differenz von Gut und Böse und innerhalb dieser für das Gute entscheidet, immer wieder mit Emphase und Pathos heraufbeschworen. Während nach Sören Kierkegaard der Ästhetiker in der Indifferenz des Rollenspiels lebt, sei bei der ethischen Existenz »nicht so sehr die Rede davon, dass man wähle, ob man das Gute oder das Böse will, als vielmehr davon, dass man das Wollen wählt.« 161 Auch Arnold Gehlen setzt mit BeruVgl. Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 139. Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, S. 44. 158 Vgl. ebd., S. 112 f. Die Integration der Entwicklungsstufen der Intelligenz (Piaget) und der Identität (Erikson) steht aber noch aus (vgl. ebd., S. 112). Die umfassende Beschreibung der Moralstufen findet sich ebd., S. 51 f. 159 Laut Kohlberg »kann ein Bewusstsein moralischer Prinzipien kognitiv im Adoleszenten entstehen, aber das Gefühl der Verpflichtung, sie anzuwenden, erfordert Prüfungs- und Entscheidungssituationen; dazu ist erforderlich, dass die Prinzipien in einer Ideologie verkörpert werden, an der man sein Festhalten und das Festhalten anderer an den Prinzipien überprüfen kann und die Teil der Festlegung auf eine Identität ist.« (ebd., S. 110) 160 Vgl. zu diesem bedeutsamen Umbruch der jugendlichen Lebenssituation etwa Otto Ewers: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, S. 135 f. 161 Sören Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 2, S. 718. 156 157

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fung auf Immanuel Kant die feierliche »Gründung des Charakters« behutsam und so spät wie möglich im menschlichen Leben an, 162 ungeachtet des Nachweises durch die von Kohlberg herangezogenen empirischen Studien zur kognitiven Entwicklung der Adoleszenten, dass mit 25 Jahren der Schritt zur autonomen Moral bei allen vollzogen sei. 163 Kant selbst bezeichnet diesen qualitativen Sprung im kognitiven Bereich nachgerade als »Revolution«: »Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewusst ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muss ihn jederzeit erworben haben. Man kann auch annehmen: dass die Gründung desselben, gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche, ihm unvergesslich mache. – Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruss am schwankenden Zustande des Instinkts auf einmal erfolgt, bewirken. Vielleicht werden nur wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40ten fest gegründet haben. […] Mit einem Worte: Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewusstseins eines Menschen, dass er einen Charakter hat.« 164

Wie Charlotte Bühlers Lebenslaufstudien dokumentieren, sind zwar »Lebensziele im Sinne bewusster oder halbbewusster, wenn auch noch nicht zeitlich orientierter Projektionen des Selbst in die Zukunft« bereits im vierten Lebensjahr zu verzeichnen, wohingegen eine »definitive Selbstbestimmung« tatsächlich erst um die Dreißig erfolgt. 165 Unsere Persönlichkeit als Motivationsgrundlage und Verhaltensdeterminante erschöpft sich mithin niemals in einem »physischen Charakter« vererbter Anlagen, sondern lässt sich erst unter Berücksichtigung des »moralischen Charakters« eines Menschen dekodieren, 166 denn gemäß Kants anthropologischer Einsicht kommt es Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch, S. 373 f. Vgl. Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, S. 41 ff. mit Bezugnahme auf Richard Kramer 1969. 164 Immanuel Kant: Anthoropologie in pragmatischer Hinsicht, A271/B270. 165 Vgl. Charlotte Bühler: Psychologie im Leben unserer Zeit, S. 258 und S. 257 sowie, grundsätzlich mit Bühlers Ergebnissen übereinstimmend, Gordon W. Allport: Gestalt und Wachstum der Persönlichkeit, S. 124. 166 Vgl. zu diesen Differenzierungen Kant: »In pragmatischer Rücksicht bedient sich die 162 163

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nicht primär darauf an, »was die Natur aus dem Menschen, sondern was dieser aus sich selbst macht« 167 : Erst die sich im Laufe eines Lebens als Sinnes- oder Denkungsart 168 festigende Charakterdisposition, nicht aber irgendwelche biochemischen Hirnströme oder genetischen Substanzen sind sowohl für unser habituelles teleologisches Handeln wie auch die es untermalende Glücks- bzw. Unglücksstimmung ausschlaggebend. Nicht »von Natur aus« wären daher Cato und Napoleon in klassisch-antiker Sicht transsituativ und dauerhaft glücklich, sondern dank erworbener, durch Gewöhnung, Übung und Training erlangter vorzüglicher Charaktereigenschaften (Tugenden). Für den antiken Tugendbegriff ist nämlich »kennzeichnend, dass er sich nur auf erworbene Eigenschaften anwenden lässt. Vielleicht bringt jemand ›gute Anlagen‹ für den Erwerb von Tapferkeit mit. Aber grundsätzlich werden Tugenden durch Gewöhnung, Übung oder Training erlangt.« 169 In Entsprechung zur Objektseite, wo sich unter der Bedingung einer hinreichenden ökonomischen Lebensgrundlage und eines minimalen Handlungsspielraums vorwiegend unsere Bewertung und unser Umgang mit den Lebensumständen als glücksrelevant entpuppten (vgl. Kapitel 4.1), ist für die transaktionale Glücksforschung seitens des Subjekts primär die Herausbildung eines »moralischen Charakters« auf der Basis einer Wechselwirkungstheorie der Persönlichkeit von Interesse. Denn die psychische Gesundheit und ein ausreichendes Maß an Transmittersubstanzen in der linken Hirnhälfte sind zwar unabdingbar für unser Glück, angeborene Eigenschaftsmuster wie Soziabilität, Aktivität oder sanguinisch-oberflächliche Heiterkeit gewinnen aber als wertneutrale »Reaktionsnormen« erst durch eine spezifische normative Grundorientierung im Rahmen einer habitualisierten Lebensform Bedeutung. In der neuropsychologischen Forschung wird zudem nicht verdeckt, dass das menschliche Gehirn auch im Erwachsenenalter noch erallgemeine, natürliche […] Zeichenlehre […] des Worts Charakter in zwiefacher Bedeutung, da man teils sagt: ein gewisser Mensch hat diesen oder jenen (physischen) Charakter; teils: er hat überhaupt einen Charakter (einen moralischen), der nur ein einziger, oder gar keiner sein kann. Das erste ist das Unterscheidungszeichen des Menschen als eines sinnlichen, oder Naturwesens; das zweite desselben als eines vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens.« (Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A255/ B253) 167 Ebd., A267/B265. 168 Vgl. ebd., A266/B264. 169 Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 113. A

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staunlich wandelbar ist und gänzlich »umprogrammiert« werden kann, so dass auch dem »Werktagskind« keineswegs der Weg zum Glück genetisch abgeschnitten wäre. 170 »Der Mensch ist also nichts weniger als ein Produkt von Vererbung und Umgebung«, konstatiert Viktor Frankl. »Tertium datur: die Entscheidung – letztlich entscheidet der Mensch über sich selbst.« 171 Die These, der Mensch verfüge erst mit der Erlangung einer IchIdentität und eines sittlichen Bewusstseins nach durchstandener Adoleszenzkrise über ein voll ausgebildetes Lebens- und Selbstkonzept, einen definitiven »moralischen Charakter« bzw. eine fertig ausgestaltete Persönlichkeit, wird konsolidiert durch Frankfurts Kriterium für Personalität, nämlich die Befähigung zu Wünschen zweiter Ordnung, mit dem bereits erläuterten taylorschen Zusatz einer »starken Wertung«: 172 Während das Kind auf präkonventionellem Niveau im Zeichen eines naiv-egoistischen Hedonismus seine Wünsche allererster Ordnung verfolgt und damit als Sklave seiner Triebe in den Tag hineinlebt, akzeptiert der Jugendliche des konventionellen Stadiums die von außen an ihn herangetragenen Rollen-Identitäten und ist beim Wünschen und Handeln um Konformität mit der herrschenden sozialen Ordnung, den hier geltenden Normen bestrebt. Ist aber kraft der Überwindung der jugendlichen Egozentrik das »autonome Stadium« 173 der postkonventionellen Stufe erreicht, tritt eine Person in Erscheinung, »die ihr Selbst von den Regeln und Erwartungen anderer unabhängig gemacht hat und die ihre Werte im Rahmen selbstgewählter Prinzipien definiert.« 174 Infolgedessen beurteilt ein solches autonomes und »stark wertendes Subjekt« 175 seine Wünsche vor dem Vgl. Klein: Die Glücksformel, S. 67 ff. Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 91. Vgl. auch ders.: Der Wille zum Sinn, S. 159. 172 Vgl. Kapitel 4.1, S. 301 ff. 173 Vgl. zur Charakterisierung des autonomen Stadiums Ewers: »Für die sechste Stufe, die ›autonome‹, ist die Anerkennung der eigenen Autonomie und die der anderen typisch. Wichtige Merkmale sind weiterhin die Beschäftigung mit inneren Konflikten, die Fähigkeit, miteinander unverträgliche Vorstellungen zu integrieren, intensive zwischenmenschliche Beziehungen und das Streben nach Selbsterfüllung.« (Ewers: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, S. 123) 174 Kohlberg: Psychologie der Moralentwicklung, S. 127. Obwohl Kohlberg von einem »präkonventionellen Subjekt«, aber von einer »konventionellen« und »postkonventionellen Person« spricht, müsste man den Personbegriff strenggenommen für letzeren reservieren. 175 Vgl. Charles Taylor: Negative Freiheit?, S. 19. 170 171

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Hintergrund der qualitativ hochrangigen Lebensform, für die es sich um des »Maximums des inneren Werts (der Menschwürde)« 176 willen entschieden hat und die es auch im sozialen Kontext zu verteidigen weiß. 177 Unsere an starke Wertungen geknüpften, in einer ausgereiften »verständlichen Theorie der Lebensprozesse« 178 eingebetteten und im persönlichen Charakter verankerten »Grundsätze und Grundentschlüsse unserer bewussten Lebensführung« müssen wie gesehen keineswegs ununterbrochen bewusst repräsentiert sein, sondern laut Gehlen gerade »der Beeinflussbarkeit durch die Reize der Oberfläche des Bewusstseins entzogen und in die Sicherheit desjenigen Bereichs herabgeübt werden, aus dem wir leben: des Bereichs ausgelesenen, beherrschten, sozusagen ›geladenen‹ Könnens.« 179 Halten wir fest: Im Rahmen einer Zieltheorie des Glücks muss man konsequenterweise gemäß aristotelischem Vorbild Kindern und egozentrischen Jugendlichen die Glücksfähigkeit gänzlich absprechen, 180 weil diese vor der unabdingbaren »kognitiven Transformation« noch nicht über autonome Selbstbestimmung und starke qualitative Wertungen ihrer Wünsche zweiter Ordnung verfügen, wodurch ihr Leben einheitlicher Ziele und definitiver Leitbilder entbehrt. »Das übergreifende Glück gelingenden Lebens besteht […] darin, den eigenen Lebensweg frei wählen zu können«, 181 pointiert Seel. Voraussetzung menschlichen Glücks als Grundzug eines tätigen Lebens ist mithin der im autonomen Stadium gefasste Entschluss für einen selbstgewählten Lebens- und Selbstentwurf, wobei gilt: Wie sich unser moralische Charakter nur im Rahmen einer Lebensform festigen kann, muss vice versa die jeweils gewählte »Lebensform als ausgebildeter Selbstentwurf« 182 betrachtet werden. Annemarie Piepers Aperçu: »Was für ein Glück man im Rahmen einer frei gewählKant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, A271/B270. Vgl. Kohlberg: Die Psychologie, S. 110. 178 »Um seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, muss der Mensch zu einer konfliktfreien, gewohnheitsmäßigen Beherrschung seiner vornehmlichen Begabung kommen, die er zu seinem Beruf macht; in der unmittelbaren Ausübung dieses seines Berufes, in der menschlichen Gemeinschaft, die er dadurch findet, und in der Tradition dieses Berufes muss er seine quasi unerschöpflichen Hilfsquellen erkennen; schließlich braucht er noch eine verständliche Theorie der Lebensprozesse.« (Erikson: Identität und Lebenszykus, S. 135 f.) 179 Gehlen: Der Mensch, S. 374. 180 Vgl. Kapitel 4.1, S. 268. 181 Seel: Versuch, S. 114. 182 Annemarie Pieper: Glückssache, S. 28. 176 177

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ten Lebensform vorrangig erstrebt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist«, 183 bewährt sich, indem der Mensch sowohl physiologisch wie auch anthropologisch-ethisch bestimmbar ist, in zweifacher Hinsicht: Zum einen sind wir bei der Wahl unserer Lebensform oder unseres Lebenskonzeptes (»Skript«) auf unsere genetische Grundausstattung an Begabungen und wertneutralen Charaktereigenschaften (physischer Charakter) verwiesen, zum anderen legen wir diesbezüglich in bewusster Auseinandersetzung mit der faktischen Lebenssituation, speziell mit den in unserem Kulturkreis anerkannten Selbstbildern und moralischen Orientierungen, stark wertende, qualitative Präferenzen fest (moralischer Charakter). Durch voreilige, verfrühte Entscheidungen, bevor wir also das autonome Stadium erreicht haben und über eine hinlängliche Welt- und Selbsterkenntnis sowie einen reichen Erfahrungsschatz an experimentellem Probehandeln, Probedenken und an Probeidentifikationen mit gesellschaftlichen Rollen verfügen, 184 scheint unser Unglück daher geradezu vorprogrammiert. Die meisten Menschen, die unter zumeist elterlichem Sozialisationsdruck auf kindliche Skripts fixiert wurden, sei es aufgrund der Bösartigkeit der »Einschärfungen und Zuschreibungen«, sei es durch eine möglicherweise erblich bedingte geringe Widerstandskraft des Kindes, 185 fristen gemäß der Analyse transaktionaler Therapeuten ein freudlos-unglückliches Leben, wohingegen für »gesunde«, glückliche Persönlichkeiten gelte: »In einer ungestörten Entwicklung ohne Skript fallen die Entscheidungen zu einem Zeitpunkt, zu dem sie ohne Druck gereift sind, selbstbestimmt und ohne Druck gefällt werden und auf ausreichender Erfahrung beruhen.« 186 Während Steiner sowohl sogenannt »gute«, d. h. allgemein anerkannte und sich sozial auszahlende »banale Skripts« 187 wie »schlechte«, d. h. sozial missbilligte, mit Sucht oder Suizid enEbd. Vgl. zur Bedeutung der probeweisen Identifikation mit verschiedenen Vorbildern oder Identitätsmodellen für unsere Identitätsentwicklung Karl Hausser: Identitätsentwicklung, S. 146 f. 185 Vgl. Steiner: Wie man Lebenspläne verändert, S. 121. »Die wichtigsten Einschärfungen und Zuschreibungen kommen meist von einem der beiden Elternteile, wobei jeweils das andere Geschlecht überwiegt«, expliziert Steiner (ebd., S. 106). 186 Ebd., S. 91. 187 »Viele von uns sind gerade dann besonders stolz, wenn wir meinen, ein ›gutes Leben‹ zu leben, wobei ›gut‹ nichts anderes meint, als normal, durchschnittlich und ›so, wie es die anderen gerne hätten‹ – die anderen, die wir bewundern und achten und die uns eingeredet haben, dass das ein gutes Leben sei. Verheiratet sein, im Beruf erfolg183 184

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dende »tragisch-hamartische Skripts« als Hindernisse zu menschlichem Glück brandmarkt, weil angeblich jede »autonome Entwicklung des eigenen Lebens und die freie Entfaltung der eigenen Fähigkeiten […] durch ein Skript unauflöslich verbaut« 188 werden, erweist sich sein Ideal eines glücklichen skript-freien Lebens anthropologisch gesehen als widersinnig: Da der Mensch nicht lebt, sondern sein Leben führt, sich aber nicht in jedem Augenblick rational und autonom für eine bestimmte Handlung entscheiden kann, ist ein gänzlicher Verzicht auf Skripts oder Lebensformen als »frei gewählte[n] Weise[n] des Existierens« 189 weder möglich noch wünschbar. Statt »lebenslangen Wiederholungszwang« 190 auf Kosten unserer »freien Entfaltung« darzustellen, übernehmen sie vielmehr identitätsstiftende Funktion und verleihen unserem genuin geschichtlichen Leben eine Richtung und individuelle Ziele als Konkretisierungen des formal-allgemeinen Ziels menschlichen Lebensglücks. Eine Zieltheorie des Glücks hat also auf den richtigen Zeitpunkt der Wahl eines unser Leben prägenden »Skript« oder Lebenskonzeptes mit handlungsbestimmenden Leitlinien oder allgemeinen Zielen den Ton zu legen. Nicht die Tatsache aber, dass wir aufgrund vielfältiger persönlicher Erfahrung Skripte, Selbst- und Lebenskonzepte entwickeln und auswählen, scheint unserem Glück im Wege zu stehen, sondern vielmehr unvorhersehbare Veränderungen unserer äußeren Lebenssituation, sei es des Berufsfeldes, des sozialen Kontextes oder die plötzliche Konfrontation mit konkurrierenden Wertmustern, welche unsere Lebens- und Glückskonzepte jäh aus den sicheren Tiefen des Unbewussten herausreißen. Grundsätzlich müsste sich allerdings nach George Kelly jedes Skript und jedes Konstruktsystem allein infolge seiner Konstruiertheit bei solch unerwarteten Widerständen einfach umkonstruieren lassen: »Wir vertreten den Standpunkt, dass es immer alternative Konstruktionen geben wird, zwischen denen man beim Umgang mit der Welt wählen kann. Niemand braucht sich in die Enge zu treiben; niemand braucht von den Umständen völlig eingeschränkt zu werden; niemand muss das Opfer seiner Bioreich sein, ein guter Vater sein, eine gute Hausfrau sein, ein Geschäftsmann sein, Einfluss haben, …« (ebd., S. 119 f.) 188 Ebd., S. 127, wo Steiner zugleich konzediert: »Banale Skripts sind die Regel, hamartische Skripts sind selten, und Lebensläufe ohne jegliches Skript sind die große Ausnahme.« 189 Pieper: Glückssache, S. 27. 190 Steiner: Wie man Lebenspläne verändert, S. 18. A

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graphie sein. Wir nennen diese Position den Konstruktiven Alternativismus.« 191

Suggeriert Kellys Theorem des Konstruktiven Alternativismus nicht, die von uns gewählten Konstrukte könnten, sollten sie sich nicht bewähren, ohne Mühe ausgetauscht werden wie Kleider? Wäre dies nicht mit einer unüberwindbaren existentiellen Krise verbunden, weil wir so in unsere Lebensform hineingewachsen sind, dass es kaum »ohne weiteres möglich [sein dürfte], seine frühere Identität preiszugeben, um ein neuer Mensch zu werden«; weil unser Fühlen und Denken derart »auf die einstigen Glückserfahrungen eingeschworen [sind], dass ein neues Glückskonzept mit diesen kollidiert« 192 ? Kann man die von Steiner ins Feld geführten, eudaimonologisch bedeutsamen Unterscheidungskriterien von guten und schlechten Skripts rehabilitieren, nachdem sich sein Verdikt gegen Skripte als solche als unhaltbar erwies, oder sind noch basalere auszumachen? Auf der nun in Angriff zu nehmenden Suche nach allgemeinen, formalen Kriterien für glücksverbürgende Lebenspläne angesichts der Crux, dass ein Konzept weder auf sämtliche möglichen (unvorhergesehenen) Lebenssituationen »passen«, noch auch bei deren InErscheinung-Treten beliebig ausgetauscht werden kann, sind vorerst allmähliche strukturelle Konstrukt-Veränderungen von dramatischen qualitativen zu separieren: Betreffs alltäglicher neuer Erfahrungen und Erkenntnisse lässt sich das fragliche Dilemma überbrücken, indem diese zwar periphere Korrekturen in unserem Selbstund Weltkonzept zeitigen, aber problemlos integriert werden können, ohne die Stabilität des Organisationssystems insgesamt und somit die Ich-Identität in Gefahr zu bringen. Handelt es sich um rein erkenntnistheoretische Aspekte unseres Lebensplanes, verhält sich nämlich der wachsame Mensch in Kellys Bild gewöhnlich wie ein Wissenschaftler, der seine empirischen Hypothesen und Konstrukte ständig überprüft, verfeinert und modifiziert: 193 »Die Erfahrungen eines jeden Tages erfordern die Verfestigung einiger Aspekte unserer Sichtweise, in einigen Fällen ihre Korrektur und in anderen Fällen die völlige Preisgabe.« 194 Auch das an unsere Lebensform gekoppelte 191 192 193 194

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Kelly: Die Psychologie der persönlichen Konstrukte, S. 29. Pieper: Glückssache, S. 30. Vgl. Kelly: Die Psychologie, S. 27. Ebd., S. 28.

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Glück wird durch geringfügige epistemische Irrtümer oder reelle Hindernisse in der Regel nicht ernsthaft getrübt, denn solange »das Missglückte oder Verunglückte aufgehoben ist in einer Vorstellung vom guten Leben insgesamt, wird das zeitweilige Scheitern nicht als Katastrophe empfunden, sondern als ein vorübergehender Mangel an Erfolg.« 195 Daneben existieren aber einschneidende Ereignisse auf unserem Lebensweg, sei es positiver Art (eine neue Liebesbeziehung, eine plötzliche Anerkennung) oder negativer (ein nicht-bestandenes Examen, eine gescheiterte Beziehung), welche die Kernsätze unseres Konstruktsystems umzustürzen drohen und sich weder integrieren noch einfach ignorieren lassen. Kellys Schilderung der dramatischen Veränderung von Konstruktsystemen erinnert an Willard Quines Holismus mit seinen Kernthesen, auch empirienahe Urteile ließen sich immer nur im Rahmen einer ganzen Theorie des Wissens bestätigen oder widerlegen, und die Theorie könne nur als ganze akzeptiert oder verworfen werden. 196 Weder die Flucht in den Suizid noch der heroische Entschluss zu einem totalen Glücksverzicht dürfen aber im Falle negativer Lebenseinschnitte als angemessene Reaktionsformen gelten, weil dadurch entweder dem menschlichen Dasein mitsamt seinem existentiellen Glücksstreben selbst ein Ende gesetzt bzw. die anthropologische Konstante menschlichen Glücksstrebens durch Entsagung aus den Angeln gehoben wird. An die Stelle der direkten Methode, unvermutet auftauchende Hindernisse aus dem Weg zu räumen oder sie zu umgehen, muss hier die gedankliche Konzentration auf die Gesamtsituation des eigenen Lebens treten: Da negative krisenhafte Lebenseinbrüche unsere teleologischen Sinnentwürfe als solche zu entwerten und unser ganzes Lebensglück zu untergraben drohen, bleibt in solchen Extremsituationen nur das heikle Unterfangen einer tiefgreifenden hermeneutiPieper: Glückssache, S. 29. Vgl. Willard Quine: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, insbes. S. 46 f. und Kapitel 7 von Dagmar Fenner: Wahrheit am Ende?. »Im allgemeinen versucht der Mensch, seine Konstrukte zu verbessern, indem er sein Repertoire vergrößert […]. Bei der Suche nach Verbesserung wird er wiederholt durch den Schaden in seinem System behindert, der sich offensichtlich aus der Veränderung eines untergeordneten Konstrukts ergeben wird. Oft ist seine persönliche Beteiligung an dem übergeordneten System oder seine persönliche Abhängigkeit von diesem so groß, dass er auf die Annahme eines präziseren Konstrukts in die Substruktur verzichten wird. Es kann einer größeren Einflussnahme durch Psychotherapie oder Erfahrung bedürfen, um den Menschen dazu zu bewegen, sein Konstruktionssystem bis zu dem Punkt zu verändern, an dem das neue und präzisere Konstrukt eingegliedert werden kann.« (Kelly: Die Psychologie, S. 23) 195 196

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schen Reinterpretation übrig. 197 Dass wir diese vom konstruktiven Alternativismus postulierte Möglichkeit einer qualitativen Modifikation unseres Initialentwurfs tatsächlich haben, bezeugt in den Augen der Existentialisten untrüglich die unser Freiheitsbewusstsein immerfort begleitende Angst. 198 1. Ohne die intensive Mithilfe von engen Freunden oder eines Therapeuten werden wir unsere unglückliche Verzweiflung in gravierenden Fällen kaum überwinden können, da wir in Ermangelung jeder Distanz zu den sich unerwartet vor uns aufbäumenden Hindernissen zumeist keine alternativen äquivalenten Zielvorstellungen, keine neuen Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten mehr auszumachen vermögen. Insbesondere die im Kontrast zu vergangenheitsorientierten traditionellen Tiefenpsychologen zukunftsausgerichteten Existenzanalytiker (Logotherapeuten) oder die Transaktionsanalysten, welche davon ausgehen, dass psychische Störungen »auf Skripts beruhen und nicht auf unheilbaren Krankheiten«, intendieren, solche problematischen Initialentwürfe »zu verstehen und sie so anzugehen, dass der Klient mit Hilfe seines Therapeuten, wie Berne sagte, ›die Show beenden und eine neue beginnen kann‹.« 199 Gesetzt, das Glück sei ein Grundzug unseres diesseitigen Lebensvollzugs, erwiese sich der Sprung in den Glauben im Sinne einer blinden Zufluchtnahme zu tröstlichen Verheißungen auf ein jenseitiges Glück sicherlich als wenig ersprießlich. Hingegen verspräche uns der Glaube an die Totalität aller Möglichkeiten in Gestalt eines (philosophischen) Gottes, bei dem »alles möglich ist«, infolge eines Vertauensgewinns von unserer handlungslähmenden Ohnmacht zu befreien. »Denn die Möglichkeit ist das einzig Erlösende«, klärt uns Sören Kierkegaard in Anbetracht dieser »Verzweiflung der Notwendigkeit« auf: »Wenn einer ohnmächtig wird, dann ruft man nach Wasser, Eau de Cologne, Hoffmannstropfen; aber wenn einer verzweifeln will, dann heißt es: Schaff Möglichkeit, schaff Möglichkeit, Möglichkeit ist das einzig Erlösende; eine Möglichkeit, dann atmet der Verzweifelte wieder, er lebt auf; denn ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft kriegen. Zuweilen kann dann die Erfindungskraft einer menschlichen Phantasie ausreichen, Möglich-

Vgl. zu diesen drei Möglichkeiten Pieper: Glückssache, S. 30. »Diese Modifikation ist übrigens immer möglich. Die Angst, die, sobald sie enthüllt ist, unserem Bewusstsein unsere Freiheit manifestiert, bezeugt diese fortwährende Modifizierbarkeit unseres Initialentwurfs.« (Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 804 f.) 199 Steiner: Wie man Lebenspläne verändert, S. 38. 197 198

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keit zu schaffen, aber zum Schluss, d. h. wenn es gilt zu glauben, hilft nur dies, dass bei Gott alles möglich ist.« 200

Hat man sich dank der beratenden und ermutigenden Unterstützung durch Freunde oder Therapeuten wieder Möglichkeiten und Luft zum Atmen verschafft, ringt man sich aus der augenblicklichen Verzweiflung und ungehaltenen Ungeduld meist auch wieder zur Grundhaltung der Gelassenheit gegenüber den unabänderlichen Natur- und Sozialvorgaben durch, welche für einen produktiven Umgang mit der für widerständig befundenen neuen Lebenssituation und somit für ein neues Weltverhältnisglück unabdingbar ist: »Zwischen Erzwingenwollen und Gefügigkeit, zwischen Aktivität und Passivität situiert, bezeichnet die Gelassenheit die Bereitschaft, die natürliche Welt, die Mitmenschen, aber auch die eigene Person und ihre Geschichte anzunehmen, ohne sich deshalb als freie und schöpferisch handelnde Person aufzugeben.« 201 Während die Charakterdispositionen der Gelassenheit und des Glaubens an die Totalität der Möglichkeiten, sei es in Form des kierkegaardschen christlichen Glaubens oder eines säkularisierten Weltund Selbstvertrauens, unmittelbar als glücksfördernd angesehen werden müssen (ethische Tugenden), können dank einer solch gelassen-vertrauensvollen Welt-Stellung die indirekt glücksrelevanten »instrumentellen Dispositionen« wie Vorstellungskraft, Intelligenz und Problemlösungskompetenz (dianoetische Tugenden) 202 auch in kritischen Lebenslagen ihre Nützlichkeit erweisen: »Nicht alle Dispositionen, aus denen die Persönlichkeit eines Menschen besteht, haben die gleiche Bedeutung für deren Glück. Einige haben darauf nur einen mittelbaren Einfluss. Dies sind insbesondere jene, die die Psychologen als ›instrumentelle‹ bezeichnen, wie die Intelligenz, das Gedächtnis und andere geistige Fähigkeiten. […] Von direktem Einfluss sind dagegen Disposi200 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 37. Auch Tatarkiewicz hebt den »Glauben«, hier allerdings eher als unproduktive Kunst des Sich-Fügen-Könnens in ein konzeptwidriges Schicksal verstanden, als unbedingt glücksförderliche Eigenschaft hervor: »Denn ohne den Glauben entsteht früher oder später Unruhe.« (Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 202) 201 Otfried Höffe: Personale Bedingungen eines sinnerfüllten Lebens, S. 417 f. Höffe erläutert weiter: »Die Gelassenheit wendet sich gegen die Einstellung der Ungeduld, die sich auf eine Situation nicht einlassen kann, sie vielmehr von vornherein und ausschließlich im Sinne eigener Vorstellungen verändern will.« 202 Vgl. zur aristotelischen Unterscheidung von ethischen und dianoetischen Tugenden (Charakter- und Verstandestugenden) Eth. nic., 1103a, 14 ff.

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tionen, die von den Psychologen als ›richtungsmäßige‹ bezeichnet werden. Dies sind Dispositionen für Gefühle, Bestrebungen und Entschlüsse. Aus ihnen setzt sich das zusammen, was wir als Charakter des Menschen bezeichnen. Es ist dies jener Teil seiner Persönlichkeit, der einen direkten Einfluss auf sein Glück oder Unglück hat.« 203

Instrumentelle Dispositionen allein korrelieren zwar in empirischen Untersuchungen kaum mit Glück: »Weder hilft hohe Intelligenz zu Glückserleben, noch sind einfältige Geister glücklicher« 204 ! Dennoch scheint die interpersonell variierende Demarkationslinie zwischen alltäglichen, leicht integrierbaren und dramatisch-krisenhaften Ereignissen sich bei ausgeprägtem Phantasie- und Vernunftvermögen in Richtung letzterer zu verschieben, da sie uns eine raffinierte hermeneutische Reinterpretation des eingefleischten Skripts ohne Identitätspreisgabe ermöglichen, wo sich ein anderer angesichts eines übermächtigen Schicksals als freie und schöpferisch handelnde Person aufgeben zu müssen meint. Wer sich in Gelassenheit und Vertrauen auf phantasievolle Umwege kapriziert, um die geringfügig modifizierten Lebensziele gleichwohl – vielleicht mit Verzug – zu verwirklichen, kann aus Misere und Verzweiflung durchaus mit erhöhter Ich-Stärke hervorgehen. Ob wir mit einer einmal gewählten Lebens- und Glückskonzeption tatsächlich glücklich werden, hängt demnach wesentlich von den durch diese Konzepte favorisierten und in der entsprechenden Lebensform habitualisierten charakterlichen und instrumentellen Tugenden ab. Wenn man hingegen angesichts des oben skizzierten Dilemmas folgerte, ein Lebens- und Glückskonzept müsse um so besser sein, je offener es gestaltet ist, je mehr alternative Möglichkeit es in sich fasst, auf dass man in jeder sich bietenden Lebenssituation eine sinnvolle Aktivität zu entfalten vermöchte, provozierte man sicherlich ein Kurzschluss. »Der flexible Mensch« ohne langfristige Ziele und festem (moralischem) Charakter, dafür aber mit den postmodernen Tugenden uneingeschränkter Mobilität und Flexibilität gewappnet, leidet nämlich Sennetts soziologischen Analysen zufolge unter ständiger Angst, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren, 205 und kann, wie noch zu zeigen sein Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 202. Mayring: Psychologie des Glücks, S. 95. 205 Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch, S. 21. »Vielleicht der verwirrendste Aspekt der Flexibilität ist ihre Auswirkung auf den persönlichen Charakter«, diagnostiziert Sennett, wobei er Charakter im Einklang mit der Geistesgeschichte seit der Antike 203 204

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wird, in Ermangelung eines teleologischen Lebensentwurfs prinzipiell nicht glücklich werden. 2. Andererseits zeitigen unsere prinzipiell glückskonstitutiven langfristigen Lebenspläne, die wir mit unserem Initialentwurf in typo festlegen, nachweislich Strategien willentlicher Handlungskontrollen, die zwar unmittelbar die Realisation unserer Ziele vorantreiben, 206 uns aber im epistemischen Bereich durch bewusst gesteuertes oder durch automatische Aufmerksamkeitsfilter vermitteltes Ausblenden ungünstiger bis krisenhafter Erfahrungen zugleich in eine kognitive Schieflage lancieren können: »Der Handelnde beachtet jetzt vorzugsweise Informationen, die zur Realisierung der Absicht benötigt werden. Vor allem werden solche Informationen ignoriert, die den einmal getroffenen Entschluss in Zweifel ziehen könnten. Alle Prozesse sind jetzt so ausgerichtet, dass sie nur noch die eine Funktion haben: Das umzusetzen, wozu man sich nach vorauslaufender Prüfung entschieden hat. ›Von abwägenden Moderatoren des Wählens sind wir im Handumdrehen zu einseitigen Partisanen unseres Wollens geworden.‹ (Heckhausen 1967)« 207

Dies kann aber nicht im Interesse des Glückskandidaten sein, da vom empirisch-konstruktivistischen Standpunkt aus dasjenige Konstruktsystem das beste ist, welches den realen Gegebenheiten am besten angepasst ist und die präzisesten Zukunftsdiagnosen erlaubt. 208 Damit wir nicht gänzlich unvorbereitet auf reale Hindernisse der Naturund Sozialwelt stoßen, weil sämtliche einem erfolgreichen Realisieren unseres Lebensentwurfs im Wege stehenden Informationen durch unwillkürlich aktivierte Aufmerksamkeitsfilter zensuriert werden, müssen unsere Lebens- und Glückskonzeptionen nicht nur konsistent und stabil sein um jeden Preis, sondern »erfahrungs- und revisionsoffen« gegenüber einer sich verändernden Welt (2). 209 »Zuals »der ethische Wert, den wir unseren eigenen Entscheidungen und unseren Beziehungen zu anderen zumessen«, verstanden wissen will (ebd., S. 11). 206 Vgl. das tabellarische Verzeichnis solcher Handlungskontrollen nach J. Kuhl in: Rheinberg: Motivation, S. 167. Neben der Aufmerksamkeitskontrolle nennt Kuhl die Motivations-, Emotions- und Handlungskontrolle, die handlungsorientierte Misserfolgsbewältigung sowie die Sparsamkeit der Informationsverarbeitung. 207 Ebd, S. 169. 208 Vgl. Kelly: Die Psychologie, S. 22 und S. 28. 209 Vgl. Steinfath: »Da sich unsere Umstände und Erfahrungen – und damit auch wir selbst – unweigerlich verändern, müssen Lebenskonzeptionen erfahrungs- und revisionsoffen sein, um unser Handeln erfolgreich leiten zu können. Sie müssen flexibel A

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kunftsfähigkeit« setzt nach Höffe voraus, dass man, statt sich auf einmal gefasste, sich als unerreichbar entpuppende konkrete Teilziele zu versteifen, indem man sich in immer drastischere epistemische Illusionen betreffs dieser Ziele selbst oder der angeblich gangbaren Wege dorthin hineinsteigert, sich stets aufgeschlossen zeigt für die Kritik und Aufklärung durch Freunde oder die unverstellte, d. h. weniger tendenziös gefilterte direkte Erfahrung: Weder beim ambitionierten Auslangen nach einem allzu hoch gesteckten Berufsziel noch beim Begehren eines bereits vergebenen Liebesobjekts wird uns eine Immunisierung gegen Misserfolg indizierende Erkenntnisse oder gegen realistische Fremdeinschätzungen glücklich machen, sondern uns lediglich die Chance verbauen, neue Ziele in unsere grundsätzlich revidierbare Konzeptionen 210 aufzunehmen: »Wer von einer Freundschaft enttäuscht ist, verschließe sich nicht der Möglichkeit einer neuen«, 211 lautet daher das Manifest der »Zukunftsoffenen«! 3. Neben die durchgängige Konsistenz unseres Lebens- und Selbstentwurfs treten mithin die Erfahrungs- und Kontingenzoffenheit und das Minimieren automatischer, blickverengender Aufmerksamkeitsfilter als elementare Gütekriterien, welche unser im Interaktionsprozess weiterentwickeltes und modifiziertes Organisationssystem, d. h. die transzendentale Grundlage unserer Persönlichkeit, zu immer größerer Komplexität hinführen. Wie Csikszentmihalyi treffend erläutert, umfasst diese Komplexitätssteigerung unserer Selbst- und Weltorganisation die beiden komplementären Prozesse einer Differenzierung unserer Charakterstruktur mit der Folge immer exakterer Außenweltstrukturierung einerseits, der Integration als des Miteinbezugs immer neuer Lebensbereiche in unseren einheitlichen Sinnentwurf andererseits. 212 Wiederholt gelangte genug sein, um neue Wünsche und Ziele aufnehmen und alte aufgeben zu können. Offen zu sein für Korrekturen durch eine sich verändernde Welt, vor allem auch durch die Kritik anderer Personen, mit einem Wort: lernen zu können, widerspricht aber nicht grundsätzlich der Idee einer Lebenskonzeption, ja nicht einmal der engeren Idee eines Lebensplans. Die Fähigkeit, das eigene Leben sicher zu steuern, schließt in aller Regel die Fähigkeit zu einem illusionsfreien Umgang mit Kontingenzen verschiedenster Art ein.« (Steinfath: Selbstbejahung, S. 80) 210 Auch Seel unterstreicht, es seien alle »Lebenspläne, die sich im Lauf eines Lebens nach und nach erfüllen sollen, als revidierbare Konzeptionen zu verstehen, in die immer neue Ziele aufgenommen werden können.« (Seel: Versuch, S. 97) 211 Höffe: Personale Bedingungen, S. 420. 212 Csikszentmihalyi akzentuiert allerdings mehr die psychosoziale Schwerpunktverschiebung zwischen Individuum und Gesellschaft: »Man könnte sagen, das Selbst reift,

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man in der psychologischen Persönlichkeitskonzept-Forschung dementsprechend zum Schluss, das Lebensdauerglück erreichten nur reife, komplexe, »gutorganisierte und einheitliche« Persönlichkeiten (3): »Je reicher, einheitlicher, entwickelter, integrierter die Persönlichkeit ist, desto mehr ist sie zu dauerhaftem Glück fähig.« 213 Nicht vollständig abgesichert scheint indes Mogels Supposition, derzufolge »bei differenzierter Systemstruktur und geordneter Integration von Teilsystemen ein höheres Ausmaß autonomer Steuerung«, 214 an Selbstthematisierungs- und Selbstreflexionsprozessen gegeben sei, sowie die Mutmaßung, solche Prozesse müssten unser Lebensglück konsolidieren. Tatsächlich legt aber unsere bisherige Kriteriensuche für glücksbegünstigende Persönlichkeitskonzepte nahe, dass neben der Komplexität eines Konzept als solchem (3. Kriterium) auch der Umgang mit diesem zählt, 215 weil sowohl die Erfahrungs- und Kritikoffenheit, d. i. die kognitive Aufgeklärtheit dank Vorsicht gegenüber allzu tendenziösen automatischen Aufmerksamkeitsfiltern (2. Gütekriterium) wie auch die charakterliche und instrumentelle Idealdisposition einer gelassen-vertrauensvollen, phantasievoll-intelligenten Lebenseinstellung (1. Gütekriterium) unverkennbar eine hohe Bezugssystembewusstheit und -distanz voraussetzen. Indessen wird jeder aufgrund seiner eigenen Erfahrung Mogels Alltagsbeobachtung affirmieren können: Je komplexer ein Persönlichkeitssystem ist, desto deutlicher treten kraft kontinuierlicher Selbstreflexion die Schwächen und Störanfälligkeiten des persönlichen (Selbst-)Konstrukts ins Bewusstsein und mindern dadurch das subjektive Wohlbefinden, während weniger komplizierte und weniger selbstthematische Persönlichkeiten von solchem durch den ständigen Rückbezug auf die bei sich selbst erlebten Unzulänglichindem es immer komplexer wird. Komplexität ist das Resultat zweier wichtiger psychologischer Prozesse: Differenzierung und Integration. Differenzierung bedeutet eine Bewegung auf Einzigartigkeit hin, auf die Absonderung des Selbst von anderen. Integration bedeutet das Gegenteil: Verbindung mit anderen Menschen, mit Gedanken und Gebilden jenseits des Selbst. Ein komplexes Selbst ist eines, dem es gelingt, diese beiden Tendenzen miteinander zu verbinden.« (Csikszentmihalyi: Flow, S. 63) 213 Mayring: Psychologie des Glücks, S. 54, im Rekurs auf McDougall, einen der Väter der modernen Psychologie. 214 Mogel: Persönlichkeitspsychologie, S. 114. 215 Vgl. Steinfath: »Deswegen ist für ein gutes Leben der Umgang mit unseren Lebenskonzeptionen, die Art und Weise, wie wir uns von ihnen leiten lassen, mindestens ebenso wichtig wie der Erfolg, der uns bei der Verwirklichung unserer zentralen Ziele beschieden ist.« (Steinfath: Selbstbejahung, S. 81) A

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keiten verursachten Leiden verschont bleiben. Kann Selbstreflektiertheit als Medium der Selbstkontrolle und Selbststeuerung zugleich Bedingung der Möglichkeit wie stete Gefährdung menschlichen Glücks darstellen? Muss sie tatsächlich als eine automatische und notwendige Folgeerscheinung erhöhter Selbst-Komplexität angesehen werden, oder zwingen uns vielmehr erst allfällige »Differenzen zwischen Selbst und Welt zum Selbst-Bewusstsein« 216 ? Ist es nicht geradezu ein Zeichen für ein gutes, gelungenes und glückliches Leben, wenn unsere grundlegenden Pläne oder Konzepte unverwandt in den sicheren Tiefen »geladenen« Leben-Könnens schlummern, wohingegen der Gescheiterte sich ständig über sein Unglück den Kopf zu zerbrechen hat? 217 4. Außer Zweifel steht zunächst lediglich, dass einerseits im Gegensatz zu desintegrierten, weniger selbstthematischen Systemen mit undifferenzierter Struktur, welche eher durch die Gegenwart und durch momentane Außenweltereignisse bestimmt werden, bei komplexeren Systemen vermehrt Selbstreflexionsprozesse, Bezugssystem-Bewusstheit und autonome Steuerung zu verzeichnen sind. 218 Andererseits erfordern tiefgreifende Reinterpretationen unserer Lebens- und Glückskonzeptionen – und mit ihnen markante Reifungsprozesse – fraglos ein hohes Maß an Selbstreflexion: »Wie grundlegend solche Veränderungsprozesse auf Systemebene sind, hängt damit zusammen, ob Selbstreflexionen bei der Rückkoppelung eine Rolle spielen, d. h. ob das Individuum sich bezüglich seines eigenen Erlebens und Verhaltens selbst thematisiert und z. B. darüber nachdenkt, warum es so denkt, wie es denkt, so handelt, wie es handelt oder warum es manche Umweltgegebenheiten aktiv beeinflusst, hingegen sich von anderen passiv treiben lässt.« 219

Es liegt auf der Hand, dass infolgedessen Menschen mit wenig differenzierten Systemen ohne Selbstthematisierungen sich subjektiv sehr glücklich wähnen können, sofern sie nur von dramatischen LeKrämer: Selbstverwirklichung, S. 100. »Diejenigen, die sich Gedanken über das Glück machen, wiederholen, dass der Glückliche im allgemeinen nicht über sein Glück nachdenkt; viel häufiger denkt der Unglückliche über sein Unglück nach.« (Tatarkiewicz: Über das Glück, S. 136) 218 Vgl. Mogel: »Die Eigendynamik eines solchen [komplexen, D. F.] Bezugssystems ist stärker durch Selbstthematisierungs- und Selbststeuerungsprozesse beeinflusst, wohingegen ein desinteressiertes System mit undifferenzierter Struktur verstärkt Außenwelteinflüssen gehorcht.« (Mogel: Persönlichkeitspsychologie, S. 114 f.) 219 Ebd., S. 99. 216 217

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benseinbrüchen verschont bleiben: Sie richten ihr Leben »bequem und behaglich« ein und scheinen mit ihrer »bornierten Existenz« durchaus ihr »Glück zu machen in der Welt«, 220 selbst dann noch, wenn ihre Lebens- und Glückskonzeptionen auf falschen kognitiven Annahmen beruhten – was ihnen mangels kognitiver Aufgeklärtheit ja verborgen bliebe. Es kann also sein, »dass wir mit unseren Lebenskonzeptionen subjektiv glücklich werden, obwohl sie partiell oder vielleicht sogar überwiegend auf falschen kognitiven Annahmen beruhen«, 221 registriert Steinfath. Solange die Täuschungen und Irrtümer nicht zutage treten und sich dem einmal gefassten Lebensplan keine bedrohlichen »bockenden Tatsachen« 222 in den Weg stellen, scheinen wir weder Grund noch Recht zu haben, solch glücklichen Persönlichkeiten eine kritische Selbstreflexion abzuverlangen. Dennoch haben es sich die Glücks-Philosophen seit jeher zum Auftrag gemacht, dieses subjektive Wohlbefinden als ein »scheinbares« oder »illusionäres Glück« zu entlarven, in der Hauptsache mit dem fundamentalanthropologischen Argument, dass der neuzeitliche Mensch ein selbstbestimmtes Wesen sei, das sein Leben frei und (selbst-)bewusst zu führen hat (4a). Man pflegt darauf zu insistieren, »dass Glück eben nicht nur Glücks- und Zufallssache, sondern auch eine Angelegenheit der ars vitae, der vernünftigen Lebensführung und sinnvollen Lebensplanung eines jeden Menschen sei, der bewusst und mit Vernunft – das aber heißt: der weisheitsliebend – lebt«. 223 Wirkliches menschliches Glück oder Glück in einem emphatischen Sinne, darin sind sich philosophische Glückstheoretiker in der Regel einig, steht nur Menschen offen, die über ein ausgreifendes Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Lebenslage verfügen und damit zur freien Selbstbestimmung fähig sind (4a), wobei grundsätzlich gilt: »Für alle Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben führen können, […], wäre es gut, es tatsächlich […] als ein selbstbestimmtes zu führen. Wer nämlich überhaupt selbstbestimmungsfähig ist, für den wäre es schwerlich die

220 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 32 f. Vgl. zur bornierten Existenz, die Kierkegaard der »Verzweiflung der Endlichkeit« subsumiert, meine Ausführungen in Kapitel 2.2, S. 96 f. 221 Steinfath: Selbstbejahung, S. 86 f. »Es gibt«, so komplettiert Steinfath, »keine prästabilierte Harmonie zwischen Glück und Wahrheit.« 222 Vgl. Wittgenstein: Über Gewissheit, 616. 223 Günther Bien: Über das Glück, S. 27.

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beste Wahl, den Spielraum selbstbestimmer Praxis zu haben (falls er denn sozial gegeben ist), ohne ihn wahrnehmen zu wollen. 224

»Selbstbestimmung« mahnt Seel dabei mit Recht jenseits der vermessenen Aspirationen auf totale Willkürfreiheit oder Autarkie gegenüber sämtlichen Lebensumständen in einem moderaten Sinne zu verstehen als »Fähigkeit, in Antwort auf gegebene historische, soziale und biographische Bedingungen den Kurs des Handelns aus eigener Überlegung zu bestimmen.« 225 Obgleich wir, wie bereits mehrfach hervorgekehrt, um einer charakterlichen Festigkeit und Kontinuität unseres Lebenslaufs willen die Kursrichtung unseres Lebens, unseren Lebensstil gewöhnlich nach überwundener Adoleszenzkrise festlegen, reicht doch fundamentalanthropologisch gesehen ein solch freier, in die kognitiven Tiefen des Ungewussten hinabgewirkter Initialentwurf für ein selbstbestimmtes Leben nicht aus: Auch wo die historischen, sozialen und biographischen Bedingungen relativ stabil sind und somit unsere richtungsweisende einmalige Antwort ihre Gültigkeit behalten zu können scheint, bildet das kognitive, stets verfügbare aber ungewusste, d. h. nicht bewusst repräsentierte Persönlichkeitskonstrukt erst die transzendentale Grundlage unserer Ich-Idenität, unseres »Selbst« oder unserer Persönlichkeit. Was aber letztlich die Persönlichkeit, was die »Personalität«, den Personcharakter eines ex-zentrisch ex-sistierenden Menschen ausmacht, ist der in Kapitel 6.1 als »reflektierendes Ich« oder »reines Selbst« deklarierte aktive Teil unseres »Selbst«, sind »Vernunft, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit oder sittliches Bewusstsein«, 226 in Kierkegaards Terminologie der »Geist«. 227 Dieses aktive »reine Selbst« kontrolliert in seiner Tätigkeit des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens die Angemessenheit unseres ideellen transzendentalen Entwurfs an unsere biologischen und psychischen Möglichkeiten und Fähigkeiten sowie an die natürlichen Seel: Versuch, S. 180. Ders.: Glück, S. 159. 226 Artikel »Person« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 227, hier als »mögliche Kriterien für das Vorliegen von Personalität« ins Feld geführt. 227 »Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält«, wobei dieses repetitive »dass« den Vorgang, die »Tathandlung« (Fichte) des Sich-Verhaltens herausstreicht (Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 13). 224 225

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und sozialen Umstände als Bestandteile unseres »empirischen Selbst«. Auch der Psychiater Frankl affirmiert, dass »der Mensch ein zwar nicht nur, aber im Wesen geistiges Wesen darstellt und die geistige Dimension für ihn insofern konstitutiv ist, als sie […] die eigentliche Dimension seiner Existenz repräsentiert, mag man nun dieses Geistige im Menschen phänomenologisch als seine Personalität oder anthropologisch als seine Existentialität umreißen.« 228 Keineswegs wollen wir aber in den Fußstapfen Kierkegaards aus der höchst unplausiblen Prämisse, bei den meisten Menschen sei »der Geist nicht als Geist, sondern unmittelbar bestimmt«, 229 deduzieren, die große Zahl von den simplen »bornierten Existenzen« bis hin zu den kunstvollen ästhetisch-hedonistischen sei nur zum Schein glücklich, in Wahrheit aber verzweifelt. 230 Auch soll nicht behauptet werden, der Mensch büße seinen Exzentrizitäts- oder Personencharakter ein, sobald er sich nur einen Augenblick lang keiner kritischen Selbstprüfung unterziehe, und mutiere im Schlafe zur Pflanze, 231 denn die Rede ist vielmehr von einer »reflexen Intention im Generellen, die sich auf die Gesamtsituation bezieht und die für ein erfülltes Leben von hohem Belang ist«, 232 von einer zur festen Grundhaltung gewordenen Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbststeuerung. Otfried Höffe bezeichnet diese reflexive Fähigkeit im Anschluss an die antike Tugendlehre als »Besonnenheit« und misst ihr ebenfalls große Bedeutung für das menschliche Glück bei: »Zur Steigerung der Glücksfähigkeit ist zunächst jene Selbstkontrolle oder Selbststeuerung zu empfehlen, die Platon im ›Staat‹ (430e, 7) als ein SichFrankl: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 64. So lautet das Memento des Ethikers B in Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 2, S. 732. Vgl. auch den verzweifelten Ausruf des Ästhetikers A ebd., Bd. 1, S. 33: »Soll denn mir das Zungenband des Geistes nie gelöst werden, soll ich immer lallen?« 230 »In der Unwissenheit darüber, verzweifelt zu sein, ist der Mensch am weitesten entfernt, seiner als Geist sich bewusst zu sein. Gerade dies aber, seiner als Geist nicht bewusst zu sein, ist Verzweiflung, welche Geistlosigkeit ist, […] Diese Form der Verzweiflung (die Unwissenheit über sie) ist die allgemeinste in der Welt.« (ders.: Die Krankheit zum Tode, S. 43) 231 Aristoteles postuliere, meint Nussbaum mit Verweis auf die Eth. nic. 1095b, 4 ff. und die Eudemische Ethik, 1216a, »dass das Leben des Schlafenden wie das Leben einer Pflanze ist, nicht mehr« (Martha Nussbaum. Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 128). »Denn offenbar ist es möglich, dass man im Besitze der Tüchtigkeit auch schlafen oder sein Leben lang untätig sein kann«, lesen wir an ersterer Stelle: »Wer aber so lebt, den wird niemand glückselig nennen.« 232 Krämer: Selbstverwirklichung, S. 100. 228 229

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selbst-überlegen-sein (kreitto hautou) oder auch als Besonnenheit (sophrosyne) bezeichnet. Besonnen ist allerdings noch nicht, wer lediglich hin und wieder zur Selbstkontrolle fähig ist. Besonnen ist erst, wem das Sich-selbstüberlegen-sein zu einer Grundhaltung geworden ist.« 233

Im fundamentalanthropologischen Interesse an der Selbstkontrolle und Selbstbestimmung muss unser Glück auf einer grundsätzlich selbstbewussten und selbstmächtigen Lebensführung basieren, auch wo dies unserem »subjektiven Wohlbefinden« Abbruch tut. Obgleich also alle Menschen nach Glück streben und weniger komplexe Selbstsysteme mit einem Minimum an Selbstreflexion auskommen mögen, ist für den Menschen prinzipiell nur ein »wirkliches Glück« erstrebenswert, das einer kritischen Selbstprüfung hinsichtlich der kognitiven Aufgeklärtheit unserer Konstrukte, der durch diese lancierten Komplexitätssteigerung unserer Persönlichkeit sowie der produktiven Entwicklung unserer Kräfte und Begabungen 234 standhält. Diese »Voraussetzung ist in der philosophischen Tradition in die Behauptung gefasst worden, dass wir nach dem ›wahren‹ und nicht bloß ›scheinbaren‹ Guten oder dem ›wirklichen‹ und nicht bloß ›illusionären‹ Glück streben.« 235 Philosophische Disqualifikationen eines menschen-unwürdigen Glücks sind mithin überall – und nur da – angebracht, wo man sich jeder kritischen Selbstprüfung verschließt und damit sowohl eine Zukunfts- und Revisionsoffenheit unserer Lebenspläne erschwert (Gefahr: »illusionäres Glück«!), als auch eine Verkümmerung noch in uns schlummernder intellektueller, spiritueller, künstlerischer oder handwerklicher Begabungen zugunsten der Sicherheit und Bequemlichkeit einer vertrauten, anspruchslos-unproblematischen Lebensform riskiert (»kleines Glück«). »Klein« ist das Glück in diesem Kontext wohlgemerkt nicht im Sinne eines an das Materielle verhafteten Hedonismus, sondern weil man sich zu schnell und bequemlich auf einfache, herkömmlich Skripts festnageln lässt, ohne seine PoHöffe: Personale Bedingungen, S. 414. Auch Fromm nennt Freiheit und Vernunft als Kennzeichen der Lebensführung eines glücksfavorablen »produktiven Charakters«: »Wenn wir sagen, der Mensch muss seine Fähigkeiten gebrauchen, so heißt dies, dass er frei sein muss und von niemandem abhängen darf, der ihn und seine Kräfte beherrscht. Es bedeutet ferner, dass er von Vernunft geleitet ist, da er seine Kräfte nur dann gebrauchen kann, wenn er weiß, worin sie bestehen, wie sie gebraucht werden müssen und wofür sie dienen sollen.« (Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 73) 235 Steinfath: Selbstbejahung, S. 85. 233 234

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tentiale wahrzunehmen. Hingegen wäre es sicherlich verfehlt, mit Steiner sämtliche Menschen mit gewöhnlichen, sozial angepassten »banalen Skripts« als »unglücklich« zu diskreditieren, weil solche per se lediglich die »Illusion einer Freiheit« suggerierten und »niederschmetternd langweilig« seien, 236 oder gleich Nietzsche dem behaglichen gutmütigen »Herdentier« Mensch schlechthin vorzuwerfen, es hätte keine Ahnung von dem an hohe Ziele gebundenen (»großen«) Glück des (»Über«-)Menschen. 237 Denn solch bescheidene, unspektakuläre Skripts mindern wohl nur dann das einem Menschen mögliche Glück, wenn sie ihm ungeachtet seiner eigenen Potentiale von einem repressiven sozialen Umfeld aufoktroyiert oder aber aus der Angst vor Hindernissen, Unlust, Leid und Krisen geboren und konserviert werden. Insofern hat Nietzsche sicherlich recht, wenn er uns mit Blick auf das »große Glück« »Muth zum Leiden« macht. 238 Da weder ein – gemessen an den eigenen konzeptuellen Zielvorgaben – erfolgreiches Leben, zeichne es sich auch durch soziale Nützlichkeit aus, noch ein subjektives Wohlbefinden bei unzulänglicher Selbstbestimmung ein wirkliches, wahrhaft menschliches Glück verbürgen, mahnen auch Psychotherapeuten wie Adler oder Steiner die Eltern inständig zur Autonomie-Erziehung, 239 welche nicht nur zum autonomen Initialentwurf, sondern darüber hinaus zur Autonomie gegenüber dem eigenen Lebensplan anleiten soll. Natürlich muss dabei der von Seel bezeigte »Spielraum selbstbestimmter Praxis« sozial gegeben sein, 240 weshalb ein LebensskriptTherapeut konsequenterweise gegen soziale Unterdrückung in niedrigen sozialen Schichten und ungleiche Ausbildungschancen anzukämpfen hätte. 241 Vgl. Steiner: Wie man Lebenspläne verändert, S. 120. Vgl. Kapitel 2.2, S. 114 ff. oder Kapitel 3.1, S. 166 f., insbes. Fußnote 74. 238 Vgl. ebd., Fußnote 71. Ähnlich ermahnt uns auch Höffe bezüglich menschlicher Sinn- und Glücksmöglichkeiten: »Zur Sinnfähigkeit des Menschen gehört es deshalb zu wissen, dass Sinnprobleme oder Sinnkrisen zu haben keine ›Schande‹ ist; viel eher sind sie ein Zeichen von Leben und Menschlichkeit.« (Höffe: Personale Bedingung, S. 421) 239 Vgl. Steiners »Zehn Regeln für die Erziehung zur Autonomie«, in: Wie man Lebenspläne verändert, S. 349 f., oder Adler: Lebenskenntnis, S. 63: »Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder unabhängig werden, und das können wir nur, wenn wir sie dazu bringen, dass sie die Fehler in ihrem Lebensstil einsehen.« 240 Vgl. oben, S. 396. 241 Diese logische Konsequenz zieht in expliziter Absetzung vom apolitischen Begründer der Transaktionsanalyse (Eric Berne) etwa Steiner: Wie man Lebenspläne verändert, S. 121. 236 237

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Menschliches Glück ist also aufgrund dieser Autonomie-Forderung prinzipiell »eine Daseinsmöglichkeit, die nur selbstbewussten Lebewesen offensteht, die sich in der Zeit ihres Lebens zu der Zeit ihres Lebens verhalten müssen und verhalten können«, 242 womit zugleich der Schritt auf einen Nebenschauplatz zu einem zweiten philosophisch-anthropologischen Argument vollzogen ist: Der Mensch wird nicht schon dank einer internalisierten, ihn teleologisch auf eine Hierarchie von wesentlichen Lebenszielen fixierenden Lebens- und Glückskonzeption allein glücklich, auch wenn diese sich reibungslos vollstrecken sollte, weil er als genuin geschichtliches Wesen immer wieder die gesamte Zeit seines Lebens sich ins Bewusstsein rufen und begutachten muss (4b). Bei Bühlers Lebenslaufstudien erwiesen sich nicht nur solche selbstreflexiven zeitübergreifenden »Ergebniserfahrungen« als glückskonstitutiv, 243 sondern auch das Bewusstsein, unsere Ziele im »richtigen Alter« und »zur richtigen Zeit« verwirklicht zu haben: »Dem emotional Gesunden ist es wichtig, Dinge zur ›richtigen Zeit‹ zu erleben und zustande zu bringen. Diese ›richtige Zeit‹, welche in der Kontrollgruppe der soeben erwähnten Studie häufig zur Sprache gebracht wird, ist einerseits auf biologische Gesichtspunkte bezogen, andererseits werden sozial-kulturelle Faktoren dabei berücksichtigt. Das Bewusstsein, Dinge im ›richtigen Alter‹ zur ›richtigen Zeit‹ getan zu haben, scheint wesentlich zum guten Lebensgefühl beizutragen.« 244

Als drittes anthropologisches Argument für eine bewusste und vernünftige Lebensführung zur Vermeidung eines »scheinbaren« oder »illusionären Glücks« kann schließlich die »soziale Natur« des Menschen in Anschlag gebracht werden, »die uns von der Anerkennung anderer abhängig macht und uns in die Lage versetzt, uns selbst mit den Augen anderer zu sehen« 245 (4c). Tatsächlich legte auch unsere Seel: Versuch, S. 63. Vgl. Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, S. 24: »Im Tierleben ergibt sich offenbar die Entwicklung Schritt für Schritt in einer Abfolge mehr oder weniger wohlgelingender Aktivitäten mit mehr oder weniger gelungenen Enderfüllungen der jeweiligen Strebungen. Es ist nicht anzunehmen, dass es hier wie im Menschenleben zusammenschließende Zielstrebungen und zusammenfassende Ergebniserfahrungen gibt. Diese Ergebniserfahrungen und das Bedürfnis, Ergebnisbetrachtungen anzustellen, dürften dem menschlichen Bewusstsein allein zuzuschreiben sein.« 244 Ebd., S. 33. 245 Steinfath: Selbstbejahung, S. 85. 242 243

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auf Erikson und Mead rekurrierende Darstellung der Persönlichkeitsentwicklung an den Tag, dass der Mensch sich selbst nur kraft der Einnahme der Perspektiven der anderen bewusst werden und über eine »Ich-Identität« verfügen kann. 246 Wenn wir daher ein Lebens- und Selbstkonzept und damit unser an diese gebundenes Lebensglück auf allzu dürftiger Erfahrungsgrundlage oder asozialen Wertüberzeugungen bauen, so dass wir sie unseren Mitmenschen gegenüber schwerlich vertreten und mit ihrer Honorierung rechnen können, setzen wir mit einem solch eigenwilligen Glücksstreben letztendlich unsere Ich-Identität als einheitliche, aber offene und veränderliche Synthese von persönlicher und sozialer Identität aufs Spiel. Auch bei diesem dritten Argument gilt grundsätzlich: wo wir »keinen akuten Anlass sehen, unser Leben einer kritischen Prüfung zu unterziehen«, sollten wir nach Steinfaths Memento »doch stets ansprechbar für eine solche Prüfung« 247 sein. Lassen wir kurz den bisherigen Argumentationsgang anlässlich der Frage, wie das menschliche Handeln motiviert sei, auf dass wir das menschliche Glück als Grundzug tätigen Lebens besser begreifen können, Revue passieren: Nach kurzem Oszillieren zwischen den psychologischen dualen Forscherkonzepten der Dispositions- und der Situationshypothese entschieden wir uns für die Wechselwirkungstheorie der Persönlichkeit, die sowohl dem Genotypen wie den Außenwelteinflüssen Rechnung trägt und die Persönlichkeit in einem transzendentalen Sinne als ein dynamisches System von Erkenntnisstrukturen, Motiven, emotionalen Schemata, Werten und Richtlinien unserer Lebensform begreift. In einem solchen Persönlichkeitssystem ist also nicht nur unsere Ich-Identität festgeschrieben, sondern unsere handlungsleitenden Motive, unsere Lebensform als ausgebildeter Selbstentwurf und mit diesem zugleich unsere Glücksvorstellung. Als glücksförderliche Gütekriterien eines Selbstbzw. Lebenskonzeptes ließen sich 1. Gelassenheit und Glauben/Vertrauen (Charakterdispositionen) sowie Phantasie und Intelligenz (instrumentelle Dispositionen) eruieren, 2. Kognitive Aufgeklärtheit, Revisions- und Zukunftsoffenheit, 3. Komplexität (Differenzierung 246 »Daher ist der Ursprung und die Grundlage der Identität ebenso wie des Denkens gesellschaftlicher Natur«, konkludiert Mead: »selbstbewusst, identitätsbewusst sein heißt im Grunde, dank der gesellschaftlich Beziehung zu anderen für seine eigene Identität zum Objekt werden.« (Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 216 und S. 215) 247 Steinfath: Selbstbejahung, S. 85.

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und Integration) und 4. Selbstreflexivität, d. h. Bezugssystemdistanz und -bewusstheit, die freilich bereits für (1) und (2) konstitutiv sind. Ein ausgreifendes Bewusstsein seiner selbst und seines Lebens scheint aus fundamentalanthropologischen Gründen im Interesse der Selbstbestimmung einer exzentrisch existierenden Persönlichkeit (4a), aufgrund der genuinen Geschichtlichkeit (4b) und der Angewiesenheit auf soziale Anerkennung des Menschen (4c) unabdingbar. Für Bezugssystem-Distanz gilt es also nicht nur im Fall krisenhafter Differenzen zwischen Selbst und Welt zu optieren, sondern im Sinne einer habitualisierten »reflexen Intention im Generellen« – auch dann noch, wenn sie unser subjektives Wohlbefinden zu dezimieren droht. Grundlegender als alle drei anthropologischen Argumente ist aber noch die uns allen aus eigener Erfahrung vertraute Tatsache, dass trotz eines noch so ausdifferenzierten, kognitiv-ungewussten Motivationssystems immer noch alternative Wahlmöglichkeiten in konkreten Handlungssituationen offen bleiben, die uns regelmäßig zum Reflektieren zwingen (4d). So stellt in Kellys Bild dieses Konstrukt ein Labyrinth von offenen, nach je zwei Richtungen gangbaren Wegen dar, 248 die ein Mensch nehmen kann, wobei gelte: »Eine Persönlichkeit wählt für sich innerhalb eines zwei Möglichkeiten aufweisenden Konstrukts jene Möglichkeit, von der sie die größten Chancen einer Erweiterung und Bestimmung ihres eigenen Systems erwartet«, 249 d. h. welches die Komplexität seiner Persönlichkeit steigert. Nach diesen Erörterungen zur Genese, dem richtigen Zeitpunkt der Wahl und zu den Qualitätsmerkmalen eines glückskonstitutiven Lebensplans wollen wir uns nun den in diesem sinnvoll integrierten Handlungszielen selbst zuwenden. Da die Ziele, die ein Mensch verfolgt, in der Psychologie seit Mitte der 80er Jahre nachgerade als »heißes Thema« figurieren, 250 liegt hier erheblich mehr Forschungs248 Jeder Mensch forme sich, so Kelly, »sein eigenes Labyrinth. Die Wege in diesem Labyrinth sind die Konstrukte, die er bildet. Jedes von diesen ist eine nach beiden Richtungen hin offene Straße, somit jedes von ihnen ein Paar von Alternativen, zwischen denen ein Mensch wählen kann.« (Kelly: Der Motivationsbegriff als irreführendes Konstrukt, S. 506) 249 Ebd., S. 508. 250 Vgl. Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 129. Im angloamerikanischen Bereich liegen gleich vier einschlägige Ansätze vor: derjenige von E. Klinger (current concerns – aktuelle Anliegen), B. R. Little (personal projects – persönliche Projekte), R. A. Emmons (personal strivings – persönliche Bestrebungen) und N. Cantor (current life tasks – gegenwärtige Lebensaufgaben).

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literatur vor. Soweit die einschlägigen Ergebnisse sowohl fundamentalanthropologisch wie glückstheoretisch relevant sind, sollen sie hier kurz resümiert werden: 1. Während Brian Littles Untersuchungen ergaben, dass die Lebenszufriedenheit bei Personen, die sich mit Projekten beschäftigen, die gerade jetzt wichtig sind und jetzt Freude machen, höher ist als bei Personen, die sich mit langfristigen Bestrebungen abgeben, 251 eruiert Robert Emmons, konkrete Ziele (etwa: immer tadellos gekleidet zu sein) begünstigten gegenüber abstrakten (etwa: ein guter Mensch zu sein) erheblich unser Wohlbefinden. 252 Obgleich der Appell plausibel scheint, unser Lebensglück an klare, deutlich umrissene und konkrete Ziele zu knüpfen, wäre anstelle des kurzsichtigen Schlusses von Little/Emmons auf eine ausschließliche Hingabe an augenblickliche, konkrete Lebensziele vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten zweifellos die Folgerung konsequenter, unsere globalen, abstrakt-allgemeinen Zielrichtungen kontinuierlich und ausreichend in Teilpläne und konkrete Erfüllungsgestalten zu untergliedern bzw. zu spezifizieren. 2. Klare und konkretisierte Ziele oder Aufgaben sind unserem Lebensglück nicht nur förderlich, weil sie leichter realisierbar und abstrakte Ziele überhaupt nur auf kasuistischem Wege zu verfolgen sind, sondern auch, weil nur bei ihnen deutliche Rückmeldungen über das bereits Erreichte unmittelbar erfolgen, welche für die kognitive Komponente unserer Glücksstimmung unabdingbar und maßgebend sind. Csikszentmihalyi exemplifizert dies so: »Grund für derart absolute Vertiefung in einer flow-Erfahrung ist, dass die Ziele gewöhnlich deutlich umrissen sind und die Rückmeldung unmittelbar erfolgt. Eine Tennisspielerin weiß in jedem Augenblick ganz genau, was sie zu tun hat: den Ball ins Feld des Gegners zurückschlagen. Und jedesmal, wenn sie den Ball trifft, weiß sie, ob sie es gut gemacht hat oder nicht. […] Der Bergsteiger an einer senkrechten Felswand hat ein sehr einfaches Ziel vor Augen: er muss den Aufstieg beenden, ohne zu stürzen. Jede Sekunde, Stunde um Stunde, erhält er Informationen, dass er sich diesem Grundziel nähert.« 253

Vgl. ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 138. 253 Csikszentmihalyi: Flow, S. 81. Vgl. dazu auch Zeier: Arbeit, Glück und Langeweile, S. 75. 251 252

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3. Fortwährende Rückmeldungen ihrerseits spielen eine kaum zu überschätzende Rolle für das glückskonstitutive Gefühl, unsere zielgerichteten Tätigkeiten kontrollieren zu können, 254 wobei freilich die mit Glück korrelierende Kontrollüberzeugung erfordert, erst einmal die Sicherheit alltäglicher Routine aufzubrechen: Gerade Menschen, denen es entweder gelingt, unter objektiv unzumutbaren Bedingungen durch raffinierte Zielsetzungen ihr Leben und die Erfahrung ihrer Situation zu kontrollieren, 255 oder sogenannten »Risikogeilen« wurde immer wieder höchstes menschliches Glück zuteil. Entgegen verbreiteten Vorurteilen entspringt nämlich die Freude risikoreicher Tätigkeiten wie Bergsteigen nicht dem Sich-Aussetzen schaudererregender Gefahren, sondern vielmehr einer qualifizierten Kontrollfähigkeit und der dank ihr errungenen weitgehenden Bannung des Risikos. Auch dies soll anhand eines Beispiels von Csikszentmihalyi erläutert werden: »Es geht beim Klettern also darum, objektive Gefahren so weit wie möglich zu vermeiden und subjektive Gefahren durch strenge Disziplin und vernünftige Vorbereitung auszuschließen. Daher sind Bergsteiger überzeugt, das Matterhorn zu erklimmen sei weniger gefährlich als in Manhattan eine Straße zu überqueren, weil die objektiven Gefahren – Autos, Radfahrer, Busse, Taschendiebe – viel weniger vorhersehbar seien als Gefahren in den Bergen, und weil die persönlichen Fähigkeiten des Fußgängers weniger dazu angetan sind, für Sicherheit zu sorgen.« 256

Voraussetzung für ein Lebensdauerglück wäre es dementsprechend, den gesamten Lauf seines Lebens selbst steuern zu können, statt nur einzelne Tätigkeitsbereiche isoliert zu beherrschen. Mögen unsere Lebensziele noch so klar und konkret sein (1) und 254 »Unter den weiteren Persönlichkeitsvariablen ist es der hohe Selbstwert […] und die Kontrollüberzeugung, die immer wieder mit Glück korrelieren«, registriert Mayring (in: Psychologie des Glücks, S. 94). 255 Vgl. dazu die vielen Rapporte aus dem KZ vom ehemaligen Häftling Frankl, etwa in: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 270 f. und S. 287 f. oder ders: Der leidende Mensch, S. 217 f. Menschen in schwierigen Situationen »überlebten, indem sie Wege fanden, die objektiv schlechten Bedingungen in subjektiv kontrollierbare Erfahrungen zu verwandeln. Sie folgten dem Grundmuster von flow-Aktivitäten. Zunächst schenkten sie noch winzigsten Einzelheiten ihrer Umgebung Aufmerksamkeit und entdeckten darin verborgene Möglichkeiten zum Handeln, die ihren eingeschränkten Fähigkeiten unter diesen Bedingungen entsprachen. Dann setzten sie sich Ziele, die der schwierigen Situation angemessen waren, und beobachten ihren Fortschritt durch die eingehende Rückmeldung sorgfältig.« (Csikszentmihalyi: Flow, S. 126) 256 Ebd., S. 89.

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ihre Verfolgung kontinuierliche, unmittelbare und deutliche Rückmeldungen zeitigen (2), wird uns all dies kein Glück bescheren bei allzu trivialen Zielen, welche kaum eine qualifizierte Kontrollmöglichkeit erlauben (3). Worauf es daher vor allen Dingen ankommt, ist die richtige Wahl des Anspruchniveaus unserer Lebensziele (4): »Wenn man ein triviales Ziel wählt, bereitet der Erfolg natürlich keine Freude. Wenn ich es als Ziel betrachte, am Leben zu bleiben, solange ich auf dem Sofa sitze, könnte ich Tage in der Erkenntnis verbringen, es zu erreichen, genau wie der Bergsteiger. Aber diese Erkenntnis macht mich nicht besonders glücklich, während die Erkenntnis des Bergsteigers für den gefährlichen Abstieg große Freude bringt«. 257

Bei der Ermittlung des richtigen Anspruchniveaus pflegen Philosophen auf einen Aristoteles unterschobenen Grundsatz, Psychologen hingegen auf das empirisch verifizierte »Erwartungs- mal Wert-Modell« John Atkinsons zu schwören. »Unter gleichen Umständen«, so formuliert Rawls den sogenannten »Aristotelischen Grundsatz«, »möchten die Menschen gern ihre (angeborenen oder erlernten) Fähigkeiten einsetzen, und ihre Befriedigung ist desto größer, je besser entwickelt oder je komplizierter die beanspruchte Fähigkeit ist.« 258 Wenngleich Rawls deklariert, es erübrige sich »auseinanderzusetzen, warum der Aristotelische Grundsatz richtig ist«, mobilisiert er die zugrundeliegenden Intuitionen, dass kompliziertere, anspruchsvollere Tätigkeiten a) »das Bedürfnis nach neuen und vielfältigen Erfahrungen befriedigen« und b) Gelegenheit bieten für die Entwicklung eines persönlichen Stils und Ausdrucks. 259 Demgegenüber legt der Motivationspsychologe Atkinson kühl kalkulierend die reziproke Beziehung zwischen der Erfolgswahrscheinlichkeit, die evidentermaßen mit der Leichtigkeit einer gesetzten Aufgabe bzw. der Trivialität der beanspruchten Fähigkeiten zunimmt, und dem Erfolgsanreiz, der gerade mit der Höhe der Ziele und den erforderlichen Qualitäten steigt, an den Tag: »Je größer das eine, um so kleiner das andere.« 260 Eine Ebd., S. 82. Vgl. auch Dieter Birnbacher: Der Streit um die Lebensqualität, S. 143. »Der intuitive Gedanke ist hier der«, erläutert Rawls, »dass Menschen etwas lieber tun, wenn sie es besser können, und dass sie von zwei gleich gut beherrschten Tätigkeiten diejenige vorziehen, die mehr und kompliziertere und scharfsinnigere Urteile verlangt.« (Rawls: Eine Theorie, S. 464 f.) 259 Vgl. ebd. Anschließend präsentiert Rawls den aristotelischen Grundsatz als psychologisches Entwicklungsgesetz (vgl. ebd., S. 466) und erklärt ihn zur »Naturtatsache« (ebd., S. 467). 260 Rheinberg: Motivation, S. 69. »Atkinson nimmt an, dass die Zielsetzung sowohl von 257 258

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glücksförderliche »realistische Zielsetzung« lässt sich in der formalisierten Darstellung des Erwartungs- mal Wert-Modells daher bei mittelschweren Zielen lokalisieren, die zwar sehr anspruchsvoll sind und hohe Qualifikationen und Anstrengungen erfordern, mit vollem Einsatz aber gerade noch erfolgreich gemeistert werden können – wodurch der aristotelische Grundsatz nach oben hin zurechtgestutzt wird. Nur wenn wir also das Anspruchniveau unserer Lebensziele so ansetzen, dass diese in bezug auf unsere Fähigkeiten und Begabungen herausfordernd genug sind, gleichwohl aber nicht völlig außer Reichweite liegen, steht uns die Tür zum Glück als Grundzug eines tätigen Lebens offen. Sind wir dabei nur glücklich angesichts der hohen erbrachten Endleistung, des beachtlichen resultierenden Erfolges, wie es das einseitig zweckrationale Motivationsmodell Atkinsons suggeriert, 261 oder bereits auf dem Weg zu diesem Ziel hin, indem wir uns vollständig in die anspruchsvolle Tätigkeit hineinzuversenken vermögen, welche uns immer neue, reichhaltigere Erfahrungen beschert (a) und damit eine Vertiefung und Komplexitätssteigerung unseres Persönlichkeitssystems lanciert (b)? Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, ob hinsichtlich menschlichen Glücks eher intrinsischen oder extrinsischen Zielsetzungen das Primat zukommen soll (5). Vorweg muss allerdings konzediert werden, dass das kontrastive Begriffspaar intrinsisch-extrinsisch sich zwar seit den 50er Jahren in der Motivationspsychologie größter Beliebtheit erfreut, ohne dass man sich allerdings über die Bezugsgröße für das, was intrinsisch sei, auch nur approximativ einig geworden wäre. Entweder betrachtet man eine Person dann als »intrinsisch motiviert«, wenn sie aus eigenem Antrieb handelt ohne von außen gesteuert zu werden, identifiziert also intrinsisches Tun terminologisch irritierenderweise mit der Erfolgswahrscheinlichkeit als auch von dem Erfolgsanreiz abhängt (Erwartungsmal Wert-Modell). Eine extrem schwierige Aufgabe hätte zwar einen sehr hohen Erfolgsanreiz. Sie bleibt aber unattraktiv und löst keine Leistungsmotivation aus, weil die Erfolgswahrscheinlichkeit Null ist. Umgekehrt ist eine extrem leichte Aufgabe zwar mit 100 %iger Sicherheit zu schaffen. Gerade deshalb ist aber ihr Erfolgsanreiz Null. Man weiß ja, dass man so etwas ›im Schlaf‹ kann.« (ebd.) 261 Vgl. etwa Rheinbergs kritischen Kommentar zu den kognitiven Motivationsmodellen insgesamt: »Unübersehbar ist zudem die unterstellte Zweckrationalität der Motivationsstruktur. Gehandelt wird, weil ein Ergebnis möglich ist, das wegen seiner wahrscheinlichen Folgen erstrebenswert erscheint. Anreiz besitzen in diesem Modell lediglich die Folgen. Die Handlung ist nur deshalb attraktiv, weil ihr Endresultat attraktive Dinge nach sich zieht.« (ebd., S. 137)

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»selbstbestimmtem autonomem Handeln«, 262 lässt in Analogie zur aristotelischen Differenz von Poiesis und Praxis 263 nur diejenigen Aktivitäten als intrinsisch motiviert gelten, die allein um des Tätigkeitsvollzuges willen ausgeführt werden, nicht aber auf den Anreiz von Zielen gerichtet sind, 264 oder man entscheidet sich für die gemäßigtere Position einer Separation der intrinsisch-tätigkeitszentrierten von einer extrinsisch-zweckzentrierten Motivation: Bei intrinsischer qua tätigkeitszentrierter Motivation sind im Gegensatz zur aristotelischen rigiden Sichtweise, welche neben dem moralischen Handeln lediglich noch kontemplative Tätigkeiten des Wahrnehmens oder Denkens der selbstzweckhaften Praxis zurechnet, 265 Ziele und Ergebnisse nicht ausgeschlossen, sofern sie nur gewählt werden, um die beglückende Tätigkeit wie Musizieren oder Spazieren zu ermöglichen. Zwar nimmt man sich ein klar definiertes Ziel vor, welches die entsprechenden Tätigkeiten erst konstituiert, beispielsweise das interpretatorische Einstudieren eines gefälligen Musikstückes in einem bestimmten Zeitraum oder das Wandern zu einem attraktiven Reiseziel, obgleich der eigentliche Anreiz in der jeweiligen Tätigkeit des Musizierens oder Spazierens selbst liegt. 266 Kann aber, wenn man für eine moderate Bestimmung intrinsischer Motivation optiert, eine Tätigkeit tatsächlich zugleich zielgerichtet und selbstzweckhaft sein? Ist der angeblich immanente Zweck intrinsischer Praxis wirklich die Tätigkeit selbst, oder vielmehr das sie begleitende Glücksgefühl? 262 Vgl. die Ansätze von DeCharms oder Deci & Ryan in: Rheinberg: Motivation, S. 140. 263 Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1094a, 3 ff. Während es beim Streben im technischen Sinne (Poiesis) nur auf das Werk, das Ergebnis bzw. die Folgen der Handlung ankommt, welche daher »besser als die Tätigkeiten« sind (ebd.), wird bei der Praxis – im Deutschen missverständlich als Handlung (im engeren Sinne) wiedergegeben – das Ziel bereits im Vollzug der Tätigkeit selbst erreicht, ist ihr also immanent. 264 Diese restriktive Definition findet sich etwa bei McReynolds (1971). Vgl. Rheinberg: Motivation, S. 138 f. 265 Vgl. die Zusammenstellung bei Höffe: Aristoteles, S. 195: »Die Beispiele sind nicht etwa stets moralischer Natur. Wer sieht, heißt es in Met. IX (1048b23 f.), hat auch schon gesehen (für das Hören und das Wahrnehmen überhaupt, vgl. De sensu 6, 446b2 f.); wer überlegt, hat überlegt; wer denkt, hat schon gedacht. Hier und bei Handlungen der Tapferkeit, Besonnenheit oder Gerechtigkeit fällt das Ziel des Handelns mit dem Vollzug zusammen.« 266 Die wissenschaftliche Analyse solcher Motivationsstrukturen liegt v. a. für den Bereich des Freizeitverhaltens vor (vgl. Rheinberg: Motivation, S. 132), etwa bezüglich der dynamic joys beim schnellen Autofahren, beim Sport e t c. (vgl. zu den einschlägigen Studien ebd., S. 137).

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Ohne Zweifel gibt es, wie Holmer Steinfath trefflich exemplifiziert, zahllose auf konkrete, klare und angebbare Ziele gerichtete selbstzweckhafte Tätigkeiten, die paradoxerweise »sowohl zielgerichtete Handlungen fundieren als auch ihrerseits in diesen fundiert sind«: »So können wir uns wünschen, ein Buch zu schreiben, weil wir die Tätigkeit des Schreibens als solche schätzen, obwohl wir sie nur als solche schätzen, wenn wir das Ziel eines fertigen Buches vor Augen haben. Und umgekehrt können wir das fertige Buch um seiner selbst willen schätzen, aber nur insofern, als es der selbstzweckhaften Tätigkeit des Schreibens entspringt. Was wir dann um seiner selbst willen wünschen, ist die auf ein Ziel gerichtete Tätigkeit als solche.« 267

Wir schätzen also die zielgerichtete, intentionale Tätigkeit um ihrer selbst willen, d. h. als eine lohnenswerte, wertvolle Tätigkeit, deren Wert zwar durch das anvisierte Ziel begründet wird, welches aber seinerseits nur wertvoll erscheint als Resultat selbstzweckhafter Tätigkeit. Auch dass bei einer solchen Tätigkeit neben dem manifesten äußeren Zielergebnis eines Buches und dem Selbstzweck des Bücherschreibens noch ein verborgenes »inneres«, nämlich das Glück des Schreibens vorliegt, vermag die postulierte Selbstzweckhaftigkeit nicht ernstlich in Abrede zu stellen. 268 Denn in seinen eher güterbezogenen als motivationstheoretischen Reflexionen weist Aristoteles auf, dass etwas – ein Gut oder eine Tätigkeit – sowohl um seiner selbst willen wie um des Glückes willen gewählt werden kann; sei dies doch selbst bei tugendhaftem Handeln und kontemplativer Betrachtung der Fall, weil einzig das Glücklichsein, das Glück als in sich vollendetes höchstes menschliches Gut, ausschließlich um seiner selbst willen erstrebt werden könne: »Derart dürfte in erster Linie die Glückseligkeit sein. Denn diese suchen wir stets wegen ihrer selbst und niemals wegen eines anderen; Ehre dagegen und Lust und Vernunft und jede Tüchtigkeit suchen wir teils wegen ihnen selber (denn auch wenn wir keinen weiteren Gewinn von ihnen hätten, würden wir jedes einzelne von ihnen wohl erstreben), teils aber auch um der Glückseligkeit willen, da wir glauben, eben durch jene Dinge glückselig zu werden. Die Steinfath: Selbstbejahung, S. 82. Ohne die genaueren Fundierungsverhältnisse zwischen den verschiedenen Zwecken zu erörtern, registriert Rheinberg: »Auf einer allgemeinen Ebene wird man sagen können, dass auch bei solchen Aktivitäten ein Zweck vorliegt, nämlich das Wohlbefinden in der Tätigkeit.« (Rheinberg: Motivation, S. 132) 267 268

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Glückseligkeit aber wählt keiner um jener Dinge willen und überhaupt nicht wegen eines anderen.« 269

Allein aus dieser formalen »tfflo@ teleitaton«-Struktur des Glücks folgert Aristoteles, dass als Glückskonstituentien nur selbstzweckhafte, intrinsisch motivierte Handlungen in Frage kommen, bei welchen der Zweck der Glückseligkeit nicht etwas vom jeweiligen Selbstzweck Verschiedenes darstellt, sondern – im Sinne einer inklusiven Interpretation der aristotelischen Glückstheorie – 270 mit allen selbstzweckhaften Zielen unseres Lebens identisch ist. Gleichsam als »transzendentales« globales Endziel unseres Lebens könnte dieser auf einer höheren logischen Ebene 271 die einzelnen zielgerichtet-intrinsischen Aktivitäten zu einem einzigen »Flow«-Gefühl synthetisieren. 272 Gemäß unserer moderaten Deutung intrinsischer Tätigkeit wäre man um eines solchen Glücks willen dazu aufgerufen, möglichst viele der unvermeidbaren zielgerichteten Tätigkeiten unseres Alltagslebens zugleich als selbstzweckhafte zu begreifen und gestalten. Anhand einer phänomenalen Charakterisierung des in neueren Ansätzen als »Flow« markierten Glücks sowie der Erhellung seiner Entstehungsbedingungen lässt sich das gegenseitige Fundierungsverhältnis von zweckrationaler Planung und intrinsischer Tätigkeit in meinen Augen verdeutlichen: Mit »Flow« wird die Erfahrung eines optimalen, sorgenfreien und beglückenden Fließens psychischer Energie bezeichnet, die in allen Situationen auftritt, »in denen die Aufmerksamkeit frei gelenkt werden kann, um ein persönliches Ziel zu erreichen, weil es keine Unordnung gibt, die beseitigt werden müsste, keine Bedrohung für das Selbst, gegen das es sich verteidigen 269 Aristoteles: Eth. nic., 1097b, 1–6. »teleitaton«, »vollkommen«, ist dasjenige Ziel, das niemals um eines anderen willen ersterbt wird. 270 Vgl. zu diesem inklusiven Interpretationsansatz Kapitel 4.2, S. 329 f. 271 Vgl. Höffe, der vom »transzendentalen Charakter« des Glücks bei Aristoteles spricht: »Insofern Aristoteles das Glück gegenüber den gewöhnlichen Endzielen als logisch höherstufig bestimmt, gibt er ihm einen dominanten Charakter. Da es aber keine Alternative darstellt (Glück oder Lust, Glück oder Erkennen), wird ihm der gewöhnliche Begriff eines dominanten Zieles nicht wirklich gerecht. Dominant ist innerhalb derselben Stufe die Vernunft gegenüber der Ehre. Das Glück hat jedoch insofern einen inklusiven Charakter, als es mehrere ›Endziele‹ miteinander verbindet; zumindest gehört die Lust als Vollendungsmoment immer dazu.« (Höffe: Aristoteles, S. 219) 272 Nochmals ist daran zu erinnern, dass wir die aristotelische Unterscheidung von Poiesis und Praxis nur in einer abgewandelten Form übernehmen, so dass wir seine Position mit diesen weitergehenden Analogien zwangsläufig verfremden.

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müsste.« 273 Die Forschergruppe um Mihaly Csikszentmihalyi hat sich für den Ausdruck »Flow« entschieden, »weil viele der von uns interviewten Menschen diesen Begriff benutzt haben, wenn sie beschrieben, wie sie sich in Hochform fühlten: ›Es war, als ob ich schwebte‹, ›ich wurde von einer Welle getragen‹.« 274 Wider aller Erwartungen setzt dieser Flow-Zustand nach Csikszentmihalyi rigorose Auslösebedingungen voraus, die im wesentlichen mit den von uns eruierten Aspekten einer vernünftigen Zielsetzung übereinstimmen. Gefordert sind also klare und konkrete Ziele, deren Verwirklichung mit deutlichen, unmittelbaren Rückmeldungen und Kontrollmöglichkeiten verbunden ist. 275 Da die Ziele herausfordernd und anspruchsvoll, dennoch aber erreichbar sein sollen, ist zum Zwecke einer Passung der eigenen Fähigkeiten mit den faktischen Umständen eine minutiöse Analyse der objektiven Lebensbedingungen mittels der instrumentellen Tugenden unumgänglich. Wenn die Menschen sich nämlich bemühen, »ihre Umgebung objektiv zu beobachten und zu analysieren, haben sie eine bessere Chance, dort neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken«, wohingegen narzisstische, vorwiegend mit der Verteidigung des Selbst befasste Individuen »zerbrechen, wenn die äußeren Bedingungen bedrohlich werden.« 276 Nicht weniger zweckrational-technisch als die geforderte Situationsanalyse scheinen des weiteren die Reflexionen darüber zu sein, wie unsere Fähigkeiten in bezug auf das anvisierte Ziel am optimalsten entwickelt und qualifiziert werden können, so dass zunächst nicht ersichtlich ist, wie solches Räsonnement einen Flow-Zustand initiieren soll. 277 Rekurriert man zum Zwecke der theoretischen Rekonstruktion des Flow-Erlebens auf die psychologischen Handlungsregulationskonzepte, projektieren diese eine hierarchische Ordnung menschlicher Aktivitäten, so zwar, dass zuunterst die Feinregulation der Bewegung, weiter oben Teilziele, allgemeine Ziele und Werte lokalisiert sind. 278 Unter den erfüllten Bedingungen 1 bis 5 wird die uns nur begrenzt zur Verfügung stehende Aufmerksamkeitskapazität nicht Csikszentmihalyi: Flow, S. 62. Ebd. 275 Vgl. Csikszentmihalyis Inventar der einzelnen Flow-Komponenten in: ebd., S. 74. 276 Ebd., S. 129. 277 Vgl. die Kritik von Rheinberg: Motivation, S. 145. 278 Vgl. ebd., S. 146 f. Rheinberg hat dabei die Handlungsregulationskonzepte von Cranach, Kalbermatten, Heckhausen, Hacker u. a. vor Augen. 273 274

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länger auf höheren Ebenen gebunden, sondern gänzlich auf die unteren Handlungsregulationsebenen verlagert, wo sie eine tiefe, aber mühelose Hingabe an eine glatt laufende selbstzweckhafte Tätigkeit lanciert, sämtliche störenden Faktoren wie Alltagssorgen oder Zweifel an unseren Zielen aus dem Bewusstsein verbannend: 279 »Wenn ein Mensch alle wichtigen Fähigkeiten braucht, um die Herausforderungen einer Situation zu bewältigen, ist seine Aufmerksamkeit vollständig von dieser Aktivität gefesselt. Es gibt keine überschüssige psychische Energie, um andere Informationen zu verarbeiten, außer den durch die Aktivität gebotenen. Alle Aufmerksamkeit ist auf die wichtigen Reize zentriert«, 280 wobei diese Konzentrationslenkung nicht bewusst und willentlich, sondern quasi-automatisch vonstatten geht. Obgleich die Phänomenologie der vielfach dokumentierten Flow-Erfahrung die Interdependenz zwischen den zweckrationalen Erwägungen bezüglich des Anspruchsniveaus unserer Ziele (gemäß dem Erwartungs- mal Wert-Modell) sowie der Strategien zur Perfektionierung unserer dabei beanspruchten Fähigkeiten einerseits, der absolut tätigkeitszentriert-intrinsischen Versenkung in die unmittelbare und jetzige Ausführungsregulation der teleologischen Praxis andererseits anschaulich macht, weckt sie neue Bedenken: Bei einem solchen beglückenden Gefühl, als liefe die intrinsische Tätigkeit gleitend und harmonisch fließend gleichsam ohne unser Hinzutun, scheinen sowohl das Selbstbewusstsein wie die Reflexivität suspendiert zu sein, indem das Selbst von der Tätigkeit schlichtweg absorbiert ist, was zu der von uns im Vorangegangenen postulierten Notwendigkeit von Selbstreflexivität und »reflexer Intention im Generellen« eklatant kontrastiert. Der Preis für ein langanhaltendes Flow-Erleben ist, wie Csikszentmihalyi selbst konzediert, in vielen Fällen nicht nur der weitgehende Rückzug aus der mit lauter Aufmerksamkeitsirritationen und negativen Rückmeldungen drohenden Außenwelt auf einen gut kontrollierbaren, wenngleich immer noch herausfordernden Tätigkeitsbereich wie das Schachspielen, 281 son279 Vgl. Punkt 5, S. 74 oder, ausführlicher, S. 86: »Im normalen Alltagsleben werden wir zur Beute von Gedanken und Sorgen, die ungewollt ins Bewusstsein dringen. Da die meisten Berufe und besonders Hausarbeit nicht die drängenden Herausforderungen der flow-Erfahrung stellen, ist die Konzentration selten so stark, dass Belastungen und Ängste automatisch verdrängt werden.« (Csikszentmihalyi: Flow, S. 86) 280 Ebd., S. 79 f. 281 Das Schachspielen fungiert nicht nur in der belletristischen Literatur immer wieder als »Metapher für die Flucht vor der Realität«, sondern gilt als beliebtes Feld für Flow-

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dern letztlich die Freiheit qua Selbstbestimmung: »Wenn man zu abhängig von der Fähigkeit zur Kontrolle und von der angenehmen Aktivität wird, kann man nichts anderem mehr Aufmerksamkeit schenken und verliert letztendlich jegliche Kontrolle: die Freiheit, den Inhalt seines eigenen Bewusstseins zu steuern.« 282 Gleichwohl insistiert Csikszentmihalyi darauf, anders als bei einer zumeist in gänzlichem Identitätsverlust mündenden Sucht gehe aus einem »gesunden« Flow-Erleben unser Selbst qua Persönlichkeits- oder Motivationssystem, welches zwar unbewusst, aber permanent aktiv sei, gerade gestärkt hervor. 283 Auch wenn er von höchst komplexen und sozial anerkannten Tätigkeiten wie etwa dem Operieren berichtet, dass sie von zahlreichen Chirurgen als Sucht erfahren werden, gibt uns Csikszentmihalyi leider keine Kriterien zur trennscharfen Scheidung einer krankhaften Flow-Sucht von selbststeigerndem Flow-Erleben an die Hand. »Fast jede erfreuliche Aktivität kann süchtig machen, in dem Sinne, dass sie, statt eine bewusste Entscheidung darzustellen, zur Notwendigkeit wird, die andere Aktivitäten behindert. Manche Chirurgen etwa beschreiben das Operieren als Sucht, ›wie Heroin‹. […] Daher haben angenehme Aktivitäten, die flow auslösen, potentiell auch einen negativen Aspekt: Sie vermögen zwar, die Lebensqualität zu verbessern, indem sie Ordnung im Verstand schaffen, doch sie können süchtig machen, und dann wird das Selbst zum Gefangenen einer bestimmten Ordnung und unwillig, sich mit den Zweifelsfällen des Lebens abzufinden.« 284

Im Rückgriff auf unsere emotionspsychologischen Erkenntnisse aus dem Kapitel 3.2 gilt grundsätzlich nicht bereits derjenige als gesund, der sich subjektiv wohl fühlt, sondern nur, wer über mannigfaltige Kompetenzen zur Bewältigung von psychischen Belastungen im Umgang mit sogenannten »Zweifelsfällen des Lebens« verfügt, statt Erfahrungen: »Solche Geschichten über das Schachspiel sind keineswegs unrealistisch. Viele Schachmeister, darunter der erste und der letzte große amerikanische Schachmeister, Paul Morphy und Bobby Fischer, fühlten sich in der wunderbar eindeutigen und logisch geordneten Welt des Schachs so wohl, dass sie den schwierigen Verwicklungen der ›realen‹ Welt den Rücken kehrten.« (ebd., S. 90 f.) 282 Ebd., S. 91. 283 »Wenn man zuerst flow-Erfahrungen erlebt, nimmt man manchmal an, das Fehlen des Ichgefühls habe mit der passiven Auslöschung des Selbst zu tun, das ›im flow schwebt‹. Doch optimale Erfahrung bedeutet tatsächlich eine sehr aktive Rolle für das Selbst. […] Das Selbstgefühl verlieren bedeutet also nicht, das Selbst zu verlieren und ganz gewiss nicht einen Verlust der Bewusstheit von sich selbst.« (ebd., S. 93) 284 Ebd., S.91.

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vor den alltäglichen Komplikationen in einem restringierten Handlungssystem Zuflucht zu suchen. 285 Ein Flow-Verhalten muss infolgedessen immer dann als »pathologische Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung« disqualifiziert werden, wenn die psychophysische Gesundheit geschädigt, die Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit verengt und die soziale Interaktionsfähigkeit (Arbeits- und Liebesfähigkeit) erheblich beeinträchtigt sind, wenn also beispielsweise der Computerfreak regelmäßig seine Mahlzeiten und die Rendez-Vous mit seiner Freundin im medial induzierten Flow-Zustand »vergisst«. 286 Eine »nicht-substanzgebundene Sucht« im weiteren Sinne lässt sich hingegen diagnostizieren, wo eine psychische Abhängigkeit von bestimmten Verhaltensweisen vorliegt, d. h. ein starkes, bisweilen übermächtiges und kaum bezwingbares Verlangen nach der Flow-Aktivität und den mit ihr verbundenen positiven Erlebnissen, mithin ein Verlust der Handlungsfreiheit zu verzeichnen ist. Nachdem allerdings die WHO-Expertenkommission angesichts der Schwierigkeiten, die Grundbegriffe »Sucht« oder »Abhängigkeit« zu definieren, den Begriff »Drogenabhängigkeit« als Rahmenkonzept empfohlen hat, und auch der ICD-10 das Abhängigkeitssyndrom mit physischer und psychischer Abhängigkeit prinzipiell an »psychotrope Substanzen« zurückbindet, 287 dürfte die Flow-Aktivitäten natürlich nicht als Sucht deklariert werden. Soll die Flow-Erfahrung nicht suchtartig entgleisen und auf Kosten unserer persönlichen Selbstbestimmung allenfalls ein fragiles illusionäres Glücksgefühl etablieren, scheint grundsätzlich eine reflexive Distanz zum persönlichkeitskonstitutiven transzendentalen Vgl. Kapitel 3.2, S. 237. Gemäß der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wäre ein pathologisches Flow-Verhalten wohl der Klasse F63: »abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle« zu rubrizieren (Horst Dilling u. a.: Internationale Klassifikation psychischer Störungen, S. 237 ff.). Obgleich das hier namentlich aufgeführte »pathologische Glücksspiel« (F63.0), welches »die Lebensführung der betroffenen Person beherrscht und zum Verfall der sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen führt« (ebd., S. 237), bei Csikszentmihalyi als Sonderfall von Flow-Aktivitäten figuriert, stimmen weder seine Entstehungsbedingungen noch die Erlebniskomponenten mit denjenigen von Flow überein: Da die subjektive Überzeugung der Glücksspieler, eine Qualifikation ihrer Fähigkeiten könnte die Kontrollmöglichkeiten erhöhen und das Ergebnis zu ihren Gunsten beeinflussen (vgl. Flow, S. 89 f.), offenkundig auf einer Täuschung basiert, kann es sich hier lediglich um ein illusionäres FlowGlück handeln. 287 Vgl. Michael Krausz und Volker Dittmann: Störungen durch psychotrope Substanzen, S. 86 f. und F1, S. 89 ff. des ICD-10. 285 286

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Handlungs- und Motivationssystem unerlässlich, welche uns die sukzessive Einengung unserer Alltagsaktivitäten, die zunehmende Vernachlässigung sozialer und beruflicher Interessen mahnend ins Bewusstsein ruft. Um anstelle eines suchtbedingten Identitätsverlusts gerade eine stärkere, selbstsichere Persönlichkeit zu erlangen, hat man augenscheinlich für Gelegenheiten zur Selbst-Bewusstwerdung zu sorgen, ungeachtet der dafür aufzubringenden psychischen Energie und der unliebsamen Außenwelt-Bedrohungen für unser Organisationssystem, die nach ihrer Ausblendung durch blickverengende Aufmerksamkeitsfilter nun plötzlich wieder ins Bewusstsein treten. Handlungssystemdistanz bzw. -bewusstheit ist über die Vermeidung eines durch innere Zwänge und Abhängigkeiten bedingten Freiheitsverlusts hinaus auch deswegen vonnöten, weil sich ein Lebensdauerglück niemals aus einer Maximierung von Freuden bei der augenblicklichen Versenkung in einzelne Flow-Aktivitäten erzielen lässt, welche uns vielmehr anfällig für Missmut in anderen Lebensbereichen machen. So sei es nicht erstaunlich, »wenn ein berühmter Tennisspieler sich völlig dem Spiel hingibt und sich daran freut, aber außerhalb des Platzes griesgrämig und feindselig ist. Picasso malte gern, aber sobald er den Pinsel aus der Hand legte, verwandelte er sich in einen ziemlich unangenehmen Zeitgenossen.« 288 Damit das gesamte Leben zu einer einheitlichen Flow-Erfahrung mutierte, müssten, wie es auch unsere Lebenssinn-Recherche ergab, die herausfordernden Ziele unseres Lebens immer wieder von neuem in einem theoretischen Gesamtkonzept harmonisiert und fortwährend situativ adaptiert werden. »Wenn sich jemand an ein ziemlich schwieriges Ziel wagt, von dem sich alle anderen Ziele logisch ableiten, wenn er alle Energie in die Entwicklung von Fähigkeiten steckt, um dieses Ziel zu erreichen, werden Handlungen und Gefühle harmonisch übereinstimmen, und die einzelnen Teile des Lebens fügen sich zusammen – jede Aktivität ergibt dann in der Gegenwart einen Sinn, wie auch mit Blick auf die Vergangenheit und die Zukunft.« 289

Mit Recht moniert demgegenüber Seel, »Lebenskonzeptionen dürften nicht in jedem Fall je sinnvoller sein, je harmonischer sie sind«, weshalb eine Lebenskonzeption heterogenen Zielstrebungen und ihrer allfälligen Ausbalancierung Raum lassen sollte: »So kann 288 289

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eine Lebenskonzeption gleichrangige Ziele auszeichnen, die sich nur begrenzt miteinander vereinbaren lassen (Beruf und Familie, Philosophie und Dichtung, Luise und Anna) – und es für die jeweilige Lebenssituation offen lassen, wie (und mit welchen Kosten) diese Bestrebungen balanciert werden können.« 290 Rawls warnt zudem vor Fanatismus und Unmenschlichkeit beim Versuch, die mannigfaltigen Ziele eines menschlichen Lebens unter ein einziges übergeordnetes Lebensziel zu subsumieren. 291 Auch wenn ein sinnvoller Lebensplan zweifelsohne äquivalente heterogene Ziele aufnehmen kann, müssen sich diese aber zumindest in eine sukzessive zeitliche Ordnung einfügen oder sich im Unterschied zu schlechterdings unvereinbaren kontradiktorischen Anliegen als polares Gegensatzpaar – etwa Familie und Beruf, Philosophie und Dichtung – entsprechend der jeweiligen Lebenssituation unterschiedlich gewichten lassen. 292 Hat sich ein Lebensplan das Austarieren gleichbedeutender allgemeiner Teilpläne zur Aufgabe gemacht, ist er augenscheinlich gegen Fanatismus und Einseitigkeit gefeit, ohne doch seinen integrativen Sinn zu verlieren. Es käme auch beim auf Freiheit fußenden Flow-Lebensdauerglück alles auf die situationsgerechte, in bewusster Distanz zum eingefleischten Handlungssystem reflexiv zu leistende Konkretisierung unserer prinzipiell erfahrungs- und revisionsoffenen, persönlichkeitskonstitutiven Lebenspläne an, wobei aufgrund der »identitätsbildende[n] Funktion existentieller Entwürfe« 293 tiefgreifenden Revisionen wie oben gezeigt Grenzen gesetzt sind. »Die Idee einer optimalen, ein Seel: Versuch, S. 93 f. Selbst das einheitliche Lebensziel, Gott zu dienen, erscheine nur dank der Undeutlichkeit und Vagheit dieses Ziels als weniger fanatisch: »Und jedenfalls, wenn das übergeordnete Ziel klar als ein objektiver Zweck wie die Erlangung politischer Macht oder materiellen Reichtums festgelegt wird, dann tritt der Fanatismus und die Unmenschlichkeit klar zutage. Das menschliche Wohl ist heterogen, weil die Ziele des einzelnen heterogen sind. Die Unterordnung aller Ziele unter ein einziges verletzt zwar, streng genommen, nicht die Grundsätze der vernünftigen Entscheidung […], kommt uns aber immer noch als unvernünftig oder eher noch als verrückt vor. Es entstellt den Menschen und unterwirft ihn einem seiner Ziele um der Systematik willen.« (Rawls: Eine Theorie, S. 601) 292 Während sich die allgemeinen Ziele Beruf und Familie, Philosophie und sowohl in zeitlicher Rangfolge wie auch als synchrone Teilpläne eines umfassenden Lebensplanes realisieren lassen, handelt es sich bei der Alternative Luise oder Anna mutmaßlich bereits um die Frage nach möglichen Konkretisierungen des generellen Wunsches nach einer Liebesbeziehung, welche also beim (vorläufigen) Entwurf des gesamten Lebens noch nicht auf den Plan tritt. 293 Seel: Versuch, S. 94. 290 291

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für allemal feststehenden Ordnung von Lebenszielen ist haltlos«, 294 resümiert Seel. Doch liegt er auch richtig mit seinem emphatischen Plädoyer für eine »Sprengung des teleologischen Modells« 295 der Zieltheorie des Glücks durch eine sogenannte »ästhetische Glückstheorie«? Seine grundsätzlichen Bedenken gegenüber einer teleologischen Bestimmung menschlichen Glücks über die Erfüllung einer sinnvollen Konstellation von Lebenszielen veranschaulicht Seel am abschreckenden Exempel Wronskijs: »Wehe dem aber, dem es gelänge, an das Ziel seiner wesentlichen Wünsche zu gelangen – er würde von jener Depression ergriffen, die den Grafen Wronksij nach einigen Monaten seines endlich erreichten Glücks mit Anna Karenina erreicht (was bekanntlich nur der Anfang ihres späteren Unglücks ist).« 296 Die Crux jeder teleolgischen Glücksauffassung bestehe in nuce darin, dass ein solcher Glückssucher zwei schlechthin inkompatible Ansprüche verfolge: »Er muss versuchen, eine möglichst aussichtsreiche Lebenskonzeption erfolgreich zu verwirklichen; und doch muss er alles daran setzen, die optimale Konzeption nicht zu erreichen. Er muss die für ihn günstigste absehbare Konzeption zugleich zu erreichen und nicht zu erreichen suchen. Die teleologische Theorie, würde das bedeuten, versteht das Glück eines guten Lebens prozessual auf eine Gegenwart hin, die nicht wirklich (nicht dauerhaft) als Gegenwart des Glücks verstanden werden kann.« 297

Seels hauptsächlich an Rawls adressierter Vorwurf, das teleologisch verstandene Lebensglück richte sich aus nach einem in der Zukunft verorteten glücklichen Zustand, so dass auf dem Wege zu diesem anvisierten Fixpunkt bei allfälligen guten Aussichten auf Erfüllung lediglich das zukünftige Glück auf den gegenwärtigen Prozess gleichsam abfärbe, 298 trifft aber aus dem Grunde ins Leere, weil zum einen Ebd., S. 93. Ebd., S. 112. 296 Ebd., S. 97. 297 Ebd, S. 98. 298 »Eine prozessuale Bestimmung wie diejenige von Rawls, so zeigt sich nun, ist gänzlich abkünftig gegenüber einer statischen Version. Diese Version – übergreifendes Glück als Erfülltsein eines vernünftigen Plans – sagt, worin das evaluativ Gute besteht. Die prozessuale Fassung hingegen – übergreifendes Glück als Auf-gutem-Wege-sein-zurPlanerfüllung – schwächt diese Version lediglich ab, um eine realistische Verwendung des Glücksbegriffs zu sichern. Das gute Leben ist demnach nicht allein das erfüllte, sondern auch schon das mit guten Aussichten auf Erfüllung.« (ebd., S. 99 f.) 294 295

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bei Rawls gar keine statische, in einem fixen Endzustand kulminierende Lebenskonzeption figuriert, und zum zweiten der Prozess der Zielerreichung nicht um eines bestimmten Ziels willen gewollt wird: 299 Es sei gerade nicht so, verwahrt sich nämlich Rawls, »dass man bei der Verfolgung eines vernünftigen Planes hinter seinem Glück her wäre«, da »das Glück nicht ein Ziel unter anderen, sondern die Erfüllung des gesamten Planes selber sei«, 300 wobei gelte: »die Ausführung des gesamten Planes und das dauernde Zutrauen, mit dem das geschieht, ist etwas, das man nur um seiner selbst willen tun und haben möchte.« 301 Wie essentiell es auch ist, im Rahmen einer Zieltheorie einer Finalisierung des Glücks durch ein prozessual-präsentisches Glücksverständnis einen Riegel vorzuschieben, kann dies wohl nicht durch das Propagieren eines rein-»ästhetischen«, den teleologisch-zukunftsorientierten Lebensprozess »auf eine unübersehbare Weise« übersteigenden Glücks des Augenblicks, 302 sondern allein mittels eines Appells zur bereits ins Bild gesetzten Kombination von zielgerichteter extrinsischer und tätigkeitszentrierter intrinsischer Motivation menschlichen Handelns geschehen. Mittels kreativer Umgestaltung des gewohnten Handlungsumfeldes müsste es gelingen, den teleologischen erfolgsorientierten Handlungsvollzug gleichsam ästhetisch zu überhöhen. Die Kunst und das Spiel im Allgemeinen könnten somit fraglos ein unerschöpfliches Übungsfeld für Glück darstellen, wo sie nicht infolge der Expansion der industriellen Freizeitgesellschaft selbst ökonomisiert und instrumentalisiert wurden. 303 Um mutmaßliche interne Inkonsistenzen und Inkompatibilitäten aus einer Zieltheorie des Glücks auszumerzen, hat man sich abschließend folgenden fundamentalanthropologischen Schein-Widerspruch vor Augen zu führen: 1. Der Mensch als vernünftiges Wesen und das menschliche Dasein sind, weil der Mensch nicht lebt, son299 In dieselbe Kerbe schlägt, mit explizitem Bezug auf Seel, auch Friedo Ricken bei seinem Kommentar zu Rawls’ Glückstheorie, in: Allgemeine Ethik, S. 166. 300 Rawls: Eine Theorie, S. 597. 301 Ebd., S. 596. 302 Vgl. zum ästhetischen Glücksbegriff Seel: Versuch, S. 102–113 (Zitat von S. 177): »Auf diesem Weg einer Sprengung des teleologischen Modells leistet auch die ästhetische Glückstheorie einen Beitrag zu einer formalen Bestimmung gelingenden Lebens.« (Seel: Versuch, S. 112 f.) 303 Vgl. Wolfgang Janke, der an seine Zeitgenossen appelliert, »die Lebensform des Spiels und die Riten des Sports als eine einzigartige Erfüllung menschlichen Daseinsglücks wieder ins Reine zu bringen« (in: Das Glück der Sterblichen, S. 190).

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dern sein Leben vernunftmäßig führt, jederzeit »Zweck an sich selbst«. 304 2. Das menschliche Leben vollzieht sich in Handlungen, die per definitionem zielgerichtet sind und ihr Ziel entweder in sich selbst (intrinsische Praxis) oder außerhalb (extrinsisches Herstellen) haben, so dass der Mensch einem fortwährenden Finalisierungszwang ausgesetzt ist. Nun könnte man, wie uns dies Aristoteles nahelegt, die Selbstzweckhaftigkeit menschlichen Lebens dadurch zu retten suchen, dass man es trotz der unleugbaren Dringlichkeit ergebnisorientierten Herstellens wesentlich als Vollzug von selbstzweckhaftem Handeln bestimmt. 305 Auch wenn man aber als aristotelischen fundamentalanthropologisch-praktischen Rat den »Primat der praktischen Sinnerfüllung und ihrer Erfüllungsgestalten vor technischen, instrumentellen und Gegenstände herstellenden Vollzügen« 306 ernst nimmt, ist man, da empririschen Erhebungen zufolge die rein intrinsisch-tätigkeitsorientierten Aktivitäten de facto mehr und mehr auf den Freizeitbereich zurückgedrängt werden, 307 auf der Suche nach dem autarken Endziel Glück auf folgende Zusatzindikationen angewiesen: Wie eine Analyse der Flow-Erfahrungen an den Tag legte, bereitet gerade eine geeignete Kombination und Integration der scheinbar konträren Motivationsarten intrinsisch-extrinsisch im Beruf nicht weniger als in der Freizeit unserem Glück den Weg. »Zu einem guten Leben gehört eben beides«, konstatiert auch Steinfath; »der Vollzug dieses Lebens in selbstzweckhaften Tätigkeiten und das Erreichen einer geordneten Zahl von Zielen […]. Wie der Fall zugleich selbstzweckhafter und zielgerichteter Tätigkeiten zeigt, ist beides oft unlöslich miteinander verschränkt.« 308 Bei eingehender Betrachtung, so doppelt Csikszentmihalyi 304 Vgl. Kants berühmte Diktum: »der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen« (Kant: KpV, A/B65). 305 Vgl. Höffe: »In der Art, wie Aristoteles seine Ethik entfaltet, spricht sich nun die These aus, dass die verschiedenen Arten des Herstellens für den Menschen unabdingbar sind, das Leben als ganzes aber nicht als Herstellen, sondern nur als Handeln zu verstehen ist. Letztlich kommt es nicht auf ein abgesondertes Werk an, sondern auf den bloßen Vollzug, das schlichte Leben (zen), und zudem auf jenes Gelingen, das eudaimonia, Glück, heißt.« (Höffe: Aristoteles, S. 196) 306 Als solchen führt ihn Rentsch ein in: Die Konstitution, S. 291. 307 Vgl. Rheinberg: Motivation, S. 131 f. Im Unterschied zu Berufstätigen und Examenskandidaten verbringen wenigstens Studenten knapp die Hälfte ihrer Wachzeit mit intrinsischen Aktivitäten. 308 Steinfath: Selbstbejahung, S. 82.

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nach, entpuppten sich sogar die meisten menschlichen Tätigkeiten als derartige Motivverschränkungen, indem wir viele Handlungen mit instrumentellen Zwecken wie Geld- oder Ruhmerwerb in Angriff nehmen, die sich dann im Laufe der Zeit als in sich lohnenswert erweisen und gemäß Allports »Prinzip funktioneller Autonomie« 309 selbständige intrinsische Motive evozieren: »Die meisten Dinge, die wir tun, sind weder rein autotelisch noch rein exotelisch (so nennen wir Handlungen, die wir ausschließlich aus anderen Gründen ausüben), sondern eine Kombination aus beidem. Chirurgen beginnen gewöhnlich ihre lange Ausbildung aus exotelischen Erwartungen: um Menschen zu helfen, um Geld zu verdienen oder Ruhm zu erlangen. Mit ein wenig Glück haben sie nach einer Weile Spaß an ihrer Arbeit. Dann wird das Operieren vorwiegend autotelisch. Manche Dinge, zu denen man anfänglich gezwungen wird, stellen sich im Laufe der Zeit als an sich lohnenswert heraus.« 310

Grundsätzlich lässt sich jede zielorientierte in eine zugleich vollzugsorientierte Tätigkeit transformieren, d. h. jede teleologische Aktivität gewissermaßen »ästhetisieren« durch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit auf den augenblicklichen Handlungsvollzug, auf die Präsenz der jeweiligen Lebenssituation. 311 Genauso wenig wie die sie begleitende Glücksstimmung kann indes eine solche ästhetische Überhöhung des teleologischen Lebensvollzugs direkt angepeilt werden mittels einer bewussten Aufmerksamkeitslenkung, sondern nur indirekt kraft einer kreativen Umgestaltung unserer beruflichen oder 309 Beispielsweise kann ein Seemann »seine Liebe zur See zufällig bekommen haben, als er Geld verdienen musste; die See war nur ein bedingter Reiz, der mit der Befriedigung des ›Nahrungsbedürfnisses‹ verbunden war. Aber jetzt ist der alte Seemann vielleicht ein wohlhabender Bankier; das ursprüngliche Motiv ist fortgefallen; trotzdem existiert der Hunger nach der See ungemildert, ja, er nimmt an Intensität zu, je mehr er sich von dem ›Segment der Ernährung‹ entfernt.« (Allport: Entstehung und Umgestaltung der Motive, S. 492) Gehlen scheint dasselbe Phänomen vor Augen zu haben bei seinem siebten Kapitel »Handeln als Selbstzweck« in: Urmensch und Spätkultur, S. 29 ff., wo er die Möglichkeit der »Trennung des Motivs vom Zweck« aufzeigt (ebd., S. 31). 310 Csikszentmihaliy: Flow, S. 97 f. 311 »Ästhetisch« meint dann soviel wie »vollzugsorientiert« und »selbstzweckhaft«: »Solange Sie eine Straße an unserer Kreuzung überqueren, die Wohnung ihres Bekannten suchen oder regelnd in das Verkehrsgeschehen eingreifen, handeln sie zielorientiert […]. Sobald sie aber die Auslagen der Geschäfte betrachten, das bloße Lichtspiel der Ampeln oder die Szene der Stadt, sind Sie […] in der Zeit ästhetischer Präsenz. Es geht Ihnen um die Gegenwart und das Gegenüber Ihres wahrnehmenden Vollzugs selbst.« (Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 51)

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sozialen Bedinungen und Zielausrichtungen. Die einschlägige Methode bestünde darin, »den Beruf selbst zu verändern, bis dessen Bedingungen auch für Menschen, die keine autotelische Persönlichkeit haben, geeigneter sind, flow zu erzeugen«, denn je »mehr eine Tätigkeit innerlich einem Spiel ähnelt – mit Vielfalt, angemessenen, flexiblen Herausforderungen, deutlichen Zielen und unmittelbaren Rückmeldung – um so erfreulicher wird sie, ungeachtet der persönlichen Entwicklung dessen, der sie ausübt.« 312 Neben die aristotelische Präferenz für selbstzweckhafte Handlungen hat eine recht verstandene Zieltheorie des Glücks mithin an sorgfältige, die Entfaltung unserer wesentlichen Fähigkeiten protegierende Zielsetzungen (entsprechend Punkt 1–4) zu appellieren, dank derer wir uns beim extrinsisch-ergebnisorientierten Handeln in die Gegenwart der uns herausfordernden und gänzlich in Anspruch nehmenden Tätigkeiten vertiefen können (5). Bei diesem teleologisch-prozessualen Glücksverständnis arriviert der Weg der Zielerfüllung selbst zum Ziel, und der frei gewählte und vernünftige Lebensplan unserer persönlichen Zielkonstellation wird mitsamt seiner unvermeidbaren instrumentellen Ziele um seiner selbst willen ausgeführt und gewollt, so dass er für die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen und seines Daseins Bürge steht. Zu hüten hat man sich dabei vor einer jeden Instrumentalisierung einzelner Teilpläne und Ziele, weil sich die Inhalte eines guten Lebens nicht wie Mittel zum Endzweck Glück, sondern wie die Teile zum Ganzen des Lebens verhalten, dessen Sinn und Gelingen sich anders als bei der Zweck-Mittel-Relation gar nicht unabhängig von den einzelnen Inhalten bestimmen lässt: »Diese Inhalte werden durch die Hinordnung auf ein solches Ganzes nicht zu ›Mitteln‹ funktionalisiert und dadurch prinzipiell austauschbar gemacht. Die einzelnen Lebensvollzüge verhalten sich zum richtigen Leben nicht wie die Pinselstriche des Malers zum Bild, sondern wie die Teile des Bildes zum Ganzen. In diesem Verhältnis determiniert nicht das Ganze einseitig die Teile, sondern es besteht eine wechselseitige Bestimmung. Die Teile einer Symphonie sind nicht prinzipiell austauschbare ›Mittel‹ zur Erreichung eines zuvor feststehenden Zieles. Andere Teile, andere Takte ergeben vielmehr eine andere Symphonie.« 313

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Csikszentmihaliy: Flow, S. 201 f. Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 39.

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Das Flow-Gefühl bei einem solchen harmonisch-sinnvollen Zusammenspiel löst sich, auch wenn es ganz und gar präsentisch erlebt wird, im Unterschied zu Seels Fassung eines »ästhetischen Glücks« in keiner Weise aus unserer zielorientierten Praxis heraus, 314 sondern tritt kontrastiv zum ästhetisch-interesselosen Wohlgefallen bei Naturerlebnissen oder Kunstbetrachtungen überhaupt nur im Horizont eines aussichtsreichen teleologischen Lebensvollzugs auf. 315 Eine anhaltende Glücksstimmung verändert zwar unsere Wahrnehmungsweise und macht uns erfahrungsgemäß empfänglicher für solche rein-ästhetischen Erlebnisse, stellt selbst aber statt ein zeitentrückter Zustand vielmehr ein Grundzug eines aktiven Vollzugs, die Qualität einer aussichtsreichen Entwicklung dar. Ein solches »Glück eines gelingenden Lebens« kann entgegen Seels Vorschlag nicht schon darin bestehen, »den eigenen Lebensweg frei wählen zu können«, 316 so dass die freie Selbstbestimmung zum primären Zweck menschlichen Daseins erhoben werden dürfte. 317 Denn diese bildet lediglich die Voraussetzung für einen gelingenden Lebensentwurf aufgrund kompetenter Welt- und Selbsterschließung sowie der situationsgerechten, handlungssystemdistanzierten Konkretisierung seiner Teilpläne, welcher nun seinerseits den Menschen erst die glückskonstitutive Überzeugung vermittelt, »dass sie ihr Leben selbst steuern«. 318

314 »Das ästhetische Glück des Augenblicks, mit einem Wort, ist autonom gegenüber dem Glück der (kontinuierlichen, sukzessiven oder approximativen) Wunscherfüllung.« (Seel: Versuch, S. 107) 315 Gemäß unseren glücksgrammatischen Erörterungen in Kapitel 3.2 (S. 215 f.) müssen solche rein-ästhetische Erlebnisse aber prinzipiell von Glücksgefühlen unterschieden werden. Obgleich Seel das »ästhetische Glück« als »besondere Form episodischen Glücks« deklariert (ders.: Glück, S. 156), und das »episodische Glück« von einem »bloßen Gefühl der Zufriedenheit« dadurch abgrenzt, »dass es – für diejenigen, die es erfahren – in einem Horizont übergreifender Glückserwartungen steht« (ebd., S. 148), akzentuiert er andernorts: »Aber dies muss nicht so sein; der erfüllte Augenblick kann sich auch rein im Gegenwärtigen halten – in der Anschauung einer Baumkrone oder eines Hafengeländes. Es kann einfach ein Augenblick des Heraustretens aus der Kontinuität des bisherigen und auch des bisher erwarteten Lebens sein.« (ders: Versuch, S. 106) 316 Ebd., S. 114. 317 Vgl. ders.: Glück, S. 158. 318 Csikszentmihaliy: Flow, S. 25. Auf die glückskonstitutive Kontrollfähigkeit werde ich in Kapitel 6.1 noch zu sprechen kommen.

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5.2 Essentialistische Anthropologie: Objektive-Listen-Theorien des Glücks Während die Zieltheoretiker des Glücks, sich den fundamentalanthropologischen Strukturen des menschlichen Lebensvollzugs widmend, die Gerichtetheit menschlichen Handelns auf ein »Telos« hin sowie die Integration aller Handlungsziele in einen übergreifenden Sinnentwurf hinsichtlich ihrer Glücks-Relevanz beleuchten, konzentriert man sich bei den im Objektivismuskapitel 4.2 noch ausgesparten Objektive-Listen-Theorien 319 in der Regel auf inhaltliche anthropologische Merkmale als »Konstanten des Glücks«: 320 Sowohl im Alltag wie in der Forschung erfreut sich die »Glückskonzeption, die auf eine Entwicklung und Verwirklichung unserer Anlagen zielt«, 321 größter Beliebtheit, zumal dank der Benennung von konkreten Anlagen das hohe formale und allgemeine Niveau der Zieltheorien markant gesenkt wird. Menschliches Glück, so lautet der Tenor, besteht in der Erfüllung oder Vollendung der im Menschen potentiell angelegten natürlichen Bedürfnisse, Neigungen und Fähigkeiten, welche als »objektive Güter« oder »objektive teloi« seelschen« jedem Menschen unterschiedslos zukommen. Intransparenz herrscht fast durchgehend betreffs der Methode des Bestimmens solch universeller essentialistischer Güter, da man unschlüssig oszilliert zwischen einer rein empirischen Ermittlung der angeblich »artspezifischen« Bedürfnisse, Fähigkeiten oder Seinsmöglichkeiten des Menschen im Zeichen einer »physiologischen Anthropologie« und evaluativ-normativen Angaben darüber, was für ein »menschliches Leben« im emphatischen Sinne, letzlich also für ein »gutes menschliches Leben«, vorhanden sein muss (»pragmatisch-ethische Anthropologie«). Bei der Auseinandersetzung mit objektiven Listen werden wir somit unausweichlich konfrontiert mit der bereits einleitend monierten Crux einer jeden Anthropologie, die als Grundlage einer Handlungs- und Glückstheorie wird auftreten können; wie denn ein Wolf etwa akzentuiert die »Attraktivität von Objektive-Listen-Theorien, nach denen das Wohl eines Menschen zumindest einige Elemente einschließt, die unabhängig von seinen Präferenzen sind und die diesen Präferenzen und ihrer Auswirkung auf die Qualität der Erfahrung eines Menschen gegenüber vorrangig sind.« (Susan Wolf: Glück und Sinn: Zwei Aspekte des guten Lebens, S. 169) 320 Seel: Versuch, S. 181. 321 Baurmann/Kliemt: Glück und Moral, S. 13. Vgl. meine einleitenden Gedanken, S. 360. 319

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genuin exzentrisches, geschichtliches und soziales Wesen, dem die Kultur zur »zweiten Natur« geworden ist, sich an irgendwelchen »natürlichen Bestimmungen« orientieren soll. 322 Würde darüber hinaus mit einer allgemeingültigen Liste menschlicher Glückskonstanten nicht wieder das im vorangegangenen Teilkapitel artikulierte Interesse an der eigenen Selbstbestimmung, das Recht auf autonome Wahl einer persönlichen Lebensform und Glückskonzeption durchkreuzt? Schlägt die zieltheoretische Analyseperspektive einer »Zug«-Motivation angesichts der zur Stillung bzw. Verwirklichung drängenden natürlichen Bedürfnisse und Neigungen nicht notwendig in die antithetisch-ateleologische »Druck«-Perspektive um? Will man keinen Widerspruch provozieren zwischen anthropologischen Objektive-Listen-Theorien und den oben erörterten Zieltheorien, welche menschliches Glück im erfolgreichen Realisationsprozess individueller, in einer umfassenden Lebenskonzeption verankerter Handlungsziele erblicken, ließe sich der von Seel empfohlene Interpretationsrahmen applizieren: Statt dem einzelnen zu diktieren, »was der Mensch braucht, um glücklich zu sein«, 323 böten diese Listen lediglich mittels der Benennung dessen, »was alle – in ihrem Interesse am eigenen Wohlergehen – wollen sollten«, 324 der persönlichen Selbstbestimmung eine Orientierungshilfe an. Vor diesem hermeneutischen Horizont, der allein mir der menschlichen Existenz adäquat erscheint, lieferte eine anthropologische Theorie des guten, gelingenden und glücklichen Lebens auch »kein Kriterium des individuell Guten« als Gradmesser eines Erfüllungsglücks, sondern stellte »vielmehr ein Verständnis guten Lebens bereit, auf das sich die Bewertung der Lebenssituation einzelner stützen kann, ohne dass sich diese Bewertung irgendwie aus ihr allein ergibt.« 325 Obgleich nur wenige der hier in die Glücksdebatte miteinbezogenen anthropologischen Ansätze eine derartige methodenkritische Differenziertheit bezüglich der Reichweite der eigenen Konzeption erlangen, wollen wir von diesem heuristischen Ausgangspunkt aus starten und der philosophischen Anthropologie einmal mehr die Aufgabe eines Mediums zur besseren individuellen Selbstbestimmung und (inter-) Vgl. oben, S. 344. »Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein« – so lautet der Titel eines einschlägigen Sammelbandes zur Bedürfnisforschung und Konsumkritik, herausgegeben von Klaus Meyer-Abich und Dieter Birnbacher. 324 Seel: Versuch, S. 180. 325 Ebd., S. 181. 322 323

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kulturellen Verständigung auf das Menschsein als solches sowie einer Klärung menschlicher Handlungsmotivation schlechthin delegieren, welche für einen teleologisch-eudaimonologischen Bildungsweg unverzichtbar sind. 326 Favorit-Kandidaten der objektiven anthropologischen Konstanten des Glücks stellen zweifellos die menschlichen Bedürfnisse dar, auf die wir bereits in verschiedenen Szenarien im Laufe unserer Studien ein Licht warfen. Nicht zuletzt bei der subjektivistischen Oppositionspartei war das ominöse Bedürfniskonstrukt anzutreffen, nämlich als Ingredienz des hedonistischen utilitaristischen Glücksprogramms einer »Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen« 327 . Muss das »Bedürfnis«-Konzept nun eher einer privatistisch-subjektiven oder einer objektiv-anthropologischen Glückstheorie zugeschlagen werden? Was sind und zu welchem (eudaimonologischen) Zweck erfüllen wir Bedürfnisse? Bedürfnisse sind »Bedarfs- und Mangelzustände, in deren Folge ein psychisches Spannungsgefälle auftritt, das die Aktivität des Individuums anregt, nach Beseitigung des zugrundeliegenden Mangels (also nach Bedürfnisbefriedigung) zu streben.« 328 Während die essentiellen Ziele der menschlichen Grundbedürfnisse, etwa der Gebrauch unserer Sinne und Glieder, Schmerzfreiheit, Gesundheit oder Anerkennung, vorgegeben sind, 329 gibt es ebenso viele konkrete spezifische Bedürfnisse, wie mögliche Bedürfnisobjekte in der Außenwelt existieren, die als Mittel zur Erreichung dieser gegebenen Zielklassen fungieren können. »Grundbedürfnisse« stellen demnach »umfassende Bedürfniskategorien«, die »Bedürfnisse« jedoch »zeit-, orts- und personengebundene Konkretisierungen der Grundbedürfnisse« 330 dar, die je nach Lebensform, Ort und Zeit variieren können, so dass als anthropologische Konstanten nur unsere Grundbedürfnisse in Frage kommen. Zu Unrecht postulieren dabei in meinen Augen viele Bedürfnisforscher, man gewinne eine »Systematik der Bedürfnisse […] am besten dadurch, dass man die zahllosen konkreten BeVgl. unsere entsprechenden Präliminarien, S. 346. Vgl. das glückssubjektivistische Teilkapitel 4.1, S. 258. 328 Artikel »Bedürfnis« in Hillig: Die Psychologie, S. 46. 329 Vgl. Kapitel 4.1, S. 251. 330 Katrin Lederer: Bedürfnisse – ein Gegenstand der Bedürfnisforschung?, S. 13 f. und S. 15. »Man mag den Gebrauch von derartig ähnlichen Begriffen für verwandte, aber in wichtigen Punkten eben doch deutlich zu unterscheidende Sachverhalte bedauern«, fügt Lederer hinzu, »er hat sich aber im allgemeinen und im wissenschaftlichen Sprachschatz weithin so durchgesetzt.« (ebd., S. 16 f.) 326 327

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dürfnisse willkürlich auf eine begrenzte Zahl von Grundbedürfnissen zurückführt: etwa Anerkennung, Sicherheit, Liebe, Erleben, Tätigkeit«, 331 da vielmehr artspezifische Grundbedürfnisse über einheitliche Zielausrichtungen definiert sind, die man bei faktischen, in kulturellen Lebensweisen konkretisierten Bedürfnissen bei schlechthin allen menschlichen Gruppen in allen Zeiten und an allen Orten antreffen müsste. Es legt sich also beispielsweise nahe, sowohl das Bewohnen hochklimatisierter moderner Räume wie auch von steinzeitlichen Höhlen als verschiedene Mittel zum Zwecke der Sicherheit und eines Ausgleichs des Wärmehaushaltes zu betrachten, d. h. als Mittel zur Befriedigung der entsprechenden Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Witterungsschutz. Wie man eine solche begrenze, anhand von historischen Dokumenten und empirischen Beobachtungen gewonnene Liste zahlreicher Grundbedürfnisse weiter klassifiziert, nicht aber das Erstellen der Liste selbst, hängt freilich von der Intention des Forschers ab. Aber selbst bei der Entscheidung zwischen zwei Klassifikationssystemen fehlen uns wohl nicht jegliche sachlichen und logischen Kriterien, wie Katrin Lederer postuliert, 332 weil die Erklärungskraft einer Bedürfnistheorie offenkundig mit der Zahl der Klassen abnimmt. So lassen sich zwar notfalls alle konkret vorhandenen Bedürfnisse unter Sigmund Freuds duale Triebe des »Eros« und »Thanatos« oder gar ein singuläres Bedürfnis nach Selbsterhaltung oder organisch-seelischem Gleichgewicht subsumieren, wohingegen zweifelhaft ist, ob damit hinsichtlich des Verständnisses unseres hochkomplexen menschlichen Lebens viel gewonnen sei. Man kann nun diese definitorisch eingegrenzten, universellen artspezifischen »Grundbedürfnisse« durchaus mit Hans Krämer als »objektive Bedürfnisse« deklarieren, »die das bezeichnen, was wir – möglicherweise unbewusst – wirklich brauchen und nötig haben, und diese einerseits mit dem eigentlichen Wollen, andererseits mit einer 331 Gerhard Scherhorn: Gibt es eine Hierarchie der Bedürfnisse?, S. 292. »Was als fundamentales Bedürfnis zu gelten hat, lässt sich nicht objektiv feststellen, sondern hängt von der klassifikatorischen Arbeit und den dahinter stehenden Absichten des Forschers ab«, konzediert auch Karl Otto Hondrich in: Menschliche Bedürfnisse und soziale Steuerung, S. 29. 332 »Solange alle im allgemeinen als wesentlich betrachteten Lebensäußerungen ihren Platz darin finden können«, so Lederer, »wird man sich schwertun, zwischen verschiedenen Klassifikationssystemen für Grundbedürfnisse sachlich oder logisch zu entscheiden. In einem einigermaßen vollständigen System wird sich jedes konkrete ›Bedürfnis‹ unterbringen lassen.« (Lederer: Bedürfnisse, S. 15)

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formalen Kategorie der Bedürftigkeit des Menschen in Verbindung bringen, die alle einzelnen und geschichtlich wechselnden Bedürfnisse als anthropologische Invariante fundiert und ermöglicht.« 333 Nur unter dieser Prämisse könnte man die sarkastische Diagnose eines Schweizer Politologen dementieren, derzufolge die Grundbedürfnisse innerhalb des UN-Systems lediglich darauf hin bestimmt werden, dass sie den Beschäftigungsstand der jeweiligen UN-Sonderorganisation sichern, d. h. Nahrung als Grundbedürfnis im Sinne der FAO, Gesundheit im Sinne der WHO, Arbeit im Sinne der ILO, Erziehung im Sinne der UNESCO! 334 Dabei lassen sich objektive, essentielle Grundbedürfnisse weder durch das Pochen auf die elementare Plastizität und Variabilität der menschlichen Bedürfnisstrukturen (a) noch die genuine Exzentrizität des Menschen (b) relativieren oder wegrationalisieren. Solche Einwände legen aber korrekterweise den Ton darauf, dass sämtliche Bedürfnisse eines Menschen nicht wie beim Tier durch angeborene, instinktive Reiz-Reaktionsmuster sein Handeln determinieren, sondern dass der Mensch ein Bedürfnis erst als Motiv seines Handelns willentlich aufzunehmen hat, oder aber es aufschieben bzw. sublimieren kann (ad b). 335 Die unabdingbare individuelle Ausprägung der Befriedigungsgestalt eines objektiven Bedürfnisses, d. h. die Wahl der Mittel zur Erreichung eines Grundbedürfnis-Ziels, muss beim Menschen sozial legitimiert sein, weshalb sich unsere Bedürfnisstruktur prinzipiell nur intersubjektiv konstituieren und auch nur in einem gesellschaftspolitischen Kommunikationszusammenhang verstehen lässt (ad a): »Es gibt zwar biologische und psychische Grundbedingungen, die Bedürfnisstruktur menschlichen Daseins. Die Möglichkeiten und Bedingungen sind aber nicht vorgegeben, sondern von den bewusst geschaffenen Formen menschlicher Gesellschaft abhängig. Der Mensch schafft insofern seine Bedürfnisse selbst, als er den Anspruch auf ihre Befriedigung nicht natural, sondern sozial legitimiert. Damit konstituiert sich die individuelle Bedürfnisstruktur intersubjektiv.« 336 333 Hans Krämer: Integrative Ethik, S. 228 f. Krämer unterschlägt allerdings die aus der Bedürfnisforschung stammende Differenzierung von Bedürfnissen und Grundbedürfnissen. 334 Vgl. Lederer: Bedürfnisse, S. 11 f. Lederer zitiert die provokatorischen Aperçus des Politologen Gilbert Rists, der die bevorstehende Gründung des UNOCAF, eines UNBüros für »Clothing and Fashion« in Aussicht stellt! 335 Vgl. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 21. 336 Artikel »Mensch« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 195.

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Auf politischer Ebene kann man generell drei verschiedene Weisen der Bedürfnisformation unterscheiden entsprechend den divergenten Gesellschaftssystemen mit ihrem kongruenten Anspruch, den Gesellschaftsmitgliedern eine optimale Entfaltung und Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu gewähren: Während der Neo-Liberalismus einer »negativen Freiheit« 337 sowohl die ungehemmte Bedürfnissteigerung wie die Reklametechniken der postmodernen Konsumund Erlebnisgesellschaft uneingeschränkt bejaht, 338 attackieren die Neokonservativen die »zunehmende Glücksgefräßigkeit« 339 der Überflussgesellschaft im Zeichen einer eudaimonistischen Mittelmäßigkeit, die Neomarxisten das unkontrollierte Wuchern der egoistischen, asozialen und ungesunden Konsumbedürfnisse auf Kosten von »wahren« oder »gesunden«. 340 Die Notwendigkeit einer historisch-kulturellen bzw. politisch sanktionierten »Bedürfnisorientierung« 341 von menschlichen Bedürfnissen erlaubt aber keineswegs den radikalen Schluss, unsere faktischen Bedürfnisse seien nur »gesellschaftliche Phänomene beschreibende Kategorien« 342 und durchwegs »künstlich«, weil in Maslows Worten sowohl »die höheren Bedürfnisse so wie auch die niedrigeren im Repertoire der grundlegenden und gegebenen menschlichen Natur vorhanden« sind. 343 Analog zu unseren motivationstheoretischen Analyseergebnissen des Teilkapitels 5.1, denenzufolge das menschliche Verhalten niemals aus angeborenen Persönlichkeitseigenschaften oder den Lebensbedingungen allein abgeleitet, sondern nur im Rekurs auf ein komplexes, sich in der Interaktion zwischen Disposition und Situation entwickelndes Persönlichkeitssystem erklärt werden kann, stellen unsere konkreten Bedürfnisse Produkte aus der Wechselwirkung von angeborenen Grundbedürfnissen und unserer Umgebung in einem schrittweisen Sozialisationsprozess dar: Vgl. zur Kontrastierung der positiven und negativen Freiheit Kapitel 6.2. Vgl. dazu Johann Baptist Müller: Bedürfnis und Gesellschaft, S. 136 ff. 339 Gehlen: Moral und Hypermoral, S. 64 oder ebd., S. 134 ff. 340 Vgl. Müller: Bedürfnis und Gesellschaft, S. 141–153 sowie unsere Marcuse-Zitate in Kapitel 2.1, S. 82 ff. 341 Hondrich schlägt vor, es soll generell »von Bedürfnisorientierung statt von Bedürfnis geredet werden« (in: Menschliche Bedürfnisse, S. 31), was sich aber bei einer begrifflichen Auffächerung von Grundbedürfnissen und Bedürfnissen erübrigt, da letztere im Kontrast zu ersteren immer schon (gesellschaftlich-kulturell) orientiert sind. 342 Friedrich Ortmann: Bedürfnis und Planung in sozialen Bereichen, S. 18. 343 Abraham Maslow: Motivation und Persönlichkeit, S. 158. 337 338

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»Die Veränderung von Bedürfnissen im Zeitablauf lässt sich so erklären, dass die Menschen im Umgang miteinander und bei der Produktion oder Beschaffung von Dingen zur Befriedigung vorhandener Bedürfnisse lernen. Sie erkennen neue, vielleicht differenziertere oder bequemere Mittel und Wege der Bedürfnisbefriedigung und orientieren fortan ihre Bedürfnisse daran. Das geschieht nicht im ›luftleeren Raum‹, sondern in Wechselwirkung mit den die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, also mit politischen, wirtschaftlichen, psychischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten. Teils entwickeln sich Bedürfnisse bei den Menschen entsprechend diesen Bedingungen, teils versuchen die Menschen, diese Bedingungen entsprechend ihren Bedürfnissen mitzugestalten.« 344

Führt die Erkenntnis, dass alle unsere wahlweise zu Handlungsmotiven erhobenen Bedürfnisse aus der Wechselwirkung zwischen angeborenen Zielausrichtungen und situativen, soziokulturellen Lebensbedingungen hervorgehen, nicht notwendig zur Liquidation der umstrittenen Separation der erworbenen »sekundären« von den nicht-erworbenen »primären« Bedürfnissen? Grundsätzlich hat sich in der Motivationspsychologie eine Wandlung vollzogen von mechanischen Ansätzen, die menschliches Handeln auf den Druck zumeist unbewusster »impliziter Motive«, d. h. auf angeborene, biophysische Bedürfnisse oder Triebe 345 zurückführen, hin zu kognitiven Modellen, welche die »selbstattribuierten Motive«, die kognitiv ausdifferenzierten, den Menschen eher anziehenden als drängenden Verhaltensdeterminanten in den Blick rücken. 346 Da der Mensch physiologisch betrachtet ein Organismus ist, der zum Zwecke der Selbsterhaltung und eines homöostatischen Gleichgewichtszustandes mit seiner Umwelt elementare biophysische, von Geburt an aktuelle und relativ isolierbare Bedürfnisse zu stillen hat, lassen sich diese als »primäre« durchaus von »sekundären« abtrennen. Nach Maslow müssen wir solche »physiologischen Triebe oder Bedürfnisse als ungewöhnlich und nicht als typisch betrachten […], weil sie isolierbar und somatisch lokalisierbar sind. Das bedeutet soviel, als dass sie relativ unabhängig voneinander, von anderen Motivationen und vom Organismus als ganzem sind, und zweitens, dass es Lederer: Bedürfnisse, S. 16. »Triebe« in einem engeren Sinne sind identisch mit den primären, angeborenen Vital- oder Triebbedürfnissen. Vgl. Kapitel 4, S. 251. 346 Vgl. zu diesen unterschiedlichen Motivformen Ulrike Bowi: Der Einfluss von Motiven auf Zielsetzung und Zielrealisierung, S. 42, zur generellen Entwicklung der Motivationspsychologie den Artikel »Motivation« in Hillig: Die Psychologie, S. 255 f. 344 345

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in vielen Fällen möglich ist, eine lokalisierte, somatische Basis für den Trieb aufzuzeigen. Das stimmt weniger allgemein als man dachte (Ausnahmen sind Müdigkeit, Schläfrigkeit, mütterliche Reaktionen), aber es ist noch immer für die klassischen Beispiele des Hungers, der Sexualität und des Durstes richtig.« 347

Wenngleich auch die »primären« soziokulturell orientiert und geformt werden können, wie die kulturelle Heterogenität bezüglich sexueller Verhaltensformen oder der divergierende Befriedigungsmodus des Nahrungsbedürfnisses beweist, 348 entfalten sich die »sekundären«, zunächst latenten Grundbedürfnisse ausschließlich dank sprachlicher und kognitiver Entwicklung im Laufe eines Interaktions- und Sozialisationsprozesses. Während die somatisch lokalisierbaren, vergleichsweise voneinander unabhängigen Primärbedürfnisse a) lebensnotwendig und b) leichter zu befriedigen sind, weshalb sie auch als »niedriger« eingestuft werden, beruhen die für unser Überleben kaum notwendigen, leichter aufschiebbaren »sekundären« oder »höheren« Bedürfnisse auf weitreichenden Voraussetzungen, von der Bedürfnisdeckungslage der »primären« bis hin zu kognitiven Ausdifferenzierungen und normativen Grundhaltungen. 349 Indem der Mensch allerdings die von mechanischen Motivationstheorien ignorierte Möglichkeit hat, seine Handlungsmotive von Bedürfniszielen abzutrennen, kann Allports »Prinzip der funktionellen Autonomie der Motive« die Verselbständigung der »höheren« Bedürfnisse von den eigentlich als Bedingungen notwendigen »niederen« zeitigen, 350 so dass eine »psychologische Analyse der Bedürfnisse zwangsläufig in die Analyse von Motiven« 351 umschlagen Maslow: Motivation, S. 75. Vgl. dazu Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 242 f. oder Schmerl: »Obwohl z. B. Nahrungsaufnahme der für die Selbsterhaltung grundlegenste physiologische Trieb ist, hat die Art seiner Befriedigung in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften völlig unterschiedliche, ja diamtetral entgegengesetzte Ausformungen annehmen können. Was die eine Gesellschaft als nahrhaft und bekömmlich empfindet, kann in einer anderen zu Ekel, Erbrechen und heftigen physiologischen Reaktionen führen. Die sozial geschaffene Einteilung in genießbare und ungenießbare Nahrung kann soweit gehen, dass Individuen lieber verhungern, als ungewohnte, aber lebenserhaltende Nahrung zu sich zu nehmen.« (Christiane Schmerl: Sozialisation und Persönlichkeit, S. 2 f.) 349 Vgl. dazu unsere Ausführungen in Kapitel 4.1, S. 279–283 ff., Scherhorn: Gibt es eine Hierarchie der Bedürfnisse?, S. 297 f. sowie Bowi: Der Einfluss von Motiven, S. 42. 350 Vgl. Kapitel 4.1, S. 280. 351 Aleksej Leontjev: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, S. 84. 347 348

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muss: Auf der Suche nach Glück erwies sich das hedonistische mechanische Motivationsmodell bereits im Kapitel 4.1 lediglich für die mittels substituierbarer Reizobjekte kausal induzierte Lust bei der Befriedigung primärer Bedürfnisse als angemessen, 352 wohingegen den intentional auf Werte in der Außenwelt gerichteten Gefühlen von Freude oder Glück lediglich kognitive Modelle Rechnung tragen, die entweder von individuellen Interessen oder institutionalisierten, kulturell kultivierten, wesentlich schwächeren und leichter formbaren sekundären Bedürfnissen ausgehen. 353 Gerade im Bereich der Sekundärbedürfnisse gewinnt daher die Frage nach einer genuin anthropologischen Bedürfnishierarchie als Motivationsgrundlage eudaimonologische Brisanz, deren Erfüllungspegel zugleich als Gradmesser menschlichen Glücks fungieren könnte, so zwar, dass sich mit der Höhe eines befriedigten Bedürfnisses zugleich das menschliche Glück potenzierte. Zum einmütigen Bedauern der Bedürfnisforscher lassen sich, da die objektiven artspezifischen Bedürfnisse keine äußeren, beobachtbaren Merkmale der Menschen, sondern innerliche psychophysische Spannungszustände darstellen, weder sekundäre noch primäre Bedürfnisse direkt messen. Als klassische Ermittlungsverfahren fungieren daher einerseits Rückschlüsse vom äußeren Verhalten auf die entsprechende Bedürfnislage (beispielsweise vom Bewohnen von Höhlen oder Häusern auf Bedürfnisse nach Sicherheit und Klimaschutz), andererseits unmittelbare Befragungen. Ob man allerdings auf diese Weise »auch gültige und zuverlässige Bedürfnisaussagen erhält, die hohen theoretischen und praktischen Anforderungen entsprechen, ist fraglich – erwartet man doch zumindest näherungsweise so etwas wie Feststellungen der ›wirklichen‹ oder ›wahren‹ Bedürfnisse der Menschen, was einen hohen Konzentrations-, Reflexionsund Bewusstseinsgrad voraussetzt«, 354 wie Lederer zu Bedenken gibt. Überzeugend schlägt sie daher als »methodisch vergleichsweise einwandfreiste Ermittlung« 355 gleichsam eine ex-negativo-Bedürfnisforschung vor, die sich an Bedürfnisversagungen, an sogenannten »Frustrationen« orientiert, welche sich in Aggressionen gegen außen Vgl. ebd., S. 85 f. sowie Kapitel 4.1, S. 262 f. Vgl. Kapitel 4.1, S. 256 f. und S. 263 f. Auch Bowi koppelt die Unterscheidung von »impliziten« und »selbst-attribuierten« Motiven an hedonistische bzw. emotionale Erlebniszustände (vgl. Bowi: Der Einfluss, S. 42). 354 Lederer: Bedürfnisse, S. 22. 355 Ebd., S. 23. 352 353

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(Terrorismus und Delikte) wie gegen innen (Drogenkonsum und Selbstmord) manifestieren und als relativ eindeutige Indizien für Grundbedürfnisse – im Kontrast zu subjektiven Wünschen oder Neigungen – gelten dürfen. 356 »Versuchen Sie herauszubekommen«, instruiert sie uns, »wie und bei wem sich individuelles Leiden und von daher negative Konsequenzen für die Rolle der Betroffenen in der Gesellschaft (im Verhältnis zu gesamtgesellschaftlichen Werthaltungen) in Form von Aggressionen gegen sich selbst, Andere und Sachen manifestieren, und versuchen Sie ferner herauszubekommen, welche Art von Bedürfnisversagungen zu solchen Aggressionen geführt haben könnten.« 357

Auch wenn Maslows Liste menschlicher Grundbedürfnisse immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik gerät, weil sie auf einer Generalisierung experimenteller sowie beobachteter klinischer Befunde bei psychisch Kranken mit frustrierten Bedürfnissen beruht, 358 schiene dies also gerade ein methodischer Vorzug zu sein. 359 Maslows empirischer Ansatz als »einer der einflussreichsten Versuche, Bedürfnisse zu klassifizieren«, 360 unterbreitet zugleich aufgrund klinischer Forschungsergebnisse und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse eine bemerkenswerte Hierarchie menschlicher Grundbedürfnisse, bei welcher jede Entwicklung und Entfaltung eines höheren Bedürfnisses jeweils – sowohl in phylogenetischer wie ontogenetischer Hinsicht – die Befriedigung der niedrigeren voraussetzt. »Die Grundbedürfnisse arrangieren sich in einer ziemlich definitiven Hierarchie auf der Basis des Prinzips der relativen Mächtigkeit. So ist das Sicherheitsbedürfnis stärker als das Liebesbedürfnis, weil es den Organismus dann auf verschiedene, aufzeigbare Weise beherrscht, wenn beide Bedürfnisse frustriert sind. In diesem Sinn sind die physiologischen Bedürfnisse […] stärker als die Sicherheitsbedürfnisse, die stärker sind als die Liebesbedürfnisse, 356 Auch Maslow attestiert: »Frustration unwichtiger Wünsche führt zu keinen psychopathologischen Ergebnissen; Frustrierung grundlegend wichtiger Bedürfnisse hingegen führt dazu.« (Maslow: Motivation, S. 103) 357 Lederer: Bedürfnisse, S. 24 (im Original gesperrt). 358 Vgl. Lederers Liste der hauptsächlichsten Einwände gegen Maslow, S. 14. 359 Maslow postuliert, dass seine Motivationstheorie sowohl hohen »theoretischen Anforderungen genügt und zugleich den bekannten klinischen wie auch experimentellen und beobachteten Tatsachen entspricht. Sie leitet sich jedoch am direktesten von der klinischen Erfahrung ab.« (Maslow: Motivation, S. 74) 360 So lautet die exemplarische Taxierung Hondrichs in: Menschliche Bedürfnisse, S. 29. Vgl. übereinstimmend etwa Lederer: Bedürfnisse, S. 13.

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die ihrerseits wiederum stärker sind als die Achtungsbedürfnisse, die wiederum stärker sind als jene idiosynkratischen Bedürfnisse, die wir das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung genannt haben.« 361

Die Rangordnung lautet mithin: 1. Physiologische Grundbedürfnisse (etwa nach Nahrung oder Sex), 2. Grundbedürfnisse nach Sicherheit (Schutz/Vorsorge), 3. nach Zugehörigkeit und Liebe, 4. nach Achtung, 5. nach Selbstverwirklichung. 362 Gemäß unseren bisherigen Erörterungen umfasst die erste Bedürfnisklasse »primäre« basale Bedürfnisse, die restlichen höhere »sekundäre«. Da Maslows Klassifizierung diese Trennung sichtbar macht, zugleich aber wesentlich spezifischer ist, ohne Unübersichtlichkeit zu zeitigen, scheint sie mir für unser Glücksprojekt durchaus Gewinn zu bringen. Obschon viele Bedürfnisforscher die mit einer Verifizierung der Maslowschen Bedürfnis-Hierarchie verbundenen »Schwierigkeiten, die Hierarchie-Hypothese zu operationalisieren und empirisch zu prüfen«, 363 reklamieren und andere darauf dringen, die angebliche »Höhe« eines Bedürfnisses sei prinzipiell »nicht auf empirische, sondern nur auf wertende Weise zu entscheiden«, 364 konnte die Hierarchie zumindest im basalen Bereich durch direkte (und damit weniger zuverlässige) empirische Befragungen konsolidiert werden. 365 Unter Berücksichtigung der phylogenetischen Entwicklung des Menschen hat auch Seev Gasiet in einer neueren Untersuchung grosso modo Maslows Klassifikation bestätigt – mit dem Anspruch, sie besser begründen zu können. 366 Im Vergleich zu Aristoteles, auf den die humanistischen Psychologen ihre Tradition gerne zurückverfolgen, 367 und dessen Glückstheorie auf derselben inhaltlichen anthropologischen Prämisse einer Maslow: Motivation, S. 153 f. Vgl. ebd., S. 74–89. 363 Scherhorn: Gibt es eine Hierarchie der Bedürfnisse?, S. 298. 364 Josef Meran: Über einige methodische Schwierigkeiten, S. 32: »Worin der Zweck des Menschseins besteht, ob in der Erhaltung der Gesundheit, im höchsten Lustgewinn, in der Weisheit, in der ewigen Seligkeit u. a., dies ist aber nicht auf empirische, sondern nur auf wertende Weise zu entscheiden.« 365 Vgl. Dieter Birnbacher: Was wir wollen, was wir brauchen und was wir wollen dürfen, S. 37 f. sowie die im Rahmen der Entwicklungshilfe in Tanzania durchgeführten Befragungen bei Bernhard Glaeser: Bedürfnisse bei den Shambaa in Tanzania. 366 Vgl. Seev Gasiet: Menschliche Bedürfnisse, S. 250 f. 367 »Aristoteles baut seine Ethik auf der Wissenschaft vom Menschen auf. Seine Psychologie untersucht die Natur des Menschen; die Ethik ist demzufolge angewandte Psychologie«, schließt Erich Fromm kühn, in: Psychoanalyse und Ethik, S. 30. 361 362

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notwendigen entelechischen Entfaltung der arttypischen menschlichen Möglichkeiten beruht, 368 präsentieren sich jedenfalls sowohl Maslows Methode wie seine Forschungsergebnisse als erheblich differenzierter und transparenter: Auch Aristoteles verwirft die Möglichkeit, von den tatsächlichen Optionen der Menschen für bestimmte Zielklassen – sei es Lust, Ehre oder Reichtum – auf die wahren Bedürfnisse oder wesenseigenen menschlichen Fähigkeiten zurückzuschließen, 369 dabei gleich Maslow unterstellend, menschliches Glück ereigne sich nur dank der Erfüllung der höchsten menschlichen Bedürfnisse bzw. der bestmöglichen Leistungen eines Menschen. Während Aristoteles im dritten Kapitel des ersten Buches die wichtigsten vorherrschenden Ansichten vom Glück eruiert, geht er im sechsten Kapitel unvermittelt von einer deskriptiven zu einer normativen Argumentation über. Obgleich diese Wendung laut Aubenque »eine erste Erschütterung in die Kohärenz des aristotelischen Gedankenganges« hineinbringt, 370 lässt sie doch die unüberbrückbaren Meinungsdifferenzen zugunsten einer einheitlichen Glücksdefinition hinter sich: Es sei »das Gute für den Menschen die Fähigkeit der Seele auf Grund ihrer besonderen Befähigung, und wenn es mehrere gibt, nach der besten und vollkommensten; und dies außerdem noch ein volles Leben hindurch.«371 Nach der Disqualifizierung der unvernünftigen Seelenvermögen, weil wir die GrundbedürfnisZiele Ernährung und Wachstum mit den Pflanzen, dasjenige nach Sinneswahrnehmung mit den Tieren teilen, 372 bleibt Aristoteles anlässlich seiner rational-psychologischen anthropologischen Examination bei der Krönung der vernünftigen oder doch vernunftfähigen Seelenteile und der entsprechenden spezifisch menschlichen Tätigkeit »gemäß oder doch nicht ohne die Vernunft« stehen. 373 So müsse man als »eigentümliche Leistung des Menschen ein bestimmtes Leben annehmen und als solches die Tätigkeit der Seele und die vernunftgemäßen Handlungen bestimmen und als Tätigkeit des hervor368 Betreffs der humanistischen Psychologen verweise ich auf Kapitel 4.1, S. 278, zur aristotelischen inhaltlichen Teleologie, die mir noch grundlegender erscheint als die in 5.1 beleuchteten formalen fundamentalanthropologischen Prämissen, auf Joachim Ritter: Metaphysik und Politik, S. 62 f. 369 Vgl. oben, S. 343 f. 370 Pierre Aubenque: Die Kohärenz der aristotelischen Eudaimonia-Lehre, S. 49. 371 Aristoteles: Eth. nic., 1089a, 16 ff. 372 Vgl. ebd., 1097b, 33–1098a, 3 sowie 1102a, 32-b, 12. 373 Ebd., 1098a, 7.

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ragenden Menschen eben diese Tätigkeit in einem hervorragenden Maße.« 374 Unter den analogen Prämissen: »Je höher das Bedürfnis ist, um so spezifisch menschlicher ist es«, und: »höhere Bedürfnisbefriedigungen (führen) zu erwünschteren subjektiven Resultaten, das heißt zu tieferem Glück, Gelassenheit und Reichtum des inneren Lebens«, 375 lässt demgegenüber Maslow die Hierarchie glücksrelevanter arttypischer menschlicher Anlagen nicht wie Aristoteles im göttlichen Sich-selbst-Denken des Geistes kulminieren, 376 sondern in der Tätigkeit der Selbstverwirklichung. »Musiker müssen Musik machen, Künstler malen, Dichter schreiben, wenn sie sich letztlich in Frieden mit sich selbst befinden wollen. Was ein Mensch sein kann, muss er sein. Er muss seiner eigenen Natur treu bleiben«, 377 lautet Maslows glückstheoretisch bedeutsamer Appell zur Selbstverwirklichung. Da die Selbstverwirklichung in der Regel die Befriedigung sämtlicher basaleren Bedürfnisse voraussetzt, mahnt uns Maslow, die »grundlegenden Bedürfnisse und die Metabedürfnisse als Rechte sowie als Pflichten zu betrachten. Das folgt unmittelbar aus der Annahme, dass Menschen ein Recht darauf haben, menschlich zu sein, so wie Katzen ein Recht darauf haben, Katzen zu sein. Um voll menschlich zu sein, sind diese Befriedigungen von Bedürfnissen und Metabedürfnissen notwendig, und man kann sie deshalb als ein natürliches Recht betrachten.« 378

Was auf Anhieb den Verdacht eines naturalistischen Fehlschlusses nährt, lässt sich mit einem zweiten Blick entkräften, da ja augenscheinlich nicht vom Sein auf das Sollen, sondern vom Können auf das Sollen geschlossen wird. Doch hat der Mensch anthropologischEbd., 1098a, 7 f. Maslow: Motivation, S. 154 und S. 155 (im Original gesperrt). 376 Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1177a, 15 ff. und Kapitel 4.2, S. 331 f. 377 Maslow: Motivation, S. 88. Andernorts verwehrt sich Maslow vehement gegen normative Ansprüche im Rahmen einer empirisch-deskriptiven Theorie: »Dies alles trifft in demselben empirischen Sinn zu, in dem wir beiläufig sagen, dass ein Hund Fleisch Salat vorzieht, oder ein Goldfisch frisches Wasser braucht, oder Blumen am besten in der Sonne gedeihen. Ich behaupte fest, dass wir damit deskriptive, wissenschaftliche Feststellungen getroffen haben mehr als rein normative. (Ich habe den Begriff Fusionswörter vorgeschlagen, wo das Wort sowohl deskriptiv wie auch normativ ist.)« (ebd., S. 373) 378 Ebd., S. 12. Da Katzen im Gegensatz zum Menschen nicht die Möglichkeit haben, Handlungsmotive von Bedürfniszielen abzukoppeln und dadurch mehr oder weniger ihr Katze-Sein zu verwirklichen, kann in der Katzenwelt von einer Pflicht kaum die Rede sein. 374 375

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ethisch betrachtet tatsächlich sowohl das Recht wie die Pflicht, die höchstmöglichen menschlichen Bedürfnisse oder bestmöglichen Fähigkeiten, sein eigenstes Können zu aktualisieren, d. h. in einem ganzen Sinne menschlich zu sein und damit das größtmögliche menschliche Glück zu erleben, wie Maslow reklamiert? Während ein universelles, gesetzlich verankertes Recht auf vollendetes Menschsein oder Glücklichsein damit zu kämpfen hat, dass seit dem Auftakt der Neuzeit die Würde und das Wesen des Menschen in seiner Exzentrizität und Selbstbestimmung gesichtet wird und die »natürlichen« menschlichen Grundbedürfnisse zudem eine »künstliche« gesellschaftliche Orientierung erfordern – welche keineswegs durch jene gerechtfertigt werden kann –, 379 scheint die Pflicht zum eigentlichen Menschsein in Anbetracht der anthropologischen Konstante menschlichen Glücksstrebens im Interesse des einzelnen prinzipiell ratsam. Es kann damit die Deduktion des Sollens vom Können augenscheinlich nur indirekt in Form eines hypothetischen Imperativs 380 von jedem einzelnen vor dem Hintergrund des genuin menschlichen Verlangens nach Glück und der Vermeidung von Frustration und Depression vollzogen werden. Die Aufforderung zu eigentlichem, vollendetem Menschsein erweist sich vornehmlich dann als höchst persönliche Angelegenheit, wenn man infolge der Befriedigung aller menschlicher Grundbedürfnisse auf dem Niveau der Selbstverwirklichung angelangt ist. Denn gemäß unseren identitätstheoretischen Analysen hat man vornehmlich zum Zeitpunkt der überwundenen Adoleszenzkrise seine ganz persönlichen Fähigkeiten und Begabungen zu erforschen, um sich im Einvernehmen mit dem soziokulturellen Lebensrahmen für eine individuelle Form des Mensch- und Glücklichseins – etwa als Künstlerin oder Akademikerin – zu entscheiden. Nicht nur von diesen charakteristischen Potenzen und Gaben im Sinne von Aufgaben, sondern von sämtlichen höheren menschlichen Bedürfnissen oder Fähigkeiten gilt sowohl nach Aristoteles wie Maslow, dass der Vgl. die Diskussion zu Nussbaum weiter unten sowie Kapitel 6.2. »Empirisch wissen wir, was die menschliche Spezies will, zum Beispiel Liebe, Sicherheit, Schmerzlosigkeit, Glück, Verlängerung des Lebens, Wissen und so weiter. Wir können dann sagen, nicht ›Wenn du glücklich sein möchtest, dann …‹, sondern ›Wenn du ein gesundes Mitglied der menschlichen Spezies bist, dann …‹« (Maslow: Motivation, S. 373) Die beiden Imperative miteinander verkoppelnd, müsste es wohl heißen: »Wenn du glücklich sein möchtest, dann sei ein gesundes Mitglied der menschlichen Spezies.« 379 380

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Mensch sie nur kraft angestrengter Erkenntnistätigkeiten und kommunikativer Interaktion entdecken und zum Handlungsmotiv ausersehen kann, nachdem die naturgegebenen höheren Zielklassen nicht mehr wie beim Tier automatisch sein Handeln determinieren: »Der wichtige Unterschied zwischen dem Menschen und allen anderen Wesen ist, dass seine Bedürfnisse, Vorlieben, Instinktreste schwach sind und nicht stark, vieldeutig und nicht eindeutig, dass sie Raum lassen für Zweifel, Ungewissheit und Konflikt, da sie zu leicht überlagert werden und für die Kultur durch Lernen, durch die Vorliebe anderer Leute, verlorengehen können.« 381 Wo die Katze einfach Katze ist mit den instinktiv handlungswirksamen Bedürfnissen und Trieben, beruhen beim Menschen mit seiner Bedürfnis- und Vernunftnatur Pflichten und Rechte des Menschsein-Könnens auf vernunftmäßiger Erfassung und rationaler kollektiver Konkretisierung grundlegender menschlicher Bedürfnisse. Die Bedürfnisnatur, das Können, bildet mithin gleichsam das Material für die vernünftige, selbstbestimmte Form von konkreten Rechten oder Pflichten, ohne dass diese durch die Materie untrüglich determiniert wäre. In der philosophischen Naturrechtsdebatte scheint es infolgedessen weder sinnvoll, gleich den Sophisten die Triebnatur des Menschen um der Deduktion des »Recht des Stärkeren« willen zu verabsolutieren, noch mit Platon die menschliche Vernunftnatur, welche dank intuitiver Einsicht in die »Idee des Guten« Recht und Gerechtigkeit statuieren darf. Vielmehr müsste man mit aristotelischem Blick auf die »soziale Natur« des Menschen die gesellschaftliche Rechtsordnung aus der kommunikativen Interaktion über eine vernünftig legitimierbare Bedürfnisnatur hervorgehen lassen. Da der rundum glückliche, sich selbst verwirklichende Mensch im Prinzip keine Bedürfnisse mehr hat, 382 werden durch die psycho381 Ebd., S. 374. Analog heißt es in Ritters Aristoteles-Kommentar: »Was für alles Lebendige gilt, das muss auch für den Menschen gelten; auch ihn treibt seine Natur als Zweck in der Macht seiner naturgegebenen Anlagen und seines Seinkönnens, aber sie tut dies nicht so, dass sie wie bei den übrigen Lebewesen sein Handeln unmittelbar führt, sondern so, dass sie verborgen und hintergründig in den gewollten und gesetzten Zielen treibt. […] Weil der Mensch in diesen Zielvorstellungen lebt, darum kann er das ihm durch seine Natur vorgezeichnete Beste nicht ohne die Hilfe einer Einsicht erkennen, die ihn herauf hinweist.« (Ritter: Metaphysik und Politik, S. 63) 382 »Der tadellos gesunde, normale, glückliche Mensch hat keine Sexual- oder Nahrungsbedürfnisse, oder Sicherheits-, Liebes-, Prestige-, Selbstachtungsbedürfnisse, außer in verstreuten Augenblicken rasch vorübergehender Bedrohung.« (Maslow: ebd., S. 103)

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physischen Bedarfs- und Mangelzustände, durch Grenzerfahrungen und Krisen, in welchen sich mitunter die frustrierten menschlichen Grundbedürfnisse signifikant artikulieren, genau genommen »die Antiziele markiert und dadurch indirekt die Lebensziele indiziert.« 383 Wenn sich nach Krämers Weisung sämtliche – höheren wie niederen – objektiven Bedürfnisse »zuletzt doch vom Selbstverständnis des Betroffenen her legitimieren lassen müssen, da postteleologisch ohne Subjektivität keine Ziele denkbar sind«, 384 dienen sie uns bei unserem Lebens- und Glücksentwurf also bestenfalls als »Referenzgrößen«, als »Orientierungshilfen« im Sinne Seels. 385 Ob wir unser Lebensglück der Selbstverwirklichung dabei auf eine stabile Bedürfnisdeckungslage dank akkurater Berücksichtigung aller Anti-Ziele in unserem ausgreifenden Lebensplan bauen, oder aber auf die funktionelle Autonomie der höchstmöglichen Bedürfnisse infolge ausreichender Befriedigung der basalen in der Adoleszenz setzen, bleibt dem einzelnen anheimgestellt. Auch wenn es entsprechend dem von uns favorisierten kognitiven Motivationsmodell unsere persönliche Aufgabe ist, die Grundbedürfnisse als »Grenz- oder Minimalwerte« 386 menschlichen Glücks im Rahmen unserer Lebensform, innerhalb eines umfassenden kognitiv organisierten Motivationssystems zu formieren, scheint sich hier doch ein Widerspruch anzubahnen zur obigen Erkenntnis, die individuelle Ausprägung der Befriedigungsgestalt eines objektiven Bedürfnisses, d. h. die Wahl der Mittel zur Erreichung eines Grundbedürfnis-Ziels müsse sozial legitimiert sein. Wird das wahre menschliche Selbstverwirklichungs-Glück nicht zumeist dadurch vereitelt, dass unsere Bedürfnisstruktur nicht nur im gesellschaftlich-politischen Kommunikationszusammenhang konstituiert werden muss, sondern auch durch öffentliche Werbepraxis unter Hintergehung unseres elementaren persönlichen Legitimations- und Selbstbestimmungsrechts manipuliert werden kann, so dass wir ständig »falschen Bedürfnissen« nachrennen, die wir angeblich brauchen, um glücklich zu sein, wobei wir uns selbst aus den Augen verlieren? 387

Krämer: Integrative Ethik, S. 230. Ebd., S. 229. 385 Vgl. oben, S. 423. 386 Krämer: Integrative Ethik, S. 230. 387 Vgl. Iring Fetschers Aufsatz: Was brauchen Menschen, um glücklich zu sein?, S. 101 ff. 383 384

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Konfrontiert mit Konsumkritikern, die das zahlreiche Scheitern individuellen menschlichen Glücksstrebens in unserer Erlebnis- und Konsumgesellschaft weniger einem grassierenden selbstwidersprüchlichen hedonistisch-privatistischen Glücksstreben zu Lasten legen, sondern manipulativen gesellschaftlich-institutionellen Rahmenbedingungen unserer Bedürfnisbefriedigung, hat man allererst Begriffsnetze zu zerpflücken: Während nicht immer konsequent zwischen anthropologisch konstanten »Grundbedürfnissen« und spezifischen, zeit- ort- und personengebundenen »Bedürfnissen« unterschieden wird, deklariert man die »Bedürfnisorientierung« auf kulturell legitimierte Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zumeist als »Bedarf« in einem weiten, nicht auf Konsumgüter eingeschränkten Sinne, wobei sich dieser nochmals spezifizieren kann zu einer »Nachfrage« nach konkreten, faktischen Mitteln. 388 Anhand eines illustrativen Beispiels lässt sich mit Klaus Meyer-Abich zeigen; »bestimmte Bedürfnisse (nach einem bestimmten Typ von Familienleben, nach Sicherheit, nach Unabhängigkeit u. a.) verdichten sich zu einem Bedarf nach einem Eigenheim, und dieser Bedarf werde zu gegebener Zeit als Nachfrage nach dem Grundstück xyz der Gemeinde so und so geltend gemacht.« 389 Wenn im Rahmen einer engagierten Glückstheorie Bedürfniskritik geltend gemacht wird, lassen sich die methodischen Schwierigkeiten, die man angesichts der schlechthinnigen Unumgänglichkeit einer historisch-kulturellen Orientierung von Grundbedürfnissen mit der Rede von »wahren«/»falschen« Bedürfnissen hat, 390 letztlich nur eliminieren mittels einer Transformation der Bedürfnis- in Bedarfs- oder Nachfragekritik. »Die Frage nach der ›Wahrheit‹ von Bedürfnissen wird transformiert in die Frage nach der Legitimität von Mitteln zur Beeinflussung des Prozesses, in dem sich Bedürfnisse zu einem Bedarf und schließlich zu einer Nachfrage 388 Vgl. dazu etwa Scherhorn: »Gibt es eine Hierarchie der Bedürfnisse?, S. 292 ff. »Bedarf wird als Absicht zur Beschaffung eines Bedürfnisobjekts aufgefasst, das sich über die Dimension ›Menge‹ und ›Wert‹ (Tausch- bzw. Kostenwert) erstreckt«, lautet seine etwas ökonomistische Definition (ebd., S. 292). 389 Klaus Meyer-Abich: Kritik und Bildung der Bedürfnisse, S. 60. Hat man also Fälle, »in denen ein Bedürfnis bereits soweit konkretisiert ist, dass ein bestimmter Nachfragetyp absehbar ist, eine individualisierte Nachfrage jedoch noch nicht erfolgt, so erscheint es am nächstliegenden, hier von einem vorliegenden Bedarf zu sprechen.« (ebd.) 390 Vgl. paradigmatisch Meran: »Schwierigkeiten methodischer Art treten nun vor allem dann auf, wenn die Unterscheidung von w/f Bedürfnissen mit der schon erörterten weiteren Annahme, dass alle Bedürfnisse gesellschaftlich bestimmt sind, in Einklang gebracht werden soll.« (Meran: Über einige methodischen Schwierigkeiten, S. 33)

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konkretisieren.« 391 Obgleich der in Würde und Autonomie freigesetzte Mensch, wie Krämer richtig klarstellt, die in seiner politischkulturellen Gemeinschaft konkretisierten Grundbedürfnisse durch Integration entsprechender sozial legitimierter Bedingungen und Mittel ihrer Befriedigung in seine Lebensform, auch noch subjektiv zu legitimieren hat, bleibt er bei der kontinuierlichen historisch-gesellschaftlichen Bedürfnisformation selbst oft zur Passivität und Unmündigkeit verdammt und wird von »falschen«, trügerisch suggerierten »Anti-Zielen« angeblich wesentlicher menschlicher Bedürfnisziele irregeleitet. Neben illegitimen Mitteln zur Beeinflussung der Art der Bedürfnisformation (1) müssen im Rahmen einer Anthropologie des Glücks grundsätzlich diejenigen Bedürfnis- oder Bedarfsorientierungen attackiert werden, bei denen die tatsächlichen Bedürfnisse bzw. die zugrundeliegenden Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden können (2). (Ad 2:) Eudaimonologisch verwerflich ist eine konsumgüterorientierte Bedürfniskonkretisierung zweifellos überall da, wo das vorhandene Grundbedürfnis auf diese Weise gar nicht mehr oder nur unzureichend gestillt wird, wie es beispielsweise beim kompensatorischen Konsumzwang infolge mangelnder kommunikativer Zuwendung, d. h. des frustrierten Grundbedürfnisses nach Liebe und Zuneigung der Fall ist, 392 oder bei folgendem werbemäßig manipulierten Bedarf: »So kommt es dann dazu, dass – um nur ein einziges Beispiel zu nennen – ein Bettenhaus annonciert, man solle sich den Frühling ins Schlafzimmer holen, indem man neue Betten kauft. Den Frühling ins Schlafzimmer zu holen, ist offenbar ein Bedürfnis, sonst wäre diese Werbung jedenfalls auch nicht erfolgreich, aber wer dieses Bedürfnis im wesentlichen zu einem Bedarf und einer Nachfrage nach Betten konkretisiert, hat in seiner Bedürfnis-Bildung offenbar noch etwas nachzuholen.« 393

391 Horst Meixner: Manipuliert die Werbung?, S. 80. Zu ebendiesem Schluss gelangten wir am Leitfaden unserer Marcuse-Lektüre am Ende des Kapitels 2.1 (S. 83–86 ff.). 392 Vgl. Meyer-Abich: »Man sagt dann z. B.: Frau und Kind haben eigentlich einen Bedarf danach, dass eine Zuwendung erfolgt, und kompensieren das Ausbleiben kommunikativerer Zuwendung dadurch, dass sie mit dem ihnen immer schon zugewandten Warenangebot vorliebnehemen; der intendierte Kommunikationszusammenhang aber sei durch den Warenkauf allein allenfalls als Erinnerung lebendig zu machen, jedoch nicht als unmittelbare Erfüllung der Gegenwart.« (Meyer-Abich: Kritik und Bildung der Bedürfnisse, S. 65) 393 Ebd., S. 75.

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Soziale Beeinflussung menschlicher Bedürfnis- und Bedarsformation, deren daraus resultierenden Orientierungen zum einen »den Interessen bzw. Grundbedürfnissen des Beeinflussten zuwiderlaufen und dessen kritische Urteilsfähigkeit« ausschalten, bezeichnet man gemeinhin als »Manipulation«. 394 Der weitverbreitete Vorwurf der Manipulation zur Produktion »falscher«, d. h. unseren Grundbedürfnissen nicht gerecht werdender Bedürfnisse richtet sich zunächst und zumeist an die Adresse der Werbeagenturen der kapitalistischen Wirtschaft. Moniert wird erstens das Defizit an umfassender und sachgerechter Information über die feilgebotenen Güter bzw. die tatsächliche bedürfniserfüllende Konsequenz ihres Gebrauchs, indem die Auswahl der tatsächlich präsentierten Gebrauchseigenschaften primär dem Absatz- und Gewinnziel untersteht (1a), 395 zweitens die Verwendung von Beeinflussungsmitteln, »mit deren Hilfe ein gewünschtes Verhalten anderer Menschen unter Umgehung des kritischen Urteilsvermögens dieser Menschen herbeigeführt werden soll« (1b). 396 (Ad 1a:) Gegen den Einwand der Manipulation durch mangelhafte oder gezielt irreleitende Werbeinformationen ließe sich mit Karl-Otto Hondrich kontern, er treffe nur zu unter der Voraussetzung eines sogenannten »Mythos vom dummen Verbraucher«, welcher davon ausgehe, die Käufer ließen sich auf dreierlei Weise durch Werbung als dumm verkaufen: »Zum ersten, indem sie die Angaben der Werbung über die unmittelbar bedürfnisbefriedigenden nachprüfbaren Eigenschaften des Produkts für bare Münze nehmen. Zum zweiten, indem sie Illusionen erliegen, die ihnen die Werbung über zusätzlich bedürfnisbefriedigende Eigenschaften des Produkts vorgaukelt. Zum dritten, indem sie Werbung insgesamt für interessant, wichtig, wahr und vollständig halten, die Botschaften der Werbung also ge-

394 Karl-Otto Hondrich: Anspruchsinflation, Wertwandel, Bedürfnismanipulation, S. 93 f. 395 Vgl. Meixner: »Somit kann die Tatsache, dass Werbung einen gewissen Informationsgehalt hat, nicht beweisen, dass sie dem Interesse der Konsumenten gerecht wird, denn die Menge der den Konsumenten interessierende Information ist nicht deckungsgleich mit den Informationen, deren Verbreitung von unternehmerischen Zielen her empfehlenswert ist.« (Meixner: Manipuliert die Werbung?, S. 83) 396 Ebd., S. 88. Es ist daher nicht sinnvoll, in der Werbekritik mit einem weiten Manipulationsbegriff im Sinne einer Fremdbeeinflussung generell zu operieren (vgl. ebd., S. 87).

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nauso behandeln wie die eines guten Freundes oder eines unbestechlichen Wissenschaftlers.« 397

Hondrich hingegen, diesen Mythos zerschlagend, geht optimistisch davon aus, dass sich jeder Verbraucher zu den Werbeaussagen über Menge, Preis und Qualität eines Marktartikels rational zu verhalten vermöge, indem er nach dem Kauf selbst prüfe, wie gut die von der Werbung suggerierten Produkteigenschaften der Befriedigung seiner konkreten Bedürfnisse dienen und ihn damit auf dem Weg zum Glück weiterbefördern. Während dies für den Kauf eines Waschmittels oder einer bestimmten Zigarettenmarke zutreffen mag, so dass der betrogene Konsument sich beim nächsten Mal für ein anderes Produkt entscheiden wird, sind wir doch bei größeren Anschaffungen wie mikroelektronischen Geräten als unabhängige Prüfinstanzen allzu oft überfordert, da uns viele Mängel und Nebeneffekte, die außerdem zum Teil erst nach längerer Benutzung zutage treten, verborgen bleiben. Angesichts solch größerer Entscheidungen sinke aber die Manipulationschance dadurch gewaltig, so Hondrich, dass wir uns in der Regel zusätzliche Informationen von qualifizierten Dritten beschaffen, während in kleinen Dingen die meist revidierbaren Manipulationsschäden auch gar nicht ins Gewicht fielen. 398 Offenkundig wird die Manipulationstechnik der Werbung aber weder durch den Hinweis rehabilitiert, dass wir uns bei einem wichtigen Gütererwerb weit eher auf andere Informationsquellen stützen, noch ist der werbemäßig stimulierte Konsum »kleiner Dinge« wie Coca-Cola oder Zigaretten durchwegs harmlos, wie Hondrich selbst konzediert. 399 (Ad 1b:) Während Werbung also durch gezielte Desinformation, d. h. durch das Verschweigen unliebsamer Gütereigenschaften unsere Bedürfnisse – zumeist im Rahmen »kleiner Dinge« – so orientieren kann, dass die uns ursprünglich zum Kauf animierenden Bedürfnisse ungenügend befriedigt oder andere verletzt werden, erhält diese Manipulationstechnik oftmals Unterstützung durch unterschwellige Beeinflussung: Auch wenn der »Mythos der geheimen Verführer« 400 in der Wahrnehmungs- und Lernpsychologie nicht ganz unbestritten Hondrich: Anspruchsinflation, Wertwandel, Bedürfnismanipulation, S. 98. Hondrich resümiert: »Für die Hersteller und Werber heisst das, dass sie viele Leute einmal, wenige Leute vielleicht immer, aber nicht viele Leute immer täuschen können.« (ebd.) 399 Vgl. ebd., S. 97. 400 Vgl. ebd., S. 95 f., wo verschiedene einschlägige empirische Untersuchungen vorgestellt werden. 397 398

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blieb, hat der Kinobesucher bei ultrakurzen Einblendungen von Werbespots im Filmprogramm kaum die Möglichkeit, sich mit dem blitzlichtartig Wahrgenommenen rational auseinanderzusetzen. Im Rekurs auf die neusten Erkenntnisse der Soziologie und Psychologie appelliert die immer raffiniertere Werbung vermehrt an Vor- und Unbewusstes und sucht direkte Reiz-Reaktionsschemata zu aktivieren. 401 So werden von Werbepsychologen ganz gezielt verdrängte Ängste wie soziale Isolation oder Minderwertigkeitsgefühle angesprochen und zugleich der Eindruck erweckt, das angepriesene Konsumgut könne diese tiefliegenden Ängste nachhaltig zerschlagen. Obgleich die Ursachen etwa der verbreiteten Angst vor Vereinzelung natürlich viel komplexer sind, werden Mundgeruch oder Haarausfall allein dafür verantwortlich gemacht, welche sich durch die Scheinlösung des Konsums einer bestimmten Zahnpasta oder eines neuen Haarwassers leichterhand eliminieren ließen. Eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie solche Ängste spielt bei den werbemäßig ausgelösten Reiz-Reaktions-Mechanismen der Sex als elementares menschliches Grundbedürfnis: Immer dann, wenn man wie beispielsweise bei der Zigarettenwerbung mit dem Produkt selbst nicht unmittelbar ein menschliches Grundbedürfnis ansprechen kann, wird über geschickt eingeflochtende Phallussymbole oder eine halbnackte Zigarettenraucherin unsere Sexualität angesprochen, die man auf dem Umweg über die Konsumation des betreffenden Produktes zu befriedigen verspricht. 402 Obgleich fast jeder die Werbepsychologen als falsche Propheten zu durchschauen vermag, zeitigen die unbewusst aktivierten Reiz-Reaktions-Mechanismen oft die gewünschte Wirkung: Mit der Elimination des kritisch-rationalen Urteilsvermögens, der bewussten gedanklichen Verarbeitung zwischen dem dargebotenen Reiz und der resultierenden Reaktion wird auch der freie Wille ausgeschaltet, so dass wir zu Spontankäufen verleitet werden, die unserer bewussten Kontrollinstanz entzogen sind. 403 401 402

Vgl. dazu etwa Meixner: Manipuliert Werbung?, S. 96. Vgl. zu diesen psychologischen Werbestrategien Gertrud Höhler: Das Glück, S. 61–

65. 403 Vgl. Birnbacher: Was wir wollen, S. 39. Auch den unterschwelligen Werbeeinfluss im Rahmen des »Mythos der geheimen Verführer« entkräftet hingegen Hondrich mit einer analogen Argumentation zum »Mythos vom dummen Verbraucher« (vgl. oben): »Dieser Fall, so kann aus dem Gesagten gefolgert werden, tritt selten auf. Bei Entscheidungen, die für den Käufer wichtig sind, werden mögliche manipulative Effekte unterschwelliger Wirkungen durch kognitive Prozesse in Schach gehalten. Und bei unwichti-

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Konkrete, soziokulturell legitimierte Bedürfnisse müssen mithin immer dann als »falsch« und damit als eudaimonologische Irrlichter entlarvt werden, wenn sie unter Ausschaltung des kritischen Urteilsvermögens oder doch ohne umfassende Informiertheit orientiert wurden (1), oder wenn sie nur unzureichend der angestrebten Bedürfnisbefriedigung dienen (2), wodurch sie das Glück eines autonomen Menschen unterminieren. Dabei lässt sich mit Sicherheit konstatieren, dass die Gefahr werbemäßiger Manipulation im Zeitalter des Konsums deswegen eminent gewachsen ist, weil die Befriedigung vieler unserer Bedürfnisse immer stärker gütergebunden erfolgt: Immer mehr Grundbedürfnisse, die früher so geformt wurden, dass sie aus eigener Kraft, mittels eigener Tätigkeit befriedigt werden konnten, werden heute augenscheinlich auf Konsum- oder sogenannte Glücksgüter ausgerichtet. 404 Betreffs unserer physiologischen Primärbedürfnisse nach Gesundheit und Bewegung etwa fand im Zuge der schrittweisen Dezimierung der Aktivitätspotentiale in unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation eine Umlenkung von nicht-gütergebundenen Tätigkeiten wie Spazieren oder bewegungsintensiven beruflichen sowie alltäglichen Beschäftigungen auf gütergebundene Bewegungsangebote in öffentlichen Einrichtungen vom Wellness- bis zum Fitnesscenter statt. Grundsätzlich macht die Rede von »falschen Bedürfnissen« in diesem Beispiel keinen Sinn, weil auch der an Kollektivgütern oder Freizeitinstitutionen orientierte Bedarf denselben Grundbedürfnissen nach Bewegung und Gesundheit entspringt. Auch erscheint der kompensatorische Charakter solcher Bedarfsveränderungen als ebenso unproblematisch wie unvermeidlich zu einer Zeit, in der Schnelligkeit und Effizienz auf die Fahnen geschrieben werden. 405 Allerdings wächst infolge einer zunehmend konsumgüterorientierten soziokulturellen Bedürfnisformation die Abhängigkeit der Glücksaspiranten von öffentlichen Ingen Entscheidungen ist Manipulation nicht schlimm.« (Hondrich: Anspruchsinflation, Wertwandel, Bedürfnismanipulation, S. 97) 404 Vgl. Scherhorns emprisch abgestützte »Verlagerungs-Hypothese« in: Gibt es eine Hierarchie der Bedürfnisse?, S. 299. 405 So schildert auch Scherhorn in seiner deskriptiven, wertneutralen Studie die Sachlage: »All das kam sicherlich nicht gegen die Bedürfnisse der Menschen zustande; viele der früheren nichtgütergebundenen Bewegungsmöglichkeiten (bzw. -notwendigkeiten) waren anstrengend, unbequem, lästig und wurden nur zu gern aufgegeben. Aber dass keine andere Bewegungsmöglichkeit an ihre Stelle trat, entsprach den Bedürfnissen der Menschen keineswegs, und so entstand aus dem Verlangen nach Kompensation ein gegenläufiger Bedarf nach gütergebundenen Bewegungsangeboten.« (ebd., S. 301) A

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stitutionen und Infrastrukturen sowie die reale Gefahr einer glücksabträglichen Bedürfnismanipulation. Fassen wir zusammen: Wenn das menschliche Glück in der Erfüllung der höchsten menschlichen Bedürfnisse besteht, welche ihrerseits die Befriedigung einer ganzen anthropologischen Bedürfnishierarchie voraussetzen, aber die ganze Palette konstanter Grundbedürfnisse durch soziokulturelle Dekretierung geeigneter und legitimer Mittel zu ihrer Befriedigung orientiert werden muss, sollten wir alle bei unserem Glücksstreben an der vernünftigen und sinnvollen Konkretisierung unserer Bedürfnisse partizipieren. Weil die Konkretisierung unserer individuellen Bedürfnisstruktur nur im historisch-gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang stattfinden kann, ohne dass wir doch dabei die im neuzeitlichen Menschenbild hochgehaltene Würde und Autonomie, unser Interesse an Selbstbestimmung preisgeben wollen, ist jeder Bedarf, jede Nachfrage als »falsch« 406 zu brandmarken, die aus Heteronomie, also aus werbemäßiger Manipulation mittels Ausschaltung unseres kritischen Urteilsvermögens hervorgeht. Obgleich wir zwecks eines »wahren« menschlichen Glücks manipulativen Bedürfniskonkretisierungsprozessen generell einen Riegel vorschieben sollten, ist insbesondere derjenige heteronom auf Konsumgüter ausgerichtete Bedarf glückstheoretisch gesehen verwerflich, bei dem das betreffende marktmäßige Angebot an Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung trügerisch ist, d. h. die in Aussicht gestellte Befriedigung gar nicht gewährleisten kann. Um zu verhindern, dass die Glücksgüterindustrie uns irgendwelche unzweckmäßigen Schein-»Güter« vorgaukelt, ist eine »Verbraucheraufklärung« geboten, die sowohl eine umfassende und sachgerechte Information betreffs der propagierten Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung einfordert wie auch an eine »bedürfnisrationale Wahrnehmung« des Angebots seitens der Glückssuchenden appel406 Vgl. zu diesen terminologischen Querelen etwa Krämer: Integrative Ethik, S. 230 oder Meran: Über einige methodische Schwierigkeiten, S. 33: »Obgleich, wie schon ausgeführt, die Unterscheidung von wirklichen Bedürfnissen und scheinbaren Bedürfnissen, also blossem Begehren eine Unterscheidung ist, die auf normativer Setzung beruht, suggeriert die Redeweise von den w/f Bedürfnissen, dass diese eine empirisch verifizierbare Unterscheidung ist« – weshalb Meran im Anschluss an A. Heller die Attribute »gut/schlecht« empfiehlt. Indem wir die Prädikate »wahr/falsch« nicht den Bedürfnissen, sondern einem Bedarf beilegen, und dies nicht infolge einer normativen Setzung, sondern aufgrund seiner »heteronomen« bzw. »autonomen« Genese, trifft hier der Nicht-Verifizierbarkeits-Vorwurf indes ins Leere.

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liert. 407 Indem sich um der wahren menschlichen Bedürfnisse und eines wahren menschlichen Glücks willen ein »Dialog oder Diskurs über die Bestimmung des intendierten Bedarfs und über die alternativen Möglichkeiten, denselben Bedarf durch verschiedene Formen der Nachfrage zu decken«, 408 sich als unumgänglich erweist, fehlen uns doch bei dieser Reflexion auf unsere Bedürfnisorientierungen noch jegliche Anhaltspunkte. Verdient schlicht derjenige Bedarf oder diejenige Nachfrage das Primat, bei der die designierten »Glücksgüter« möglichst rasche und spielend leichte Befriedigung versprechen oder gibt es noch andere wesentliche kriterielle Aspekte? Wie lässt sich das Glück auf der Basis eines bedürfnisrationalen, aufgeklärten Weltverhaltens etablieren? Darf bereits jeder »wahre«, d. h. frei von manipulativen Einflüssen soziokulturell konkretisierte Bedarf als »rational« gelten oder müsste die »Rationalität« von nicht-manipulativen Bedürfnisorientierungen vielmehr als zusätzliche Bedingung für eine wahre glücksförderliche Bedürfnisformation figurieren? Abgesehen von der Ohnmacht gegenüber suggestiven Werbeinfiltrationen ist die Bedürfnisorientierung in unserer westlichen Individualkultur zumeist in dem Sinne »irrational«, dass sie egoistisch und gegenwartsbezogen erfolgt, 409 obgleich die negativen Konsequenzen solcher Kurzsichtigkeit nicht nur seitens des innenorientierten, unmittelbaren und unverzüglichen Genuss intendierenden Subjekts in Form von Enttäuschung und Ratlosigkeit längst unübersehbar ist (vgl. Kapitel 2.2 und 4.1), sondern auch auf Seiten der Umwelt: In Anbetracht akuter ökologischer Krisen ist Smiths Formel, derzufolge das allgemeine Wohl dem egoistischen (Glücks-)Streben des einzelnen entspringe, drastisch Lüge gestraft, weil der eskalierende Eigennutz und Gegenwartsgenuss auf längere Sicht sowohl das 407 Vgl. Birnbacher: »Verbraucheraufklärung hat neben der Verbesserung der Marktübersicht ihre Aufgabe gerade auch in der Erziehung zu einer bedürfnisrationalen Wahrnehmung des Angebots – was nicht heisst, dass die Bedürfnisse selbst in irgendeinem Sinne ›rational‹ sein müssten.« (Birnbacher: Was wir wollen, S. 30) 408 Meyer-Abich: Kritik und Bildung der Bedürfnisse, S. 69 f. Dank eines solchen Diskurses, so setzt Meyer-Abich fort, »kommt es zu klareren Gedanken und Gefühlen in einem sonst eher durch Gedankenlosigkeit bzw. sogar durch die Abwehr von Gedanken und durch Dunkelheit der Empfindungen geprägten Bereich, andererseits zu derjenigen Identifikation, ohne die ein Bedürfnis nicht als das eigene empfunden wird.« 409 Vgl. Hondrich: In den meisten Fällen ist die Rationalität »eine ich- und gegenwartsbezogene; kollektiv- und zukunftsgewandt kann sie irrational sein.« (Karl Otto Hondrich: Bedürfnisänderung durch Aufklärung?, S. 127.

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Gemeinwohl gefährdet wie auch die individuellen Interessen durchkreuzt. Das Problem gegenwärtiger Bedürfnisorientierung liegt mithin darin, dass wir »verschwenderisch und unklug mit den Mitteln dieser Welt umgehen, dass wir unsere Bedürfnisse nicht rational an den langfristigen Möglichkeiten der Befriedigung orientieren und es uns auf Kosten zukünftiger Generationen wohl sein lassen.« 410 Vergegenwärtigt man sich ein illustratives Exempel wie das Grundbedürfnis nach Mobilität, kann sich dies zum Bedarf nach öffentlichen (Zug) oder privaten Fortbewegungsmitteln (Auto) konkretisieren, wobei ein individueller Kosten-Nutzen-Kalkül uns nur allzu oft für das Auto optieren lässt, weil die Kosten wie nervliche Anspannung, Abgase, Lärm und verstopfte Straßen uns nicht unmittelbar oder nur minim tangieren. Dagegen liegen die Vorteile, etwa zur Universität mit dem Privatwagen zu fahren, auf der Hand: »es geht schneller (Zeitersparnis), Bücher sind leicht transportierbar (Ersparnis körperlicher Mühe), es macht Spaß, mit offenem Verdeck zu fahren (physischer und demonstrativer Genuss), nachher kann ich zu Freunden am anderen Ende der Straße fahren oder im Wirtsgarten hocken bleiben, ohne auf die Uhr zu schauen (Freizügigkeits-Genuss).« 411 Strenggenommen ist die behauptete »Irrationalität« in diesem Beispiel aber lediglich Ausdruck einer einseitigen Rationalität, nämlich einer strategisch-technischen Rationalität mit dem ausschließlichen Ziel einer Steigerung des individuellen Gegenwartsgenusses, die bei einem gesellschaftlichen Dialog über eine vernünftige Bedürfnisorientierung notgedrungen zugunsten der auf konsensuelle Einigung bezüglich der sozial legitimierbaren Bedürfnisbefriedigung zielenden kommunikativen, moralisch-praktischen Rationalität überwunden werden muss. Eine im vollen Sinne rationale Bedürfnisorientierung wäre demzufolge mitnichten über »eine neue ›instrumentelle Kollektivethik‹« mittels einer bloßen Kollektivorientierung des privaten Eigennutzes oder bestimmter Interessengemeinschaften zu erreichen, 412 sondern allein im Rahmen eines praktischen Diskurses, soEbd., S. 123 f. Ebd., S. 126 f. 412 »Die Formel bedeutet eine Umkehrung der These des Adam Smith, wonach aus dem eigennützigen Handeln der Individuen das allgemeine Wohl entspringt. Heute muss es stattdessen heissen, dass nur über eine gewisse Kollektivorientierung der Eigennutz zu fördern ist. Im Gegensatz zur Kollektivethik eines radikalen Sozialismus, die den Individuen in einer neuen Sozialorganisation den Eigennutz ausblasen will, nimmt eine 410 411

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fern sich der einzelne öffnet für die Kritik an bestehenden oder die Vorschläge von zukünftigen Bedürfniszielen durch sämtliche Diskursteilnehmer, und auch die Perspektive weniger Begüterter einzunehmen gewillt ist. Nur so kann eine Bereicherung der Konsummächtigen auf Kosten der sozialen Unterschicht oder der dritten Welt verhindert und auf politischer Ebene eine gerechte Verteilung der zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse notwendigen Grundgütern und Ausbildungschancen durchgesetzt werden. Anlässlich der Kritik an werbemäßiger Manipulation gilt zu beachten, »dass sozial schwache Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer wirtschaftlich schwachen Position am ehesten solchen Beeinflussungsversuchen ausgeliefert und gleichzeitig am wenigsten in der Lage seien, ihre Situation zu reflektieren und ihre eigenen Bedürfnisse wirkungsvoll in die Auseinandersetzung um gesellschaftliche Ressourcen einzubringen.« 413 Zum Zwecke der bedürfnisrationalen Wahrnehmung und Bestimmung der für unsere anthropologisch konstanten Grundbedürfnisse in Frage kommenden (Glücks-)Güter ist somit ein gemeinsamer moralisch-praktischer Diskurs unabdingbar, der weder auf die effizienteste, genussreichste Art der Bedürfnisbefriedigung noch auf bloße Unparteilichkeit aller Gesprächspartner abzielt, sondern vielmehr nach normativen Richtlinien bezüglich der konkreten menschlichen »Lebensqualität« mit spezifischen menschlichen »Lebensinhalten« sucht. Indem diese kollektive Idee eines »guten Lebens« oder einer »hohen Lebensqualität« die ständige Betrachtungshinsicht bei der Reflexion auf unsere Bedürfnisse darstellt, tritt der normative Charakter einer jeder bewussten und vernünftigen Formation »wahrer Bedürfnisse« klar zutage: »Bedürfnisse sind nähere Bestimmungen notwendiger und erstrebenswerter Lebensinhalte. Die Attribute notwendig und erstrebenswert deuten dabei auf den zwangsläufig wertenden Charakten jedweder Bedürfnisbestimmung hin, die eine aktive und bewusste Beteiligung der jeweils betroffenen Menschen bei der Ermittlung ihrer Bedürfnisse unumgänglich macht. […] Solche inhaltlich-konkreten Bedürfnisbestimmungen sind für spezifisch menschliche Lebensinhalte (im Gegensatz zu denen anderer Wesen) zu treffen; dabei steht Lebensinhalt – umgangssprachlich – für alles, was ein Mensch im Laufe seines Daseins allein oder zusammen mit anderen erlebt, erfährt oder tut,

neue ›instrumentelle Kollektivethik‹ die eigennützige Orientierung der Menschen als Vergesellschaftungsprodukt ernst, …« (Ebd., S. 129) 413 Lederer: Bedürfnisse, S. 18. A

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und das kann […] nach Kategorien von Grundbedürfnissen geordnet werden.« 414

Wo die Notwendigkeit einer intersubjektiven Konstitution und sozialen Legitimation von individuellen Bedürfnisstrukturen sowie einer Erweiterung der strategisch-instrumentellen durch kommunikative, moralisch-praktische Rationalität erkannt wurde, müssen aber auch die verantwortungsethischen Ergänzungsprinzipien einer Diskurstheorie in Kraft treten: Im eklatanten Kontrast zur oben am Präzedenzfall des Mobilitätsbedarfs illustrierten Tendenz zu egoistisch-privatistischer und gegenwartsbezogener Bedürfnisausrichtung in unserer Eventkultur fordert uns der Diskursethiker Apel auf, 1. das Überleben der Menschheit qua realer Kommunikationsgemeinschaft nicht zu gefährden, was betreffs der kollektiven Bedürfnisformation eine intensivere Zukunfts- und Planungsorientierung bedingt, 2. uns für eine demokratische Gesellschaftsform einzusetzen, in welcher auch die Grundbedürfnis-Ansprüche Unterprivilegierter ernst genommen werden. 415 Hondrich moniert vielleicht mit Recht, eine Aufklärung über die Mechanismen der Bedürfnismanipulation, die Anleitung zur Reflexion und Kritik der konkreten Form, in der die westliche Konsum- und Erlebnisgesellschaft ihre Bedürfnisse als Nachfrage geltend macht, sowie das Aufzeigen rationalerer und wünschenswerterer alternativer Nachfragen seien schlechterdings unfähig, gegen die schlagende eigennützige, instrumentelle Nutzen-Kosten-Logik anzukommen. 416 Andererseits würde man doch die menschlichen rationalen Potenzen kompromittieren, beschränkte man sich gemäß seinem Vorschlag rein auf die äußere Modifikation des Angebots von Befriedigungsalternativen »im Rahmen der vorgefundenen individuellen Handlungsrationalität«, 417 indem man also »in ihrer eigenen Logik die Kosten für die Ebd., S. 19. »Erstens muss es in allem Tun und Lassen darum gehen, das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen, zweitens darum, in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen.« (KarlOtto Apel: Transformation der Philosophie, S. 431) 416 »Das Problem für den Bedürfnis-, Bedarfs- und Nachfragekritiker ist nicht, darüber aufzuklären, sondern eine Erklärung dafür zu finden, warum die Menschen – gerade auch die Intellektuellen – fortfahren, Dinge zu tun, deren negative Konseqenzen sie kennen oder zumindest ahnen«, meint Hondrich (in: Bedürfnisänderung durch Aufklärung?, S. 126) 417 Ebd. 414 415

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Individual- und Gegenwartsbefriedigung von Bedürfnissen erhöht und/oder ebenso den individuellen Nutzen von Kollektiv- und zukünftigen Befriedigungen.« 418 Während es zweifellos zutrifft, dass die Menschen mit ihren Grundbedürfnissen in der Wechselwirkung mit den äußeren wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verhältnissen neue Wege der Bedürfnisbefriedigung lernen, um ihre Bedürfnisse zukünftig daran zu orientieren, läge doch bei einer ausschließlichen Veränderung des zur Verfügung stehenden Güterangebotes ohne Reflexion auf wünschbare menschliche Lebensinhalte und -qualitäten immer noch eine Manipulation der Glückssuchenden vor – wenn auch diesmal mit weniger verheerenden Folgelasten! Ein ernst zu nehmendes und viel beachtetes Plädoyer für eine objektivistische Konzeption des guten, gelingenden und glücklichen Lebens, basierend nicht auf einem formalanthropologischen Gerüst, sondern einem gehaltvollen Menschenbild, legt auch Martha Nussbaum bei verschiedenen Abhandlungen zur Verteilungsgerechtigkeit und Entwicklungspolitik vor. Mit der identischen aufklärerischen Intention, es solle sich nicht nur der einzelne Mensch glücklich fühlen, sondern sein Glück müsse auf objektiven, intersubjektiv nachvollziehbaren und rational legitimierbaren Grundfesten ruhen, erweitert sie die bisher erörterten Ansätze der Bedürfnisforschung insofern, als sie »nach den wirklich zentralen Eigenschaften unserer gemeinsamen Humanität« 419 fragt und sich infolgedessen »sowohl mit Fähigkeiten als auch mit Bedürfnissen« 420 des Menschen auseinandersetzt. Indem es an Beispielen dazu nicht mangelt, »in welcher Weise die Bezugnahme auf Tradition und Gemeinschaft in der Geschichte angewandt wurde, um verschiedene Arten von Unterdrückung und Gewalt zu verteidigen«, will sie mit ihrer Objektive-Liste-Theorie eine »angemessene Grundlage für eine Darlegung sozialer Gerechtigkeit und der Ziele der gesellschaftlichen Verteilung« bereitstellen. 421 Ohne einen in postmodernen Zeiten zwar suspekt gewordenen »Essentialismus«, d. i. die Annahme der Existenz bestimmter invarianter, kultur- und epochenübergreifender Wesensmerkmale des 418 Ebd., S. 128. Er exemplifiziert dies wieder anhand des Autofahrens: »durch Steuern, hohe Parkgebühren, Vernachlässigung des Strassenbaus einerseits, neue und billige Angebote des Kollektivverkehrs andererseits ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis zugunsten des letzteren zu verschieben; die Bedürfnisse sind umzuorientieren.« 419 Martha C. Nussbaum: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, S. 208. 420 Ebd., S. 209. 421 Ebd., S. 199 und S. 201.

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Menschen, ist aus Nussbaums Warte der Weg zu einer globalen Ethik, zu internationaler Gerechtigkeit prinzipiell verbaut. Wenngleich Aristoteles ganze Personengruppen der Frauen und der Sklaven aus dem Bereich moralisch-politischer Subjekte verstoßen 422 und sie damit aus der Welt der Glücklichen ein für allemal verbannt hat, 423 deklariert sie ihre Position als »aristotelisch«. Denn es sei einerseits »der Aristoteliker im Vergleich zu vielen anderen Theoretikern für die Besonderheiten der Erfahrung empfänglicher und achtet stärker auf das, was die Menschen ihm erzählen«, andererseits sei er zugleich davon überzeugt, »dass viele Menschen verwirrt sind, dass es ihnen an Bildung und Ausbildung mangelt, dass sie hilflos sind im Hinblick auf das menschliche Gute«, 424 weshalb man zur Bekämpfung von Ignoranz und Vorurteilen unbedingt einer ethischen Theorie bedürfe. Während viele zeitgenössische Kommunitaristen die aristotelische Renaissance mit einer Hinwendung zum ethnologischen Relativismus verbinden, indem sie Aristoteles als »Befürworter geteilter Werte und Üblichkeiten«, als »Sprachrohr einer traditionellen Polismoral« missverstehen, 425 stellt Nussbaum zu recht klar, die aristotelische Ethik und Glückstheorie sei vielmehr insofern »objektiv« und essentialistisch, weil »sie sich durch Gründe rechtfertigen lässt, die sich nicht nur aus lokalen Traditionen und Praktitken ergeben, sondern aus menschlichen Wesensmerkmalen, die unter der Oberfläche aller lokalen Traditionen vorhanden sind und wahrgenommen werden müssen – ob sie nun von den lokalen Traditionen tatsächlich wahrgenommen und anerkannt werden oder nicht.« 426

Gegen Nussbaum sowie ihre Mitstreiter wird nun des öftern der Vorwurf erhoben, ihre Fahndungen nach objektiven GrundmerkmaVgl. Buch 1, Kapitel 5–7 der Politik des Aristoteles (Polit., 1254a, 17–1255b, 40). Nussbaum bekennt, es sei »ernüchternd, dass einige führende Philosophen, darunter Aristoteles und Rousseau, die ›Väter‹ […] ihrer Konzeption, den Frauen nicht die vollen Fähigkeiten zur Ausübung wichtiger menschlicher Tätigkeiten zuerkannten«: »Aristoteles sagt, dass Frauen und Sklaven aufgrund ihrer natürlichen Fähigkeiten unter keinen Umständen eudaimonia erlangen können. Der natürliche Sklave verfügt nicht über die natürliche Fähigkeit, Vorsätze nach der praktischen Vernunft zu fassen […], während Frauen sie nur in so geringem Masse besitzen, dass sie von Natur aus unfähig sind, ihr Leben selbst zu bestimmen (1260a).« (Martha C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, S. 215 und S. 109) 424 Dies.: Menschliches Tun, S. 228. 425 Vgl. Horn: Antike Lebenskunst, S. 123. 426 Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 229. 422 423

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len und -bedingungen eines guten und glücklichen Lebens seien zwar durchaus »wichtig und sinnvoll, jedoch philosophisch wenig interessant«, indem als Resultat dieser Suche bestenfalls »empirisch allgemeine Sätze über menschliche Grundbedürfnisse« 427 vorlägen. Die Klärung der von Wolf aufgeworfenen Gretchenfrage, ob Nussbaums Ansatz als empirischer oder philosophisch-ethischer zu etikettieren sei, wird augenscheinlich durch deren Rekurs auf Aristoteles erschwert, da »es die Unterscheidung von Tatsache und Wert bei Aristoteles gar nicht gibt«, 428 und empirische Forschung und philosophisch-begriffliche Reflexion hier unangefochten ineinanderfließen. Während wir in der Einleitung zu diesem Kapitel im Anschluss an Kant akkurat eine physiologisch-empirische Anthropologie, sich bemühend um eine vollständige Kenntnis der biologischen Ausstattung des Menschen, von einer pragmatisch-ethischen, geisteswissenschaftlichen Anthropologie mit dem Ziel einer historischen, kulturellen Sinndeutung aller empirisch ermittelbarer menschlicher Merkmale separierten, 429 fehlt bei Nussbaum diesbezüglich leider jede klare methodologische Devise. 430 Empirisch ist ihr methodischer Ansatz aber weder in dem Sinne, dass sie auf naturwissenschaftlichexperimentelle Weise die physiologischen anthropologischen Merkmale und Tatsachen zu ermitteln suchte, noch auch im Sinne des klassischen Liberalismus, demzufolge rechtsbegründende objektive Listen sich »allein durch einen Rückgriff darauf angeben lassen, was alle tatsächlich wollen, nicht hingegen (auch) durch eine Reflexion darauf, was alle sinnvollerweise wollen können.« 431 Ihre »historisch sensible Darlegung der meisten elementaren menschlichen Bedürfnisse und menschlichen Tätigkeiten« ergebe sich vielmehr »aus einer Ursula Wolf: Zur Struktur der Frage nach dem guten Leben, S. 32. Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 122. 429 Vgl. oben, S. 345 f. 430 Entsprechend moniert etwa Seel: »Selbst bei Martha Nussbaum, die den klassischen Liberalismus für seine Abstinenz gegenüber dem Guten vehement kritisiert hat, wird nicht hinreichend deutlich, inwiefern die (sehr reiche) Liste von Grundgütern, die sie aufstellt, eine Darstellung dessen ist, was alle faktisch wollen, oder aber dessen, was sie im Interesse an einem für sie gedeihlichen Leben wollen sollten.« (Seel: Versuch, S. 239) 431 Ebd., S. 238. »Die Bedingungen des Guten stellen demnach nichts weiter als eine Schnittmenge der Güter dar, die alle in dem, was immer sie wollen, in Anspruch nehmen (oder wenigstens zur Verfügung haben) müssen. So stellt es sich in Rawls ›Theorie der Gerechtigkeit‹ dar. So scheint es auch bei Tugendhat gemeint zu sein, wenn er sagt, es sei eine rein empirische Frage, was für einen Beliebigen die Grundgüter und Grundübel sind.« (ebd., S. 238 f.) 427 428

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großen Vielfalt des Selbstverständnisses der Menschen in vielen Zeiten und an vielen Orten; aus den Geschichten, die die Menschen sich erzählen, wenn sie sich fragen, was es denn heißt, als ein Wesen mit bestimmten Eigenschaften zu leben, die es von den übrigen Lebewesen in der Welt der Natur abheben, aber auch mit bestimmten Grenzen, die sich aus der Zugehörigkeit zur Welt der Natur ergeben.« 432 Bei einem solchen hermeneutischen Vorgehen greift Nussbaum immer schon auf evaluative, historisch-gesellschaftliche Menschenbilder zurück, schenkt also »der Biologie durchaus Beachtung, aber nur, sofern sie ein Teil der menschlichen Erfahrung ist und diese prägt. Es handelt sich«, so resümiert Nussbaum, statt um eine wissenschaftliche und neutrale »um eine evaluative und im weiten Sinne ethische Untersuchung«,433 um »eine ethisch-politische Konzeption auf einer sehr grundlegenden und allgemeinen Ebene«, welche »die Dinge stark wertend und von einem innerhistorischen Standpunkt aus« betrachtet. 434 Ist aber Nussbaums Theorem, die menschliche »Natur«, das menschliche »Wesen« lasse allein eine normative Auslegung zu, nicht »in gewisser Weise überzogen und missverständlich«, indem sie im Zeichen eines internen Realismus zu unterstellen scheint, »dass mit der Kritik an einer externen Perspektive auch die Ebene des Faktischen dispensiert ist und es keinen empirischen Zugang zu den Tatsachen des menschlichen Lebens mehr gibt«? 435 Kann überhaupt noch von einem anthropologischen Essentialismus die Rede sein, wo kontingente, historisch-gesellschaftliche Menschenbilder zum Ausgangspunkt einer Theorie der Gerechtigkeit und des guten und glücklichen Lebens gemacht werden? 436 Oder wie sollten sich zur Ebd., S. 201 und S. 208. Dies.: Gerechtigkeit, S. 189. 434 Nussbaum: ebd., S. 28 und S. 46. 435 Herlinde Pauer-Studer: Vorwort zu Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 12. »Eine interne Position«, so pointiert Pauer-Studer, »hebt nicht schon die Differenzierung in Fakten und Normen auf.« (ebd.) Wo immer Nussbaum aber Medizin und Mythologie in einem Atemzug nennt, nährt sie diesen Entdifferenzierungsverdacht (vgl. etwa Nussbaum: Menschliches Tun, S. 208). 436 So lautet Seels Einwand: »… das von Nussbaum gewählte Etikett eines (wie immer reformulierten) ›Essentialismus‹ erscheint mir jedoch irreführend, da auch ihre Strategie, richtig verstanden, nicht irgendein normativ folgenreiches Wesen, sondern das faktische Wollen des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt.« (Seel: Versuch, S. 81) Nussbaum nimmt allerdings wie gezeigt nicht das faktische Wollen, sondern historischgesellschaftliche Reflexionen über das zum menschlichen Leben wesentlich Dazugehörende zum Ausgangspunkt. 432 433

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Abwendung von Repression und Ungerechtigkeit »wahre« von »falschen« Menschenbildern unterscheiden lassen? Erteilt man Nussbaum selbst das apologetische Wort, will sie ihre essentialistische Anthropologie – anders als Aristoteles gemäß unserer Auslegung – dezidiert »weder biologisch noch metaphysisch begründet« 437 wissen. Ihre Ergebnisse prätendieren nicht, »ahistorisch zu sein oder eine apriorische Wahrheit auszudrücken, sondern verstehen sich als eine besonders tiefe und konstante Wahrheit, die in menschlicher Erfahrung und Geschichte wurzelt.« 438 Um diese angeblich »tiefe und konstante Wahrheit« zutage zu fördern, habe man unbedingt in Rechnung zu stellen, »dass viele Menschen schlecht erzogen seien und daher die falschen Dinge oder eine falsche Menge von Dingen haben möchten«, 439 was sich mit unseren kritischen Einwänden gegen eine subjektivistische Lebensqualitätsforschung trifft, 440 welche sämtliche anthropologischen und eudaimonologischen »ideologischen Verzerrungen« ignoriert: 441 »So wie den Menschen beigebracht werden kann, die Dinge nicht zu wollen oder nicht zu vermissen, die sie aufgrund ihrer Kultur nicht haben sollen oder können, kann ihnen auch beigebracht werden, bestimmte Tätigkeiten nicht als Bestandteil eines guten Lebens zu schätzen, wenn ihre Kultur ein Interesse daran hat.« 442 Nussbaums sensibles hermeneutisches und zugleich kritisch aufklärerisches Projekt ist daher in ihren eigenen Worten »einem Gang auf dem Hochseil« zu vergleichen, denn es ist »schwierig zu erkennen, an welchem Punkt dieses Festhalten an kritischer Reflexion in Ethnozentrismus umschlägt und an welchem Punkt wiederum die Ergebenheit gegenüber der Erfahrung in Unterwürfigkeit gegenüber der Barbarei umkippen könnte.« 443 In Ermangelung jeglicher »externer« objektiver Bewertungsmaßstäbe für eine »gute«/»schlechte« Erziehung oder »wahre«/ »falsche« kulturelle Menschenbilder und infolge ihrer expliziten Zurückweisung eines empirisch-naturalistischen Begründungsanspruchs scheint Nussbaum das Begründungsproblem eines sozialNussbaum: Gerechtigkeit, S. 189. Ebd. 439 Ebd., S. 96. 440 Vgl. unser Plädoyer für ein 2-Komponenten-Modell der Lebensqualität im Kapitel 4.2, S. 312 f. 441 Vgl. Kapitel 4.2, S. 321 f. 442 Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 120. 443 Dies.: Menschliches Tun, S. 228 f. 437 438

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politisch-normativ wirksamen »menschlichen Wesens« im Grunde aber lediglich zu verschieben und somit wider aller Hoffnungen und Erwartungen »keine neuartige Lösung des Rechfertigungsproblems« anzubieten. 444 Letztlich tendiert wohl auch Nussbaum nicht anders als die von uns profilierten Bedarfskritiker zu einer rekonstruktiven Begründung in Form eines gemeinsamen, nunmehr interkulturell erweiterten moralisch-praktischen Diskurses, bei welchem mittels einer Diskussion von grundlegenden normativen Überzeugungen bezüglich eines guten und glücklichen Menschenlebens peu à peu ein Überlegungsgleichgewicht lanciert werden könnte: »Wenn wir die Hoffnung auf eine transzendente metaphysische Grundlage für unsere Werturteile preisgeben, dann bleibt uns nicht allein das freie Spiel der Kräfte übrig. Wir haben nämlich alles, was wir in Wirklichkeit immer schon gehabt haben: den Austausch von Gründen und Argumenten, vollzogen durch Menschen innerhalb der Geschichte, in der wir aus zwar historischen und menschlichen, aber deswegen keineswegs schlechteren Gründen gewisse Dinge für wertvoller halten als andere, für wichtiger als andere sowie für konstitutive Elemente eines Lebens, das wir unser eigenes nennen.« 445

Auf der Basis eines solchen transkulturellen rationalen Diskurses unterbreitet uns die Mitarbeiterin des »World Institute for Development Economics Research« Nussbaum eine sehr »vage«, aber »starke Theorie des Guten«, die im Kontrast zu Rawls’ »schwacher Theorie des Guten« einerseits die Liste menschlicher Güter erheblich erweitert, andererseits wie Amartya Sen neben den Grundgütern auch die Funktionsfähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit diesen Gütern profiliert. 446 »Objektiv« sind die für ein gutes und glückliches menschliches Leben maßgebenden intrinsischen anthropologischen Güter oder Zwecke ihrer Liste also offenkundig im Sinne eines intersubjektiven Geltungsanspruches, wobei hinsichtlich der menschlichen Grundfähigkeiten wie bei Aristoteles und Maslow gelte, »dass das Vorhandensein der menschlichen Fähigkeiten den mora444 Vgl. Pauer-Studers Einführung: »Die menschliche Natur als Basis der Ethik auszugeben legt nahe, dass deine spezifische Begründung der Ethik erreicht werden soll. Versteht man aber den Begriff der menschlichen Natur als normativen, so verschiebt sich lediglich das Begründungsproblem. Der Verweis auf die menschliche Natur bedeutet dann, dass die Ethik mit bestimmten normativen Annahmen arbeiten muss – damit ist aber nicht die allgemeine Frage gelöst, welche normativen Prämissen als gerechtfertigt gelten können.« (in: Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 13) 445 Nussbaum: Menschliches Tun, S. 206 f. 446 Vgl. zu Amarya Sens Konzept das glücksobjektivistische Kapitel 4.2, S. 325 f.

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lischen Anspruch auf Entfaltung begründet«, 447 und zwar sowohl in Form einer Selbst-Verpflichtung wie auch als rechtlicher Anspruch gegenüber der Gesellschaft. 448 Fundamental seien auf einer ersten Ebene 1. die Sterblichkeit, unser Verhältnis zum Tod, 2. die Leiblichkeit und unsere primären Bedürfnisse, 3. kognitive Fähigkeiten, 4. frühkindliche Entwicklung, 5. praktische Vernunft, 6. zwischenmenschliche Beziehungen (Zugehörigkeit und Vereinzelung), 7. Humor und Spiel. 449 Neben diese für ein »menschliches Leben« als solches konstitutiven Elemente müssten für ein »gutes menschliches Leben« noch folgende hinzutreten: 1. Nicht frühzeitig zu sterben, d. h. bevor das Leben nicht mehr lebenswert ist, 2. fähig zu sein zu einem gesunden, mobilen und sexuell befriedigenden Leben, 3. zum Erleben von Freude und zur Vermeidung von Schmerz, 4. zum Gebrauch der Sinne, 5. zur Planung seines persönlichen »guten Lebens«, 6. zur zwischenmenschlichen Interaktion (Beziehungen zu Menschen und Tieren), 7. zu Humor und Spiel. 450 Kontrastiert man diese ausführliche, zugleich aber als »unbegrenzt« offene »Skizze« 451 charakterisierte Liste mit verwandten Zusammenstellungen, etwa mit Seels vier inhaltlichen »Grunddimensionen« eines »guten Lebens«: Arbeit, Interaktion, Spiel und Betrachtung, 452 dürfte man sie wohl ohne weiteres um die überraschenderweise fehlende Fähigkeit zur Arbeit komplettieren. Da es sich bei Nussbaums objektiver Liste eher um ein intuitiv entwickeltes Arbeitskonzept als um eine systematische philosophische Theorie handelt, wirft sie aber viele Fragen auf: Ist die heterogene Liste von menschlichen Grenzen und FähigNussbaum: Gerechtigkeit, S. 205. »Gewisse grundlegende und zentrale menschliche Begabungen haben einen Anspruch darauf, entwickelt zu werden, und erheben diesen Anspruch auch anderen gegenüber, besonders gegenüber der Regierung, wie Aristoteles erkannte.« (dies.: Menschliches Tun, S. 221) 449 Vgl. ebd., S. 209. Nussbaum ordnet diese Merkmale einer »Ebene 1« ihrer Theorie zu. 450 Ebd., S. 214. Nussbaum selbst zählt zehn Punkte auf der zweiten Ebene auf, wodurch aber die lockeren Parallelen zur ersten verdunkelt werden, die ich hier hervorheben möchte. 451 Vgl. ebd., S. 209. 452 »Zentrale Dimensionen eines guten menschlichen Lebens sind gelingende Arbeit und gelingende Interaktion, ausserdem gelingendes Spiel und gelingende Betrachtung«, wobei eine Dimension »die zu einer bestimmten Art der Praxis gehörenden Situationen, Fähigkeiten und Tätigkeiten umfasst.« (Seel: Versuch, S. 139 und Fussnote 80 ebd.) Anders als Nussbaum begründet Seel seine Auswahl allein mittels reflexiver Gründe und im Rekurs auf philosophische Autoritäten (vgl. ebd., S. 40). 447 448

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keiten durch die zwei »Ebenen« ausreichend differenziert oder bedürfte sie vielmehr einer »umfassende[n] plurale[n] Werttheorie«, 453 welche das komplexe Ineinanderspielen hierarchisch geordneter Fähigkeiten wie etwa die Sterblichkeit (1), praktische Vernunft (5) oder Humor und Spiel (7) auf der ersten Ebene offenzulegen vermöchte, die doch evidentermaßen einen unterschiedlichen Stellenwert im menschlichen Leben genießen? Beginnt eigentliche philosophischbegriffliche Reflexion nicht erst bei der »Gewichtung und Rangordnung« der objektiven Güter, welche nach der Entwicklung einer »systematische[n] Konzeption des guten Lebens« rufen? 454 Können bestimmte repressive Kulturen mit impliziten suggestiven Glücksideologien überhaupt aufgrund einer Objektive-Liste-Theorie attackiert werden, wenn die enumerierten Grundbedürfnisse und -fähigkeiten doch immer nur und notwendig in historisch-kultureller Ausgestaltung vorkommen, so dass sich eine spezifische Art der gesellschaftlichen Formung durch den Verweis auf die zugrundeliegende Fähigkeiten allein niemals kritisieren ließe? Entgegen Nussbaums Überziehen des normativen Moments der Anthropologie scheinen mir die intrinsischen Güter der ersten Ebene noch weitgehend durch empirische kulturunabhängige Indikatoren ermittelbar zu sein und als ein in der Einleitung antizipiertes »Invarianten-Modell Mensch« oder »Normal-Orientierungs-Modell« im Sinne einer physiologischen Anthropologie fungieren zu können. 455 Bezüglich der Fähigkeiten-Liste der zweiten Ebene steht zunächst außer Frage, »dass wir eine ziemlich allgemeine Liste der menschlichen Tätigkeiten aufstellen können (z. B. Erziehung erhalten oder Unehrenhaftigkeit vermeiden), ohne zu leugnen, dass es in jeder 453 »Notwendig ist hier eine mehr als nur Fähigkeiten umfassende plurale Wertetheorie, die den verschiedenen Ebenen von Gütern und Werthaltungen wie auch dem komplexen Ineinanderspielen von materiellen und immateriellen Werten, wie es unser Alltagsleben charakterisiert, Rechnung trägt und gleichzeitig eine kritische Evaluierungsfunktion bewahrt.« (Pauer-Studer: Vorwort zu Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 21) 454 So lautet die Einschätzung von Ursula Wolf in: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, S. 14. 455 Vgl. oben, S. 286 f. Aufgrund physiologischer Mängel exkludiert Nussbaum nämlich sowohl schwerstbehinderte Kinder aus der Klasse menschlicher Wesen, »auch wenn sie von menschlichen Eltern abstammen – also diejenigen mit einem umfassenden und totalen Ausfall sensorischer Fähigkeiten und/oder dem völligen Fehlen von Bewusstsein oder Denkvermögen« sowie die Menschen im letzten Lebensabschnitt, »in denen das überlebende Wesen sein Empfindungsvermögen und sein Bewusstsein unwiderbringlich verloren hat.« (Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 199 und 198)

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Kultur etwas sehr Verschiedenes bedeuten kann, eine Erziehung zu erhalten oder ehrenhafte Beziehungen zu seinen Mitmenschen zu entwickeln.« 456 Dabei beschränkt sich die Crux der interkulturellen Kommensurabilität in meinen Augen aber keineswegs auf das von Nussbaum problematisierte Festlegen einer bloß quantitativen »Schwelle« des Ausmaßes der Entfaltung bestimmter menschlicher Fähigkeiten wie Bildung oder komplexe Interaktionsstrukturen – so dass die im jeweiligen Bereich »am weitesten entwickelte« Kultur gleichsam als Maßstab dienen könnte. 457 Differenziert man nämlich analog zu den Bedürfnissen zwischen anthropologisch-konstanten, im Unterschied zu den empirisch feststellbaren Grundbedürfnissen allerdings im rationalen Diskurs konsensuell bestimmten »Grundfähigkeiten« und ihren spezifischen, zeit- ort- und personengebundenen Konkretisierungen zu »Fähigkeiten«, erstreckt sie sich vielmehr als inhaltliche auf die jeweilige historisch-kulturelle Art der Ausgestaltung menschlicher Grundfähigkeiten. Wie Nussbaum selbst konzediert, treten diese »nicht einfach in der vagen und allgemeinen Form auf, in der wir sie eingeführt haben, sondern stets in einer spezifischen und historisch reichhaltigen kulturellen Realisierung, die nicht nur die von den Staatsbürgern in diesen Bereichen benutzten Konzeptionen, sondern auch ihre eigenen Erfahrungen tiefreichend prägen können.« 458 Nur in schwerwiegenden Ausnahmefällen von kulturellen, zumeist durch entsprechende Glücksideologien gestützten Verstößen gegen anthropologische Grundgüter wird man anhand einer »objektiven Liste« die Gesellschaft einer schlechthinnigen Unterdrückung menschlicher Grundfähigkeiten anklagen können, wohingegen in westlichen Kulturen analog zur Transformation der Bedürfnis- in Bedarfskritik die konkrete, sozial legitimierte Art ihrer Entfaltung zur Debatte stehen müsste. Betreffs der Grundfähigkeit der Gesundheit etwa hat man sich hier den FraEbd., S. 123. Vgl. ebd., S. 198: »Natürlich gibt es hier fliessende Übergänge. Und es wird in der Praxis nicht leicht sein, zu sagen, wo – insbesondere – die höhere Schwelle anzusetzen ist.« 458 Dies.: Menschliches Tun, S. 216. Vgl. auch dies.: Gerechtigkeit, S. 242 ff., wo Nussbaum Foucaults historisch-gesellschaftlichen Arbeiten (Sexualität und Wahrheit) würdigt. Gerade bei Foucault indes stösst man auf nämliche Schwierigkeiten, da er mitunter »jegliche Ordnungssysteme als repressiv [verwirft], übersehend, dass die Tatsache polizeilicher Kontrolle oder ordnungsschaffender Ausschliessung von Systemen per se noch kein Argument gegen deren Legitimität darstellt« (Dagmar Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, S. 487). 456 457

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gen pränataler Diagnostik zur Früherkennung genetisch vererbter Krankheiten oder denjenigen der aktiven Sterbehilfe zu stellen. Die interkulturelle Einigung auf die für ein »gutes menschliches Leben« notwendigen »Grundfähigkeiten« scheint damit lediglich eine Diskussionsgrundlage darzustellen für den praktischen Diskurs über die geeigneten und legitimen Mittel bzw. institutionellen Bedingungen ihrer Aktualisierung. Da sich die meisten von Nussbaum genannten Grundfähigkeiten der zweiten Ebene wie die Fähigkeit zu einem gesunden, mobilen und sexuell befriedigenden Leben (Punkt 2 der Liste) oder diejenige zu ehrenhaften zwischenmenschlichen Beziehungen (Punkt 6) beim Vergleich mit Maslows Bedürfnishierarchie als Fähigkeiten zur Befriedigung bestimmter Grundbedürfnisse wie der physiologischen Grundbedürfnisse (Punkt 1 in Maslows Hierarchie) oder desjenigen nach Achtung (Punkt 5) erweisen, ließe sich auf diese Weise zumindest eine partielle Gewichtung und Rangfolge der anthropologischen Grundgüter erstellen. Ein Schwachpunkt von Nussbaums »Objektive-Liste-Theorie« des guten und glücklichen Lebens besteht sicherlich darin, dass sie einerseits zwar richtig erkennt, dass »bestimmte gesellschaftliche Bedingungen wie etwa monotone Arbeitsformen oder traditionelle hierarchische Geschlechterbeziehungen […] gute menschliche Beziehungen und die Entfaltung der praktischen Vernunft [verhindern können], wenn sie sie auch nicht ganz zerstören.« 459 Während andererseits aber lediglich die Sorge um die Grundgüter und die »reinen Minimalfähigkeiten« der Obhut des Staates unterstellt werden müssen, 460 bleibt merkwürdigerweise nach Nussbaum der Übertritt der zweiten Schwelle »mehr oder weniger dem Bürger selbst überlassen […], nachdem die Gesellschaft ihm das Überschreiten der ersten Schwelle ermöglicht hat.« 461 Statt dass Nussbaum, mit ihrer Kritik am amerikanischen Liberalismus Ernst machend, 462 konsequent gegen Ungerechtigkeiten und Missstände in solchen institutionellen Arbeitsformen oder traditionellen Beziehungsnetzen ins Feld zöge, droht sie bei ihrer Gratwanderung zwischen dem Wert staatlicher Fürsorge für das Wohlergehen des einzelnen und dem Wert der Entscheidungsfreiheit qua »negativer Freiheit« bisweilen zu verdecken, 459 460 461 462

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Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 198. Vgl. dies.: Menschliches Tun, S. 231. Dies.: Gerechtigkeit, S. 198. Vgl. ebd., S. 30.

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dass »menschliche Entscheidungsfreiheit nicht reine Spontaneität« ist, sondern »sehr komplexe gesellschaftliche und materielle Voraussetzungen« 463 hat: Weder macht es im Rahmen einer anthropologischen Theorie des guten und glücklichen Lebens Sinn, einem isolierten einzelnen »die Freiheit der persönlichen Selbstverwirklichung, die Entscheidung in reproduktiven Fragen und die Religionsfreiheit« sowie die Wahl eines persönlichen Lebensplanes zu überantworten, 464 noch bildet diese freie Option für das Passieren der zweiten Schwelle eine Garantie von Gleichheit und Gerechtigkeit, wie Nussbaum hypothetisch-zuversichtlich präsumiert. 465 Da Nussbaum im Anschluss an Aristoteles plausiblerweise davon ausgeht, »dass die Kräfte der praktischen Vernunft zu ihrer Entwicklung institutioneller und materieller Voraussetzungen bedürfen, die nicht immer vorhanden sind«, und dass der Staat neben der gerechten Verteilung instrumenteller Grundgüter auch die tugendhafte Ausübung wesentlicher menschlicher Fähigkeiten zu fördern hat und damit für ein »gutes Leben« der Bürger mitverantwortlich ist, drängt sich zweifellos die Notwendigkeit »einer gründlicheren Überprüfung der Arbeitsverhältnisse, der pädagogischen Einrichtungen und anderer Aspekte der Lebensweise« auf, als sie Rawls bei seiner Gerechtigkeitskonzeption vorsieht. 466 Wichtiger als die »negative« Entscheidungsfreiheit für spezifische Formen sexueller Praktiken oder Bildungswege schiene mir daher neben einem Plädoyer für die politische Sozialdemokratie bzw. ein institutionelles Wohlfahrtssystem die von Nussbaum marginalisierte aktive »positive Freiheit« zu einem Mitspracherecht an den bewusst geschaffenen Formen menschlicher Gesellschaft zu sein, welche die sozial legitimierten normativen Befriedigungsgestalten unserer Bedürfnisse und Ausbildungsarten unserer Fähigkeiten festschreiben. 467 Für ein gutes und Ebd., S. 78. Zitat ebd., S. 202. »Die Bürger in all diesen Bereichen als freie und gleichgestellte zu behandeln bedeutet, ihnen zu ermöglichen, eine bestimmte Schwelle zu überschreiten und eine Stufe zu erreichen, auf der sie sich für eine gute Lebensführung entscheiden können, sofern die verfügbaren Ressourcen dies erlauben.« (ebd., S. 63) 465 »Wenn man dafür eintritt, dass alle Menschen befähigt werden, eine bestimmte Stufe der Entscheidungsfreiheit zu erreichen, tritt man damit zugleich für Gleichheit ein …« (ebd., S. 203 f.) 466 Ebd., S. 61. Vgl. zu dieser expliziten Kritik an Rawls auch ebd., S. 38 f., zum aristotelischen Vorbild ebd., S. 26 f. 467 Nussbaums aristotelische Korrektur am amerikanischen Liberalismus tendiert aber durchaus in diese Richtung: »Der Liberale vertritt den Standpunkt, dass die Bürger als 463 464

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glückliches Leben wäre dann nicht etwa die Fähigkeit ausschlaggebend, ein gesundes und sexuell befriedigendes Leben führen (Punkt 2), sondern vielmehr die Fähigkeit, sich im Rahmen sozialdemokratischer Gesellschaftsstrukturen an der kollektiven Diskussion über Gesundheit und Sexualleben des Menschen beteiligen zu können. Grundsätzlich lassen sich bezüglich einer gesellschaftspolitischen Version eines anthropologischen Glücksansatzes mithin folgende Positionen kontrastieren: 1. In einer subjektivistischen konservativ-liberalistischen Konzeption von Gerechtigkeit oder vom guten und glücklichen Leben wird Selbstbestimmung als »negative Freiheit« von gesellschaftlichen Restriktionen zum höchsten menschlichen Wert erklärt. Das Projekt eines guten Lebens sowie das private Glück wird damit gänzlich der Souveränität des einzelnen anheimgestellt, der die freie Wahl zwischen instrumentellen Gütern zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und Entfaltung seiner Fähigkeiten hat. 468 Um nicht der Illusion aufzusitzen, die universalmenschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten ließen sich unabhängig von jedem sozialen Kommunikationszusammenhang rein privatim konstituieren, da wir de facto vielmehr etwa in puncto Sexualität immer nur zwischen alternativen (sub-)kulturellen Gestaltungsweisen zwischen den Grenzen der Klitorisbeschneidung und der »Tyrannei der Intimität« einer sämtliche Tabus brechenden westlichen Sexualfolklore auswählen können, müsste man dabei für eine wertpluralistische Gesellschaftsform mit möglichst breitem Spektrum an Optionen plädieren. Dadurch verfällt man aber blindlings dem Irrtum vieler ästhetisch infizierter Postmoderner, Pluralität und Heterogenität, das Minoritärwerden gesellschaftlicher Strukturen sei ein »Gut an sich«. 469 2. Demgegenüber begegnet uns die praktische Vernunft, Freie und Gleichgestellte behandelt werden, wenn sie die gleiche Menge von vielseitig verwendbaren Ressourcen bekommen (Dworkin) oder wenn die Ungleichheiten damit gerechtfertigt werden können, dass sie den am schlechtesten Gestellten zugute kommen (Rawls). Der Aristoteliker ist ebenfalls der Ansicht, dass die politische Herrschaft eine Herrschaft über freie und gleichgestellte Bürger ist. Allerdings würden die Bürger nur dann als Freie behandelt, wenn ihnen die notwendigen Bedingungen für die Ausübung von Entscheidungsfreiheit und für die Betätigung der praktischen Vernunft zur Verfügung gestellt werden (dazu gehören Erziehung, Mitwirkung am politischen Leben und der Ausschluss entwürdigender Arbeitsbedingungen).« (ebd., S. 45) 468 Vgl. zur Freiheitsdebatte zwischen Liberalen und Kommunitariern das Kapitel 6.2. 469 Vgl. zu dieser postmodernistischen »sentimentalen Illusion« Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, S. 497 f.

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die Autonomie oder Entscheidungsfreiheit in essentialistischen anthropologischen Ansätzen überraschenderweise lediglich als Ingredienz eines bunten Verzeichnisses allgemeinmenschlicher Merkmale (Punkt 5 von Nussbaums Liste). 470 Gleichwohl spielt sie im Hinblick auf das Überschreiten der »zweiten Schwelle« und somit auf die Gewinnung eines guten menschlichen Lebens zusammen mit dem sozialen Netz (Punkt 6) offenkundig eine architektonische Sonderrolle. Indem sich unsere praktische Vernunft einerseits nur »im Bande der gegenseitigen Aufmerksamkeit und Fürsorge« qualifizieren kann, wie sie andererseits notwendig »eines für sie konstitutiven Erweisungs- und Bewährungszusammenhangs bedarf«, 471 ist der »äußere« intersubjektive Kommunikations- und Handlungszusammenhang nämlich konstitutiv für die »innere« Autonomie. 472 Sich in zwischenmenschlichen Beziehungen entfaltend und bildend (6), übt die praktische Vernunft (5) insofern »eine einzigartige architektonische Funktion aus«, als sämtliche menschlichen »Tätigkeiten erstens von der praktischen Vernunft geplant und organisiert und zweitens zusammen mit anderen Menschen ausgeübt [werden]. Diese beiden Tätigkeiten sind nicht einfach zwei unter anderen. Sie sind die zwei, die das ganze Unternehmen zusammenhalten und es zu einem menschlichen machen. Die menschliche Ernährung unterscheidet sich von der tierischen Ernährung und die menschliche Sexualität von der tierischen Sexualität, weil die Menschen ihre Ernährung und ihre sexuellen Aktivitäten durch ihre praktische Vernunft regulieren können; und auch, weil sie dies nicht als solitäre Zyklopen tun (die alles, einschließlich ihrer Gäste, verspeisen), sondern als Wesen, die mit anderen Menschen durch Bande der gegenseitigen Auf-

470 Vgl. die treffende Charakterisierung der beiden Programme durch Krebs: »Im Unterschied zu subjektivistischen Konzeptionen von Moral und Gerechtigkeit, die die Frage nach den letzten Zwecken eines guten Lebens in den Hoheitsbereich der betroffenen Person stellen […], behauptet die anthropologische Konzeption, dass ein Leben ohne soziale Anerkennung, Freundschaft etc. kein menschenwürdiges Leben sein kann, ganz gleich, was die betroffene Person faktisch dazu sagen mag.« (Angelika Krebs: Werden Menschen schwanger?, S. 239) 471 Vgl. Rentsch: Die Konstitution, S. 217. 472 »In der heutigen Zeit entwickelt sich die Identität eines Menschen nicht in der Weise autonom, dass man von einer rein ›innengeleiteten‹ Entwicklung sprechen kann, sie ist auch ›aussengeleitet‹ […] Autonomie bedeutet ›nicht Unabhängigkeit im Sinne gegenseitiger Isolation‹. (Luhmann) Autonomie ist in der gegenwärtigen Moderne als IchDu-Beziehung zu begreifen, die von der Entwicklung des eigenen Selbstverständnisses und des Selbstwertgefühls begleitet ist.« (Detlef Horster: Postchristliche Moral, S. 348)

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merksamkeit und Fürsorge verbunden sind. Es gibt mitunter menschliche Lebensumstände, denen dieser spezifische Charakter fehlt.« 473

Unsere Streifzüge durch anthropologische Grundlagenreflexionen zum Glück des Menschen führten uns rückblickend Folgendes vor Augen: Zunächst scheint es nicht nur eine unmittelbar evidente »Grundintentionen« (Nussbaum) zu sein, sondern sich auch empirisch nachweisen zu lassen (Maslow), dass der Mensch nur glücklich wird, wenn er tut, was er kann, d. h. seine Anlagen entfaltet und vollendet. Maslows lapidares Motto »Was der Mensch kann, muss er sein«, verdient daher nicht nur im Interesse des nach Glück strebenden einzelnen als Aufruf zur Pflicht zum eigentlichen Menschseinkönnen Beachtung, sondern auch als Maxime einer allgemeinen Gesetzesvorlage zum Schutz des Rechts auf vollendetes Menschsein. Will man indes eruieren, was denn der Mensch tatsächlich sein kann und somit auch aktualisieren soll, tritt zutage, dass sämtliche menschlichen Grundbedürfnisse und -fähigkeiten gerade insofern spezifisch menschlich sind, als sie von der in einer bestimmten Sprech- und Handlungsgemeinschaft geschulten praktischen Vernunft erst konkretisiert, formiert und in dieser Erfüllungsgestalt sozial legitimiert werden. Je höher die spezifisch menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse, desto stärker sind sie dabei auf sensible Einsichtnahme und sorgfältige interaktive Kultivierung angewiesen, nachdem beim Menschen das Handeln nicht mehr durch das Zusammentreffen von angeborenen Instinktmechanismen mit bestimmten Umweltreizen kausal determiniert wird. Sowohl Maslows Hierarchie von sechs Grundbedürfnissen wie auch Nussbaums wesentlich umfangreichere Liste von Grundfähigkeiten bestätigen infolgedessen unsere hypothetische Antizipation in der Einleitung, derzufolge eine pragmatisch-ethische Anthropologie nie mehr darstelle als ein Medium der Reflexion und der kritischen Aufklärung bei der Suche nach einem kulturellen Menschenbild oder einer interkulturellen Verständigung auf ein universelles menschliches Selbstverständnis hin: Im Kontrast zur somatisch-physiologischen naturwissenschaftlichen Anthropologie rekognosziert sie nämlich nicht das, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat, sondern versucht aus einer geisteswissenschaftlich-verstehenden Perspektive im hermeneutischen Durchgang durch das, was kulturelle Gemeinschaften aus dem Men473

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schen gemacht haben oder machen könnten, zu einer ethisch-normativen Interpretation des »Wesens« Mensch anzuregen. Da sich menschliches Glück nur unter der Bedingung realisieren lässt, dass man weiß, was der Mensch ist, sich aber »als Mensch begreifen, heißt, sich im Horizont des Vorverständnisses eines zunächst im weiten Sinne guten Lebens zu bewegen«, 474 beziehen sich die eudaimonologisch relevanten anthropologischen Recherchen immer zugleich in deskriptivem wie normativem Sinne auf unsere gemeinsame Lebenspraxis. 475 Während zwar sowohl die angeborenen Zielausrichtungen der Menschen, die umfassenden anthropologischen Kategorien von Grundbedürfnissen wie auch die korrelativen situativen soziokulturellen und ökonomischen Lebensbedingungen empirische Tatsachen darstellen, scheinen bei den sich aus dieser Wechselwirkung heraus entwickelnden und in den alltäglichen Vollzügen der gemeinsamen Lebenspraxis zum Ausdruck kommenden, niemals aber aus monologisch-subjektzentrierter Perspektive gleichsam am Reißbrett projektierbaren materialen Inhalten eines »guten menschlichen Lebens« Sein und Sollen zu koinzidieren. 476 Ein kritisch-normatives Unterfangen unterscheidet sich freilich von der wittgensteinschen Deskription alltäglicher Sprachspiele mit den ihnen inhärenten, implizit erlernten ethischen Urteilen dadurch, dass die unhinterfragten Konkretisierungsformen der transzendental-hermeneutischen universalanthropologischen Grundzüge eines guten menschlichen Lebens auf ihre Vernünftigkeit und Weitsicht bezüglich des sozialen Zusammenlebens und der natürlichen Grundlagen Rentsch: Die Konstitution, S. 234. Wo Maslow von »Fusionswörtern« sprach (vgl. Fussnote 377, S. 434), plädiert Rentsch für den Ausdruck »diano(i)etische Termini«: »Ich nenne Prädikate, mit denen wir 1. bestimmte Unterscheidungen im Bereich der Faktizität treffen, mit denen wir 2. aber zugleich Differenzierungen im Bereich des Normativen verbinden, dianoietische Termini. Näherhin deswegen, weil wir mit ihnen über bestimmte Arten der Einsicht (gr. Dianoia) bzw. der menschlichen Selbsterkenntnis sprechen, die wir über uns, unser individuelles wie gesellschaftliches Sein zu gewinnen vermögen. Dianoietische Urteile sind somit zugleich Feststellungen und normative Urteile.« (Rentsch: Die Konstitution, S. 198, ohne Sperrungen) 476 »Die klassische Grundfrage: ›Wie gelangen wir vom ›Sein‹ zum ›Sollen‹ ?‹ ist in den Vollzügen des Lebens zunächst immer schon beantwortet: Die Einheit von Sinnentwürfen und ihren spezifischen Erfüllungsgestalten ist das ursprüngliche, in der Praxis des gemeinsamen Lebens durch keine Skepsis zu hintergehende Konstituens. Was in der klassischen Dichotomie von Sein und Sollen in zwei ontologische bzw. grammatisch separate Bereiche auseinandertritt, das verweist sich als in der menschlichen Orientierungswelt untrennbare Einheit.« (ebd., S. 121) 474 475

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kontrolliert und allenfalls modifiziert werden. Anthropologisch-eudaimonologische Kritik an konkreten kulturellen Befriedigungsgestalten menschlicher Grundbedürfnisse oder an Ausbildungsformen menschlicher Grundfähigkeiten entpuppte sich aber in der Form eines Pochens auf eine Liste unformierter Grundbedürfnisse oder -fähigkeiten als wenig sinnvoll, da diese zumindest in westlichen Gesellschaften lediglich eine Diskussionsvorlage für spezifische, sozial legitimierte Konkretisierungsgestalten darstellt. Hingegen hätte eine solche Kritik primär der werbemäßigen Manipulation sowie der gesellschaftlichen Diskriminierung, d. h. der Ausschaltung des kritischen Urteilsvermögens bestimmter Interessegruppen und der damit gezeitigten heteronomen Konkretisierung unserer potentiellen Strebungen den Kampf anzusagen. Sodann sind insbesondere jener heteronom auf Konsumgüter gerichtete Bedarf und jene Fähigkeitsformen verwerflich, welche die in Aussicht gestellte Befriedigung oder Erfüllung bloß vortäuschen, also trügerisch sind, oder die irrational in dem Sinne sind, dass ihre Orientierung egoistisch und gegenwartsbezogen erfolgt im Zeichen einer »instrumentellen Kollektivethik«, statt aus der konsensuellen Einigung auf eine von allen akzeptierbaren »Lebensqualität«, ein auf weite Sicht für alle »erfahrbar besseres« und erfüllenderes »gutes menschliches Leben« im moralisch-praktischen Diskurs hervorzugehen. Unabdingbar für einen gemeinsamen vernünftigen und freiheitlichen Diskurs zur Regulation der Entfaltung universalmenschlicher Anlagen ist zum einen eine umfassende Aufklärung betreffs der tatsächlichen kulturellen Fähigkeiten- oder Bedürfnisgestalten und ihres effektiven Nutzens, ihrer Bedeutung im Rahmen eines anvisierten guten und gelingenden Lebens – sei es hinsichtlich der medizinisch-gesundheitlichen Verhältnisse oder der Ausbildungsmöglichkeiten –, 477 zum andern eine intensive Diskussion von alternativen 477 Nussbaum nennt diese quasi-interne Aufklärungsarbeit »Bewusstseinsförderung« und erläutert sie am Beispiel von Witwen in Indien, die ihren Gesundheitszustand im Kontrast zu den Witwern als »gut« einschätzen, obgleich sie infolge mangelnder Ernährung viel stärker unter Krankheiten litten (vgl. Nussbaum: Gerechtigkeit, S. 223 und S. 75). Damit redet sie dem von uns favorisierten 2-Komponenten-Modell der Lebensqualität das Wort: »Der Aristoteliker nimmt den Wunsch als eine Sache ernst, die wir berücksichtigen sollten, wenn wir fragen, wie gut es einem System gelingt, die Menschen zu einem guten Leben zu befähigen. Aber er besteht darauf, auch und nachdrücklicher danach zu fragen, was die betreffenden Menschen tatsächlich tun und sein – und wünschen können. Wir schauen uns nicht nur an, ob sie nach Erziehung verlangen, sondern auch, wie sie tatsächlich erzogen werden; nicht nur, ob sie sich selbst als eini-

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Gestaltungsmodellen, 478 d. i. eine umfassende Meinungsbildung in einer demokratischen und politisch mündigen Wissensgemeinschaft. Erforderlich wäre in Nussbaums Worten eine »reflexive Politik«, 479 welche die individuelle Entscheidungsfreiheit in der kommunikativen Auseinandersetzung über Lebensqualität und das gute Leben schult, denn: »Entscheidungsfreiheit ist durchaus vereinbar mit der Art von politischer Reflexion über das Gute und mit der Art von Einmischung in das Laisser-faire, die der aristotelische Sozialdemokratismus beinhaltet, ja sie erfordert beides geradezu.« 480 Ohne sich im Zeichen des individuellen Glücksstrebens ausschließlich für die autonome Wahl eines persönlichen Lebensplanes zu engagieren, müsste man also den Ton legen auf demokratische Gesellschaftsformen als Basis für einen Konsens hinsichtlich eines essentialistischen anthropologischen Minimalprogrammes, das mit Rücksicht auf die empirisch-physiologischen Gegebenheiten eine von allen akzeptierbare gehaltvolle Vorstellung eines »erfahrbar besseren« menschlichen Lebens entwickelt. Da der Mensch grundsätzlich nicht lebt, sondern sein Leben führt, bildet indes eine solche dank Einsicht, Aufklärung und Kritik gewonnene menschliche Selbsterkenntnis und Vorstellung vom »guten Leben« lediglich den Rahmen für ein glückliches, vernünftiges und selbstbestimmtes Leben ohne Frustration von Bedürfnissen und das Verkümmern wesentlicher Fähigkeiten. Um ein in seiner Gänze gelingendes »gutes Leben« zu führen und das Glück der Erfüllung aller menschlicher Bedürfnisse und Fähigkeiten zu erleben, haben wir nämlich entsprechend unser fundamentalanthropologischer Erkenntnisse bezüglich der teleologischen Struktur unseres Handelns einen persönlichen Lebensplan, einen praktischen Sinnentwurf mitsamt seiner Erfüllungsrichtung so zu konzipieren, dass sich im Zeichen des höchsten menschlichen Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung sukzessive unsere individuellen Begabungen und Kapazitäten entfalten können.

germassen gesund empfinden, sondern auch, wie lange sie leben, wie viele von ihren Kindern sterben, wie es, kurz gesagt, wirklich um ihre Gesundheit steht.« (ebd., S. 40) 478 Vgl. ebd., S. 121. 479 Ebd., S. 65. 480 Ebd., S. 78. A

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Erblickte man im Enthusiasmus der frühen Neuzeit nach der erfolgreichen Liquidation aller überkommenen Menschenbilder mit der ihnen inhärenten Gefahr, den Menschen zum »festgestellten Tier« zu degradieren, das Glück in der Freiheit von vorgegebenen Zwecken als dem höchsten Gut des Menschen, schlägt im Laufe verschiedener Subjektivierungsschübe die Negativität solcher Freiheit mehr und mehr ins Positive um, gemäß dem Motto: »Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?« 1 Grundsätzlich übereinstimmend mit der im vorangegangenen essentialistisch-anthropologischen Teilkapitel 5.2 referierten Erkenntnis, dass der Mensch nur glücklich werden kann, wenn er seine wesentlichen Anlagen entfaltet, rückt als Zielpunkt neuerer inhaltlicher Glücksbetrachtungen an die Stelle universalmenschlicher Grundbedürfnisse und -fähigkeiten vermehrt ein ominöses »Selbst« ins Zentrum: Auf den Wogen des Zeitgeistes reitend, appellieren Glückspropheten, Lebensberater und Therapeuten verheiungsvoll an die »Selbstfindung«, an die »Selbstverwirklichung« als Schlüsselkategorie des (post)modernen Selbstverständnisses westlicher Gesellschaften schlechthin. Dieses hell verkündete neue »Wozu« menschlicher Freiheit dürfte, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, etwa bedeuten, »sich selbst in ungezwungenen Handlungszusammenhängen in seiner Besonderheit allseitig kennenzulernen, zu akzeptieren und wirksam auszudrücken.« 2 Der gegenwärtigen »Ideologie der Selbstverwirklichung« 3 den Weg geebnet hat dabei die in der kapitalistischen Kultur mit ihrem Prinzip des freien Marktes Rückhalt erfahrende »Individualisierung«, dank welcher das »Selbst« geradewegs zum »axialen Prinzip der modernen Kultur« 4 Friedrich Nietzsche: Z, S. 81. Gerd Gerhardt: Kritik des Moralverständnisses, S. 25. Gerhardt vermittelt einen Eindruck von der feuilletonistischen Redeweise über Selbstverwirklichung ebd., S. 21–26. 3 Michael Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 2. 4 Daniel Bell: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, S. 23. Vgl. dazu den Beginn von Kapitel 5.2 in Dagmar Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?. 1 2

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avancieren konnte. »Individualisierung« meint elementar seitens der Handlungssubjekte eine zunehmende Orientierung an selbstgesetzten, aus sich selbst heraus generierten Zielen unter Abkehr von vorgegebenen traditionellen Aufgaben oder Pflichten innerhalb einer bestimmten Gruppe, während komplementär dazu die gesellschaftlichen Strukturen solchen individuellen Handlungorientierungen und Zielumsetzungen entgegenkommen. 5 Gleichzeitig wird der von der liberalistischen Ökonomie begünstigte Trend zur Individualisierung und Selbstverwirklichung sozusagen »von oben« forciert durch den seit den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von Soziologen registrierten Wertwandel von »materialistischen« zu »postmaterialistischen«, d. h. zu nicht-instrumentellen Werten ästhetischer Kreativität und individueller Selbstverwirklichung (Inglehart), von »Pflicht- und Akzeptanzwerten« hin zu »Selbstentfaltungswerten« (Klages). 6 Fragt man nach Hintergründen dieses Wertwandels in der primären und sekundären Sozialisation, wurden im Rahmen des SEIM-Projektes eine ganze Reihe von empirischen Untersuchungen zum Erziehungsmodus der »neuen Verwöhnung« lanciert: Gesellschaftlich-ideologisch motiviert, geht dieser permissive Erziehungsstil dezidiert von den tatsächlichen oder antizipierten Bedürfnissen oder Wünschen der Kinder aus, die vor denjenigen der Erziehungspersonen unbedingten Vorrang genieen. 7 Nachdem in unserer abendländischen Welt die religiöse Sinngebung des Lebens ebenso an Überzeugungskraft einbüßte, wie vice versa der Skeptizismus gegenüber sämtlichen externen kompensatorischen Sinnstiftungsinstanzen an Einfluss gewann, scheint vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Zeittendenzen der IndividualiVgl. dazu mit Bezug auf populärwissenschaftliche Stellungnahmen Ekkehard F. Kleiter: Egozentrismus, Selbstverwirklichung und Moral, S. 5–8, zum Indivualisierungskonzept nach Ulrich Beck, der in seinem Buch Risikogesellschaft den Begriff »Individualisierung« zur Kennzeichnung der modernen Gesellschaft aus soziologischer Sicht zum Zentralbegriff erhoben hat, ebd., S. 9–13. 6 Vgl. Ronald Inglehart: Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt, und Helmut Klages: Wertorientierungen im Wandel. Neben diesen manifesten Tendenzen hat die Allensbacher Langzeitstudie allerdings noch einen seit ca. 1989 zu verzeichnenden Parallel-Trend zu mehr Sicherheit und Geborgenheit zutage gefördert (vgl. Kleiter: ebd., S. 13–17). 7 Vgl. ebd., wo Kleiter die theoretischen Grundlagen und Forschungsergebnisse der an der bildungswissenschaftlichen Hochschule Flensburg durchgeführten psychologischen Untersuchungen präsentiert, S. 29–34. SEIM ist die Abkürzung für »Selbstverwirklichung, Egozentrismus, Individualisierung und Moral«. 5

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sierung und des Wertwandels hin zu postmaterialistischen Selbstentfaltungswerten der Schluss konsequent: »Glück kann daher nicht darin bestehen, dass man tut, ›was man soll‹, dass man ›seinen Pflichten nachkommt‹ und damit, wie es etwa religiösen Idealen entspricht, seinen Lebenssinn erfüllt […]. Wenn wir aber keinen Plan außer uns verwirklichen, was, wenn nicht uns selbst, sollen wir dann verwirklichen?« 8 Wo nicht nur subjekttranszendente Ideale oder Ziele fehlen, sondern wie in unseren westlichen Wohlstandsgesellschaften sämtliche Bedürfnisse der in Kapitel 5.2 erläuterten glücksrelevanten Bedürfnishierarchie 9 problemlos dauerhaft gestillt werden können, widmet man sich gleichsam auf der Pyramidenspitze der uneingeschränkten Selbstentfaltung. Je lauter aber auf der allgemeinmenschlichen Glückssuche der Ruf nach Selbstverwirklichung erschallt und je breiter sich das Angebot an Lebenshilfeliteratur, Selbsterfahrungsseminaren und Selbstentfaltungskursen gestaltet und damit das Thema Glück gleichsam »auf die Gasse« gerät, 10 desto undifferenzierter werden unsere Vorstellungen von dem, was hier als »Selbst« gefunden und realisiert werden soll. Auch wenn sich daher der Ansatz, der menschliches Glück an Selbst-Bestimmung, Selbst-Sein, Selbst-Erfüllung oder Selbst-Verwirklichung koppelt, 11 heute sowohl in philosophischen wie paraphilosophischen Kreisen größter Popularität erfreut, 12 mehren sich angesichts dessen seine Kritiker, die ein solches Glücksverständnis wenig schmeichelhaft als »das seltsamste in der Geschichte der Menschheit erfundene Glück« 13 titulieren. Ohne diese zeitmächtige Antwort auf Zarathustras »Frei-wozu?«-Frage radikal aus unserer Glückstheorie zu verbannen, wollen wir daher im vorliegenden Kapitel versuchen, zu philosophisch reflektierten Begriffen von »Selbst« und »Selbstverwirklichung« vorzustoßen und Michael Baurmann/Hartmut Kliemt: Glück und Moral, S. 14. Vgl. die vielbeachtete Bedürfnispyramide von Abraham Maslow, exponiert in Kapitel 5.2, S. 431 f. 10 Vgl. Günther Biens Votum in: Kapitel 1, S. 36. 11 »Die Frage nach dem Glück ist allerdings, wie man weiß, nie völlig verstummt«, registriert Hügli, sondern melde sich heute »in zentralen Begriffen und Schlagwörtern der Nachkriegszeit, den Begriffen des Selbstseins und der Selbstwahl etwa, der Selbstverwirklichung oder der Gesundheit im Sinne der neuen Definition der WHO« wieder zu Wort (Anton Hügli: Mutmaßungen über den Ort des Glücks in der Ethik der Neuzeit, S. 34). 12 Vgl. Baurmann/Kliemt: Glück und Moral, S. 13 f. Vgl. auch das 12. Kapitel »Selbstverwirklichung« in: Wolf Schneider: Glück – was ist das?, S. 85–95. 13 Ricarda Winterswyl: Das Glück, S. 219. 8 9

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zu ergründen, »wie man wird, was man ist« 14 . Obgleich »Selbstverwirklichung« bzw. »Selbstaktualisierung« (engl. »self-realization«, »self-actualization«) durch die deutschen Idealisten als wissenschaftlicher Terminus in die Philosophie eingeführt wurde, erreichte er nach dem Verfall der hegelianischen Tradition als signifikantes theoretisches Rahmenkonzept erst in der »humanistischen Psychologie« maßgebende Bedeutung. 15 Unter der Federführung der humanistischen Selbst-Theoretiker wurde in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine »Me-Decade«, ein »Zeitalter des Ich« ausgerufen, und eine ganze Generation von Selbstverwirklichern strömte in Selbsterfahrungsseminare und Therapieräume. Wir müssen bei unseren Begriffsanalysen infolgedessen an diesen theoretischen Anfängen einer betont individualistischen Auffassung von »Selbstverwirklichung« ansetzen, wo bereits deren entscheidende philosophisch-konzeptuelle Schwierigkeiten und immanente Widersprüche zutage treten. In kritischer Wendung sowohl gegen die Psychoanalyse, die den Menschen zum Triebbefriedigungs-Mechanismus, wie den Behaviorismus, der ihn zum Reiz-Reaktions-Automaten depraviert, setzt die ganzheitliche humanistische Psychologie an, ihn als Subjekt und teleologisch verfasstes Lebewesen zu rehabilitieren, dessen Ziel die Entfaltung, das Wachstum seiner persönlichen Potenzen darstellt. Allen voran Kurt Goldstein und Charlotte Bühler attackieren die psychoanalytische Auffassung von der Homöostase als letztem menschlichem Lebensziel, 16 welche durch die sämtlichen humanistischen Psychologen gemeinsame Grundüberzeugung von einem aktiven, spontanen, autonomen Selbstverwirklichungsprozess des gesunden Menschen substituiert wird: 17 »Die Humanistischen Psychologen betonen, dass dieses Schaffen in einem Prozess stattfindet, den das Individuum als Selbstverwirklichung erlebt oder So lautet der Untertitel von Nietzsche: EH, S. 255. Vgl. den Artikel »Selbstverwirklichung, Selbstaktualisierung« von Gerd Gerhardt in Joachim Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, S. 556 ff. 16 Vgl. zur wissenschaftlichen Widerlegung des Homöostatieprinzips Kapitel 3.2, S. 163. 17 Obgleich die humanistische Psychologie ein breites Spektrum von Ansätzen umfasst, stützen sich ihre Repräsentanten auf ein »gemeinsames ›Programm‹ mit axiomatisch verstandenen Grundüberzeugungen«, die Paulus so resümiert: »All diese Umschreibungen belegen, dass Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des Menschen zu den basalen Überzeugungen und Annahmen der Humanistischen Psychologie zählen.« (Peter Paulus: Selbstverwirklichung und psychische Gesundheit, S. 51 und S. 52) 14 15

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als Streben auf eine Erfüllung hin, in der das Schaffen von Kulturwerten sowie die eigene Entwicklung einbegriffen sind. Bei diesem Prozess versucht der Mensch gleichzeitig, soweit wie möglich sein inneres Gleichgewicht zu erhalten, was aber ein sekundäres Ziel ist, nicht – wie in der Psychoanalyse – das Hauptziel.« 18

Während der Mensch im Rahmen des psychoanalytischen symptombezogenen Reparaturdenkens als »psychischer Apparat« ins Blickfeld rückt und in drei mechanisch zusammenspielende, das menschliche Handeln bestimmende Faktoren »Ich«, »Es« und »Über-Ich« zerfällt, stärken die humanistischen Psychologen unser Vertrauen auf die dem Menschen innewohnenden kreativen Kräfte des Wachstums, die mittels eines oft dürftig und diffus definierten »Selbst« integriert, hierarchisch und intentional gesteuert werden sollen. »Dieses Selbst ist nach meiner Theorie, ebenso wie nach der von Abraham Maslow, Rollo May, Carl Rogers und zurückgehend bis zu ihren Anfängen bei Karen Horney«, so exponiert Bühler, »der Ursprung, aus welchem die Intentionalität hervorgeht. Ich persönlich betrachte das innere ›Selbst‹ als ein innerstes System, das von rudimentären Anfängen an wächst und sich ausdehnt. […] Das richtungsorientierte, wählende Selbst strebt auf dem Wege seiner Entwicklung nach der Verwirklichung der in dem Individuum steckenden Möglichkeiten und damit nach Lebenserfüllung.« 19

Angesichts der Flut vielfältigster Ansätze lassen sich gemäß einem gelungenen Systematisierungsversuch von Peter Paulus die vier folgenden Modelle von Selbstverwirklichungskonzepten humanistischer Psychologen unterscheiden: 20 1. Carl R. Rogers Erfahrungskongruenzmodell bestimmt die gelungene Selbstverwirklichung als geglücktes dynamisches Zusammenspiel der organismischen Bewertungen und des Selbstkonzeptes einer Person. Der Mensch »wird das, was er ist«, 21 angeblich durch »das freie Erfahren der authentischen sinnlichen und physischen Reaktionen des Organismus, ohne dass ein allzu großer Versuch unternommen wird, diese Erfahrung in einen Bezug zum ›Selbst‹ zu brinCharlotte Bühler: Psychologie im Leben unserer Zeit, S. 115. Dies.: Psychologische Probleme unserer Zeit, S. 2. 20 Vgl. Paulus: Selbstverwirklichung und psychische Gesundheit, S. 202–207. 21 »In der Therapie fügt der Mensch der gewöhnlichen Erfahrung die volle und unverzerrte Bewusstheit seines Erlebens – seiner sensorischen und innerorganischen Reaktionen – hinzu. […] Der Mensch wird das, was er ist, wie die Klienten der Therapie so oft sagen.« (Carl R. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit, S. 111) 18 19

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gen.« 22 Paradox ist indes ein solches Authentizitätsstreben ohne jegliche Bezugnahme auf tatsächliche bzw. introjizierte Erwartungshaltungen anderer oder stabilisierende Selbstbilder, weil ein freies SichAussprechen, eine hemmungslose Selbst-Enthüllung mittels einer totalen Konzentration auf seine »reinen« und »privaten« organismischen Regungen schlechthin vereitelt wird. Seit der sich bereits in der Romantik angekündigten Wende von der persönlichen Aufrichtigkeit zur subjektiven Authentizität im 20. Jahrhundert droht nämlich gemäß Lionel Trillings Studie Sincerity and Authenticity unter fragwürdigem Ausschluss der Differenz von Innen und Außen das zu offenbarende Selbst jegliche Konturen zu verlieren, so dass es nichts mehr gibt, was enthüllt, was ausgedrückt werden könnte. Während nach Trilling »Aufrichtigkeit bedeutet, dass man Falschheit gegenüber jedermann vermeidet, indem man dem eigenen Selbst treu beleibt«, meint »Authentizität« die Identität von Innen und Außen. 23 »Je mehr sich eine Person auf die Authentizität ihres Fühlens statt auf den objektiven Gehalt dessen, was sie fühlt, konzentriert, je mehr Subjektivität zum Selbstzweck wird, desto weniger vermag sie, expressiv zu sein.« 24 Abgesehen vom »narzisstischen Problem, dass man nicht imstande ist, klar zu bestimmen, was an den eigenen Gefühlen authentisch ist«, 25 eskamotiert man mit der Zurückweisung aller formgebender Schranken unseres »Selbst« und sämtlicher es einengender Strukturen auch dieses selbst. 26 2. Beim hauptsächlich von Carl G. Jung vertretenen Bewusstwerdungsmodell vollzieht sich die »Ver-Selbstung« oder »seelische Ganzwerdung« als kontinuierliche Integration von bewussten und unbewussten, individuellen wie kollektiven psychischen Inhalten, wobei grundsätzlich die geistige Dimension des Menschen weggekürzt zu sein scheint, weil der Mensch nur das zu werden braucht, Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 90. Trilling illustriert dies an der Hauptfigur von Wordsworths Gedicht Michael: »Michael sagt nichts, er drückt nichts aus, es ist bei ihm nicht wie bei Hamlet, dass etwas in ihm vorgeht, was ›über allen Schein‹. Hier gibt es kein Innen und Außen – er und seine Trauer sind eins. Es kann also nicht von Aufrichtigkeit die Rede sein. […] Seit Rousseau wissen wir, dass es die Gesellschaft ist, die unsere Authentizität zerstört – unser Daseinsgefühl ist von der Meinung anderer abhängig.« (Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit, S. 15 und S. 91) 24 Sennett: Verfall und Ende, S. 49. 25 Ebd., S. 340. Vgl. auch meine Ausführungen zur romantischen »expressiven Individuation« in Kapitel 2.2, S. 104 f. 26 Vgl. Sennett: ebd., S. 332 f. 22 23

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was er immer schon (potentiell) ist. 27 3. Die große Zahl humanistischer Psychologen von Goldstein über Fromm bis Maslow gehen von einem basalen Entfaltungsmodell aus: Selbstverwirklichung sei der Prozess der optimalen Entfaltung der menschlichen Potentialitäten qua Bedürfnissen, Motiven, Fähigkeiten oder Begabungen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die Crux dieses Grundkonsenses, dass erstens die natürlichen Bedürfnisse oder Talente einander widerstreiten können und zweitens der Mensch offenkundig seine moralisch zunächst indifferenten Potenzen sowohl zu guten wie bösen Zwecken einsetzen kann, 28 zeitigt anstelle der eigentlich geforderten Reflexion auf normative Unterscheidungskriterien die oft hilflose, »implizit zirkuläre« bis »naiv optimistische« Rede von »besten Potenzen« oder »seelischer Gesundheit«: »Als eine durchgängige Bestimmung von Selbstverwirklichung trifft man auf das Merkmal der integrierten Ganzheit, die nicht nur die Berücksichtigung aller Ausdrucksformen eines Menschen meint, sondern auch die stimmige Ordnung, die Konsistenz dieser unterschiedlichen Ausdrucksformen impliziert. Über die (noch immer moralisch indifferente) Konsistenz hinaus wird ein normatives Element mehr oder weniger offensichtlich eingebracht durch die Anbindung der Selbstverwirklichung an ›beste Potenzen‹, an ›seelische Gesundheit‹, an das ›wahre Selbst‹ des Menschen oder an seine ›gute Natur‹.« 29

Wenn das »Selbst« als Ursprung von Zielen und Werten des Individuums wie bei Jung (2) oder Karen Horney (3) als angeboren gilt, mutiert die Psychologie letzten Endes zu einem Kapitel der Biologie, indem zwischen selbstgesetzten, vernünftig-vorsätzlichen Zielen und vorgegebenen Naturzwecken ungenügend differenziert wird. Da eine wertneutrale Aktualisierung unseres »Selbst« im Sinne einer ungehinderten Entfaltung aller angeborenen Fähigkeiten und Daseinsmöglichkeiten gar nicht möglich ist, führt die oft bemühte Samenkorn-Analogie unter Nivellierung der kategorialen Unterschiede beim Wachsen einer Pflanze und der auf Erziehung und kulturelle Eine ausführliche Besprechung und Kritik dieses Ansatzes findet sich in Fritz Jürgen Kaune: Selbstverwirklichung, insbesondere S. 21 f. und S. 130 f. »Die Komplexe Psychologie versteht das ›Sein‹ des Menschen (das was er ›ist‹) rein faktisch, als psychische ›Natur‹, die in einer Beschaffenheit, deren Gründe nicht zu erkennen sind, gegeben ist.« (ebd., S. 18) 28 Vgl. zum ersten Punkt Schneiders Illustration anhand vieler Multitalente, in: Glück – was ist das?, S. 87, zum zweiten Kapitel 5.1, S. 372 f. 29 Gerhardt: Kritik, S. 38, ohne Sperrungen und Zitatnachweise. 27

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Sozialisation angewiesenen Entwicklung eines Kindes gänzlich in die Irre, und das Reflexionsniveau des aristotelischen Potenz-Akt-Schemas wird deutlich unterschritten. 30 4. Erst in dem dezidiert von Viktor Frankl vertretenen Sinnfindungsmodell der Selbstverwirklichung, durch welches sich auch Charlotte Bühler anregen ließ, tritt die Wertfrage, das Problem der ethisch-moralischen Begründung menschlichen Handelns von der Peripherie ins Zentrum. Indem Frankls Logotherapie in systematischer Hinsicht mitunter als »existentialistische Psychologie« aus der »humanistischen Psychologie« ausgegrenzt wird, 31 soll er erst in Kapitel 6.1 ausführlich zu Worte kommen. Bühler ihrerseits geht bei ihrem bemerkenswerten Versuch, die empirische Psychologie mit normativen Fragen nach dem eigentlichen »Humanum« oder »wahren Menschen« zu verbinden, von vier biologischen Grundtendenzen mit je eigenen Zielen aus: der Bedürfnisbefriedigung, selbstbeschränkenden Anpassung, schöpferischen Expansion und Aufrechterhaltung der inneren Ordnung. Da der Mensch kraft seiner höheren kognitiven Fähigkeiten bewusst auswählen und sich für Ziele entscheiden kann, die ihm Erfüllung zu versprechen scheinen, wird allerdings »das Gefüge der ursprünglich fest gebundenen Grundtendenzen gelockert und ihre Koordination und Disposition zunehmend freier.« 32 Es bedeutet gleichzeitig, dass »auf der Stufe des Bewusstseins diese Ziele zu Werten erhoben werden, deren Verwirklichung als Lebenserfüllung erscheint. Erfüllung wurde definiert als hinreichend gelungene Verwirklichung der Lebenswerte, auf die das Individuum sich selbst bestimmend hinstrebt.« 33 Wenn das höchste Ziel Vgl. die dezidierte Stellungnahme von Seymour Epstein: Entwurf einer integrativen Persönlichkeitstheorie, S. 32. In Auseinandersetzung mit dem wesentlich differenzierteren Potenz-Akt-Modell des Aristoteles, der vielen humanistischen Psychologen als Gewährsmann dient, beschließt Gewirth seine Kritik an dieser Theorie der Selbstverwirkichung als Aktualisierung von Potenzen so: »What emerges from these considerations is not that human powers or potentialities do not figure at all in self-fulfillment, but rather than they must be guided or controlled through deliberation and choice, which are functions of desire.« (Alan Gewirth: Self-fulfillment, Princeton 1998, S. 13) 31 Mit folgender Begründung bringt etwa Paulus diese Unterscheidung ins Spiel: »Existentialistische und Humanistische Psychologie werden nicht immer auseinandergehalten […]. Vielfach wird die erstere unter letztere subsumiert […]. Sie werden hier aber getrennt behandelt, weil sie das Problem der Selbstverwirklichung unterschiedlich beleuchten.« (Paulus: Selbstverwirklichung, S. 55) 32 Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, S. 36. 33 Ebd., S. 71. 30

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menschlichen Lebens nach Bühler nicht die ausschließliche Verwirklichung individueller Potenzen sein kann, 34 und sich nicht wie beim Tier ein automatisches »Equilibrum« der biologischen Grundtendenzen einstellt, 35 sondern »die Strebungen des Individuums oft in Widerspruch zu den Ansprüchen stehen, die von den größeren Systemen, von Gesellschaft und Kultur ausgehen«, 36 müsste geklärt werden, wie der Mensch die eine beglückende »Erfüllung« lancierenden Werte bzw. werthaften Ziele zu begründen vermag. Obgleich diese Begründungsfrage aus Bühlers Sicht in unserer wertpluralistischen Zeit nach der Auflösung aller überkommenen kohärenten Wertsysteme ein unlösbares Problem darstellt, 37 wird in den Sinnfindungsmodellen doch der Verdacht entkräftet, eine Selbstverwirklichungstheorie öffne notwendig einem amoralischen Egoismus und Narzissmus Tür und Tor. »Selbstverwirklichung« werde in einem moralischen Nullsummenspiel gegen die Kategorie der »Solidarität« ins Rennen geschickt, monieren nämlich die Kritiker der Selbstverwirklichungskonzepte und diskreditieren sie in toto als Appell zu sozial verantwortungslosem Handeln. 38 Man identifiziert voreilig den »Egozentrismus«, der vielen Selbstverwirklichungsprojekten zweifellos zu attestieren ist, mit »Egoismus« als negativer ethischer Bewertung und gelangt zu einer undifferenzierten Pauschalverurteilung des Selbstverwirklichungsbooms als »Ego-Trip« oder »Ego-Gesellschaft«. 39 Wenn wir allerdings etwa bei Fromm nicht nur lesen, dass der Mensch Selbstzweck sein soll (»man for himself«), sondern auch, »dass nur der Mensch selbst das Kriterium für Tugend und Sünde bestimmen kann, niemals aber eine Autorität, die ihn transzendiert«, 40 machen Vgl. dies.: Psychologie im Leben unserer Zeit, S. 117. »Besteht das dynamische Equilibrum des gesunden Lebewesens in der Balance der Tendenzen zur Entspannung, Ordnung, schöpferischen Expansion und adaptiver Selbstbeschränkung?«, fragt Bühler (dies.: Der menschliche Lebenslauf, S. 19). Ihre eigene Antwort lautet daselbst: »Vielleicht. Die psychiatrische Erfahrung scheint darauf hinzudeuten, dass exzessive Verfolgung einer oder der anderen unter den genannten Zielrichtungen den Gesamtprozess des individuellen Lebens aus dem Gleichgewicht bringt und zu psychogenen Krankheiten führt.« 36 Ebd., S. 28. 37 Vgl. ebd., S. 109. 38 Vgl. die Kritik Walter Böckmanns in: Das Sinn-System, S. 120. 39 Kleiter verwahrt sich vehement gegen solche entdifferenzierende Identifikationen in: Egozentrismus, Selbstverwirklichung und Moral, S. 2 ff. 40 Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 16 und S. 20. 34 35

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sich berechtigterweise Zweifel an der Humanität der »humanistischen Ethik« breit. »Die Formel ›Was Moral ist, bestimme ich‹ steht zwar für innere Freiheit, aber nichts wird so gern missverstanden wie ein Aufruf zur Freiheit. Meist ist nur von Freiheit wovon, nicht aber von Freiheit wozu die Rede. ›Ich brauche meine Handlungen beim Verfolgen meiner eigenen Interessen nicht zu rechtfertigen‹; ›Das wichtigste ist, mich selbst auszudrücken‹; ›Wenn ich ichselbst bin, hilft dies auch anderen‹ – solche Sätze machen die Fragwürdigkeit eines forschen Selbstverwirklichungskonzeptes deutlich.« 41

Offenkundig droht die Gefahr, dass man auf der Suche nach Glück erneut in kriterienlose Haltlosigkeit oder sogar Verantwortungslosigkeit abdriftet, wenn die Leerstelle des »Wozu« menschlicher Freiheit im Zeichen der Zeit mit »Selbstverwirklichung« gefüllt wird. Teilweise im Rückgriff auf den subjektivistischen romantischen Expressionismus soll zeitgenössischen soziologischen Dokumenten zufolge der grassierende Ruf nach Selbstäußerung, Selbsterfüllung und Authentizität, gepaart mit der Hoffnung auf psychologische Protektion, einen regelrechten »Triumph des Therapeutischen« 42 und eine »riesige therapeutische Industrie« 43 lanciert haben, welche ihrerseits eine irreversible Substitution der Moralphilosophie durch die Psychologie 44 und eine gänzlich privatisierte »Moral der Authentizität« 45 gezeitigt hätten. Es schiene dann tatsächlich so, als ob die Philosophen alle diffizilen Fragen der Werte und der Moral getrost den Psychologen bzw. Psychotherapeuten überlassen dürften, wobei gelte: »Therapie scheint eine Rückkehr zur grundlegenden sensorischen und innerorganischen Erfahrung zu sein, durch den man mit seinem eigenen Organismus eins wird – ohne Selbstbetrug, ohne Verzerrung.« 46 Böckmann: Das Sinn-System, S. 124. »In den Äußerungen der heute in den Vereinigten Staaten verbreiteten human potential-Bewegung sowie in anderen Schriften mit ähnlichem Tenor findet sich eine Reihe von Idealen, die dem romantischen Expressivismus entstammen […]. Die Zielsetzungen sind Selbstäußerung, Selbstverwirklichung, Selbsterfüllung, Auffinden des Echten. […] Diese beiden Elemente – die Unterordnung einiger traditioneller Moralansprüche unter die Erfordernisse der persönlichen Erfüllung und die Hoffnung, mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu können – bilden zusammen die kulturelle Wende, die man als ›Triumph des Therapeutischen‹ bezeichnet hat.« (Charles Taylor: Quellen des Selbst, S. 874 f., vgl. Philip Riff: The Triumph of the Therapeutic, 1966) 43 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 458. 44 Vgl. Daniel Bell: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, S. 90. 45 Luc Ferry: Der Mensch als Ästhet, S. 249. 46 Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit, S. 110. 41 42

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Während wir in Kapitel 6.1 die an den Wurzeln der Selbstverwirklichungstheorien bei den humanistischen Psychologen bereits aufgetauchten Grundschwierigkeiten philosophisch-systematisch erörtern wollen, dass etwa ein rein innenorientiertes Streben nach formloser »Authentizität« sinnlos und eine »natürliche« Entfaltung angeborener Potenzen ohne bewusste Selektion und Bewertung dem Menschen gar nicht möglich ist, sollen diejenigen einer scheinbaren Kontradiktion von Selbstverwirklichungs-Glück und Moral in Kapitel 6.2 zur Diskussion stehen.

6.1 Glück der Selbstverwirklichung: Zur Struktur von »Selbst« und »Selbstverwirklichung« Die Existenzphilosophen, die sich auf Seiten der Philosophie mit dem Problem menschlicher Selbstverwirklichung vergleichsweise am intensivsten auseinandergesetzt haben, auch wenn sie statt von »Selbstverwirklichung« von »Selbstsein« oder »Eigentlichkeit« sprechen, 47 scheinen an denselben konzeptuellen Schwierigkeiten gescheitert zu sein wie die soeben exponierten Modelle der Pioniere humanistischer Psychologen. Wählen wir paradigmatisch Jean-Paul Sartre aus, mündet seine Illustration der Paradoxie menschlichen Seins offenkundig in der Liquidation eines »Selbst« oder einer »IchIdentität« (kurz: »Identität«), welche synonym verwendet werden können. 48 Ähnlich wie Rogers in seinem Erfahrungskongruenzmodell lässt er nämlich den glückssuchenden Selbstverwirklicher nach Authentizität trachten, wobei Authentizität hier allerdings statt auf ungehemmtem Ausdruck auf freier Selbsterschaffung gründet: Während der »Unaufrichtige« (»la mauvaise foi«), sich von seiner Vergangenheit, seinem Körper, seinem Charakter und den übernommenen Normen distanzierend und das faktische Wassein verleugnend, nur das sein wolle, wozu er sich gerade entscheidet, so dass er »Der Begriff ›Selbstverwirklichung‹ taucht bei den klassischen Autoren der Existenzphilosophie zwar nicht auf, wird aber immer wieder in Interpretationen dieser Autoren benutzt, und dies nicht ohne Grund, da die Teile des Kompositums getrennt bei diesen Autoren immer wieder vorkommen, ebenso gleichbedeutende Begriffe (z. B.: ›Selbstsein‹, ›Eigentlichkeit‹).« (Gerhardt: Kritik, S. 47) 48 Vgl. Erikson: »Der Leser wird bemerkt haben, dass unser Begriff Identität sich weitgehend mit dem deckt, was verschiedene Autoren das »Selbst« nennen.« (Erik Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 188) 47

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in der Haltung des »Das-was-man-ist-nicht-sein« verharre, 49 identifiziere sich der »Aufrichtige« (»sincérité«) gerade mit all dem, was er geworden ist, um sich mit diesem »Das-was-man-nicht-ist-sein« gleichfalls jeder Eigenverantwortung zu entziehen. 50 Authentisch wäre ein Mensch im Gegensatz zu diesen beiden Formen der Selbsttäuschung laut Sartre, wenn er sich die Unmöglichkeit von Erkenntnissen oder Feststellungen über sich selbst sowie die Notwendigkeit des Scheiterns des Menschen auf seiner Identitätssuche eingestehen und sie ertragen würde, weil er dazu verurteilt ist, stets das zu sein, was er nicht ist, und nie das zu sein, was er ist, d. h. als selbstbewusstes »Für-sich-Sein« immer schon über sein faktisches »An-sich-Sein« hinaus ist. 51 Gerhard Seel assoziiert solch merkwürdige Identitätspreisgabe mit dem antiken Skeptizismus: »Wie sieht nun die richtige Haltung zur eigenen Existenz aus, die Sartre Authentizität nennt? Es handelt sich um eine Haltung, die viel mit dem antiken Skeptizismus gemein hat, der ja auch primär eine praktische Philosophie war. Sie besteht im bewussten Akzeptieren, Auf-sich-Nehmen und Aushalten des Paradoxes der menschlichen Existenz und unseres notwendigen Scheiterns. […] Seine Freiheit als Wert begreifen heißt also einsehen, dass man nie das ist, was man ist, und stets das ist, was man nicht ist, und dementsprechend leben. Die Ontologie Sartres lehrt, dass alle Werte durch mich wieder außer Kraft gesetzt werden können, und seine Moralphilosophie fügt hinzu: Erkenne das, nimm es auf dich und lebe danach!« 52

Sartre scheint also in seinem Frühwerk einem »freischwebende[n] Dezisionismus und Dynamismus permanenter Auto-(meta-)poiesis« 53 jenseits von Gut und Böse das Wort zu reden. Nicht anders als derjenige, der seine Aufmerksamkeit unter psychotherapeutischer Ägide gänzlich auf die authentischen organismischen Vorgänge in seinem »Selbst« richtet, rennt ein Mensch, der authentisch sein will, indem er sich in der skeptischen Haltung geVgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 132–138, sowie den hilfreichen Kommentar von Martin Löw-Beer: Ist die Leugnung von Willensfreiheit eine Selbsttäuschung?, S. 60 ff. oder von Gerhard Seel: Wie hätte Sartres Moralphilosophie ausgesehen?, S. 280. 50 Vgl. Sartre: ebd., S. 141 f. und S. 157 ff., sowie Löw-Beer: ebd., S. 59 f., mit einer treffenden Erörterung der Übersetzungsschwierigkeiten in Fußnote 7 (ebd., S. 71), oder Seel: ebd., S. 281. 51 Vgl. Sartre: ebd., S. 153. 52 Seel: Wie hätte Sartres Moralphilosophie ausgesehen?, S. 281. Seel stützt sich dabei hauptsächlich auf Sartres Cahiers pour une morale (Paris 1983). 53 Krämer: Integrative Ethik, S. 238. 49

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fällt, immer der zu sein, der er nicht ist, und niemals der zu sein, der er ist, 54 der Fata Morgana einer abstrakten Freiheit jenseits aller normativen Grundorientierungen und situativen Bezüge nach: 55 Wer sich bei der Selbst-Verwirklichung am subjektiv-authentischen Erleben orientiert oder sich je im Augenblick gleichsam neu erschafft, verspielt die konkrete Freiheit der Selbstbestimmung, 56 die immer nur in einer Situation bzw. im Verhältnis zu dieser Situation, zu unserem Körper, zu sozialen Normen möglich ist, wie Sartre dem gesunden Menschenverstand im Grunde Recht gibt. »Hier teilen wir die Forderungen des gesunden Menschenverstandes: empirisch können wir nur gegenüber einem Sachverhalt und trotz diesem Sachverhalt frei sein«, oder kurz: »es gibt Freiheit nur in Situation.« 57 Dieser Verlust konkreter Freiheit durchkreuzt nicht nur den Vorgang der Selbstverwirklichung, sondern impliziert den schlechthinnigen Verlust eines »Selbst«, welches grundsätzlich eine Objektwerdung im Medium der Welt (a) und relative Identität in der Zeit (b) voraussetzt. Statt dem populären Appell zu einem »authentischen Selbst« zu erliegen, gilt es daher, die positive Struktur eines konkreten menschlichen »Selbst« als Basis möglicher Selbst-Verwirklichung zutage zu fördern. (ad a:) Das »Selbst«, wie es von William James und George Mead in die Sozialpsychologie als ein sich selbst bewusst und sich selbst zum Objekt werdendes Subjekt eingeführt wurde, setzt sich notwendig zusammen aus einem aktiven Moment, dem »I« (Mead) oder »reinen Selbst« (James) und einem passiven Moment, dem »me« (Mead) oder »empirischen Selbst« (James). Während das aktive Moment für die menschlichen Möglichkeiten der Die strukturelle Ähnlichkeit zu Kierkegaards Formen der Verzweiflung: verzweifelt man selbst bzw. verzweifelt nicht man selbst zu sein (vgl. Krankheit zum Tode, S. 20 und S. 40–72), springt ins Auge. 55 Vgl. zum gescheiterten Weg in die Freiheit vermittels des Aufstiegs der modernen Psychologie Sennett: Verfall und Ende, S. 17. 56 Wenn das menschliche Dasein »Freiheit« als absolutes Nichtungsvermögen alles faktisch Seienden sein soll (vgl. etwa Mark Hunyadi: Sartres Entwürfe zu einer unmöglichen Moral, S. 85), reißt Sartre eine unüberbrückbare Kluft auf zwischen dem, was der Mensch in Form des »An-sich« ist (Körper, Geschichte, soziale Rolle), und dem, was er als »Für-sich« sein will (in absolut freier Selbstwahl). »Wir sehen uns hier wieder mit der Zweideutigkeit Sartres konfrontiert«, moniert auch Gron: »Die konkrete Situation wird zu einem für die Existenz der Freiheit Gleichgültigen erklärt, zugleich aber heißt es in Das Sein und das Nichts, dass Freiheit nur in der Situation möglich ist.« (Arne Gron: Jean-Paul Sartre, S. 466) 57 Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 845. 54

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Selbstreflexion, bewussten Stellungnahme und spontanen Reaktionen steht, also für die Transzendenz des »Für-sich« (pour soi), rekrutiert sich der passive Teil mit Objekt-Status und von der Seinsweise des »An-sich« (en soi) nach James aus dem materiellen Selbst (Körper, Kleidung, Familie), sozialen Selbst (Status, Rolle) und geistigen Selbst (psychische Dispositionen, Charakter), 58 meint also »das Ensemble meiner Möglichkeiten, der engere Kreis des mir Zugehörigen, mit dem ich der Welt gegenüberstehe.« 59 Hans Krämers Differenzierung von »Ich« und »Selbst« entspricht folglich entgegen seiner eigenen Angabe nur bedingt derjenigen von »I« und »me«, 60 weil das »Selbst« sowohl das aktive »Ich«, die Selbstreflexion, wie das passive »empirische Selbst« umfasst. Wenngleich es sich im eitlen Stolz auf seine abstrakte, alles Seiende transzendierende Freiheit gerne absolut setzt, bildet also das »Ich«, wie Friedrich Nietzsche unermüdlich mahnt, lediglich die Spitze des mächtigen Eisberges »Selbst«, an den es stets zurückverwiesen, mit dem es immer verbunden bleibt. 61 (ad b:) Vice versa führt uns aber auch Sartres Vorliebe für paradoxale Überspitzungen in die Irre mit der Teilthese, der Mensch sei, was er nicht ist, weil er seinen Körper, seine berufliche Rolle oder seinen Charakter nie als pures »An-sich« sei, sondern diese in jedem Augenblick neu als die seinigen zu wählen habe. Denn der Mensch ist all dies aufgrund einer ursprünglichen und außerzeitlichen Wahl eines transzendentalen »normativen Selbst« oder des »Selbst im engeren Sinne«, das gleichsam als Scharnier zwischen dem »reinen Selbst« und »empirischen Selbst« Sartres ontologische Dichotomie überwindet und unserem »Selbst« relative Identität in der Zeit verleiht. Unser »Selbst« zerfällt also keineswegs in ein fortgesetztes bezugsloses, phantastisches Entwerfen von nie einholbaren Möglichkeiten eines reinen »Für-sich« und eines »An-sich«, das wir nur sind, sofern wir es fortwährend mit unserer Wahl bestätigen, so dass man die menschliche Identitätssuche mit Sartre a priori für gescheitert erklären müsste. Vielmehr erlangen wir ein »Selbst im engeren Vgl. Sader, Manfred/Weber Hannelore: Psychologie der Persönlichkeit, S. 153, im Rekurs auf William James: The principles of psychology, Cambridge 1981. 59 Krämer: Selbstverwirklichung, S. 96. 60 Vgl. ders.: Integrative Ethik, S. 217. 61 Vgl. zum Verhältnis von »Ich« und »Selbst« bei Nietzsche Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, S. 295 f. Nietzsche reduziert das »Selbst« allerdings häufig auf das »materielle Selbst«, genauer auf das körperliche Selbst, den Leib mit seinen Trieben. 58

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Sinne« in der Regel nach einem langwierigen Oszillieren zwischen kreativen Selbstbildern und vorhandenen Identifikationsstrukturen während der pubertären »normativen Krise« 62 , welche kraft einer inneren Verpflichtung zu einem prospektiven Selbstentwurf und zu festen Leitlinien unseres Lebens überwunden werden kann. 63 Dieses notwendig teleologische Sich-selbst-Verstehen, diese umfassende, ursprünglich nur im Bewusstsein existierende Interpretation unserer materiellen, sozialen und geistig-psychischen Dispositionen darf als Synonym für das in Kapitel 5.1 analysierte Selbst- und Lebenskonzept, das transzendentale Persönlichkeitskonstrukt gelten. 64 Dank einer solchen Selbstdeutung sind wir niemals wie Sartres paradigmatischer Kellner »als eigenschaftsloses Gespenst zwischen Vergangenheit und Zukunft eingesperrt«, 65 welcher entweder unaufrichtig Kellner ist, indem er sich augenblickshaft in freier Wahl zum Kellnersein entschließt, oder aber schein-aufrichtig sein Kellnersein aus seiner bisherigen Handlungsgeschichte erschließt, sondern wir wären Kellner aufgrund eines normativen Selbstverständnisses, welches all unseren Handlungen Konsistenz und Kontinuität verleiht. 66 Mit der inneren Verpflichtung zu einem individuellen prognostischen Selbstentwurf ist damit unzweifelhaft der entscheidende Markstein für eine gelingende Selbstverwirklichung gelegt – und doch steht die Umsetzung des Planes noch aus! Was beim Selbstverwirklichungs-Projekt realisiert wird, ist offenkundig weder ein bereits vorhandenes noch ein dispositionelles »faktisches Selbst« entsprechend der Samenkorn-Analogie der humanistischen Psychologen, sondern ein erst zu bildendes und konkretisierendes transzenErik Erikson: Jugend und Krise, S. 19. Vgl. zur Identitätsbildung, die zur Erlangung eines »Selbst« oder eine »Persönlichkeit« führt, Kapitel 5.1, S. 377 ff. Haußer kommentiert das konstitutive Merkmal der inneren Verpflichtung so: »Innere Verpflichtung (›commitment‹) bezeichnet die innere verbindliche Haltung, sich auf einen Gegenstand einzulassen, sich zu binden, sich festzulegen, es ernst zu meinen […], sowie das nach außen gerichtete Engagement gegenüber dem Gegenstand.« (Haußer: Identitätsentwicklung, S. 85, ohne Sperrungen) 64 Vgl. zur Theorie persönlicher Konstrukte Kapitel 5.1, S. 373 f. »Selbstkonzept ist definiert als generalisierte Selbstwahrnehmung«, merkt Haußer an (in: Identitätsentwicklung, S. 56, ohne Sperrungen) 65 Löw-Beer, der hier mit Sartres Subjekt- und Handlungstheorie ins Gericht geht, in: Ist die Willensfreiheit eine Selbsttäuschung?, S. 68. 66 Obgleich Sartre in seiner phänomenologischen Anthropologie einen transzendentalen Initialentwurf in Erwägung zieht (vgl. Das Sein und das Nichts, S. 804 f.), scheint dieser beim Kellner-Beispiel (ebd., S. 139 f.) keine Verwendung zu finden. 62 63

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dentales »normatives Selbst« als Ziel oder Kompass des teleologischen Formierungsprozesses – auch wenn dies im Kontrast zu einem rein »idealen Selbst« sinnvollerweise den inneren und äußeren faktischen Dispositionen Rechnung trägt. 67 »Selbstverwirklichung bezieht sich dann auf das eigentliche, normative Selbst im Unterschied zu einer wertneutralen Aktualisierung«, versucht auch Krämer die schillernde Äquivokation des Selbstbegriffs einzudämmen, so dass »Selbstverwirklichung« als sukzessiver Umsetzungsprozess des »normativen« ins »faktische Selbst« auf dem Umweg über das zielgerichtete Handeln in der Außenwelt begriffen werden kann: »Normativ ist dasjenige Selbst, von dem wir uns wählend verstehen, der Entwurf, auf den hin wir uns verwirklichen wollen, das eigentliche, wahre, selbsthafte Selbst, das Selbst im Selbst; faktisch das, als welches wir uns jeweils vorfinden.« 68 Urheber dieses transaktionalen Entwicklungprozesses müsste der aktive Teil unseres Selbst, d. h. das reflektierende »Ich« oder »reine Selbst« sein, obgleich das transzendentale Selbst- oder Persönlichkeitskonzept wie bereits betont auch ohne bewusste Repräsentanz permanent wirksam ist. 69 Da sich ein »Selbst« also zuerst in unserem Bewusstsein konstituiert, um als Maßstab der Selektion möglicher Welt-Selbst-Verhältnisse in der Auseinandersetzung mit unserer Umgebung für Konsistenz in unserem Handeln, für spezifische Formen unseres »empirischen Selbst« und damit für die Ausführung unseres Plans zu sorgen, wäre der menschlichen Realität angemessener als Sartres subversive Identitätsformeln »ist-nicht-was-er-ist« und »ist-was-er-nicht-ist« Sören Kierkegaards die ethische Selbstverpflichtung und den kontinuierlichen Prozess akzentuierender Ausdruck: »wird, was er wird« 70 . Sowie ein normatives, nicht faktisches Selbst realisiert wird, ist diese Umschreibung einer ethischen Existenz auch zutreffender als Nietzsches ästhetisch-ethische Losung »wie man wird, was man ist« 71 . Halten wir fest: Weil nur da sinnvollerweise von einem »Selbst« Ein »Ideal-Selbst« meint in Rogers Persönlichkeitstheorie ein Wunschbild davon, wie wir uns gerne sähen, das oftmals ohne Rücksicht auf die eigenen Bedürfnisse und organismischen Regungen unter dem Zwang der Umwelt projektiert wird und damit leicht zu Inkongruenzen mit unseren Erfahrungen führt (vgl. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit, S. 230 f.). 68 Krämer: Selbstverwirklichung, S. 107 und S. 111 f. 69 Vgl. Kapitel 5.1, S. 375 f. 70 Sören Kierkegaard: Entweder–Oder Bd. 2, S. 729. 71 Vgl. oben, S. 469. 67

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oder einer »Ich-Identität« gesprochen werden kann, wo eine Objektwerdung im Medium der Welt (a) und relative Identität in der Zeit (b) vorliegt, kann Selbst-Verwirklichung nur gelingen kraft einer innerlichen Verpflichtung zu einem transzendentalen, prospektiven normativen Selbstentwurf. Eine solche Selbstverwirklichung als kontinuierliche Realisation eines »normativen Selbst« in Raum und Zeit wird aber strukturell konterkariert durch die beiden gegenwartsmächtigen Tendenzen des Narzissmus sowie des Rückzugs aus dem öffentlichen in den privat-intimen Bereich. »Narzissmus« kann dabei längst nicht mehr nur als psychoanalytischer Term für Autoerotismus mit Zuwendung der gesamten Libido auf sich selbst figurieren, sondern als »neuer Sozialisationstypus« mit ostinatem »Streben nach Befriedigung, das nicht so sehr über Objektbeziehungen vermittelt wird, sondern über das Erleben von narzisstischen Gleichgewichtszuständen.« 72 Erweitert man die individualpsychologische Analyse um die politisch-gesellschaftliche Dimension, ist als Lebensanschauung in unserer Gesellschaft das narzisstische Symptom zu diagnostizieren, »die gesellschaftliche Wirklichkeit dort als bedeutungsvoll zu verstehen, wo sie das Bild des Selbst widerspiegelt« 73 : »Wenn man das eigene Leben als Selbstzweck betrachtet, interessiert man sich vor allem dafür, ob die Ereignisse einem ›gefallen‹, kaum aber dafür, ob sie etwa über das eigene Leben hinausweisen.« 74 Alles wird primär darauf hin beurteilt, ob man sich darin wiederfindet, ob etwas als Medium des Selbstausdrucks und der Selbstverwirklichung, als Symbolisierung seiner selbst Verwendung findet, so dass sich ein monotones Lamento über eine kontinuierlich entwertete Außenwelt – »langweilig«, »bedeutet mir nichts«, »hat mich kalt gelassen« – ergeht. 75 Aufgrund dieser Entwertung der Welt tritt man vermehrt den Rückzug aus dem enttäuschungsschweren öffentlichen Raum an, der statt als Medium der Objektwerdung allenfalls noch als narzisstische Selbst-Bespiegelung in Dienst genommen wird. Immer häufiger bringt man daher als Merkmal der Neuzeit den GleichNach dem Erscheinen von Thomas Ziehes Publikation Pubertät und Narzissmus (1975) zirkuliert das Schlagwort des »Neuen Sozialisationstypus« (kurz: NST) in Pädagogik und Psychologie. Vgl. die phänomenologische Beschreibung des NST bei Werner Bohleber/Marianne Leuziger: Narzissmus und Adoleszenz, S. 126–129 (Zitat ebd., S. 126). 73 Sennett: Verfall und Ende, S. 410. 74 Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks, S. 89. 75 Vgl. ders.: Die Erlebnisgesellschaft, S. 14. 72

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gewichtsverlust zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich in Anschlag, die im Altertum ein ausgewogenes gegenseitiges Bedingungsverhältnis bildeten, welches aber im Zuge der Christianisierung zugunsten des Eigenen und Privaten zusehends aus dem Lot geriet. 76 Während im griechischen Altertum die Privatsphäre, in der die körperlichen Funktionen, die Befriedigung primärer Bedürfnisse vonstatten gehen, als Beraubung (»privatio«) der höchsten Möglichkeiten und menschlichen Fähigkeiten galt, 77 setzte sich das neuzeitliche Subjekt in seiner Partikularität und Privatheit absolut und depravierte die öffentliche politische Sphäre zum lediglich indirekten, verstellenden Ausdrucksfeld seiner selbst. 78 Trotz der neuerlichen Radikalisierung des Privaten zur Intimität 79 und der von der psychoanalytischen Industrie lancierten Fluchtwelle in einen Intimitätskult mit den Gratifikationswerten »Wärme, Vertrauen und die Möglichkeit zu offenem Ausdruck von Gefühlen« 80 muss eine kritische Glücksphilosophie mit Hannah Arendt darauf insistieren, dass sich am Wesen des Privaten, d. h. an seinem »Privatio«-Charakter, grundsätzlich nichts geändert hat. 81 Indem das ursprüngliche normative Selbstverständnis sowohl die Art und Weise unserer Selbstreflexion und -bewertung wie auch unseren Lebens- und Handlungsstil prägt – wobei die dadurch geformte Lebensgeschichte, die gewählten Lebensumstände und sozialen Rollen wiederum auf unseren Denkstil Einfluss nehmen –, beruht unser Identitätsgefühl im Prozess der Selbstverwirklichung auf »der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und KonVgl. Sennett: Verfall und Ende, S. 15 ff. oder Hannah Arendt: Vita activa, S. 74 f. Vgl. das konzise Fazit ebd., S. 48: »Wer nichts kannte als die private Seite des Lebens, wer wie der Sklave keinen Zutritt zum Öffentlichen hatte oder wie die Barbaren ein allen gemeinsames Öffentliches gar nicht erst etabliert hatte, war nicht eigentlich Mensch.« 78 Vgl. etwa Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen, S. 150 f. 79 Vgl. Arendt: Vita activa, S. 59 f. 80 So lautet Sennetts Umschreibung von »Intimität« in: Verfall und Ende, S. 17. 81 Menkes Replik auf Arendts Gegenwartskritik verkennt ihrerseits die Paradoxien und Irrwege des Authentizitätsstrebens, welches angeblich von der Dichotomie von natürlicher Notwendigkeit des Privaten und sittlicher Freiheit der Öffentlichkeit nicht tangiert werde: »Die partikulare Subjektivität in ihrer intimen Existenz liegt jenseits dieser Alternative. Denn was sie auszeichnet und was Arendt entgeht, ist das, was sie als Individualität kennzeichnet: als einen freien Vollzug des eigenen Lebens, der weder an Bedürfnisbefriedigung noch an Tugend, sondern an Authentizität orientiert ist. Das ist die Gestalt, die die partikulare Subjektivität im Übergang vom Privaten zum Intimen gewinnt.« (Menke: Tragödie im Sittlichen, S. 154) 76 77

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tinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.« 82 Wenn Erikson und Mead die »Identität« als ständige Wechselwirkung zwischen Subjekt und (sozialer) Welt, als dynamischen Prozess verstanden wissen wollen, 83 stellen sie wohl nicht den als zweites Identitäts-Merkmal (b) ins Feld geführten »Charakter eines (relativ) Zuständlich-Dauerhaften« 84 des Selbst in Abrede, sondern legen lediglich den Ton auf die Differenzierungsmöglichkeiten eines Selbst gemäß dem Kreismodell der Identitätsentwicklung: Unser Selbst im engeren Sinne, das relativ stabile Selbstkonzept bildet zwar einerseits die Grundlage für unsere Wahrnehmungsakzentuierung, Situationsinterpretation und Handlungsrichtung (Prozess der deduktiven Differenzierung oder Assimilation), kann aber andererseits durch unerwartete Ereignisse und neue Erfahrungen auch modifiziert werden (Prozess der induktiven Differenzierung oder Akkomodation). 85 Grundsätzlich gehen sowohl Erikson wie Mead bei ihren soziologischen Identitätskonzepten von der impliziten normativen Hintergrundannahme aus, dass es »gut sei, eine Identität zu bilden«, weil empirisch nachweisbar »das Maß seelischer und körperlicher Gesundheit und subjektiven Glücksempfindens bei gelingender Identitätsbildung höher sei«, wohingegen »im Verlust der Ich-Identität oder im Scheitern von Identitätsbildungsprozessen etwas anderes zu sehen als Unglück für die Betroffenen« gänzlich abwegig erschiene. 86 Obgleich mit der inneren Verpflichtung auf ein »normatives Selbst« die Identitäts- oder Selbstfindung am Ende der pubertären Phase im wesentlichen abgeschlossen sein dürfte, 87 bleibt die Identitätsentwicklung oder Selbstverwirklichung ein lebenslanger, bisweilen von

So lautet die meistzitierte Identitätsdefinition von Erikson, in: Identität und Lebenszyklus, S. 18. 83 »Die Identität ist nicht so sehr eine Substanz als ein Prozess, in dem die Übermittlung von Gesten in einen Organismus verlegt wurde.« (Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 222) 84 Krämer: Integrative Ethik, S. 165. 85 Vgl. das von Whitbourne/Weinstock (1982) auf den Plan gebrachte Kreismodell der Identitätsveränderung, dargestellt bei Haußer: Identitätsentwicklung, S. 100 f., welches sich explizit auf Piagets komplementäre Entwicklungsprinzipien der Assimilation und Akkommodation bezieht (vgl. dazu etwa Thomas Kesselring: Jean Piaget, S. 79 ff.). 86 Hans Joas: Die Entstehung der Werte, S. 237 f. Aus diesem Grunde steht der »normative Charakter« dieser Theorien laut Joas »außer Frage« (ebd.). 87 Vgl. dazu Kapitel 5.1, S. 378 ff. 82

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Identitätskrisen durchschüttelter Prozess. Da sich der menschliche Selbstverwirklichungsprozess in einer hochkomplexen Relation zwischen dem Selbst und einer sich verändernden Welt vermittels der komplementären Tendenzen der Assimilation und Akkommodation vollzieht, muss der Glücksaspirant sein Selbstverwirklichungs-Glück offenkundig kraft einer »qualifizierten Relation zwischen Selbst und Welt« 88 zu erlangen suchen. Mit dem Akzent auf dem »Selbst« im prozessualen »Welt-Selbst-Verhältnis« kann als formal-allgemeines Kriterium für eine gelingende Selbstverwirklichung unschwer die erfolgreiche, möglichst vollständige Umsetzung des normativen ins faktische Selbst (1. Kriterium) statuiert werden. Lassen sich noch weitere, spezifischere Kriterien zur Beurteilung einer beglückenden menschlichen Selbstverwirklichung festmachen? Nachdem wir die Gütekriterien eines glücksfavorablen Selbstkonzeptes bereits in Kapitel 5.1 exponierten, auf das wir hier daher lediglich verweisen, 89 ließe sich im Rekurs auf Jean Piagets Entwicklungspsychologie als Bedingung einer gelingend-beglückenden Selbstverwirklichung zusätzlich ein Gleichgewicht (Äquilibration) von Assimilation und Akkommodation, von deduktiver und induktiver Differenzierung vermuten, zumal auch die theoretischen Pioniere des Kreismodelles (Whitbourne/Weinstock) »ein Gleichgewicht zwischen induktiver und deduktiver Differenzierung für das immer wieder anzustrebende Ziel bei der Identitätsentwicklung eines Menschen« halten. 90 Da aber laut Piaget die primäre Aufgabe von Schemata bzw. Konzepten in der Assimilation, dem aktiven Strukturieren und Sich-Aneignen von Welt besteht, käme der Akkomodation lediglich die Hilfsfunktion eines Korrektivs zu, auf dass wir nicht durch das Ausblenden identitätsgefährdender Erfahrungen mittels wirklichkeitsverzerrender Aufmerksamkeitsfilter unter der Hand ins Fahrwasser eines illusionären Selbstverwirklichungsglücks geraten. 91 Glücksförderlich scheint die Dialektik von Assimilation und Akkomodation allenfalls insofern zu sein, als sie Piagets NachforKrämer: Selbstverwirklichung, S. 95. Diese Glücksdefinition leiteten wir im glücksgrammatischen Kapitel 3.1 bereits in der Auseinandersetzung mit den antiken Glückstheoretikern her (vgl. insbes. S. 157 f.). 89 In Kapitel 5.1, S. 388–402, entwickelten wir eine Liste von vier Gütekriterien eines Selbstkonzeptes als »transzendentalem Selbst«. 90 Haußer: Identitätsentwicklung, S. 100. 91 Vgl. Kesselrings Kommentar in: Jean Piaget, S. 81–89 oder Franz Buggle: Die Entwicklungspsychologie Jean Piagets, S. 36. 88

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schungen zufolge zu einem komplexeren Organisationssystem, 92 zu erhöhter Kontrollfähigkeit der Außenwelt (innere Stabilität), zur Erweiterung des Interessehorizontes und Steigerung der Aktivitätspotentiale führt, 93 denen wir in unterschiedlichen Kontexten bereits als Glückskorrelaten begegnet sind. Insbesondere das Ausmaß an objektiver Kontrollfähigkeit (2. Kriterium) übernimmt in all jenen Identitätstheorien die Funktion eines Gradmessers für »Selbstverwirklichung«, wo es als Kontrastprogramm zu einer sozialpsychologisch verstandenen »Entfremdung« mit dominierender Akkommodation figuriert. Egalitäre und permissive gesellschaftliche Verhältnisse wären unter diesem Aspekt unserer Kontrollfähigkeit und Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zweifellos günstig, indem sie die Transformation unserer persönlichen Fähigkeiten und Ziele in äußere, soziale Wirklichkeit erleichtern. 94 Diese Kontrollmächtigkeit muss dabei an ein hohes Maß an längerfristig erworbenen psychischen Kompetenzen und Grunddisponibilitäten als »das voll bewährte, jederzeit aktualisierbare Können« 95 geknüpft sein, weil der durch eine bloße Kontrollillusion stimulierte Selbstverwirklichungsprozess auf kurz oder lang zum Scheitern verurteilt ist. Denn wie die neuere Kontrollforschung nachweist, vermag »eine persönliche Beeinflussungserwartung, die das Maß an objektiver Beeinflussungswahrscheinlichkeit bei weitem übersteigt, auf Dauer weder wirksam Handlungen zu steuern noch psychische Kompensationen zu erbringen.« 96 Die »höchste Glücksform«, so Krämer, sei infolgedessen beschlossen in der »Kombination eines gesicherten Grundkönnens mit der Erfahrung eines souveränen Könnendwerdenkönnens, etwa im

Die Komplexität fungiert als drittes Gütekriterium von Selbstkonzepten in Kapitel 5.1, S. 392 ff. 93 Vgl. die Zusammenstellung in Buggle: Die Entwicklungspsychologie, S. 37–40. 94 Wichtig für die Identitätsentwicklung eines Menschen ist »das Ausmaß an Möglichkeiten seiner Selbstverwirklichung oder – negativ ausgedrückt – den Grad an auferlegter Entfremdung. Mit diesem bipolaren Konzept Selbstverwirklichung versus Entfremdung ist letztlich nichts anderes als das Ausmaß an ›objektiver Kontrolle‹ gemeint […], wobei allerdings der Akzent eindeutig auf den hierarchischen oder egalitären gesellschaftlichen und Gruppenverhältnissen liegt, die den einzelnen in seinen Möglichkeiten fördern oder behindern, Bedürfnisse zu befriedigen seine Interessen zu realisieren und so innerlich Gefühltes, Ersonnenes, Geplantes zu äußerer, sozialer Wirklichkeit zu machen.« (Haußer: Identitätsentwicklung, S. 161, ohne Sperrungen) 95 Krämer: Selbstverwirklichung, S. 112, Fußnote 41. 96 Haußer: Identitätsentwicklung, S. 93. 92

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Erlebnis anhaltend sich bewährender Kreativität, kontinuierlich sich erweiternden und vertiefenden Vermögens oder des beständig sich einstellenden Erfolghabens.« 97 In naher Verwandtschaft mit diesem zweiten prozedural-formalen Kriterium gelingender und beglückender Selbstverwirklichung, der objektiven Kontrollfähigkeit als Ausmaß, in dem »das Handeln Weltdispositionen dem Unverfügbaren abringt und in verlässlicher Weise verfügbar macht«, 98 steht das sowohl von philosophischen, soziologischen wie psychologischen Identitätstheoretikern namhaft gemachte Kriterium des Selbstvertrauens oder Selbstwertgefühls (3. Kriterium). Im Rahmen verschiedener empirisch-psychologischer Studien wird zum einen immer wieder auf die hohe Korrelativität von Glück und großem Selbstwertgefühl aufmerksam gemacht, 99 und werden zum andern die »glücklichen Menschen« häufig als Personen charakterisiert, die über »ein positives Selbstbild, hohe Selbstachtung, ein befriedigendes Identitätsgefühl« verfügen. 100 Der FlowTheoretiker Mihaly Csikszentimihalyi setzt den von Glück getragenen zielgerichteten Lebensvollzug in Analogie zu einem durch »unbewusste Selbstsicherheit« stimulierten künstlerischen Schaffensprozess eines originellen Künstlers, der sein Schaffen weder in den Dienst einer stur verfolgten festen Vorstellung noch auch sozialer Vorgaben in Form der Nachfrage auf dem Kunstmarkt stellt: »Die meisten Menschen laufen aufgrund ihrer genetischen Programmierung und gesellschaftlichen Konditionierung auf so starren Bahnen, dass sie sämtliche Chancen ignorieren, einen anderen Kurs einzuschlagen. Ausschließlich nach genetischen und gesellschaftlichen Instruktionen zu leben ist in Ordnung, solange alles gut verläuft. Doch in dem Moment, wenn biologische oder gesellschaftliche Ziele nicht erfüllt werden – was langfristig unvermeidlich ist –, muss man neue Ziele formulieren und eine neue flow-Aktivität für sich schaffen, sonst verschwendet man seine Energien in innerem Chaos. Doch wie schafft man es, diese alternativen Strategien zu entdecken? Die Antwort ist schlicht: Wenn man mit unbewusster Selbstsicherheit operiert, für die Umwelt offen und eins mit ihr bleibt, taucht vermutlich von selbst Krämer: Integrative Ethik, S. 167. Ders.: Selbstverwirklichung, S. 118. Vgl. zur empirischen Verifikation der Korrelation zwischen Glück und Kontrollfähigkeit auch Kapitel 5.1, S. 404, Fußnote 254. 99 Vgl. Seymour Epstein: Entwurf einer integrativen Persönlichkeitstheorie, S. 38 oder Philipp Mayring: Psychologie des Glücks, S. 94. 100 Mayring: ebd., S. 85, mit Berufung auf M. W. Fordyces Studie Human happiness von 1974. 97 98

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eine Lösung auf. Der Prozess, neue Ziele im Leben wahrzunehmen, ähnelt in vieler Hinsicht der Erschaffung eines originellen Kunstwerkes.« 101

Während nämlich der konventionelle Künstler mit einer fixen Vorstellung an die Leinwand herantrete, »ohne auf die Möglichkeiten zu reagieren, die sich aus den entstehenden Formen anbieten«, 102 erlebe der originelle Künstler mit nicht weniger technischen Fähigkeiten, aber mit mehr Vertrauen auf die tief empfundene innere Bildvorstellung wesentlich mehr Flow in der sensiblen Interaktion mit dem Geschehen auf der Leinwand. Im Rekurs auf die in Kapitel 5.1 entwickelte Symptomatik glücksfavorabler Persönlichkeitssysteme ließe sich hinsichtlich dieses glücklicheren »originellen Künstlers« diagnostizieren, dass seine Charakterdispositionen Gelassenheit und (Selbst-)Vertrauen die ebenfalls glücksförderlichen instrumentellen Dispositionen Phantasie und Intelligenz aktivieren und dadurch die kognitive Aufgeklärtheit, Revisions- und Zukunftsoffenheit seines Schaffens steigern. 103 »Selbstvertrauen« fungiert in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie nachgerade als »Allerweltsvariable«, 104 und auch in der Alltagssprache verwenden wir die Begriffe »Selbstvertrauen«, »Selbstbewusstsein«, »Selbstachtung« oder »Selbstwertgefühl« oft synonym und vage, weshalb vorerst versucht werden muss, sie gegeneinander abzugrenzen und ihre jeweilige Bedeutung für ein glücksversprechendes Selbstverwirklichungsstreben herauszustellen: »Selbstvertrauen« meint im normalsprachlichen Verständnis ganz elementar ein »Sichverlassen auf die eigenen Fähigkeiten, Stärken und Bewältigungsstrategien angesichts gestellter Aufgaben bzw. auftretender Konflikte.« 105 Damit bildet das »Selbstvertrauen« offenkundig die emotionale Entsprechung zur (objektiven) Kontrollfähigkeit, d. i. dem Vermögen, auf bedeutsame Umstände und Ereignisse der Außenwelt Einfluss nehmen zu können (2. Kriterium). 106 Obgleich John Rawls ein solches »Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Mihaly Csikszentmihalyi: Flow, S. 272 f. Ebd. 103 Damit sind das zweite und dritte Gütekriterium von Selbstkonzepten angesprochen. Vgl. Kapitel 5.1, S. 391 f. 104 Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 169. 105 Artikel »Selbstvertrauen« in Hillig (Bearb.): Die Psychologie (Schülerduden), S. 364. 106 Haußer affirmiert: »Im Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein liegen die emotionalen Entsprechungen der Kontrollmotivation.« (Haußer: Identitätsentwicklung, S. 91) 101 102

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seine Absichten, so weit es einem eben möglich ist, auszuführen«, neben dem »Selbstwertgefühl« als zweite Komponente der »Selbstachtung« deklariert, 107 müsste man strenggenommen im Anschluss an Axel Honneths Konzept dreier Anerkennungsweisen folgende Dimensionen einer praktischen Selbstbeziehung auseinanderhalten: Eine emotionale Zuwendung im »Selbstvertrauen«, hauptsächlich auf einen engeren Bereich von Primärbeziehungen beschränkt, die kognitive Achtung als »Selbstachtung« mit sozialer Dimension und schließlich die soziale Wertschätzung, konkretisiert zur »Selbstschätzung«, vom normativen Standpunkt aus mit Blick auf eine bestimmte Wertgemeinschaft. 108 Da man, wie Karl Hausser am Beispiel der ersteren emotionalen Dimension demonstriert, bei jeder Anerkennungsweise eine individuelle von einer sozialen Perspektive separieren kann, müssten konsequenterweise sechs Aspekte positiver praktischer Selbstbeziehung differenziert werden: In emotionaler Hinsicht »Selbstvertrauen« (individuell) und »Selbstbewusstsein« (sozial), in kognitiver »Selbstzufriedenheit« (individuell) und »Selbstachtung« (sozial), in normativer »Selbstwertgefühl« (individuell) und »Selbstschätzung« (sozial). Hausser expliziert den hierbei jeweils vorzunehmenden Perspektivenwechsel so: »Selbstvertrauen betrifft die individuelle, Selbstbewusstsein die soziale Perspektive. Selbstvertrauen ist die Erfolgszuversicht in Hinblick auf die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu befriedigen, eigene Handlungsziele zu erreichen. Es ist das Vertrauen auf die eigenen Kompetenzen und auf die situative Gewandtheit. Selbstbewusstsein im besonderen, auch Selbstsicherheit, ist hingegen die Erfolgszuversicht in Hinblick auf die Fähigkeit, Zustimmung zu finden, andere zu überzeugen, sich zu behaupten und durchzusetzen.« 109

Nachdem sich bei unseren emotionspsychologischen Studien herausstellte, dass jedes Gefühl als qualitatives Moment ein kognitives Urteil und als quantitatives einen psychophysischen Spannungszustand enthält, 110 kann kein Zweifel daran bestehen, unser »Selbstvertrauen« sei untrennbar mit der kognitiven Komponente der »Selbstzufriedenheit« verkoppelt, d. h. mit der Einschätzung, die weJohn Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 479. Vgl. die übersichtliche schematische Darstellung dieser drei Anerkennungsweisen nach Axel Honneth (Kampf um Anerkennung, S. 45) in: Detlef Horster: Postchristliche Moral, S. 272. 109 Haußer: Identitätsentwicklung, S. 91. 110 Vgl. Kapitel 3.2, S. 209 f. 107 108

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sentlichen Ziele unseres Lebens gingen in Erfüllung, welche koinzidiert mit der auf Erfahrung gegründeten generalisierten Kontrollüberzeugung. Des weiteren liegt auf der Hand, dass jede kognitive Selbsteinschätzung an bestimmte Wertmaßstäbe gebunden ist, mithilfe derer die erreichten Ziele oder unser Lebenskonzept als solches taxiert werden, weil wir per definitionem immer nur nach dem »Guten« streben, 111 wodurch sich die »Selbstzufriedenheit« als mit dem »Selbst(wert)gefühl« liiert erweist. 112 Auf der Suche nach einem vernünftigen, nicht-illusionären Glück macht die kontrovers diskutierte psychologische Fragestellung, ob wir in jedem Falle bestrebt seien bzw. sein sollten, unser Selbstwertgefühl zu erhöhen oder aber eine realistische Selbsteinschätzung zu gewinnen, genauso wenig Sinn wie diejenige nach der eudaimonologischen Priorität von subjektiver Kontrollilusion oder objektiver Kontrollfähigkeit. Denn es gilt, dass »wir in erster Linie bestrebt sind, unser Leben und unsere Erfahrungen vorhersagen und kontrollieren zu können, und dazu bedarf es eben einer einigermaßen realistischen Selbsteinschätzung. Unter Umständen ziehen wir daher selbst ein negatives Bild, das wir für realistisch halten, einem schöngefärbten vor«, weil wir »auf Dauer auch im Hinblick auf unser Selbstwertgefühl besser« fahren. 113 Gemäß unserer schematischen Darstellung der sechs Aspekte praktischer Selbstbeziehungen dürfte das »Selbstwertgefühl« allerdings kein »Gefühl« sein, sondern eher wie bei Rawls’ Definitionsversuch »die sichere Überzeugung, dass die eigene Vorstellung vom Guten, der eigene Lebensplan, wert ist, verwirklicht zu werden.« 114 Der systematisch gesehen missverständliche Begriff zeigt indes gerade an, dass die hier auseinanderdividierten Dimensionen gar nie getrennt voneinander vorkommen, weshalb man alltagssprachlich nicht ohne jede Berechtigung mit »Selbstvertrauen« oder »Selbstwertgefühl« das gesamte komplexe Gefüge in individueller Perspektive anspricht. Begibt man sich aber mit der Supposition einer engen Korrelation Vgl. den Beginn der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Haußer nennt als Quelle des Selbstwertgefühls eines Menschen neben der »Bewertung generalisierter Kontrollüberzeugung« (1) und der »Bewertung von Selbstkonzepten« (2) die Generalisierung einer situativen Selbstbewertung angesichts einschneidender Erlebnisse wie Prüfungserfolg oder Partnerverlust (3) (vgl. Haußer: Identitätsentwicklung, S. 66 f.). 113 Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 169 f. Die Frage nach einem generellen und universellen Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung lässt sich, so der neuste Stand der Forschung, empirisch ohnedies nicht generell beantworten (vgl. ebd.). 114 Rawls: Eine Theorie, S. 479. 111 112

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von emotionalem »Selbstvertrauen« und kognitiv-normativem »Selbstwertgefühl« als »prinzipiell erlernbare[m] Gefühl für den eigenen Wert« 115 und Antonym zum »Minderwertigkeitsgefühl« nicht unvermeidlich in einen Widerspruch zum psychologischen Theorem eines frühkindlich entwickelten »Urvertrauens« bzw. »Urmisstrauens« (Erikson) oder eines angeborenen, allenfalls zu kompensierenden »Minderwertigkeitsgefühls« (Adler)? Oder sind »Selbstvertrauen«, »Selbstzufriedenheit« und »Selbstwertgefühl« mitsamt ihren sozialen Entsprechungen so eng an ein erst relativ spät ausgeformten Lebenskonzept gebunden, dass bei Kindern höchstens Vorformen derselben festgestellt werden können? Nach Erikson entspringt das »Urvertrauen« »einem Stadium, wo die Ganzheit eine Sache des physiologischen Gleichgewichts ist, das durch die Wechselseitigkeit zwischen den Bedürfnissen des kleinen Kindes zu bekommen, und dem Bedürfnis der Mutter zu geben, aufrechterhalten wird.« 116 Das in einer solchen mütterlichen Symbiose entwickelte »Urvertrauen« stelle dabei die unabdingbare Voraussetzung für eine gesunde und glückliche Persönlichkeit dar: »Als erste Komponente der gesunden Persönlichkeit nenne ich das Gefühl eines Ur-Vertrauens, worunter ich eine auf die Erfahrungen des ersten Lebensjahres zurückgehende Einstellung zu sich selbst und zur Welt verstehen möchte. Mit ›Vertrauen‹ meine ich das, was man im allgemeinen als ein Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens kennt, und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst.« 117

Die Art und Weise, wie die Mutter die Bedürfnisse des kleinen Kindes in den ersten Lebensjahren befriedigt, ob verlässlich oder unzuverlässig, sicher oder unsicher, liebevoll oder lieblos, sowie die Art der Entwöhnung von der Mutterbrust evozieren nachvollziehbarerweise eine vertrauensselige oder misstrauische Grundeinstellung des Kindes gegenüber der Außenwelt, wobei es sich selbst in dieses undifferenzierte Urvertrauen oder -misstrauen miteinbezieht. Während Erikson eine glückliche bzw. depressive Grundstimmung als unmittelbare Folge von Urvertrauen bzw. Urmissvertrauen betrachtet, 118 müssen mit Sicherheit noch einige weitere entwicklungspsyArtikel »Selbstwertgefühl« in Hillig: Die Psychologie, S. 364. Erikson: Jugend und Krise, S. 81. 117 Ders.: Identität und Lebenszyklus, S. 62. 118 Vgl. ebd., S. 66, ders.: Jugend und Krise, S. 97 f. oder Leonhard Schlegel: Grundriss der Tiefenpsychologie, Bd. 3, S. 251 ff. 115 116

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chologische Schritte zur Erlangung eines reifen, unser Lebensglück tragenden Selbstvertrauens in Rechnung gestellt werden. Da aber die Fundamente eines in der Pubertät ausdifferenzierten Selbst- und Weltvertrauens unstreitig bereits im Rahmen des »ursprünglichen Narzissmus« 119 gelegt werden, wo der Mensch sein Leben noch nicht in die eigene Hand nehmen kann, darf als eudaimonologische Maxime für alle (angehenden) Eltern mit Günther Bien formuliert werden: »Einen solchen sicheren Stand in der Welt durch Akzeptieren seiner selbst, verbunden mit aktiver Zuwendung zu anderen und zu anderem zu vermitteln, gehört zu dem Wichtigsten, was Eltern ihren Kindern mitgeben müssen, und was vielleicht sie allein ihnen mitgeben können.« 120 Sobald das Kind aus dem ursprünglichen physiologischen Gleichgewicht der symbiotischen Mutterbeziehung hinausgeworfen ist in die ihm bedrohlich-übermächtig gegenüberstehende Welt, wird es unabwendbar von einem Gefühl der Hilflosigkeit, der eigenen Unzulänglichkeit, der Minderwertigkeit überfallen. In diesem Sinne ist Adler, der das Minderwertigkeitsgefühl zum Anfang und Grundprinzip des menschlichen zielgerichteten Lebens auserkürt, durchaus beizupflichten: »Menschsein heißt: sich minderwertig fühlen.« 121 Je nach Grad eines fortgesetzten Schutzes und einer liebevollen Unterstützung durch das Elternhaus wird dasjenige Kind, das bereits in den Genuss eines uneingeschränkten Urvertrauens kam, in der bewussten und aktiven Auseinandersetzung mit den Anforderungen seiner Umgebung eher einen optimistischen Erlebnis-, Interpretations- und Denkstil entwickeln als ein urmisstrauisches verwahrlostes, wobei entgegen den in Kapitel 3.2 erörterten kognitiven Depressionstheorien natürlich auch das tatsächliche Ausmaß an emotional belastenden Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle spielt. 122 Mit der endgültigen Ablösung vom stützenden familiären Netz gegen Ende der Adoleszenz müssen zu einem optimistisch-vertrauensvollen Attri119 Das Stadium des »ursprünglichen Narzissmus« bezieht sich auf die anfängliche Symbiose der Mutterleibexistenz mit dem wonnevollen Erleben der objektlosen Identität von Mutter und Kind, setzt sich aber fließend in die kindliche Existenz unmittelbar nach der Geburt fort (vgl. Heinz Kohut: Die Heilung des Selbst, S. 95 oder Schlegel: ebd., S. 143). 120 Günther Bien: Über das Glück, S. 42. 121 Alfred Adler: Der Sinn des Lebens, S. 78. 122 Vgl. unsere Kritik eines überzogenen psychologischen Kognitivismus in Kapitel 3.2, S. 236 f.

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butionsstil unbedingt Leidbewältigungsstrategien, soziale Kompetenzen und vielfältige Grunddisponibilitäten im Umgang mit allem zunächst Unverfügbaren hinzutreten, um das kindliche Urvertrauen gleichsam ins Erwachsenenalter zu transponieren. Gleichzeitig haben sich die Pubertierenden von den kindlichen Allmachtsphantasien eines unreifen Narzissmus 123 mit der Einsicht zu distanzieren, dass es keine uneingeschränkte Kontrollfähigkeit und keine absolute innere Selbstsicherheit gibt, dass aber andererseits »nicht jeder Nadelstich, den ihr Stolz empfängt, eine tödliche Wunde ist, und dass nicht jede Befürchtung auf eine Katastrophe hindeutet.« 124 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis der eigenen Grenzen kann es dank psychischer Kompetenzen wie Tapferkeit, Widerstandskraft, Hartnäckigkeit oder Frustrationstoleranz gelingen, negative Erlebnisse als Herausforderung zum Wachstum des Selbst statt als vernichtende Bedrohungen zu begreifen, wodurch das Selbstvertrauen gestärkt statt dezimiert wird. 125 Von Selbstzufriedenheit und Selbst(wert)gefühl oder ihren sozialen Korrelaten kann indes erst bei der Ausarbeitung eines Lebenskonzeptes mit der Erlangung einer Ich-Identität gesprochen werden: »Der Gipfel in der Entwicklung von Bewältigungsmechanismen wird erreicht, wenn ein junger Mann oder eine junge Frau ein starkes Selbstgefühl ausgeprägt haben, das auf persönlich ausgewählten Zielen basiert und das keine äußeren Hindernisse untergraben kann.« 126 Während das frühkindliche Urvertrauen mithin auf einer unhinterfragten Atmosphäre familiärer Geborgenheit gründet, bildet sich ein eigentliches, reifes Selbstvertrauen erst in Konjunktion mit 123 Im Anschluss an das Stadium des primären Narzissmus tendieren viele Kinder zu einem »narzisstischen Selbst« oder »Grössen-Selbst« (Kohut: Die Heilung, S. 59) mit Phantasien von der eigenen Macht und Größe, das im gesunden, reifen Narzissmus des Erwachsenendaseins überwunden werden muss (vgl. Schlegel: Grundriss, Bd. 3, S. 147 oder Allen M. Siegel: Einführung in die Selbstpsychologie, Kapitel 4 und Kapitel 6). 124 Gordon W. Allport: Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit, S. 280. 125 »Aus diesem Grund sind Tapferkeit, Widerstandskraft und Hartnäckigkeit – die dissipativen Strukturen der Seele – als reife Verteidigungsmaßnahmen oder transformative Bewältigung so wichtig. […] Der ältere Jugendliche, der schon enttäuscht wurde und es überlebt hat, weiß, dass eine Situation nie so schlimm ist, wie sie momentan aussieht. Teilweise beruht dies auf dem Wissen, dass anderen Leute die gleichen Probleme erlebt haben und auch lösen konnten. Die Erkenntnis, dass die eigenen Leiden allgemein sind, fügt der Egozentrik der Jugend eine wichtige neue Perspektive hinzu.« (Csikszentmihalyi: Flow, S. 266) 126 Ebd., S. 267.

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einem kognitiv-normativen Selbstentwurf nach überwundener Adoleszenzkrise heraus unter den Bedingungen verläßlich-vielfältiger Kompetenzen zur Erhöhung der objektiven Kontrollfähigkeit sowie eines optimistischen, aber realitätsgerechten Attributionsstils, der sich folgendermaßen versinnbildlichen lässt: Vor einem halb gefüllten Weinglas sitzend, erblickt der Optimist ein halbvolles, der Pessimist ein halbleeres Glas, wenngleich beide Interpretationen das Prädikat »realitätsgerecht« verdienen! Ob ein Urmisstrauen und ein dadurch begünstigter pessimistischer Attributionsstil durch ein sinnstiftendes Lebenskonzept mit wertvollen, herausfordernden, gerade noch erreichbaren Zielen oder durch spätere therapeutische Eingriffe korrigiert werden kann, wird von vielen Psychologen zwar bezweifelt: »Es bedarf einer Unzahl emotional bedeutsamer Erfahrungen im Erwachsenenalter, um die frühen Erfahrungen, aufgrund derer sich die geringe Selbstwertschätzung entwickelt hat, zu widerlegen«, prätendiert Epstein. 127 Schuld daran sei die sogenannte »selbsterfüllende Prophezeiung«, welche zweifellos einer späteren »Aufarbeitung« des vorenthaltenen Urvertrauens dank eines zuverlässigen, Geborgenheit und Anerkennung bietenden Umfeldes in der zweiten oder dritten Sozialisation im Wege steht, da die pessimistische Person ihre guten Leistungen dem Zufall zuschreibt, während die Misserfolge als Bestätigungen der eigenen Wertlosigkeit verbucht werden. Grundsätzlich gibt es aber eine »Trotzmacht des Geistes«, auf die wir bereits am Ende von Kapitel 3.2 aufmerksam machten, welche ohne Ausflucht zu subjektiven Kontrollillusionen in Form partout optimistischer Attributionsstile und ohne schlechthinnigen Rückzug aus einer frustrierenden Welt ein entschlossenes Ja-Sagen zu uns selbst und zur Welt ermöglicht, indem wir – vielleicht mit der Unterstützung eines Psychotherapeuten oder enger Freunde – selbst in widrigen Umständen Möglichkeiten zur Realisation von Zielen und Werten entdecken, die einen sinnvollen und erfüllenden Selbstverwirklichungsprozess ermöglichen (4. Kriterium). 128 Allein aufgrund eines emphatischen Entschlusses für grundlegende Werte und langfristige Ziele unseres »normativen Selbst« als Basis für Selbstwert, Epstein: Entwurf einer integrativen Persönlichkeit, S. 19. Damit ist eigentlich der Kern der in Kapitel 5.1 erläuterten Zieltheorien des Glücks angesprochen, welche von der fundamentalanthropologischen Tatsache ausgehen, dass jeder Mensch sich als wertvoll erkannte Handlungsziele zu setzen und diese in einem Lebensplan zu integrieren hat (vgl. Kapitel 5.1, S. 360 ff., speziell zum »Sinn«-Begriff S. 365 ff.). 127 128

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Selbstzufriedenheit und Selbstvertrauen (3. Kriterium), können wir trotz des Defizits eines kindlichen Urvertrauens nicht nur glücklich werden, sondern auch vorübergehende Enttäuschungen verkraften. 129 Je weniger an primärem familiärem Urvertrauen wir allerdings in früher Kindheit erfahren durften, desto mehr sind wir in der zweiten oder dritten Sozialisation auf Zuwendung und zustimmendes Entgegenkommen seitens der Schulklasse oder des Arbeitsteams angewiesen, um die Überzeugung von der Werthaftigkeit der Ziele und Leitbilder des eigenen Selbstkonzeptes aufrechterhalten zu können. Der im Rahmen des von vielen Postmodernisten proklamierten Programms einer »Ästhetik der Existenz« (Michel Foucault) kursierende ästhetisch-existentielle Imperativ, »sein Leben schön zu gestalten!«, garantiert also noch lange kein Selbstverwirklichungsglück, auch wenn die dadurch begünstigte Möglichkeit uneingeschränkter Selbstbejahung enorme Kräfte zur Selbstverwirklichung in der Auseinandersetzung mit widerständigen Ereignissen freisetzen kann: »Warum das Leben gestalten? Aufgrund der Kürze des Lebens. Warum es ›schön‹ gestalten? Der Anstoß dazu kommt aus der Sehnsucht nach der Möglichkeit, das eigene Leben ganz und gar bejahen zu können. Denn nur dann wird die Selbstachtung bestärkt, die enorme Kräfte freisetzen kann, auch angesichts widriger Umstände.« 130 Ebenso greift Csikszentmihalyis Analogie zum originellen, nichtkonventionellen Künstler, der mit tiefem, ins Unbewusste hinabgewirktem Selbstvertrauen und dadurch lancierter schöpferischer Energie, Phantasie und Offenheit ans Werk geht und dabei sein Glück macht, zu kurz: Weil der »Pol der Werte und Ideale«, wie im Teilkapitel 6.2 noch genauer darzulegen ist, »eine notwendige Grundkomponente des gesunden Selbst darstellt«, 131 erfordert das unsere beglückende Selbstverwirklichung stimulierende Selbstver129 Vgl. dazu Kapitel 3.2, S. 241 f., oder Pieper: »Wenn die Lebensform, für die man sich entschieden hat, in sich stimmig ist, so dass die einzelnen Akte der Selbst-Verwirklichung einen inneren Sinnzusammenhang ergeben, fällt das Ausbleiben von erwarteten oder erhofften Glücksmomenten nicht so sehr ins Gewicht. Wer sich hingegen in seinen Erwartungen völlig abhängig gemacht hat von der Erreichung des jeweils angestrebten Glücks und kein Lebenskonzept hat, dessen integraler Sinn die kleineren oder größeren Glücksausfälle zu kompensieren vermag, beklagt bei jedem Misserfolg die Sinnlosigkeit des Lebens im Ganzen.« (Annemarie Pieper: Glückssache, S. 28) 130 Wilhelm Schmid: Lebenskunst als Ästhetik der Existenz, S. 88. 131 Ernest S. Wolf: Selbst, Idealisierung und Entwicklung von Werten, S. 161.

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trauen einen kohärenten Selbstentwurf, den wir nicht nur aufgrund ästhetischer Kriterien, sondern um seines ethischen Wertes willen affektiv und voluntativ bejahen können. Ein solches Gefühl für den eigenen Wert, ohne den all unser Streben »schal und leer« wäre, 132 kann aber nur da gedeihen, wo »die Wertschätzung und Bestätigung der eigenen Person und ihrer Handlungen durch andere [vorhanden ist], die die gleiche Wertschätzung genießen, und in deren Gesellschaft man sich wohl fühlt«, 133 wo mithin Selbstvertrauen (individuelle Dimension) und Selbstbewusstsein (soziale Dimension) koinzidieren. Obgleich Rogers dokumentiert, »wie im Laufe einer erfolgreichen Therapie die Klienten offensichtlich dazu kommen, eine wirkliche Zuneigung für sich selbst zu empfinden«, 134 wodurch der Prozess der Selbstfindung in Gang gesetzt werde, dürften die vom Therapeuten hier eingesetzten nicht-direktiven Methoden totaler Akzeptierungsbereitschaft und kritiklosen Respekts gegenüber dem Klienten für eine dauerhaft erfolgreiche und beglückende Selbstverwirklichung kaum ausreichen. 135 Genauso wie das klinisch-psychologische Selbstsicherheits- oder Selbstbehauptungstraining zur Stärkung der sozialen Kompetenzen durch den Abbau von Misstrauen und Ängsten hinsichtlich unserer Mitmenschen zweifellos die soziale Dimension praktischer Selbstbeziehung ameliorisiert, ist der »Mut zu uns selbst«, zum Ausschöpfen der eigenen Potentiale und Talente sicherlich einer intakten individuellen Selbstbeziehung förderlich, auf dass wir uns aktiver, produktiver und vertrauensvoller der Umund Mitwelt zuzuwenden vermögen. Der Prozess der Selbstverwirklichung wird uns aber erst dann beglücken und von existentiellen Gefühlen der Leere und Sinnlosigkeit befreien, wenn alle Kompetenzen, Talente und Disponibilitäten an begründbare, Anerkennung findende Werte und Ideale eines integrativen Selbstentwurfs geknüpft 132 Vgl. Rawls: »Damit ist deutlich, warum die Selbstachtung ein Grundgut ist. Ohne sie scheint nichts der Mühe wert, oder wenn etwas als wertvoll erscheint, dann fehlt der Wille, sich dafür einzusetzen.« (Rawls: Eine Theorie, S. 480) 133 Ebd., S. 480. 134 Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit, S. 84. 135 Wo aber jegliche Wurzeln eines Urvertrauens fehlen, ist solche emotionale Zuwendung sicherlich notwendig, um fraglichen Prozess in Gang zu bringen: »Zeigt der Therapeut Einstellungen wie tiefen Respekt und volle Akzeptierungsbereitschaft für den Klienten, so wie er ist, steht er den Möglichkeiten des Klienten, mit sich selbst und seinen Situationen umzugehen, entsprechend gegenüber; sind diese Einstellungen von einer ausreichenden Wärme durchdrungen […] – dann könnten wir sicher sein, dass dieser Prozess in Gang gebracht worden ist.« (ebd., S. 85)

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Glück der Selbstverwirklichung:

werden (4. Kriterium), d. h. wenn er von einem reifen, hohen Selbstwertgefühl auf der Grundlage einer realistischen Selbstwertschätzung gestützt und von einem dieses begleitenden, tiefen Selbstvertrauen vorangetrieben wird (3. Kriterium). Zusammenfassend stellt sich das Glück der Selbstverwirklichung also da ein, wo allgemein gesprochen eine möglichst vollständige Umsetzung des »normativen« ins »faktische Selbst« gelingt (1. Kriterium), wo spezifischer gesprochen ein Mensch sowohl über eine hohe objektive Kontrollfähigkeit (2. Kriterium) wie auch ein großes Selbstvertrauen (3. Kriterium) verfügt, welches auf dem festen Grundentscheid für anerkennungswürdige einheitliche Ziele und Richtlinien unseres »normativen Selbst« basiert (4. Kriterium). Nun mag dem Glückskandidaten »eine solche Bestimmung noch immer zu unspezifisch und fragwürdig überdies« 136 erscheinen, zumal dann, wenn man wie Krämer das Glück der Selbstverwirklichung hauptsächlich mit einem hohen Maß an objektiver Kontrollfähigkeit (2. Kriterium) korrespondieren lässt. Statt uns aber zu einem aggressiven Selbstverwirklichungsimperialismus unter dem Kampfruf »Macht Euch die Erde untertan!« animieren zu wollen, wie Gerd Gerhardt Krämer unterstellt, 137 hat er mutmaßlich eher das psychosoziale Konzept der »Ich-Stärke« vor Augen, die sich am Vermögen bemisst, Konflikte und Belastungen zu verarbeiten und kreativ entsprechende Kompetenzen zu entwickeln. Richard Sennetts affine Vorbehalte gegenüber der das trivialpsychologische Alltagsbewusstsein beherrschenden Schwarzweißmalerei zwischen einem schwachen, abhängigen und einem starken, kontrollmächtigen und unabhängigen Selbst, 138 machen indes eine eingehende Analyse des Verhältnisses von Selbst und Welt im Selbstverwirklichungsprozess unausweichlich: Nachdem längst außer Frage steht, dass eine Selbstzueignung nur über eine Weltzueignung möglich wird, weshalb eine 136 Gerhardt: Kritik, S. 65. Während Krämer, auf den Gerhardts Kritik gemünzt ist, uns explizite Kriterien zur Wahl eines Selbstkonzeptes ohnehin vorenthält, hat er im Grunde auch dieses Sich-Verfügbar-Machen von Weltdispositionen lediglich »sozusagen im Hinterkopf« (ebd.). 137 Gerhardt moniert: »Fragwürdig ist sie, weil Selbstverwirklichung durch Krämer sehr einseitig ausgelegt wird. Der Imperativ ›Macht Euch die Erde untertan!‹ kann, wie wir heute erfahren, nicht nur zu entfremdeter Arbeit, also zum Selbstverlust, nicht nur zu selbstvergessenem Aktivismus (und damit zum Sinnverlust), sondern durch blinde Ausweitung und Aktualisierung der in der Gattungs- und Individualgeschichte erworbenen Dispositionen zur Selbstzerstörung des Individuums und der Gattung führen …« (ebd.) 138 Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch, S. 192 f.

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jede »Kritik an gängigen Begriffen von Selbst und Selbstverwirklichung […] gerade an ihrer vermeintlichen Weltlosigkeit ansetzen« 139 müsste, blieb bislang offen, wie weit – zu unserem Glücke – eine Selbsttranszendenz und totale Hingabe an die Welt auf Kosten narzisstischer Selbstbezogenheit, autonomer Selbsterschaffung oder Sich-verfügbar-Machens der Welt vonnöten sei. Ist die gängige Rede von Selbstverwirklichung nicht deshalb so »gefährlich« und »verführerisch«, wie Logotherapeuten emphatisch warnen, weil sie zu einer Konzentration auf innere, langfristig unabdingbar in Sinnlosigkeitsgefühlen mündende »authentische Zustände« animiert, 140 wir uns selbst aber nur gerade in dem Maß verwirklichen können, »in dem wir uns ausliefern, in dem wir uns hingeben, in dem wir uns selbst preisgeben an die Welt und an die Aufgaben und Forderungen, die von ihr her einstrahlen in unser Leben« 141 ? Müsste man nicht entsprechend Gerhardts Empfehlung das Wort »Selbstverwirklichung« überhaupt aus einer kritischen Glückstheorie verbannen, das bei oberflächlichem Verständnis »die fatale Illusion einer Weltunabhängigkeit weckt« und »immer wieder dazu verführt, die intensive Beschäftigung mit sich selbst zu assoziieren« 142 ? Zeitigt zudem ein übersteigertes Autonomiestreben nicht allzu leicht eine Lebensangst und einen pathologischen Rückzug auf sich selbst, wie andererseits das Sich-Ausliefern an die Welt zwangsläufig mit einem Autonomieverlust gekoppelt ist, auf dass eine gesunde Glückssuche sich zwischen dieser Skylla und Charybdis der »natürlichen Pathologien des Glücksstrebens« 143 einpendeln müsste, wie Martin Seel suggeriert? Hat man erst einmal dem Gespenst eines narzisstisch-authentischen weltlosen Selbst den Garaus gemacht und das zu subjektivistischen Missverständnissen Anlass gebende Selbstverwirklichungsglück auf ein prozessual gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis zurückKrämer: Selbstverwirklichung, S. 96. »… Aus demselben Grund ist die Lehre der Selbstverwirklichung gefährlich: indem der Mensch nicht mehr über sich hinausstrebt, sondern sich mit dem Erreichen gewisser innerer Zustände – wie Selbstverwirklichung oder ›Gipfelerlebnisse‹ (Maslow) – zufrieden gibt, bleibt am Ende nichts mehr als das ›Abgrunderlebnis‹ (Frankl) des Sinnlosigkeitsgefühls.« (Joseph Fabry: Das Ringen um Sinn, S. 102) 141 Viktor Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 103. »Wie verführerisch ist doch die gängige Rede von Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung des Menschen!«, ruft Frankl aus: »Als ob der Mensch nur dazu da wäre, seine eigenen Bedürfnisse oder auch nur sich selbst zu befriedigen.« (ebd.) 142 Gerhardt: Kritik, S. 63. 143 Seel: Versuch, S. 121. 139 140

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transponiert, gilt es, an diesem Verhältnis im Anschluss an Krämers treffende Analyse des Selbstverwirklichungsphänomens verschiedene Hinsichten zu differenzieren, bevor wir vorschnell Viktor Frankls Welt- oder Krämers Selbst-Akzentuierung den Vorzug geben: 1a) Wenn der Mensch nach Glück strebt, kann er sein Glücksgefühl nur intentione indirecta über bestimmte Glücksgüter der Welt erreichen, welche gemäß Krämers Demonstration zunächst und zumeist in bezug auf Qualitäten seines Selbst, auf die beim Umgang mit ihnen zu erwartende Selbsterfüllung oder Selbstminderung taxiert werden. 144 Indem das ursprünglich im Bewusstsein existierende Selbst im engeren Sinne als Handlungs- und Lebensziel gegenüber den mittelbar intendierten Glücksgefühlen mit lediglich kriterieller Funktion die Rolle der Letztbegründung menschlichen Strebens übernimmt und somit das Verhältnis des Selbst zur Welt konstituiert, gebührt ihm ein transzendentaler Vorrang. 145 1b) Dem Selbst kommt zugleich ein normativer Vorrang im Umgang mit der Welt zu, nicht zuletzt, »weil die eigenen Möglichkeiten in der Regel enger gezogen sind als die Möglichkeiten von Welt, die daraufhin selegiert werden müssen« 146 : Prinzipiell lassen sich nur diejenigen WeltSelbst-Verhältnisse erfolgreich realisieren, für die wir ausreichende Dispositionen und Fähigkeiten aufzuweisen haben. 2a) Auf einen intentionalen Vorrang darf demgegenüber die Welt insofern Anspruch erheben, als Intentionalität zum Wesen des Menschen gehört, 147 so dass wir also immer schon in einer gemeinsamen Welt existieren und auf Dinge oder Personen dieser Welt ausgerichtet sind. 2b) Weil wir uns, wie oben erläutert, prinzipiell nur im Medium der Welt zum Objekt, zum Interpretandum werden können, besitzt die Welt für das Selbstverständnis einen hermeneutischen Vorrang. 2c) Über das kognitive Selbstverstehen hinaus kommt ihr ein praxeologischer Vorrang in dem Sinne zu, dass unser Selbstsein »nur indirekt operabel, wenngleich unmittelbar intendierbar« 148 ist. Eine Selbstverwirk144 Vgl. Krämer: Selbstverwirklichung, S. 98. »In der Erinnerung setzen sich etwa Lust und Schmerz weitgehend um in Vorstellungen von Selbstverwirklichung und Selbstminderung – beispielsweise erscheint Krankheit im Rückblick nicht als Schmerzzustand, sondern als Hinfälligkeit.« 145 Vgl. zu den fünf Differenzierungshinsichten Krämer: Integrative Ethik, S. 148, wo allerdings die Etikette »transzendentaler Vorrang« für die erste Hinsicht fehlt. 146 Ebd., S. 146, ohne Sperrung. 147 Vgl. meine Ausführungen in Kapitel 4.1, S. 267 ff. 148 Krämer: Integrative Ethik, S. 114.

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lichung als Transformation des »transzendental-normativen« ins »faktische Selbst« kann daher immer nur »per effectum« statthaben, wie Frankl im Einklang mit Krämer verficht: »Will der Mensch zu seinem Selbst, will er zu sich selbst kommen, so führt der Weg über die Welt.« 149 Wenngleich mit diesem akkuraten Katalog der einzelnen Prioritätsaspekte die Extrempositionen von Frankls »Selbsttransparenz«und Krämers »Selbstverwirklichungs«-Plädoyer nivelliert scheinen, lassen beide infolge der Setzung endgültiger oberster Prioritäten erneut einen Dissens aufbrechen: Frankls Programm der Sinnsuche in der Außenwelt vermöge eines Ausblendens des Selbstverhältnisses, verkennt nach Krämers Verdikt völlig, dass »die Referenzrichtung des Welt-Selbst-Verhältnisses zentripetal auf das Selbst« 150 gerichtet sei, dass die »Weltintention […] zuletzt von der Selbstintention übergriffen« 151 werde. Sowohl der logotherapeutische Kunstgriff einer gezielten Dereflexion wie das spontan eintretende vorübergehende Von-sich-Absehen wie etwa beim Flow-Glück seien nur im Rahmen einer »reflexen Intention im Generellen« sinnvoll, sofern sie also im Dienste eines Selbstverwirklichungsstrebens stehen, über das zwischen Therapeut und Patient vorweg Einigkeit bestehen müsse. 152 Zur Stützung seiner These ruft uns Krämer zum virtuellen experimentum crucis auf, wer denn im Zeichen äußerer Werte oder eines objektiven Sinns in der Außenwelt eine absolute Selbsttranszendenz, eine schlechthinnige Entselbstung wirklich wollen könne. 153 Obschon Frankl bei seiner Opposition gegen das binnenpsychische Lustprinzip der freudschen Psychoanalyse sicherlich zu weit geht, wenn er vom »Aufforderungscharakter von Situationen« zur Sinnergreifung durch Hingabe spricht, 154 darf letztere doch nicht mit einer Ebd. Vgl. auch Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse, S. 103 f. Krämer: Selbstverwirklichung, S. 99. 151 Ebd., S. 101. 152 Vgl. ebd., S. 100 f., insbesondere Fußnote 17, sowie meine Ausführungen in Kapitel 5.1, S. 397 f. 153 Die Gretchenfrage des Experiments lautet: »Würde man aber die darüber hinausgehende totale Verbiegung und Selbstentfremdung des Selbst zugunsten eines glänzenden Scheins von Sinn in der Welt in Kauf nehmen?« (ebd., S. 99) 154 »Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden. […] Und was ich den Willen zum Sinn nenne, läuft anscheinend auf ein Gestalterfassen hinaus. Niemand Geringeres als Wertheimer schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er von einem der jeweiligen Situation innewohnenden Forderungscharakter, ja vom objektiven Charakter dieser Forderung spricht.« (Frankl: Der leidende Mensch, S. 15) 149 150

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Selbstentfremdung oder gar Entselbstung identifiziert werden in Anbetracht eines Selbst, das gemäß unserer Darstellung gar nicht unabhängig von der Welt und ihrer Gesellschaftsstruktur konzipiert und realisiert werden kann. Ob die innerweltlichen Dinge, Aufgaben oder Rollen, über die wir anlässlich unserer genuin menschlichen Intentionalität unser »transzendental-normatives Selbst« definieren, als sinnvoll beurteilt und erfahren werden können und bei ihrer Ausführung unser Lebensglück potenzieren, hängt dabei nicht nur von unseren Möglichkeiten, Fähigkeiten und Qualifikationen ab, die Krämer vorwiegend vor Augen zu haben scheint, sondern von Werten, die wir nicht selbst zu begründen vermögen. Krämers Postulat, die Weltintention werde wiederum durch die Selbstintention übergriffen, weil die von uns in der Außenwelt anvisierten Glücksgüter nur insofern erstrebenswert seien, als sie die Qualitäten unseres Selbst protegieren, muss infolgedessen dahingehend korrigiert werden, dass sich diese subjektiven Qualitäten in einem Horizont intersubjektiver Werte unserer Lebenswelt auszuweisen haben (vgl. Kapitel 6.2). 155 So warnt denn Krämer auch mit Recht – wenngleich mit anderem Grund – zur Vorsicht gegenüber positiven Gefühlswerten als kriteriellen Indikatoren, 156 welche lediglich anzeigen, was uns in der Außenwelt hinsichtlich unserer persönlichen Dispositionen besonders viel wert ist, ohne gegen Fehleinschätzungen gefeit zu sein. Bezüglich der Relation zwischen dem Selbst und der Welt eines glückbringenden Selbstverwirklichungsprozesses zeigte sich also: Während es durchaus Sinn macht, das Welt-Selbst-Verhältnis mit Krämer in verschiedene Betrachtungshinsichten zu zergliedern, sollte man sich davor hüten, apodiktisch eine einsinnige Referenzrichtung zwischen »Selbsttranszendenz« (Weltintention) und »Selbstverwirklichung« (Selbstintention) zu postulieren und diese gegeneinander auszuspielen, weil unser Lebensglück an die Verwirklichung eines »normativen Selbst« in der Welt gekoppelt ist, zu dessen wesent155 Vgl. dazu insbesondere meine Ausführungen zu Charles Taylor in Kapitel 6.2. Vgl. auch Schneiders Exempel: »Nehmen wir die Ordensschwestern, die in der Krankenpflege tätig waren. Gewiss, nicht alle erlebten dabei jenes Maß von Selbstverwirklichung, von dem unsere Parteiprogramme schwärmen; aber, die soziale Nützlichkeit ihres Tuns gar nicht gerechnet: Eine für die meisten von ihnen wohl wenigstens akzeptable Form der Persönlichkeitsentfaltung wurde von Kirche und Sitte dermaßen ermutigt und mit Würde versehen, dass eine Annäherung an irdisches Glück stattgefunden haben könnte …« (Schneider: Glück – was ist das?, S. 91) 156 Vgl. Krämer: Selbstverwirklichung, S. 103 f.

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lichem Merkmal der Außenweltbezug, also eine innerweltliche »Selbst-Transzendenz« zählt. Grund eines Selbstverwirklichungsglücks sind letztlich weder weltlose Subjekte noch eine pur ansichseiende Welt – deren minutiöse Analysen allerdings für eine gelingende Selbstverwirklichung unabdingbar sind –, sondern die im nächsten Teilkapitel ins Zentrum zu rückenden intersubjektiv anerkannten Werte und wertvollen Ziele, welche unserem Welt-Selbst-Verhältnis Halt geben (4. Kriterium). Auch wenn wir uns nur in der Welt, beim Ergreifen von (intersubjektiv) sinnvollen Aufgaben verwirklichen können, ist dabei keineswegs ein heteronomes Sich-Ausliefern an die Welt, ein schwaches, abhängiges Selbst verlangt, sondern durchaus ein starkes Selbst mit hoher objektiver Kontrollfähigkeit (2. Kriterium) und beachtlichem Selbstvertrauen (3. Kriterium), das vor einem aktiven Eingreifen in die Welt nicht zurückzuschrecken braucht. Wie bereits im glücksobjektivistischen Kapitel 4.2 ans Licht trat, beruht die stoisch-epikureische Antinomie, derzufolge die Zunahme öffenticher Aktivitäten mit einer Zunahme an Abhängigkeit und damit einer Minderung unseres Glückes einhergehe, auf der irrigen Voraussetzung, jede Art von Abhängigkeit sei unserem Glück abträglich. 157 Kontrollfähig werden wir weder durch erhöhte Unabhängigkeit vermittels eines Rückzuges aus der Welt noch durch einen Selbstverwirklichungsimperialismus nach dem Motto »Macht Euch die Erde untertan!«, sondern aufgrund ausreichender, d. h. den nötigen Handlungsspielraum sicherstellenden Beeinflussungsmöglichkeiten der Um- und Mitwelt dank optimaler Fähigkeiten der Vorhersage und Handlungskompetenzen. Statt sich um des Glücks absoluter Autarkie willen in den Bereich des Privaten oder Intimen zurückzuziehen, hat der Selbstverwirklichungsglücks-Kandidat seine IchStärke und Kontrollfähigkeit in einem dichten Netz von materiellen, körperlichen und sozialen Abhängigkeiten unter Beweis zu stellen, indem er die wesentlichen Ziele und Interessen seines Selbstentwurfs mit den entsprechenden Weltdispositionen vermittelt und letztere so weit wie möglich verlässlich gestaltet. Gerade betreffs der sozialen Abhängigkeiten weckt Sartre allerdings mit seiner zum geflügelten Wort arrivierten Sentenz »l’enfer, c’est les autres« aus seinem Theaterstück Huis clos 158 unsere Zweifel am hilfreichen Beistand unserer Mitmenschen bei der persönlichen Selbstfindung und -verwirk157 158

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Vgl. Kapitel 4.2, S. 332 ff. Übersetzt mit: »Geschlossene Gesellschaft« oder aber: »Bei geschlossenen Türen«.

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Glück der Selbstverwirklichung:

lichung (im Zeichen des »hermeneutischen Vorrangs« der Welt). Bereiten die anderen unserem Selbstverwirklichungs-Glück auf unverzichtbare Weise den Weg oder machen sie uns vielmehr die Hölle heiß? Wenden wir uns zur Klärung dieser zentralen Frage betreffs menschlicher Selbstverwirklichung nochmals Sartres Identitätsmodell zu, wählt er als Ausgangspunkt seiner Analyse der zwischenmenschlichen Beziehungen die interaktive Schlüsselsituation des Erblicktwerdens durch die andern, welche uns mit ihrem Blick angeblich in zweifacher Hinsicht zur Hölle werden können: Sowie ich unter dem Blick des anderen zu einem Objekt, zum puren »An-sich« erstarre und damit meiner schöpferischen Freiheit unabgeschlossenen Selbstentwerfens verlustig gehe, 159 werde ich auf einen winzigen Ausschnitt meines Möglichkeitshorizontes gleichsam festgenagelt. »Ich erfasse den Blick des andern gerade innerhalb meiner Handlung als Verhärtung und Entfremdung meiner Möglichkeiten«, 160 lautet die Kernthese. Um sich gegen diese bedrohliche Entfremdung zur Wehr zu setzen, bleibt mir nach Sartres Darstellung nichts anderes übrig, als die Verdinglichkeitsrichtung der Interaktionsbeziehung zu invertieren, d. h. meinen Interaktionspartner meinerseits auf eine einzige Entwurfmöglichkeit seines Handelns zu fixieren. Dieses Anfangsstadium einer reziproken Hypostasierung von Subjekten entfesselt in Honneths Worten eine verheerende »negative Dynamik«, »die alle Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation von innen zerstört.« 161 »Es gibt also keine Dialektik meiner Beziehung zu Anderen«, beschließt Sartre seine scheinbar zwingende und phänomenal triftige »Logik des notwendigen Misslingens der zwischenmenschlichen Interaktion«, 162 »sondern einen Zirkel – wenn auch jeder Versuch um das Scheitern des anderen Versuchs bereichert 159 »Es genügt, dass der andere mich anblickt, damit ich das bin, was ich bin« (Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 473), d. h.: bin in der Weise des »An-sich«. 160 Ebd. 161 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 76. Zu Sartres phänomenologischen Entlarvungen konkreter zwischenmenschlicher Beziehungen wie etwa der sprachlichen Kommunikation oder der Liebe als Weisen wechselseitiger Unterwerfung und Instrumentalisierung (vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 638–663), bemerkt Honneth: »Es ist wohl vor allem die Suggestivkraft dieser phänomenologisch höchst eindringlichen Detailanalysen, die es schwermacht, sich dem Gang der Argumentation Sartres zu entziehen.« (ebd., S. 77) 162 Ebd., S. 76.

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wird.« 163 Selbst das subtilste interaktive Medium der Sprache vermag das eiserne Gefecht der feindseligen Blicke angeblich nicht zu beschwichtigen, sondern wird als weitere Herrschaftsstrategie der Verdinglichung entlarvt, so dass als einzig mögliche zwischenmenschliche Beziehung in der Tat der dynamisch-zirkuläre Konflikt übrigbleibt: »Der Konflikt ist der ursprüngliche Sinn des Für-andereSeins«, 164 heißt es unmissverständlich. Hat dieses Ausarten jeglicher interaktiver Prozesse in Konflikt und Entfremdung, die schlimmstmögliche Wendung des »reinen Nichtungsvermögens« des »Fürsich-Seins« zu einem »mörderischen Vernichtungsvermögen« 165 nun die Unterminierung der glückskonstitutiven Identitätsfindung und Selbstverwirklichung zur Folge oder beruht es bereits auf falschen identitätstheoretischen Prämissen? Wie Sartre selbst in einem letzten Interview konzedierte, geht er in Das Sein und das Nichts von der irrigen Annahme aus, jedes Individuum existiere zunächst in seiner Transzendentalität relativ unabhängig von allen anderen. 166 Zudem unterstellt er hier gemäß Honneths scharfsinniger Interpretation Subjekte, »die stets in einer solchen experimentellen Offenheit ihrer Selbstdeutung leben, dass sie ihre verschiedenen Handlungsentwürfe weder untereinander noch in der zeitlichen Abfolge, weder horizontal noch vertikal in eine gewisse Konsistenz bringen. Nur deswegen nämlich müssen sie in jedem Blick eine zwanghafte Festlegung auf eine bestimmte Handlungsabsicht sehen, die sie doch in der ständigen Offenheit ihrer Existenzentwürfe bereits schon wieder transzendiert haben.« 167

Sobald man indes den interaktiven Präzedenzfall der Blickbegegnung mit Subjekten durchspielt, die über ein transsituatives, zeitlich rela163 Sartre erläutert den fraglichen Zirkel so: »Alles, was für mich gilt, gilt auch für den Andern. Während ich versuche, mich vom Zugriff des Andern zu befreien, versucht der Andere, sich von meinem zu befreien; während ich danach trachte, den Andern zu unterwerfen, trachtet der Andere danach, mich zu unterwerfen. Es handelt sich hier keineswegs um einseitige Beziehungen zu einem Objekt-an-sich, sondern um gegenseitige und veränderliche Beziehungen.« (Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 638) 164 Ebd. 165 Vgl. Hunyadis kühnen Kommentar: »Der Blick verdinglicht den Anderen, die Sprache ist eine Herrschaftsstrategie. Der Mord ist nur der letzte Ausdruck des Konflikts, der meine Beziehungen zum Anderen beherrscht. Das Für-sich, beschrieben als reines Nichtungsvermögen, wird tatsächlich Vernichtungsvermögen.« (Hunyadi: Sartres Entwürfe zu einer unmöglichen Moral, S. 91) 166 Vgl. die Auszüge aus Sartres letztem Interview von 1980 in: ebd., S. 86. 167 Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 79.

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tiv stabiles und auf einem normativen transzendentalen Entwurf beruhendes Selbstverständnis verfügen, wecken unsere eigenen Erinnerungen an blickspezifische Erfahrungen den Verdacht, ein Blick werde immer als etwas viel Reichhaltigeres erlebt denn als bloß verdinglichendes Fixativ einer augenblicklichen Daseinsmöglichkeit: Blicke, die uns treffen, kategorisieren wir gewöhnlich in affirmative oder skeptische, ermutigende oder missbilligende, auffordernde oder abweisende. Damit unseren Selbstentwurf bekräftigend oder kritisch hinterfragend, kommt solchen Blicken offenkundig eine evaluative Bedeutung, eine normative Indikatorfunktion zu. Das Gefühl der Scham etwa, wie es einen eifersüchtigen, beim Spähen durch das Schlüsselloch ertappten Mann überfällt, 168 stellt in Honneths Interpretationsrahmen »eine moralische Gefühlsreaktion [dar], mit der er vor einem virtuellen oder anwesenden Anderen auf sein eigenes, für unmoralisch gehaltenes Tun reagiert.« 169 Sobald unter der Prämisse einer durch starke Wertungen bestimmten Identität die Normativität der Infrastrukturen sozialer Interaktionen und damit eine ganze Palette nuancierter Blickbedeutungen zutage tritt, steht dank der sprachlichen Kommunikation auch der Weg zu einer differenzierten Reaktion auf die im Blick des anderen vermutete Erwartungshaltung, zum diskursiven Ringen um wechselseitige Anerkennung des eigenen Selbstverständnisses offen. Allein weil Sartre in seiner dualen Ontologie die Identität gänzlich der Seite des »An-sich« zuschlägt, wohingegen dem »Für-sich«, kämpfend für unentwegte Offenheit und kontinuierliche Nichtung, jede Möglichkeit persönlicher Identitätsfindung abgesprochen wird, kann er sämtlichen Begegnungen nur negativ als Konflikt gegenseitiger Verdinglichung, die anderen nur als Hölle begreifen. 170 Wo Sartre gleichwohl die positive Notwendigkeit des andern in der Rolle eines »unentbehrliche[n] Vermittler[s] zwischen mir und mir selbst«, 171 also für meine identitätsstiftende Objektwerdung herVgl. zum Schambeispiel Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 405 ff. und S. 471. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 78. 170 Vgl. dazu ebd., S. 80 f. Später soll Sartre sich darüber mokiert haben, dass man seine Worte »Die Hölle, das sind die anderen« permanent falsch verstanden hätte, da er doch nur die konstitutive Bedeutung der anderen hätte hervorstreichen wollen, die insbesondere dann, wenn unserer Beziehungen zu den anderen gestört, gescheitert sind, schmerzlich ins Bewusstsein trete (vgl. Arne Gron: Jean-Paul Sartre, S. 463, mit Berufung auf Sartres Théatre de situations, Paris 1973). 171 Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 406. 168 169

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vorkehrt, provoziert er dieselben Inkonsistenzen in seiner existentialistischen Phänomenologie wie bei der Verhältnisbestimmung von Freiheit (Transzendenz) und Situation, 172 die er dem stolpernden Interpreten nicht mehr aus dem Wege räumt. Einen radikal sozialen Ursprung unseres Selbst qua Selbstkonzept kraft der willkommenen Vermittlungsleistung der anderen verfechten demgegenüber prononciert die unter dem Schlagwort »looking-glass self« kursierenden Identitätstheorien. Die von Charles Cooley gewählte und in vielen psychologischen Arbeiten aufgegriffene Spiegelmetaphorik soll dabei illustrieren, dass unser Selbst sich aus den fremden Widerspiegelungen unseres Verhaltens, unseres Charakters rekrutiere. 173 Hinsichtlich der für die Selektion bei der Aufnahme solch selbstbezogener Spiegelbilder maßgeblichen Mechanismen hat sich die Forschung gespalten in die sogenannte »Konsistenztheorie«, derzufolge Fremdzuschreibungen aufgrund ihrer Übereinstimmung mit bereits gespeicherten Daten integriert werden, und der »self-enhancement«-Theorie, die von einer Verarbeitung derjenigen neuen Informationen ausgeht, welche zur Erhöhung unseres Selbstwertgefühls beisteuern. 174 Eine neuere Studie liquidiert die Kontroverse mit dem Untersuchungsergebnis, Selbstspiegelungen würden solange im Sinne des Konsistenzprinzips verarbeitet, als wir im betreffenden Bereich bereits über fundierte Selbsteinschätzungen verfügen, wohingegen darüber hinaus selbstwerterhöhende Informationen deutlich bevorzugt würden. 175 Im Kontrast zu Sartres Verdinglichungsmodell macht Cooley zu recht deutlich, dass Spielgelungen der andern, die mir zum Beispiel das Attribut »schlampig« prädizieren, nie neutrale Zuschreibungen darstellen, sondern immer schon mit Bewertungen liiert sind, indem die andern meine Schlampigkeit beispielsweise als abstoßend taxieren. 176 Grundsätzlich werden solche Urteile und Bewertungen nur selten offen von Seiten eines konkreten Interaktionspartners an uns herangetragen, sondern müssen zumeist erschlossen werden: als ständig präsenter Spiegel kann der sogenannte »generaVgl. oben, Fußnote 56, S. 478 f. Vgl. dazu etwa Sigrun-Heide Filipp: Entwurf eines heuristischen Bezugsrahmens für Selbstkonzept-Forschung, S. 132. Charles Cooleys einschlägige Publikation Human nature and the social order ist 1902 in New York erschienen. 174 Vgl. ebd., S. 141. 175 Vgl. ebd., mit Bezug auf eine Studie von W. Regan aus dem Jahre 1976. 176 Das Beispiel mit weiterführenden Explikationen zu Cooleys »looking-glass self«-Theorie findet sich in Sader/Weber: Psychologie der Persönlichkeit, S. 158 f. 172 173

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lisierte Andere« (Mead) fungieren, der die zentralen Vorstellungen und Normen unserer Gemeinschaft repräsentiert. 177 Wer mithin auf der Suche nach dem SelbstverwirklichungsGlück der berühmten delphischen Inschrift »gnwqi seautn« (»Erkenne dich selbst!«) Rechnung tragen will, hat trotz platonisch-augustinischen Erbresten nicht intensiv in sich selbst hineinzuhorchen oder aufgrund langjähriger eremitischer Selbstreflexion sich unabhängig von allen andern selbst zu projektieren. Aufgrund des »hermeneutischen Vorrangs« der Welt, vornehmlich in Form des sozialen Umfeldes, sind wir vielmehr auf die deskriptiven und bewertenden Spiegelbilder der anderen unbedingt angewiesen. Ausgeklammert oder marginalisiert wird in »looking-glass self«-Theorien indes oftmals der aktive, stellungnehmende Teil des Selbst (»I«), der doch beispielsweise auf die konsistenten Spiegelungen seiner »Schlampigkeit« entweder mit einer Modifikation seines ursprünglichen Selbstentwurfes oder aber mit einer Verteidigung seines Dresscodes reagieren könnte, statt die depravierende Wertschätzung reflexartig zu internalisieren. Trotz der Rehabilitierung des fremden Blickes gegenüber Sartres negativistischem Konfliktmodell werden Identitätsfindung und Selbstverwirklichung in diesen theoretischen Ansätzen immer noch zu mechanistisch interpretiert und kommunikationslos-automatenhafte soziale Abhängigkeiten unterstellt, obgleich die Reize (Blicke oder Spiegelbilder) zumeist lediglich erschlossen, d. h. kognitiv konstruiert werden und sich schon deswegen dem Reiz-Reaktionsmuster entziehen. Unter demselben Defizit leidet zumeist auch das soziologische Konzept der »Rolle«, auf das man an der nun ins Visier genommenen Schnittstelle von Selbst und Gesellschaft unweigerlich trifft. Für den federführenden zeitgenössischen Rollenanalytiker Erving Goffman etwa sind die vielfältigen sozialen Rollen, die wir im alltäglichen Leben zu übernehmen haben, mit nicht weniger Verdinglichungszwang, Repression und Stigmatisierung verbunden als bei Sartres Blickszenario, auch wenn er den Menschen zugleich als zynischen Theaterspieler und Verstellungskünstler profiliert. 178 Potenziert die Übernahme jeder sozialen Konventionalisie177 »Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann ›der verallgemeinerte Andere‹ genannt werden. Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft.« (Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 196) 178 Vgl. v. a. Erving Goffmanns aufschlussreiche Studien zum »sozialen Selbst« in:

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rung wie »Rolle« oder »Image« nicht unwillkürlich eine Entfremdung von uns selbst und den andern, so dass man zum Zwecke gelingender und beglückender Selbstverwirklichung entsprechend der subjektivistischen Extremposition Sartres das menschliche Selbst qua Nichtungsvermögen von jeglichen sozialen Rollen und Bindungen befreien müsste? Stellt sich ein Selbstverwirklichungsglück grundsätzlich nur da ein, wo wir, uns jeglicher Rollen verweigernd und aus allen gesellschaftlichen Verhältnissen herauslösend, ganz »wir selbst sind«, wie im Zuge der neuzeitlichen Individualisierung des Selbstverwirklichungsprojekts übereinstimmend mit den Hauptrepräsentanten der Existenzphilosophie gerne proklamiert wird? 179 Oder besteht das Dilemma darin, dass wir zwar unsere wesentlichen Fähigkeiten nur durch die Übernahme der zu deren Qualifikation und Umsetzung zur Verfügung stehenden sozialen Rollen entfalten können, gleichzeitig aber ihre optimale Entfaltung durch diese wiederum behindert wird? Zweifelsohne entspringt sowohl der existenzphilosophische wie der postmodernistisch-individualistische Ruf nach Selbstsein oder Selbstverwirklichung dem allgemeinen Missmut gegenüber einer zunehmenden Funktionalisierung, Bürokratisierung und Anonymisierung unserer hochkomplexen Gesellschaft: »Dass ich ich selbst sein will, heißt auch und nicht zuletzt: Ich will mehr und anderes sein als das, was ich in meiner sozialen Funktion bin. Ich bin ich selbst, sofern ich nicht aufgehe in den Rollen, die ich als Mann, als Vater, als Hochschullehrer spiele. Der Begriff des Selbstseins entwirft geradezu eine Alternative zu diesem rollenhaften Als-Sein, zu dem Sein, das mir als Glied von Gemeinschaften zukommt. Er löst, in einen anderen Begriff übersetzt, Selbstdarstellung im Alltag, und ders.: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 179 Vgl. Theunissens Diagnose: »In Deutschland verknüpft sich mit dem Gedanken der Selbstverwirklichung spätestens seit Schillers Umdeutung des Kantischen Autonomiebegriffs die Vorstellung einer Entfaltung der je eigenen Individualität. Eine solche Individualisierung wurde zunächst noch teleologisch als Entwicklung aufgefasst, als fortschreitende Realisierung eines vorgegebenen Zwecks, und sodann immer mehr als ein Mit-sich-Experimentieren, als ein eigentlich zielloser Weg, auf dem das Individuum erst erfährt, was es ist. Vor allem aber setzt sich im nachhegelschen Denken mehr und mehr die Meinung fest, der Mensch könne seine Individualität nur entfalten, wenn er sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen löst oder sich gar von allen zwischenmenschlichen Beziehungen zurückzieht. Am entschiedensten vertreten diese Auffassung die Hauptrepräsentanten der Existenzphilosophie.« (Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 2)

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der nicht zufällig ebenfalls Hochkonjunktur hat, die persönliche von der sozialen Identität ab.« 180

Indem die soziale Wirklichkeit zum Zwecke ihrer Ordnung und Stabilität gewisser habitualisierter Rollen und Rituale gar nicht entbehren kann, und wir uns selbst nur in diesen definieren und handelnd verwirklichen können, lässt sich unser Selbst indes niemals auf die »persönliche Identität« reduzieren, denn: »die Rollenfunktion gehört wesentlich zum Selbst.« 181 Um auf der Suche nach einem Selbstverwirklichungsglück einen geeigneten Umgang mit dem rollenhaften »Als-sein« zu finden, das wesentlich zu unserem Selbstsein hinzugehört, hat man bei den soziologischen Rollentheoretikern Erkundigungen einzuziehen: In Opposition gegen das »Identitätstheorem« der strukturell-funktionalen Rollentheorie (Talcott Parsons), demzufolge eine soziale Rollendefintion stets mit dem konkreten Verhalten des Rollenträgers übereinstimme, weiß uns Jürgen Habermas erstens mit der empirisch bestätigten Erkenntnis zu beruhigen, Rollenerwartungen seien de facto meist so diffus, dass sie eine subjektive Rolleninterpretation erfordern und damit zugleich eine schöpferische Selbstrepräsentation ermöglichen: »Es ist – vor allem durch empirischen Rollenstudien – schon recht bald aufgefallen, dass es für viele Rollen keine eindeutigen Rollenvorschriften gibt, und Bezugsgruppen, die Normen setzen, nicht auffindbar oder in ihren Erwartungen weit differieren« 182 wobei es zweifellos Unterschiede in der Reflektierbarkeit der Rollen gibt. 183 Kommt es zu einem Konfligieren divergierender Rolleninterpretationen, muss im Medium der Kommunikation verhandelt werden. Entgegen der Annahme Parsons, die mit einer Rolle verbundenen Werte und Normen würden dem Rollenträger widerspruchsfrei oktroyiert (»Konformitätstheorem«), kann und soll laut Habermas zweitens das Subjekt kraft einer kritischen Rollendistanz ein reflektiertes Verhältnis zu seiner Rolle einnehmen. 184 Was nützen uns aber interpretatorischer Freiraum zur Ebd., S. 3. Krämer: Selbstverwirklichung, S. 97. Kerber bekräftigt: »Ohne solche sicheren Erwartungen, mit welchen Reaktionen man von den einzelnen Rollenträgern rechnen muss, kann niemand handeln.« (Walter Kerber: Sozialethik, S. 21) 182 Vgl. Jürgen Habermas: Kultur und Kritik, S. 125 f. 183 Vgl. zu den empirischen Rollenstudien Lothar Krappmann: soziologische Dimensionen der Identität, S. 101 ff. (Zitat ebd., S. 103). 184 Vgl. zum traditionellen Rollenmodell ebd., S. 111 ff. sowie Habermas: Kultur und Kritik, S. 126 f. Obgleich Berger/Luckmann die Möglichkeit der Rollendistanz auf die 180 181

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kreativen Rolleninterpretation sowie Autonomie verbürgende Rollendistanz, wenn Habermas drittens auch das »Integrationstheorem« Lüge straft, welches für den Akteur beim Erfüllen der Rollenerwartungen eine Befriedigung seiner Bedürfnisse und Interessen unterstellt? Müsste der Glückswillige einfach über ein immenses Maß an Frustrationstoleranz verfügen? 185 Während eine unhinterfragte Identität von Bedürfnissen/Interessen, Rollenerwartungen und Handlungen tatsächlich nur in repressiven Institutionen, die dem Individuum auch die erwünschten Neigungen gleichsam einimpfen, als ein »pathologischer Grenzfall« 186 zu erwarten sein dürfte, mutieren andererseits Rollen nur dann zu Zwangsjacken und zum Anlass von Entfremdung, wenn sie jedes persönliche Engagement und die bewusst zwischen dem »I« und dem »me« vermittelnde individuelle Gefühls- und Charakterbildung unterbinden. Denn soziales Rollenspiel zeitigt überall da Frustrationen oder gar Identitätskrisen, wo es »unecht« ist, d. h. wo das eigene Fühlen (»psychisches Selbst«) und Denken (»reines Selbst«) hinter einer Fassade oder Maske (»soziales Selbst«) versteckt wird, wie Hans Zeier aufzeigt: »Verhalten ist dann echt, wenn Äußerungen, Handlungen, Mimik und Gebärden eines Menschen mit seinem inneren Erleben, Fühlen und Denken übereinstimmen.« 187 Statt der »in Mode gekommenen falschen Selbstverwirklichungstheorie« zu huldigen mit ihrem Kernpostulat, »soziale Beziehungen seien umso realer, glaubhafter und authentischer, je besser sie mit unseren inneren, psychischen Bedürfnissen übereinstimmen«, 188 sollen wir nach Zeiers plausiblem Rat vielmehr versuchen, mit Rücksicht auf die entsprechende gesellschaftliche Handlungssituation die von einer Rolle geforderten Gefühle zu generieren und uns anzutrainieren, wodurch unser »psychisch-geistiges Selbst« keineswegs Schaden nimmt, son-

in der sekundären, d. h. schulischen, und tertiären (beruflichen) Sozialisation einschränken (vgl. dies.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 153, Fußnote 15), sprechen die Erfolge der Transaktionsanalyse gegen eine solche Eingrenzung (vgl. Kapitel 5.1, S. 388 f.). 185 Eine solche empfiehlt uns Habermas für alle stets wahrscheinlichen Fälle einer Diskrepanz zwischen intersubjektiven Rollenerwartungen und subjektiver Bedürfnisbefriedigung (in: ebd., S. 127). 186 Ebd. 187 Hans Zeier: Arbeit, Glück und Langeweile, S. 95. 188 Ebd., S. 98.

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dern vielmehr Konturen gewinnt. Am Beispiel der beruflichen Rolle expliziert er: »Die berufliche Gefühlsarbeit ist eine Gratwanderung. Jeder Berufstätige muss für seine Situation das Problem lösen: Wie kann ich mich auf die geforderte Berufsrolle einlassen, ohne mich selbst zu verlieren? Viele versuchen, mit diesem Problem dadurch fertigzuwerden, dass sie ganz klar zwischen ihrer Berufsrolle und ihrer Privatperson trennen. Sie wissen dann auch genau, wann ihre Gefühle aufgesetzt sind und wann nicht. Ein guter Schauspieler zeichnet sich dadurch aus, dass er sich mit seiner Rolle identifiziert, Gefühle nicht nur vorzeigt sondern sie auch hat. […] Wenn wir dies bewusst zu tun versuchen, leidet unser persönliches Ich wohl kaum darunter.« 189

Um über den hermeneutischen und praxeologischen Umweg über die Welt ein Selbst zu erlangen und zu Personen zu arrivieren, müssen wir augenscheinlich wie Schauspieler Gefühlsarbeit und Charakterbildung leisten, damit wir uns mit einer Rolle gut zu identifizieren und die gewählte Maske überzeugend zu tragen vermögen. Die intime Gesellschaft aber, so lautet der Hauptanklagepunkt Sennetts, »macht aus dem Individuum einen Schauspieler, der seiner Kunst beraubt ist.« 190 Erfolgreich und glücklich ist der qualifizierte Schauspieler in der Tat nur, wenn er sich den gesellschaftlichen Rollenerwartungen nicht bedingungslos anpasst, sondern sich aktiv und kreativ mit ihnen auseinandersetzt und sich dabei verändert, 191 weshalb die Rollentheoretiker des »Symbolischen Interaktionismus« (Mead) zu recht die große Bedeutung der kommunikativen und symbolischen Aspekte der Sozialisation hervorkehren: Rollenhandeln ist echt, wo es auf der Grundlage von Interaktion und Kommunikation gelingt, sich auf einen Sinngehalt einer Rolle bzw. die mit ihr verbundene Wertvorstellungen zu einigen, 192 wo die Sozialisation nicht ein Aufoktroyieren fixer Rollen zur gegenseitigen konfliktuösen Verdinglichung, sondern Ebd., S. 97 f. Sennett: Verfall und Ende, S. 335. 191 Daher wird in der neueren soziologischen Forschung vermehrt kritisiert, der traditionelle »Rollenbegriff sanktioniere die Zwänge, denen die Menschen heute unterworfen sind, und lasse der Spontaneität und Kreativität des Menschen nur in einem nicht durch Normen geregelten und daher wenig relevanten Bereich Raum.« (Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 115). Vgl. auch Sennetts Kritik am statischen Rollenmodell Goffmans, in welchem sich die Menschen nur an eine endlose Reihe von Rollen anpassen, ohne ihr Leben zu verändern, sich lediglich verhalten, aber nicht handeln und Erfahrungen machen (vgl. Sennett: ebd., S. 56 f.). 192 Vgl. zu dieser Rollentheorie des »Symbolischen Interaktionismus« sowie deren 189 190

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einen auf wechselseitiger Kooperation basierenden Prozess darstellt, bei welchem der Jugendliche schon früh zur eigenen Interpretation und Kritik von Normen oder Rollenerwartungen angehalten ist. 193 Die »echte« Identifikation mit einer Rolle qua Internalisierung normativer Erwartungen der Gemeinschaft gehorcht nämlich nicht dem lerntheoretischen Modell der Verstärkungswirkung von Belohnungen bestimmter Verhaltensreaktionen, also der schrittweisen gesellschaftlichen Konditionierung, sondern erfordert vielmehr eine symbolische Vermittlung integrierter Verhaltensmuster und ihrer kulturellen Interpretationen. Sie setzt somit »eine symbolische Beziehung anstelle der ausschließlich empirischen zwischen Reiz und Reaktion« voraus. 194 Angesichts der Notwendigkeit sozialer Rollen für jedes nach Glück strebende menschliche Lebewesen muss eine kritische Glücksphilosophie daher auf eine »normative Sozialisationstheorie« 195 gegründet sein, welche prinzipiell von einem Selbst als flexiblem, aus dem Sozialisationsprozess hervorgehendem Gleichgewicht des »sozialen Selbst« qua Rolle (»me«) und dem es transzendierenden und individuell gestaltenden »aktiven Selbst« (»I«) ausgeht: »Auf die uns bereits geläufige Theatermetapher bezogen, stellt das ›me‹ die objektive Seite des Rollenspiels dar, das von anderen auf die Aufführungsrichtigkeit und ›Werktreue‹ des ›sozialen Textes‹ hin beobachtet und kontrolliert wird, während das ›I‹ den subjektiven Aspekt, nämlich den Schauspieler in seiner persönlichen Originalität und individuellen Unverwechselbarkeit sowie der schöpferischen Interpretation seiner Rolle zum Ausdruck bringt.« 196 Weiterentwicklung durch Habermas Klaus Jürgen Tillmann: Sozialisationstheorien, S. 133–143. 193 Vgl. zu diesem interaktionistischen Sozialisationskonzept Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 113, oder Werner Bergmanns/Gisbert Hoffmanns treffende Kontrastierung von Mead und Sartre (S. 104 ff.) sowie Mead und Schütz (S. 108 f., in: G. H. Mead und die Tradition der Phänomenologen). 194 Vgl. Habermas: Kultur und Kritik, S. 122. 195 Tillmann greift hier einen von M. Brumlik (1983) bei einer Darstellung des »Symbolischen Interaktionsismus« eingeführten Terminus auf und appliziert ihn auf Habermas’ Rollentheorie: »Das stabile Selbst – und damit die Grundqualifikationen des Rollenhandelns – werden als wünschenswerte Ziele der Subjektentwicklung dargestellt; […] Eine solche strukturelle Begründung von Sozialisationszielen ist aber keineswegs ›wertfrei‹; vielmehr ist ihm eine Grundentscheidung für die Gewinnung von Autonomie, Handlungsfähigkeit und Individualität unterlegt. Versteht man in dieser Weise die Ich-Identität und die mit ihr verbundenen Grundqualifikationen als oberste Erziehungsziele, so lässt sich dieser Ansatz als ›normative Sozialisationstheorie‹ […] verstehen.« (Tillmann: Sozialisationstheorien, S. 142) 196 Hans Peter Henecka: Grundkurs Soziologie, S. 104.

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Normativ wäre eine solche glückszentrierte interaktionistische Sozialisationstheorie insofern, als sie zum einen seitens des Subjekts die genannten Grundqualifikationen eines echten Rollenhandelns, erstens Kreativität bei der individuellen Rolleninterpretation, zweitens Rollendistanz und Autonomie und drittens Ausdauer bei der Gefühls- und Charakterformung fordert. Darüber hinaus werden die gesellschaftlichen Strukturen des Rollensystems daraufhin inspiziert, ob sie allzu repressiv das vielfältig-experimentelle Erproben von Rollen und das Einüben des autonomen Sich-Distanzierens von ihnen bei den Heranwachsenden unterbinden, oder ob sie im Zeichen eines »psychosozialen Moratoriums« den Jugendlichen Raum lassen für repressionsfreie Interaktion und aktives Mitgestalten von traditionellen Rollenmustern. Erikson bezeichnet mit seinem Neologismus »psychosoziales Moratorium« diejenige Periode, »während dessen der Mensch durch freies Rollen-Experimentieren sich in irgendeinem der Sektoren der Gesellschaft seinen Platz sucht, eine Nische, die fest umrissen und doch wie einzig für ihn gemacht ist.« 197 Unabhängig von diesen Postulaten weist jede mittels Rollen stabilisierte soziale Gemeinschaft selbst bereits eine normative Dimension auf, indem sie niemals allein durch irgendwelche räumlichen, biologischen oder gesinnungsmäßigen Relationen oder ein gemeinsames Set von Rollen konstituiert werden kann, sondern erst kraft der »sittlichen Bindung des einzelnen an ein gemeinsames Ziel.« 198 Trotz des lautstarken individualistischen Appells, uns selbst zum Maßstab aller Dinge zu machen, stecken wir immer schon in der Welt und inmitten gemeinschaftlicher, auf einheitliche Ziele oder Werte ausgerichteter Handlungszusammenhänge, die ein sinnvolles intentionales Rollenhandeln der einzelnen fundieren. Müsste infolgedessen als hauptsächlichste Intention einer gelingenden Selbstverwirklichung als eines geglückten Welt-Selbst-Verhältnisses das »gemeinsame gute Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 137 f. Walter Kerber: Sozialethik, S. 40. »Gesellschaft ist eine Viel-Einheit, in der die vielen Personen ihren Selbstand behalten. Das formale Element, das in den vielen Personen verwirklicht ist, besteht in der Ausrichtung auf einen gemeinsamen Wert, ein gemeinsames Ziel, das die Glieder der Gesellschaft als Geistwesen erkennend und strebend zu verwirklichen übernommen hat. Gesellschaft besteht also nicht etwa in den vielfältigen Beziehungen der verschiedenen Mitglieder zueinander. Aus dieser Vielzahl von Relationen ergäbe sich noch keine einheitliche Gesellschaft. Diese besteht vielmehr aus eine Vielheit von Beziehungen auf einen gemeinsamen Zielwert hin, der als solcher eine Identität besitzt.« (ebd., S. 39) 197 198

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Leben« fungieren, wie Friedrich Kambartel in seinem Referat Universalität als Lebensform dezidiert verlautbart? Wird die Richtung unseres wesentlich in einem durch Rollen strukturierten gesellschaftlichen Zusammenhang sich vollziehenden Selbstverwirklichungsprozesses entscheidend durch die gemeinsamen einheitlichen Ziele festgelegt? »Um in einem wesentlichen, praktischen Sinne zu uns selbst zu gelangen, müssen wir«, so postuliert Kambartel, »unsere (individuelle) Subjektivität überwinden. Ich möchte diese Einsicht das vernünftige Begreifen des guten Lebens und ein Leben aus dieser Einsicht vernünftiges Leben nennen. Das bedeutet dann: Im vernünftigen Leben begreifen wir unsere Verwirklichung als gemeinsamen Selbstzweck unseres Handelns. Kurz: Das vernünftige Leben ist das gemeinsame gute Leben.« 199

Wer sich selbst verwirklichen will, ist laut Kambartel bei der Bestimmung seines »guten Lebens« und dem Gestalten seiner Rolle zu einer »transsubjektive[n] Handlungsorientierung« 200 aufgerufen, zu einer Orientierung an gemeinsam verfolgten Lebenszielen und der gegenseitigen praktischen Anerkennung aller als produktiv Mitwirkende im Prozess gemeinsamer Zielverfolgung. Durch Eingrenzung der »moralische[n] Universalität auf diejenigen […], die bereits in einem gemeinsamen Handlungszusammenhang stehen«, 201 scheint die angebliche »Universalität« solcher Lebensformen zwar auf den ersten Blick beträchtlich eingeschränkt. Der Aktivitätsradius kollektiver Vorhaben hat aber zweifelsohne zu Zeiten der Globalisierung sukzessive expandiert: »Insofern dieser Handlungszusammenhang inzwischen die ganze Menschheit umfasst, ist das gute Leben ein Menschheitsprojekt geworden.« 202 Zu einem affinen Fazit gelangt auch Michael Theunissen in seiner gegen die modernistisch-privatistische »Ideologie der Selbstverwirklichung« gerichteten Studie Selbstverwirklichung und Allgemeinheit: Eine »Selbstverwirklichung« im vollen Begriff liege erst da vor, wo »das menschliche Individuum sein Leben an in sich vernünftigen Sachen ausrichtet und Friedrich Kambartel: Universalität als Lebensform, S. 20 (ohne Sperrungen). Ebd. 201 Ebd., S. 160. Mit Gerhard »lässt sich aber doch bezweifeln, ob hier überhaupt noch von Universalität geredet werden sollte, nachdem die ›Allsamkeit‹ doch auf den jeweiligen Handlungskontext beschränkt wurde; die von Kambartel gleichfalls gebrauchte Bezeichnung ›Transsubjektivität‹ vermeidet irreführende Assoziationen und ist deshalb wohl vorzuziehen.« (Gerhardt: Kritik des Moralverständnisses, S. 70) 202 Kambartel: ebd., S. 19 (ohne Sperrungen). 199 200

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an der Allheit gleicher Subjekte orientiert ist.« 203 Anders als Hegel rät uns Theunissen anlässlich dieser doppelten Forderung an den Selbstverwirklicher nicht mehr, das Vernünftige und Allgemeine im Staatsleben zu suchen, nachdem der Staat seine ursprüngliche politische Funktion zugunsten administrativer Funktionen eingebüßt hat und »zunehmend mehr zum bloßen Verwaltungsapparat herabsinkt«, 204 sondern vielmehr in der Hinwendung zu den dringlichen Weltproblemen: »Die Weltprobleme – das sind heute die weltweite Ausbeutung der Natur, der Hunger in der Welt und die Bedrohung des Weltfriedens. Damit sind die in sich vernünftigen Sachen vorgegeben, deren Vernunft aus ihrer Relevanz für die Allheit gleicher Subjekte zu ersehen ist. Die Selbstverwirklichung, die von uns gefordert ist, konkretisiert sich heute also in der Bekümmerung um die weltweite Ausbeutung der Natur, in der Betroffenheit vom Hunger in der Welt, in der Sorge um den Weltfrieden.« 205

Wo Kambartel die vernünftige Selbstverwirklichung dem prozedural-formalen Maßstab gemeinsam anvisierter Lebensziele anheimstellt, versteigt sich Theunissen in einer schwer begründbaren materialen Bestimmung von selektierten allgemeinen Weltproblemen, die den normalalltäglichen Horizont unseres »sozialen Selbst« eindeutig sprengt: Würden dadurch nicht gemeinsame Werte und Ziele bescheidenerer Handlungszusammenhänge wie die Erziehung der eigenen Kinder oder das Servieren eines Kellners unplausiblerweise diskreditiert? Auch wenn die Auseinandersetzung mit weltweiten Menschheitsproblemen sicherlich einen äußersten konzentrischen Kreis unseres »sozialen Selbst« bildet, umfasst dieses noch viele andere Aufgaben, wie andererseits das anerkannte, wertvolle Engagement für Weltfrieden oder für die Wahrung des ökologischen Gleichgewichts kein Garant gelingender Selbstverwirklichung ist, weil das »soziale Selbst« nur eine Dimension unseres vielfältigen Selbst ausmacht. Auch Gerhardt moniert entsprechend, dass »die rechtmäßige Beteiligung an Demonstrationen der Friedensbewegun203 Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 27. Theunissens Bestimmung der »vernünftigen Sachen« über deren »Relevanz für die Allheit gleicher Subjekte« (ebd.), die er explizit nicht »in der bloßen Erweiterung der Subjektivität zur Intersubjektivität« sehen will, bleibt allerdings vage: Ist das, was für alle Menschen relevant ist, schon für alle Menschen gut und damit vernünftig? Vgl. dazu auch Gerhardts Zweifel in: Kritik, S. 74 f. 204 Theunissen: ebd., S. 38. 205 Ebd., S. 46.

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gen (aus welcher Motivation auch immer) oder eine rege Spendetätigkeit für Länder der südlichen Hemisphäre ein doch billig erkaufter Garant der eigenen Selbstverwirklichung« wäre. 206 Selbstverwirklichung lässt sich daher entgegen Theunissens Vorschlag nicht allein über bestimmte materiale Weltprobleme definieren, diese stellen aber angesichts der permanenten Ausweitung der Handlungszusammenhänge, in welche wir direkt oder indirekt involviert sind, hinsichtlich der sozialen Komponente unseres Selbst eine »notwendige praktische Konsequenz von Selbstverwirklichung« 207 dar. Insofern steht »die langwierige Erziehung der Menschen zur Wahrnehmung der Weltprobleme« 208 als Versuch, der Verbreitung der inflationierenden, egoistischen und gegenwartsbezogenen Selbstverwirklichungsideologie einen Riegel vorzuschieben, durchaus im Interesse einer aufgeklärten und vernünftigen »verantworteten Selbstverwirklichung« 209 . Als »notwendige Folgen des persönlichen Wachstums« wären dementsprechend die Forderungen nach sozialer Kompetenz und nach ökologischem Bewusstsein zu bezeichnen, wie es auch das von humanistischen Psychologen entwickelte Konzept themenzentrierter Interaktion (TZI) verlangt. 210 Allzu pathetisch und rhetorisch-phrasenhaft beschließt indes Theunissen seine Ideologiekritik mit dem Argument, ich selbst sein könne ich nur, wenn ich mit mir selbst in Frieden sei, wobei ich mit mir selbst solange nicht in Einklang oder in Frieden sei, »solange ich mich auch nur im Unfrieden mit einem einzigen anderen befinde«, was ihn zum gewagten Schluss inspiriert, jeder heute noch zu verteidigende Wert sei »eben um der Selbstverwirklichung des einzelnen willen, den Imperativen der Friedenssicherung unterzuordnen.« 211 Soll mit der blumigen Wendung »mit sich im Einklang/Frieden« gemeint sein, dass mein »normatives Selbst« bei der Realisation auf keine gravierenden äußeren Widerstände stößt und daher problemlos bejaht werden kann, wird dieser Einklang zwar durch den Streit mit meinen Nächsten, welche vielleicht die Realisation zentraler individueller Lebensziele obstruieren, erheblich gestört. Die in unserem Lebenskonzept Gehrhardt: Kritik, S. 75. Ebd. 208 Theunissen: Selbstverwirklichung, S. 46. 209 Kleiter: Egozentrismus, Selbstverwirklichung und Moral, S. XIII, wo es als KontrastKonzept zur »egozentrischen Selbstverwirklichung« figuriert. 210 Vgl. James K. Pfrenger: Selbst und Existenz, S. 144. 211 Theunissen: Selbstverwirklichung, S. 48 und S. 49. 206 207

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bestenfalls peripher berücksichtigten Weltprobleme wie Krieg im Kosovo hingegen – in gewissem Sinne ein »Streit mit dem Fernsten« –, werden ohne die erwähnte Erziehung zur Weitsicht und zu internationalem Engagement für eine globalisierte »Welt als konkret gesellschaftliche Totalität« 212 die persönliche Eintracht kaum irritieren, wodurch Theunissens Prämisse zum Postulat mutierte. Unthematisiert bleibt bei seinem Appell an die Unterwerfung unter die Imperative der Friedenssicherung auch, warum das Menschheitsproblem der Friedensbedrohung plötzlich den Vorrang verdient vor allen anderen (etwa der Ausbeutung der Natur). 213 Zum Zwecke eines individualethisch qualifizierten, umsichtigaufgeklärten und in einem umfassenden Sinne vernünftigen Selbstverwirklichungsglücks gilt es damit nicht nur, den »hermeneutischen« und »praxeologischen Vorrang« der (Mit-)Welt zu respektieren, um nicht im »Sumpf der Selbsttäuschung und der daraus resultierenden Selbstverfehlung« zu versinken, aus dem man »sich nicht am eigenen Schopfe ziehen« kann. 214 Vielmehr hat man sich im Zeichen ihres »intentionalen Vorrangs« um Einsicht in die globalen Handlungszusammenhänge und kollektiven Ziele zu bemühen, innerhalb deren wir uns bei der Verwirklichung weitreichenderer Dimensionen unseres »sozialen Selbst« orientieren müssen. Weil infolge sich akut verschärfender Weltprobleme, deren Bedrohlichkeit sich zumeist außerhalb der Reichweite unseres Blickfeldes befindet und sich entweder dem Verwässerungsproblem einer komplexitätsbedingten Unverantwortbarkeit bei institutionellem Handeln oder 212 »Auf der anderen Seite sind in unserer Zeit die konkreten Voraussetzungen für eine ethisch emphatische Selbstverwirklichung erstmals vollständig gegeben. Eine Selbstverwirklichung, die ein verbindliches Postulat sein soll, muss Allgemeinheit realisieren, indem das einzelne Subjekt in sich vernünftige Sachen in der Orientierung an der Allheit ihm gleicher Subjekte verfolgt. Wir sind Erben des Kapitalismus, dessen fruchtbarste Leistung war, Welt als konkret gesellschaftliche Totalität erschlossen zu haben. Damit hat sich auch Allgemeinheit als die wirkliche, nicht national eingeschränkte konstituiert.« (ebd., S. 45 f.) 213 Theunissen selbst definiert »Glück« wohlgemerkt nicht über die Selbstverwirklichung, sondern grenzt das Glück des »In-Frieden-mit-sich-Seins« als – die einzig legitime – Form menschlichen Glücks von einer bloß subjektiven Zufriedenheit abgrenzt, ohne hierbei allerdings ausreichende sprachliche Klarheit zu erlangen: »Aber das Glückskriterium ist seinerseits allein dann rechtmäßig, wenn es so gefasst wird, dass es das abstrakt individuelle Glück ausschließt, das als seinen Preis das Unglück des anderen verlangt. Die Abgrenzung des In-Frieden-mit-sich-Seins von bloßer Zufriedenheit ist vielleicht ein Schritt in Richtung auf eine solche Präzisierung.« (ebd., S. 48) 214 Kambartel: Universalität als Lebensform, S. 19.

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dem Kumulationsproblem bei nicht-koordiniertem Handeln verdankt, das Konzept individueller Selbstverantwortung selbst unverantwortlich wurde, setzt das Glück einer »verantworteten Selbstverwirklichung« umfassende Aufklärung über die Konsequenzen und die Verflochtenheit des individuellen Handelns voraus. Angesichts der Notwendigkeit kollektiv geteilter Verantwortung und der Verpflichtung aller auf globale Handlungsziele darf man tatsächlich mit Theunissen »bezweifeln, ob Selbstverwirklichung heutzutage für den noch möglich ist, der sich von den genannten Weltproblemen nicht betroffen sieht und daraus seine praktischen Folgerungen zieht.« 215 Statt wie Theunissen die Selbstverwirklichung mithilfe einer abstrakten Gedankenverbindung von »Mit-sich-selbst«- und »Mit-dem-Fernsten-im-Einklang-Sein« über gewisse Menschheitsprobleme definieren zu wollen, hat die persönliche Selbstverwirklichung auch – aber nicht ausschließlich – für transsubjektive Ziele aufgeschlossen zu sein, nachdem sich der Handlungszusammenhang, in dem jeder steht, keineswegs mehr auf einen kleinen Weltausschnitt beschränkt, die eigenen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten indessen bescheiden blieben. Verfallen wir aber bei solcher Ausrichtung unseres Selbstseins an transsubjektiven Handlungszielen und den Strukturen öffentlicher Auslegung von allgemeinen Weltproblemen nicht dem Existenzmodus der »Uneigentlichkeit«, vor welchem Martin Heidegger uns emphatisch warnt? Obgleich menschliches Dasein »wesenhaft an ihm selbst Mitsein ist«, 216 ist es laut Heidegger »im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst«, sondern vielmehr das »Man«, wobei gelte: »Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen.« 217 Weil sich im alltäglichen Modus des »Untereinanderseins, Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung, Öffentlichkeit, Seinsentlastung und Entgegenkommen« 218 das Selbst des eigenen Daseins noch nicht gefunden habe, sei solches Dasein sich nicht wirklich »zu eigen« und als eigene Möglichkeit des Seinkönnens erschlossen, sondern wesentlich »uneigentlich«. 219 Das sich in der öffentlich interpretierten Welt alltägDieses Einverständnis mit Theunissen bekundet Gerhardt: Kritik, S. 76. Heidegger: Sein und Zeit, S. 120. 217 Ebd., S. 125 und S. 126. 218 Ebd., S. 128. 219 Vgl. dazu etwa Schönleben: »Die Titel ›Uneigentlichkeit‹ und ›Eigentlichkeit‹ versteht Heidegger in einem wörtlichen Sinne: Das Dasein existiert eigentlich, wenn es 215 216

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licher Handlungszusammenhänge oder dringlicher Menschheitsprobleme zerstreuende Individuum, sich auf eine durchschnittliche Form des »sozialen Selbst« nivellierend, werde für die ihm eigenen Lebensmöglichkeiten erst frei vermöge des Zerbrechens der genannten Signaturen der »Uneigentlichkeit« in der Angst. Zwar scheinen die seriösen Heidegger-Interpreten darin übereingekommen zu sein, dass weder die Analysen der Alltäglichkeit und des Man-Selbst als pessimistische Kulturkritik zu verstehen seien, 220 noch auch diejenigen der Eigentlichkeit ein »moralisch-religiöses Gebot [darstellen], wonach mit dem Verfallen zu brechen und auf eine bestimmte ›ursprüngliche‹ Weise zu leben sei«. 221 Denn Heidegger hat das »Un«explizit nicht im Sinne eines »weniger« Seins, eines »niedrigeren« Seinsgrades verwendet, sondern »im strengen Wortsinne terminologisch gewählt«. 222 Gleichwohl bleibt im Dunkeln: Bilden »Eigentlichkeit« und »Uneigentlichkeit« zwei komplementäre Daseinsformen, so dass sich eine Selbstverwirklichung nur im einen oder anderen Modus vollziehen könnte? Geriete dann wie bei den meisten Existenzphilosophen die Selbstwerdung »zur Vereinzelung in dem Sinne, in welchem Heidegger diesen Terminus verwendet, d. h. zur Befreiung von den andern«, 223 wie Gerhardt supponiert? Würde zum zweiten der nach purer »Eigentlichkeit« aspirierende Selbstverwirklicher nicht von negativen Gefühlen wie Angst, Depression oder Verzweiflung überschüttet, statt in glücklicher Stimmung zu schweben? Versucht man, trotz Heideggers suggestivem »Jargon der Eigentlichkeit« 224 von Sein und Zeit nicht in eine asketisch-existentialistische Interpretation der fraglichen »existentielle[n] Modifikation sich, d. h. seinem Sein zu eigen ist, d. h. anders gesprochen, wenn sein Erschlossensein ein ursprünglich eigenes ist.« (Erich Schönleben: Wahrheit und Existenz, S. 195) 220 Vgl. Blust: »Die zentrale Bedeutung und das Neue der Analyse der Alltäglichkeit und des Man-Selbst ist nicht Kulturkritik, sondern neben der Begründung der Nivelliertheit des gängigen Seinsbegriffs die Einsicht, dass das Selbst wesenhaft so wenig in sich eingeschlossen ist und einen polartigen Seinsstand besitzt, dass es zunächst und zumeist nicht einmal sich zu eigen hat, sondern ›draußen‹ bei den Anderen und bei den Dingen ist …« (Franz-Karl Blust: Selbstheit und Zeitlichkeit, S. 107, ohne Sperrungen) 221 Poul Lübcke: Martin Heidegger, S. 186. Heidegger selbst betont, »dass die Interpretation eine rein ontologische Absicht hat und von einer moralisierenden Kritik des alltäglichen Daseins und von ›kulturphilosophischen‹ Aspirationen weit entfernt ist.« (Heidegger: Sein und Zeit, S. 167) 222 Ebd., S. 43. 223 Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 3. 224 Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit, zu Heidegger speziell S. 79 ff. A

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des Man-selbst zum eigentlichen Selbstdasein« 225 abzudriften, dürften »Uneigentlichkeit« und »Eigentlichkeit« keine kontradiktorischen Lebensformen markieren. 226 Statt die Eigentlichkeit mit einem Rückzug auf die reine Innerlichkeit und einem Gegenzug gegen das Verfallen an die Welt zu verwechseln, hätte man sich der existentialontologischen Termini als »Grundweisen des Sichverlegens« im Welt-Selbst-Verhältnis, als »Grundmöglichkeiten des Angeeignethabens des vollen In-der-Welt-Seins« 227 zu bedienen: Während wir bei der uneigentlichen Schwerpunktverlagerung unserer Existenzweise gänzlich in den öffentlich ausgelegten Aufgaben aufgehen und soziale Rollen selbstlos-unhinterfragt spielen, geht es beim Eigentlichkeits-Pol allein um das eigene Sein als Seinkönnen, dem »Sein des Daseins selbst […] als dem eigentlichen und einzigen Worum-willen« 228 menschlichen Lebens, letztlich also um die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen im kantischen Sinne. 229 Optiert man für diese polare Auflösung der missverständlichen Dichotomie von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, macht diese zwar Sinn, entpuppt sich aber als wesentlich undifferenzierter gegenüber unserer oben im Anschluss an Frankl und Krämer entwickelten Liste verschiedener Prioritätsaspekte von Welt und Selbst im glückskonstitutiven WeltSelbst-Verhältnis – durch die Beschränkung auf den »transzendentalen Vorrang« des Selbst (1a) und den »intentionalen Vorrang« der Welt (2a). Obgleich Heidegger also den elementaren strukturellen Zusammenhang von Welt- und Selbstbezug im menschlichen Dasein in typo richtig beleuchtet, wird doch die Relevanz der Welt, insbesondere der Mitwelt (in ihrem »hermeneutischen« und »praxeologischen Vorrang«) unterminiert infolge des – allerdings ontisch-phänomenal begründeten – 230 Übergewichts der Phänomenologie der Eigentlichkeit. Diese verdeckt, dass das individuelle Selbstseinkönnen sich nur Heidegger: Sein und Zeit, S. 267. Vgl. dazu etwa Carl F. Gethmann: Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit, S. 160 f. oder Lübcke: Martin Heidegger, S. 187 ff. 227 Blust: Selbstheit und Zeitlichkeit, S. 108. 228 Heidegger: Sein und Zeit, S. 84. 229 Vgl. Gethmann: Heideggers Konzeption, S. 158. 230 Mit Berufung auf Heideggers These, das menschliche Selbstsein sei »existential nur abzulesen am eigentlichen Selbstseinkönnen, das heißt an der Eigentlichkeit« (Sein und Zeit, S. 322), erscheint Blusts Folgerung schlüssig: »Das Interesse der Daseinsanalytik an der Eigentlichkeit liegt einzig und allein in dieser ontisch-phänomenalen Bedeutung der Eigentlichkeit begründet, und nicht darin, weil die Eigentlichkeit etwa sittlich höher 225 226

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in den sozialen Interaktionsprozessen, nicht aber im stillen Gewissensruf oder in der Angst erschließt, wie Helmut Fahrenbach treffend klarstellt: »Die Konstitution des ethischen Existenzverständnisses wird grundlegend vom Selbstverständnis her angesetzt und entwickelt, sodass die gesamte ethische Dimension im ›Selbstseinkönnen‹ fundiert oder zumindest zentriert ist und den interpersonal-sozialen Daseinsbezügen, in denen ein jeder existiert, keine eigentlich konstitutive Bedeutung zukommt. Demgegenüber muss gesehen werden, dass die interpersonal-sozialen Existenzverhältnisse nicht nur strukturell zur ethischen Dimension gehören – was von den Existenzphilosophen durchaus anerkannt wird – sondern für deren Erschließung und Realisation eine grundlegende Bedeutung haben.« 231

Um mit Krämer »Heideggers Resultate in den Bezugsrahmen einer Praktischen Philosophie und Ethik zurückzuholen«, 232 müsste daher zum einen die sozial-anthropologische Basis der Eigentlichkeit zutage gefördert werden, weil wir uns nur in Auseinandersetzung mit Fremdbespiegelungen und öffentlichen Auslegungen von Handlungsmöglichkeiten zu unserem eigenen Sein verhalten und ein Selbst-Sein konstituieren können, zum zweiten die existenzphilosophische Kluft zwischen der sich in negativen Stimmungen der Grenzsituationen manifestierenden Möglichkeiten des Selbstseins und der praktischen Rationalität überbrückt werden. 233 Soll unser Selbstverwirklichungsprojekt nicht in der bodenlos-handlungslähmenden Angst versinken, welche zwar »das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens« offenbart, 234 das letzte Ziel menschlicher Praxis: das Glück aber wesentlich verdüstert, kann uns allein eine rational begründete normative Wahl bestimmter Situationsinterpretationen und intentionaler Weltbezüge aus der negativistischen Eigentlichkeits-Polarisierung retten, ohne blindlings der Charybdis der Uneigentlichkeit anheimzufallen. »So ernst diese Existenzbeschreibung als Analyse der uns begegnenden Lebensweise zu nehmen ist«, kommentiert entsprechend Gerhardt Heideggers Existentialontologie von Sein und Zeit, »für das praktische Interesse zu veranschlagen sei als die Uneigentlichkeit.« (Blust: Selbstheit und Zeitlichkeit, S. 124, ohne Sperrungen) 231 Helmut Fahrenbach: Existenzphilosophie und Ethik, S. 189. 232 Krämer: Integrative Ethik, S. 196. 233 Vgl. ebd, S. 194. 234 Heidegger: Sein und Zeit, S. 188. A

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als Individuum muss sie unbefriedigend bleiben, weil sie keinen Weg zu einer ›eigentlichen‹ Existenzmöglichkeit zu erkennen gibt, der etwas von dem zulässt, was die Antike noch selbstverständlich als das wesentliche Ziel menschlicher Praxis ansah: eudaimonia.« 235 Im Zeichen einer normativen Glücksphilosophie macht es sicherlich wenig Sinn, wie Heidegger für die uns in die Vereinzelung und die unheimliche Leere des »Nicht-Zuhause-Seins« treibende Angst zu plädieren, 236 weil sich in ihr alle gewohnten Auslegungsmöglichkeiten des Seienden und die vom »Man« zur Verfügung gestellten Rolleninterpretationen in Nichts auflösen, wodurch wir ein ganz neues Bedeutungsspektrum möglicher Weltbezüge der un-wahren Verborgenheit zu entreißen und uns aus der infektiösen »Möglichkeitsblindheit« zu befreien vermögen. »Allein in der Angst liegt die Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens«, postuliert Heidegger, »weil sie vereinzelt. Diese Vereinzelung holt das Dasein aus seinem Verfallen zurück und macht ihm Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Möglichkeiten seines Seins offenbar.« 237 Hinsichtlich einer praktischen Philosophie der Selbstverwirklichung scheinen mir demgegenüber die von Habermas akzentuierte kritische Rollendistanz sowie die Kreativität, welche in Abgrenzung vom rein analytischen Denken die Fähigkeit meint, »Gegenstände in neuen Beziehungen und auf originelle Art zu erkennen, sie auf ungewöhnliche Weise sinnvoll zu gebrauchen und neue Probleme zu sehen, wo scheinbar keine sind«, 238 im Umgang mit öffentlichen Weltauslegungen und Rollenerwartungen völlig ausreichend. Ohne Gefahr zu laufen, beim wahrheitssuchenden Sich-Verlegen auf den subjektiv-eigentlichen Pol im Welt-Selbst-Verhältnis den Geschmack an der Gerhardt: Kritik, S. 54. Heidegger: Sein und Zeit, § 40, S. 190 f. 237 »Die Wahrheit (Entdecktheit) muss dem Seienden immer erst abgerungen werden. Das Seiende wird der Verborgenheit entrissen. Die jeweils faktische Entdecktheit ist gleichsam immer ein Raub«, pointiert Heidegger (ebd., S. 222). Denn es gelte: »Das verstehende Sichentwerfen des Daseins ist als faktisches je schon bei einer entdeckten Welt. Aus dieser nimmt es – und zunächst gemäß der Ausgelegtheit des Man – seine Möglichkeiten. Diese Auslegung hat im vorhinein die wahlfreien Möglichkeiten auf den Umkreis des Bekannten, Erreichbaren, Tragbaren, dessen, was sich gehört und schickt, eingeschränkt. Diese Nivellierung der Daseinsmöglichkeiten auf das alltäglich zunächst Verfügbare vollzieht zugleich eine Abblendung des Möglichen als solchen. Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Besorgens wird möglichkeitsblind und beruhigt sich bei dem nur ›Wirklichen‹.« (ebd., S. 194 f.) 238 Zeier: Arbeit, Glück und Langeweile, S. 89. 235 236

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Um- und Mitwelt zu verlieren, wäre das Oszillieren zwischen der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit analog zur Gleichgewichtsfindung zwischen dem »I« (Stellungnahme zur eigenen Vergangenheit, zu Körper und Charakter) und »me« (Interaktionserfahrungen, Rollenerwartungen, situative Anforderungen) als eine äußerst kreative Leistung der Identitätsfindung zu begreifen, die im Laufe des lebenslangen Selbstverwirklichungsprozesses, d. i. der Umsetzung eines relativ stabilen »normativen Selbst« ins »faktische«, niemals endgültig abgeschlossen ist: »Identität zu gewinnen und zu präsentieren ist ein in jeder Situation angesichts neuer Erwartungen und im Hinblick auf die jeweils unterschiedliche Identität von Handlungs- und Gesprächspartnern zu leistender kreativer Akt«, legt auch Krappmann klar. »Er schafft etwas noch nie dagewesenes, nämlich die Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Individuums für die aktuelle Situation. Das bedeutet zugleich, dass das Individuum sich durch den Rückgriff auf frühere Interaktionserfahrungen und andere Anforderungen, die mit in die Formulierung seiner Position einfließen, dieser Situation gegenüber in Distanz setzt. Mit Hilfe seines Identitätsentwurfs, den das Individuum […] als Bestandteil in die Situation einführt, versucht das Individuum, eine Interpretation der Situation durchzusetzen, die seinen Handlungsmöglichkeiten und Absichten möglichst weitgehend entspricht.« 239

Während also Selbstsein, Authentizität oder Eigentlichkeit im existenzphilosophischen Medium der Angst zu »dysdämonischen Qualifikationen des Lebens« 240 depotenziert werden und aufgrund ihrer Tendenz zur Isolation von Um- und Mitwelt eine gelingende Selbstverwirklichung qua erfolgreiches prozessuales Welt-SelbstVerhalten behindern, könnten sie auf der Grundlage autonomer Distanz und eines schöpferischen Umgangs mit scheinbar festgefahrenen Problem- und Gegenstandsdeutungen sowie fixen Interaktionsritualen als eudaimonologische Qualitäten einer gelingenden, beglückenden innerweltlichen Selbstverwirklichung rehabilitiert werden. Stellt man kontrastiv zu Heidegger in Rechnung, dass wir uns selbst nur »zu eigen« und damit »eigentlich« werden dank eines normativen, rational begründbaren, in der Auseinandersetzung mit dem »Man« kritisch und kreativ entwickelten und stets modifizierbaren Identitätsentwurfs mit einer zeitlichen und hierarchischen Ordnung von Lebenszielen, legt sich auch eine divergierende Inter239 240

Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, S. 11 f. Krämer: Integrative Ethik, S. 192. A

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pretation der dysdämonischen Stimmung der Angst nahe: Statt uns, jedes »Wovor« oder »Wohin« unserer zeitlichen Existenz liquidierend, vor das »nackte Dass« des »In-der-Welt-Seins« als solchem und das »Nichts« der völligen Unbedeutsamkeit alles innerweltlich Seienden zu werfen, 241 signalisierte die Angst vielmehr ein drohendes Scheitern unseres Lebens- bzw. Selbstverwirklichungsprojektes als Ganzem vor einem bestimmten Werthorizont. 242 Nehmen wir die Marksteine der bisherigen Gedankenentwicklung bezüglich des Verhältnisses von persönlicher Selbstverwirklichung und sozialer Abhängigkeit ins Visier: Obgleich ein sozialer Interaktionszusammenhang in hermeneutischer, praxeologischer und intentionaler Hinsicht für unsere Selbstfindung und -verwirklichung unverzichtbar ist, können die gesellschaftlichen Strukturen unser Selbstverwirklichungsstreben ohne Frage beengen und unser Selbstverwirklichungsglück entsprechend dezimieren. Dies bewog uns dazu, unserer kritischen Glückstheorie eine normative Sozialisationstheorie zugrunde zu legen, welche seitens der Gesellschaft repressionsfreies, spielerisch-experimentelles Erproben vielfältiger sozialer Rollen und das Einüben kritisch-distanzierter Auseinandersetzung mit diffusen bis starren Rollenerwartungen – insbesondere im Rahmen des »psychosozialen Moratoriums« der Heranwachsenden – reklamiert. Vom einzelnen Verwirklicher eines »sozialen Selbst« andererseits wird neben der Fähigkeit zur autonomen Rollendistanz zusätzlich Kreativität bei der individuellen Rolleninterpretation zwecks schöpferischer Selbstdarstellung sowie Ausdauer bei der für jeden guten, erfolgreichen und glücklichen Schauspieler seines Lebens unabdingbaren Gefühls- und Charakterbildung gefordert. Jede Gemeinschaft, die uns Raum lässt für eine kreative, produktive Gestaltung und Realisation unseres Selbstkonzeptes, wird dabei als eine Viel-Einheit niemals allein durch geographische, biologische oder gesinnungsmäßige Relationen bzw. ein rein funktioVgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 186 f. Vgl. unsere Korrektur am heideggerschen Stimmungskonzept in Kapitel 3.2, S. 229 ff. Gerichtet sei der Grundaffekt der Angst, so setzt auch Krämer Heideggers Angstanalyse zu berichtigen an, »als Lebensangst auf die Lebensqualität im Welt- und Selbstverhältnis und ihre Privationsformen. Diese Lebens- und Weltangst ist also nicht, wie Heidegger meint, freischwebend und grundlos, sondern ein Privationsphänomen, ein prinzipiell erfahrenes und daher unbestimmt gehaltenes Entzugserlebnis, das ein drohendes Missglücken des Lebens im ganzen signalisiert.« (Krämer: Integrative Ethik, S. 198) 241 242

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nal-technisches Rollennetz zusammengehalten, sondern durch gemeinsame Werte und die sittliche Bindung aller an kollektive Handlungsziele, welche die Bedingung der Möglichkeit jedes sinnvollen intentionalen Rollenhandelns darstellen. Da wir zu Zeiten fortschreitender Globalisierung in immer weitreichendere Handlungszusammenhänge involviert sind und die von allen anzuerkennenden und intentional anzustrebenden Handlungsziele längst die Grenzen persönlicher Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit sprengen, ist eine umfassende Information und Erziehung der Menschen zur Wahrnehmung der vordringlichsten Menschheitsprojekte für jede vernünftige, aufgeklärte »verantwortete Selbstverwirklichung« unerlässlich. Das »soziale Selbst« als wesentliches Ingredienz des »empirischen«, d. i. des bereits umgesetzten »normativen Selbst«, weist also aufgrund akuter Weltprobleme immer größere konzentrische Kreise auf, wenngleich sich Theunissens Prätention, derzufolge eine erfolgreiche Selbstverwirklichung durch das Engagement für bestimmte kollektive Ziele wie Weltfrieden oder ökologisches Gleichgewicht garantiert werde, sich als Kurzschluss entpuppte. Grundsätzlich konnte gegenüber Heideggers zahlreiche Missverständnisse provozierenden Eigentlichkeitsanalysen klargestellt werden, dass dem genuinen Verfallensein des Menschen qua sozialem Wesen an die öffentlichen Weltauslegungen und Handlungsmuster gar nicht notwendig eine bodenlose, uns auf uns selbst zurückwerfende Angst ein Gegengewicht setzen muss, sondern dass eine kritisch-distanzierte und schöpferisch-produktive Auseinandersetzung mit diesen dem Glück der Selbstverwirklichung weit eher den Weg ebnet.

6.2 Glück oder Moral? Individualethik versus Sozialethik? Am Anfang einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte der Ethik »steht der Verdacht, die Moral gehe auf Kosten des Glücks« 243 . Den »Sophisten«, einer griechischen Philosophengruppe des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts, kommt nicht nur das Verdienst zu, das vorsokratische Wissensideal der reinen Naturbetrachtung (theoria) durch ein sozial wirksames, sich den menschlichen Angelegenheiten widmendes aufklärerisch-praktisches Wissen komplet243

Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 13. A

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tiert, 244 sondern zugleich das ganze damit ins Zentrum der philosophischen Reflexionen gerückte Reich des Menschlichen und Politischen als konventionell, als vom Menschen gemacht herausgestellt zu haben: Während im Bereich der Natur alles fÐsei (»von Natur aus«) ist und man sich zu ihr daher wie die Vorsokratiker vorwiegend theoretisch zu verhalten hat, entlarven sie Sprache, Moral und Rechtsordnung als »von Menschen gesetzt« (qffsei) oder »durch Gesetzte erzeugt« (nmw) – wodurch diese ihrer traditionalen Legitimationsgrundlage verlustig gehen und nach einer neuen Begründung bzw. einer Revision rufen. Der mit einem Subjektivismus gepaarte sophistische Relativismus bringt dabei erstmals die fundamentale sprachphilosophisch-metaethische Frage auf den Plan, ob denn das, was gemäß einer geltenden Moral- oder Rechtsordnung »gut« sei, notwendigerweise auch für mich persönlich »gut« sei, d. h. förderlich in bezug auf mein individuelles »gutes Leben«. In welchem Sinn und in welchem Maß zahlt es sich für das eigene Glücksstreben, für das Glück der egozentrischen Selbstverwirklichung aus, sich an moralischen Geboten zu orientieren? Ausgehend von diesem frühgriechischen Dilemma soll es im vorliegenden Kapitel gelingen, das Verhältnis von individuellem Glücksstreben und moralischer Orientierung sowie das Verhältnis des glücksstrebenden Subjektes zur Moral in neuer Unbefangenheit zu stellen. Denn die bisherigen moralphilosophischen Entwürfe haben, wie Gerd Gerhardt trefflich nachweist, bei ihren »unermüdlichen Versuchen, das Moralische, das Gute zu bestimmen und vom Unmoralischen, dem Bösen abzusondern, eine vorausliegende Frage vernachlässigt, nämlich die nach dem Verhältnis eines Subjektes zur Moral.« 245 »Zur Abwehr des Egoismus wird seit langem einseitig auf eine Sollensmoral gesetzt, auf die Einhaltung verbindlicher Pflichten und die strikte Befolgung von Grundsätzen, die den Individuen vorgeschrieben werden – aber wenn die Sollensmoral wegfällt, steht das Ich nackt da«, moniert auch Wilhelm Schmid in seiner Philosophie der Lebenskunst. 246 Warum sollen wir unter der postmodernen Prämisse, dass ein jeder auf dem Wege der Selbstaktualisierung glücklich werden will, moralisch sein? Lässt eine psychologisierende »Ethik der SelbstverwirkVgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie, S. 43 f. Gerd Gerhardt: Kritik des Moralverständnisses, S. 10. Gerhardt folgert aus diesem desolaten Tatbestand: »Es bedarf einer neuen Ethik; denn derzeit diskutierte Ethiken, ältere wie neuere, sind unvollständig.« (ebd.) 246 Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst, S. 12. 244 245

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lichung« nur noch eine »Moral aus Egoismus« zu, wie uns der Zeitgeist irritierenderweise zuraunt? 247 Macht eine kritische Glückstheorie die grundlegende Reform des gängigen neuzeitlichen Moralverständnisses unumgänglich? Bevor wir das Spektrum der mannigfaltigen ethischen Erwägungen zu dieser zentralen Kontroverse sowohl historisch wie systematisch auffächern und schließlich bilanzieren, muss die klare Scheidung zweier ethischer Fragestellungen akkurat in Angriff genommen werden, die nach Ansicht namhafter zeitgenössischer Philosophen »bisher zu nachlässig durchgeführt wurde« 248 : Gemeint ist die neuzeitlich mit Kant aufbrechende Kluft zwischen den hypothetischen Imperativen der Klugheit mit Aspiration auf private Glückseligkeit und dem kategorischen Imperativ der Sittlichkeit eines unparteilichen moralischen Standpunktes, 249 konkret zwischen der strebensethischen Frage »Warum ist es gut für mich, x zu tun?« und der sollensethischen »Warum ist man kategorisch verpflichtet, x zu tun?«. 250 Während erstere Frage das Selbstverhältnis, das persönliche gute und glückliche Leben tangiert, beziehen sich ethische Erörterungen zweiter Art auf die Interaktion, das gerechte Zusammenleben vergesellschafteter Individuen. Leider sind sich zwar die meisten philosophischen Ethiker heute einig betreffs des Desiderates einer präzisen inhaltlichen Trennung vom »evaluativ Guten« und »normativ Richtigen«, von einer »Ethik der Existenz« und einer »Ethik der Anerkennung«, 251 jedoch mitnichten in der begrifflichen Etikettierung dieser unterschiedlichen ethischen Ansprüche. Da es mir grundsätzlich missverständlich erscheint, »Ethik« in einem engeren Sinne als Reflexion über das persönliche gute Leben der »Moral« als Ensemble konsensueller Regeln und Gebote des Zusammenlebens oder aber der »Moralphilosophie« als Reflexion über diese entgegenzustellen, 252 werde ich mich auch in der vorliegenden Arbeit an die eindeutigen 247 »Die Konsequenz, die der Zeitgeist für die Beantwortung der Frage ›Warum moralisch sein?‹ zieht, nämlich: ›Aus Egoismus!‹, bleibt jedoch für den historisch eingeweihten Philosophen höchst unbefriedigend.« (Gerhardt: Kritik, S. 11) 248 Detlef Horster: Postchristliche Moral, S. 311. 249 Vgl. Immanuel Kant: GMS, A/B 42 ff. 250 Vgl. Horster: Postchristliche Moral, S. 312, hier im Rekurs auf Lutz Wingert: Gemeinsinn und Moral (Frankfurt a. M. 1993, S. 32 f.). 251 Bei diesen Differenzierungen lehne ich mich an Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 9 bzw. ders.: Ethisch-ästhetische Studien, S. 24 f. 252 Vgl. etwa Horster: Postchristliche Moral, S. 312 oder, weniger deutlich, Seel: Versuch, S. 10.

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und selbstredenden Termini »Individualethik« und »Sozialethik« halten. 253 Abweichend von Kunst – jenseits von Gut und Böse? stellt die beide Dimensionen umgreifende »Ethik« allerdings kein Synonym mehr dar zur »Moralphilosophie«, welche sich nämlich auf die sozialethischen Fragen der geltenden Moral konzentriert, weshalb alternierend zu »Individual«- und »Sozialethik« Hans Krämers Differenzierung von »Strebensethik« und »Moralphilosophie« 254 zur Anwendung kommen kann. Krämers ultimativer Appell zu einer »Integrativen Ethik« nach der jahrhundertelang anhaltenden kantisch-neuzeitlichen Verkürzung der Ethik auf Moralphilosophie verdient also sicherlich Gehör, 255 weil Ethik bereits da vorliegt, wo sich feste Grundhaltungen oder Lebensformen herausbilden dank wiederholten und regulierten Handelns im Hinblick auf konstante Ziele wie Selbstverwirklichung, Identität oder Glück – welche mithin das Menschsein eines Individuums insgesamt, nicht einzelne Handlungen oder Lebenssituationen betreffen. Der differierende Gegenstand der beiden Typen ethischen Fragens und Reflektierens ist das »Glück« oder das »gute Leben« seitens der Individualethik bzw. die »Moral«, die tatsächlichen oder wünschbaren »moralischen Prinzipien« auf Seiten der Sozialethik, 256 so dass in diesem Kapitel einmal mehr die »Spannung zwischen Glück und Moral« 257 einen systematischen Ausdruck finden soll. Verlässt man kurz und auf eigene Gefahr den umfriedeten Bezirk der Wissenschaften, um sich auf dem entdifferenzierten Feld der 253 Die terminologische Konsistenz bezieht sich auf Dagmar Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse? (vgl. S. 44 f.). 254 Vgl. Hans Krämer: Integrative Ethik, S. 77 f. 255 »Das Ungewohnte, ja zuweilen Anstößige eines solchen um den Typus der Strebensethik erweiterten integrativen Ethikkonzepts ist für die gängige, in der kantianischen Tradition stehende Auffassung von Ethik die Zumutung, dass die bloße Lebensbewältigung, ja die alltägliche Lebensührung und Bedürfnisbefriedigung ethisch relevant sein soll, unter Absehen von allen normativen Verbindlichkeiten kategorischer oder apodiktischer Art und selbst von der Orientierung an anderen Handlungssubjekten.« (ebd., S. 76) 256 Die »Moral« grenzt sich dabei vom »Recht« insofern ab, als man bei der Verletzung moralischer Regeln im Kontrast zum Verstoß gegen rechtliche keine insititutionalisierten juristischen Sanktionen zu befürchten hat, sondern soziale wie Verachtung, Tadel oder Ausgrenzung, von der »Konvention« dadurch, dass sie mit moralischen Gefühlen der Scham oder Empörung und einem hohen Maß an Bewusstsein und Verantwortung verbunden sind (vgl. Horster: Postchristliche Moral, S. 435 f. oder den Artikel »Moral« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 204 f.). 257 So lautet der Titel des ersten Kapitels in Seel: Versuch, S. 13.

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Feuilletons und der pseudowissenschaftlichen Lebenshilfeliteratur zu tummeln, gewinnt man gleichwohl einen äußerst präzisen Begriff von der gegenwärtig geschürten Spannung zwischen einer hochgepriesenen »Ethik der Selbstverwirklichung« und den entweder schlichtweg ignorierten oder partout als repressiv und subjekthemmend demaskierten gängigen Moralauffassungen. Schlagkräftig werden, wie Gerhardt anhand einer Flut von Zitaten aus der popularistischen Lebensberatung illustriert, vornehmlich in Buchreklamen subversive Selbstverwirklichungstendenzen wachgerüttelt und gestählt. So empfiehlt sich etwa der Titel Lassen Sie der Seele Flügel wachsen. Wege aus der Lebensangst mit den repräsentativen Werbeslogans »Selbständigkeit statt Anpassung, Gefühlsausdruck statt Gefühlspanzerung, Selbstfindung statt Rollenspiel, Persönlichkeitsentfaltung statt Charaktermaske«, und das Ziel des Buches wird folgendermaßen umrissen: »Ich verstehe es als eine Anregung zur Selbstfindung, als eine Ermunterung, den individuellen Weg aus Abwehrtechniken, Lebenslügen und Fluchtmechanismen in die persönliche Freiheit zu wagen.« 258 Im Zuge der Empanzipationsbewegung zeichnet sich bezüglich der Topoi »selbstverwirklichende Karrierefrau« und »aufopfernde Mutter« allerdings eine leichte Trendwende bei der Zuordnung der ethischen Grundwerte von Gut und Böse ab, indem erstere als »ehrgeizige Egoistinnen« auch in politischen Kontexten vermehrt unter Beschuss geraten, wohingegen sich das »Großmutter-Sein« als Werbeslogan für Schweizer Bundesratskandidatinnen zu bewähren scheint. 259 Kritische Stimmen, die meist jedes Selbstverwirklichungsstreben als egoistisch diffamieren, melden sich desgleichen in pseudowissenschaftlichen Darstellungen und in der Presse zu Wort. 260 »Über die öffentlichen Dinge denken heute in der Tat nur wenige nach«, liest man hier: »Alles dreht sich um das eigene Ich, um Selbstverwirklichung, Karriere, Lebensstandard – die Moral rückt damit leicht ins zweite Glied. Diese Form des extremen Egoismus zerstört nicht nur das Gemeinwesen, sie ist auch Grund, warum so viele junge Menschen über Sinnlosigkeit und Leere klagen.« 261 Zitiert nach: Gerhardt: Kritik, S. 22. Vgl. ebd., S. 23. 260 Vgl. dazu Ekkehart Kleiter, der das Ignorieren der Differenz zwischen egozentrischer und egoistischer Selbstverwirklichung scharf verurteilt, in: Egozentrismus, Selbstverwirklichung und Moral, S. 3–8. 261 Marion Gräfin Dönhoff: Von Eigennutz und öffentlichen Dingen in: Die Zeit, 10. Nummer 1982, S. 1. 258 259

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Wie wir bereits bei unserer Exposition der humanistischen Ethik an den Tag legten, erhält die grassierende Suche nach einer moralinfreien Ethik der Selbstverwirklichung und individuellen Glücks Rückendeckung durch den »Triumph des Therapeutischen«, d. i. die siegessichere Zurückdrängung der Moralphilosophie durch die Psychologie mit ihrem marktwirksamen Programm einer »Moral der Authentizität«. Bei Sigmund Freud lesen wir exemplarisch: »Im Entwicklungsprozess des Einzelmenschen wird das Programm des Lustprinzips, Glücksbefriedigung zu finden, als Hauptziel festgehalten, die Einreihung in oder Anpassung an eine menschliche Gemeinschaft erscheint als eine kaum zu vermeidende Bedingung, die auf dem Wege zur Erreichung dieses Glücksziels erfüllt werden soll. Ginge es ohne diese Bedingung, so wäre es vielleicht besser. Anders ausgedrückt: die individuelle Entwicklung erscheint uns als ein Produkt der Interferenz zweier Strebungen, des Strebens nach Glück, das wir gewöhnlich ›egoistisch‹, und des Strebens nach Vereinigung mit den anderen in der Gemeinschaft, das wir ›altruistisch‹ heißen.« 262

Das egoistische Glücksstreben wird in Erich Fromms Termini von einer naturteleologisch untermauerten »universalen Ethik« protegiert, das moralisch-altruistische Zusammenleben dank einer »gesellschaftsimmanenten Ethik« geregelt. Während er unter »universaler Ethik« die »Normen der Lebensführung, deren Ziel das Wachstum und die Entfaltung des Menschen ist«, versteht, rubriziert er unter »gesellschaftsimmanenter Ethik« solche »Normen, die für das Funktionieren und Weiterbestehen einer bestimmten Gesellschaftsform und der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen notwendig sind.« 263 Wie verhalten sich nun aber die Philosophen zu diesem spannungsgeladenen, von Feuilletonisten, Lebensberatern und Therapeuten geschürten Widerstreit zwischen egoistischer Selbstverwirklichung und altruistischem Zusammenleben, zwischen Glück und Moral? Seit Kant oder doch spätestens seit Hegel hat das »klassische Ideal einer konzeptuellen Konvergenz von Glück und Moral ausgespielt«, lautet auch hier der Tenor, denn das präferentielle »gut für mich« und das moralische »gut für alle« seien definitiv »unter modernen Bedingungen nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen«. 264 Neuerliche Rehabilitationsversuche der antiken Identität 262 263 264

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Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 102 f. Erich Fromm: Psychoanalyse und Ethik, S. 185. Zitate aus Sidonia Blättler: Glück und Unglück im Scheitern, S. 85 (Anmerkung 6).

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von Glück und Moral, wie sie seitens der Kommunitarier, Gefühlstheoretiker oder transzendentalen Anthropologen gestartet werden, verspottet man daher gerne als »illusorisch« 265 oder »unkritisch« 266 , weil solche undifferenzierten »Einheitsethiken«, statt Krämers Wunsch nach einer »Integrativen Ethik« mit einem konkurrierenden oder allenfalls kooperierenden Verhältnis von Glücksorientierung und moralischer Orientierung nachzukommen, dieses Verhältnis unter der Hand »durch die Koinzidenz, ja tendenziell die Identität beider Perspektiven« substituieren: »Gutes Leben sei immer schon ein gemeinsames; daher könne es eine nichtmoralische Lebensführung als Selbstzweck nicht geben, denn unser ganzes Streben und Treiben sei mit Verantwortung und womöglich Sympathie für andere durchsetzt. Umgekehrt sei mit der Moralität immer schon die eigentliche Selbstwahl und Selbsterfüllung des Menschen gewährleistet, die durch zusätzliche Güter und Werte nur unwesentlich modifiziert werde.« 267

Statt uns unkritisch diesem vernichtenden Generalverdikt Krämers anzuschließen, wollen wir je zwei ausgewählte Konzepte der älteren (Platon und Aristoteles) und neueren (Taylor und Spaemann) sogenannten »Einheitsethiken« einer Prüfung unterziehen. Die antiken Ethikmodelle verdienen dabei nicht nur aus dem einfachen Grunde unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie unter den Typus einer Strebensethik zu subsumieren sind und vorwiegend das Glück als oberstes Strebensziel deklarieren, sondern weil sie anders als die eingangs attackierten neuzeitlichen Moralphilosophien die nach Glück stebende handelnde Person und ihr Verhältnis zur Moral zum Ausgangspunkt ethischer Überlegungen machen. Wie an Paradebeispielen manifest werden soll, wird die gängige Dichotomisierung von Strebensethik und Moralphilosophie, welche in einem deutlichen geschichtlichen Nacheinander in Antike und Neuzeit dominiert hätten, 268 vielen antiken Positionen ebenso wenig gerecht wie diejenige von teleologischer und deontologischer Ethik. Es gilt mithin, das verbreitete Vorurteil zu überprüfen, ob die antiken strebensethischen, teleologischen Ethikmodelle tatsächlich jeder moralischen DimenVgl. ebd. Vgl. Krämer: Integrative Ethik, S. 106. 267 Ebd., S. 107. 268 »Die Einheitsethik unterscheidet sich von den reinen Typen der Strebensethik und der Moralphilosophie, wie sie im Laufe der Ethikgeschichte nacheinander mit Monopolansprüchen hervorgetreten sind.« (ebd., S. 106). Vgl. auch ebd., S. 40 f. 265 266

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sion entbehren und daher vom neuzeitlichen kantisch-deontologischen Standpunkt aus als egozentrische und unmoralische Klugheitsprogramme verdammt werden müssten – wodurch sie dann tatsächlich wie bei Krämers Klassifikation gar nicht den »Einheitsethiken« zuzuordnen wären. Mit Sicherheit macht man es sich aber beim Nachweis, Kant hätte sich getäuscht in der Meinung, die antiken Glückseligkeitslehren würden keine unmittelbare, d. h. keine wirklich moralische Einstellung zur Moral bezeugen, zu einfach, wenn man den neuzeitlich-kantischen Moralitätsbegriff kurzerhand mit Bernard Williams für eine historische Fehlentwicklung der Moralphilosophie und eine »echte Pathologie des moralischen Lebens« verantwortlich macht. 269 Während der aufklärerische Eifer der Sophisten zumeist dazu tendierte, die allgemeine Moral als heteronom zu entlarven und als Hindernis des egoistischen Glücksstrebens zu diffamieren, forderte dieser provokatorische Impetus Sokrates und seinen Schüler Platon zur ebenso hartnäckigen Verteidigung von Moral und Recht vermittels philosophischer Begründung heraus. Dabei warnt Christoph Horn zu Recht vor dem voreiligen Schluss vom Darstellungskontext antiker Ethiken, d. h. ihrem therapeutischen und eudaimonistischen Charakter, auf die Amoralität ihres Inhaltes, denn die »Formulierung der antiken Ethik aus der Vorteilsperspektive dürfte die ›sophistische Herausforderung‹ spiegeln, also den Umstand, dass die Sophisten die Frage stellten, ob sich Moral für ein Individuum überhaupt bezahlt macht.« 270 Ihre therapeutische und eudaimonistische Ethik nicht weniger dezidiert »aus der Kundenperspektive« formulierend, lautet ihre emphatische Kernthese: »der Gute aber wird schön und wohl in allem leben, wie er lebt, wer aber wohl lebt, wird auch zufrieden [e'dafflmwn] und glückselig [makari@] sein, der Böse hingegen und der schlecht lebt, elend.« 271 Ob einer gut und somit glücklich lebt, bemesse sich dabei am Grad der Gerechtigkeit, die Platon primär definiert als innere seelische Ordnung und Harmonie unter der Ägide des vernünftigen Seelenteils: 272 »Die gerechte Seele also und der ge269 Bernard Williams: Moralischer Zufall, S. 47. Vgl. auch Gerhardt: Kritik, S. 255 f. und S. 283 f. 270 Christoph Horn: Antike Lebenskunst, S. 202. Vgl. zu diesen historischen Zusammenhängen auch Ernst Tugendhat: Probleme der Ethik, S. 44. 271 Platon: Gorgias, 507b. 272 »In Wahrheit aber war die Gerechtigkeit, wie sich zeigt, zwar etwas dieser Art, aber nicht an den äußeren Handlungen in Bezug auf das, was dem Menschen gehört, sondern

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rechte Mensch wird gut leben, der ungerechte aber schlecht.« 273 Wenngleich Horn kommentiert, »Gerechtigkeit im Sinne eines angemessenen Sozialverhaltens ergibt sich erst sekundär aus der Gerechtigkeit als vollkommener Ordnung der Seele«, 274 kehrt Platon nicht anders als Aristoteles die Relevanz des Einübens einer tugendhaften Haltung hervor, so dass dem gerechten Sozialverhalten wenigstens ein »praxeologischer Vorrang« zuzukommen scheint: »Und bewirkte nicht auch das Gerechthandeln Gerechtigkeit, das Ungerechthandeln dagegen Ungerechtigkeit? – Notwendig.« 275 Dennoch fungiert das normativ richtige Sozialverhalten, das Unterlassen von »Tempelraub und Diebstahl und Verrat sowohl gegen besondere Freunde wie gegen das gemeine Wesen«, 276 bei Platon keineswegs als Indiz für den seelischen Habitus der Gerechtigkeit, da sich sämtliche Tugenden nur dank philosophischer Einsicht (»logischer Vorrang«), nicht aber bereits durch Gewöhnung und richtige Meinung erwerben lassen. Daher erreicht ein Wächter oder Handwerker, der in der Polis einen wertvollen Beitrag zur gerechten Ordnung leistet, allenfalls ein »Schattenbild von Gerechtigkeit« 277 , wie vortrefflich er auch die ihm entsprechende Aufgabe erfüllt. 278 Prädestiniert zu innerer und äußerer Gerechtigkeit sind für Platon daher die ihr Leben in den Dienst der Weisheit stellenden Philosophen, welche aufgrund ihrer Einsicht in die ideelle geordnete Struktur der Welt »selbst wohlgeordnet und göttlich [werden], soweit das einem Menschen möglich ist«, 279 indem sie diese gerechte Ordnung imitieren. Glücklich wird man also niemals mittels eines quantitativen »Mehr-Habens«, eines Strebens nach körperlichen oder materiellen Gütern, sondern allein an der wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das seinige, indem einer nämlich jegliches in ihm nicht lässt Fremdes verrichten, noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt, und sich selbst beherrscht und ordnet und sich selbst ein Freund ist.« (ders.: Pol., 443d) 273 Ebd., 353e. 274 Horn: Antike Lebenskunst, S. 120. 275 Platon: Pol., 444d. 276 Ebd., 442e. 277 Vgl. ebd., 443c sowie Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, S. 101 f. 278 Es soll nämlich ein jeder das verrichten, »wozu jeder sich von Natur am meisten eignet, und womit er nun, von allem andern befreit und ohne dass er günstige Zeiten brauchte vorbeizulassen sich sein ganzes Leben beschäftigen sollte, um es recht schön auszuführen.« (Platon: Pol., 374bf.) 279 Ebd., 500c. A

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dank der theoretischen Kenntnis und praktischen Rücksichtnahme auf die geometrische Gerechtigkeit im Kosmos und deren Nachahmung im eigenen Seelenhaushalt sowie im politisch-sozialen Kontext: »Die Weisen aber behaupten, o Kallikles, dass auch Himmel und Erde, Götter und Menschen nur durch Gemeinschaft bestehen bleiben und durch Freundschaft und Schicklichkeit und Besonnenheit und Gerechtigkeit, und betrachten deshalb, o Freund, die Welt als ein Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit. Du aber, wie mich dünkt, merkst hierauf nicht, wiewohl du so weise bist, sondern es ist dir entgangen, dass die geometrische Gleichheit soviel vermag unter Göttern und Menschen, du aber glaubst, alles komme an auf das Mehr haben, weil du eben die Messkunst vernachlässigst.« 280

Philosophisch begründende Prämissen dieses notwendigen Konnexes von menschlichem Glück und (geometrischer) Gerechtigkeit bilden die bereits in Kapitel 5.2 zur Diskussion gestellten strebensethisch-eudaimonistischen Kernthesen, dass erstens alle Menschen nach irgendwelchen Gütern streben, und zweitens mit dem Innehaben des für sie wahrhaft Guten, d. h. des wesenseigenen telos Glückseligkeit erlangen, in welcher all ihr Streben ihr Ziel erreicht und Erfüllung findet. 281 Da die eigentümliche Leistung der menschlichen Seele nach Platons anthropologischer Grundannahme in der Gerechtigkeit besteht, kommt die in jedem Menschen angelegte Strebenstendenz genau dann an ein Ende, wenn er gerecht ist: »Platons Glückstheorie basiert also nicht auf der Überzeugung, dass Gerechtigkeit glücklich macht, weil das Leben des Philosophen die größtmögliche Lust mit sich bringt, sei es in diesem Leben, sei es nach dem Tod – obwohl er dem Gerechten beide Formen der Lust als Belohnung in Aussicht stellt. Vielmehr ist Platon der Ansicht, unter dem Glück des Gerechten sei die endgültige Erfüllung des gesamten menschlichen Strebens zu verstehen, nämDers.: Gorgias, 508a. Vgl. zu diesen beiden Prämissen den Dialog zwischen Sokrates und Diotima im Symposion, 201–205. »Sprich Sokrates, wer das Gute begehrt, was begehrt der? – Dass es ihm zu Teil werde, sagte ich. – Und was geschieht jenem, dem das Gute zu Teil wird? Das kann ich schon leichter beantworten, sagte ich, er wird glückselig. – Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie hinzu, sind die Glückseligen glückselig. Und hier bedarf es nun keiner weiteren Frage mehr, weshalb doch der glückselig sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein. […] Dieser Wille nun und diese Liebe, glaubst du, dass sie allen Menschen gemein sind, und dass alle immer das Gute haben wollen oder was meinst du? – So, sprach ich, dass dies allen gemein ist. « (ebd., 205a) 280 281

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lich die Erlangung des höchsten Guts. Darunter soll nicht Lust, sondern ein oberstes Prinzip der Wirklichkeit verstanden werden. Die Pointe dieser Theorie liegt darin, dass es sinnlos wäre zu fragen, welchen Nutzen man davon hat, das oberste Prinzip zu erlangen, ob sich daraus z. B. ein Lustgewinn ergebe.« 282

Bleibt aber, auch wenn man als wahrhaftes glückskonstitutives Gut, als wesensmäßige Tüchtigkeit des Menschen die Gerechtigkeit akzeptierte, und also der Gerechte glücklich und der Ungerechte unglücklich zu nennen ist, 283 nicht die von Platon nun tatsächlich eingenommene ethische Perspektive innerhalb des eingangs gesteckten polaren Rahmens von Strebensethik und Moralphilosophie weiterhin im Dunkeln? Fordert uns Platon nur deswegen zu gerechtem Handeln unter allen Umständen auf, damit unsere Seele keinen Schaden nimmt, so dass er letztlich eine bloße Klugheitsregel formuliert? Verfehlt er nicht den moralischen Standpunkt, indem er Gerechtigkeit instrumentalisiert für den eigenen Vorteil, für das individuelle Glück? Das berühmte Gedankenexperiment vom »Ring des Gyges«, 284 der beim Drehen den Besitzer des Ringes unsichtbar macht, worauf dieser ohne Furcht vor Strafen Ungerechtigkeiten begehen könnte, scheint zwar den platonischen Sokrates zur philosophisch-dialogischen Aufgabe herauszufordern, entgegen dem sowohl vom gemeinen Mann wie von den Dichtern gepriesenen instrumentellen Nutzen der Gerechtigkeit diese vielmehr als ein »Gut an sich« auszuweisen. Gerechtigkeit dürfte dann nicht aus egoistischen Interessen um ihrer nützlichen Folgen willen praktiziert werden, seien es soziale Vorteile oder innerliche Gratifikationen wie die Lust an der seelischen Harmonie. Statt dass Sokrates aber von seinen Gesprächspartnern zur Verteidigung eines universellen unparteilichen moralischen Standpunktes genötigt würde, 285 interessieren sich diese offenbar für den »unmittelbaren Nutzen« gerechten altruistischen Handelns jenseits sozialer Sanktionen:

Horn: Antike Lebenskunst, S. 77. Vgl. Platon: Pol., 354a, zitiert in Kapitel 3.1, S. 162. 284 Vgl. ebd., 359bff. 285 Die Provokation, welche von der Gedankenführung seiner Gesprächspartner ausgeht, lässt sich in Horns Augen »schwerlich anders denn als Forderung nach einer moralischen Sichtweise verstehen.« (Horn: Antike Lebenskunst, S. 211) 282 283

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»Da du nun aber behauptet hast, die Gerechtigkeit gehöre unter die größten Güter, welche sowohl ihrer Folgen wegen wert sind besessen zu werden als auch um ihrer selbst willen, wie das Sehen, Hören, Bewusstsein und Gesundsein, und was für andere Güter sonst noch durch ihre eigene Natur wirksam sind und nicht durch die Meinung: so lobe uns also eben dieses an der Gerechtigkeit, was sie an und für sich dem der sie hat hilft und was die Ungerechtigkeit schadet; Lohn aber und Ruf überlass andern zu loben.« 286

Während ungerechtes Handeln in bezug auf den Handlungskontext, auf unsere Um- und Mitwelt, einen tiefgreifenden Verlust von Anerkennung und Freundschaft, von Weltvertrauen und vom Gefühl des Sich-Verlassen-Könnens als generelle Stressfaktoren zur Folge hat, wie es Platon am Paradebeispiel des nur scheinbar glücklichen, aber zutiefst elenden Tyrannen demonstriert, 287 bedeutet es in bezug auf uns selbst: Wer unerkannt und ungestraft ungerecht und also böse lebt, lebt in Unwahrheit, in seelischer Zwietracht und innerer Zerrüttung, statt die Teile seiner Seele aufgrund der Weisheit in ein harmonisches Verhältnis zu bringen, 288 wodurch er vom Erfüllungsglück weit entfernt ist. Gesundheit und Harmonie der Seele, die gerechte Ordnung ihrer Teile, so zwar, dass sie der Natur gemäß herrschen und voneinander beherrscht werden, verdienen durchaus um ihrer selbst willen gelobt zu werden ungeachtet der daraus resultierenden höchsten Lust oder ihres »unmittelbaren Nutzens« der Glückseligkeit, denn nur ein gerechtes Leben sei menschenwürdig und lebenswert und daher – wie das gesunde dem kranken Dasein – kategorisch dem ungerechten vorzuziehen: »Aber, o Sokrates, sagte er, ganz lächerlich scheint mir wenigstens diese Untersuchung zu werden, wenn, sobald die Natur des Leibes verderbt ist, das Leben nicht mehr lebenswert erscheint, auch nicht mit allen Speisen und Getränken, mit allem Reichtum und aller Herrschermacht; wenn aber die Natur dessen, wodurch wir doch eigentlich leben, in Unordnung und verderbt ist, ob man dann leben soll, wenn einer nur alles andere tun kann, was er will, außer das nicht, wodurch er eben die Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit los werden Platon: Pol., 367cf. Vgl. ebd., 576a-578a oder auf allgemeinerem Niveau ders.: Gorgias, 507e–508a. Auch neuere Glücksstudien verweisen darauf, dass emotionale Bindungen, Freundschaften und soziale Kontakte Stress in Belastungssituationen mindern und damit das subjektive Wohlbefinden deutlich steigern (vgl. Stefan Klein: Die Glücksformel, S. 172 ff.). 288 Vgl. Platon: Pol., 443d. 286 287

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und zur Gerechtigkeit und Tugend gelangen könnte, da doch beide uns so erschienen sind, wie wir sie jetzt beschrieben haben.« 289

Wenngleich es prima facie scheint, Platon würdige die Gerechtigkeit ausschließlich als instrumentelle Tugend zur Erlangung individueller Glückseligkeit, weil seine ethische Gegenkonzeption zum sophistischen Programm gleichfalls »klientzentriert« formuliert wird, beinhaltet der sokratisch-platonische Appell zur Gerechtigkeit zugleich eine starke moralische Komponente in Form eines kategorischen Imperativs, das höchste menschliche Gut als intrinsisches Strebensziel zu verfolgen. Da jeder Mensch naturgemäß nach dem ihm wesenseigenen, an sich wählenswerten Telos strebt, und das Glück die Erfüllung dieses Strebens bei der Vervollkommnung der wesenseigenen Tüchtigkeit darstellt, zielt das wohlverstandene Eigeninteresse auf die Bestform und harmonische Ordnung der Seele, die dem Menschen Glück beschert. Indem Platon die Erkenntnis der Tugenden und wesenseigenen Strebensziele an die Einsicht in die Ideen und in die sie alle beschirmende Idee des Guten bindet, 290 integriert er diese funktionale Teleologie nach Christoph Horns trefflicher Analyse in eine metaphysische Teleologie. So legt er uns letztlich den moralischen Standpunkt nahe mit seiner Empfehlung, uns strebend an der unveränderlichen, an sich schönen, guten und wünschenswerten, prinzipiell gerechten kosmischen Ordnung zu orientieren, statt in Unwissenheit oder gar in Unwahrheit dahinzuleben. Wer sich vertraut macht mit den allen Dingen und Menschen zugrundeliegenden maßvollen und harmonischen, vernünftig-ontologischen Strukturen der Welt sowie Einsicht nimmt in die ihnen Wert verleihende höchste »Idee des Guten«, kann nach Platon in Ermangelung einer vernunftunabhängigen Wahlinstanz 291 nämlich gar nicht anders, als jene im eigenen Leben nachzuahmen. 292 Platon projektiert meines Erachtens damit eine differenzierte zweikomponentige Einheitsethik, die zwar, sokratisch den Menschen da abholend, wo er steht, uns zur Selbstsorge, zu der uns wesenseigeEbd., 445af. Vgl. die drei Gleichnisse Platons, das Linien-, Sonnen- und Höhlengleichnis. Analog zur Sonne im Bereich des Wahrnehmbaren heißt es von der Idee des Guten im Reich der Erkenntnis: »Dieses also, was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden Vermögen hergibt, sage sei die Idee des Guten« (ebd., 508e). 291 Vgl. zum historischen Wandel der Relation von Vernunft und Wille weiter unten. 292 Vgl. oben, S. 533 sowie Fenner: Kunst – jenseits von Gut und Böse?, S. 62 und S. 119 ff. 289 290

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nen Tüchtigkeit als dem sowohl notwendigen wie hinreichenden Mittel individueller Glückseligkeit anleitet, gleichzeitig aber zur Partizipation an den an sich schönen und wertvollen universellen Verhältnissen aufruft. Vor einem metaphysischen Horizont propagiert Platon, die Selbstsorge, das selbstbezogene prudentielle Streben zum Zwecke eines wahren, nicht-illusionären Glücks gelinge nur dann, wenn wir nicht instrumentelle Güter wie Lust, Annehmlichkeit oder Reichtum erstreben, sondern uns bei der vernünftigen, auf Weisheit gründenden Selbstbestimmung an das intrinsisch Gute und Wählenswerte, d. i. die gerechte Weltordnung halten. 293 Um das interpretatorische Paradox zu entschärfen, die höchste menschliche Tugend der Gerechtigkeit sei Mittel und Ziel zugleich, 294 müsste man wohl mit Blick auf die eudaimonologischen Reflexionen seines Schülers einerseits darauf insistieren, dass die intrinsischen wie die meisten anderen Güter bzw. Tätigkeiten sowohl um ihrer selbst willen wie auch um des Glücks willen erstrebt werden, 295 dass aber andererseits das Glück auf einer anderen logischen Ebene lokalisiert werden muss: 296 Betrachtet man das menschliche Streben unter der anthropologischen Prämisse »Alle Menschen streben nach Glück« als dem »tfflo@ teleitaton« des Menschen, scheint zwar die Tugend zum bloßen Mittel zum (Letzt-)Zweck degradiert werden zu müssen. Allein da jeder Mensch, der seine Zeit nicht mit der täglichen Nahrungsbeschaffung zuzubringen hat, mit der Frage konfrontiert ist, wie er sein Leben führen soll und welches für ihn das beste aller möglichen sei, wohingegen das Glück niemals intentione recta angepeilt werden kann, kommt der Tugend zweifellos ein intentionaler, nor293 »Zwar bildet das prudentielle Selbstinteresse den Ausgangspunkt der platonischen Darstellung; das selbstbezogene Antriebsmoment erweist sich im zweiten Schritt aber als vorläufig, sobald nämlich jemand begreift, dass das selbstbezogene Streben genauer betrachtet auf etwas in sich Wählenswertes gerichtet ist.« (Horn: Antike Lebenskunst, S. 220) 294 Gegen Terence Irweins These, Sokrates hätte die Tugend als bloßes Mittel aufgefasst, verteidigt Horn die Antithese, sie sei für Sokrates »Mittel und Ziel zugleich. Er hätte sie als erstrebenswert um ihrer selbst willen angesehen, und zwar insofern, als die nützlichen Folgen konstant und zuverlässig eintreten.« (ebd., 135 f.) Um hierbei einen logischen Widerspruch zu vermeiden, müssten wohl verschiedene Betrachtungshinsichten der Tugend differenziert werden (vgl. oben). 295 Vgl. die bereits auf S. 408 f. von Kapitel 5.1 zitierte und kommentierte Stelle aus Aristoteles: Eth. nic., 1097b, 1–6. 296 Vgl. zum transzendentalen Charakter des Glücks bei Aristoteles ebd., S.409, Fußnote 271.

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mativ-rationaler Vorrang zu, dem Glück dagegen ein transzendentaler und motivational-emotionaler. Genauso wie der strebensethische hypothetische Imperativ glücklichen Daseins auf die Moral verweist, weil ein aufgeklärtes, nicht-illusionäres Glück nur über eine gerechte Lebensführung zu erlangen ist, bezieht andererseits die vernünftige moralische Ordnung, die wir bereits aus rational-normativen Gründen ihrer durch die maßstabbildende Idee des Guten beglaubigten Werthaftigkeit voluntativ bejahen müssen, ihre emotional-motivationale Kraft aus dem ein gerechtes Leben begleitenden Glückszustand eines in sich vollkommenen, allem menschlichen Streben Sinn verleihenden Selbstseins. 297 Obschon das sokratisch-platonische Modell im Grunde bereits das Vorurteil widerlegt, die antike Strebensethik erreiche niemals eine wirklich moralische Dimension, indem das Glück auf Kosten der Moral monopolisiert werde, wollen wir uns kurz die aristotelische Version vor Augen führen, weil an diese viele zeitgenössische Einheitsethiken, insbesondere die noch zu erörternden kommunitarischen Anschluss suchen. Grundsätzlich postuliert auch Aristoteles, es gäbe gewisse objektive Güter, die alle vernünftigen und hinreichend informierten Menschen bei der Konzeption ihres individuellen Lebens wählen würden (vgl. Kapitel 5.2). In gleicher Weise verzahnt er zur Begründung dieses ethischen Postulates den strebensethischeudaimonologischen Imperativ von appellativ-motivationalem Charakter mit einer universellen, teleologisch organisierten, metaphysisch-anthropologischen Vernunftordnung. Wo Platon als das sowohl an sich erstrebenswerte wie zugleich das menschliche Streben glücklich erfüllende höchste menschliche Gut die Gerechtigkeit profiliert, präzisiert und differenziert sein Schüler indes die eine menschliche Selbstverwirklichung lancierenden Tugenden in fünf dianoetische (Verstandestugenden) und ein offenes Sortiment ethischer Tugenden (Charaktertugenden). Zur inhaltlichen Bestimmung der glückskonstitutiven menschlichen Güter müsse man, so lautet die überraschende methodologische Indikation in der Nikomachischen Ethik, weder von einer Analyse der menschlichen Natur 297 Da in der Antike die Vernunft nicht nur Vermögen der Einsicht, sondern auch Strebensvermögen darstellt (vgl. unten), so dass das als vernünftig Eingesehene im Grunde auch schon erstrebt wird entsprechend dem sokratischen »Tugendwissen«, ist ein solch eigentlich redundanter motivationaler Anreiz strenggenommen nur für angehende Philosophen und die subjektivistisch infizierten »Kunden« der sophistischen Herausforderer vonnöten.

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noch von metaphysischen Betrachtungen ausgehen, sondern die sozialethische Perspektive einnehmen und sich mit der politischen Wissenschaft befassen. 298 Ort des höchsten naturgegebenen Zwecks und somit des vollendeten Glücks des Menschen seien nämlich Staat und Gesellschaft, wobei man mit Joachim Ritter wohl den Ton darauf zu legen hat, dass sowohl bei Platon wie bei Aristoteles das »Politische« stets und ausschließlich auf den griechischen Stadtstaat gemünzt ist: denn es sei »mit der Polis zuerst eine Gesellschaftsform in die Geschichte eingetreten […], deren Subjekt der Mensch als Mensch ist« 299 . Statt dass man aus der angeblichen Definition des Menschen als eines »von Natur aus staatsbezogenen Lebewesens« 300 deduzieren dürfte, der Mensch sei um seines Glücks willen auf das gesellschaftliche Leben angewiesen, kann der Mensch nur genau in der auf Vernunft und Freiheit der Bürger gegründeten gesellschaftlichen Ordnung der Polis glücklich werden, 301 weil er im Unterschied zu allen in Herden und Schwärmen zusammenlebenden Tieren als einziges Lebewesen über Sprache und Vernunft verfügt. 302 Wenn für Aristoteles offenkundig nicht weniger als für Sokrates und Platon die glückbringende »Selbstverwirklichung« wesentlich »Vernunftverwirklichung« ist – inwiefern soll der Mensch die ihm wesenseigene sprachliche Vernunft nur genau in der Polis verwirklichen können, so dass der Glückstheoretiker sich tatsächlich in den Politikwissenschaften zu qualifizieren hätte? Damit die vernünftigen Seelenteile als das glücksbedingende Wesensmäßige des Menschen ihr funktionales Optimum erlangen, hat man sich nach Aristoteles um ihre spezifischen dauerhaften Best298 Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1094a, 26 ff. Dieses aristotelische Vorgehen sei, so urteilt Ritter, »ebsenso überraschend wie schwierig«: »Er geht nämlich nun gar nicht von der menschlichen Natur aus, um zuerst zu bestimmen, was sie sei, und um dann von diesem Begriff des Menschen her festzulegen, wie die Verwirklichung seiner Natur in der menschlichen Praxis aussehen muss. Vielmehr verweist Aristoteles auf die Gesellschaft und die politische Ordnung; die Ethik selbst wird eine ›politische Wissenschaft‹ genannt und der ›Staatskunst‹ zugeordnet; weil diese die Gesellschaft leitet, das Gesetz gibt und festsetzt, was in der politischen Gemeinschaft zu tun und nicht zu tun ist, gehört in ihren Bereich auch das höchste menschliche Gut.« (Joachim Ritter: Metaphysik und Politik, S. 69) 299 Ebd., S. 71. 300 Aristoteles: Polit., 1253a, 3. 301 Vgl. dazu Ritter: Metaphysik und Politik, S. 75 ff. 302 So lautet die eigentliche Wesensdefinition des Menschen durch Aristoteles in: Polit., 1253a, 9 f.

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formen (Tugenden) zu bemühen, welche nur im gesellschaftlichen Kontext ausgebildet und perfektioniert werden können: Während bereits die meisten verstandesmäßigen Tugenden der rein »vernünftigen Seelenteile« von teilweise moralisch-praktischer Bedeutsamkeit der Belehrung durch Fachkundige im institutionalisierten Rahmen bedürfen, 303 verdanken sich die sie notwendigerweise ergänzenden, auf Gewöhnung basierenden Charaktertugenden 304 der zur Vernunft hin orientierten »strebenden Seelenteile« »ebensosehr absichtsvoll-persönlicher Selbstkultur wie den institutionellen Effekten einer die Person prägenden sozialen Welt« 305 . Da die meisten ethischen Tugenden wie beispielsweise Tapferkeit, Gerechtigkeit und Großzügigkeit soziale oder politische Verhältnisse betreffen und damit zugleich selbst- und fremdbezogen sind, bilden sie gleichsam ein Scharnier zwischen Individual- und Sozialethik. Sozialethische Relevanz ist den nur komplementär ihre volle Wirkung entfaltenden dianoetischen und ethischen, wesentlich im Poliskontext antrainierten Tugenden aus dem Grunde zuzuerkennen, weil sie allein um ihrer selbst willen erstrebt werden, 306 so dass die aristotelische nicht anders als die platonische Ethik lediglich formal und methodisch-didaktisch akteur- bzw. selbstzentriert wäre, nicht aber inhaltlich. 307 Der Tugendhafte wird daher niemals als selbstbezogen getadelt, denn er handelt »aus Pflicht«, d. h. er »tut das Gute, bloß weil er gut ist, erfüllt also Kants Begriff der Moralität«, 308 wohingegen die das tugendhafte Handeln begleitende Glückseligkeit eine nicht direkt intendierte Folgeerscheinung darstellt. 309 Als Ort menschlichen 303 Aristoteles akzentuiert in der Politik die moralisch-praktische Funktion der Vernunft zur Erkenntnis des für alle Guten und Gerechten (vgl. ebd., 1253a, 9 ff.). 304 Vgl. zur Unterscheidung dieser Tugenden den Beginn des zweiten Buches der Eth. nic. (1103a, 14 ff.), zu ihrer Komplementarität das exemplarische Zusammenspiel der Phronesis (Klugheit) und der ethischen Tugenden (ebd., 1143b-1145a). 305 Georg Kohler: Die Philosophen und das Glück, S. 146. 306 Vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1105a, 32. 307 Zu diesem Schluss gelangt auch Annas: »For what I have to develop, in order successfully to achieve my final good, are the virtues, and we have seen that these are the moral virtues […]; all the virtues are dispositions to do the right thing, where this is established in ways that are independent of my own interests. Thus the fact that I aim at my own final end makes ancient ethics formally agent-centred or self-centred, but does not make it self-centred in content; as the ancient theories plainly are not.« (Julia Annas: The morality of happiness, S. 223) 308 Otfried Höffe: Aristoteles, S. 222. Vgl. übereinstimmend Horn: Antike Lebenskunst, S. 209. 309 Vgl. dazu etwa Aristoteles: Eth. nic., 1144a, 1–7.

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Glücks weist sich die Polis aus, indem sie dafür sorgt, dass einerseits die Bürger nicht zufällig handeln und den Schwankungen augenblicklicher Wünsche und Neigungen ausgesetzt sind, sondern gemäß den historisch entwickelten Wissenschaften und Künsten auf methodische, in Fachgemeinschaften konzipierte vernünftige Art, 310 und dass andererseits auf der genuin menschlichen rationalen Stufe gutes und gerechtes Handeln entsprechend den anerkannten Vorbildern für spezifische Handlungsbereiche habitualisiert wird. 311 Der für Glücksfragen kompetente politische Wissenschaftler also, »der vorhat, über die beste Staatsverfassung die entsprechende Untersuchung anzustellen, muss zunächst genau bestimmen, welches Leben das wählenswerteste ist«, sodann, »welche Wissenschaften in den Staaten vorhanden sein müssen, welche ein jeder lernen muss und bis zu welchem Grad man sie lernen muss.« 312 Wo uns mithin Platon dazu animiert, uns beim Streben nach einem gerechten und glücklichen Leben von allem Irdisch-Sinnlichen abzuwenden, um die metaphysische kosmische Ordnung bis hinauf zur höchsten Idee (wieder-)zu erkennen, ruft uns Aristoteles zur Auseinandersetzung mit den menschlich-politischen Dingen auf, weil nur die für »Erziehung und Beschäftigung« zuständige, einer historisch gewachsenen Gesellschaft und ihren empirischen Bedingungen angemessene Gesetzgebung zu erwirken vermag, dass sich die menschliche Selbst- qua Vernunftverwirklichung vermittels vielfältiger Tugenden optimal vollstrecken kann. 313 Da die spezifisch menschliche sprachliche Vernunft sich erst beim Reflektieren über das Nützliche und Schädliche und noch viel mehr über das Gerechte und Ungerechte entfaltet, 314 liegt das eigentliche Ziel der politischen Gemeinschaft von Freien und Gleichen nicht so sehr in der Garantie von Überleben, Sicherheit und Ordnung, sondern in der gemeinsamen Bestimmung einer ethischen Qualität menschlichen Lebens und ihrer Festigung kraft institutionell eingeübter Tugenden. 315 ObAuf diesem Aspekt insistiert Ritter, in: Metaphysik und Politik, S. 84 ff. Als Vorbild fungiert etwa Perikles (vgl. Aristoteles: Eth. nic., 1140b, 8). 312 Ders.: Polit., 1323a, 14 f. und ders.: Eth. nic., 1094a, 29 f. 313 Vgl. ebd., 1180 f.-1181b. 314 Vgl. ders.: Polit., 1252b, 14 f. 315 Vgl. zu dieser in der Polis zum Tragen kommenden Stufenfolge menschlicher Rationalität Höffe: Aristoteles, S. 240 f. Wenngleich Aristoteles prinzipiell verlautbart, man müsse »wegen der guten Taten die bürgerliche Gemeinschaft ansetzen, doch nicht wegen des Zusammenlebens« (Polit., 1281a, 2 f.), ist dann angesichts seiner konkreten po310 311

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gleich die Tugenden notwendig in der Polis ausgebildet werden müssen, affirmiert Aristoteles keineswegs die gelebten Üblichkeiten und traditionellen Werte, wie ihm immer wieder unterstellt wird, sondern wägt kritisch die Vor- und Nachteile verschiedener Bräuche und politischer Verfassungen gegeneinander ab. 316 Die Moral als Bedingung der Möglichkeit beglückender menschlicher Selbstverwirklichung rekurriert aber sinnvollerweise auf die tatsächlich vorhandenen Tugendvorbilder und Vorstellungen vom guten oder glücklichen Leben und hat somit »ein lebensweltliches Fundament« – und »wo sonst, wenn nicht hier, im wirklichen Leben, sollen sich Gründe überhaupt bilden können?«, fragt Gerhardt berechtigterweise: »Wo sonst, wenn nicht hier, in der Erfahrung konkreten Lebens, soll ein guter von einem schlechten Grund unterschieden werden können?« 317 Wenn Immanuel Kant demgegenüber für eine reine, von allem empirisch Vorgegebenen und sinnlich Erfahrenen befreite praktische Vernunft plädiert, deren kategorischer Imperativ nur diejenigen Maximen unseres Handelns gelten lässt, die man widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz denken und wollen kann, schießt er wohl über das Ziel hinaus: Statt alle historisch-kontingenten empirischen Bedingungen aus der moralischen Reflexion zu verbannen, ist sozialethisch betrachtet bereits jeder begründete Konsens hinsichtlich eines »guten Lebens« einzelner Gesellschaftsmitglieder mit unterschiedlichen Begabungen und im gegeben gesellschaftlichen Kontext legitim, sofern keiner dabei persönliche Interessen und Vorteile verfolgt, sondern jeder zum gemeinsamen Zweck menschlicher Vernuftverwirklichung nur demjenigen »logos« (»Satz, Argument«) gehorcht, der sich ihm »bei der Untersuchung als der beste zeigt« 318 . Bevor wir wie angekündigt auch zwei neuere Versuche einer Vermittlung von Individual- und Sozialethik, Glück und Moral präsentieren, von denen der eine sich unmittelbar auf diese aristotelische Einheitsethik beruft, muss doch der sogenannte neuzeitliche litischen Erörterungen doch Bescheidenheit bezüglich der staatlichen Aufgaben angebracht (vgl. Höffe: ebd., S. 246 f.). Zudem ist für Aristoteles nicht die radikale Demokratie die ideale Staatsverfassung, da der gemeine Mann moralisch und intellektuell überfordert wäre (vgl. Polit., 1281b, 25 ff.), wohingegen jeder »rechtschaffen Herrschende gut ist und einsichtig« (ebd., 1277a, 16). 316 Vgl. ebd., 2. Buch, 8. Kapitel und 4. Buch betreffs der Bräuche, sowie Kapitel 2 des 7. Buches und das Ende der Eth. nic. zu den Staatsverfassungen. 317 Gerhardt: Kritik, S. 119. 318 Dieses sokratische »diskursethische Prinzip« findet sich bei Platon: Kriton, 46b. A

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»Sündenfall der Monopolisierung von Moralphilosophie« 319 und das dadurch gezeitigte schlechthinnige »Widerspiel« 320 zwischen Glück und Moral kurz problematisiert werden: Ursache besagter »Sünde« ist zweifellos der bereits in der Einleitung skizzierte historische Wandel des Glücksbegriffs, da ihr Initiator Kant im Einklang mit seinen Zeitgenossen »Glück« auf den subjektiven empirischen Zustand eines durch Erfüllung unseres sinnlichen Verlangens erwirkten Wohlgefühls reduziert. 321 Zusätzlich hat sich, nachdem in der Antike mit ihrer strebensethisch-teleologischen Lebensanschauung die menschliche Vernunft zugleich Orientierungsvermögen und Strebenstendenz darstellte, 322 über die Vermittlung der jüdisch-christlichen Tradition der Wille als mentale Fähigkeit, selbständige Akte der Entscheidung und der Wahl vorzunehmen, von der Vernunft unabhängig gemacht. Sofern sich nun im willenstheoretischen Modell Kants der Wille von dem naturwüchsigen Streben nach lustvoller Erfüllung der Triebe und Bedürfnisse, d. i. nach Glück im eben definierten Sinne leiten lässt, ist er immer nur empirisch, und der Mensch mit einem solchen Willen muss als durch seine Natur determiniert und somit heteronom bestimmt betrachtet werden. Zentrale Aufgabe der reinen praktischen Vernunft liege angesichts des von der Aufklärung propagierten höchsten menschlichen Guts der Freiheit und vernünftigen Selbstbestimmung daher »in der Gründung eines guten Willens«, 323 der sich als ein von allen empirischen Triebfedern gereinigter »reiner Wille« dem kategorischen Imperativ der Vernunft bedingungslos unterwirft. Obgleich in Kants frühen Skizzen nachweislich auch ein dem antiken Eudaimonismus verwandter Glücksbegriff figuriert, 324 favorisiert er im Hauptwerk klar das sinnlich-empirische, egoistische und begrifflich kaum fassbare Glück des empirischen Willens, das als notorisch unbestimmtes privatistisches Ziel nur Krämer: Integrative Ethik, S. 101. »Das gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit ist: wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird, wozu, wie ich oben gezeigt habe, alles überhaupt gezählt werden muss, was den Bestimmungsgrund, der zum Gesetze dienen soll, irgend worin anders, als in der gesetzgebenden Form der Maxime setzt.« (Immanuel Kant: KpV, A62) 321 Vgl. Kapitel 1, S. 30 f. 322 Vgl. dazu Horn: Antike Lebenskunst, S. 184, sowie Höffes Resümee der kontroversen Diskussion des Willensbegriffes bei Aristoteles, in: Aristoteles, S. 208 ff. 323 Kant: GMS, A/B8. 324 Vgl. Kapitel 1, S. 33 f. 319 320

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schwerlich vom individualethischen hypothetischen Imperativ der Klugheit in Gebrauch genommen werden könne, und noch weniger zur Festlegung einer normativen moralischen Ordnung vernünftigen Zusammenlebens tauge. 325 Denn wie Kant aus individualethischer Sicht das Glücksstreben diffamiert aufgrund der dadurch gezeitigten Heteronomie des Menschen, könne vom sozialethischen Standpunkt aus nur diejenige Handlungsmaxime um der Freiheit aller willen zu einem objektiv und allgemein gültigen praktischen Gesetz und damit zum Bestandteil einer normativen zwischenmenschlichen Ordnung werden, die sich unter Absehung von allen eigenen und fremden Interessen oder Gründen widerspruchsfrei verallgemeinern lasse. 326 Vor dem Hintergrund dieser beiden ethischen Begründungsstränge pocht Kant auf den unbedingten Primat der Pflicht des reinen Willens gegenüber der sinnlichen Neigung nach Glückseligkeit 327 und hat für die konzeptuellen Versöhnungsversuche der sonst so scharfsinnigen antiken Ethiker nur Bedauern übrig: »Man muss bedauern, dass die Scharfsinnigkeit dieser Männer […] unglücklich angewandt war, zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität zu ergrübeln.« 328 Kants eigener Glücksbegriff ist indes bei näherem Hinsehen mit Paradoxien und Inkonsistenzen behaftet: Zum einen verspricht er demjenigen, der sein ganzes Leben lang tugendhaft verbringt, d. h. stets seine Pflicht tut ungeachtet allfälliger Differenzen zum naturalen Glücksstreben, einen Zustand der Harmonie von Glück und Moral im Jenseits. Zwar kann der Mensch das »oberste Gut«, nämlich die Tugend, als Letztziel menschlichen Strebens aus eigener Kraft erreichen, wohingegen bezüglich des umfassenderen Letztziels der Glückseligkeit (»höchstes Gut«) lediglich eine berechtigte Hoffnung besteht. Dieses Fernziel einer jenseitigen Versöhnung im Konflikt zwischen Glück und Moral wird dabei durch einen »moralischen Vgl. Kant: GMS, A/B46 f. Auf dieser anvisierten Widerspruchsfreiheit unseres Wollens basiert die erste Form des Kategorischen Imperativs: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« (Kant: GMS, A/B52, im Original gesperrt) 327 Vgl. ders.: KpV, A166 ff. Pieper stellt klar, dass beim häufig gegen Kant erhobenen Rigorismusvorwurf die Relation zwischen Pflicht und Neigung statt im Sinne einer Rangfolge »als ein kontradiktorischer Gegensatz aufgefasst« werde (Annemarie Pieper: Glückssache, S. 243). 328 Kant: KpV, A201. 325 326

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Gottesbeweis« konsolidiert, 329 denn »es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen« 330 – nämlich als Garanten einer proportionierten Glückseligkeit. Auch wenn in Kants rigoroser »Kündigung der Ehe zwischen Glück und Moral«, die offenbar »im Namen eines höheren Bundes« im Jenseits erfolgt, »kein Selbstwiderspruch liegt, paradox ist das Ergebnis schon«, kommentiert stellvertretend Martin Seel. 331 Zudem macht Annemarie Pieper zu Recht darauf aufmerksam, Kant verändere mit seinem Bogenschlag vom sinnlich-irdischen Glück zum Kompensationsphänomen jenseitiger immaterieller Glückseligkeit unter der Hand seinen Glücksbegriff, da es sich bei letzterem »um ein qualitativ völlig anderes Glück handeln« 332 muss. Es sei sehr zweifelhaft, »ob das Glück, das einem entsprechend seiner Verdienste um die Tugend im Jenseits zuteil werden soll, überhaupt eine sinnliche Qualität haben wird; falls nicht, kann es sich nach Kants eigener Definition nicht um Glückseligkeit handeln.« 333 Neben diesem suspekten Szenario einer Scheinehe von Glück und Moral im Jenseits prägt Kant für die ein tugendhaftes, vernünftiges und selbstbestimmtes diesseitiges Leben begleitende Stimmung den Begriff »Selbstzufriedenheit«, ohne sich darüber klar zu werden, dass er sich hiermit den augenscheinlich oberflächlich rezipierten antiken Glücksvorstellungen annähert. 334 Während wir beim empirisch-subjektiven Glück Sklave unserer Neigungen sind und hier allenfalls eine pragmatische Vernunft zum Tragen kommt, scheint in dem von Selbstzufriedenheit begleiteten moralischen Handeln aus Pflicht, in der reflektierten und autonomen vernünftigen Selbstbestimmung der reinen praktischen Vernunft eine Selbstverwirklichung der menschlichen Vernunft im Sinne sokratischer Selbstsorge aufzuleuchten, wodurch sich eine Kongruenz von deontologischer und eudaimonistischer Ethik abzeichne-

Vgl. das fünfte Kapitel des zweiten Hauptstücks der KpV: »Das Dasein Gottes als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft«. 330 Ebd., A226. 331 Seel: Versuch, S. 26. 332 Pieper: Glückssache, S. 228. 333 Ebd., S. 241. 334 »Hat man aber nicht ein Wort, welches nicht einen Genuss, wie das der Glückseligkeit, bezeichnete, aber doch ein Wohlgefallen an seiner Existenz, ein Analogon der Glückseligkeit, welche das Bewusstsein der Tugend notwendig begleiten muss, anzeigete? Ja! Dieses Wort ist Selbstzufriedenheit, welches in seiner eigentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an seiner Existenz andeutet, in welchem man nichts zu bedürfen sich bewusst ist.« (Kant: KpV, A212) 329

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te. 335 Analog zum eudaimonistischen antiken Ethikmodell wäre das Glück als höchstes Gut des Menschen nicht mehr ein bloßes Postulat jenseitiger göttlicher Kompensationsleistungen, sondern Begleiterscheinung eines tugendhaften Lebens, wohingegen die unmittelbare Motivation zur Realisation des als gut Erkannten nicht bereits durch die antike Einheit von Orientierungsvermögen und Strebenstendenz menschlicher Vernunft gegeben wäre, sondern durch die »moralische Triebfeder« in Form des »Gefühls der Achtung« 336 vor dem kategorischen Gesetz substituiert würde. Die antikisierende »Selbstzufriedenheit« wird indessen von Kant weder mit »Glück« identifiziert, noch spielt sie in seiner Ethik eine zentrale Rolle. Im Unterschied zur sokratischen vernünftigen Gesprächskultur und der aristotelischen Suche nach objektiven Gründen für die Qualität eines schlechthin guten Lebens im politischen Kontext verkennt Kant zudem, dass Transsubjektivität und allgemeine Verbindlichkeit nur im gemeinsamen Diskurs erlangt, nicht aber mittels eines formalen Universalisierungsgesetzes in das Einzelindividuum hineingenommen werden können, weshalb die Diskursethiker verdienstvollerweise zu einer Transformation der kantischen Transzendentalphilosophie ansetzten. 337 Während in der Antike auch bei quasi-diskursethischen Verfahren letztlich eine objektive »natürliche Ordnung« als ethisches Orientierungsmuster zutage gefördert werden soll, hat die Aufklärung den Glauben an eine vorgegebene ewige moralische Ordnung endgültig zerschlagen, weshalb sich Kant wie alle andern neuzeitlichen Ethiker mit der Aufgabe konfrontiert sieht, eine solche Ordnung rein mit Mitteln menschlicher Vernunft 335 In diese Richtung zielt ein interessanter Interpretationsansatz Krämers in: Selbstverwirklichung, S. 104. 336 Vgl. dazu Kant: KpV, A211. 337 Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, insbesondere S. 220–225, sowie die konzise Kritik Gerhardts: »Nicht nur ein großer Teil unserer Gründe, sondern auch die Interpretationen der je eigenen, subjektiven Erfahrungen gewinnen wir erst im transsubjektiven Gespräch. Selbstbestimmung bedarf der Transsubjektivität, und ihre Qualität hängt dann auch davon ab, wie wir im gemeinsamen Gespräch miteinander umgehen. […] Kants Hervorkehrung der Universalität soll – das ist zumindest eines seiner Hauptanliegen – die Unzulänglichkeit einer Selbstbestimmung, welche auf Transsubjektivität glaubt verzichten zu können, festhalten. Sie erreicht dies jedoch auf eine unzulängliche Weise, weil sie die Selbsttranszendenz nicht ins Gespräch, sondern mittels des quasi-formalen Moralgesetzes in das Individuum hineinnimmt; dadurch wird die Einsicht verhindert, dass wir gerade auch als Vernunftwesen bedürftige, auf unsere Mitmenschen angewiesene Wesen sind.« (Gerhardt: Kritik, S. 288)

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zu finden und zu begründen. Für das elementare Verständnis der historischen Entwicklung der spannungsreichen Relation von Glück und Moral ist darüber hinaus Anton Hüglis systematische Unterscheidung zwischen einer konfliktverhindernden und einer konfliktlösenden Moral entscheidend, da die Spannung offenkundig mit der neuzeitlichen Akzentverschiebung von einer konfliktverhindernden zu einer konfliktlösenden gerechten Ordnung eskaliert: Bestimmt eine »konfliktverhindernde Moral« wie die metaphysische Ordnung der Antike, was jeder einzelne zu tun oder zu lassen hat mit dem Resultat konfliktfreien Zusammenlebens, stellt eine »konfliktlösende Moral« dem einzelnen die Wahl seiner Ziele und die Definition eines guten und glücklichen Lebens frei, leitet aber im Konfliktfall zur kollektiven Lösungsfindung an. 338 Die dabei zur Anwendung kommenden moralischen Prinzipien sind Prinzipien zweiter Ordnung, indem sie von einem unabhängigen, auf beliebige Güter gerichteten Streben der einzelnen Gesellschaftsmitglieder ausgehen und lediglich bei Engpässen festsetzen, was man wollen und nicht wollen darf. Hatte mithin die objektive moralische Ordnung der Antike dem einzelnen die Ziele seines Handelns unter Glücksgarantie vorgegeben, überlässt man neuzeitlich den einzelnen seinem privaten Glücksstreben, mahnt ihn aber beim Aufeinandertreffen unvereinbarer Ansprüche, der moralischen Pflicht vor seinen egoistischen Neigungen unbedingt den Vorzug zu geben. Zeugen dieser mit einer neuzeitlichen Monopolisierung der Moralphilosophie einhergehenden moralischen Akzentverschiebung sind die neuzeitlichen Vertragstheorien von Hobbes und Locke, bei denen allerdings anstelle des verinnerlichten kantischen Moralprinzips eine äußerliche legale tritt, der Utilitarismus, die liberalistische »Moral des freien Marktes« und der Trend zu einer »öffentlichen Verkehrsmoral« 339 . Eine solche »Moral bezeichnet kein allgemeines Telos des Handelns, sie ist ein Korrektiv und damit gelegentlich eine Limitierung der primären Ziele unseres Handelns, welche dies auch immer seien. Wem es gelingt, in den eigenen Handlungen Rücksicht auf die Freiheit der betroffenen anderen zu nehmen, hat schon allerhand erreicht, ganz gleich, in welchem Maß er damit die Weltlage bessert.« 340 338 Ich halte mich bei dieser begrifflichen Unterscheidung an Anton Hügli: Mutmaßungen über den Ort des Glücks in der Ethik der Neuzeit, S. 38 f. 339 Vgl. zu diesem neuen Moraltypus ebd., S. 43 und S. 53. 340 Seel: Versuch, S. 331.

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Wie Seels exemplarische Moraldefinition indiziert, scheint an die Stelle des von der Sozialethik zu berücksichtigenden, mit objektiven Kriterien messbaren guten und glücklichen Lebens als menschlichem Grundgut der neuzeitliche Schlüsselbegriff der Freiheit getreten zu sein – die Freiheit zur Selbstbestimmung und v. a. die Freiheit bei der persönlichen Glücksverfolgung, »the pursuit of happineß«. Gemäß der bereits skeptisch beargwöhnten liberalistischen Hoffnung verbürgt das größtmögliche Maß an individueller Handlungsfreiheit nicht nur das größtmögliche Glück der einzelnen im Sinne eines subjektivistischen, hedonistischen oder wunschtheoretischen Glückmodells, sondern zugleich auch das Gemeinwohl. 341 Entsprechend hat der Staat mit »law and order« lediglich den äußeren friedlichen Rahmen der individuellen Glückssuche zu sichern, und »das öffentliche Heil, welches zuerst in Betrachtung zu ziehen ist, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert; wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemeinen gesetzmäßigen Freiheit, mithin dem Rechte anderer Mituntertanen Abbruch tut.« 342 Obgleich die liberalistische Losung, jeder sei seines Glückes eigener Schmied, einer pluralistischen und offenen Gesellschaft einzig adäquat scheint, mehrt sich gegenwärtig die Kritik am radikalen westlichen Liberalismus, und die Kommunitarier vereinigen sich mit Berufung auf Aristoteles zu einem philosophisch-politischen Gegenschlag. Solchen Stimmen und Bedenken von Kommunitariern als Vertretern einer äußerst prominenten typologischen Variante gegenwärtiger Einheitsethik, die sich mit Krämers Etikette einer »kollektivistischen Ethik« versehen ließe, 343 soll hier Gehör geschenkt werden: 1. Hat das liberalistische Menschenbild, anfänglich durchaus befreiende Wirkung gegenüber althergebrachten Ordnungen erzielend, nicht zu einem Individualismus sozial entpflichteter und völlig atomisierter Subjekte geführt, welcher sie zunehmend ins Unglück stürzt, weil der Mensch seine

Vgl. Kapitel 2.1, S. 69 f. Kant: Über den Gemeinspruch, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik Bd. 11, S. 154. 343 Genau genommen fasse ich hier die drei ersten von Krämer aufgelisteten Typen zusammen: 1. Die Positionen mit einer Aufhebung der Sein-Sollen-Dichotomie (transzendentale Anthropologien und Neoaristotelismus), 2. den harten und 3. den weichen Kollektivismus. Vgl. Krämer: Integrative Ethik, S. 108 f. 341 342

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wesentlichsten Anlagen nur in der Gemeinschaft entfalten kann? 344 2. Unterhöhlt eine Gesellschaft, die sich auf isolierte, ihre Eigeninteressen verfolgenden Individuen und eine konfliktlösende Moral des freien Marktes stützt, nicht ihre eigenen Grundlagen durch den damit verbundenen Verfall jeglicher gemeinsamer moralischer Werte und Ziele sowie die gesellschaftskonstitutive Solidarität mit Unglücklichen oder Schlechtergestellten? 3. Besteht nicht neben diesen anthropologischen und gesellschaftstheoretischen Vorbehalten die sozialethische Crux einer konfliktlösenden Moral darin, dass eine Anerkennung ihrer sekundären Moralprinzipien durch den einzelnen Freiheits- und Glückssucher zum Zwecke seiner Handlungsmotivation letztlich doch den begründeten Rekurs auf irgendwelche objektiven Bestimmungen eines guten Lebens erfordert? 345 Wie soll schließlich auf Staatsebene eine Demokratie »sicherstellen, dass die Glückschancen für alle in gleicher Weise zugänglich sind«, 346 ohne von einer bestimmten, wenngleich umrisshaften Glücksvorstellung auszugehen? Unstreitbar ist mit Sicherheit die neutrale Diagnose grassierender Liberalisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse, sowie die Wandlung der sozialen Glücksvorstellung von einem objektiven, an eine konfliktverhindernde Moral gekoppelten Glücksbegriff zu einem empirisch-privatistischen (vgl. Kapitel 2.2). Eine zeitgenössische allgemeine Ethik hat sich daher dem Problem zu stellen, dass der einzelne heute nicht mehr wie in geschlossenen archaischen Gesellschaften durch ein gelebtes Gruppenethos gebunden und entscheidungsmäßig entlastet wird, sondern dass er angesichts zunehmender Freiräume persönlicher Selbstverwirklichung »unter einem kontinuierlich anwachsenden Orientierungsdefizit und Entscheidungsdruck steht.« 347 Auch die vom populären Kommunitarismus attackierte Tendenz, Emanzipation und Demokratisierung würden im Zeichen eines »expressiven Individualismus« in ein zügelloses egoistisches Freiheitsverlangen umschlagen, wodurch zahlreiche moralische Grundsätze und traditionelle Institutionen wie

344 Vgl. Krämers Skizze der Argumentationsstrategien eines starken Kollektivismus unter 2) in: ebd., S. 108. 345 Vgl. zu dieser Motivationsfrage etwa Hügli: Mutmaßungen über den Ort des Glücks, S. 54 f. 346 Pieper: Glückssache, S. 36. 347 Krämer: Integrative Ethik, S. 88.

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Familie oder Staat zerbrechen, 348 verliert durch das antagonistische Insistieren auf »posttraditionalen Gemeinschaften« von Selbsthilfe-, Selbsterfahrungs- und partikulären Interessengruppen bis hin zu spaßorientierten und erlebnisgenerierenden »Eventgemeinschaften« wohl nicht an phänomenaler Evidenz: 349 Je mehr die Überzeugung an Boden gewinnt, individuelle Entfaltung und individuelles Glück seien nur jenseits von allgemeiner Moral und Staat möglich, 350 desto stärker drängt die Gesellschaft zu einem hedonistischen Anarchismus, und das interkulturelle Ethikmodell der »Goldenen Regel« findet sich in seiner neusten postmodernistischen Konkretisierungsform wieder im hypothetischen Imperativ »Spaß haben und niemandem weh tun!« 351 Sozialethische Werte wie Gerechtigkeit oder Solidarität verschwinden zwar nicht aus unserem Vokabular, werden aber zunehmend ihres sozialen Kontextes beraubt, 352 individualistisch uminterpretiert und umgewertet – denn was gerecht ist, soll jeder selber bestimmen dürfen, und erhält seinen Wert durch das dabei empfundene Wohlgefühl. 353 Nachdem mithin die kommunitarische kritische Zeitdiagnose nur schwer zu dementieren ist, gilt es im Folgenden grundsätzlich zu klären, inwieweit der Mensch zu seinem Glücke überhaupt auf die Gemeinschaft angewiesen, und ob er dies nur in einem außermoralischen Sinne sei, so dass die posttraditionalen »neuen Halt und – vor allem – emotionale Stabilität« 354 versprechenden Sozialintegrationsformen eudaimonologisch betrachtet völlig hinreichend wären. Wir wenden uns zu diesem Zwecke und mit den oben versammelten gegenwartsdringlichen Fragen im Hinter348 Vgl. Winfried Gebhardts Überblick über die »Lehre des populären Kommunitarismus« in: »Spaß haben und niemandem weh tun!«, S. 163 ff. 349 Auf diese Formen neuer Sozialbindung und Sozialintegration pocht Gebhardt bei seinem affirmativen Kapitel »Lob der Komplexität – Kritik der kommunitaristischen Diagnose« ebd., S. 166–173. 350 Es handelt sich hierbei um das romantisch-anarchistische, im privaten Raum erfahrene »Glück ohne Staat«. Vgl. dazu Prisching: Glücksverpflichtungen des Staates, S. 17 ff. 351 Gebhardt kommentiert diese postmodernistische Devise von Jugendlichen der Technoszene, die er auf ihre ethischen Grundüberzeugungen hinterfragte, überraschenderweise so: »Ich finde, dass man mit einer solchen Interpretation der Goldenen Regel durchaus leben kann. Von einer sittlich-moralischen Verwahrlosung zeugt sie jedenfalls nicht.« (Gebhardt: Spaß haben, S. 172) 352 Vgl. die einschlägige, rhetorisch dramatisierte Diagnose Alasdair MacIntyres in: Der Verlust der Tugend, S. 15. 353 Vgl. Gebhardt: Spaß haben, S. 170 f. 354 Ebd., S. 171.

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grund nach der Erörterung der platonischen und aristotelischen antiken einheitsethischen Modellen also den Kommunitariern, insbesondere Charles Taylor zu, deren Programm in ständiger Konfrontation mit der liberalen Opposition klarere Konturen gewinnen soll. Während die neoaristotelischen kommunitarischen Einheitsethiker beim Feldzug gegen das liberalistische atomistische Menschenbild eine »soziale Konzeption des Menschen« in eine moralische Wertgemeinschaft hineinprojizieren und das gute und glückliche Leben damit in der Gemeinschaft verorten, 355 opponieren ihre Widersacher gegen jede Form eines starken Kollektivismus: Zum einen sei es angesichts unserer komplexen und hochdifferenzierten gesellschaftlichen Verhältnisse schlechterdings unzeitgemäß und unangebracht, auf archaische Modelle einer ganzheitlichen, geschlossenen Gesellschaft zurückzugreifen, 356 zum andern sei diese Version der Einheitsethik »latent reduktionistisch bis repressiv« 357 und führe die Menschen »nicht in die Freiheit, sondern in die Knechtschaft« 358 . Sowie aber erstens der Anachronismus-Vorwurf im Rahmen einer systematischen Grundlagenabklärung notwendig ins Leere zielt, ist zweitens auch die Konjunktion von einer auf verbindend-verbindlichen Normen und Werten beruhenden Gemeinschaft mit Repressivität und Zwang keineswegs obligat, wie weiter unten zutage treten soll. Würden die Kommunitarier die Identität von Sozial- und Individualethik, von Glück und Moral zum dritten nur damit begründen, dass Lebensvollzug und Selbstbestimmung des einzelnen immer schon auf den sozialen Kontext gemeinsamer Erfahrungen und kultureller Praktiken bezogen seien, wäre tatsächlich dieses Argument ebenso trivial wie unzureichend. 359 Bezüglich des in Kapitel 6.1 aufgewiesenen »hermeneutischen« und »praxeologischen Vorrangs« der Welt im gelingenden Welt-Selbst-Verhältnis scheint nämlich unter den Parteien weitgehend Einigkeit zu herrschen: »So wie es zum Überlegen gehört, die faktischen oder möglichen Überlegungen anderer mit einbeziehen zu können, so kann auch eine selbstbestimmte Lebensführung – mitsamt der dazugehörigen Überlegung – nicht rein solitär vollzogen werden. Sie nimmt geteilte Lebenspraxis auf und führt 355 356 357 358 359

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Vgl. Charles Taylor: Negative Freiheit?, S. 150. Vgl. Krämer: Integrative Ethik, S. 110 und S. 112. Ebd., S. 114. Gebhardt: Spaß haben, S. 176. So lautet ein weiterer Einwand Krämers in: Integrative Ethik, S. 112.

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sie auf eigene Rechnung bewahrend oder verändernd fort.« Es wird auf beiden Seiten akzentuiert, »dass es so etwas wie private, allein aus eigener Kraft geleistete Welterschließung im Grunde nicht gibt.« 360 Solche gemeinsamen Anstrengungen praxisorientierender Welterschließung oder interpersonaler Lebenspraxis sind aber tatsächlich »nicht eo ipso moralischer Natur, sie können ebensogut moralisch indifferent, nämlich sympathetisch oder strategisch sein«, wie Krämer kontert. 361 Auch wo wir uns partiell einer normativen gerechten Ordnung unterwerfen, könnte dies aus prudential-pragmatischen Gründen geschehen, sei es etwa aus Furcht vor moralischen Sanktionen, infolge eines Verlangens nach sozialer Billigung oder aufgrund des rationalistischen Kalküls aller neuzeitlicher Vertragstheorien, dass wir unsere individuellen Ziele und Glücksgüter in einer kooperativen, arbeitsteiligen Gruppe besser und zuverlässiger erreichen können. 362 Wie lässt sich aus kommunitarischer Warte die Koinzidenz bzw. tendenzielle Identität von individualethischem Streben nach einem guten, glücklichen Leben und sozialethischer Orientierung an moralischen Regeln verteidigen ohne kontraktualistische Rückführung des moralischen Sollens auf das Eigenwollen, ohne die vertrags- oder spieltheoretische Verkürzung menschlicher Rationalität auf reine Zweckrationalität? 363 Gesellschaftstheoretisch könnte im Kontext der oben unter 2. skizzierten kommunitarischen Bedenken auf verschiedene sozialwissenschaftliche Studien verwiesen werden, die aufzeigen, dass eine ausschließlich auf technisch-pragmatischen Normen und Institutionen basierende Gesellschaft von rationalen Individualoptimierern langfristig wieder in einen anarchistischen »Bellum-omnium-con-

360 Seel: Versuch, S. 129 und S. 133. Uneinigkeit herrscht hingegen darüber, ob und inwieweit wir jederzeit fähig sind, uns von vorgegebenen Praktiken und gemeinsamen Einsichten zu distanzieren und uns selbst neu zu bestimmen. Vgl. zu dieser Kontroverse Will Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 173 f. und S. 181 ff. 361 Krämer: Integrative Ethik, S. 112. 362 Vgl. ebd., S. 395. Die Vertragstheorien seit Hobbes und Locke gehen grundsätzlich vom Eigeninteresse der Mitglieder aus, so dass die politische Form der Gesellschaft lediglich ein Instrument der besseren individuellen Zielverfolgung darstellt, und sich auch die Gruppenziele quasi »aus der Akkumulation von Einzelinteressen errechnen« lassen (vgl. Walter Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, S. 36). 363 Diesen im Unterschied zu den kollektivistischen Einheitsethiken »individualisierenden« Typus einer Einheitsethik, von Krämer unter 4. aufgeführt, wird z. T. aber auch explizit als Strebensethik deklariert (vgl. Krämer: Integrative Ethik, S. 109).

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tra-omnes«-Zustand übergehen müsste. 364 Ohne diese These hier in extenso diskutieren zu können, fungiert etwa in Talcott Parsons Schema der Grundfunktionen sozialer Systeme die normative Zielstruktur einer Gesellschaft (»goal attainment«), d. h. die Verpflichtung der einzelnen Mitglieder auf gemeinsame Zielvorstellungen und kollektive Grundwerte, als zentrale Regelinstanz für sämtliche sozialen Prozesse. 365 Wenn aber für die Funktionstüchtigkeit selbst einer pluralistischen, mannigfaltige Weltanschauungen tolerierenden Gesellschaft ein Minimum an gemeinsamen, allgemein akzeptierten und befolgten Werten eines kohärenten Wertesystems, eine sogenannte Minimalmoral evidenterweise unabdingbar ist, kann der einzelne nicht ausschließlich moralkonform zur eigenen Zieldurchsetzung und Glücksverfolgung handeln, da er vielmehr diese wesentlichen Grundwerte internalisiert haben müsste. Die gesamte kommunitarische Diskussion hat sich aber nicht nur am Problem des atomisierten Individuums, an dem »ungebundenen Selbst« (Michael Sandel) entzündet, wie es John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit projektiert, sondern die Kommunitarier geben einer subjekttheoretisch-anthropologischen Beweisführung zumeist auch in ethischen Belangen vor einer solchen gesellschaftstheoretisch-soziologischen den Vorzug: Sie erblicken den grundlegenden liberalistischen Irrtum in der Annahme, durch die immer größeren individuellen Freiräume infolge eines unkritischen Nachrennens hinter dem Ideal grenzenloser Freiheit sowie einer sukzessiven sozialen und moralischen Entpflichtung werde die persönliche Identitätsfindung und Selbstverwirklichung begünstigt, wohingegen diese wie auch die glorifizierte Freiheit immer drastischer auf dem Spiel stünden. 366 Die Spannung zwischen individuellem Streben und moralischem Sollen kann daher aus kommunitarischer Warte nicht dadurch gelöst wer364 Vgl. zu diesem bereits von Hobbes erkannten sozialen Sachverhalt Horsters Hinweise auf weiterführende Literatur in: Postchristliche Moral, S. 287 ff. 365 Vgl. zu diesem berühmten, allerdings reichlich abstrakten sogenannten AGIL-Schema Henecka: Grundkurs Soziologie, S. 135 ff. 366 Hierin trifft sich die kommunitarische Diagnose mit derjenigen Frankfurts: »Doch führt die fortschreitende Verringerung der Notwendigkeit, wie sie durch die fortgesetzte Annäherung an das Ideal der Freiheit bewirkt wird, zur Gefährdung eben dieses Ideals. Sie gefährdet auch das Ideal der Individualität. Denn es gilt für Freiheit und Individualität gleichermaßen, dass sie Notwendigkeit erfordern. […] Das heißt: ein Mensch könnte die beunruhigende Erfahrung machen, dass er nicht mehr deutlich versteht, wer er ist. Die zuvor verlässliche Gewissheit seiner Identität könnte tief erschüttert werden.« (Harry Frankfurt: Die Notwendigkeit von Idealen, S. 108 und S. 109)

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den, dass die kategorische Moral auf kontraktualistische Weise hypothetisch umfunktioniert werde, indem der Mensch seine eigenen Ziele in der moralisch geeinten Gemeinschaft besser durchzusetzen vermöge. Vielmehr erfordere sie eine minutiöse subjektphilosophische Analyse der »Beziehung zwischen Selbst und Moral«, die wir uns in Auseinandersetzung mit Charles Taylor als paradigmatischem Vertreter der kommunitarischen Einheitsethik vornehmen wollen. Dieses Projekt erscheint Taylor in Übereinstimmung mit den eingangs zitierten Ethikern mit Recht umso notwendiger, »als die heute vorherrschenden Richtungen der Moralphilosophie dazu neigen, diese Zusammenhänge zu verschleiern.« 367 Die Affinität zum aristotelischen Polismodell wird auf Taylors Begründungsweg ins Auge springen. Wenn radikale Liberalisten die Freiheit bei der Auswahl und beliebigen Revision unserer Ziele, Wertvorstellungen und Lebenspläne als »Gut an sich« glorifizieren, begehen sie zweifellos denselben Fehler wie die in Kapitel 6.1 falsifizierten existentialistischen Subjekttheorien, weil sich ein Selbst erstens nicht jenseits aller dauerhaften Bindungen und Beziehungen gewinnen lässt und zweitens durch einen auf konstanten Idealen und Wertvorstellungen basierenden normativen Selbstentwurf konstituiert wird. 368 Darüber hinaus erlebt der Mensch Erfüllung und das Glück der Selbstverwirklichung nicht dank maximaler Steigerung der Möglichkeiten zur beliebigen Auswahl und kontinuierlichen Revision von Aufgaben und Beziehungen auf seinem Lebensweg, sondern allein aufgrund der Werthaftigkeit, die er diesen beimisst: »Erstens hat Taylor damit recht, dass der Aufruf zur Freiheit den Menschen nicht sagt, welche Handlungen wertvoll sind. Doch auch wenn er es täte, würden unsere Motive falsch dargestellt. Wenn ich etwa ein Buch schreibe, dann tue ich es nicht, um frei zu sein, sondern weil ich etwas Bestimmtes sagen möchte. Wollte ich das nicht, außer als eine Möglichkeit, frei zu sein, dann wäre mein Schreiben nichts Erfüllendes.« 369

Vor der impliziten Hintergrundannahme, menschliches Leben sei nie bloßes Leben, sondern immer schon »Gut-Leben« von reflexivem und selbsttranszendierendem Charakter (eª z»n), verficht Taylor Charles Taylor: Quellen des Selbst, S. 9. Vgl. zur subjekttheoretischen Verkoppelung menschlicher Identität mit Werten bzw. wertvollen Zielen oder Tätigkeiten Kapitel 6.1, S. 495 f. 369 Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 179. 367 368

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die auch empirisch untermauerte anthropologische These, nur ein äußerst schwaches Selbst lasse sich von unmittelbaren Bedürfnissen statt von Werten leiten, 370 denn es sei »konstitutiv für menschliches Handeln, dass man sein Leben innerhalb eines derart durch starke qualitative Unterscheidungen geprägten Horizonts führt.« 371 Nur ein »stark wertendes« Subjekt, das seine Wünsche auf eine bestimmte Lebensqualität, eine spezifische Form des guten Lebens hin reflektiert, erreicht in Taylors Worten »Tiefe«, »die wir als entscheidend für das Menschsein betrachten, ohne die wir menschliche Kommunikation für unmöglich halten würden.« 372 Im Gegensatz zu unseren Präferenzen für bestimmte Automarken oder Computerprogramme kommen bei wichtigen Entscheidungen der Berufs- oder Partnerwahl »starke Wertungen« ins Spiel, 373 die »nicht nur zufällige Dispositionen und Neigungen betreffen, sondern das Selbstverständnis einer Person, die Art der Lebensführung, den Charakter berühren.« 374 Aufgrund dieser genuinen Verknüpfung von Identitätsbildung und Wertbezug können wir weder bei einem Zerfall unserer Werte unsere Identität bruchlos bewahren, noch bei einer Identitätskrise unsere Wertbezüge weiterhin aufrechterhalten. 375 Die liberalistische Kernthese, »die Person ist vor ihren Zielen da«, 376 so dass wir uns in jedem Augenblick von einmal akzeptierten Zielen und Werten distanzieren und sie auch verwerfen könnten, lässt sich dabei anhand unserer Erkenntnisse zur Struktur des Selbst im vorangegangenen Teilkapitel durchaus harmonisieren mit der antithetischen kommunitarischen Koppelung des Selbst an unverrückbare Aufgaben, Ziele und Werte: 377 Während das »reine Selbst« oder »I« als das aktive, reflexive 370 Im Umkreis der psychoanalytischen Selbsttheorien gelangt Wolf bei empirischen entwicklungspsychologischen Studien zu ähnlichen Ergebnissen: »Eine Schwächung der Struktur des Selbst, aus welchen Gründen auch immer, kann die Orientierungskraft der Werte des Selbst unwirksam und die Person anfällig dafür machen, unmittelbare Befriedigungen statt langfristige, wertorientierte Ziele anzustreben.« (Ernest S. Wolf: Selbst, Idealisierung und Entwicklung von Werten, S. 159) Vgl. dazu auch meine Analysen zur Sicherheits- und Wachstumsmotivation in Kapitel 4.1, S. 263 ff. 371 Taylor: Quellen des Selbst, S. 55. 372 Ders.: Negative Freiheit?, S. 27. 373 Vgl. ebd., S. 133. 374 Jürgen Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 103. 375 Vgl. dazu auch die Taylor-Interpretation von Hans Joas: Die Entstehung der Werte, S. 205 ff. und S. 227. 376 John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 607. 377 Vgl. zu diesen antagonistischen Positionen Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 180. Kymlicka unterstellt Sandel, er mache »sich eine Zweideutigkeit des Personen-

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Moment des Selbst tatsächlich jederzeit vom »empirischen Selbst« und einem überholten oder gescheiterten Lebensentwurf Abstand nehmen kann, lassen sich die wertdurchsetzten Ziele und Aufgaben unseres selbstkonstituitven transzendentalen Enwurfs, des »normativen Selbst«, nicht ohne Identitätsstörungen beliebig auswechseln. Auch gemäßigtere Liberalisten, welche die Freiheit nicht um ihrer selbst willen hochhalten, sondern als Bedingung der Verfolgung dessen, was ein Mensch für wertvoll hält, täuschen sich nach Ansicht der Kommunitarier immer noch grundlegend darüber, wie wir zu den Bewertungen unserer Ziele und Lebenspläne gelangen. Keineswegs sei nämlich für jeden Menschen aufgrund seiner einmaligen Persönlichkeit etwas anderes wertvoll und gut, wie Liberale wähnen, denn jeder sei bei seinem Lebens- und Selbstkonzept wesentlich verwiesen auf moralische Gemeinschaftswerte. Wo die Liberalen die moralischen und staatlichen Glücksverpflichtungen auf die Sicherung von Ruhe, Ordnung und Schutz reduzieren, um dem einzelnen eine freie Selbstbestimmung gemäß seinen eigenen Wertvorstellungen zu ermöglichen, pochen Kommunitarier daher auf die Bedeutung des kollektiven Orientierungshorizontes, eines sowohl technischen wie moralischen Insititutionennetzes: Entfaltungsbedingungen eines jeden Individuums sind nicht Schutz oder Sicherheit, sondern 1. in einem eher technischen Sinn die Universitäten, politischen Parteien, Museen, Verlage, etc. mit entsprechenden Infrastrukturen und Rollenmustern, 378 2. in moralischer Hinsicht die argumentative Auseinandersetzung über gut und böse, gerecht und ungerecht, in welcher der einzelne zu den ihm wichtigen Zielen, dem (für ihn) »Guten« findet, über die er seine Identität definiert. 379 Wollen wir also ein individualethisch gelingendes, sinn- und wertvolles Leben begriffs zunutze« (ebd., S. 183), ohne den (ebenso) undifferenzierten Umgang mit den Begriffen »Person«, »Ich« und »Selbst« auf der liberalen Gegenseite anzuprangern. 378 Vgl. Taylor: Negative Freiheit, S. 175 f. 379 Vgl. ebd., S. 150: »Im Gegensatz dazu ist eine soziale Konzeption des Menschen davon überzeugt, dass eine wesentliche, konstitutive Bedingung des Strebens nach dem menschlich Guten mit der gesellschaftlichen Existenzweise des Menschen verknüpft ist. Wenn ich daher behaupte, dass der Mensch außerhalb der Sprachgemeinschaft und einer gemeinsamen Auseinandersetzung über gut und böse, gerecht und ungerecht nicht einmal ein moralisches Subjekt und damit ein Kandidat für die Verwirklichung des menschlich Guten sein kann, dann weise ich damit alle atomistischen Auffassungen zurück; denn was der Mensch aus der Gesellschaft gewinnt, ist nicht Unterstützung bei der Verwirklichung seines jeweiligen Guten, sondern die Möglichkeit überhaupt, ein Handelnder zu sein, der dieses Gute anstrebt.« A

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führen, beziehen wir uns laut Taylor notwendig auf Werte und Normen, die wir nicht selbst gesetzt haben, sondern die gleichsam den Rahmen abgeben für unsere individuelle Wahl und Prioritätensetzung: 380 »Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne.« 381 Entscheidet sich beispielsweise ein Heranwachsender, Musiker zu werden und sein Selbstverwirklichungsglück in diesem Tätigkeitsfeld zu suchen, ist bereits das Erkennen seiner »Berufung« zum Musiker ohne die im Elternhaus oder der Schule kursierenden Leitvorstellungen von »musikalischer Begabung« und entsprechenden eingeschliffenen Beurteilungspraktiken undenkbar. Unter Abraham Maslows in Kapitel 5.2 explizierter anthropologischer Grunddevise »Musiker müssen Musik machen!« 382 sieht sich dieser in seinem weiteren Leben konfrontiert mit geltenden Musiktraditionen und kulturellen Haltungen bezüglich »guter und schlechter Musik« sowie dem technischen, gesellschaftlich-staatlichen Netz von der Musikakademie über Subventionsstrukturen bis hin zu Orchestervereinen, welche jeweils bestimmte kriterielle Anforderungen an den »guten Musiker« stellen. Da er seine selbstverwirklichende Tätigkeit als Musiklehrer oder Orchestermusiker in einem gesellschaftlich-staatlichen Rahmen ausübt, betreffen solche Anforderungen nie nur »technische Tugenden«, sondern auch »moralische« wie äußerste Diskretion und Sensibilität beim Pädagogen, Kollegialität und Loyalität beim Orchestermitglied, wodurch offenkundig eine »konfliktverhindernde Moral« mit sowohl selbst- wie fremdbezogenen »Tugenden« restituiert wird. Inwiefern soll unser Freiheitspotential entgegen liberalistischen Befürchtungen mittels solch kollektiver Kontrollleistungen gerade gesteigert werden? »Freiheit« als Grundvoraussetzung beglückender Selbstverwirklichung transformiert sich in der kommunitarischen Einheitsethik offenkundig von einem »negativen«, passiven Freisein von moralischen und rechtlichen Zwängen ins Positive und Aktive. »Freiheit erschöpft sich dann nicht mehr in der Fähigkeit, die Willkür an Ma380 Zugegebenerweise kommt diese individuelle Perspektive bei Taylors Ausführungen eher zu kurz (vgl. Horster: Postchristliche Moral, S. 179). 381 Taylor: Quellen des Selbst, S. 55. 382 Vgl. Kapitel 5.2, S. 434.

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ximen der Klugheit zu binden, sondern äußert sich in der Selbstbindung des Willens durch Einsicht«, 383 vermerkt Habermas, und Taylor attackiert erfolgreich Isajah Berlins Plädoyer für eine »negative Freiheit«. 384 Während Freiheit als negative »ausschließlich im Sinne der Unabhängigkeit des Individuums von der Einmischung anderer […], sei es in Gestalt der Regierung, von Körperschaften oder von Privatpersonen«, definiert wird, sind die Verfechter ihres positiven Pendants überzeugt, »dass Freiheit zumindest zum Teil auf der kollektiven Kontrolle über das gemeinsame Leben beruht«. 385 Als Hauptgrund für die positive Freiheitskonzeption fungiert bei Taylor die moralpsychologische Einsicht, dass wir nur in dem Maße frei uns selbst verwirklichen können, in dem wir tatsächlich über uns selbst und die Form unseres Lebens bestimmen, 386 d. h. beispielsweise nicht »in Selbsttäuschung befangen sind, wo wir völlig außerstande sind, die von uns angestrebten Ziele angemessen zu beurteilen«, oder »durch Furcht, zwanghaft verinnerlichte Normen oder falsches Bewusstsein motiviert werden.« 387 Bliebe Taylor bei seinem Begründungsgang hier stehen, würde er den in seiner Freiheitsdefinition bereits tangierten gesellschaftlich-politischen Bereich ausblenden und verfehlte damit tatsächlich den Kern von Berlins Freiheitskonzeption, weil dann in erster Linie der Therapeut zur Übernahme der Rolle eines Freiheits-Kontrolleurs prädestiniert wäre. 388 Allein Taylor rekurriert auf eine rationalistische Emotionspsychologie mit »bedeuHabermas: Die Einbeziehung des Anderen, S. 38. Da Taylors Versuch, Berlins einflussreichen politischen Essay Two Concepts of Liberty (in: Four Essays on Liberty, Oxford/New York 1989) zu widerlegen, eine höhere Auflage und größere Verbreitung erreichte, schließt Reese-Schäfer, er verteidige »so gesehen den Hauptstrom politischen Denkens gegen eine moderne Minderheitsvariante« (Walter Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, S. 49). 385 Taylor: Negative Freiheit?, S. 118. 386 Vgl. ebd., S. 121. 387 Ebd., S. 124 und S. 125. Vgl. dazu auch Kapitel 4.1, S. 289–296. 388 Reese-Schäfers Kritik scheint mir Taylor nicht gerecht zu werden: »Taylors Argumentation spart den politischen Bereich der republikanischen Selbstregierung und der damit möglichen Tyrannei der Mehrheit vollkommen aus und konzentriert sich nur auf das Problem der Selbstverwirklichung. Deshalb ist seine Kritik völlig unzureichend und verfehlt den politischen Kern von Berlins ›negativer Freiheit‹. Er kann zwar zeigen, dass es Fälle gibt, in denen jemand anderes meine eigenen Wünsche besser und richtiger beurteilen kann als ich selbst. Mit diesem Nachweis ist aber nicht das Geringste gewonnen, denn wer soll beurteilen, ob jemand in einem bestimmten Augenblick mehr seinem eigenen Willen oder dem Rat des Therapeuten zu folgen hat?« (Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, S. 53) 383 384

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tungszuschreibenden Bedürfnissen und Gefühlen«, 389 weshalb für sie wie für unsere Wünsche und Ziele gelte, dass wir uns in den zugrundeliegenden wertenden Urteilen bzw. Bedeutungszuschreibungen irren und niemals als »letzte Autorität« der Beurteilung fungieren können. Die Bedeutsamkeit von Werten und Zielen lässt sich prinzipiell nicht privatissime mit Bezug auf unsere faktischen Vorlieben begründen, weil »starke Wertungen« als Orientierungsrahmen für unser Leben als Ganzes per definitionem von diesen unabhängige Maßstäbe zum Taxieren unserer persönlichen kontingenten Neigungen und Wünsche darstellen: Starke Wertungen sind »Unterscheidungen zwischen Richtig und Falsch, Besser und Schlechter, Höher und Niedriger, deren Gültigkeit nicht durch unsere eigenen Wünsche, Neigungen oder Entscheidungen bestätigt wird, sondern sie sind von diesen unabhängig und bieten selbst Maßstäbe, nach denen diese beurteilt werden können.« 390 Bei der Entscheidung, wieso ich mich beispielsweise unter der Voraussetzung einer doppelten Begabung als Musiker und nicht als Boxer verwirklichen will bzw. wieso der Staat Konzerte, nicht aber Boxveranstaltungen subventioniert und fördert, greift man daher auf kulturelle Gemeinschaftswerte zurück, die sich sowohl vermittels langjähriger gemeinsamer alltagspraktischer wie auch wissenschaftlich-methodisch kontrollierter Erfahrung etabliert haben können. Im Rahmen einer solchen Kulturpolitik braucht man »das Theater nicht als den einzigen oder auch nur den wichtigsten Wert im Leben anzusehen, sondern nur als nach gegenwärtiger Lage der Dinge wertvoller als das Boxen. Dafür könnte man verschiedene Begründungen geben, u. a., dass das Theater anregend wirke, das Boxen aber frustrierend und abstumpfend; oder dass Boxfans ihr Tun im Rückblick viel öfter bereuten als Theaterbesucher; oder dass die Mehrzahl derer, die beides ausprobiert haben, das Theater vorziehen. Dann wäre es einigermaßen einleuchtend, das Theater für bessere Unterhaltung zu halten als das Boxen. Warum sollte dann der Staat die Menschen nicht ins Theater lenken und sie von dem nichtigen Boxen fernhalten?« 391

Obwohl unser Urteilen und Handeln also grundsätzlich »unter Berufung auf einen Maßstab missbilligt wird, der von meinen eige389 Vgl. Taylor: Negative Freiheit?, S. 137, sowie unsere emotionspsychologischen Studien in Kapitel 3.2, insbes. S. 225. 390 Ders.: Quellen des Selbst, S. 17. 391 Kymlicka: Politische Philsophie heute, S. 171.

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nen Vorlieben und Wünschen unabhängig ist und den ich anerkennen sollte«, 392 müssen wir uns dem in traditionellen Insititutionen verkörperten »Guten« und »Richtigen« nicht widerstandslos beugen, weil solche maßstabbildenden Horizonte erst den Kontext für individuelle Urteilsfindung abgeben. Selbst der konservativste, bisweilen als »politischer Romantiker mit einer gewissen Sehnsucht nach dem Mittalter« 393 belächelte Kommunitarier Alasdair MacIntyre insistiert zwar darauf, die »Vergangenheit meiner Familie, meiner Stadt, meines Stammes, meiner Nation« mit einer »Vielzahl von Schulden, Erbschaften, berechtigten Erwartungen und Verpflichtungen« bildeten gleichsam meinen »moralischen Ausgangspunkt«, 394 ohne dass aber durch solchen moralisch-kulturellen Instinktersatz gleichsam mechanische Instinkte etabliert würden. Vielmehr schwebt auch MacIntyre eine »lebendige Tradition« vor, in der »die moralischen Beschränkungen der Besonderheit jener Gemeinschaftsformen« nicht unkritisch internalisiert werden, sondern einem kontinuierlichen und konfliktuösen Dialog darüber ausgesetzt werden, was denn eine gute Universität, eine gute Medizin oder was eine gerechte Form des Zusammenlebens wirklich sei. 395 Eine aufgeklärte, vernünftige Selbstbestimmung und ein entsprechendes Selbstverwirklichungsglück setzten dann eine argumentative Willensbildung und eine rationale, konsensuelle Wertbegründung im beratenden praktischen Diskurs voraus. Der liberalistische Vorwurf an die Adresse der Kommunitarier, ihre Konzeptionen seien repressiv infolge des rücksichtslosen Aufoktroyierens allgemeiner Werte trifft also ins Leere, weil die für alle Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft verbindlichen Werte diskursiv mit kritischem Blick auf geltende kulturelle Praktiken und Institutionen und unter Berufung auf gemeinsame Einsichten und Erfahrungen bestimmt werden sollen. Während die Liberalen sicherlich zu weit gehen mit der Annahme, jeder Mensch wisse selbst am besten, was für ihn wertvoll und gut sei, insistieren sie doch Taylor: Quellen des Selbst, S. 17. Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, S. 11. 394 Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend, S. 294. 395 Vgl. ebd., S. 296 ff. »Wenn also eine Institution – eine Universität zum Beispiel, oder ein Bauernhof oder ein Krankenhaus – Träger einer Tradition einer Praxis ist, wird ihr Alltagsleben zum Teil, aber auf ganz entscheidende Weise, aus einer ständigen Erörterung darüber bestehen, was eine Universität ist und sein sollte, was gute Landwirtschaft ist oder was gute Medizin ist. Traditionen verkörpern, wenn sie lebendig sind, kontinuierliche Konflikte.« (ebd., S. 296) 392 393

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zu Recht auf der Notwendigkeit, dass sich ein jeder im Lichte aller von einer Kultur bzw. Gesellschaft zur Verfügung gestellter Informationen, Leitbilder und Begründungen eine eigene Wertvorstellung entwickeln kann, ohne damit allerdings einen Widerspruch zur kommunitarischen Grundhaltung zu provozieren. 396 Unter der Voraussetzung, dass »die Freiheit umso größer ist, je bedeutsamer die Ziele sind«, die wir verfolgen, 397 und dass unser Glück in Abhängigkeit vom Grad positiver Freiheit steht, verweisen uns die Kommunitarier bei unserer Glücks- und Freiheitssuche auf Gesellschaftsstrukturen mit beratenden Praktiken und Institutionen, welche nicht nur »die Freiheit sichern, sondern […] das Verständnis der Freiheit aufrechterhalten.« 398 Dies aber bedeute, »die (soziale) Perspektive zu akzeptieren, derzufolge die eigentliche Fähigkeit zum Guten (hier zur Freiheit) mit einer bestimmten Form der Gesellschaft verknüpft ist.« 399 Der liberalistische Appell zur Freiheit der Entscheidung und Selbstbestimmung dagegen lässt den Menschen allein mit der Frage, welche Ziele und Handlungen wertvoll sind, und blendet sowohl die Irrtumsmöglichkeit wie die sozialen Vorbedingungen seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung unzulässigerweise aus. Infolge dieser Missachtung der soziokulturellen Bedingungen menschlicher Freiheit unterminiere der liberalistische Individualismus sukzessive seine eigenen Grundlagen: »Der grundlegende Irrtum des Atomismus in all seinen Formen besteht darin, dass er nicht in Betracht zieht, in welchem Maße das freie Individuum mit seinen eigenen Zielen und Wünschen, dessen gerechte Entlohnung er zu sichern sucht, seinerseits nur möglich ist innerhalb einer bestimmten Art von Zivilisation, dass es einer langen Entwicklung bestimmter Institutionen und Praktiken, der Herrschaft des Gesetzes, der Regeln wechselseitiger Achtung, der Gewohnheiten gemeinsamer Beratung, gemeinsamen Umgangs, gemeinsamer kultureller Selbstentwicklung und so weiter bedurfte, um das moderne Individuum hervorzubringen, und dass ohne diese das gesamte Selbstverständnis als Individuum in der modernen Bedeutung des Begriffs verschwinden würde.« 400

396 Vgl. dazu meine folgenden Ausführungen oder Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 173 ff. 397 Taylor: Negative Freiheit?, S. 144. 398 Ebd., S. 176. 399 Ebd. 400 Ebd., S. 175.

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Während John Lockes Staat als öffentliche Instituition zum Schutz der (negativen) Freiheit »mit beinahe jedem Grad an Ungleichheit vereinbar« sei, gelten in einer solchen beratenden »Art von Zivilisation« zur Beförderung der Fähigkeit (positiver) Freiheit größere Ungleichheiten als inakzeptabel. 401 Nicht anders als in der aristotelischen Politik sollen Ungleichheiten nur in Bezug auf die unterschiedlichen Beiträge der einzelnen zu den in gemeinsamer Beratung als wertvoll erkannten menschlichen Tätigkeiten oder gesellschaftlichen Strukturen gerechtfertigt sein, dank deren wir glauben, die spezifisch menschlichen Anlagen am besten entwickeln zu können. 402 Bedingung für eine tiefe Persönlichkeit und ein reflektiertes gutes und glückliches Leben wäre also eine Gemeinschaft, in welcher sich alle ungezwungen an der Auseinandersetzung über das für ein menschliches Leben tatsächlich Lohnende sowie über die Subventionierung entsprechender Insitutionen bzw. die gerechte Verteilung der dazu notwendigen Güter beteiligen können, sei es auf der staatlichen Ebene in demokratischen Rechtsverhältnissen, sei es sozialethisch innerhalb einer durch jene normativ begrenzten moralischen Wertgemeinschaft. Entgegen der liberalistischen Losung, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, setzen die Kommunitarier offenkundig auf die gemeinsame reflexive Anstrengung bezüglich einer »konkfliktlösenden Moral«, um den einzelnen Glückssucher vor einer Fehleinschätzung der Bedeutsamkeit seiner Lebensziele zu bewahren. Wenngleich sich die meisten Einwände der Liberalen gegenüber einem am aristotelischen Polismodell orientierten sozialdemokratischen Kommunitarismus entkräften ließen, wollen wir anhand einiger neuerer sozialphilosophischer, sozialpsychologischer und staatstheoretischer Untersuchungen Taylors Ansatz ergänzen und vertiefend weiterentwickeln, um die hier projektierte gegenwartsund realitätsnahe Verbindungsmöglichkeit von individuellem Glücksstreben und moralischen Prinzipien des Zusammenlebens noch deutlicher hervortreten zu lassen. Axel Honneths Plädoyer für eine »Moral der Anerkennung« scheint von derselben beratenden »Art von Zivilisation« auszugehen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf das Selbstverwirklichungsglück des einzelnen zu fokussieren, wo Taylor bei der Identitätsbildung stehen bleibt: Nur auf der 401 402

Vgl. ebd., S. 176 f. Vgl. ebd., S. 157 f. A

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Basis wechselseitiger Anerkennung konstituieren sich Menschen als Personen, so startet Honneth seine etwas differenziertere Begründungsstrategie der Einheitsthese, indem »sie sich aus der Perspektive zustimmender oder ermutigender Anderer auf sich selbst als Wesen beziehen lernen, denen bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten positiv zukommen.« 403 Dabei sei das individuelle Selbstverwirklichungsglück auf die Weise an ein anerkennenswertes Selbst- und Lebenskonzept gekoppelt, dass der »Grad der positiven Selbstbeziehung […] mit jeder neuen Form der Anerkennung« wachse. 404 Entsprechend den in Kapitel 6.1 bereits exponierten drei Anerkennungsformen 405 gewinnen wir nämlich in Primärbeziehungen Selbstvertrauen, in der Erfahrung rechtlicher Anerkennung Selbstachtung und in der von den Kommunitariern akzentuierten Wertschätzung durch die moralische Gemeinschaft schließlich Selbstschätzung, welche die Voraussetzungen schaffen für eine gelingende und beglückende Selbstverwirklichung. »Denn der Umstand, dass die Möglichkeit der positiven Selbstbeziehung allein mit der Erfahrung von Anerkennung gegeben ist, lässt sich als ein Hinweis auf notwendige Bedingungen der individuellen Selbstverwirklichung verstehen. Wie in anderen Kontexten auch, so liefert hier der negative Beweisgang eine erste, rohe Form der Begründung: ohne die Unterstellung eines gewissen Maßes an Selbstvertrauen, an rechtlich gewährter Autonomie und an Sicherheit über den Wert der eigenen Fähigkeiten ist ein Gelingen von Selbstverwirklichung nicht vorzustellen, wenn darunter ein Prozess der ungezwungenen Realisierung von selbstgewählten Lebenszielen verstanden werden soll.« 406

Materiale Werte eines gemeinsamen Werthorizontes als Quelle posttraditionaler Solidarität sind aus Honneths Sicht selbst unter den Bedingungen der Moderne unerlässlich, so dass Anerkennung im Binnenreich von Primärbeziehungen für ein Selbstverwirklichungsglück niemals ausreichend wären: »Weil die Individuen sich auch in ihren besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften anerkannt wissen müssen, um zur Selbstverwirklichung in der Lage zu sein, bedürfen sie einer sozialen Wertschätzung, wie sie nur auf der Basis gemeinsam geteilter Zielsetzungen erfolgen kann.« 407 Wenngleich unsere Frei403 404 405 406 407

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Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 278. Ebd. Vgl. Kapitel 6.1, S. 489. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 278. Ebd., S. 284.

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räume der Selbstverwirklichung exponentiell wachsen, je mehr ein von konservativen Kommunitariern beschworenes »gelebtes Ethos« schwindet, bleiben wir bei einem glücksverheißenden Projekt der Selbstverwirklichung also auf weitreichende Anerkennung in Form sozialer Wertschätzung angewiesen und vermögen allein kraft der diskursiven Festsetzung von Gemeinschaftswerten und -zielen Entlastung vom eskalierenden Orientierungsdefizit und Entscheidungsdruck zu finden. Beachtet man die in vielen gesellschaftskritischen Stellungnahmen fahrlässig ignorierte Differenz zwischen dem jedem Selbstverwirklichungsstreben zumindest graduell eigenen »Egozentrismus« als Fokussierung des Denkens und Handelns auf persönliche Ziele und dem ethisch wertenden »Egoismus«, bei dem ein übersteigerter Egozentrismus nur noch ein Denken und Handeln zum eigenen Vorteil erlaubt, 408 lassen sich mit Ekkehart Kleiter grundsätzlich zwei Formen von Anerkennung erfahrender Selbstverwirklichung unterscheiden: Ein egoistisches Selbstverwirklichungsstreben, das sich in keiner Weise um die Ziele und Wertschätzungen anderer oder der Sozietät als Ganzer schert, kann bei herausragendem Erfolg dennoch auf Toleranz, Bewunderung und Anerkennung stoßen. Während der betreffende Selbstverwirklicher wähnt, die Kommunikation mit seinem sozialen Umfeld sei gelungen und seine Selbstverwirklichung somit moralisch vertretbar, liegt de facto lediglich eine »pseudo-gelungene Kommunikation und Selbstverwirklichung« 409 vor. Demgegenüber spricht Kleiter von einer nicht-egoistischen und nur schwach egozentrischen »verantworteten Selbstverwirklichung«, wenn diese von ständiger »sozial-ethischer Reflexivität« begleitet wird und damit dem in Kapitel 6.1 statuierten Ideal transsubjektiver Handlungsorientierung entspricht. 410 Es sei heute jeder »über das Prinzip des ›inneren Diskurses‹ aufgerufen, sozial und ethisch zu reflektieren, um 408 Vgl. dazu Ekkehart Kleiter: Egozentrismus, Selbstverwirklichung und Moral, S. 3 f. und unsere einleitenden Bemerkungen S. 474. 409 Ebd., S. 62. 410 Vgl. Kapitel 6.1, S. 514 ff. Auch bei der »verantworteten Selbstverwirklichung« kommt es insbesondere unter Wissenschaftlern, Künstlern und Betriebsleitern aber häufig vor, dass in jahrelanger sachbezogener Arbeit scheinbar egozentrisch egoistische Ziele verfolgt werden, wohingegen sich ihre Tätigkeit nachträglich als pro-sozial und moralisch ausweist. Kleiter spricht bei diesem moralisch zu billigendem Typus von »pro-sozialen Egozentrikern« mit »mittelbar pro-sozialen« Lebenszielen (vgl. ebd., S. 4).

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das Ausmaß der gewährten Selbstverwirklichungsfreiheit selbst dort einzuschränken, wo es die Selbstverwirklichung des andern schädigend behindert.« 411 Statt wie die Kommunitarier auf eine traditionsgebundene Moral und althergebrachte Gemeinschaftswerte zu pochen oder gleich Honneth, Theunissen und Kambartel die soziale Anerkennung an materiale gemeinsame Zielsetzungen zu koppeln, ließe sich posttraditionale Solidarität und die Einheit von individuellem Streben und moralischer Gerechtigkeit herstellen, indem jeder einzelne die Anliegen und Wertvorstellungen aller in einem Handlungszusammenhang Stehender mental repräsentiert und ohne Wissen um den tatsächlichen eigenen Standpunkt die Konsequenzen seines zielgerichteten Handelns für sämtliche Betroffenen prüft. 412 Diese an Rawls’ hypothetische Vertragssituation unter einem »Schleier des Nichtwissens« erinnernde unparteiliche Einstellung des einzelnen Selbstverwirklichers kann allerdings die diskursive Bestimmung kollektiver Ziele und des »gemeinsamen Guten« – sei es in konkreten Gemeinschaften oder repräsentativ-demokratischen Institutionen – niemals ersetzen, sondern nur vorbereiten oder ergänzen. 413 Unterstellen die psychoanalytischen Selbsttheorien zu Recht, die mittels sozial-ethischer Reflexion »verantwortete« anstelle einer bestenfalls akzeptierten »egoistischen Selbstverwirklichung« werde nur aufgrund eines egozentrischen Verlangens nach echter Anerkennung favorisiert, wodurch die allgemeinen materialen Werte bezüglich des Aufrechterhaltens einer positiven Selbstbeziehung und des damit verbundenen Selbstverwirklichungsglücks funktionalisiert würden? 414 Ebd., XV. Vgl. ebd., mit explizitem Bezug auf Theunissens im oben angegebenen Kontext behandelte Studie Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 102 ff. »Ethische Allgemeinheit wird dadurch hergestellt, dass sich der sozial-ethisch Reflektierende die Aufgabe auferlegt, durch Rollenübernahme der Perspektiven aller möglichen Allos, nicht zu wissen, wer von den Beteiligten das Ego ist. […] Da nicht bekannt ist bzw. Beliebigkeit besteht, wer der eventuell negativ Betroffene oder positiv Begünstigte ist (jeder symbolisch repräsentierten kann es sein), herrscht Solidarität.« (ebd., S. 166) 413 Auch Kleiter postuliert: »Konstitution [von Moral] auf der Basis der Einzelperson und auf der von demokratischen Mehrheiten sollten sich gegenseitig ergänzen.« (ebd., 167) 414 Vgl. exemplarisch Wolf: Selbst, Idealisierung und Entwicklung von Werten, S. 148 f. oder Kleins provokativen Aufruf zum sozialen Engagement aus Eigennutz, der sich auf eine Studie des englischen Sozialpsychologen Michael Argyle über Freizeitgestaltung stützt: »Ob in einer Theatergruppe oder einem Naturschutzverband – sich zu engagie411 412

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Zweifellos gilt auch betreffs der kommunitarischen kollektivistischen Einheitsethik, die von einer »konfliktverhindernden Moral« mit allgemein anerkannten »starken Werten« ausgeht, grundsätzlich in Rechnung zu stellen: Wenn wir die gemeinsamen Werte und Ziele nur um der erwarteten sozialen Wertschätzung willen oder – gemäß Ernst Tugendhats Darstellung – zur Vermeidung moralischer Gefühle von Scham und Empörung befolgen würden, die sich bei der Zuwiderhandlung einstellen, läge lediglich ein hypothetisch-moralkonformes Handeln vor, und die eigentlich sozialethische Dimension fehlte. 415 Auch er, grundsätzlich mit den Kommunitariern darin übereinstimmend, dass ein Mensch erst durch Wertbindungen zur Person arriviere, eruiert Tugendhat als eigentliche Motivation moralischen Handelns die Aufrechterhaltung unserer durch die moralische Gemeinschaft gestifteten, persönlichkeitskonstitutiven »moralischen Identität«. 416 Diese gerät nämlich anläßlich moralischer Sanktionen in Form der genannten negativen Gefühle in Bedrängnis, indem wir bei der Scham einen Mangel an persönlicher, bei der Empörung an sozialer Identität erfahren. 417 Das moralische Sollen wird infolgedessen auf ein ursprünglicheres Wollen, die Billigung durch eine moralische Gemeinschaft, letztlich im Anschluss an Erich Fromm auf das schlichte Nichtalleinseinwollen zurückgeführt: »Jeder von uns muss sich die Frage stellen (und hat diese Frage implizit immer schon gestellt und beantwortet), ob er sich als ein Mitglied der moralischen Gemeinschaft betrachten will. Die Möglichkeit einer Rechtfertigung moralischer Normen und sogar die bloße Möglichkeit, in der Lage zu sein, von einem moralischen ›Sollen‹ zu sprechen, hängt von diesem Wollen ab.« 418 Die Einheit von Strebens- und Sollensethik lässt sich hingegen nur dann ohne Reduktion des Sollens auf das Streben retten, wenn der Akzent auf die »moralische Gemeinschaft« gesetzt und der Begründungsfrage wertvoller gemeinsamer Ziele und moralischer Normen der Kooperation mehr Raum geschenkt würde. 419 ren ist nicht bloß aus moralischen Gründen empfehlenswert, sondern auch aus reinem Eigennutz.« (Stefan Klein: Die Glücksformel, S. 269) 415 Tugendhat geht prinzipiell davon aus, »dass moralische Normen eine bestimmte Art hypothetischer Imperative sind« (Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, S. 46, Fußnote 7). 416 Vgl. ders.: Die Rolle der Identität in der Konstitution der Moral, S. 41. 417 Vgl. ebd., S. 38 f. 418 Ebd., S. 46. 419 Tugendhat begnügt sich mit einer sogenannt »schwachen Begründung« (vgl. HorsA

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Nur ein begründeter Konsens hinsichtlich solcher moralischer Prinzipien, die sich der menschlichen Vernunft gleichsam empfehlen und von allen unabhängig von ihren individuellen Neigungen als beachtenswert anerkannt werden können, ermöglicht eine »Selbstbindung des Willens durch Einsicht«, 420 bei der das kategorische Sollen einen eindeutigen intentionalen, normativ-rationalen Vorrang vor allen anderen Handlungsmotivationen genösse. Bei empirisch-psychologischen Befragungen zum Verhältnis von Moral und Selbst ließ sich die Annahme bestätigen, »dass moralische und andere Ideale als Herzstück der eigenen Identität gewählt werden, weil man sie als objektiv bedeutsam begreift. Demnach wäre Persönlichkeit ein Stück weit davon geformt, was man als der Hingabe und des Einsatzes wert weiß.« 421 Analog zu Kants »moralischer Triebfeder« eines »Gefühls der Achtung« vor dem Sittengesetz stellte das in engem Zusammenhang mit der Identitätssicherung und erfüllender Selbstverwirklichung stehende Anerkennungsverlangen, negativ ausgedrückt: die Angst vor moralischen Sanktionen, im schlimmsten Fall vor der Exkommunikation aus der moralischen Gemeinschaft, einen jene Einsicht ostinat begleitenden unmittelbaren motivationalen Faktor dar – neben dem mittelbaren Motivationsfaktor einer Grundstimmung des Glücks positiver Selbstbeziehung. Halten wir fest: Ohne das Glücksmängelwesen Mensch von vornherein als ein auf Gemeinschaft angelegtes »politisches Wesen« zu definieren, müsste man es gemäß Ritters Aristoteles-Interpretation zunächst als vernunft- und sprachbegabtes Wesen begreifen, 422 das die typisch menschliche Rationalität erst in der Wertdiskussion einer annähernd idealen Kommunikationsgemeinschaft zu entfalten vermag und daher unter Umständen die Einsamkeit der Zugehörigkeit zu einer Räuberbande vorzöge. Bei solchen Wertdebatten kämen nämlich nicht irgendwelche persönlichen Präferenzen und Interessen zur Sprache, sondern man bemühte sich um einen unparteilichen ter: Postchristliche Moral, S. 309), welche uns nach dem Refüsieren sämtlicher autoritärer Instanzen einzig noch übrigbliebe (vgl. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, S. 86). 420 »›Einsicht‹ bedeutet, dass ein Entschluss mit Hilfe epistemischer Gründe gerechtfertigt werden kann«, wobei sich epistemische Gründe anders als pragmatische nicht auf persönliche Präferenzen, sondern auf die intersubjektiv geteilte soziale Welt beziehen, präzisiert Habermas in: Die Einbeziehung des Anderen, S. 38. 421 Augusto Blasi: Die Entwicklung der Identität und ihre Folgen für moralisches Handeln, S. 144. 422 Vgl. oben, S. 540 f.

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Standpunkt zur gemeinsamen Prüfung und Revision kulturell sedimentierter Erfahrungen, Praktiken und Lebensformen hinsichtlich der geteilten sozialen Welt: 423 »Die Attraktivität der Werte, in deren Licht ich mich und mein Leben verstehe, lässt sich nicht in den Grenzen der mir privilegiert zugänglichen Welt subjektiver Erlebnisse klären. Denn meine Präferenzen und Ziele sind nicht länger etwas Gegebenes, sondern stehen selber zur Diskussion; in Abhängigkeit von meinem Selbstverständnis können sie sich in der Reflexion auf das, was für uns, im Horizont unserer geteilten sozialen Welt einen intrinsischen Wert hat, auf begründete Weise ändern.« 424

Obschon ein starker unmittelbarer, voluntativer motivationaler Faktor, nämlich das Verlangen nach einer moralischen Identität und der Integration in eine moralische Gemeinschaft, sowie eine mittelbare, emotionale Motivationskraft, d. i. das Glück positiver praktischer Selbstbeziehung und gelingender Selbstverwirklichung, uns scheinbar zu moralkonformem Handeln drängen, behalten die im kommunikativ-praktischen Diskurs begründeten Werte und Normen einen von persönlichen Präferenzen unabhängigen Stellenwert und einen intentionalen, begründungslogischen Vorrang bei der Führung unseres Lebens. Denn da der Mensch aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit seine Selbstbestimmung und seine Konzeption eines »guten Lebens« nicht auf etwas gründen will, das er im Augenblick gerade für gut hält, ist er beim Urteilen auf Unterstützung durch rationale Gründe und Gegenargumente seitens seiner Kooperationspartner angewiesen. Unser Streben nach dem Glück der Selbstverwirklichung ist folglich dem Interesse an einem tatsächlich guten Leben, das sich über den Wert unseres Tuns nicht täuscht, logisch nachgeordnet und vollzieht sich vernünftigerweise niemals jenseits von Gut und Böse:

423 In Abgrenzung vom missverständlichen kantischen »universellen Standpunkt« der Vernunft gilt mit Gerhardt klarzustellen: »In der richtigen Selbstbeziehung, d. h. im moralischen Verständnis unserer selbst (unseres Lebens), lassen wir uns wirklich von der Vernunft bestimmen, wir legen uns nicht Gründe nach unseren jeweiligen Interessen zurecht; wir lassen uns in unserem Handeln von Gründen leiten, wir ziehen nicht die Gründe hinterher. Wir vernünfteln nicht, um das auf bloß materiale Zwecke gerichtete Handeln nachträglich zu rechtfertigen, sondern wir bemühen uns redlich und aufrichtig, also auch selbstkritisch um Vernunft.« (Gerhardt: Kritik, S. 289) 424 Habermas: Die Einbeziehung des Anderen, S. 40.

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»Wir können uns von unseren früheren Zielen distanzieren und ihren Wert für uns in Frage stellen. Der Nachdruck, mit dem wir das an bestimmten Punkten unseres Lebens tun, ist nur verständlich, wenn unser eigentliches Interesse einem guten Leben und nicht dem augenblicklich von uns für gut gehaltenen gilt. Auf diesem Gebiet fällen wir nicht einfach Urteile, wir mühen uns mit ihnen ab, manchmal bis zur Verzweiflung; wir wollen einfach nicht mit falschen Vorstellungen über den Wert unseres Tuns dahinleben.« 425

Taylors Gegenentwurf einer »positiven Freiheit«, der das liberalistische Streben nach grenzenloser Freiheit beim persönlichen »pursuit of happiness« als gefährlich entlarvt, verweist uns wie gesehen nicht nur auf eine »konfliktverhindernde Moral«, sondern auf politische Einrichtungen, die über Schutz und Sicherheit hinaus die gemeinsame Beratung über »starke Werte« garantieren, so dass ein auf gemeinsamen Erfahrungen und Einsichten beruhender normativ-rechtlicher Konsens durchaus fehlerhafte Wertvorstellungen der Bürger korrigieren könnte. 426 Auch wenn die reale Demokratie zur Förderung der sozialen Bedingungen der Freiheit nie an den idealen mit dem von den Diskursethikern anvisierten, unabgeschlossenen, herrschaftsfreien Diskurs heranreicht, 427 schätzen die Zürcher Wirtschaftswissenschaftler Bruno Frey und Alois Stutzer anlässlich einer neueren empirischen Erhebung, bei welcher die Schweizer zu den »Allerglücklichsten« zählen, die Glückschancen in einer direkten Demokratie mit größten Einflussmöglichkeiten auf das gesellschaftliche Leben und die staatlichen Institutionen als besonders hoch ein. 428 Da das Maß an Mitbestimmungsmöglichkeiten darüber hinaus in den einzelnen Kantonen zwischen den Extrempolen Basel-Land und Genf Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 172. Reese-Schäfer macht bei seiner Taylor-Interpretation auf die Nähe zum aristotelischen Polis-Modell aufmerksam: »Wenn die Verwirklichung unserer Freiheit zum Teil auch von der Gesellschaft abhängt, in der wir leben, dann können wir eine vollständigere Freiheit praktizieren, indem wir uns an der Mitgestaltung unserer Gesellschaft und Kultur beteiligen. Das aber gelingt nur durch die politischen Instrumente gemeinsamer Entscheidungsfindung, so dass auch die politischen Institutionen, in denen wir leben, als Teil unserer Identität als freie Wesen angesehen werden können. Mit diesem Argument steht Taylor der aristotelischen Position sehr nahe, wonach die Zugehörigkeit zur griechischen Polis Bedingung und Inhalt der Freiheit ist.« (Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, S. 34) 427 Vgl. die ironische Darstellung des »demokratischen Glücks« durch Prisching in: Glücksverpflichtungen des Staates, S. 28 ff. 428 Die Resultate der Studie Happiness, Economy and Institutions von Bruno S. Frey und Alois Stutzer werden von Pieper anlässlich ihrer Darstellung der »ökonomischen Lebensform« zusammengefasst in: Glückssache, S. 131. 425 426

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differiert und damit auch der Anreiz zur Beteiligung am politischen Geschehen unterschiedlich groß ist, lassen sich in ihrer Studie sogar kantonsspezifische Korrelationen zwischen der Lebenszufriedenheit und dem politischen Einfluss ausmachen: Je mehr die Bürger eines Kantons politisch mitwirken können, desto zufriedener sind sie insgesamt mit ihrem Leben, so dass in der Tat »ein Umzug von Genf nach Basel-Land statistisch gesehen für das Wohlbefinden mehr bringt als ein Aufstieg von der niedrigsten in die höchste Einkommensgruppe« 429 ! Die Zunahme an Glück und Lebenszufriedenheit in Kantonen mit intensivierter Bürgerkontrolle wird dabei von den Autoren der Ermittlung nicht auf das bessere Funktionieren der Schulen, Krankenhäuser und Schwimmbäder in diesen Regionen zurückgeführt, sondern unmittelbar daraus abgeleitet, dass die Menschen dort »das Schicksal ihrer Gemeinde und ihrer Region selbst in die Hand nehmen« können. 430 Über die positive Möglichkeit politischer Selbstbestimmung hinaus schafft das gemeinsame Engagement der Bürger für bestimmte Ziele eine Basis für tragfähige soziale Kontakte und eine optimale gesellschaftliche Vernetzung, für erhöhte soziale Anerkennung und Solidarität, 431 welche auch in schwierigen Verhältnissen die Glücksstimmung am Umschwenken ins Unglück zu hindern vermögen. Allerdings scheint diese Interpretation der Schweizer Studie mit dem Nachweis eines »demokratischen Glücks« 432 einen Widerspruch zur empirischen Politikforschung zu provozieren, welche als Resultat verbucht, »das Glück der Menschen hänge generell zu mehr als 90 % von den Gegebenheiten in ihrem privaten Lebensraum ab«, 433 und die fortschreitende Staats- und Politikexpansion mit ihren impliziten oder expliziten Glücksversprechungen glänze mit einer ihr vermehrt

429 Diesen Schluss zieht Klein aus den Ergebnissen besagter Studie in: Die Glücksformel, S. 277. 430 Ebd. Neben diesem schweizerischen Exempel belegen auch Vergleichsstudien zum ehemaligen Ost- und Westdeutschland, dass die Glückschancen steigen, wo die Menschen nicht ohnmächtig der staatlichen Willkür ausgeliefert sind, sondern die Vorgänge in ihrem Land kontrollieren und aktiv mitgestalten dürfen. Vgl. dazu ebd., S. 274 f. 431 Vgl. zu diesen zusätzlichen Glücksfaktoren ebd., S. 267 f. 432 Vgl. oben, Fußnote 427. 433 Helmut Klages; Glückserzeugung durch Politik, S. 104, hier mit Bezug auf L. von Wiese: System der allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Berlin 1955). Empirische Belegstudien zu dieser provokativen These finden sich ebd., S. 105 ff.

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attestierten »Glücks- und Zufriedenheitserzeugungsunfähigkeit«. 434 Da hier einmal mehr Vorsicht beim Umgang mit empirischen, auf Meinungsumfragen basierenden Datenerhebungen geboten ist, empfiehlt uns Herbert Klages ein attributionstheoretisches Erklärungsschema von einiger Plausibilität: Während bei einer naheligenden Verantwortungszuschreibung auf das Privatleben bzw. die Privatperson der eigene Glückszustand ins Positive überhöht wird, spielen zur Verfügung stehende starke externale Verantwortunginstanzen im Falle negativer Stimmungen gleichsam die Rolle eines »persönlichkeitsdynamischen Sündenbocks«. 435 Je mehr in einer Gesellschaft Verantwortungszuständigkeiten seitens öffentlicher Instanzen angeboten und in Anspruch genommen werden, steigt natürlich potentiell die Tendenz zur Negativbewertung der Politik und ihrer Leistungen durch die einzelnen Glückssucher, so dass sich tatsächlich Wolfgang Glatzers Formel vom »sozialpsychologischen Missgeschick« sowohl auf die gescheiterten sozialistischen Oststaaten wie auch auf die Sozialstaaten westlicher Provenienz münzen ließe. 436 Begünstigt wird eine solche Attributionsweise unzweifelhaft durch die verschärfte Spannung zwischen öffentlichem und privatem Bereich, wie wir sie im soziologisch ausgerichteten Kapitel 2.1 skizzierten: Nachdem in der europäischen Aufklärung das Glück in pragmatisch modifizierter Form »politisiert« wurde und dieser Politisierung die glücksrelevanten Politikziele wie »Gemeinwohl« oder »Wohlfahrt« entsprangen, 437 verlor sich allmählich dieser Glaube an eine politisch abgesicherte prästabilisierte Glücksharmonie, die eine weitgehende Übereinstimmung von inneren individuellen Tendenzen, kollektivem Nutzen und äußeren Umständen garantiert. Bevor wir unsere weiterführenden Überlegungen zum kollektivistischen Typus der neueren Einheitsethik im Ausgang vom kommunitarischen Modell Taylors abschließen und als zweiten Vertreter Robert Spaemann zu Wort kommen lassen, wollen wir mit folgender Frage die sozialEbd., S. 109. Vgl. ebd., S. 107 f. 436 Vgl. ebd., S. 109. Man müsse also »zu der frappanten und ohne Zweifel ›kontra-intuitiven‹ Hypothese gelangen, dass in dem Maße, in welchem in einer Gesellschaft politisch garantierte Daseinsvorsorge und Lebensqualitätsgewährleistung stattfindet oder in Anspruch genommen wird, eine Tendenz zur Negativbewertung der Politik und ihrer Leistungen durch die Gesellschaftsmitglieder um sich greift, oder zumindest doch als Möglichkeit in der Luft liegt.« (ebd., S. 108) 437 Vgl. ebd., S. 103 und Kapitel 2.1, S. 73 f. 434 435

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ethische Perspektive kurz auf den politischen Raum erweitern: 438 Hält der Staat trotz empirisch verifizierter Dominanz der infolge einer »Privatisierung« des Glücks forcierten Negativattributionen zu Recht an seiner Verantwortung für das Glück der Bürger in Form eines Versprechens von »Gemeinwohl« oder »Wohlfahrt« fest? 439 »Nicht, dass der Staat Verantwortung hat für das Glück der Menschen, ist strittig, der Streit geht vielmehr darum, was er zu diesem Behufe zu tun hat«, 440 resümiert Manfred Prisching die historischen und aktuellen Reflexionen zum diffizilen Verhältnis von Glück und Staat. Im Gegensatz zu Prisching scheint mir aber die Unterlassung terminologischer Differenzierungen hinsichtlich verschiedener staatlicher Glücksverpflichtungen wie »Gemeinwohl« oder »Wohlfahrt« aus Angst vor »endlose[n] Definitionsstreitereien« unzulässig. 441 Da das deutsche Pendant zum »welfare state«, einer rein analytischen »Bezeichnung eines planenden und steuernden Staates, der eine gewisse soziale Infrastruktur vorhält und der für seine Bürger bei Vorlage bestimmter Bedarfslagen finanzielle Transfers und soziale Dienste vorsieht«, 442 im deutschen Sprachraum mit negativen Konnotationen eines übermächtigen, freiheitsraubenden Staatswesens verknüpft wird, spricht man hier lieber vom »Sozial«- als vom »Wohlfahrtsstaat«, wobei ersterer gleichsam eine gemäßigte Variante des letzteren darstellt mit im wesentlichen gleichen Strukturmerkmalen. Nach Helmut Klages’ Einschätzung verlief die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates generell »von der Not- und Mißstandsbekämpfung über die ›Daseinsvorsorge‹ zur ›Lebensqualität‹«, was er als »fortgesetzte Annäherung an das Glücksvermittlungsprinzip« deutet. 443 Je weiter sich im Zuge steigenden Wohlstan438 Vgl. zum generellen Verhältnis von Sozialethik und Politik den Artikel »Sozialethik« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 276. 439 Vgl. zu solchen öffentlichen Glücksversprechungen etwa Höhler: »Daseinsfürsorge, soziale Politik, Technik und Wissenschaft spannen ein Netz, das unzählige Abstürze verhindert, die in die Unglücksbilanz früherer Jahrhunderte gehörten. Glücksversprechungen betören uns, wohin wir blicken.« (Höhler: Das Glück, S. 16) 440 Prisching: Glücksverpflichtungen des Staates, S. 17. 441 Hier macht es sich Prisching eindeutig zu einfach: »Wir wollen davon ausgehen, dass die Worte keinen Unterschied machen; dies ist schon deshalb zweckmäßig, weil wir uns sonst von vornherein in endlose Definitionsstreitereien verwickeln würden, die in den letzten zwei Jahrtausenden schon nicht gelöst werden konnten« (ebd., S. 17)! 442 Hans Braun: Über das Schicksal des Solidaritätsgedankens im Wohlfahrtsstaat, S. 184. 443 Helmut Klages: Glückserzeugung durch Politik, S. 103 f.

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des der Staat von den unglücksvermeidenden glücksnegativistischen Funktionen der Verbesserung der Lebenssitutation von Minderheiten sowie der Absicherung von Lebensrisiken abwendet 444 und der positiven Glücksidee oder doch verwandten Konzepten wie Lebensqualität oder Menschenwürde zuwendet, verliert das »wohlfahrtsstaatliche Glück« seinen wenig bekömmlichen »Geruch von Besitzstandswahrung, Krankenkasse und Pensionsanspruch«. 445 Durch die Intensivierung sozialer Vorsorge und öffentlicher Fürsorge im Sozial- oder Wohlfahrtsstaat erhöht sich jedoch nicht automatisch die Partizipation der Bürger an der Festlegung und Verwirklichung der Normen eines »humanen« oder »guten Lebens«, welche vielmehr erst in einem demokratisch organisierten Sozialstaat gewährleistet ist. 446 Das »Gemeinwohl« soll demgegenüber als sozialethisches Entscheidungsprinzip »im Rahmen der allgemeinen Verwirklichung der Gerechtigkeit indirekt der Erfüllung der Ansprüche und Bedürfnisse der einzelnen Glieder der Gesellschaft dienen«, 447 wobei es seine Legitimität allein in demokratischen Verfahren der Konsensfindung erlangen kann. Zu den wichtigsten Kennzeichen einer Demokratie als Garantin des oben illustrierten »demokratischen Glücks« aktiver politischer Mitbestimmung gehört vice versa »die ethische Rechtfertigbarkeit ihrer Herrschaft mit Hilfe der jeweils besten Lösung der Aufgabe des Gemeinwohls«, 448 d. h. der konsensuellen Bestimmung eines von allen als vernünftig einzusehenden Ausgleichs zwischen »privaten« und »öffentlichen Interessen«. »Öffentliches Interesse« meint aber nicht die Summe der Einzelinteressen, sondern das soziale Ziel eines qualitativen gesellschaftlichen Zustandes, in dem bestimmte, in den Anlagen der Menschen vorhandene, nur in der Gemeinschaft realisierbare Möglichkeiten der Wertverwirklichung im Sinne der »Verwirklichung humanen Lebens« 449 begünstigt werden. Taylor spricht bei solchen Werten vom »allgemeinen« oder »unteilbaren Guten« 450 und Kerber bezieht das »Gemeinwohl« in folgender Weise auf das »Gemeingut«: Vgl. zum negativistischen Glücksgüterobjektivismus Kapitel 4.2, S. 318 f. Prisching: Glücksverpflichtungen des Staates, S. 33. Prisching widmet die Seiten 30– 33 dem »wohlfahrtsstaatlichen Glück«. 446 Vgl. den Artikel »Staat« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 284. 447 Artikel »Gemeinwohl« ebd., S. 88. 448 Artikel »Demokratie« ebd., S. 40. 449 Ebd., Artikel »Gemeinwohl« S. 88. 450 Taylor: Negative Freiheit?, S. 158. 444 445

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»Alle verschiedenartigen Möglichkeiten zur Wertverwirklichung, die im Menschen liegen, können zur Grundlage der Gesellschaftsbildung gemacht werden, wenn sie sich nur zusammen mit anderen erreichen lassen. Ein Gemeingut ist dadurch geradezu definiert, dass es nur in Gemeinschaft erreicht werden kann. […] Das ›Gemeinwohl‹ […] fasst das bonum commune in einem engeren Sinne nicht als einen bestimmten inhaltlichen Wertgehalt, sondern als einen Dienstwert, nämlich als die rechte organisatorische Verfasstheit einer sozialen Institution im Hinblick auf das Gemeingut.« 451

Sowohl das öffentliche Interesse wie auch das Gemeinwohl hängen somit »letztlich vom vernünftigen guten Willen und der sittlichen Kompetenz der öffentlichen Entscheidungsträger ab.« Denn diese »sind zusammen mit den demokratischen Entscheidungsmechanismen notwendig, um Gemeinwohl zu ermöglichen: als größtmögliche individuelle Selbstverwirklichung, als Minimierung sozialer Konflikte und als gerechte Verteilung ökonomischer und kultureller Vorteile und Lasten.« 452 Während also der Staat bei der Sorge um öffentliche »Wohlfahrt« immer weniger mit Notbekämpfung oder Daseinsvorsorge, immer mehr aber mit Lebensqualitäts- und Glücksfragen konfrontiert wird, verspricht erst das sozialethische Kriterium des »Gemeinwohls« eine Vermittlung von Glück und Staat, wobei dessen Legitimität einen demokratischen Prozess der Entscheidungsfindung betreffs konkurrierender Einzelinteressen und sozialer Ziele erfordert. Obgleich die Kommunitarier sich explizit mit einer »Politik des Gemeinwohls« profilieren, trifft man auch in der liberalen Politik, die grundsätzlich für einen »neutralen Staat« mit Schutz des Eigentums sowie Abwesenheit aller Zwänge und allgemeingültiger Vorstellungen von »gutem Leben« plädiert, auf einen spezifischen Gemeinwohl-Begriff. 453 Wenn aber radikale Liberale wähnen, das freie, konkurrierende Glücksstreben der Bürger gemäß ihren egozentrischen bzw. egoistischen Zielen trage in einer selbstregulierenden Harmonie zum Gemeinwohl bei, oder das Gemeinwohl ließe sich mittels der utilitaristischen Formel vom »größten Glück der größten Zahl« errechnen, unterminieren sie offenkundig das GemeinwohlKonzept, indem hier gar keine Vermittlung von öffentlichem und privaten Interessen stattfindet, sondern das öffentliche Interesse auf Kerber: Sozialethik, S. 48. Artikel »Gemeinwohl« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 88. 453 Vgl. zur Gemeinwohl-Debatte zwischen Liberalen und Kommunitariern Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 175 f. 451 452

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das private reduziert wird. 454 Wo konservative Kommunitarier auf ebenso unzulängliche Weise die bestehende Praxis zur Norm erklären, fordern gemäßigtere dazu auf, unter größtmöglicher Partizipation der einzelnen durch aktives und passives Wahlrecht einen Konsens betreffs der spezifisch menschlichen Werte und eines qualitativ hochstehenden humanen Lebens zu suchen, die mittels normativer und rechtlicher Normen sowie entsprechender institutioneller Rahmenbedingungen geschützt werden sollen. Obgleich Klages zur Abwendung des sogenannten »sozialpsychologischen Missgeschicks« unserer Sozialstaaten richtigerweise eine »Weiterentwicklung der Demokratie« empfiehlt, »die eine verantwortungsvolle bürgerliche Mitwirkung ermöglicht, in die die heutigen Menschen ihren Individualismus einbringen können und die sie somit davon befreien, die Politik als ein Geschäft von Machtbesitzern ansehen zu müssen, die letztlich in ihrem eigenen Interesse handeln«, 455 müsste doch jeder verantwortungsvoll Mitwirkende in Habermas’ Worten primär »prüfen, was unter jener Bedingung symmetrischer und gleichmäßiger Interessenberücksichtigung für ihn rational ist.« 456 Wenn im demokratischen Staat die Verantwortungszuständigkeit für den institutionellen Rahmen des Glücks den Bürgern selbst übertragen wird und das Prinzip der Machtsouveränität sowie des formalen Vertragsprinzips durch das Prinzip »Freiheit« substituiert werden, geriete die Forderung nach Freiheit bei einem bloß negativen und formalen Freiheitsbegriff offenkundig mit sich selbst in Widerspruch: »Freiheit muss, um Kriterium für die Kontrolle staatlicher Gewalt zu sein, über ihren theoretischen Charakter als kritisches Prinzip hinaus einen sozialen und individuellen Glückswert haben. Sie muss daher einerseits eine konkrete Gestalt haben, um als kritisches Prinzip ein gesetzlicher Maßstab der Beurteilung freiheitlichen Verhaltens in Staat und Gesellschaft zu sein; sie muss andererseits konkret sein, um sich selbst in ihrer jeweils unzureichenen Gestalt kritisieren und damit neue Massstäbe ihrer Verwirklichung setzen zu können.« 457 454 Vgl. dazu Kapitel 2.1, S. 69 f. und 74 sowie den Artikel »Gemeinwohl« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 88: »Die Orientierung der öffentlichen Ordnung am privaten Nutzen bleibt zweideutig; sie muss das Gemeinwohl mangels eines Prinzips des Gleichgewichts entweder dem radikalen, liberalistischen Konkurrenzprinzip oder staatlicher Planung überlassen (J. Mill).« 455 Klages: Glückserzeugung, S. 118. 456 Habermas: Die Einbeziehung des Anderen, S. 37 (ohne Sperrungen). 457 Artikel »Staat« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 285.

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Der mittels einer demokratischen Bestimmung von öffentlichem Interesse und Gemeinwohl erzielte Interessenausgleich mit stetem Blick auf den Entwurf eines menschenwürdigen oder humanen Lebens ist aber weder ein endgültiger, noch vermag er die Spannung zwischen der individualethischen Frage, wie ich um meines Glücks willen leben soll, und der sozialethischen Orientierung an kollektiven Werten, am Gemeinwohl zu eliminieren. Dies wäre nur möglich unter der radikalen neoaristotelischen Prämisse einer traditionalistisch verankerten oder metaphysisch begründeten objektiven moralischen Ordnung, von der wir dezidiert Abstand suchten. Ob die konsensuell begründeten sozialethischen Normen nun rechtlich kodifiziert und mit entsprechenden Sanktionen ausgestattet werden oder nicht, zeigt sich infolgedessen der Zusammenhang zwischen Glück und Moral, dem individualethisch Guten und sozialethisch Gerechten tatsächlich »als eine Angelegenheit des schwierigen Ausgleichs und der heiklen Balance […], nicht hingegen als eine feststehende Hierarchie oder Harmonie, die es durchzusetzen oder herbeizuführen gelte.« 458 Trotz der Unterstellungen ihrer zahlreichen Kritiker postulieren zumindest die sozialdemokratisch gesinnten Kommunitarier wie Taylor im Rahmen ihrer kollektivistischen Einheitsethik keineswegs die Koinzidenz oder gar absolute Identität der beiden Perspektiven, 459 sondern würden wohl ohne Zögern Seels Votum attestieren, demzufolge sich die »Wahrheit einer Ethik der Identität […] allein auf dem Boden einer Ethik der Differenz formulieren« lasse: »Für sich genommen aber sind diese beiden klassischen Thesen beide verkehrt. Jedoch enthalten sie beide eine wichtige Wahrheit. Das notwendige Widerspiel zwischen Glücksstreben und moralischem Handeln nämlich ist allein aus dem inneren Zusammenhang dieser beiden Orientierungen zu verstehen.« 460 Wird aber das angeblich paritätische Verhältnis der beiden Orientierungen, die »Komplementarität, aber auch das Kooperationsverhältnis zwischen beiden Ethiktypen«, 461 auf der genauso dezidiert Krämer insistiert, Seel: Versuch, S. 41. Vgl. exemplarisch Krämers weiter oben, S. 531, zitiertes Generalverdikt. 460 Seel: Versuch, S. 49. 461 Krämer: Integrative Ethik, S. 92. Vgl. auch ebd., S. 119 f.: »Die beiden Perspektiven der Moral und des guten Lebens verhalten sich komplementär zueinander und können einander darum auch nicht gegenseitig aufheben und ersetzen […], sie können aber auch nicht beide in einem künstlichen und widerspruchsvollen mixtum compositum harmonistisch zusammengedacht werden.« 458 459

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nicht sowohl von Seel wie von Krämer letztlich doch zugunsten der Perspektive individuellen Glücksstrebens verraten? Tritt der fragliche entscheidende »innere Zusammenhang« nicht im kommunitarisch-kollektivistischen Einheitsmodell wesentlich klarer und überzeugender zutage? Obschon Glück und Moral, das individuell Gute und das moralisch Richtige bei Seel als »interdependente Grundbegriffe« figurieren, bei denen jede »begriffliche Priorität einer der beiden Komponenten« sorgfältigst vermieden werden sollte, 462 wird einerseits die Moral aus individualetischer Perspektive als Schutzinstanz eines für alle Menschen guten Lebens bzw. die »Form des Glücks« definiert, 463 während andererseits zu einer »gelingenden Orientierung am eigenen Glück […] zwar ein partikularer und sporadischer moralischer Respekt, nicht aber eine universalistische und kontinuierliche moralische Einstellung« gehöre: »Glück ist nicht ohne Moral, aber durchaus auf Kosten von Moral möglich.« 464 Genauer sei Glück lediglich mit einer selektiven, partiellen Moral vereinbar, welche aus prudentiellen Gründen im Zeichen individueller Klugheit affirmiert werden könne. Zu diesen Gründen zählt Seel die Notwendigkeit der »Verlässlichkeit« einiger ausgewählter sozialer Beziehungen für ein gelingendes, glückendes Leben, die »stets moralisch gefärbte Anerkennung« durch unsere Freunde, schließlich bestimmte »Strukturen dialogischer, immer auch moralisch gefärbter Interaktionen« 465 als unerlässliches Korrektiv unseres Welt- und Lebensentwurfs. Demgegenüber konzediert Seel selbst, moralische Orientierung sei strenggenommen »keine Sache der Klugheit« 466 , denn moralische Rücksicht »ist transzendent gegenüber den präferentiellen Gründen, die wir haben, überhaupt moralische Rücksicht zu üben« 467 . Eine auch vom Zeitgeist heraufbeschworene sporadisch-partielle »Moral aus Egoismus« stellt unter der expliziten Wahrung der Eigenständigkeit von sozialethischer und individualethischer Perspektive daher definitiv ein Oxymoron dar. Nicht anders unterläuft letztlich Krämer, der bei seinem Projekt einer »Integrativen Ethik« begründeterweise den Akzent auf die »Reetablierung und zeitgemässe Erneue462 463 464 465 466 467

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Zitate aus Seel: Versuch, S. 9. Vgl. ebd., S. 53. Ebd., S. 208 und S. 209. Ebd., S. 193, S. 194 und S. 201. Ebd., S. 222. Ebd., S. 203 f. (ohne Sperrungen).

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rung des Typus der Strebens-, Selbst- und Glücksethik« 468 legt, letztlich sein eigenes Programm, indem er am Ende eine »extensive und qualitative Asymmetrie und Pluridignität zugunsten der Strebensethik« proklamiert, ohne das integrative Moment der beiden Ethiktypen herausgearbeitet zu haben: 469 »Versucht man, das Verhältnis von Moralismus und ›Eudaimonismus‹ nach Maßgabe des in der Moderne und in der Gegenwart überwiegenden Verständnisses von Menschenwürde und fernab von den Stilisierungen der Aufklärungsethik und ihrer akademischen Nachfolger zusammenzufassen, dann zeigt sich, dass zwischen beiden Ethiktypen nicht nur Äquidignität besteht, sondern eine extensive und qualitative Asymmetrie und Pluridignität zugunsten der Strebensethik. Dies beruht darauf, dass das gute Leben und seine Äquivalente anthropologisch zentraler und zielnäher sind als die mit inhibierenden und heteronomen Elementen durchsetzten Strukturen der Moral.« 470

Wenngleich Horster Habermas vorwirft, er nähme in Die Einbeziehung des Anderen seine frühere Differenzierung von Individual- und Sozialethik, vom guten und gerechten Leben zurück, 471 scheint dieser mir die unabdingbare gesuchte Scharnierstelle richtig zu eruieren: Es ist die allgemein anerkannte vage Bestimmung eines »guten menschlichen Lebens«, das in der Gerechtigkeit aufgehobene »für alle gleichermaßen Gute«, 472 wie es in den von Taylor hervorgekehrten kollektiven Wertvorstellungen oder in Martha Nussbaums »starker Theorie des Guten« 473 zum Ausdruck kommt. Aus Seels subjektivistischer Optik, welche die prinzipielle Glückstauglichkeit der Moral inspiziert, verfehlt Habermas allerdings den adäquaten systematischen Zusammenhang zwischen Individual- und Sozialethik, indem er diese »Idee des allgemeinen Guten« als den Argumentationsstrukturen des moralischen Diskurses inhärent aufweist: Statt das normativ Richtige am evaluativ Guten Krämer: Integrative Ethik, S. 122. Vgl. die Auswahl von kritischen Stimmen zu Krämers Konzeption in Horster: Postchristliche Moral, S. 327 f. 470 Krämer: Integrative Ethik, S. 253. Vgl. auch ebd., S. 394 f. 471 Ebd., S. 206 f. Habermas selbst mahnt hingegen, man müsse »die horizontale Perspektive, in der interpersonale Beziehungen geregelt werden, von der vertikalen Perspektive der je eigenen Lebensentwürfe entkoppeln und die Beantwortung der genuin moralischen Fragen auf eigene Beine stellen.« (Habermas: Die Einbeziehung des Anderen, S. 43) 472 Ebd. 473 Vgl. zum kommunitarischen Ansatz von Martha Nussbaum Kapitel 5.2, S. 449–460. 468 469

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auszurichten, werden hier die allgemeinen Aspekte des guten Lebens gleichsam aus der Idee des gerechten Zusammenlebens deduziert. 474 Zudem missfällt ihm, dass Habermas, nachdem er Seels Versuch einer rein formalen Bestimmung des Guten gleichfalls als Oxymoron entlarvt hat, 475 aus Furcht vor paternalistischen Konsequenzen einer materialen Bestimmung das »Gute im Gerechten« auf die »Form eines intersubjektiv geteilten Ethos überhaupt« 476 reduziert. Außer Zweifel steht zunächst, dass eine Idee vom »Menschen als Menschen« nicht monologisch mit Blick auf die eigenen begrenzten Fähigkeiten, sondern nur in der argumentativen Auseinandersetzung über die Möglichkeiten und Interessen aller Diskursteilnehmer entwickelt werden kann. Habermas wäre also soweit zuzustimmen, als die Beteiligten vor dem die eigene Perspektive entgrenzenden praktischen Diskurs noch keine feste Vorstellung davon haben können, welche Ziele und Güter für alle Menschen gleichermaßen wertvoll sind, 477 Seel hingegen darin, dass der moralisch-praktische Diskurs immer auf eine inhaltliche Bestimmung des menschlichen »Guten« bezogen ist und sich das »Gerechte« niemals rein formalistisch begründen lässt. 478 Das von diesem zu unterscheidende »allgemeine Gute« müsste meines Erachtens in einem transzendentalen Sprachspiel ausgehandelt werden und bildete den Brennpunkt aller sozialethischer Kontroversen, ohne dass es bereits die individualethische Frage nach dem »für mich guten Leben«, dem bestmöglichen persönlichen Lebensentwurf zu beantworten vermöchte. Als vage anthropologisch-ethische Folie die Bereiche von Individual- und Sozialethik Vgl. Seel: Versuch, S. 232. »Aber die Idee einer […] formalen Bestimmung des Guten ist ein hölzernes Eisen. Seels Versuch, Verfassung und Bedingungen des gelingenden Lebens zu explizieren, kommt um die Auszeichnung von Grundgütern (Sicherheit, Gesundheit, Bewegungsfreiheit), von Inhalten (Arbeit, Interaktion, Spiel und Kontemplation) und Zielen der Lebensführung (weltoffene Selbstbestimmung) nicht herum. Das sind fallible anthropologische Grundannahmen und Wertungen, die nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen kontrovers sind, aber hier im interkulturellen Dialog, aus guten Gründen kontrovers bleiben.« (Habermas: Die Einbeziehung des Anderen, S. 43) 476 Ebd., S. 45. 477 Vgl. ebd., S. 44. 478 Seel stellt einleuchtend dar: »Bloße Nichtparteilichkeit ist aber nicht das, was wir meinen, wenn wir von moralischer Unparteilichkeit sprechen. Man kann nicht überhaupt unparteilich, sondern nur in bezug auf etwas Bestimmtes unparteilich sein. […] Kein Begriff des Rechten oder Gerechten ist möglich, der nicht sagt, was denn einer rechten oder gerechten Behandlung unterliegen soll.« (Seel: Versuch, S. 234) 474 475

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verbindend und durchlässig machend, stellt es allerdings keinen bloßen Durchschnittswert dessen dar, was alle faktisch zu ihrem Glücke wollen und wünschen, sondern setzt eine »argumentative Willensbildung« und eine »kritische Prüfung der Interpretationen, unter denen wir bestimmte Bedürfnisse als eigene Interessen allererst erkennen«, voraus. 479 Im Sinne einer von uns gesuchten praktikablen Einheitsethik könnte damit der kontinuierliche, auf dem transzendentalen Sprachspiel über die Idee des »allgemeinen Guten« basierende moralisch-praktische Diskurs »eine einsichtsvolle Willensbildung von der Art garantieren, dass die Interessen jedes Einzelnen zum Zuge kommen, ohne das soziale Band zu zerreißen, das jeden mit allen objektiv verknüpft.« 480 Während laut Habermas die konsensuelle Idee vom humanen Menschsein mittels einer Ausweitung des praktischen Diskurses auf eine sämtliche sprach- und handlungsfähige Subjekte umgreifende ideale Kommunikationsgemeinschaft zu universeller Geltung gelangen soll, 481 könnte der Konsens einer realen, historisch-kulturellen Gemeinschaft über das, was alle vernünftigerweise wollen können, auch als Grundlage interkultureller Verständigung dienen. 482 Da Habermas’ Vorbehalte gegenüber unerträglichen paternalistischen Konsequenzen eines solchen inhaltlichen, konfliktverhindernden Konzeptes der anerkennenswerten menschlichen Qualitäten und Möglichkeiten augenscheinlich hinfällig sind, wo die mit ihr verbundenen starken Wertungen und Maximen einer ständigen Revision durch die Sprach- und Handlungsgemeinschaft offen stehen, übernähme ein solches Scharnier zwischen dem evaluativ Guten und normativ Richtigen, zwischen Glück und Moral folgende Funktion: Gelingt es, den Menschen historisch-kulturell über allgemein verbindliche Güter wie Gesundheit, Bildung oder Sicherheit näher Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 14 und S. 25. Ebd., S. 18. 481 Vgl. ebd., S. 18 f. 482 Es scheint mir, das »Elargieren« der Wir-Perspektive erfordere wiederum eine »Perspektive der Beteiligten«: »Nur die Betroffenen selbst können sich aus der Perspektive von Beteiligten an praktischen Beratungen jeweils darüber klarwerden, was gleichermaßen gut ist für alle. Das unter dem moralischen Gesichtspunkte relevante Gute zeigt sich von Fall zu Fall aus der elargierten Wir-Perspektive einer Gemeinschaft, die niemanden ausschließt. Was als das Gute im Gerechten aufgehoben wird, ist die Form eines intersubjektiv geteilten Ethos überhaupt und damit die Struktur der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die freilich die ethischen Fesseln einer exklusiven Gemeinschaft abgestreift hat.« (ders.: Die Einbeziehung des Anderen, S. 45) 479 480

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zu bestimmen, stellen diese a) einen Orientierungsrahmen für jeden nach Glück strebenden Menschen zur Verfügung und b) die Basis für eine angemessene Grundordnung einer Gemeinschaft mit moralischen Prinzipien des Zusammenlebens, weil der Mensch nicht nur aus einem Mangel an Instinkt, sondern auch zur Entfaltung der spezifisch menschlichen Rationalität eines kommunikativ-interaktiven gesellschaftlichen Rahmens bedarf. (Ad a:) Auf der individualethischen Suche nach einer festen Grundhaltung oder Lebensform hinsichtlich konstanter persönlicher Ziele wie Selbstverwirklichung, Identität oder Glück ist es zwecks moralischer Anerkennung und einer positiven Selbstbeziehung von Vorteil, sich auswählend und Prioritäten setzend an der konsensuell dekretierten »Idee des Menschen« zu orientieren, wobei im Falle eines zwischenmenschlichen Konflikts auf die Ebene eines moralisch-praktischen Diskurses gewechselt werden muss. (Ad b:) Mit Rücksicht auf die an Menschen generell schätzbaren Qualitäten setzt man sich vom sozialethischen Standpunkt aus für eine der traditionellen überlegene gerechte gesellschaftliche Ordnung ein, für das öffentliche Interesse mit gemeinsamen sozialen Zielen und handlungsregulierenden Normen des Zusammenlebens: Ausgehend vom Wert der Gesundheit können beispielsweise die »gute Medizin« und der »gute Arzt«, ausgehend von der Bildung die »gute Universität« und der »gute Professor« spezifiziert und die entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen werden, wobei es jedem freigestellt bleibt, je nach Begabung und Interesse eher den Beruf des Arzes oder Lehrers mit dem dazugehörigen »Ethos« zu wählen. Wie berechtigt auch Seels Skepsis sei, derzufolge das gerechte Leben, das Sich-Einfügen in die moralische und institutionelle Ordnung noch keine Garantie darstelle für existentielles Gelingen und ein glückliches Leben, 483 bildet dieses doch den notwendigen Rahmen persönlicher Indentitätsfindung, verantworteter Selbstverwirklichung sowie des sie begleitenden aufgeklärten Erfüllungsglücks, bei dem wir uns über den Wert unseres Tuns nicht täuschen. 484 Das Glück einer höchst positiven Selbstbeziehung wird mithin um der Illusionslosigkeit und sozialen Anerken483 »Die Qualität individuellen Lebens ist eine Sache existentiellen Gelingens, für das es keine Garantien gibt. Auch das moralische Gutsein ist keine solche Garantie.« (Seel: Versuch, S. 216) 484 Vgl. im Einklang mit der kommunitarischen Subjektphilosophie Habermas: Die Einbeziehung, S. 43 f.

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nung willen über eine ethische, an qualitativen Werten einer moralischen Gemeinschaft orientierten Selbstverwirklichung erlangt, die man mit Theunissen zugleich als »Verwirklichung des Menschen als Menschen«, als »Verallgemeinerung« oder »Humanisierung des Individuums« deklarieren könnte. 485 Wenngleich im Laufe der Geschichte immer wieder andere menschliche Möglichkeiten und Fähigkeiten zur »Verwirklichung humanen Lebens« als vernünftige und wertvolle auserwählt wurden, spielte doch die Vernunft nicht nur bei der Bestimmung und Umsetzung dieser menschlichen Qualitäten die entscheidende Rolle, sondern gilt seit der Antike zumeist als höchste menschliche Potenz aufgrund ihrer Erkenntnisfähigkeit sowohl theoretischer wie praktischer Wahrheit. 486 »Selbstverwirklichung oder Selbstvervollkommnung heißt also in erster Linie Vernunftverwirklichung«, 487 resümiert Gerhardt. Aufgrund mangelnden Vertrauens in die Vernunft und ihre Motivationskraft zu moralischem Handeln, da selbst Habermas einräumt, dass nur unter geeigneten Sozialisations-, Erziehungs- und politischen Strukturen das als vernünftig Eingesehene zum Handeln zu motivieren vermag, 488 hat man jedoch immer wieder Zuflucht genommen zu einer »moral-sense«-Philosophie, zu einer »Ethik des Gefühls«. Bei diesem zweiten gewichtigen Versuch einer Einheitsethik, den wir in einer neueren Variation kurz beleuchten wollen, 489 fungiert das natürliche, uneigennützige »Gefühl des Wohlwollens« oder der »Sympathie« sowohl als Beurteilungsinstanz wie als Triebfeder moralisch richtigen Handelns und zugleich als inneres, leitendes Sensorium für ein strebensethisch gutes und glückliches Lebens. Indem Ethiken des Wohlwollens oder der Sympathie gleichsam auf der Grenze zwischen individuellem Glücksstreben und moralischer Nötigung liegen, scheinen Glück und Moral hier spannungsfrei harmonisiert. Nach den einflussreichen moralpsycholoVgl. Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 6. Vgl. Alan Gewirth: Self-fulfillment, S. 76. 487 Gerhardt: Kritik, S. 293. 488 »Jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen. Sie bedarf einer gewissen Übereinstimmung mit Sozialisations- und Erziehungspraktiken, welche in den Heranwachsenden stark internalisierte Gewissenskontrollen anlegen und verhältnismäßig abstrakte Ich-Identitäten fördern.« (Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 25) 489 Krämer fasst bei seiner Klassifikation der Einheitsethiken unter Punkt 5 die Ethiken der Sympathie oder des Wohlwollens mit den Ethiken einer »gemeinsamen Vernunft« und den Materialen Wertethiken zusammen (vgl. Krämer: Integrative Ethik, S. 109 f.). 485 486

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gisch orientierten Ansätzen der britischen Aufklärungsphilosophie haben in jüngerer Zeit Spaemann und Tugendhat das Erbe dieser im deutschen Sprachraum eher vernachlässigten Tradition angetreten. 490 Spaemann als paradigmatischer Vertreter solcher neueren Einheitsethik definiert Wohlwollen als »Aussein auf das, was für den Anderen das Zuträgliche ist, also das, was dessen eigenes Aussein-auf erfüllt«, wobei gelte: »Unbedingte Zustimmung zu einem Seienden […], dem es immer um etwas und zuerst um sein eigenes Sein geht, ist Zustimmung zu diesem Aussein-auf.« 491 In der als Äquivalent zum Wohlwollen fungierenden Liebe, präziser im »amor benevolentiae« anstelle eines »amor concupiscentiae«, sei der »Gegensatz von Wollen und Sollen aufgehoben, und in ihm wird ein Glück denkbar, das dadurch vollkommen ist, dass es seiner selbst spottet.« 492 Lässt sich aber ein »vollkommenes Glück« der Liebe nicht nur in einer eng begrenzten Sozialsphäre von Primärbeziehungen realisieren, zumal nicht ohne phänomenale Triftigkeit »die unvermeidliche Parteilichkeit der Sympathieethik und die damit gegebene Einschränkung ihrer Reichweite und Verlässlichkeit einen notorischen moralphilosophischen Topos« 493 darstellt? Müsste eine Sympathieethik, um dem sozialethischen Anspruch der Kategorizität und Allgemeinheit gerecht zu werden, nicht mit moralischen Sanktionen verbunden werden, wodurch aber die das Sollen mit dem Wollen versöhnende natürliche Spontaneität verloren ginge? 494 Bezugnehmend auf die aristotelische Philosophie der Freundschaft gilt auch Spaemann die Liebe zu unseren Freunden als Paradigma, und die angebliche »Universalität des Wohlwollens« wird dadurch erkauft, dass kontingenterweise ein beliebiger Fernster zu meinem Nächsten werden kann. 495 Die liebend-wohlwollende Einstellung des Bestehenlassens und der Zuwendung gegenüber unseren 490 Eine prominente Ausnahme im deutschen Sprachraum bildet die soteriologische Mitleidsethik Schopenhauers. Unter den Briten stechen Hutcheson, Shaftesbury, Smith und Hume hervor. 491 Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 129. 492 Ders.: Die Zweideutigkeit des Glücks, S. 32 f. 493 Krämer: Integrative Ethik, S. 41. 494 Vgl. ebd., S. 42: »Nur in solchen Ethiken, in denen Sympathie […] uneingeschränkt für jedermann geboten und verbindlich gefordert wird […], erreicht die Sympathieethik die Unbedingtheit und Allgemeingültigkeit der Moralphilosophie, verliert aber eben damit auch die spezifischen Vorzüge der Spontaneität und Eigeninitiative wieder, die sie vor einer abstrakten Pflicht- und Verantwortungsethik empfohlen hatten.« 495 Vgl. Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 130 f. und S. 148.

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zu Nächsten transformierten Fernsten löst aber natürlich noch keine der im gemeinsamen Interaktionsprozess auftauchenden Fragen eines gerechten Zusammenlebens, einer allgemeinen moralischen Ordnung. Allerdings hat man bereits die britischen »moral-sense«-Philosophen oft empiristisch missverstanden, ohne die Nähe des moralischen Gefühls zur intuitiven Wertschau zu erkennen, 496 welche den sympathieethischen Wirkkreis auszuweiten verspricht: »Es gibt keine Ethik ohne Metaphysik«, 497 verlautbart Spaemann apodiktisch, und wer den »ordo amoris«, die Ordnung des Sittlichen erkenne, könne nicht anders, als – wie die Philosophen bei Platon – das Wirkliche wirklich werden zu lassen. »Das heißt, dass er zur Wirklichkeit erwacht, dass das Wirkliche für ihn tatsächlich wirklich wird.« 498 Bilde man entsprechend einer »Forderung der Vernunft« fraglichen »ordo amoris« aus, stehe man dem in den Medien hautnah aus aller Welt Präsentierten nicht länger abgestumpft gegenüber, sondern sei als zugleich denkendes, fühlendes und wollendes Wesen zum spontanen Handeln motiviert. 499 Erwacht zu »vernünftigem Wohlwollen« bin ich dabei dazu aufgefordert, »mich als Teil der Welt eines anderen zu betrachten und nicht nur den anderen als Teil meiner Welt. Als vernünftige Wesen leben wir in einem Horizont, dessen Mittelpunkt gerade nicht wir selbst sind, obgleich wir vital und also auch optisch immer den Horizont setzen, vor dem wir uns bewegen. Der Blick der Vernunft hingegen ist der Blick von nirgendwo.« 500 Sowie man sich aber im Zeichen eines »vernünftigen Wohlwollens« nicht länger im Zentrum der Welt betrachte, sondern sowohl bewusst wie liebend eine universelle Perspektive einnehme, müsse man sein immer schon dagewesenes Glück konstatieren, denn: »Glücklich ist der, der bemerkt, dass er immer schon glücklich ist«! 501 Nachdem sich damit auch im sympathieethischen Einheitsmodell Vgl. den Artikel »Gefühlsethik« in Höffe: Lexikon der Ethik, S. 86. Spaemann: Glück und Wohlwollen, S. 150. 498 Ders.: Die Zweideutigkeit des Glücks, S. 32. 499 Vgl. ders.: Glück und Wohlwollen, S. 147: »Die Medien pflegen uns zwar täglich das Schicksal fernster Menschen hautnah zu zeigen. Die Welt wird kleiner. Das Ferne rückt näher. Aber dieser Prozess wirkt doch eher abstumpfend als solidarisierend. Er erzeugt eher ein Gefühl der Ohnmacht. Dieser Abstumpfungs- oder Resignationseffekt stellt sich ein, wenn der Universalismus der Vernunft unmittelbar mit der Partikularität und Endlichkeit individuellen Lebens zusammenstößt, ohne die Vemittlungsstruktur eines ordo amoris auszubilden.« 500 Ders.: Die Zweideutigkeit des Glücks, S. 31. 501 Ebd., S. 33. 496 497

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Spaemanns die Vernunft als telos des Menschen entpuppt hat, verbleiben, obgleich die Einnahme der typisch menschlichen exzentrischen Positionalität sozialethisch betrachtet zweifellos grundlegend und das Wohlwollen als Synthese von rationalen und motivationalemotionalen Elementen prinzipiell zu begrüßen ist, nachmetaphysische Zweifel an einer wahrnehmbaren, zu verwirklichenden Wertordnung. Wie man im weiter gesteckten sozialen Bereich ohne den praktischen Diskurs über Fragen der Menschenwürde, der Menschenrechte und der internationalen Gerechtigkeit zum Zwecke eines begründeten Konsenses kaum mehr auskommt, sind wir bei unserer beglückenden Selbstverwirklichung nicht nur auf das Seinlassen und die wohlwollende Unterstützung durch unsere Mitmenschen, sondern auch auf ihre Kritik unserer Bedürfnisse und Interessen, auf gegenseitige hermeneutische Selbsterkundungsbeihilfe sowie gemeinsame kooperative Ziele angewiesen. Spaemanns Postulat, wir seien vollkommen glücklich, wenn wir nur genügend Aufmerksamkeit, ausreichend Bewusstsein und Liebe für das Wirkliche aufbrächten, mutet vor dem Hintergrund des bisher Erörterten naiv an.

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Vor mehr als 2000 Jahren kam der empirisch orientierte Philosoph Aristoteles zum Schluss, dass alle Menschen letztlich nach Glück strebten. Glück, so schien es ihm, sei das einzige allumfassende Lebensziel, das ausschließlich um seiner selbst willen gewählt wird und in sich vollkommen ist, so dass darüber hinaus nichts mehr gewollt und gewünscht werden kann. Die Glücksforscher der Gegenwart teilen nicht nur diesen aristotelischen Ausgangspunkt, sondern konstatieren einhellig einen fast einzigartigen und mehr als zweitausend Jahre haltenden philosophischen Konsens (Kapitel 1). Ungeachtet dieses Konsenses haben sich, wie im zweiten Kapitel in groben Zügen nachgezeichnet wurde, seit Aristoteles’ Zeiten die Vorstellungen darüber, was das Glück sei und wie man dazu gelange, in einem sich wandelnden Kontext von historisch-kulturellen Selbstbildern und Weltanschauungen tiefgreifend verändert. Trotz eines immensen Bestandes an akkumulierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über Mensch, Gesellschaft und Umwelt, die heute jeder auf Knopfdruck von seinem Powerbook abrufen kann, trotz eines unermesslich gestiegenen Lebensstandards und eines Universums von allzeit verfügbaren Möglichkeiten scheinen die Menschen im Laufe der Geschichte insgesamt nicht glücklicher geworden zu sein. Bei immer mehr Menschen verfestigt sich im Gegenteil »der Eindruck, sie hätten ihr Leben verschwendet und ihre Jahre nicht erfüllt von Glück, sondern voller Unsicherheit und Langeweile verbracht«, so dass ein Psychiater unserer Zeit zum Schluss kommt: »Aber in diesem wichtigsten Bereich hat sich in den vergangenen Jahrhunderten nur sehr wenig verändert. Was Glück ist, begreifen wir nicht besser als Aristoteles, und was das Lernen angeht, wie man diesen gesegneten Zustand erreicht, so könnte man behaupten, wir hätten überhaupt keine Fortschritte gemacht.« 1 Um diesen Lernprozess auf unserer Glückssuche anzuMihaly Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks, S. 13. »Wenn die Philosophie überhaupt Fortschritte gemacht hat, dann gewiss nicht auf diesem Gebiet«, konstatiert auch Kleber, »so dass die Frage des Menschen nach seinem Glück heute ebenso

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kurbeln und der Stagnation der Glücksforschung ein Ende zu bereiten, galt es primär, beharrlich die instrumentell-technische Denkweise des »homo faber« oder »homo oeconomicus« zu sprengen und die für unser Glück ebenso zentralen psychischen, sozialen und moralisch-praktischen Dimensionen in den Blick zu rücken. Denn offenkundig leiden wir nicht an einem Mangel an Glücksmitteln, sondern an Glücksfähigkeit, haben zwar einen Überfluss an Glücksgütern zur Verfügung, aber keine reflektierten Glückskonzeptionen. Während sowohl im Alltag wie in der Wissenschaft oft mit einem unreflektierten diffusen oder stark restriktiven Glücksbegriff hantiert wird, habe ich versucht, kraft einer teilweise weite Bögen schlagenden interdisziplinären Integrationsleistung der Komplexität des Glücksphänomens gerecht zu werden. Angesichts der zahlreichen Vernetzungen der einzelnen Aspekte dieses Phänomens waren neben Verkürzungen theoretischer Perspektiven und reduktiven Synthesen epochenspezifischer sozio-kultureller Anschauungen partielle Wiederholungen in den einzelnen Kapiteln unumgänglich. Mit dem Ziel, die historischen gesellschaftlichen Glücksvorstellungen in Kapitel 2 auf eine soziologische »logische Ordnung« mit »axialen Prinzipien« zurückzuführen, stießen wir auf die zwei grundlegenden Perspektiven einer transitiv-technischen Außenund einer reflexiv-ästhetischen Innenorientierung. Dies lenkte unsere Glücksforschung auf die elementare Ausgangsfrage, ob für menschliches Glück mehr das Haben oder das Sein, mehr der äußere Erfolg und Lebensstandard oder die subjektiven Gefühle und Lageeinschätzungen zählen. Das vorwiegend außenorientierte transitivtechnische Glücksverständnis hat seinen Ursprung dabei unzweideutig in der frühen Neuzeit (Kapitel 2.1): Seit den einschneidenden Renaissance-Umwälzungen mit verstärkter Hinwendung zum Subjekt nach der Zurückweisung überkommener qualitativer Weltordnungen werden viele Glückssucher immer stärker von einem euphorischen Machbarkeits- und Fortschrittsoptimismus ergriffen. Dank der erfolgreichen Konjunktion der beiden Subsysteme Naturwissenschaft und Technik und des damit einhergehenden Siegeszugs instrumenteller Vernunft wähnt sich das frühneuzeitliche Individuum als »homo faber« in der schöpferischen Mitte der Welt, und auch das ungeklärt ist wie zuvor.« (Hermann Kleber: Glück als Lebensziel, S. 3) Ähnlich resignative Töne schlagen die Glückstheoretiker Wolfgang Janke (in: Das Glück der Sterblichen, S. 267) und Stefan Klein (in: Die Glücksformel, S. 259) an.

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Glück scheint ihm zu Füßen zu liegen. Diesem neuzeitlichen Glücksverständnis zufolge, das bis heute in der westlichen Welt nachwirkt, gilt nämlich der in absolute Autonomie freigesetzte Mensch als glücklich, »dem es gegeben ist, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will« (Mirandola), wozu sich die Chancen aufgrund des erreichten naturwissenschaftlichen Verfügungswissens und technischen Könnens zweifellos optimal ausnehmen. Nun sind es aber zwei simple empirisch-psychologische Grundgesetze, die bei Nichtbeachtung unserer privaten Glücksökonomie bereits einen Strich durch die Rechnung machen können: Gemäß dem »Gesetz der Kompensation« empfangen wir mit jedem erreichten Gut meistens auch ein Übel, so dass etwa beim gegenwärtigen Sicherheitsstandard unserer Zivilgesellschaft nach Ausmerzen der meisten lebensbedrohlichen Gefahren die kleinen Irritationen zu hypertrophieren beginnen oder bei guter Gesundheit sich automatisch die Schmerzempfindlichkeit und die Sensibilitätsschwelle erhöhen. Zum andern will es das aus persönlichen Erfahrungen wohlbekannte »Gesetz des abnehmenden Grenznutzens«, dass der Genuss bei jedem Befriedigungserlebnis gleicher Art kontinuierlich abnimmt, weil wir uns rasch an das erreichte Gut gewöhnen. Aufgrund dieser Gesetze rennt man im Zeichen eines transitiven Glücksverständnisses ständig irgendwelchen materiellen oder körperlichen Gütern nach, die uns bei ihrem Besitz nur allzu schnell Enttäuschung bescheren. Soll der Mensch sich auf seiner Glückssuche also mehr darauf konzentrieren, »das zu sein, was er will«, statt »das zu haben, was er wünscht«? Von der sich im 20. Jahrhundert vollziehenden »Kopernikanischen Wende« von einem außenorientierten, transitiv-technischen zu einem innenorientierten, reflexiv-ästhetischen Glücksverständnis, nach welcher die glücksverheißenden Wünsche nicht mehr auf äußere Güter oder Lebensbedingungen, sondern direkt auf innere Gefühle des Subjekts ausgerichtet werden, erhoffte man sich zunächst einen Ausweg aus der Enttäuschung eines transitiven Glücks (Kapitel 2.2). Als historisch-gesellschaftliche Voraussetzungen dieser eudaimonologischen »Revolution« eruierten wir dabei folgende Hypotheken aus dem 19. Jahrhundert: Mit der erreichten Hochkonjunktur des Kapitalismus geht zum einen die Orientierungssicherheit unserer außenorientierten Wünsche verloren, wie sie beispielsweise die Naturbeherrschung zu Beginn der Neuzeit bot, wodurch der Ausbreitung von Leere und Langeweile Tür und Tor geöffnet sind. Je A

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mehr zum andern infolge der Kolonialisierung unserer Lebenswelt durch die Subsysteme Wissenschaft und Technik die traditionellen ethischen und religiösen Werte und Bezugspunkte relativiert, die Menschen- und Gesellschaftsbilder rationalisiert werden, desto mehr wächst die Angst vor der reinen Immanenz, der unentrinnbaren Positivität der Welt, und es verbleibt eine mechanische glücklose Geschäftigkeit, eine lebensweltliche Leerform von Rationalität und Pflichterfüllung. Aufgrund dieser Ängste und generellen Zweifel an der systemisch-technischen Berechenbarkeit und Herstellbarkeit eines transitiven Glücks zieht man den Horizont seiner Glückserwartungen allmählich in das persönliche Gefühlsleben zurück und sucht in der Psyche Zuflucht vor der Leere in Welt und Gesellschaft. Unsere Wünsche richten sich nach dieser »Kopernikanischen Wende« im Glücksverständnis nicht mehr auf äußere Objekte oder Situationen, sondern auf das Subjekt und sein inneres Erleben, es geht statt um das Haben jetzt ausschließlich um das Sein, um positive Gefühlsqualitäten. Der glücksrelevante Wunsch nach Kindern erfüllt sich beispielsweise nicht mehr dann, wenn Kinder auf der Welt sind, sondern – zirkulärerweise – erst dann, wenn sie die Eltern tatsächlich glücklich machen. Obgleich der Hedonismus als neue lebensweltliche Rechtfertigungsbasis auf Kosten der protestantischen Ethik angesichts einer historischen Expansion der kapitalistischen Möglichkeiten nach ästhetischen Zusatzkriterien ruft, erstrebt man genau betrachtet ein genuin hedonistisches Glück der sinnlichen Lust: Primär und konstitutiv ist das Streben nach Genuss, wohingegen sich die ästhetisch-künstlerische Selbststilisierung als fakultativ und sekundär erweist, so dass beim Wunsch nach einem simplen Gebrauchsgut wie einer Seife eindeutig der erwartete Genuss im Vordergrund steht, auch wenn dieser nur dank selbstreferentiellen ästhetischen Zusatzqualitäten wie »wilde Frische, cremige Zartheit, erotische Formgebung« zu erlangen ist. Je stärker sich die Angebote auf dem Erlebnismarkt, die sogenannten Glückskulissen, zur stilvollen Manipulation unseres Innenlebens vermehren und um ihrer kunstgerechten Arrangements willen eine innenorientierte Variante technisch-instrumenteller Rationalität; die »Erlebnisrationalität« (Schulze) evozieren, desto mehr wächst die Unsicherheit und das Enttäuschungsrisiko auch bei dieser zweiten, subjektzentrierten wunschtheoretischen Glücksvariante: Wie weiß ich, wann sich ein innenorientierter Wunsch erfüllt hat? Wie soll seine Erfüllung »im Fühlen evident werden«, und was ist 590

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überhaupt ein »schönes Gefühl«? Nachdem man zwar richtig erkannt hat, dass sich positive, lustvolle Erlebnisse oder »schöne Gefühle« als Synonyme zu einem innenorientierten Glück durch ein raffiniertes Situationsmanagement beeinflussen lassen, sind doch allzu viele Aspekte bei der Gefühlsgenese unberücksichtigt geblieben: 1) Jedes aktuelle Erleben wird wesentlich mitbestimmt durch einen momentanen Hintergrund an Überzeugungen, Handlungsplänen, Selbst- und Situationsbewertungen, und es kann erst im Kontext solcher kognitiver Zutaten persönliche Bedeutung erlangen und als genussvoll erlebt werden. Statt sich nach dem Wechselwirtschafts-Modell des »Ästhetikers A« (Kierkegaard) um das phantasievolle »Bewirtschaften« eines ausgewählten Erlebnismaterials zu bemühen, kapriziert man sich heute gerne auf die in raschem Wechsel austauschbaren und experimentell umzustellenden Glückskulissen. Ohne dass auch betreffs des kognitiven Hintergrundes ein Perspektivenwechsel stattfindet, d. h. ohne dass wir uns mit der Selbstinterpretation und -bewertung (also etwa dem Bild der werdenden Mutter) beschäftigen, kann ein Erlebnis aber nur schwer angeeignet und als lustvoll empfunden werden und ist zudem nicht anders als das transitive Glück einer hohen Abnützungsgefahr ausgesetzt. 2) Neben dieser Crux innenorientierter Glückssuche, dass man vor lauter Komposition der Situationselemente zum Zwecke schöner Gefühle aus dem Auge verliert, wer man eigentlich ist oder sein will, verfällt man aufgrund des zunehmenden Schwundes des »Objektiven«, der überpersönlichen Bedeutung und Werthaftigkeit äußerer Umstände und Personen dem »hedonistischen Grundparadox«: Da grundsätzlich nur ideelle Werte oder materielle Objekte bzw. deren Aneignung erstrebt werden können, alle Arten subjektiven Wohlbefindens aber solches Streben immer nur begleiten, empfinden wir umso weniger, je heftiger wir diese direkt herbeisehnen. Je mehr wir demzufolge Produkte, Ereignisse und Personen für unsere positiven Erlebnisse funktionalisieren, wodurch diese an Eigenwert einbüßen, desto weniger können wir tatsächlich empfinden, weil dadurch der Intentionalitätscharakter unseres Erlebens unterminiert wird. Wer aus der trivialen Tatsache, dass jede Bedürfnisbefriedigung, Wunscherfüllung und erfolgreiche Tätigkeit uns Freude oder Vergnügen bereitet, deduziert, alles menschliche Streben ziele per se auf subjektives Wohlbefinden ab, zieht den verfemten »hedonistischen Fehlschluss«. Bei unserer Analyse des innenorientierten hedonistischen Glücksverständnisses in Kapitel 4.1 meldeten wir weitere Bedenken A

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gegenüber den subjektivistischen, sich also allein den nichtkognitiven inneren Einstellungen des Subjekts wie Gefühlen oder Wünschen widmenden Glückstheorien an: 3) Dem »ethischen Hedonismus« zum einen muss der philosophisch verfemte »naturalistische Fehlschluss« von einem angeblich allen Menschen eigenen Streben nach Lust darauf, dass er auch danach trachten soll, zur Last gelegt werden. 4) Der ihm zugrundeliegende »psychologische Hedonismus« geht dabei von zweifelhaften anthropologischen Grundtatsachen aus, weil wir den als höchst lustvoll erlebten Mechanismen der Triebreduktion und Spannungslösung lediglich im Bereich unserer primären Bedürfnisse unterworfen sind und sich ein intentionales Luststreben ohnehin als widersprüchlich entpuppte (vgl. 2), wohingegen oberhalb der Sicherheitsebene der Homöostase das Freudsche naturalistische Lustprinzip ausgeschaltet ist. Während der Konzentration auf die eigene Erlebnislust generell das Merkmal des Unnatürlichen und Kranken anhaftet, strebt der gesunde erwachsene Mensch, befreit aus der biologischen Notwendigkeit der Triebbefriedigung, nach selbst-transzendierenden Zielen in der Außenwelt und braucht immer einen Grund für seine Freude oder sein Glück. 5) Im Rahmen eines generellen Naturalismus- und Determinismusvorwurfs an die Adresse sowohl der psychologischen wie ethischen Hedonisten, die menschliches Glück fälschlicherweise mit Lust identifizieren, pflegt man Nozicks Gedankenexperiment von der »Erlebnismaschine« in Anschlag zu bringen: Vergegenwärtigt man sich nämlich einen Menschen, dem »Super-Neuropsychologen« mittels Hirnreizungen jedes beliebige positive Erlebnis verpassen, indem sie ihm etwa vorgaukeln, er schriebe einen großen Roman oder schlösse eine Freundschaft, widerstreitet diese Vorstellung unserem aufklärerischen Ideal eines autonomen, selbstbestimmten Menschen, der darüber hinaus in seiner Weltoffenheit lieber tatsächlich einen Roman schriebe oder einen Freund träfe, auch wenn damit immer ein Risiko unlustvoller Zustände verbunden ist (vgl. 4). 6) Weil der Mensch nicht nur in räumlicher Hinsicht »weltoffen«, sondern darüber hinaus ein »zeitstiftendes« Wesen ist, muss der hedonistische Glückssucher notwendig scheitern bei seinem Versuch, einen Solipsismus des Augenblicks zu statuieren: Wo das Tier mit seiner Lust und Unlust kurz angebunden ist an den Pflock des Augenblicks, weist menschliches Erleben genuin vektoriellen Charakter auf, so dass selbst das sogenannte »Glück des Augenblicks« keineswegs der Zeit entrückt ist, sondern einen Richtungssinn aufweist und in einem Ho592

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rizont übergreifender Glückserwartung steht. Eine Sammlung von Lustaugenblicken hingegen, die mit nichts über sich hinausweisen, kann niemals zu Glück gerinnen. Bei der Erörterung einer zweiten philosophischen Position eudaimonologischer Subjektivisten, der Wunschtheoretiker des Glücks, die menschliches Glück nicht wie die Hedonisten auf die zuständlichaugenblickshafte Lust reduzieren, sondern an die Erfüllung unserer wesentlichen Wünsche koppeln, stellte sich schnell heraus, dass hier keineswegs die spontan in jedem gesunden Menschen laufend in Überfülle sprudelnden Wünsche, sondern wohlüberlegte Ziele Thema sind, die notwendig ein Sprengen der begrenzten subjektivistischen Ich-Perspektive voraussetzen. Ein sich an einer subjektiven Idealität orientierender Wunsch mutiert nämlich kraft eines Entschlusses nach der Prüfung seiner Machbarkeit und der Erwünschtheit seiner Realisierungskonsequenzen zu einer Absicht, einem klaren Ziel. Auszuschließen sind nach Ansicht der meisten Wunschtheoretiker bei diesem jedem Entschluss vorangehenden Selektionsverfahren einerseits »neurotische Wünsche«, welche aus inneren Zwängen, aus verzerrenden psychischen Faktoren wie Angst und Unsicherheit quellen und daher auch bei ihrer Erfüllung niemals ein beglückendes Erfüllungserlebnis zeitigen, andererseits »nicht-informierte Wünsche«: Nicht ausreichend informiert oder aufgeklärt ist ein Wunsch, wenn er auf falschen epistemischen Überzeugungen betreffs des Wunschobjektes oder aber auf verwerflichen Wertvorstellungen beruht. Sowohl epistemische Irrtümer wie auch die für einen Wunsch konstitutiven Werturteile verweisen uns auf eine größere Sprach- und Handlungsgemeinschaft, weil wir Irrtümer nur im Horizont gemeinsamer systematischer Erfahrungen als solche zu erkennen und nur in kommunikativer Auseinandersetzung Werte zu begründen vermögen (vgl. Kapitel 6.2). Einen radikalen eudaimonologischen Glückssubjektivismus verabschieden die Wunschtheoretiker zudem mit Recht, indem sie nicht für ein aus der Erfüllung nicht-neurotischer, wohlinformierter Wünsche resultierendes rein quantitatives Optimum subjektiven Wohlbefindens plädieren, sondern die Notwendigkeit der Integration einzelner Wünsche in globale Lebenspläne akzentuieren. Zieht man betreffs der subjektivistischen Glücksansätze Bilanz, muss mithin das hedonistische Glücksverständnis als in sich widersprüchlich disqualifiziert werden, wohingegen menschliche Wünsche, sofern sie außenorientiert, nicht-neurotisch und aufgeklärt sind, zu bewusst selektierten Zielen A

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arrivieren können, die in unserer Glückstheorie eine zentrale Rolle spielen (vgl. Kapitel 5.1). Ein subjektivistisches Glücksverständnis läuft generell Gefahr, das menschliche Streben zu missverstehen, welches nämlich gar nicht auf subjektive Zustände von Wohlbefinden, Vergnügen oder Lust abzielt, sondern auf Gegenstände oder Personen in der objektiven Außenwelt, die uns bedeutend und begehrenswert erscheinen. Anstelle der Subjektzentriertheit menschlichen Glücksstrebens hat man also elementar von einer Objektzentrierung oder Außen-Gerichtetheit auszugehen. Muss analog zum Glückssubjektivismus vielleicht auch eine radikal objektivistische Glückstheorie abgemildert werden, wie sie im Anschluss an das transitiv-technische außenorientierte Glücksverständnis der Neuzeit entwickelt wurde? Die Einsicht in die prinzipielle Objektzentrierung menschlichen Strebens, das immer ein Ingredienz des globalen menschlichen Strebens nach Glück darstellt, gibt uns den Anstoß, uns ins oppositionelle Lager der Glücksobjektivisten zu begeben, um zu prüfen, wie weit und inwiefern unser Glück von objektiv messbaren Faktoren der Außenwelt wie ökonomischen oder gesellschaftlichen Lebensbedingungen abhängig ist (Kapitel 4.2): Werbewelt, Unterhaltungsindustrie und Massenmedien verhalfen einer zur Subjektivierung und Verinnerlichung des Glücks komplementären Tendenz seiner Veräußerlichung und Kommerzialisierung zum Durchbruch. Jugendlichkeit via Facelifting, Schlankheit dank Diätprogrammen, Zigaretten, Urlaub und Sportwagen lauten populäre Glückskategorien bei einem ausufernden Angebot an erwerblichen körperlichen und materiellen Glücksgütern, und die Medien suggerieren uns, der Besitz oder die Konsumation dieser »objektiven Güter« sei nicht der Weg zum Glück, sondern das Glück selbst. Eine solch penetrante Propaganda eines Glücksgüterobjektivismus, der menschliches Glück in direkte Abhängigkeit von einem hohen Lebensstandard stellt, hintertreibt die Freiheit und Würde des Menschen, ihr Anrecht auf suggestionsfreie, rational-aufgeklärte Lebensgestaltung und drängt uns in folgenden Erklärungsnotstand: Während das bekannte Zufriedenheitsparadox nachweist, dass Menschen in armen Ländern im Schnitt ebenso zufrieden sein können mit ihren Finanzen wie in reichen, legt das Unzufriedenheitsdilemma den Finger auf die unzufriedenen Privilegierten des reichen Westens. Unauflösbar bleiben diese Paradoxien notwendig, solange sich die neuere Wohlfahrts- und Lebensqualitätsforschung aufspaltet in Objektivisten, die Gesundheit 594

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ausschließlich über die Funktionstüchtigkeit von Organen oder Lebensqualität über das Vorhandensein von Ressourcen definieren ohne Rücksicht auf die Einstellungen der Betroffenen, und in Subjektivisten, welche solche Einschätzungen ganz dem Empfinden der einzelnen anheimstellen als angeblich einzig zuverlässigem Indikator. Die mit dem »Glück« eng verwandte »Lebensqualität«, synonym zur »persönlichen Wohlfahrt« und ursprünglich als Gegenentwurf zum rein materiellen »Lebensstandard« eines einseitigen quantitativen Wirtschaftswachstums entwickelt, muss vielmehr grundsätzlich wie das Glück selbst als relationales Konzept, als »Konstellation zwischen objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden« (Glatzer/Zapf) begriffen werden. Ohne die Außenorientierung an materiellen, körperlichen oder soziokulturellen Lebensbedingungen nach Art der oppositionellen Glückssubjektivisten auszublenden, hat der Objektivist infolgedessen allererst den Glauben an eine monokausale und unvermittelte Wirkung einzelner äußerer Faktoren auf unser Glück zu verabschieden, da sich selbst eine lineare Beziehung zwischen Bereichszufriedenheiten und einzelnen objektiven Gütern wie Einkommen, Gesundheit oder Anerkennung nur im negativen Bereich eines akuten Mangels an lebensnotwendigen Gütern nachweisen lässt: Ein bescheidenes Einkommen berwahrt uns zwar vor Unglück, aber ein sehr hohes garantiert bei weitem noch kein Glück! Sind die Ressourcen an materiellen, körperlichen und sozialen Gütern ausreichend vorhanden, um die elementaren physiologischen und Sicherheitsbedürfnisse zu stillen und damit das Unglück abzuwenden, sorgen zum einen kognitive Mediatoren für Diskrepanzen zwischen vergleichbaren objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden (a): Bei der Einschätzung und Bewertung seiner faktischen Lage rekurriert der Mensch zunächst und zumeist auf den zu einer bestimmten Zeit in der jeweiligen Gesellschaft herrschenden Durchschnitt (aa), und wird darüber hinaus durch größtenteils unbewusst internalisierte soziokulturelle Werthaltungen beeinflusst (ab). Statt unser Glück dadurch zu dezimieren, dass wir uns in sämtlichen Bereichen objektiver Lebensbedingungen mit der sozioökonomischen Bezugsgruppe vergleichen, die sich auf einem etwas höheren Standard befindet als die eigene (ac), sollten wir uns vielmehr an diskursethisch festgelegten gemeinsamen Grundwerten bezüglich menschlicher Lebensqualität als solcher orientieren. Neben der kognitiven oder emotionalen wertenden Stellungnahme zu objektiven A

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Gütern erwies sich die Art des Umgangs mit ihnen als zweiter entscheidender Moderator (b): Bedeutsamer als konkrete materielle Güter ist für unser Glück augenscheinlich, wozu sie uns befähigen, welche Handlungsmöglichkeiten sie uns eröffnen, weshalb der Staat nicht für die Ausweitung des Angebots an beliebigen Grundgütern, sondern für die Ausbildung und Förderung bestimmter aus ethischen Gründen ausgezeichneter Fähigkeiten zu sorgen hätte. Hingegen bleibt es dem einzelnen Glücksaspiranten anheimgestellt, die kontinuierliche Selektion und Realisation solcher Fähigkeiten kraft eines umfassenden individuellen Lebensentwurfs zu leisten (ba), weil sich auch aus einer ansehnlichen Summe einzelner Bereichszufriedenheiten ohne übergreifenden Sinnzusammenhang niemals Glück ergibt (vgl. Kapitel 5.1). Gemäß der aristotelischen Analogie eines glücklichen menschlichen Lebens zum hinreißenden Spiel eines Musikers kommt es zwar durchaus auf die Qualität des gespielten Instrumentes bzw. die gegebenen objektiven Lebensbedingungen an, wohingegen der Grund eines gelungenen, beglückenden Lebens oder einer überzeugenden musikalischen Interpretation allein im künstlerischen Können bzw. in der Lebenskunst zu suchen ist. Wie sich auch das hochkarätige Spiel eines großartigen Künstlers nicht vollenden kann, solange er auf einem mittelmäßigen Instrument spielt, wird der Tugendhafte anlässlich einer Konzentration von Übeln zwar glücklich (eudafflmwn), aber nicht vollkommen glücklich im Sinne göttlicher Glückseligkeit (makari@). Neben der Wahl der richtigen Lebensform in bezug auf die zur Verfügung stehenden objektiven Güter der Außenwelt ist auch eine breite Palette virtuos gehandhabter Handlungsstragetien und -kompetenzen glücksförderlich (bb). Damit unsere Beziehung zur Außenwelt nicht auf teilnahmslose Anpassung und notorisch-resignative Zurücknahme unerfüllbarer Lebensziele reduziert wird, muss schließlich ein ausreichender Spielraum an Handlungsfreiheit (bc), nicht aber willkürliche Verfügbarkeit über sämtliche gewünschten objektiven Güter gewährleistet sein. Am Leitfaden der zentralen Frage, ob der Mensch sich auf seiner Glückssuche für die kontradiktorischen Grundorientierungen eines transitiv-außenorientierten oder reflexiv-innenorientierten Glücksverständnisses entscheiden soll, gelangten wir zu folgendem Ergebnis: Von einem rein subjektivistischen, hedonistischen Glücksverständnis gilt dezidiert Abstand zu nehmen in Anbetracht der genuinen Objektzentriertheit und Außengerichtetheit menschlichen 596

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Glücksstrebens. Auch ein objektivistisches Glücksverständnis aber, das von bestimmten Glücksgütern oder vom materiellen Lebensstandard als monokausalen Ursachen auf den Glückszustand des Subjekts rückschließen zu können meint, greift angesichts der Komplexität menschlichen Lebens, seines genuinen Zeit- und Vollzugscharakters, eindeutig zu kurz. Sowohl ein rein subjektivistischer wie auch ein rein objektivistischer Glücksansatz muss daher zugunsten eines wesentlich komplizierteren transaktionalen Glücksmodells überwunden werden, das von einer multifaktoriellen Wechselwirkung zwischen Subjekt und Umwelt ausgeht und die kognitiv-normativen Stellungnahmen zur Außenwelt (a) sowie die Art des kompetenten Umgangs mit ihr (b) ins Zentrum stellt. Obgleich gemäß unseren glücksgrammatischen Aufzeichnungen in Kapitel 3 der unspezifische deutsche Begriff »Glück« im Kontrast etwa zum Griechischen, das »eutychia« von »eudaimonia«, oder vom Englischen, das »luck« von »happiness« absondert, die Doppeldeutigkeit von einem äußerlich-unverdienten »Zufalls«-Glück und einem planmäßig erarbeiteten »Erfüllungs«Glück umspannt, ist das transaktionale Glück als aktives Sich-Verhalten zur Außenwelt etwas kategorial anderes als ein philosophisch und psychologisch uninteressantes »zugefallenes« Glück, das somit aus unserer Untersuchung ausgeblendet wurde. Während in einem vorphilosophischen Glücksverständnis auch zu antiken Zeiten »Glück« entweder mit einem subjektiven hedonistischen Wohlbefinden, dem »Empfindungs«-Glück (Subjektivismus) oder aber dem Besitz von äußerlichen bzw. körperlichen Gütern wie Reichtum, Ehre oder Gesundheit (Objektivismus) identifiziert wurde, plädierten bereits die Philosophen der griechischen Klassik für einen »eudaimonia«-Begriff als richtigem Umgang mit diesen Gütern, der nur durch (philosophische) Erkenntnis und nicht-kognitive Einübung eines entsprechenden Habitus’ ermöglicht und von positiven Gefühlen begleitet wird. Da beim transaktionalen menschlichen Glück die subjektiven und objektiven Komponenten notwendig zusammenstimmen müssen, definierten wir es im Anschluss an dieses philosophische Glücksverständnis der Antike elementar als ein affektiv höchst positiv erfahrenes, anhaltendes und stets auf Einsicht in die tatsächliche Lage gestütztes »gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis«. So wenig also jemand aufgrund einer glänzenden Lebenssituation glücklich ist, ohne dieses Glück auch zu spüren, so wenig ist jemand aufgrund eines positiven Gestimmtseins glücklich, wenn er sich über die Wirklichkeit seiner Lage täuscht. A

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Bei dem von uns favorisierten transaktionalen Glücksmodell kann strenggenommen weder von einem eudaimonologischen Subjektivismus noch Objektivismus die Rede sein, weil subjektives Wohlbefinden und objektive Lebenslage ausdrücklich in gleicher Weise berücksichtigt werden. Von Subjektivismus oder Objektivismus in Sachen Glück kann allerdings auch in einem normativen Sinne gesprochen werden, so zwar, dass die Subjektivisten jegliche allgemeingültigen Kriterien verwerfen, wohingegen die Objektivisten ihrer Glückstheorie eine materiale Werttheorie zugrunde legen. Wenn daher vom »objektiven Glücksbegriff« der klassischen Antike die Rede ist, hat man in der Regel das normative metaphysisch-kosmische Gerüst im Auge, das dem menschlichen Glückskandidaten spezifische Verhaltensweisen und Lebensaufgaben zuweist und gleichzeitig objektive Kriterien zur öffentlichen Beurteilung des individuellen Glückszustandes bereitstellt. Auch wenn wir heute mit Sicherheit nicht mehr von vergleichbaren zuverlässigen metaphysisch-anthropologischen Grundfesten profitieren können, war es ein wesentliches Anliegen vorliegender Arbeit, Glück als ein wertendes, die subjektive Ebene immer schon transzendierendes Konzept auszuweisen. Die für unser Weltverhältnis-Glück als entscheidend herausgestellten Faktoren der Bewertung unserer objektiven Lebenssituation (a) und einer kompetenten, vernünftigen Art unserer Lebensführung (b) wurden dabei immer wieder enggeführt auf die Frage nach dem »guten Leben«, die für ein begründetes, reflektiertes Glück beantwortet sein muss: »Glück und gutes Leben hängen demnach eng zusammen derart, dass das gute Leben die Bedingung des Glücks ist und das Glück das Gute des Lebens ausmacht.« 2 Während jeder Mensch, dessen Tage nicht damit ausgefüllt sind, das schiere Überleben zu sichern, sich allein aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit mit der Frage auseinanderzusetzen hat, wie er sein Leben leben soll und welches für ihn das bestmögliche Leben sei, geben sich viele Menschen mit kulturell vorgegebenen und unkritisch internalisierten Antworten zufrieden, statt der sokratisch-philosophischen Forderung nach permanenter Selbstprüfung und -erforschung nachzukommen (vgl. Kapitel 1). Um uns im Rahmen unserer Rückblende schrittweise an eine reflektierte Antwort bezüglich des »guten menschlichen Lebens« als Bedingung menschlichen Glücks herantasten zu können, hat man allererst über das »genus proximum« der 2

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Annemarie Pieper: Glückssache, S. 10.

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formal-allgemeinen transaktionalen Glücksdefinition eines »gelingenden Welt-Selbst-verhältnisses« Klarheit zu gewinnen: Lässt sich Glück wirklich als etwas außerhalb unserer selbst bestimmen, als eine qualifizierte, kontrollierbare »Welt-Selbst-Relation«, als ein tugendhaftes habituelles »Verhalten«, wie der griechische »eudaimonia«-Begriff zu suggerieren scheint? Müsste man es nicht gemäß unserer alltäglichen Sprachintuitionen elementar als »Gefühl« verstehen, dem man qua »differentia specifica« immer noch eine Weltverhältnisqualifikation als dessen reflexiv einholbaren Grund beifügen könnte? Viele gegenwärtige philosophische Glückstheorien büßen zweifellos genau dadurch an Überzeugungskraft ein, dass sie eine emotionspsychologische Verankerung vermissen lassen, um die wir uns daher in Kapitel 3.2 bemühten. »Gefühl« wird lexikalisch definiert als psychophysisches, mehr oder weniger von Lust bzw. Unlust begleitetes Grundphänomen des subjektiven Erlebens einer Erregung oder Beruhigung mit einer subjektiven Erlebnis-, einer neurophysiologischen Erregungs-, kognitiven Bewertungs- und intersubjektiven Mitteilungskomponente. Wenn man gemäß dem interessanten Forschungsprogramm der »Sozialen Konstruktivisten« im Zeichen der letzten beiden Komponenten seine Aufmerksamkeit auf das Erlernen von Emotionswörtern fokussiert, weil die Sprache vor allen anderen Zeichensystemen nicht nur das präziseste Mittel ist, Gefühle mitzuteilen, sondern überhaupt erst zu »fühlen«, entdeckt man das Glücksgefühl erst auf einer sehr späten Stufe des phylo- und ontogenetischen Lernprozesses: Werden in einem ersten Schritt sprachlichkognitiver Ausdifferenzierung »Lust« und »Unlust« zu »Liebe« und »Freude« bzw. »Ärger«, »Trauer« und »Angst« spezifiziert, entwickeln sich in einem zweiten Schritt beispielsweise aus der »Freude« »Glück«, »Eifer« und »Stolz«. Sucht man die genaueren Kognitionen zu eruieren, die das sprachliche Einüben des Spätprodukts »Glück« in der soziokulturellen Evolution unserer Gefühle ermöglichen, tritt eine enge Verwandtschaft von »Glück« und »Zufriedenheit« zutage. »Glück« als der weitere Begriff scheint die »Zufriedenheit« als eine positive normative Beurteilung unseres Lebens insgesamt, bei welcher offenkundig die kognitive Gefühlskomponente dominiert, zur Voraussetzung zu haben. Kulturanthropologische Vergleichsstudien legen denn auch nahe, dass die emotionale Ausdifferenzierung von Glück mit der Übernahme von kognitiven gesellschaftlichen Überzeugungen von richtigem Weltverhalten und gelingendem »guten A

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Leben« verknüpft sein muss. Den von vielen Psychologen als Schlüssel einer gegenwärtigen Renaissance der Glücksforschung gepriesenen, auf unzulängliche Weise die Autorität des Aristoteles bemühenden »state-trait«-Ansatz, der eine aktuelle Zustands- von einer dispositionellen Bereitschaftskomponente bei Gefühlen unterscheidet, verwarfen wir angesichts seiner reduktionistischen Tendenzen. In die Irre führt die Analogie von aktuellem Glückserleben (»state«)Lebensdauerglück (»trait«) zum Korrelat Angst–Ängstlichkeit nämlich immer dann, wenn das Lebensdauerglück lediglich als im wesentlichen angeborene, ethisch indifferente emotionale Reaktionsbereitschaft zu augenblickshaften Glücksgefühlen begriffen wird unter Ausblendung der erworbenen, gleichfalls dispositionellen kognitiven (dianoetischen) und ethischen Fähigkeiten oder Eigenschaften. Während Aristoteles Glück de facto weder als »state« (aktuelles Gefühl) noch »trait« (Glücksdisposition) begreift, sondern kontraintuitiv mit ethisch wertvollen Charaktereigenschaften und entsprechendem habituellem Richtighandeln (Tugend) identifiziert, hat sich die gegenwärtige emotionspsychologische Forschung in die unfruchtbare Opposition von Gefühlsnaturalisten und -kognitivisten entzweit, welche den Eignungstest des »Gefühls« als »genus-proximum«-Kandidaten erheblich erschwert: Unter physiologischen Gefühlstheoretikern werden Gefühle nicht unterschieden von unmittelbar durch äußere Reize kausal verursachten Sinnesempfindungen, so dass etwa ihr Repräsentant Sigmund Freud die Sexuallust zum Inbegriff und Maßstab menschlichen Glücks schlechthin ausrufen und Glück als Wiederherstellung eines homöostatischen Gleichgewichts nach Aufhebung aller Reizzustände bestimmen kann. Andere Glücksphysiologen lenken unsere Aufmerksamkeit auf chemische Transmittersubstanzen wie Noradrenalin und Dopamin, die zwar nachweislich unsere Neugierde, Phantasie und die Lust auf Sex stimulieren, aber noch lange nicht glücklich machen, weil der chemisch induzierte Drang weder Ziele noch Grenzen kennt. Die beruhigenden, entspannenden, in sogenannten Glückspillen verabreichten Botenstoffe Serotonin und Endorphin demgegenüber hellen zwar bei schweren Depressionen die dunklen Gefühle auf, erzeugen aber keineswegs ein positives Glücksgefühl. Weil menschliche Gefühle grundsätzlich propositionalen Charakter aufweisen und zudem die menschlichen Probleme erst da beginnen, wo alle Triebe zum Zwecke einer homöostatischen Energieverteilung befriedigt sind, favorisierten wir vor solchen naturalistischen Kausalmodellen 600

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ein intentionales, bei welchem die Gefühlsursache klar vom -gegenstand unterschieden und letzterer als konstitutiv für die Qualität eines Gefühls betrachtet werden muss. Mit den kognitiven Gefühlstheoretikern gilt darauf zu pochen, dass menschliche Gefühle wesentlich auf kognitiven Einschätzungen der Gegenstände oder Vorgänge basieren, auf die wir eher gerichtet sind statt passiv von ihnen affiziert zu werden, und dass das ganze menschliche Gefühlsleben ohne die mentalen Fähigkeiten der Speicherung, Kombination oder Antizipation von affektiv bedeutsamen Ereignissen undenkbar wäre. Indem der Mensch weder durch drängende Triebe noch seine Umwelt vollständig determiniert ist, sondern stellungnehmend und konstruierend auf letztere einwirkt, braucht er offenkundig nicht ununterbrochen gestreichelt zu werden, um sich geliebt zu fühlen oder immerfort in euphorischen Zuständen zu schweben bzw. laufend Erfolge zu verbuchen, um glücklich zu sein. Gemäß der aristotelischen Unterscheidung von Form und Materie bzw. Schachter/Singers gefühlstheoretischen Differenzierung von qualitativem und quantitativem Moment macht es als Syntheseversuch von Gefühlsnaturalismus und -kognitivismus zweifelsohne Sinn, das einem jedem Gefühl zugrundeliegende kognitive Urteil als dessen »Wesen« (Form oder Qualität) von der für die Intensität eines Gefühls verantwortlichen psychophysischen Erregungen zu unterscheiden (Materie oder Quantität), auch wenn beide untrennbar zusammengehören. Statt sich auf das Registrieren dessen zu beschränken, was die Menschen unserer kulturellen Sprach- und Handlungsgemeinschaft gemeinhin mit dem Begriff »Glück« verbinden, scheint es mir angesichts einer vielmonierten »emotionalen Inkontinenz« im Rahmen einer kritisch-normativen Glücksforschung angebrachter, wie Scheele für eine differenzierte reflexive Gefühlskultur zu plädieren, indem man auf die reflexive Möglichkeit des Menschen aufmerksam macht, Gefühle haben zu können, ohne sensorisch empfinden zu müssen. Sie empfiehlt uns dabei, reflexive, bewusste, gegenstandsbezogene »kernintensionale« oder »warme« Bewertungsprozesse, über welche das Subjekt des Fühlens jederzeit Auskunft geben kann, von kognitivem, aber ungewusstem deskriptivem »randintensionalem« oder »kaltem« Hintergrundwissen zu unterscheiden, was sich für unsere Analyse des Glücksgefühls als äußerst fruchtbar erwies: Wenn wir Gefühle als vernünftig oder unvernünftig taxieren, indem wir etwa von einer unbegründeten Angst oder einem illusionären Glück sprechen, haben wir zunächst und zumeist die peripheren »kalten« VorA

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stellungen von uns selbst und der aktuellen Situation im Auge, über deren Wirklichkeit wir uns – etwa im Falle des Glücks des Verliebtseins – durchaus täuschen können. Ein Irrtum ist aber nicht nur bei solchen randintensionalen deskriptiven Selbst- und Situationseinschätzungen möglich, sondern auch betreffs der kernintensionalen wertenden Stellungnahmen zu bestimmten konkreten Welt-SelbstBezügen, welche unseren Gefühlen sowohl ihre Qualität wie ihre »Färbung« verleihen: Jede positive Bewertung eines Referenzobjektes oder -ereignisses für unser Leben geht notwendig einher mit einem lustvollen »positiv gefärbten« Gefühl, jede negative mit einem unlustvollen »negativ gefärbten«. Dass ich etwas als gut für mich/für mein Leben erachte, kann dabei entweder bedeuten, es sei i) der Erhaltung meines Lebens oder dem Lustgewinn förderlich oder ii) für ein »gutes Leben« zu bevorzugen. Da der Mensch, der bewusst und reflektiert auf sein Leben ausgerichtet ist, nicht wie das Tier unmittelbar auf das Überleben oder das jeweils Angenehme festgelegt ist, sondern sich immer wieder die Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens zu stellen hat, ergeben sich Glücks-Illusionen sowohl aus falschen technisch-pragmatischen Urteilen darüber, wie sich das Leben angenehmer gestalten ließe (i), wie auch aus ethischen darüber, was für unser bzw. für ein »gutes Leben« generell wertvoll sei (ii). In der von uns gebilligten kognitivistischen Sicht bedeutet ein Gefühl wie das Glück also wesentlich ein »bewertender Bewusstseinszustand«, der durch die Aktualisierung bestimmter Wertmaßstäbe zustande kommt, mit denen Welt-Selbst-Relationen beurteilt werden. Zur Abgrenzung von »Glück« und »Freude«, die beide ein höchst positives Gefühl in Anbetracht eines als unbedingt bejahenswert erkannten Bezugsobjekts einer Welt-Selbst-Relation darstellen, mussten wir die Differenzierung zwischen »Gefühlsregungen« und »Stimmungen« beanspruchen: Während Gefühlsregungen wie Freude oder Furcht von kurzer Dauer sind und einen engen situativen Bezug aufweisen, sind Stimmungen wie Glück oder Angst diffuse, atmosphärische Dauertönungen unseres gesamten Gefühlslebens. Auch wenn bei der Glücks-Stimmung nicht wie bei der Freude einzelne, konkrete Welt-Selbst-Bezüge bewertet werden, ist dennoch ein offener und unbestimmter Weltbezug vorhanden, indem hier unsere komplexe Lebenssituation, das In-der-Welt-Sein als solches in Frage steht. Die Affirmation bzw. Negation unseres In-der-WeltSeins als Ganzem ist uns in der Glücksstimmung bzw. in der »Depression«, die sich als Antonym zu »Glück« herausstellte, durchaus 602

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bewusst, wobei folgende Faktoren zu einem generalisierenden »Ja« oder »Nein« führen können: 1) Auf physischer Ebene können organische und genetisch vererbte Ursachen wie das bereits erwähnte Defizit an Neurotransmittern ein negatives Urteil begünstigen, nicht aber determinieren. 2) Ein psychischer Leidensdruck durch eine erschütternde Übermacht von Mangelzuständen und Einbußen an Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten prägt nach Erkenntnissen kognitivistischer Depressionstheoretikern leicht pessimistische Erlebnis-, Interpretations- und Denkweisen, die uns im Verein mit unzulänglichen psychischen Kompetenzen im Umgang mit belastenden Faktoren und Qualifikationen zur Selbst- und Weltkontrolle in eine »erlernte Hilflosigkeit« (Seligman) hineinmanövrieren können. 3) In geistiger Hinsicht pochten wir dennoch mit Frankl auf die sogenannte »Trotzmacht des Geistes«, mithilfe deren ein Mensch seine »erlernte Hilflosigkeit« auch wieder zu verlernen vermag, wenn ihm trotz unabwendbarer belastender Vorkommnisse wie Partnerverlust oder Arbeitslosigkeit ein (neuer) sinnvoller Entwurf eines »guten Lebens« und der Erwerb der zu einem konstruktiven Umgang mit der widerständigen Welt notwendigen Kompetenzen gelingt. Wer dabei aufgrund eines wertvollen Lebensentwurfs »Ja« sagt zu sich und der Welt, wird grundsätzlich nicht nur glücklich, sondern auch leidensfähig. Weder ein wirkliches Glück noch eine echte Depression können strenggenommen automatisch aus der aktiven, bewussten Auseinandersetzung mit der Welt hervorgehen, weil das gefühlskonstitutive affirmative bzw. negative Urteil die Einsicht in die tatsächliche Gesamtsituation unseres Lebens sowie die soziokulturellen Wertmaßstäbe voraussetzt, ohne welche wir niemals Klarheit über unser Gefühlsleben gewinnen könnten. Glück erwies sich also im Laufe unserer glücksgrammatischen Studien anders als beim philosophischen griechischen »eudaimonia«-Verständnis nicht als tugendhaftes habituelles Richtighandeln, sondern als eine dauerhafte und höchst positive Stimmung (»genus proximum«), welche durch eine affirmative Beurteilung der Qualität unseres Lebens als Ganzem im Hinblick auf ein harmonisches, prozessual gelingendes Welt-Selbst-Verhältnis unter Aktualisierung begründbarer Wertmaßstäbe konstituiert wird (»differentia specifica«). Dass ein aufs Ganze gerechnet als gelingend einzustufendes WeltSelbst-Verhältnis ohne Reflexion auf ein richtiges Handeln und ein gutes Leben sowie gewisse »Habitualisierungen« entsprechender Handlungsweisen und Lebensformen nicht auskommt, wie sie die A

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antiken Glücksprogramme vorsahen, liegt auf der Hand. Gegen eine solche positive Glücksbestimmung wenden die immer zahlreicher werdenden negativen Glückstheorien allerdings ein, Glück lasse sich prinzipiell nur ex negativo definieren als Vermeidung großen Unglücks oder überhandnehmender Übel. Man lässt sich inspirieren durch Schopenhauers pessimistische Formel, derzufolge jeder Glücksaspirant zwangsläufig oszilliere zwischen dem Schmerz des unerreichten und der Langeweile des erfüllten Wunsches oder Ziels. Dem naiven Optimismus der Griechen wird vorgeworfen, infolge seiner Ignoranz unvermeidbarer Übel und affektfeindlicher Immunisierung gegen äußere Widrigkeiten die Fragilität menschlichen Glücks vollkommen verkannt zu haben. Bevor wir uns dem Problem der Herkunft und Begründung der in unserem Glücksgefühl aktualisierten Wertmaßstäbe widmen (a), sind angesichts dieser Attacken seitens der Glücksnegativisten folgende Fragen zu beantworten: Lohnt sich, auch wenn das antike »habitualisierte Richtighandeln« tatsächlich zu optimistisch konzipiert scheint, gleichwohl eine glückstheoretische Erörterung der Art und Weise des richtigen SichVerhaltens, des geeigneten prozessualen Welt-Verhältnisses (b) oder sollen wir uns gleich den Glücksnegativisten auf das Reduzieren und Relativieren von Unglück kaprizieren? Könnten wir hinsichtlich eines kompetenten Umgangs mit der faktischen Außenwelt, einer qualifizierten Lebensführung, die zu einer dauerhaften Glücksstimmung beitragen, von den Griechen einiges lernen, oder hat man sich der Pauschalverurteilung der Glücksnegativisten anzuschließen? Statt für eine affektfreie, distanziert-rationale Lebensführung unter Ausblendung sämtlicher Wechselfälle von Schmerz und Leid zu plädieren, konzentrierten sich die antiken Philosophen zu Recht auf ein qualifiziertes theoretisches und praktisches Verhältnis zur affizierenden, oftmals leidvolle Affekte hervorrufenden Welt (Kapitel 3.1): Nicht Minimierung des Leids oder gar völlige Weltflucht ist angesagt, sondern das Maximieren weltbezogener Konfliktbewältigungskompetenzen – wobei in unserer hochkomplexen, auf Flexibilität gestellten Gesellschaft zweifellos ein multikompetentes Individuum erforderlich wäre. Wie auch die neuere Glücksforschung herausstellt, ist für den produktiven und kreativen Umgang mit einer für widerständig befundenen Lebenssituation und somit für ein stabiles Weltverhältnisglück konkret die »Charakterdisposition« der Gelassenheit, der Frustrationstoleranz und eines gesunden Weltund Selbstvertrauens unentbehrlich (»ethische Tugenden«). Dank 604

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dieser unmittelbar glücksförderlichen Charakterdispositionen können die indirekt glücksrelevanten »instrumentellen Dispositionen« wie Vorstellungskraft, Intelligenz und Problemlösungskompetenz (»dianoetische Tugenden«) auch in kritischen Lebenslagen zum Einsatz kommen und neue Perspektiven aufzeigen (Kapitel 5.1). Wenngleich Enttäuschungen und Versagungen unser Weltverhältnisglück »aufreiben« und »trüben«, wie es bei Aristoteles heißt, kann kraft Einübung in angemessene, gesunde Gefühlsreaktionen und den erfolgreichen Umgang mit Stressituationen auch zeitgenössischen Psychologen zufolge eine gewisse Immunisierung gegen äußere Widrigkeiten erlangt werden. Die Leid- und Frustrationstoleranz verringert sich allerdings mit dem Siegeszug der wissenschaftlich-technischen Errungenschaften kontinuierlich, weil diese einerseits die trügerische Hoffnung wecken, alles sei nun beliebig mach- und vermeidbar, andererseits unsere alltäglichen Erfahrungsspielräume sukzessive enteignen: Je mehr wir gleichsam aus zweiter Hand leben, statt unser eigenes Welt-Selbst-Verhalten und seine Folgen kritisch zu analysieren und zu verarbeiten, desto mehr berauben wir uns der Möglichkeit präziser Situationsbeurteilungen, umfassender Einschätzungen unserer Fähigkeiten und adäquater Erwartungshaltungen. Nur in den Augen der Glücksnegativisten, die von einem konflikt- und leidfreien »reinen« oder »Sonntagsglück« ausgehen – obschon Leiden ein irreduzibler und oft sogar stimulierender Bestandteil menschlichen Lebens darstellt –, mutieren solche Kompetenzen der Leidoder Stressbewältigung unter der Hand zu »Inkompetenzkompensationskompetenzen« (Marquard). Auf ähnliche Weise entpuppte sich eine gemäßigtere glücksnegativistische Position sowohl in historischer wie systematischer Hinsicht als unhaltbar: Unter der definitorischen Prämisse, Glück sei die Verwirklichung aller selbstgesetzten subjektiven Zwecke, sollen die hellenistischen Philosophen anders als die Glücksökonomen der Neuzeit für radikale Bedürfnisreduktion und Askese plädiert haben. Denn je bescheidener unsere Bedürfnisse und Ziele, desto leichter sind sie logischerweise zu erfüllen und scheinen damit in einem neuzeitlich-technischen Glücksverständnis ein Maximum an Lebensdauerglück zu sichern. Historisch erwies sich aber dieses neuzeitliche »Prinzip der Zweckökonomie« als ein den Alten zu Unrecht unterschobenes Kind, weil selbst im Hellenismus die Einsicht in die normbildenden Verhältnisse der inneren und äußeren Natur, also der notwendigen Bedürfnisse und kosmischen Ordnungen im Zentrum A

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standen, auf dass man entsprechende Tugenden etablieren konnte. Eine Reduktion oder gar Suppression lustheischender irrationaler Bedürfnisse wäre systematisch gesehen auch genauso verfehlt wie deren neuzeitliche grenzenlose Maximierung und Vervielfältigung, nachdem wir im Rahmen der Wunschtheorie bereits darauf verwiesen hatten, dass unser Glück nicht von der schlichten Befriedigung irgendwelcher Neigungen abhängig ist, sondern von deren Gestaltung und sinnvollen Einbindung in eine Gesamtkonzeption des – individuellen oder gesellschaftlichen – Lebens. Das hellenistische Gestaltungsprinzip der Askese meinte dementsprechend in allem Kontrast zu späteren christlichen Konnotationen von Lustverzicht und Entsagung das Einüben in eine ethisch wertvolle und zugleich höchst genussreiche Lebensform. Wer aber ungeachtet aller normativer Kriterien auf das Prinzip der Zweckökonomie setzt und wähnt, sich mit geringsten Ansprüchen und gedrosselten Bedürfnissen auf direktestem Weg zum Glück zu befinden, täuscht sich über psychologischanthropologische Grundgesetze hinweg, die sein Unternehmen unterminieren. Auch wenn der glücksnegativistische Appell zur Minimierung unserer Wünsche und Ziele keinen Königsweg zu einem dauerhaften Weltverhältnisglück markiert, scheint unter der fundamentalanthropologischen Prämisse der teleologischen Grundstruktur menschlichen Verhaltens und in Anbetracht der analytischen Wahrheit, dass wir die einmal anvisierten Ziele oder »Güter« auch erreichen möchten, die richtige Wahl von Lebenszielen für das gesuchte bestmögliche Verhältnis zu unserer Außenwelt ausschlaggebend zu sein (Kapitel 5.1): Glücklich ist, so lautet die äußerst plausible Grundannahme der Zieltheorien des Glücks, wem es gelingt, möglichst viele seiner Lebensziele zu verwirklichen, weil er eine positive Bilanz bei der Beurteilung seines Lebens als eines »guten« ziehen und somit eine hohe Lebenszufriedenheit verzeichnen wird. Bezüglich der Art der um unseres Glücks willen vorzuziehenden Ziele lässt sich nach den neueren psychologischen Erkenntnissen der seit den 80er Jahren florierenden entsprechenden Forschung resümieren: 1. Obgleich globale, abstrakt-allgemeine Ziele unabdingbar sind, werden wir nur glücklich dank spezifizierten klaren Teilzielen. 2. Für die kognitive Komponente unserer Glücksstimmung ist es zudem wichtig, dass wir Ziele wählen, bei denen kontinuierlich deutliche Rückmeldungen über das bereits Erreichte erfolgen. 3. Ebenso soll der Weg zu unseren Zielen kontrolliert werden können, wobei allerdings die Sicher606

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heit alltäglicher Routine aufgebrochen werden muss, weil nur die qualifizierte Kontrollfähigkeit mit Glück korreliert: Beglückend sind erfahrungsgemäß nicht leicht kontrollierbare häusliche Tätigkeiten wie das Staubsaugen, sondern weit eher Handlungen von Menschen unter schwierigen Bedingungen, welche dank raffinierter Zielsetzungen ihr Leben kontrollieren lernen, oder von den gegen horrende Gefahren ankämpfenden »Risikogeilen«. 4. Dementsprechend hängt unser Lebensglück entscheidend von der richtigen Wahl des Anspruchniveaus unserer Lebensziele ab, zu deren Ermittlung man sich auf Atkinsons empirisch verifiziertes »Erwartungs- mal Wert-Modell« berufen könnte: Der Erfolgsanreiz und die zu erwartende Erfüllung bei der Zielerreichung steigt zwar mit dem Schwierigkeitsgrad der Ziele und dem Ausmaß der dazu erforderlichen Qualifikationen an, wohingegen reziprok dazu die Erfolgswahrscheinlichkeit sinkt, welche unsere Handlungsmotivation lähmt. Als besonders glücksversprechend erweisen sich daher mittelschwere Aufgaben oder Ziele, die bezüglich unserer Fähigkeiten und Begabungen herausfordernd genug sind, mit vollem Einsatz aber gerade noch gemeistert werden können. Unklar blieb zunächst, ob das Glück dank eines geeigneten Anspruchniveaus unserer Ziele nun allein von dem in Aussicht gestellten beachtlichen Erfolg abhängig ist, wie Atkinsons zweckrationales Modell suggeriert, so dass eine extrinsisch-zweckzentrierte Motivation vorläge, oder ob gemäß der aristotelischen These für unser Lebensglück nur intrinsisch-selbstzweckhafte Tätigkeiten relevant sind, die wie Denken und Musizieren ihr Ziel in sich selbst tragen. Bei genauerer Analyse des Flow-Phänomens des Glücks, d. h. der höchst positiven Erfahrung eines sorgenfreien optimalen Lebensflusses, zeigte sich, dass eine intrinsisch-tätigkeitsorientierte Motivation in einem weiteren Sinne durchaus mit äußeren Ergebnissen und Zielen vereinbar und damit nicht auf den engen Freizeitbereich eingeschränkt ist. Selbst genuin intrinsische Tätigkeiten wie Denken oder Musizieren setzen nämlich ganz konkrete Ziele wie das Lösen eines Problems oder die Interpretation einer musikalischen Phrase voraus, die man aber nur deswegen wählt, weil sie die entsprechende Tätigkeit ermöglichen. Indem wir solche uns beglückende zielgerichtete Tätigkeiten durchaus um ihrer selbst willen schätzen, auch wenn sie ihren Wert durch das anvisierte Ziel wie etwa einen musikalischen Vortrag erhalten, welcher seinerseits nur wertvoll erscheint als Resultat selbstzweckhafter Tätigkeit, liegt hier eine paradox anmutende A

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Motivkombination vor. In gleicher Weise erfordern Flow-Erfahrungen anspruchsvolle, klare Ziele mit deutlichen Rückmeldungen, die nicht mehr weiter in Frage gestellt werden, damit sich die ganze Aufmerksamkeitskapazität auf die unteren Handlungsregulationsebenen verlagern und hier eine glatt laufende selbstzweckhafte Tätigkeit lancieren kann: Ungeachtet des anvisierten Ziels ist man glücklich, weil man ganz »bei der Sache« ist und in der spannenden Tätigkeit »aufgeht«. Eine geeignete Verschränkung der beiden nur scheinbar kontradiktorischen Motivarten extrinsischer Erfolgsorientiertheit und intrinsischer Selbstzweckhaftigkeit scheint geradezu der Schlüssel zu einem flowartigen transaktionalen Lebensdauerglück zu sein, indem wir durch kreative Umgestaltung des Handlungskontextes etwa im beruflichen Bereich die Aufmerksamkeit von der pflichtgemäßen Aufgabe auf den Handlungsvollzug zu verlagern vermögen und damit den von uns geforderten teleologischen Handlungsvollzug gleichsam ästhetisch überhöhen. Gemäß dem psychologischen »Prinzip funktioneller Autonomie« (Allport) ist es ein sehr häufiges Phänomen, dass wir Handlungen mit instrumentellen Zwecken wie Geld- oder Ruhmerwerb in Angriff nehmen, die sich im Laufe der Zeit als in sich lohnenswert erweisen und sich zu intrinsischen Tätigkeiten transformieren. Der Mensch, wenngleich unter einem Finalisierungszwang stehend, bliebe so jederzeit »Zweck an sich selbst« (Kant), und die Kunst bzw. das Spiel im Allgemeinen könnten zu einem Übungsfeld für Glück avancieren. Menschliche Praxis zeichnet sich aber nicht nur durch einen grundlegenden »Finalisierungszwang« aus, sondern zudem durch einen »qualitativen Holismus«, da jede Handlung nur in ihrer Verlängerung nach hinten in die Vergangenheit und nach vorn in die Zukunft Sinn macht. Entsprechend stellt sich ein transaktionales menschliches Glück nicht bei einer planlosen Erfüllung unzusammenhängender Ziele ein, sondern nur bei einer Koordination aller Einzelziele zu einem transzendentalen Lebensplan als umfassendem Sinnentwurf, so dass ein glückliches Leben immer auch ein sinnvolles Leben ist. Denn beurteilt werden in unserer Glücksstimmung per definitionem nicht einzelne konkrete Welt-Selbst-Bezüge wie erfolgreiche Zielerreichungen, sondern unser In-der-Welt-Sein als Ganzes. Sinn kann rein formal betrachtet einem Leben immer dann attestiert werden, wenn man ihm zugrundeliegende Ziele und Zwecke anzufügen weiß, welche durch eine qualitative Ordnung oder die Subsumtion unter übergreifende Gesamtziele miteinander verknüpft sind. 608

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Zielkonstruktionen lassen sich dabei sowohl temporär nach der Dringlichkeit einzelner Lebensziele wie auch hierarchisch gemäß ihrer Allgemeinheit gliedern, indem die universalsten und für unser Leben wesentlichsten Ziele im Unterschied zu den kurzfristig zu konkretisierenden Teilzielen an der Spitze der Hierarchie plaziert werden. Während viele Psychologen davon ausgehen, dass ein für menschliches Glück augenscheinlich unabdingbares, umfassendes kognitives Zielkonstrukt bereits in den ersten Lebensjahren unabsichtlich aus der Interaktion mit der Umwelt hervorgeht, insistieren die Philosophen zu Recht darauf, dass ein definitives, gleichsam in die Tiefen des Unbewussten »hinabgeübtes« Lebenskonzept als ein ausgebildeter Selbstentwurf eine bewusste, emphatische »absolute Selbstwahl« beim Abschluss der langen Phase pubertärer Probeidentifikationen mit Bezugspersonen voraussetzt. Um unseres Glücks willen sollten grundsätzlich voreilige, verfrühte Entscheidungen für ein bestimmtes Lebens- und Selbstkonzept vermieden werden, weil wir sowohl über einen reichen Erfahrungsschatz an experimentell durchgespielten oder beobachteten sozialen Rollen und unterschiedlichen Lebensformen wie auch über hinlängliche Welt- und Selbsterkenntnis verfügen müssen. Wer unter – zumeist elterlichem – Sozialisationsdruck vorzeitig auf ein »Skript«, einen dramaturgischen Lebensplan festgeschrieben wird, dem ist nach der therapeutischen Erfahrung der »Transaktionisten« im Leben nur Unglück beschieden. Allerdings scheint auch ein zum reifen Zeitpunkt gewähltes konsistentes Persönlichkeits-Konzept unser Lebensglück noch lange nicht zu garantieren, da wir jederzeit mit unvorhersehbaren Veränderungen unserer äußeren Lebenssituation konfrontiert werden können: Während bei alltäglichen neuen Erfahrungen oder »bockenden Tatsachen« (Wittgenstein) zumeist allmähliche strukturelle Konstrukt-Veränderungen ausreichend sind, welche weder die Stabilität unseres Organisationssystems noch unser Lebensdauerglück in Gefahr bringen, weil es sich nur um eine vorübergehende »Trübung« handelt, sind bisweilen dramatische qualitative vorzunehmen. Bei einschneidenden Ereignissen wie einem nichtbestandenen Examen oder einer gescheiterten Beziehung scheint unser teleologische Sinnentwurf miteins entwertet und unser Lebensdauerglück untergraben, so dass eine tiefgreifende hermeneutische Reinterpretation unseres ursprünglichen Skripts unausweichlich wird. Indem sämtliche Lebenspläne Strategien willentlicher Handlungskontrolle implizieren, welche zwar die Realisation unserer Ziele vorantreiben, aber durch A

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automatische Aufmerksamkeitsfilter krisenhafte Erfahrungen auszublenden tendieren, bilden erfahrungs- und revisionsoffene Konzepte langfristig betrachtet grundsätzlich eine bessere Glücksbasis als starr-dogmatische. Werden sämtliche negativen Informationen, welche der Erreichung unserer einmal gefassten Ziele wie etwa einem verstiegenen Berufsziel im Wege stehen, hartnäckig ignoriert, wird nämlich auf das illusionäre Glück zwangsläufig das böse Erwachen folgen. Gelingt es uns aber, trotz zielstrebig verfolgter Lebenspläne die blickverengenden Aufmerksamkeitsfilter zu minimieren, ist der Weg geebnet zu einer permanenten Komplexitätssteigerung unserer Selbst- und Weltorganisation, welche in der psychologischen Persönlichkeitsforschung häufig als Gradmesser menschlichen Glücks fungiert. Die glücksförderliche Komplexität eines Konstruktsystems wird dabei über den Prozess der Differenzierung bestehender Strukturen einerseits, denjenigen der Integration als Miteinbezug immer neuer Erfahrungen und Lebenbereiche in unseren Entwurf andererseits erlangt. Als weniger eindeutig erwies sich das Gütekriterium der Bezugssystembewusstheit oder -distanz für unsere Lebenspläne, die nachweislich mit der Komplexität eines Systems zunimmt und für eine distanzierte reflexive Kontrolle unserer Pläne und deren Angemessenheit an die jeweilige Lebenssituation unabdingbar scheint. Andererseits treten aber erfahrungsgemäß bei erhöhter Selbstreflexion und Selbstkontrolle auch viele Unzulänglichkeiten und Störanfälligkeiten unseres Lebensentwurfs ins Bewusstsein und mindern dadurch unsere Glücksfähigkeit, welche bei weniger komplizierten und weniger selbstthematischen Persönlichkeiten unbemerkt bleiben und somit ihr Glück ungetrübt lassen. Dennoch haben es sich die Glücksphilosophen seit jeher erlaubt, ein solches unreflektiertes subjektives Wohlbefinden als »scheinbares«, »illusionäres« oder »kleines Glück« zu brandmarken, zumeist im Rekurs auf die fundamentalanthropologische Bestimmung des Menschen als eines mündigen autonomen Wesens, das sein Leben frei und (selbst-)bewusst zu führen hat (1). Wahrhaft menschliches Glück stünde dann grundsätzlich nur Menschen offen, die über ein ausgreifendes Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Lebenslage verfügen und dadurch zur freien Selbstbestimmung fähig sind. Dabei soll keineswegs von einem permanenten Zwang zur kritischen Selbstprüfung die Rede sein, sondern von einer zur festen Grundhaltung gewordenen »reflexen Intention im Generellen« (Krämer), die sich auf die Gesamtsituation unseres Le610

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bens bezieht. Als weiteres philosophisch-anthropologisches Argument für Bezugssystembewusstheit kann der Umstand dienen, dass der Mensch als genuin geschichtliches Wesen immer wieder die gesamte Zeit seines Lebens ins Bewusstsein zu rufen und zu begutachten hat (2). Infolgedessen scheint für menschliches Glück das Bewusstsein sehr wichtig zu sein, bestimmte Ziele zur »richtigen Zeit«, im »richtigen Alter« und in einem sinnvollen zeitlichen Ablauf realisiert zu haben. Aufgrund seiner notwendigen sozialen Verankerung ist der Mensch darüber hinaus auf die Anerkennung durch seine Mitmenschen angewiesen, die ein auf dürftige Erfahrungsgrundlage oder asozialen Wertüberzeugungen gegründetes, unreflektiertes Lebenskonzept früher oder später dementieren und das entsprechende Glück als illusionäres entlarven würden (3). Unverzichtbar ist eine Reflexion auf unsere Lebenslage schließlich auch deshalb, weil selbst ein noch so differenziertes und integriertes kognitiv-ungewusstes Motivationssystem uns immer noch alternative Handlungsmöglichkeiten im konkreten Einzelfall zur Entscheidung freistellt (4). Wenn heute Glückspropheten, Therapeuten, Problemlöser und Umwerter, auf den Wogen des Zeitgeistes reitend, an die »Selbstverwirklichung« als Schlüsselkategorie (post)modernen Selbstverständnisses appellieren und einzig und allein auf das hemmungslose Entfalten persönlicher Potenzen setzen, unterminiert man offenkundig die Transaktionalität eines sich auf einen solch umfassenden, sinnvollen Lebensplan gründenden menschlichen Glücks (Kapitel 6.1): Allen voran die sogenannten »humanistischen Psychologen« haben sich auf die Fahnen geschrieben, dem gesunden Menschen zu einem aktiven, spontanen, autonomomen Selbstverwirklichungsprozess zu verhelfen. In den entsprechenden Theoremen wird aber oft den Grundschwierigkeiten ausgewichen, dass sich die natürlichen Bedürfnisse oder Talente widerstreiten können und der Mensch seine zunächst moralisch indifferenten Potenzen sowohl zu guten wie bösen Zwecken einsetzen kann. Ein reines Authentizitätsstreben etwa gemäß Rogers Erfahrungskongruenzmodell, das Selbstverwirklichung als freies Erfahren unverfälschter sinnlicher und physischer Reaktionen begreift, entpuppte sich aus dem Grunde als paradox, weil ein frei zu erfahrendes und enthüllendes Selbst jegliche Konturen verliert und sich im Amorphen auflöst. Je mehr wir uns in narzisstischem Selbstausdruck gefallen und die Umwelt zum Spiegel unserer selbst transformieren, je stärker zudem der GleichgewichtsA

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verlust zwischen privater und öffentlicher Sphäre auf Kosten der letzteren fortschreitet, desto stärker steht die Entwicklung eines »Selbst« sowie der Prozess der »Selbst«-Verwirklichung in Gefahr. Unser »Selbst« setzt sich nämlich notwendig zusammen aus einem aktiven Moment, dem »I« (Mead) oder »reinen Selbst« (James), und einem passiven Moment, dem »me« (Mead) oder »empirischen Selbst« (James), welches ein »materielles Selbst« (Körper, Kleidung, Familie), »soziales Selbst« (Status, Rolle) und »geistiges Selbst« (psychische Disposition, Charakter) umfasst. Statt dass sich der Mensch unaufrichtig mittels seines reflektierenden Bewusstseins (»reines Selbst«) permanent vom »empirischen Selbst« distanziert und sich augenblickshaft neu entwirft oder schein-aufrichtig sich mit all dem identifiziert, was er geworden ist, kann er ein »Selbst« oder eine »Ich-Identität« nur erlangen kraft der inneren Verpflichtung auf einen überzeitlichen, normativen »transzendentalen Selbstentwurf«. Dieses »transzendentale« oder »normative Selbst« stellt eine ursprünglich lediglich im Bewusstsein existierende, stellungnehmende und bewertende, umfassende Interpretation unserer materiellen, sozialen und geistig-psychischen Dispositionen dar und darf als Synonym zum Selbst- oder Lebenskonzept gelten. Ein solches normatives Selbstverständnis verleiht all unseren Handlungen in der Außenwelt und damit dem »empirischen Selbst« Konsistenz und Kontinuität – auch wenn er vom »reinen Selbst« stets überprüft und korrigiert werden kann – und findet im soeben hervorgekehrten Lebensplan mit hierarchisch geordneten Lebenszielen eine konkrete Ausformulierung. Nachdem menschliches Glück in unserer individualistischen kapitalistischen Kultur immer mehr an »Selbst-Sein«, »Selbst-Erfüllung«, »Selbst-Aktualisierung« oder »Selbst-Verwirklichung« gekoppelt wird, muss gegenüber der äußerst populären Selbstverwirklichungstheorie des Glücks ins rechte Licht gerückt werden, dass sich all diese Selbst-Projekte systematisch gesehen niemals auf ein lediglich zu entfaltendes dispositionelles »faktisches Selbst« beziehen können, sondern auf ein transzendentales, zu konzipierendes »normatives Selbst«. Elementarstes formal-allgemeines Kriterium einer erfolgreichen und beglückenden Selbstverwirklichung im Sinne eines transaktionalen Glücksverständnisses wäre daher die möglichst vollständige Realisation des »normativen Selbst« in der Außenwelt, welches gleichsam als Ziel und Kompass eines teleologischen Formierungsprozesses fungiert. Hingegen scheint es mir wenig sinnvoll, 612

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entweder auf dem Primat der Selbstintention in Form kontrollmächtigen Sich-Verfügbar-Machens der Welt zum Zwecke freier Selbstentfaltung zu pochen, oder aber im Sinne der »Logotherapeuten« totale Selbsttranszendenz und Hingabe an die Welt zu predigen. Wie auch immer wir den Schwerpunkt im Welt-Selbst-Verhältnis setzen, sei es in egozentrischen Zielen oder altruistischen Lebensaufgaben, hängt unser Selbstverwirklichungsglück letztlich vom Grad der gesellschaftlichen Anerkennung derjenigen Werte oder Ziele ab, über die wir unser »transzendental-normatives Selbst« definieren. Anstelle voreiliger Prioritätensetzungen erwies es sich konzeptuell als äußerst hilfreich, mit Hans Krämer folgende Betrachtungshinsichten im Welt-Selbst-Verhältnis auseinanderzuhalten: Zweifellos kommt dem zu verwirklichenden Selbst sowohl ein »transzendentaler Vorrang« zu, indem dieses unser Weltverhalten erst konstituiert, wie auch ein »normativer«, weil die eigenen Möglichkeiten viel enger gezogen sind als die Möglichkeiten von Welt, so dass sie den Ausgangspunkt der Selektion konkreter Welt-Selbst-Verältnisse bilden müssen. Da der Mensch aber immer schon auf seine Um- und Mitwelt ausgerichtet ist und sich selbst überhaupt nur in der Außenwelt verwirklichen kann, genießt die Welt demgegenüber eindeutig einen »intentionalen« und »praxeologischen Vorrang«. Der »hermeneutische Vorrang« der Welt schließlich signalisiert, dass wir uns selbst nur in der Welt, speziell in kommunikativer Interaktion, in Konfrontation mit dem »generalisierten Anderen« (Mead) zum Objekt oder Interpretandum werden und uns verstehen können. Obgleich der existenzphilosophische und modernistisch-individualistische Ruf nach Selbstsein und Selbstverwirklichung dem berechtigten Missmut gegenüber einer zunehmenden Funktionalisierung, Bürokratisierung und Anonymisierung unserer westlichen Gesellschaft entspringt, schüttet man doch angesichts dieses »hermeneutischen Vorrangs« der Welt durch eine Zurückweisung jedes »Als-Seins«, des Rollen-Daseins als solchem, das Kind mit dem Bade aus. Anstelle einer unfruchtbaren Kontrastierung von rollenhaftem »Als-Sein« und zur Vereinzelung neigendem »Selbst-Sein« hat die notwendig einer jeden kritischen Glücksphilosophie zugrundeliegende normative Sozialisationstheorie zum einen seitens des Subjekts an bestimmte Grundqualifikationen für ein »echtes« Rollenverhalten zu appellieren: Kreativität bei der Interpretation der nie eindeutig fixierten Rolle, Rollendistanz sowie Ausdauer bei der von einer Rolle geforderten Gefühls- und Charakterformung, die uns keineswegs von A

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uns selbst entfremden, sondern ein Selbst erst heranbilden. Von den gesellschaftlichen Strukturen andererseits wird zugunsten eines Selbstverwirklichungs-Glücks verlangt, den Jugendlichen Raum zu lassen für repressionsfreie Interaktion und aktives Mitgestalten von traditonellen Rollenmustern. Sowie sich bei unserer Erörterung der generellen strukturellen Probleme der Selbstverwirklichung in Kapitel 6.1 bereits eine Versöhnung des individuellen Glücksstrebens mit den sozialen Normen und Werten abzeichnete, versuchten wir in Kapitel 6.2, die Verbindungslinien und Scharniere zwischen Glück und Moral, Individualund Sozialethik präziser herauszudestillieren: Während die individualethische oder strebensethische Frage »Warum ist es gut für mich, x zu tun?« auf einen hypothetischen Imperativ der Klugheit im Namen des eigenen Glücks zielt, verlangt die sozialethische oder moralphilosophische Frage »Warum ist man kategorisch verpflichtet, x zu tun?« die Einnahme eines unparteilichen Standpunktes. Nachdem die zweitausendjährige Geschichte der Ethik bereits mit dem Verdacht startete, die Moral als die für alle Menschen verbindlichen Regeln und Gebote gerechten Zusammenlebens gehe grundsätzlich auf Kosten des persönlichen Glücks der einzelnen, wird gegenwärtig auf dem Feld der Feuilletons und der pseudowissenschaftlichen Lebenshilfeliteratur die Spannung zwischen Individual- und Sozialethik erneut geschürt, indem man dezidiert für eine moralinfreie »Ethik der Selbstverwirklichung« bzw. eine »Moral der Authentizität« Stellung bezieht. Angesichts dieser prekären Lage des scheinbar unwiderbringlichen Auseinanderdriftens individuellen Glücksstrebens und sozialethischer Gerechtigkeit rekurrieren zu Hilfe gerufene Philosophen gerne auf das antik-klassische Ideal einer konzeptuellen Konvergenz von Glück und Moral. Unter den strebensethischen Prämissen, dass alle Menschen nach irgendwelchen Gütern streben und mit dem Innehaben des für sie wahrhaft Guten Glückseligkeit erlangen, weil dann all ihr Streben an ein Ende kommt und Erfüllung findet, brauchten die antiken Philosophen lediglich dieses »telos« näher zu definieren und als genuin moralisches auszuweisen. Platon beispielsweise erkennt als eigentümliche Leistung der menschlichen Seele die Gerechtigkeit als sowohl innere harmonische Ordnung der Seelenteile wie als normativ richtiges Sozialverhalten, die nur dank philosophisch-dialektischer Einsicht in die ideelle kosmische Ordnung und die höchste Idee des Guten innen wie außen herzustellen sei. Entgegen eines verbreiteten Missverständnisses redet Platon damit kei614

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neswegs einer reinen Klugheitsethik das Wort, da er zwar nach Art seiner sophistischen Herausforderer sein ethisches Programm gleichsam aus der Kundenperspektive des Glücksstrebenden formuliert, den »Kunden« aber grundlegend dazu anhält, sich an dem in sich wertvollen, vernünftig-ontologischen Ideengerüst der Welt zu orientieren. Ohne dass die sozialethische Perspektive auf die individualethische reduziert würde oder umgekehrt, genießt bei diesem antiken einheitsethischen Modell das zu erwartende Glück einen »transzendentalen und motivational-emotionalen Vorrang«, begleitet aber immer nur das moralisch-tugendhafte Verhalten, dem daher ein »intentionaler, normativ-rationaler Vorrang« zukommt. Hat ein solch gelungener Versöhnungsversuch von Individual- und Sozialethik in einer differenzierten Einheitsethik aber nicht ausgespielt, sobald der Glaube an jegliche metaphysischen Grundfeste zerbrach? In einer hochbrisanten aktuellen politisch-philosophischen Kontroverse debattieren Liberale und Kommunitarier darüber, ob der Mensch zu seinem Glück entweder möglichst viel Freiheit von sozialen, moralischen oder rechtlichen Zwängen brauche, oder ob er gerade auf eine orientierungsstiftende, traditionsreiche Wertgemeinschaft angewiesen sei. Untrüglich stellte sich bei unseren genaueren Analysen heraus, dass radikale Liberalisten, wenn sie die Freiheit bei der Auswahl und beliebigen Revision von Zielen, Wertvorstellungen und Lebensplänen als »Gut an sich« glorifizieren, übersehen, dass das Glück der Selbstverwirklichung nicht von einer solchen »negativen Freiheit« abhängt, sondern von der Werthaftigkeit, die wir unseren Zielen und Tätigkeiten zuschreiben. Der Grad kommunitarischer »positiver Freiheit« bemisst sich daher an der Bedeutsamkeit unserer Lebensziele, bei denen im Unterschied zu unseren Präferenzen für Automarken oder Computerprogramme »starke Wertungen« (Taylor) qua »Wünsche zweiter Ordnung« (Frankfurt) ins Spiel kommen. Diese lassen sich nicht mit Bezug auf faktische subjektive Vorlieben und Neigungen begründen, weil wir uns in den ihnen zugrundeliegenden Bedeutungszuschreibungen täuschen können, sondern nur kraft argumentativer Willensbildung und eines rationalen Konsenses des auf gemeinsame methodische Erfahrungen und Einsichten gestützten praktischen Diskurses. Wo nicht im Zeichen eines paternalistischen Traditionalismus die bestehende Praxis zur Norm erklärt wird, fordern Kommunitarier daher mit Recht Diskussionsforen zur gemeinsamen Beratung über das sich tatsächlich Lohnende bzw. ein »gutes menschliches Leben« sowie über die solche wichtigen A

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menschlichen Qualitäten fördernden öffentlichen Institutionen und moralischen Prinzipien. Diese soziokulturellen Bedingungen (positiver) menschlicher Freiheit sind dabei in den Augen der Kommunitarier mit größeren Ungleichheiten prinzipiell unvereinbar. Der Mensch braucht zu seinem transaktionalen Glück seine Mitwelt also keineswegs nur aus prudential-pragmatischen Gründen, etwa weil wir unsere individuellen Ziele und Glücksgüter in einer kooperativen Gruppe besser erreichen können, sondern um der Korrektur eigener fehlbarer Werturteile und der Bestimmung eines »für alle gleichermaßen guten Lebens« qua verbindlichen Orientierungshorizonts willen. Wie Honneth im Rahmen seiner Anerkennungstheorie bekräftigt, ist eine beglückende positive Selbstbeziehung nämlich nicht nur im Binnenreich von Primärbeziehungen auf Anerkennung angewiesen, sondern auch in einem größeren sozialen Kontext, in welchem wir auf der Basis gemeinsam geteilter Zielsetzungen und kollektiver Vorstellungen vom »guten menschlichen Leben« soziale Wertschätzungen und eine posttraditionale Solidarität erfahren können. Obgleich damit zweifellos ein starker unmittelbarer voluntativer Motivationsfaktor, nämlich das Verlangen nach sozialer Anerkennung, sowie die mittelbare Motivationskraft des Glücksstrebens existiert, behalten die diskursiv begründeten Werte und Normen jedoch analog zum antiken Einheitsmodell einen intentionalen, begründungslogischen Vorrang bei der Führung unseres Lebens, weil der Mensch an einem tatsächlichen guten Leben interessiert ist und nicht mit falschen Vorstellungen über den Wert seines Tuns dahinleben möchte. Scharnierstelle zwischen individualethischem Glücksstreben und sozialethischen Normen bzw. dem moralischen Entwurf einer gerechten Ordnung des Zusammenlebens bildet mithin die vage materiale Bestimmung eines aus der Perspektive eines Beliebigen »guten menschlichen Lebens« mit wertvollen Lebenszielen. Wie sich der einzelne bei seinem auf Anerkennung angewiesenen Glücksstreben an diesen Grundwerten orientieren kann, bilden sie die Basis für die Festlegung einer sozialethisch-rechtlichen Grundordnung einer Gemeinschaft. Ausgehend vom Wert der Gesundheit beispielsweise müsste der »gute Arzt« und die »gute Medizin« mitsamt dem entsprechenden Berufsethos und institutionellen Rahmenbedingungen konkretisiert werden, während es dem einzelnen anheim gestellt bleibt, je nach Interessen und Begabungen den Beruf des Arztes zu ergreifen oder generell der Gesundheit andere Werte vorzuziehen. 616

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Auch wenn das Sich-Einfügen in eine moralische und institutionelle Ordnung bzw. die Ausrichtung an einer allgemeinen Idee des »guten menschlichen Lebens« keine Garantie für ein glücklich-geglücktes Leben darstellt, bilden diese doch einen unverzichtbaren Horizont existentiellen Gelingens. Neben dieser strukturellen Analyse zu den beiden eigenständigen Perspektiven der Individual- und Sozialethik, die uns zur anthropologisch-ethischen Folie eines »für alle Menschen Guten« als integratives Moment führte, zeigt auch eine historischsoziologische Betrachtung, wie eng unser Glücksverständnis mit einer bestimmten Idee des Menschen verknüpft ist: Wird das höchste Gut des Menschen wie in der Antike im philosophischen Denken erblickt, glaubt man das Glück dank einer ganz der Weisheit gewidmeten »theoretischen Lebensform« zu finden, wohingegen ein Mensch im christlichen Mittelalter, der sich wesentlich als Ebenbild Gottes versteht, nach einem demutsvoll auf Gott ausgerichteten irdischen Dasein die vollendete Glückseligkeit im Jenseits erwartet. Um ein solches glücksrelevantes »Bild« des Menschen zu gewinnen, reicht es offensichtlich nicht aus, im Rahmen einer »physiologisch-empirischen Anthropologie« die biologische und genetische Ausstattung des Menschen wie freigelegte Hände oder ausgeprägte Artikulationsorgane zu beschreiben, sondern es verlangt vielmehr eine Sinndeutung und ethische Bewertung all dieser empirisch erschließbaren Sachverhalte mithilfe historisch-kultureller lebensweltlicher Wertund Deutungsschemata. Entscheidend ist hier nicht, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat, sondern was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selbst macht. Welche gegenwärtigen anthropologischen Konzeptionen können uns zu mehr Klarheit in Sachen Glück verhelfen, indem sie die anthropologisch-ethische Folie inhaltlich zu füllen ansetzen? Die in Kapitel 5.2 resümierten Objektive-Listen-Theorien des Glücks postulieren nach wie vor artspezifische Bedürfnisse, Anlagen oder Fähigkeiten als »Konstanten des Glücks« und Substitute des antiken telos des Menschen. Es scheint nicht nur eine bereits von den Selbstverwirklichungstheorien des Glücks in Anspruch genommene, unmittelbar evidente »Grundintention« (Nussbaum) zu sein, sondern sich auch empirisch belegen zu lassen, dass der Mensch nur glücklich wird, wenn er seine wesentlichen Bedürfnisse erfüllt und seine spezifischen Fähigkeiten und Anlagen entfaltet – gemäß dem Motto: »Was der Mensch kann, muss er sein« (Maslow). Betreffs der auf unserer Glückssuche gleichsam als »Antiziele« zu berücksichA

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tigenden menschlichen Bedürfnisse machte ein Blick auf die gegenwärtige Bedürfnisforschung allerdings schnell klar, dass im Unterschied zu den anthropologisch konstanten »Grundbedürfnissen« als formalen Kategorien für essentielle menschliche Zielausrichtungen (z. B. Sicherheit oder Witterungsschutz) de facto immer nur zeit- ortund personengebundene »Konkretisierungen von Grundbedürfnissen« (etwa als Bedürfnisse nach Höhlen oder klimatisierten Räumen) anzutreffen sind. Angesichts der Crux, dass sich weder Bedürfnisse noch Grundbedürfnisse direkt messen lassen, bietet sich neben den Rückschlüssen vom äußeren Verhalten auf die Bedürfnislage oder unmittelbaren Befragungen als vergleichsweise zuverlässigeres Ermittlungsverfahren die Orientierung an frustrierten Bedürfnissen an. Maslows äußerst einflussreicher Klassifikationsversuch menschlicher Grundbedürfnisse, basierend auf der Generalisierung experimenteller und beobachteter Befunde an psychisch Kranken, vermag daher methodisch zu überzeugen. Die von ihm statuierte Hierarchie von Grundbedürfnissen, bei denen in phylogenetischer wie ontogenetischer Hinsicht die Entfaltung eines höheren Bedürfnisses jeweils die Befriedigung aller niedrigeren voraussetzt, lautet: 1. Physiologische Bedürfnisse (nach Nahrung/Schlaf), 2. Grundbedürfnisse nach Sicherheit (Schutz/Vorsorge), 3. nach Zugehörigkeit und Liebe, 4. nach Achtung, 5. nach Selbstverwirklichung. Nicht anders als bei Aristoteles, der das Glück des Menschen an die höchsten und damit spezifisch menschlichen Bedürfnisse bzw. Fähigkeiten koppelt und infolgedessen die Grundbedürfnis-Ziele Ernährung/Wachstum und dasjenige der Sinneswahrnehmung, die wir mit Pflanzen bzw. Tieren teilen, gegenüber demjenigen nach Weisheit degradiert, muss der Glückssucher nach Maslow die ganze Bedürfnis-Leiter bis zur Selbstverwirklichung durchlaufen, um ein menschliches Glück zu erlangen, wohingegen ein solches durch die Frustration basaler Bedürfnisse vereitelt wird. Werden wir aber nicht auf unserem Weg zum höchsten Glück der Selbstverwirklichung zumeist dadurch gehindert, dass sämtliche Grundbedürfnisse nicht nur im soziokulturellen Rahmen zu konkreten Bedürfnissen oder einem »Bedarf« formiert werden müssen, sondern durch öffentliche Werbepraxis auch auf angebliche Glücksgüter derart orientiert werden können, dass die anvisierten Grundbedürfnis-Ziele gar nicht erreicht werden? In der Tat sind sämtliche menschlichen Bedürfnisse und Anlagen gerade insofern spezifisch menschlich, als sie in einer historisch-kulturellen Sprach- und Handlungsgemeinschaft erst kon618

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kretisiert, formiert und in dieser Erfüllungsgestalt sozial legitimiert werden müssen. Anthropologisch-eudaimonologische Kritik an konkreten gesellschaftlichen Befriedigungsformen menschlicher Bedürfnisse sollte daher nicht als ein Insistieren auf einer Liste essentieller unformierter Grundbedürfnisse oder -fähigkeiten realisiert werden, sondern in erster Linie als Kampf gegen eine heterogene Bedürfnisformation durch Manipulation oder gesellschaftliche Diskriminierung, d. h. durch Ausschaltung des kritischen Urteilsvermögens bestimmter Interessegruppen. Sowohl durch mangelhafte oder gezielt irreleitende Werbeinformationen wie auch durch werbepsychologisch raffinierte Aktivierung unbewusster Reiz-Rekationsschemata sehen sich manipulierte Glückskandidaten immer wieder betrogen, weil ihre Grundbedürfnisse trotz der angepriesenen angeblichen Glücksgüter frustriert bleiben und der Aufstieg zum Selbstverwirklichungsglück somit verbaut ist. Um der wahren menschlichen Bedürfnisse und eines wahren menschlichen Glücks willen ist daher nicht nur ein gemeinsamer rationaler Diskurs über die soziokulturelle Bestimmung von Bedürfnissen unabdingbar, sondern eine umfassende Verbraucheraufklärung seitens der Glücksgüterindustrie und eine bedürfnisrationale Wahrnehmung des Angebots seitens der Glückssuchenden. Als »irrational« muss eine nicht-manipulierte Bedürfnisformation in unserer westlichen Individualkultur aber oft aus dem Grunde diffamiert werden, weil sie egoistisch und gegenwartsbezogen erfolgt, wohingegen zur Auswahl echter Glücksgüter die einseitige strategisch-technische Rationalität zugunsten der kommunikativ-praktischen überwunden und auch die GrundbedürfnisAnsprüche weniger Begüterter sowie zukünftiger Generationen in Rechnung gestellt werden müssten. In dem von einer kritischen Glückstheorie geforderten moralisch-praktischen Diskurs wäre folglich nicht die effizienteste, genussreichste Art der Bedürfnisbefriedigung zum Zwecke einer »instrumentellen Kollektivethik« Diskussionsgegenstand, sondern es ginge um normative Richtlinien bezüglich einer »konkreten menschlichen Lebensqualität« mit spezifischen »menschlichen Lebensinhalten«, also der oben erwähnten Idee eines »für alle gleichermaßen guten Lebens«, auf dass sie die ständige Betrachtungshinsicht bei der Reflexion auf mögliche Befriedigungsgestalten unserer Grundbedürfnisse und Entfaltungsformen unserer Grundfähigkeiten bilden könnte. In Anbetracht der architektonischen Sonderrolle der sich nur im intersubjektiven Kommunikationszusammenhang entfaltenden A

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praktischen Vernunft entpuppte sich für ein gutes und glückliches Leben nicht primär die Fähigkeit als ausschlaggebend, ein gesundes oder sexuell befriedigendes Leben führen oder zwischen einem möglichst breiten Spektrum entsprechender Angebote oder Mittel auswählen zu können, wie die Liberalen wähnen, sondern vielmehr die Fähigkeit, im Rahmen einer »reflexiven Politik« (Nussbaum) an der gemeinsamen Diskussion über Gesundheit oder menschliches Sexualleben und die entsprechenden sozial legitimierten normativen Orientierungsweisen teilzunehmen. Damit tritt der normative Charakter einer jeder bewussten und vernünftigen Bedürfnisformation klar zutage, der sich notwendig verstärkt bei den nicht an bestimmte Bedürfnisse gekoppelten menschlichen Anlagen oder Fähigkeiten, deren Werthierarchie und Rangfolge der Glücksbeiträge ausschließlich kulturell festgesetzt wird. Die glücksrelevanten »objektiven Listen« einer geisteswissenschaftlichen, pragmatisch-ethischen Anthropologie können infolgedessen nie mehr darstellen als ein Medium der Reflexion, der kritischen Aufklärung und der umfassenden Meinungsbildung in einer demokratischen und politisch mündigen Wissensgemeinschaft auf der gemeinsamen Suche nach einem kulturellen Menschenbild oder bei einer interkulturellen Verständigung auf ein universelles menschliches Selbstverständnis. Da die Frage nach dem Glück philosophisch immer schon als Frage nach dem Glück des Menschen verstanden wird und jede Glückstheorie auf impliziten oder expliziten anthropologischen Grundannahmen basiert, weist sich Glück damit ein weiteres Mal als ein wesentlich wertendes Konzept aus. Versucht man, diesen resümierenden Rückblick seinerseits zusammenzufassen, ließen sich folgende Kernthesen formulieren: 1. Nachdem sich sowohl ein objektivistisches, außenorientiertes transitiv-technisches Glücksverständnis als auch ein subjektivistisches, innenorientiertes, reflexiv-ästhetisches Glücksverständnis bei näherer Prüfung als defizitär und widersprüchlich entpuppten, plädierten wir für ein transaktionales Glücksmodell: So wenig jemand aufgrund einer glänzenden (objektiven) Lebenssituation glücklich ist, ohne dieses Glück auch zu spüren, so wenig ist jemand aufgrund eines positiven (subjektiven) Gestimmtseins glücklich, wenn er sich über die Wirklichkeit seiner Lage täuscht. Ausgehend von einer multifaktoriellen Wechselwirkung zwischen Subjekt und Umwelt treten die kognitiv-wertenden Stellungnahmen des Subjekts zu seinen äußeren Lebensbedingungen (a) und die Kompetenzen und Qualifikationen im Umgang mit der Außenwelt (b) ins Zentrum einer 620

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transaktionalen Glückstheorie. Glück ist mithin genuin als ein relationales Konzept zu begreifen. 2. Die Frage, ob das »genus proximum« von Glück ein Gefühl oder Urteil sei, entschieden wir zugunsten einer kognitivistischen Emotionspsychologie und gelangten zu folgender Glücksdefinition: »Glück« ist eine höchst positive, trotz zeitweiliger »Trübungen« ein ganzes Leben lang anhaltende Stimmung aufgrund einer affirmativen Beurteilung unseres gesamten Lebensvollzugs als eines gelingenden prozessualen Welt-Selbst-Verhältnisses. Während sich Gefühle von kausal durch beliebig austauschbare Reizquellen oder chemische Substanzen (»Glückspillen«) induzierten Sinnesempfindungen elementar durch ihre Intentionalität, d. i. ihre Gerichtetheit auf Gegenstände oder Personen unterscheiden, werden bei den vorübergehenden Gefühlsregungen einzelne, begrenzte Ereignisse taxiert, wohingegen in Stimmungen unsere Stellungnahme zum Inder-Welt-Sein insgesamt zum Ausdruck kommt. Ein »illusionäres Glück« kann grundsätzlich dadurch zustande kommen, dass der kognitive Hintergrund unserer Gefühle defizitär ist, weil wir über falsche Informationen über die im Gefühl intendierten Bezugsobjekte verfügen, oder dass wir ein falsches Werturteil bezüglich der Bedeutung fraglicher Objekte für unser Leben fällen. Das Glücks-Gefühl wird somit konstituiert durch das Aktualisieren begründbarer Wertmaßstäbe in einem Urteil und setzt die »Zufriedenheit« mit dem Leben als Ganzem voraus als seine kognitive Gefühlskomponente. Glück erweist sich somit wesentlich als ein wertendes Konzept. 3. Hinsichtlich eines kompetenten Umgangs mit der Welt (b) zum Zwecke eines gelingend-glücklichen Welt-Selbst-Verhältnisses ist die Charakterdisposition der Gelassenheit, der Frustrations- und Leidtoleranz sowie eines gesunden Welt- und Selbstvertrauens (ethische Tugenden) unabdingbar. Dank dieser unmittelbar glücksförderlichen Qualifikationen können die indirekt glücksrelevanten instrumentellen Dispositionen wie Vorstellungskraft, Intelligenz und Problemlösungskompetenz (dianoetische Tugenden) auch in schwierigen Lebenslagen zum Einsatz kommen. Da die Zufriedenheit mit unserem Leben steigt, wenn wir möglichst viele unserer Lebensziele verwirklichen können, appellieren die »Zieltheorien des Glücks« zu Recht, klare konkrete Ziele mit deutlichen Rückmeldungen und auf einem geeigneten Anspruchsniveau zu wählen und wo immer möglich die instrumentellen Zwecke zu intrinsischen Tätigkeiten zu transformieren. Glücklich wird der Mensch aber nicht bei einer planA

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losen Erfüllung unzusammenhängender Ziele, sondern nur dank der Koordination aller Einzelziele in einem transzendentalen Lebenskonzept als umfassendem Sinnentwurf, weshalb das glückliche Leben immer auch ein sinnvolles Leben ist. Dabei sollte man sich nicht unter – zumeist elterlichem – Sozialisationsdruck zu früh auf einen dramaturgischen Lebensplan (»skript«) festlegen, bevor man über hinlängliche Welt- und Selbsterkenntnis sowie einen reichen Erfahrungsschatz an experimentell durchgespielten bzw. beobachteten sozialen Rollen und vielfältigen Lebensformen verfügt. Anstelle starr-dogmatischer Pläne, welche mittels automatischer Aufmerksamkeitsfilter sämtliche unseren Zielen im Wege stehenden Ereignisse ausblenden, sind erfahrungs- und revisionsoffene Konzepte langfristig unserem Glück günstiger. Bestimmt man den Menschen als autonomes Wesen, das sein Leben frei und selbstbewusst zu führen hat, ist im Zeichen eines aufgeklärten nicht-illusionären Glücks darüber hinaus generelle Bezugssystembewusstheit gefordert, d. h. eine distanzierte reflexive Kontrolle unserer Pläne und deren Angemessenheit an die jeweilige Lebenssituation. Wahrhaft menschliches Glück steht demzufolge nur Menschen offen, die über ein ausgreifendes Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Lebenslage verfügen. 4. Das transaktionale Glück eines gelingenden Welt-Selbst-Verhältnisses lässt sich auch entsprechend den neueren »Selbstverwirklichungs-Theorien des Glücks« als Glück erfolgreicher Selbstverwirklichung verstehen, sofern man nicht der Chimäre einer »weltlosen Selbstverwirklichung« aufsitzt. Weil der Mensch immer schon auf seine Um- und Mitwelt ausgerichtet ist, nur in kommunikativer Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen Klarheit über sich selbst gewinnen kann und sein »Selbst« schließlich notwendigerweise in der Außenwelt verwirklicht, kommt der »Welt« nämlich sowohl ein intentionaler, hermeneutischer wie praxeologischer Vorrang vor dem »Selbst« zu. Verwirklicht werden prinzipell nicht irgendwelche lediglich zu entfaltenden neutralen Potenzen oder ein dispositionelles »faktisches Selbst«, sondern ein transzendentales, zu konzipierendes »normatives Selbst«, das dem »empirischen Selbst« Konsistenz und Kontinuität verleiht und in einem transzendentalen Lebensentwurf ausformuliert werden kann. Unser Selbstverwirklichungs-Glück hängt dabei weniger davon ab, ob wir uns selbst anhand egozentrischer Ziele oder altruistischer Lebensaufgaben verwirklichen, also den Schwerpunkt im Welt-Selbst-Verhältnis eher beim »Selbst« oder der »Welt« setzen, als vielmehr vom Grad der 622

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gesellschaftlichen Anerkennung derjenigen Werte und Ziele, über die wir unser »transzendental-normatives Selbst« definieren. Wem es gelingt, sein an gesellschaftlich anerkannten Werten orientiertes »normatives Selbst« als Kompass eines teleologischen Selbstverwirklichungsprozesses möglichst vollständig in der Außenwelt umzusetzen, wird glücklich. 5. Betreffs der für unser Glücksgefühl konstitutiven wertenden Stellungnahme zu unserer gesamten Lebenssituation (a) wandten wir uns dezidiert gegen die in der Lebenshilfeliteratur und der Beratungsszene gerne propagierte »moralinfreie Ethik der Selbstverwirklichung« oder »Moral der Authentizität«. Denn das transaktional verstandene Glück der Selbstverwirklichung hängt keineswegs von einer liberalistischen »negativen Freiheit« bei der möglichst breiten Auswahl und beliebigen Revision von Zielen, Wertvorstellungen und Lebensplänen ab, sondern von der Werthaftigkeit, die wir unseren Zielen und Tätigkeiten zuschreiben. Solche »starke Wertungen« lassen sich aber nicht mit Bezug auf faktische subjektive Vorlieben und Neigungen begründen, sondern nur mittels eines rationalen Konsenses eines auf gemeinsamen methodischen Erfahrungen und Einsichten gestützten praktischen Diskurses bzw. im Rekurs auf eine allgemein anerkannte Idee eines »guten menschlichen Lebens«. Auch die Auseinandersetzung mit den anthroplogischen »Objektive-Listen-Theorien des Glücks« zeigte, dass sämtliche als »Konstanten« menschlichen Glücks aufgelisteten Grundbedürfnisse und -fähigkeiten des Menschen gerade insofern spezifisch menschlich sind, als sie in einer historisch-kulturellen Sprach- und Handlungsgemeinschaft erst konkretisiert, formiert und in dieser Erfüllungsgestalt sozial legitimiert werden müssen. Solche normativen, konsensuell festgelegten Richtlinien bezüglich einer konkreten menschlichen Lebensqualität mit spezifischen menschlichen Lebensinhalten als Orientierungshorizont unserer persönlichen Selbst- und Lebenskonzepte wie auch als Grundlage für eine gerechte Ordnung des Zusammenlebens bildet gleichsam die Scharnierstelle zwischen Glück und Moral, Individual- und Sozialethik. Da der Mensch nachweislich nicht nur im Binnenreich von Primärbeziehungen, sondern auch in einem größeren sozialen Kontext auf Anerkennung angewiesen ist, um eine beglückende positive Selbstbeziehung aufrechtzuerhalten, existiert ein starker unmittelbarer Motivationsfaktor zur Orientierung an einer aus der Perspektive eines Beliebigen »guten menschlichen Lebens«. Dennoch behalten aber die diskursiv begrünA

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deten Werte und Normen einen intentionalen begründungslogischen Vorrang bei der Führung unseres Lebens, weil der Mensch an einem tatsächlich guten Leben interessiert ist und nicht mit falschen Vorstellungen über den Wert seines Tuns dahinleben möchte. Auch wenn die Ausrichtung an einer allgemeinen ethisch-anthropologischen Folie keine Garantie für ein glückliches Leben darstellt, bildet diese doch einen unverzichtbaren Horizont existentiellen Gelingens.

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Personenregister

Adler, Alfred 377, 492 Allport, Gordon W. 263 f., 280, 419, 429, 493 Angehrn, Emil 30, 158 f., 174 f., 268, 272 Annas, Julia 12, 541 Apel, Karl-Otto 448, 547 Arendt, Hannah 483 Aristoteles 12, 156, 163, 186 f., 209 f., 247, 265 f., 268, 328–332, 343 f., 357, 407 ff., 453 f., 538–543 Bacon, Francis 57, 65 Bell, Daniel 50–53, 123, 139 Bellebaum, Alfred 75 f. Bentham, Jeremy 253–261 Bien, Günther 12 f., 36, 395, 492 Birnbacher, Dieter 56, 312, 314 f., 273 Bühler, Charlotte 335, 380, 400, 470, 473 f. Camus, Albert 25 ff. Csikszentmihalyi, Mihaly 362–365, 392 f., 403 f., 409–414, 487 f., 493 Durkheim, Emile 50, 108 f.

Gehlen, Arnold 282 f., 352 ff., 356–359, 379 f., 383 Gerhardt, Gerd 466, 497 f., 514 ff., 518, 521 f., 526 f., 529, 543, 547, 583 Glatzer, Wolfgang 311–314 Griffin, James 289, 292–295, 289 f. Habermas, Jürgen 23, 51 ff., 59–62, 86, 509 f., 512, 569 f., 579–583 Heidegger, Martin 229–232, 357, 366, 518–524 Hobbes, Thomas 65, 68 f. Höffe, Otfried 24, 85, 161, 170 f., 255, 261 f., 336, 389, 392, 397 f. Hoffmann, Rosemarie 188 f., 193 ff., 215 Hondrich, Karl-Otto 440 ff., 446 f. Honneth, Axel 489, 503 ff., 563 f. Horn, Christoph 155 f., 178 f., 381, 532, 534 f., 537 f. Hossenfelder, Malte 173–177 Hügli, Anton 249 f., 468, 548 Inglehart, Ronald 22 f., 55, 467 Janke, Wolfgang 152 f., 157–160 Jonas, Hans 17 ff.

Erikson, Eric H. 378 f., 383, 480, 483 f., 491, 513 Forschner, Maximilian 33 f., 202, 256 ff. Frankfurt, Harry 300, 304, 554 Frankl, Viktor E. 145, 213, 241 f., 267, 372 f., 382, 397, 404, 498 ff. Freud, Sigmund 13, 198 ff., 352 f., 530 Frey, Bruno 570 f. Fromm, Erich 198 f., 203 f., 264 ff., 278, 289 f., 530 Früchtl, Josef 91, 140, 291, 296 f.

Kamlah, Wilhelm 35, 309, 359 Kant, Immanuel 18–22, 33 f., 380, 418, 544–549 Kelly, George 373, 376, 385 f., 391, 402 Kierkegaard, Sören 91, 117–123, 131, 379, 388 f., 395 ff. Klein, Stefan 200 ff., 263, 371, 381 f., 571 Kohlberg, Lawrence 379 f., 382 f. Krämer, Hans 29, 149 f., 157, 362, 394, 397, 437, 479, 486 f., 497–501, 521, 528, 531, 549 f., 552, 577 ff., 583 f. A

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Lersch, Philipp 257, 291 Machiavelli, Niccolo 63 f. Marcuse, Herbert 82 f. Marquard, Odo 161 f., 170 f. Marx, Karl 101 Maslow, Abraham H. 277, 279–283, 318, 428 f., 431–436 Mayring, Philipp 13, 141 f., 181, 184, 188, 311, 322, 361, 367 f. Mead, George H. 378, 478, 484, 507, 511 Mill, John S. 254, 260 f., 296 f., 273–284 Mirandola, Giovanni P. della 62 f., 350 Nietzsche, Friedrich 20, 114 ff., 166 f., 271, 342, 366, 368, 399 Nussbaum, Martha C. 162, 321 f., 449– 460, 454 f. Pankoke, Eckart 64, 90 f., 96, 101, 107 f. Piaget, Jean 378, 485 f. Pieper, Annemarie 12, 64 f., 71 f., 150 f., 383–388, 495, 545 f. Platon 162 f., 353, 532–538 Plessner, Helmuth 37, 352, 354 f.

Taylor, Charles 62–86, 99, 102 f., 302, 382, 552, 555–563, 574 Theunissen, Michael 466, 508, 514–519 Tugendhat, Ernst 221 f., 230 ff., 567 f.

Rawls, John 360, 363 f., 405, 415 ff., 489 f., 496 Rogers, Carl R. 470 f., 481, 496 Rousseau, Jean-Jacques 100 f.

Weber, Max 68, 112 f., 115, 117, 121, 126 f. Welsch, Wolfgang 136–139 Wittgenstein, Ludwig 150, 158, 189 ff., 395 Wolf, Ursula 11 f., 35, 157, 220, 225, 245

Sartre, Jean-Paul 350, 378, 476–481, 503– 506 Schaber, Peter 249 f., 259, 285, 288 f. Scheele, Brigitte 207 ff., 217 f., 225 Scheler, Max 344, 353 f.

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Schmid, Wilhelm 495, 526 Schopenhauer, Arthur 79, 291 f., 354, 370 f. Schulze, Gerhard 34, 80 f., 128–148, 162, 482 Schummer, Joachim 12, 42 Seel, Martin 30 f., 40 f., 155, 172, 268, 297, 301, 333 ff., 383, 395 f., 400, 414–423, 525, 527 f., 546, 548 f., 577 f., 580 f. Sen, Amartya 325 f., 290 Sennett, Richard 104, 128, 144, 213, 390 f., 482 f. Spaemann, Robert 43, 149, 271, 303, 358, 420, 584 ff. Spinoza, Baruch de 19, 67 Steiner, Claude 376 f., 384, 388, 396 Steinfath, Holmer 32, 297, 391 ff., 395, 398, 407 f.

Vowinckel, Gerhard 66–69

Zapf, Wolfgang 311–314, 317 Zeier, Hans 169, 323, 367, 510 f., 522 Zirfas, Jörg 36, 156, 162, 342 f.

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Dagmar Fenner

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Sachregister

Affekt 183, 222 Anerkennung 400, 489, 495 f., 514, 563– 566 Angst 388, 521–524 Anthropologie 342–359, 422 ff., 449–458, 462–465 Apatheia 176, 179 Askese 116 f., 178 f. Ästhetisierungsprozess 97–106, 130–136 Aufmerksamkeit 391,409–412 Authentizität 139 ff., 471, 476 ff., 510 f., 523 Autonomie (s. Selbstbestimmung) Bedürfnisse 424 –, Bedürfnishierarchie 279 f., 431 f. –, Grundbedürfnisse – Bedürfnisse – Bedarf 424 ff., 438 –, primäre – sekundäre 281 ff., 428 ff. –, wahre – falsche 83 f., 437–448 Charakter 379–384 Demokratie 322 f., 335 f., 570 f., 574 ff. Depression 234–242 Eigentlichkeit – Uneigentlichkeit 476, 518–521 Emotion (s. Gefühl) Ethik –, deskriptive – normative 15, 260 ff., 434 ff., 451–454, 463 –, Diskursethik 23, 446 ff., 547 f., 580 f. –, Einheitsethik – Integrative Ethik 531 f., 537 ff. –, Fehlschluss, naturalistischer (s. deskriptive – normative) –, Individualethik-Sozialethik 31 f., 474 f.,

525–531, 541 f., 544 f., 548, 565–570, 577–581, 584 ff. Erwartungs- mal Wert-Modell 405 f. Existenzphilosophie 229–332, 388, 508, 518–521 Flow 336 f., 409–413 Freiheit 576 –, Freiheit – Situation 461, 478, 506 –, negative – positive 297, 459 f., 558–563 –, Wahl-, Handlungs- und Willensfreiheit 291, 296, 333 f., 336 Freude 185, 192, 226 ff., 254–258 Frustrationstoleranz 169 f., 493 ff., 510 Gefühl 182, 225 –, Form – Materie (s. Zwei-Faktoren-Modell) –, Gefühlskomponenten 142 f., 183 f., 193 ff. –, Gefühlsregung – Stimmung 227 ff. –, Genese 189–193, 195 ff. –, Intentionalität 141, 145, 201 f., 257 f. –, kernintensional – randintensional 217 f. –, Prototypenordnung 192 –, Qualität – Quantität (s. Zwei-Faktoren-Modell) –, Schemata, emotionale 141 f., 196, 227 f. –, Zwei-Faktoren-Modell 209 f., 257, 274–278 Gelassenheit 160, 178, 389 Geld 318, 324 Gemeinwohl 69 f., 74, 283, 335 f., 339 f., 572–576 Gerechtigkeit 447, 449 f., 532 ff. Gesetz der Kompensation 77 f. A

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Gesetz des abnehmenden Grenznutzens 77 Gesundheit 237, 295, 303, 323, 412 ff. Glück –, ästhetisches 88–93, 130–134 –, dominantes – inklusives 33, 329 f., 331 f., 409 –, Empfindungsglück – Erfüllungsglück 156, 175 f., 263, 278 –, episodisches – übergreifendes 30 f., 172, 195, 271 –, e'dafflmwn – makari@ 329 –, fortuna – felicitas – beatitudo 63 f., 74, 150–154 –, großes – kleines 75, 114 ff., 166 –, illusionäres – wirkliches 219–224 –, innenorientiertes – außenorientiertes (s. Kopernikanische Wende) –, ökonomisches 64 f., 71 ff. –, reflexives – transitives 107 f. –, subjektives – objektives 30, 155 f., 175 f., 248 f., 298 ff., 305 ff. –, technisches 62–66 –, teleologisches – selbstzweckhaftes 406– 409, 416–421, 538 f. –, transaktionales (s. Welt-Selbst-Verhältnis – Glück) –, transzendentales 33, 409 –, Welt-Selbst-Verhältnis – Glück 156 ff., 162–172, 265–268, 362 f., 485 Glückspille (s. Neuropsychologie) Glückstheorien –, Glückseligkeitslehre 66 ff. –, hedonistische (s. Hedonismus) –, kognitive 205–212 –, negative 79, 160 ff., 172 ff., 308, 318 f. –, physiologische 197, 203 –, transaktionale 319–340 –, Wunschtheorie 285–304 Gut – Güter (menschliche) 153–156, 305 Handlung 250 f., 361 ff., 407 Hedonismus 93 f., 254–264 –, ethischer – psychologischer 14, 260– 265 [269] –, Fehlschluss, hedonistischer 144 f., 265– –, Grundparadox, hedonistisches (s. Fehlschluss, hedonistischer)

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Hellenismus 154, 164 f., 168 f., 175–180 Hilflosigkeit, erlernte (s. Depression) Homöostase 199 f., 262 ff. Humanität 18–24, 37 Identität (s. Selbst) Intelligenz 389 f. Kommunitarismus 552–563, 575 f. Konstruktivismus, sozialer 189, 373–378, 385 f., 391 Kontrollfähigkeit 404, 421, 486 f. Konzentration (s. Aufmerksamkeit) Kopernikanische Wende 127–137, 142 ff. Kreativität 390, 495 f., 509–512, 522 f. Langeweile 78–81, 367 Lebenskonzept 241 f., 326 ff., 376 ff., 383– 402 Lebensplan (s. Lebenskonzept) Lebensqualität 311–316, 321 ff., 335–340, 447 f. Lebensstandard 311 f., 325 f. Lebenswelt-System 51–55, 59–62 Lebenswissenschaft 46, 341 f., 345 ff. Leiden 162–169, 172, 244 Liberalismus 69 f., 74, 110 f., 427, 459 f., 549 ff., 575 f. Liebe 144 ff., 199, 267, 353, 584 f. Logotherapie 388, 498 Lust 145, 182, 192, 199, 262–268 Mensch (s. Anthropologie) Menschenwürde (s. Humanität) Moral –, konfliktlösend – konfliktverhindernd 548 –, Moral-sense-Theorie (s. Sympathie) Motivation 368 f. –, Druck-Zug 251 ff., 257, 284 f., 428 f. –, intrinsische – extrinsische 81, 406–409, 416–421 –, Sicherheitsmotivation – Wachstumsmotivation 256 f., 262–265 Narzissmus 144 f., 482, 492 f. Neuropsychologie 200 ff., 371, 383 f.

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Pech 234 Persönlichkeitstheorie 369–375 Pessimismus 78 f., 109 f., 494 –, Pessimismus der Stärke 166, 244 Politisierung (des Glücks) 73 f., 571 ff. Prinzip funktioneller Autonomie 280, 419 Psychologie, humanistische 45, 267, 276– 284, 335, 432 ff., 469–476, 516

Tätigkeit (s. Handlung) Technisierungsprozess 56–62 Teil-Ganzes-Relation 303, 329 f., 420 Teleologie 356–359, 361 f. Transaktionsanalyse 376 f., 384 f., 388, 399 Trotzmacht (des Geistes) 241, 494 Tugend 63, 154, 163 ff., 170 f., 328–331, 381, 389 f., 539–543

Rationalisierungsprozess 53, 106, 125 ff. Rolle 507–513

Unglück (s. negative Glückstheorie) Utilitarismus 71 f., 254–260, 273–285

Schmerz (s. Leiden) Selbst 378–382, 482 –, aktives (I) – passives (me) 478 f., 510 ff., 523, 556 f. –, materielles – soziales – geistiges 479 –, normatives (transzendentales) – faktisches 396 f., 479 f., 484, 556 –, Welt-Selbst-Verhältnis 497–501 Selbstbestimmung 333 f., 383, 395 f., 421, 570 f. Selbstreflexion 271 f., 297, 393–398, 414 Selbstvertrauen (s. Vertrauen) Selbstverwirklichung 434, 466–475, 481 Sinn 365 ff., 414 f., 500 Skript (s. Lebenskonzept) Sozialisationstheorie (normative) 512 f. Sozialstaat 74, 573 ff. State-trait-Konzept 186 ff., 189 Stimmung s. Gefühl Sucht 412 ff. Sympathie 583–586 System (s. Lebenswelt)

Vertrauen 388 f., 487–495, 564 Werbung 74 f., 308 f., 437–444 Werte –, materielle – postmaterielle 22 f., 55, 467 –, starke – schwache 301 ff., 556, 560 Wille (s. Wollen) Wohlbefinden – Wohlergehen 155 f., 312 f. Wohlfahrtsstaat (s. Sozialstaat) Wohlwollen (s. Sympathie) Wollen 252 f., 545 f. Wunsch 251 f., 287 f. –, informierter 291–296 –, nicht-neurotischer 289 ff. –, 1./2. Ordnung 300–304 Zeitlichkeit 270 ff., 356 f., 400 Ziel 304 f., 361–365, 402 Zufall 158 ff. Zufriedenheit 184 f., 243, 362 Zufriedenheitsparadox – Unzufriedenheitsdilemma 314 f.

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