Das Einvernehmen: Grundriss einer phänomenologischen Konsenstheorie 9783495998595, 9783495486641


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Kapitel 1: Der Dialog als Ort des Konsenses
§1 Kommensurabilität und Inkommensurabilität in Dialogen
I. Das Unvernehmen
II. Die Kraft der Bindung durch Sprache
III. Das Ungenügen des Pragmatismus
IV. Anforderungen an eine Theorie der Kraft der Bindung
§2 Vor dem Horizont der Individualität
I. Zur Geschichte der Individualität
II. Selbstbewusstsein als Kern von Individualität
III. Selbstbewusstsein und Kommunikativität
§3 Der Zugang der Phänomenologie
§4 Zum Gang der Untersuchung
Kapitel 2: Konsenstheorien im Überblick
§5 Schleiermacher
I. Das Programm einer Dialektik
II. Konsens als Zusammenstimmung
III. Versöhnung des Idealen und des Realen
§6 Husserl
I. Das Programm einer Phänomenologie
II. Konsens als Einverständnis
III. Die Grenzen von Idealität und Normalität
§7 Gadamer
I. Das Programm einer Hermeneutik
II. Konsens als Einverständnis
III. Reflexion und Tradition
§ 8 Habermas
I. Das Programm einer Universalpragmatik
II. Konsens als Einverständnis
III. Recht und Grenze des Regelbegriffes
§ 9 Zwischenbilanz
I. Eine Charakteristik der Positionen
II. Ein bilanzierender Vergleich
III. Konsequenzen für den weiteren Gang der Untersuchung
Kapitel 3: Der Einspruch des Anderen
§ 10 Lyotards Minimalismus
I. Das Konzept einer kommunikativen Analytik
II. Zur Kritik des Konzepts einer kommunikativen Analytik
§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas
I. Das Konzept einer heteronomen Subjektivität
II. Zur Kritik des Konzepts heteronomer Subjektivität
§ 12 Antwort und Antworten bei Waldenfels
I. Das Konzept der Responsivität
II. Zur Kritik des Konzepts der Responsivität
§ 13 Zur Notwendigkeit der Idee des Konsenses
I. Utopische Subjektivität und Konsens
II. Ricoeurs Modell der Subjektivität als Bezeugung
III. Die Idee des Konsenses als ›Einheitsprinzip‹ eines Gesprächs
Kapitel 4: Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen
§ 14 Die Struktur des Einvernehmens
I. Beobachtungen zum Dialog
II. Der Ort des Konsenses
III. Die These einer offerentiellen Konsenstheorie
§ 15 Der Inhalt der idealen Akzeptabilität
I. Die Anerkennung aller Anderen
II. Die Anerkennung jedes beliebigen Anderen
III. Die Anerkennung des Anderen als Achtung
§16 Die Form des Motivs
I. Motiv statt Regel
II. Wechselseitigkeit in Verschränkung
III. Das Moment der Gelassenheit
§17 Die Funktion der regulativen Idee
I. Die Disposition der Aufmerksamkeit
II. Ein affirmativer Horizont von Rationalität
III. Der Status einer regulativen Idee
§18 Das Ziel der Selbstbegrenzung
I. Konsequenzen aus dem Status der regulativen Idee
II. Geschuldete Aufmerksamkeit
III. Selbstverständigung durch Selbstbegrenzung
Kapitel 5: Der Modus idealer Akzeptabilität
§19 Zum Begriff der Aktivität
I. Die Frage nach der idealen Akzeptabilität
II. Der Ort in der Subjektivität
III. Zur Kritik der Vorstellung von der Aktivität als Intentionalität
§20 Ein philosophiegeschichtlicher Exkurs zu Meister Eckhart
I. Das Thema der Gottesgeburt
II. Die Hochschule der Gelassenheit
III. Das philosophische Konzept
IV. Ertrag
§21 Ereignis und Akt
I. Der Begriff des Ereignisses bei Heidegger
II. Der Begriff des Ereignisses bei Levinas
III. Der Eckstein der Abhängigkeit
§22 Die Struktur der idealen Akzeptabilität
I. Der Aufriss der idealen Akzeptabilität
II. Der Impuls der Resignativität
III. Die Logik der reziproken Akzeptanz
§23 Ideale Akzeptabilität als Verschränkung
I. Notwendigkeit der Übereinstimmung eines Zusammenpassens
II. Anknüpfung als passive Synthesis
III. Ereignis als Verkreuzung
IV. Übereinstimmung als Verschränkung
V. Zusammenfassung
Kapitel 6: Der Status einer Grenznorm
§ 24 Normativität als Kraft der Bindung
I. Die Fragestellung
II. Die Basis der Kommunikativität
III. Der Anspruch der Normativität
IV. Rationalität als situierte Vernunft
§ 25 Zum Begriff einer Grenznorm
I. Welt der Ordnungen
II. DasWesen der Grenze
III. Das Konzept einer Grenznorm im Anschluss an Kant
§ 26 Die Idee des Konsenses als Grenznorm
I. Subjektivität und Exteriorität
II. Annäherung und Vorbehalt
III. Konsens als Motiv
Kapitel 7: Ein hermeneutisches Konzept von Rationalität
§ 27 Von der Phänomenologie zur Hermeneutik
I. Eine Grundentscheidung
II. Der Ansatz der Hermeneutik
III. Aspekte einer hermeneutischen Theorie
§ 28 Zur Ambivalenz des Verstehens
I. Der hermeneutische Grundsatz
II. Der doppelte Boden des Verstehens
III. Verstehen und Fremdverstehen
IV. Die Leistung der Hermeneutik
§ 29 Der Mehrwert der Unbestimmtheit
I. Spuren negativer Theologie
II. Universalismus ohne Universalität
III. Das Positive der Unbestimmtheit
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Danksagung
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Das Einvernehmen: Grundriss einer phänomenologischen Konsenstheorie
 9783495998595, 9783495486641

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Peter Penner

Das Einvernehmen Grundriss einer phänomenologischen Konsenstheorie

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495998595

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Peter Penner Das Einvernehmen

ALBER PHILOSOPHIE

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https://doi.org/10.5771/9783495998595 .

Was ist die Grundlage für das Gelingen eines Gesprächs? Dieser Frage geht der Autor in seiner phänomenologischen Theorie des Konsenses nach. Den Ausgangspunkt für seine Antwort bildet eine Auffassung, der zufolge Subjektivität einen Mangelzustand darstellt, welchem durch Kommunikativität abgeholfen wird. Das Interesse des Autors gilt dabei dem kritischen Punkt, inwieweit es möglich ist, in einem solchen verständigungsorientierten Dialog die Äußerungen eines Anderen »treffen« zu können. Das heißt, die Idee des Konsenses wird als ein Einheitsprinzip zur dialogischen Verknüpfung von Äußerungen aufgefasst. Weil aber Übereinstimmung durch Verknüpfung dem individuellen Zugriff dauerhaft entzogen bleibt, entsteht Konsens als Einvernehmen aus einem Wechselspiel von Angebot und Ereignis, so lautet die zentrale These. Subjektivität bedarf deshalb einer Einstellung der Gelassenheit, welche neben die Einstellung der Gerichtetheit tritt und der Stimme des Anderen Raum gewährt. Eine solche Idee des Konsenses dient als universalistische Grenznorm von Verstehen und Verständigung, welche die eigene Sicht der Dinge durch die Einbeziehung anderer Sichtweisen zugleich entgrenzt und begrenzt.

Der Autor: Peter Penner, Jahrgang 1955, promovierte 1995 in Philosophie über Enrique Dussels Befreiungsethik.

https://doi.org/10.5771/9783495998595 .

Peter Penner

Das Einvernehmen Grundriss einer phänomenologischen Konsenstheorie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495998595 .

Die 1. Auflage erschien 2006 im IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation. 2. vollständig überarbeitete und deutlich erweiterte Auflage © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48664-1

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Die Freiheit, Sancho, ist eines der kostbarsten Geschenke, das der Himmel dem Menschen beschert hat, mit ihr können sich weder die Schätze vergleichen, die das Erdreich birgt, noch jene, die das Meer umschließt. Für die Freiheit kann und muss man ebenso wie für die Ehre sein Leben aufs Spiel setzen, die Gefangenschaft hingegen ist das größte Übel, das den Menschen befallen kann. Miguel Cervantes

Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. Johann Gottlieb Fichte

Denn erst wenn man nicht mehr bloße Worte macht, herrscht völlige Übereinstimmung. Diese Übereinstimmung wird aber nicht durch bloße Worte erzielt, und bloße Worte treffen die Übereinstimmung doch nie. Zhuangzi

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Inhalt

Kapitel 1: Der Dialog als Ort des Konsenses . . . . . . . . . . . . .

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§ 1 Kommensurabilität und Inkommensurabilität in Dialogen I. Das Unvernehmen . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Kraft der Bindung durch Sprache . . . . . . . III. Das Ungenügen des Pragmatismus . . . . . . . . IV. Anforderungen an eine Theorie der Kraft der Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . § 3 Der Zugang der Phänomenologie . . . . . . . . . . § 4 Zum Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 2: Konsenstheorien im Überblick . . § 5 Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . I. Das Programm einer Dialektik . . II. Konsens als Zusammenstimmung .

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§ 2 Vor dem Horizont der Individualität . . . . . . . I. Zur Geschichte der Individualität . . . . . . II. Selbstbewusstsein als Kern von Individualität III. Selbstbewusstsein und Kommunikativität . .

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. . . . III. Versöhnung des Idealen und des Realen . § 6 Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Programm einer Phänomenologie . II. Konsens als Einverständnis . . . . . . .

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III. Die Grenzen von Idealität und Normalität § 7 Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Programm einer Hermeneutik II. Konsens als Einverständnis . . . . III. Reflexion und Tradition . . . . . .

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Das Einvernehmen

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Inhalt

§ 8 Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Programm einer Universalpragmatik II. Konsens als Einverständnis . . . . . . . III. Recht und Grenze des Regelbegriffes . .

. . . . § 9 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eine Charakteristik der Positionen . . . . II. Ein bilanzierender Vergleich . . . . . . .

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III. Konsequenzen für den weiteren Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 3: Der Einspruch des Anderen . . . . . . . . . . . . § 10 Lyotards Minimalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Konzept einer kommunikativen Analytik . . . .

60 60 62 63 67 67 67

II. Zur Kritik des Konzepts einer kommunikativen Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas . . . . . . . . . . . I. Das Konzept einer heteronomen Subjektivität . . . II. Zur Kritik des Konzepts heteronomer Subjektivität .

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§ 12 Antwort und Antworten bei Waldenfels . . . . . . . . . . I. Das Konzept der Responsivität . . . . . . . . . . . II. Zur Kritik des Konzepts der Responsivität . . . . .

85 85 88

§ 13 Zur Notwendigkeit der Idee des Konsenses . . . . . . I. Utopische Subjektivität und Konsens . . . . . . II. Ricoeurs Modell der Subjektivität als Bezeugung III. Die Idee des Konsenses als ›Einheitsprinzip‹ eines Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 4: Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen § 14 Die Struktur des Einvernehmens . . . . . . . . . . I. Beobachtungen zum Dialog . . . . . . . . . . II. Der Ort des Konsenses . . . . . . . . . . . . III. Die These einer offerentiellen Konsenstheorie § 15 Der Inhalt der idealen Akzeptabilität . . . . . . . . I. Die Anerkennung aller Anderen . . . . . . . II. Die Anerkennung jedes beliebigen Anderen . III. Die Anerkennung des Anderen als Achtung . .

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Peter Penner

https://doi.org/10.5771/9783495998595 .

Inhalt

§ 16 Die Form des Motivs . . . . . . . . . . I. Motiv statt Regel . . . . . . . . . II. Wechselseitigkeit in Verschränkung III. Das Moment der Gelassenheit . .

. . . . § 17 Die Funktion der regulativen Idee . . . . .

. . . . . I. Die Disposition der Aufmerksamkeit .

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. . . . . . II. Ein affirmativer Horizont von Rationalität . III. Der Status einer regulativen Idee . . . . . . § 18 Das Ziel der Selbstbegrenzung . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . I. Konsequenzen aus dem Status der regulativen Idee . II. Geschuldete Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . III. Selbstverständigung durch Selbstbegrenzung . . . .

Kapitel 5: Der Modus idealer Akzeptabilität . . . . § 19 Zum Begriff der Aktivität . . . . . . . . . . . . I. Die Frage nach der idealen Akzeptabilität . II. Der Ort in der Subjektivität . . . . . . . .

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III. Zur Kritik der Vorstellung von der Aktivität als Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20 Ein philosophiegeschichtlicher Exkurs zu Meister Eckhart I. Das Thema der Gottesgeburt . . . . . . . . . . . II. Die Hochschule der Gelassenheit . . . . . . . . . III. Das philosophische Konzept . . . . . . . . . . . . IV. Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 21 Ereignis und Akt . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff des Ereignisses bei Heidegger II. Der Begriff des Ereignisses bei Levinas . III. Der Eckstein der Abhängigkeit . . . . . § 22 Die Struktur der idealen Akzeptabilität . . . . I. Der Aufriss der idealen Akzeptabilität . II. Der Impuls der Resignativität . . . . . . III. Die Logik der reziproken Akzeptanz . .

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§ 23 Ideale Akzeptabilität als Verschränkung . . . . I. Notwendigkeit der Übereinstimmung eines Zusammenpassens . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anknüpfung als passive Synthesis . . . . . . . . . III. Ereignis als Verkreuzung . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

IV. Übereinstimmung als Verschränkung . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 6: Der Status einer Grenznorm . . . . § 24 Normativität als Kraft der Bindung . . . . I. Die Fragestellung . . . . . . . . . . II. Die Basis der Kommunikativität . . III. Der Anspruch der Normativität . . . IV. Rationalität als situierte Vernunft . . § 25 Zum Begriff einer Grenznorm . . . . . . . I. Welt der Ordnungen . . . . . . . . II. Das Wesen der Grenze . . . . . . .

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III. Das Konzept einer Grenznorm im Anschluss an Kant

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Kapitel 7: Ein hermeneutisches Konzept von Rationalität § 27 Von der Phänomenologie zur Hermeneutik . . . . . I. Eine Grundentscheidung . . . . . . . . . . . II. Der Ansatz der Hermeneutik . . . . . . . . . III. Aspekte einer hermeneutischen Theorie . . . § 28 Zur Ambivalenz des Verstehens . . . . . . . . . . . I. Der hermeneutische Grundsatz . . . . . . . . II. Der doppelte Boden des Verstehens . . . . . . III. Verstehen und Fremdverstehen . . . . . . . . IV. Die Leistung der Hermeneutik . . . . . . . . § 29 Der Mehrwert der Unbestimmtheit . . . . . . . . . I. Spuren negativer Theologie . . . . . . . . . . II. Universalismus ohne Universalität . . . . . . III. Das Positive der Unbestimmtheit . . . . . . .

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§ 26 Die Idee des Konsenses als Grenznorm I. Subjektivität und Exteriorität . . II. Annäherung und Vorbehalt . . . III. Konsens als Motiv . . . . . . .

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 10

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Kapitel 1: Der Dialog als Ort des Konsenses

Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen. Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. Bertolt Brecht

§ 1 Kommensurabilität und Inkommensurabilität in Dialogen I.

Das Unvernehmen

Unvernehmen entsteht, wenn Vernehmen fehlgeht. »Unter Unvernehmen wird man einen bestimmten Typus einer Sprechsituation verstehen: jene, bei der einer der Gesprächsteilnehmer gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, was der andere sagt. Das Unvernehmen ist nicht der Konflikt zwischen dem, der weiß und jenem, der schwarz sagt. Es ist der Konflikt zwischen dem, der ›weiß‹ sagt und jenem, der auch ›weiß‹ sagt, der aber keineswegs dasselbe darunter versteht bzw. nicht versteht, dass der andere dasselbe unter dem Namen der Weiße sagt.« (Rancière 2002, S. 9 f.)

Nach Jacques Rancière unterscheidet sich das Fehlgehen, das im Unvernehmen stattfindet, sowohl vom Verkennen wie vom Missverständnis. Beim Verkennen weiß der eine Gesprächsteilnehmer nicht, was er selbst oder sein Gegenüber sagt. Im Falle eines Missverständnisses beruht das Scheitern des Gesprächs auf der Ungenauigkeit der Worte oder auf der Ungenauigkeit im Gebrauch der Worte. Der Fall des Unvernehmens dagegen ist anders gelagert. Die Gesprächsteilnehmer wissen, was sie selbst sagen und was die anderen sagen. Auch befleißigen sie sich der Genauigkeit im Gebrauch der Sprache. Dennoch scheitert das Gespräch auf eine bestimmte Art und Weise. »Die Fälle des Unvernehmens sind jene, bei denen der Streit darüber, was Sprechen A

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1 · Der Dialog als Ort des Konsenses

heißt, die Rationalität der Sprechsituation selbst ausmacht.« (ebd., S. 10) Das heißt, im Fall eines Unvernehmens geht es darum, dass ein Gespräch scheitert, weil es einen Streit darüber gibt, wie die Vernunft aussehen sollte, welche im Gespräch anzuwenden wäre. Dieser Streit um die ›Rationalität der Sprechsituation‹ oder um die Rationalität des Gesprächs beinhaltet eine Auseinandersetzung um verschiedene Aspekte, die alle nicht inhaltlicher Art und im Gespräch auf eine indirekte Art und Weise präsent sind. »Das Problem ist nämlich die Frage, ob die Subjekte, die im Gespräch gewählt werden, ›sind‹ oder ›nicht sind‹, ob sie sprechen oder Lärm machen. Es ist die Frage, ob es einen Grund gibt, den Gegenstand zu sehen, den sie als sichtbaren Gegenstand des Konflikts bezeichnen. Es ist die Frage, ob die gemeinsame Sprache, in der sie das Unrecht aufzeigen, wirklich eine gemeinsame Sprache ist. Der Streit beruht nicht auf Inhalten der Sprache, die mehr oder weniger durchsichtig oder undurchsichtig wären. Er beruht auf der Bedeutung der sprechenden Wesen als solche.« (ebd., S. 62)

Ontologisch ausgedrückt: Strittig sind im Unvernehmen nicht nur bestimmte Seiende, sondern strittig ist das Sein dieser Seienden. Das heißt, in aller Diskursivität, so wie wir sie kennen, liegt eine grundlegende Inkommensurabilität vor. Der Streit um die Vernünftigkeit eines Gesprächs, wie er im Unvernehmen stattfindet, dreht sich demzufolge um Aspekte, die in einen Bereich gehören, den man als den Hintergrund oder den Horizont eines Gesprächs bezeichnen könnte. Letztlich geht es in all diesen Aspekten um das Problem der ›Bedeutung der sprechenden Wesen als solchen‹, wie es Rancière ausdrückt. Anders gesagt, es geht um das Problem der gegenseitigen Anerkennung der Gesprächsteilnehmer, von denen jeweils eine vorbehaltlose Anerkennung der Anderen als andere gefordert wäre. Rancière selbst unterstellt jedenfalls einen solchen Hintergrund, welcher einen Rahmen liefert, von dem her und auf den hin sich der Konflikt eines Unvernehmens entfalten kann. Sein Interesse läuft darauf hinaus, aus der Einsicht in das Unvernehmen einen Begriff von Politik als Modus des Austragens eines Konflikts zu gewinnen. »Das Unvernehmen, das dazu bestimmt ist, das (Ein-)Vernehmen in die Tat umzusetzen, besteht darin, zu bejahen, dass die Einschreibung der Gleichheit in der Form der ›Gleichheit der Menschen und Bürger‹ vor

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§ 1 Kommensurabilität und Inkommensurabilität in Dialogen

dem Gesetz eine Sphäre der Gemeinschaft und Öffentlichkeit definiert, die die ›Angelegenheiten‹ der Arbeit mit einschließt, und den Raum ihrer Ausübung als für die öffentliche Diskussion zwischen spezifischen Subjekten relevant bestimmt.« (ebd., S. 63)

Der Rahmen, von dem her und auf den hin sich ein solches Unvernehmen entfalten kann, ist ein Einvernehmen. Anders ausgedrückt, Unvernehmen setzt immer schon Einvernehmen voraus. Wenn ein Unvernehmen den affirmativen Horizont eines Einvernehmens voraussetzt, muss dieser allerdings so weit gefasst sein, dass er nicht nur den Konflikt zwischen Seienden um Seiendes, sondern auch den Konflikt zwischen Seienden um das Sein umfassen kann. Rancières Setzung des affirmativen Horizonts eines Einvernehmens überschreitet damit die engen Grenzen eines Konsensbegriffes, welcher die Auseinandersetzung um das Sein der Gesprächsteilnehmer unterschlägt. »Die herrschende Idylle sieht darin [erg.: in der konsensuellen Demokratie] die vernünftige Übereinkunft von Individuen und von gesellschaftlichen Gruppen, die verstanden hätten, dass die Kenntnis des Möglichen und die Diskussion zwischen Partnern für jede Partei Weisen sind, den besten Anteil zu erhalten, den die Objektivität der Gegebenheiten der Situation ihr zu hoffen erlaubt, und die dem Konflikt vorzuziehen ist.« (ebd., S. 112)

Davon grundsätzlich unterschieden ginge es im Begriff des Einvernehmens um ein Vernehmen, in dem und mit dem die Gleichheit von Individuen glücken könnte. Ein solches Vernehmen nähme Bezug auf die Unterschiedlichkeit der Seienden und die Unterschiedlichkeit ihres Seins. Nicht die Rationalität einer Sprechsituation wäre dem Vernehmen, vielmehr wäre das Vernehmen der Rationalität einer Sprechsituation vorgeordnet. Dennoch wäre das Einvernehmen als affirmativer Horizont solchen Vernehmens als Version eines Konsensbegriffes zu bezeichnen, weil auch ein solches Einvernehmen eine Form gesprächsweiser Einigung darstellte.

II.

Die Kraft der Bindung durch Sprache

Eine Theorie des Konsenses wird mit der Frage nach der Kraft der Bindung einsetzen, wie sie in den von Rancière so genannten Sprechsituationen als wirksam vorliegend angenommen wird. Sprechsituationen A

Das Einvernehmen

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1 · Der Dialog als Ort des Konsenses

sind Situationen, in denen ein Gespräch stattfindet. Solche Sprechsituationen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Sprechhandlungen stattfinden. Das heißt, Gespräche werden nicht nur als ein wie immer gearteter Austausch von Informationen aufgefasst, sondern als Handlungen. Es wird nicht nur über etwas gesprochen, sondern indem gesprochen wird, wird etwas getan. Weil Gespräche Sprechhandlungen sind, stellen sie als Handlungen immer auch Formen kommunikativen Handelns in einem allgemeinen Sinne dar. Das bedeutet aber, dass mit der Frage nach der Kraft der Bindung in Sprechsituationen zugleich die Frage nach der Kraft der Bindung kommunikativen Handelns und weitergehend die Frage nach der Kraft der Bindung in gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt gestellt ist. Die Einsicht, dass es eine Kraft solcher Bindungen gibt, scheint von vielfältigen Erfahrungen her gedeckt zu sein. Wir alle verlassen uns im Alltag auf das, was wir verabreden. Wir machen Versprechungen, wir geben Zusagen, wir halten Zusagen ein. Wenn jemand aber ein gegebenes Versprechen nicht hält, wenn Verabredungen unterlaufen werden, wenn gegebene Zusagen im Nachhinein bestritten werden, dann zeigen wir uns empört. Dann protestieren wir und bestehen auf einer Korrektur, auf einem Ausgleich oder auf einer Strafe. Und wenn wir selbst diejenigen sind, die ein gegebenes Versprechen nicht halten, dann empfinden wir vielleicht Reue oder Scham. Das Phänomen der Bindung scheint ein grundlegender Bestandteil kommunikativen Handelns zu sein. Es leistet genau das, was wir im Anschluss an Jean-François Lyotard als das Problem der Verkettung benennen können. Die Frage nach der Kraft der Bindung im kommunikativen Handeln wird von Lyotard (Lyotard 1989a) in die Form der Frage gefasst, wie ein Gespräch entsteht und wie es funktioniert. Wie ist es möglich, dass die Äußerung eines Gesprächsteilnehmers sinnvoll Anschluss an eine andere Äußerung finden und auf diese Weise aus dem fortgesetzten Anschließen ein Gespräch entstehen kann? In der Frage nach der Möglichkeit des Verkettens von Äußerungen im Gespräch geht es um die Frage nach der Kraft der Bindung, wie sie kommunikativem Handeln zugrunde liegt. Wie müssen wir uns diese Kraft der Bindung vorstellen? Ist diese Kraft der Bindung einfach etwas, was sich ereignet, was sozusagen naturwüchsig zum kommunikativen Handeln dazugehört? Oder ist die Kraft der Bindung nicht vielmehr etwas, was gerade im schlichten Funktionieren kommunikativen Handelns einerseits zwar vorausgesetzt wird, dieses aber andererseits immer schon über14

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§ 1 Kommensurabilität und Inkommensurabilität in Dialogen

steigt? Warum sind wir über Verletzungen von Verabredungen und Zusagen, von Vertrauen und Genauigkeit so empört? Sind solche Verletzungen nur simple Fehler in der Funktionsweise kommunikativen Handelns, oder machen wir zu Recht einen Unterschied zwischen dem Empfinden, dass eine Handlung für uns unangenehm ist, und dem Empfinden, dass eine Handlung uns in unserem Anspruch auf Gerechtigkeit verletzt? Allgemein gefragt: Gibt es nur eine Normalität kommunikativen Handelns, oder gibt es nicht auch eine Normativität kommunikativen Handelns? Ich möchte die Auffassung vertreten, dass es der Voraussetzung von Normativität bedarf, damit solche Sprechsituationen wie die eines Unvernehmens in ihrer Problemstellung überhaupt verständlich werden können. Ohne das Erheben von Ansprüchen, ohne das Fehlgehen in der Interpretation dieser Ansprüche kann es so etwas wie ein Unvernehmen überhaupt nicht geben. Denn ein Unvernehmen beruht ganz elementar darauf, dass die ›Bedeutung der sprechenden Wesen als solchen‹ strittig ist. Sowohl die Einsicht in den Konflikt als auch die Bearbeitung des Konflikts schließen die Beantwortung solcher Fragen mit ein wie: Welche Ansprüche werden von den Gesprächsteilnehmern erhoben? Inwiefern stehen diese Ansprüche in Widerspruch zueinander? Welche Ansprüche verdienen Anerkennung? Das in der Kraft der Bindung wirkende Phänomen der Normativität gehört zu den Grundvoraussetzungen kommunikativen Handelns und damit auch zu den Grundvoraussetzungen von Sprache.

III. Das Ungenügen des Pragmatismus Dass wir Sprache über ihren Gebrauch verstehen gelernt haben, ist das Verdienst von Wittgensteins sprachtheoretischem Ansatz, wie er in den Philosophischen Untersuchungen vorliegt. Wittgenstein interpretiert Äußerungen als Sprachspiele. Die Rede von den Sprachspielen »soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform« (Wittgenstein 1993, S. 26). Diesem Ansatz folgend formuliert Wittgenstein das entscheidende Prinzip: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« (ebd., S. 40) Wittgensteins Pointe liegt darin, den Gebrauch der Sprache auf die in diesem Gebrauch befolgten Regeln hin zu untersuchen. Regeln und Übereinstimmung sind »miteinander verwandt« (ebd., S. 141). A

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Das heißt, dass es so etwas gibt wie einen Zielpunkt eines Sprachspieles, den Wittgenstein auch als »Witz« (ebd., S. 243) eines Spiels deutet. Von diesem Zielpunkt her sind die Regeln zu lesen, welche es ermöglichen, dass wir Sprachspiele, Äußerungen oder Sätze als zueinander passend interpretieren. Das Recht des Wittgensteinschen Pragmatismus besteht darin, die Notwendigkeit eines umfassenden Verständnisses dessen, was es heißt, dass ein Gespräch gelingt, ins Bewusstsein gehoben zu haben. Wahrheit findet sich im Gebrauch, sie findet sich in der Praxis. Wahrheit hat deshalb immer auch etwas mit Wahrmachen zu tun. Wahrheit erfordert unseren Einsatz. Ein solches Verständnis von Wahrheit ist immer mit Temporalität und Historizität behaftet. Wahrheit setzt dann eine Selbstbeschreibung voraus, ohne welche die Wahrheit nicht einmal in den Blick kommen würde. Das heißt, das im Gespräch beteiligte und sich ausdrückende Subjekt wird als Mitspieler aufgefasst, ohne welches es weder Äußerungen als Sprachspiele noch ein Verständnis dieser Äußerungen als Sprachspiele geben kann. Anders ausgedrückt, es geht um nichts weniger als um die Entdeckung der Bedeutung einer Teilnehmerperspektive. Das ist die eine Seite des Pragmatismus. Die andere Seite des Pragmatismus zeigt sich beispielsweise in Rortys Epistemologie (Rorty 2001). Selbstverständlich ist dessen Betonung der Konvention als Chance der pluralistischen Vielfalt nach der dogmatischen Einfalt lobenswert, aber der Konventionalismus hat auch seine Tücken. Denn wenn das Lob des Konventionalismus die Preisgabe eines unbedingten Zieles als solchem beinhaltet, wie beurteilen wir dann, was Übereinstimmung sein könnte oder warum überhaupt eine Auseinandersetzung um so etwas wie Übereinstimmung entstehen könnte? Ebenso prägnant scheint das Ungenügen des Pragmatismus in Brandoms Ansatz auf. Brandom bietet mit seiner inferentialistischen Theorie den Normalfall einer pragmatischen Gesprächstheorie. Der entscheidende Punkt ist in der Weichenstellung ganz zu Beginn seines Ansatzes verborgen. Brandom geht von dem romantischen Verständnis des Geistes als Lampe aus. In diesem Expressivismus, welcher hierin Herders Auffassung folgt, verhält es sich so, dass Sprache einen Prozess darstellt, »durch den Inneres zu Äußerem wird, wenn ein Gefühl durch eine Geste ausgedrückt wird.« (Brandom 2001, S. 18) Brandom deutet diesen Prozess eines Sich-Ausdrückens als »ein Explizitmachen des Impliziten« (ebd., S. 18). Damit verkürzt er aber in seinem Modell 16

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den Expressivismus auf die Frage, inwieweit wir aus dem vorliegenden Kern eines Satzes mit den Regeln des schlußfolgernden Denkens des Inferentialismus ein uns Verständliches erschließen können. Der Rahmen der Interpretation ist Brandom zufolge immer schon gesetzt »durch das, was wir sagen können« (ebd., S. 19). Damit aber wird der Prozess der Interpretation begrenzt durch das immer schon vorhandene Vermögen an Regelverständnis. Letztlich würde dieser Ansatz bedeuten, dass ein Subjekt nur das sagen könnte, was ihm die Objektivität seiner Lebensform oder Gesellschaft erlauben würde. Demgegenüber ist mit aller Entschiedenheit daran festzuhalten, dass gerade ein gelingendes Gespräch so etwas erfordert wie eine Gemeinsamkeit als Verknüpfung oder Anknüpfung von Fall zu Fall. Es geht um eine schrittweise Annäherung, welche mit allem Möglichen und Unmöglichen rechnen muss. Das Ziel der Annäherung ist auf irgendeine Art und Weise Resultat einer spezifischen Einigung, welche sich von Äußerung zu Äußerung vollzieht und die nichts weiter voraussetzt als das Motiv zur Einigung.

IV. Anforderungen an eine Theorie der Kraft der Bindung Von welcher Art aber ist die im kommunikativen Handeln vorausgesetzte Normativität? Wie gestaltet sich ihr Verhältnis zur Normalität? Welche Konsequenzen besitzt ein bestimmtes Konzept von Normativität für den Begriff des kommunikativen Handelns und des Gesprächs? Jürgen Habermas beispielsweise hat auf die Frage nach der Normativität als der im kommunikativen Handeln wirksamen Kraft der Bindung eine Antwort gegeben, die das Problem folgendermaßen umreißt: »Die Kraft der Bindung erwächst aus der Allgemeinheit des zugrundeliegenden Interesses.« (Habermas 1988, Bd. II, S. 124) Die Kraft der Bindung entsteht demzufolge aus dem subjektiven Impuls eines Gesprächsteilnehmers, wenn dieser subjektive Impuls eines Interesses die Bedingung der Allgemeinheit erfüllt. Negativ abgrenzend gesehen bedeutet das, dass Allgemeinheit heißt, es geht nicht nur um ein subjektives Interesse, oder anders gesagt, es geht um mehr als ein subjektives Interesse. Positiv gewendet bedeutet dies, dass zu dem subjektiven Interesse ein übersteigendes Moment dazukommt, welches derart gedacht werden muss, dass es das Subjekt und den Anderen, seinen Gesprächspartner, umgreift und von hier aus jeden weiteren A

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beteiligten und betroffenen Anderen. Das heißt zum einen, dass die Kraft der Bindung an die Instanz einer wie immer gearteten Subjektivität gekoppelt ist. Es heißt zum anderen auch, dass sich die Kraft der Bindung nicht nur allein aus dieser Subjektivität speisen kann, sondern auf etwas verwiesen ist, was sich jenseits der Subjektivität befindet und was die Subjektivität überschreitet. Es geht um die Bedingungen der Möglichkeit des Gelingens von kommunikativem Handeln, wie es sich in Dialogen artikuliert. Gesucht ist ein affirmatives Gegenstück zum Unvernehmen, anders ausgedrückt, es geht um die Grundlegung eines Konsensbegriffes.

§ 2 Vor dem Horizont der Individualität I.

Zur Geschichte der Individualität

Dass die Wurzeln neuzeitlicher Subjektivität in der mittelalterlichen Philosophie zu suchen seien, ist eine durchaus gängige und nicht weiter überraschende These (vgl. dazu: Kobusch 2006). Kurt Flasch zufolge ist eine dieser Wurzeln der Entdeckung neuzeitlicher Subjektivität in der Quaestio parisiensis von Meister Eckhart zu finden. Eckharts zentrale These lautet, »daß ich nicht mehr der Meinung bin, daß Gott erkennt, weil er ist; sondern weil er erkennt, deshalb ist er, in der Weise, daß Gott Intellekt und Erkennen ist und das Erkennen selbst die Grundlage seines Seins ist.« (Meister Eckhart 1993, II S. 543; vgl. S. 874 den Hinweis auf Flasch) Die Entdeckung neuzeitlicher Subjektivität beruht demzufolge auf einer Umstellung der Prioritäten in den Ordnungen von Sein und Erkennen. Der scholastische Grundsatz »operari sequitur esse« wird umgekehrt in ein »esse sequitur operari«, also in einen »Vorrang des Handelns vor dem Sein« (vgl. dazu: Marquardt 1985, S. 19) Ihre Fortsetzung findet diese Linie neuzeitlicher Philosophie im Cogito von Descartes, einem Ansatz, gemäß welchem das Subjekt zum Grund der Einsichtigkeit von Welt wird (Frank 2012, S. 38). Zu einem gewissen theoretischen Abschluss gelangt diese Sichtweise in Hegels Forderung, »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken« (Hegel 1980, S. 23) Es ist das zentrale Anliegen dieser Traditionslinie, Subjektivität als Aktivität zu denken. Einer der Schlüsselbegriffe dieser Reflexionen zur Subjektivität, 18

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§ 2 Vor dem Horizont der Individualität

wenn nicht ihr wichtigster, lautet Freiheit. Freiheit gilt traditionell als dasjenige Merkmal, welches den Unterschied zwischen Mensch und Tier bezeichnet. Das Problem mit der Freiheit liegt darin, dass unsere Erfahrungen im Umgang mit der Freiheit widersprüchlich sind. In seinem Kommentar zu den 1772 in deutscher Übersetzung erschienenen ›Grundsätzen der Moralphilosophie‹ von Adam Ferguson hat Christian Garve diese einander widerstreitenden Erfahrungen, die er Empfindungen nennt, eindrücklich geschildert. »Dieß ist nun eben die Schwierigkeit. Die eine Empfindung sagt mir: ich handle nach Vorstellungen; und eben darin besteht meine Tugend, daß ich durch die Vorstellungen des Guten angetrieben wurde es zu bewirken. Die menschliche Natur weiß von keiner andern Entstehung der Begierden, und die Natur der Tugend läßt keine andre zu. Denn eine gute, d. h. eine nützliche Handlung, wenn sie nicht grade um der Bewegungsgründe dieses Nutzens willen geschieht, ist nicht mehr Tugend. Eine andre Empfindung sagt mir: ich bin selbst der Urheber meiner Handlungen; und ich bin nur insofern tugendhaft, als ich Urheber des Guten bin was ich tue. Ich bin aber nur Urheber, wenn meine Handlung von nichts außer mir abhängt; also auch von meinen eigenen Vorstellungen nicht, denn diese hängen zuletzt selbst von Dingen außer mir ab.« (Garve 2000, S. 294; vgl. dazu: Safranski 2004, S. 74 f.)

Wenn also unsere Handlungen von Vorstellungen angeleitet werden, dann unterliegen wir der Kausalität. Wenn aber unsere Handlungen aus unserer Initiative hervorgehen, dann machen wir ein Vermögen an Spontaneität geltend. Garve bringt diesen Widerspruch auf die Formel: »Ich weiß nicht wie ich frey bin, aber ich weiß, wie ich vollkommen seyn soll.« (Garve 2000, S. 298) Es ist dieser Widerspruch in unseren Auffassungen von der Freiheit, den Kant später in der dritten Antinomie der reinen Vernunft (Kant KrV, B 472 ff.) ausformuliert hat. Der Konflikt zwischen Kausalität und Spontaneität im Begriff der Freiheit scheint nicht entscheidbar zu sein. Aber gerade im Ausgang von der Unentscheidbarkeit dieses Konflikts hat Sartre die Verschiebung des Problems auf einer anderen Ebene nachgezeichnet. Für Sartre sind wir Menschen »eine Freiheit, die wählt, aber wir wählen nicht, frei zu sein« (Sartre 1991, S. 838). Sartre zieht aus dieser Einsicht die Konsequenz, »daß der Mensch dazu verurteilt, frei zu sein, das Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern trägt: er ist für die Welt und für sich selbst als Seinsweise verantwortlich« (ebd., S. 950). Die Pointe dieser AuffasA

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sung liegt darin, dass in einer solchen Perspektive alle Ereignisse, die mir zustoßen, zu Gelegenheiten und Chancen werden. Indem ich jedes Ereignis als Moment an und in meinem Projekt auffasse, realisiere ich meine Verantwortlichkeit und gewinne in und mit der Ausübung den Handlungsspielraum, der unter dem Begriff Freiheit angezeigt wurde. Mit der Freiheit verhält es sich demzufolge wie mit einer Münze. Sie besitzt eine Vorder- und eine Rückseite, welche unauflösbar zusammengehören. Negativ gesehen lässt sich Freiheit bestimmen als Abwesenheit jedweder vorgegebenen Ordnung. Positiv genommen bedeutet Freiheit dann die Bejahung von Individualität. Als erster erhob Kierkegaard Einspruch gegen die durch Hegel inspirierte Bevorzugung des Allgemeinen und betonte das Recht des Besonderen und Konkreten in der menschlichen Existenz. Man könnte das Spezifische der Philosophie Kierkegaards als die Entdeckung der Teilnehmerperspektive bezeichnen, wenn nicht das Pathos seiner Philosophie diesen nüchternen Ausdruck weit hinter sich lassen würde. Denn Kierkegaard sieht Leidenschaft als das besondere Moment an, aus dem heraus ein Subjekt seinen Weg wählt. Die Unterscheidung von Subjektivität und Individualität wurde weiter in dieser Form erstmalig von Schleiermacher getroffen. Das Besondere, welches das Individuelle darstellt, ist sowohl mehr als das Besondere eines Allgemeinen als auch mehr als eine spezifische Entität in Raum und Zeit. Es geht um die Differenz der Individualität zur Subjektivität und zur Personalität. Das Besondere der Individualität ist nicht nur als Unterfall des Allgemeinen einer Subjektivität anzusehen, sondern das Besondere der Individualität besitzt eine ganz eigene Qualität (Frank 2012, S. 51; S. 298), welche darin liegt, dass sich das Ich als Ich in einem zweifachen Verhältnis ausbildet. Die erste Unterscheidung bezieht sich auf das Verhältnis des Ich zur Welt, die zweite Unterscheidung auf das Verhältnis des Ich zum Ich selbst. Die unhintergehbare Leistung des Ich besteht in seiner Fähigkeit zur Schaffung einer neuen symbolischen Ordnung, das heißt im Prozess der Deutung seiner selbst und der Welt. Mit dem Begriff der Individualität ist ein Basiswert der modernen Welt angesprochen, dessen Eigenart Charles Taylor im Rückgriff auf seine Entstehung in der Zeit der Romantik heraus präpariert hat: »Der Begriff des Unterschieds zwischen den Individuen ist als solcher natürlich nichts Neues. Nichts ist einleuchtender oder banaler. Neu ist dagegen die Vorstellung, daß das wirklich einen Unterschied ausmacht im Hinblick darauf, wie wir leben sollten. Solche Unterschiede sind

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nicht bloß belanglose Variationen ein und derselben menschlichen Grundnatur bzw. moralische Verschiedenheiten zwischen guten und bösen Individuen, sondern sie ziehen die Konsequenz nach sich, dass jeder von uns seinen eigenen Weg hat, den er gehen soll. Die Unterschiede erlegen jedem von uns die Pflicht auf, der eigenen Originalität im Leben gerecht zu werden. Herder formuliert diese Vorstellung mit einem vielsagenden Bild: ›Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam seine eigene Stimme aller seiner sinnlichen Gefühle zueinander.‹ Jeder muß mit einem ganz anderen Maßstab gemessen werden; mit einem Maßstab, der ihm ganz und gar entspricht.« (Taylor 1994, S. 653 f.)

In dieser Auffassung von Individualität geht es also nicht nur um die Benennung irgendwelcher Unterschiede zwischen Personen, so wichtig diese sein mögen. Vielmehr geht es ganz zentral um das Vermögen einer Person, für sich selbst und durch sich selbst ein eigenes Projekt zu entwickeln, in welchem die spezifischen Wertvorstellungen dieser Person zu einem angemessenen Ausdruck finden.

II.

Selbstbewusstsein als Kern von Individualität

Diese Einsicht lässt sich auch so ausdrücken, dass der Begriff der Individualität nicht nur so etwas wie eine ›gesonderte Existenz‹ einer Person, sondern auch deren ›besondere Eigenart‹ bezeichnet. Als gesonderte Existenz ist eine Person ein in Raum und Zeit identifizierbares Seiendes. Deren besondere Eigenart erschließt sich aber erst im Rückgriff auf die Unmittelbarkeit ihres Selbstbewusstseins. »Die Person ist also nicht bloß eine raum-zeitliche Entität, der man salva veritate, ohne Rücksicht auf die wechselnde Sprecherperspektive, psychische Prädikate zuschreiben könnte. Die ›er‹-Perspektive wird im Gegenteil erst unter der Bedingung einsichtig, dass die Personalität zweier in einem Gesprächszusammenhang aneinander verwiesener Individuen zuvor von beiden Partnern durch eine Vertrautheit-mit-sich beglaubigt wurde; und eine solche Vertrautheit bekundet sich authentisch allein im Subjektgebrauch von ›ich‹ ; sie kann durch keinen Blick von außen ersetzt werden.« (Frank 1986, S. 97)

Dass Subjektivität als Selbstverhältnis immer schon so etwas wie ein Selbstbewusstsein aufweist, ist Fichtes unüberholbare Einsicht, welche er zusammenfassend folgendermaßen darbietet:

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»Daß ich mir überhaupt etwas bewust werden kann, davon liegt der Grund in mir, nicht in den Dingen. Ich bin mir Etwas bewust; das einzige unmittelbare, deßen ich mir bewust bin, bin ich selbst; alles andre macht die Bedingungen meines Selbstbewustseins aus.« (Fichte 1994, S. 101)

Bewusstsein von etwas ist deshalb immer auch Selbstbewusstsein (Frank 2012, S. 33 f.). Ein schönes Beispiel für die Entdeckung einer solchen Vertrautheit-mit-sich bietet die Geschichte von Ernst Mach, die Manfred Frank verschiedentlich anführt: »Als er einmal in einen Wiener Bus einstieg, sah er im gleichen Rhythmus auf der anderen Seite einen Mann einsteigen, von dem er dachte: ›Was ist das für ein herabgebrachter Schulmann!‹ – nicht wissend, dass er auf sich selbst Bezug nahm, weil er den Spiegel nicht gesehen hatte.« (Frank 1997, S. 726 f.) Selbstbewusstsein heißt eben nicht nur ein Bewusstsein von sich selbst zu haben wie von einem Objekt. Vielmehr meint die Rede von Selbstbewusstsein, dass ich ein Bewusstsein von mir selbst als meiner selbst habe. In einer solchen mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Person lassen sich zwei Momente unterscheiden. Zum einen geht es um die Selbstheit einer Person im Sinne ihrer Ipseität, zum anderen um die Selbigkeit einer Person im Sinne ihrer Identität (vgl. Ricoeur 1996, S. 11 f.). Während der Begriff der Identität auf das Konstante in den unterschiedlichen Beziehungen einer Person abstellt, also darauf, wodurch sich diese Person immer als dieselbe Person erfährt, wird in dem Begriff der Ipseität das Moment der unmittelbaren Vertrautheit einer Person mit sich selbst gefasst. Es geht um eine Art präreflexives Selbstbewusstsein, welches Novalis als »Selbstgefühl« (Frank 2002, S. 39 f.) im Sinne einer Existenz-Erfahrung bezeichnet hat. Ein solches Selbstgefühl bietet »ein ungegenständliches und der Reflexion zuvorkommendes Gefühl von sich, von seiner rein zuständlichen Subjektivität« (ebd., S. 255). Im Selbstbewusstsein gelangt die Ipseität zu ihrer Identität, wenn sie ein Bewusstsein von sich selbst als sich selbst entwickelt. Die Ipseität gewinnt damit »ein Bewusstsein des Seins (im Sinne des Bewusstseins seiner eigenen und der Existenz überhaupt)« (ebd., S. 255). Man könnte auch sagen, dass der Ausdruck der Ipseität die Subjektivität als Zustand beschreibt, während der Ausdruck der Identität die Subjektivität als Gegenstand fasst. Ipseität und Identität, Selbstheit und Selbigkeit, Zuständlichkeit und Gegenständlichkeit von Subjektivität stehen in einem spannungsgeladenen Verhältnis zueinander. Einerseits sind beide Momente unverzichtbar aufeinander 22

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bezogen, um die Struktur von Selbstbewusstsein zu erschließen. Andererseits gilt aber auch, dass die beiden Momente notwendig voneinander getrennt sind. Sie fallen niemals einfach zusammen. Jeder Person ist ein spezifischer Kern zu eigen, der aller Reflexion vorausliegt, so wie umgekehrt sich eine Person in der Reflexion ihrer eigenen Existenz vergewissert.

III. Selbstbewusstsein und Kommunikativität Was ist das entscheidende Moment an der Bestimmung des Selbstbewusstseins als Selbstgefühl? Das Problem des Selbstbewusstseins als Selbstgefühl lautet: »[…] sowie es sich als das, was es ist, erfaßt, ist es schon gezeichnet von der Spur einer Verspätung gegenüber dem, wovon es sich – durch sein unverzügliches Bestimmtsein – geprägt, d. h. ›abhängig‹ fühlt. Es ist, sobald es die Augen aufschlägt, schon um seine Selbstgegenwärtigkeit gebracht und kommt nicht länger mehr in Betracht als Ort einer übergeschichtlich sich präsenten Wahrheit, die alle Tatsachen der Welt in sich enthielte und in deduktiven Schritten freigäbe.« (Frank 1986, S. 118)

Die Theorie von der Verspätung des Selbstbewusstseins führt Manfred Frank auf Schleiermacher zurück. Nach Schleiermacher nimmt die Erfahrung der Verspätung des Selbstbewusstseins in einer Person selbst das Bewusstsein von einem Mangel an, welcher in einer religiösen Einstellung als »schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl« (Schleiermacher 1999, S. 28) beschrieben werden kann. Die Einheit des Selbstbewusstseins ist also ein negatives Bewusstsein in dem Sinne: Es fehlt etwas. Das Bewusstsein eines solchen Mangels beruht darauf, dass im Selbstbewusstsein Ideal- und Realgrund auseinandertreten. »Das Selbst ist Grund seines Sich-Erkennens, aber nicht Grund seines Seins.« (Frank 1991, S. 500) Das bedeutet, dass die Verspätung des Selbstbewusstseins gegenüber sich selbst, also seine Differenz von Ipseität und Identität, konstitutiv ist für die Selbsterfahrung von Subjektivität. Im Terminus des Selbstgefühls wird Subjektivität auf eine Weise ausgelegt, welche sich in drei Stufen entfaltet. Erstens wird zwischen der Subjektivität als Zustand und der Subjektivität als Gegenstand unterschieden. Subjektivität ist neben ihrer Gegenständlichkeit immer auch eine Größe, welche als Quelle einer unhintergehbaren Individualität in Erscheinung tritt. Zweitens artikuliert sich die Individualität A

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des Ich, das im Selbstbewusstsein immer schon von sich selbst als sich selbst weiß, als Selbstgefühl zwar vollständig, was seine Authentizität angeht, aber ihm kann nicht die Fähigkeit zugesprochen werden, sich vollständig zu reflektieren. Zwischen der Subjektivität als Zustand und der Subjektivität als Gegenstand klafft eine Lücke. Diesem Mangel, welcher aus der Abhängigkeit des Subjekts resultiert, versucht das Subjekt – und das ist das dritte Moment – eben durch Kommunikativität abzuhelfen. Das heißt, seine Subjektivität gelangt über einen Umweg zu ihrer Identität. Das Individuum kompensiert den Mangel seines Selbstbewusstseins durch Kommunikation. Die Kommunikativität des Subjekts wiederum untersteht ihrerseits dem Erfordernis der Kontinuität, welches in die Frage mündet, wie eine Reihe »von einander motivierenden abduktiven Schlüssen« (Frank 2012, S. 71 f.) entstehen kann? Damit haben wir die spezifische Fragestellung der Problematik eines Konsenses erschlossen. Es geht um die Suche nach dem Band, welches alle Individuen verbindet, anders ausgedrückt, um die Frage nach der Kraft der Bindung durch Sprache unter den Bedingungen der Individualität.

§ 3 Der Zugang der Phänomenologie Welche Struktur besitzt eine Subjektivität als Individualität? Die klassische Antwort der Phänomenologie auf diese Frage lautet, das Selbstbewusstsein sei es, welches die Struktur der Intentionalität besitze. Intentionalität sei Ausdruck einer Aktivität des Selbstbewusstseins, deren spezifisches Merkmal darin bestehe, dass sie immer eine Inhaltlichkeit mit sich bringe. Bewusstsein sei immer Bewusstsein von etwas. Wenn Äußerungen Äußerungen von Individuen sind, dann muss demzufolge als wichtigstes Merkmal von Intentionalität in aller Diskursivität gelten, wie die Intentionalität im jeweiligen Sprachspiel verkörpert ist. Das heißt, es wird unterstellt, dass Diskursivität angemessen nur über Intentionalität, das heißt über die Gerichtetheit oder das Gerichtetsein des in den Sprachspielen entfalteten Bewusstseins erschlossen werden kann. Einer solchen expressivistischen Theorie von Sprache zufolge liegt Sprachspielen ein Handlungsbegriff eines bewussten Handelns zugrunde. Dementsprechend ist die Diskursivität, welche sich mit, in und über Intentionalität vollzieht, auf Konsensualität angewiesen. Es 24

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§ 3 Der Zugang der Phänomenologie

muss einen Anknüpfungspunkt geben, an welchem sich das Sprachspiel des einen Subjekts mit dem eines anderen Subjekts trifft. Dieser Anknüpfungspunkt wird Konsens genannt. Die folgende Untersuchung versteht sich selbst als phänomenologische Theorie. Dabei wird der Ausdruck ›Theorie‹ unter einem gewissen Vorbehalt verwendet. Denn eine Theorie betrachte ich als eine Art Hilfskonstruktion, in dem Sinne, wie ein Maler eine Skizze anfertigt, von welcher ausgehend er dann sein Gemälde ausführt. Dass ich den Ausdruck ›Theorie‹ im strengen Sinne für problematisch halte, liegt darin begründet, dass ich die Einschätzung von Bernhard Waldenfels teile, der in der Philosophie, welche sozusagen die reinste Form von Theorie darstellt, ein paradoxes Moment als gestaltbildend ausmacht. »Die Philosophie spricht dauernd, und zwar systematisch, über Dinge, über die sie nicht sprechen kann. Diese praktizierte Unmöglichkeit ist fast ein Kriterium dafür, ob ein Satz ein philosophischer Satz ist.« (Waldenfels 2001, S. 431) Der Grund für diese Unmöglichkeit ist, dass zu jedem Was ein Wie gehört. Form und Inhalt sind stets miteinander verknüpft. Einerseits bedeutet dies, dass es keine reine Theorie gibt, die sich vollständig von der Erfahrung ablösen ließe. Andererseits bedeutet das aber auch, dass jedes theoretische Bemühen mit einem Abstandnehmen, einem sich Distanzieren von der Erfahrung beginnt. In der Vereinigung dieser gegensätzlichen Tendenzen liegt das paradoxe Moment jeder Philosophie begründet. Der Blick auf die Dinge, wie ihn eine phänomenologische Theorie auszeichnet, richtet sich darauf, wie wir mit den Dingen umgehen. Phänomenologische Theorie ist immer Theorie einer Erfahrung, sozusagen ein empirisch fundiertes Wissen und Erkennen. Es geht um den Gebrauch der Dinge. Dabei kommt es darauf an, nicht nur etwas am Gebrauch der Dinge zu lernen in dem Sinne, dass der Gebrauch der Dinge den Horizont des Denkens vollständig determiniert. Es geht auch darum, über den Gebrauch etwas von den Dingen zu lernen, was vielleicht jenseits des Gebrauchs liegt und seinerseits auf den Gebrauch zurückwirken kann. Das heißt, eine phänomenologische Theorie entfaltet sich als Theorie der Erfahrung aus der Innerlichkeit, als Innenschau des Bewusstseins. Alles, was der Fall ist, kommt phänomenologisch gesehen in den Blick als Produkt einer Innenschau, sozusagen ›in einer bestimmten Perspektive‹. Insofern besitzt eine phänomenologische Theorie einen Mehrwert gegenüber allen direkt an der Sprache orientierten Zugängen zum Wissen und Erkennen, weil diese sich an A

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den der sprachlichen Vermittlung zugrunde liegenden Erfahrungen orientiert. Nicht dass die sprachliche Konditionierung unterschätzt werden dürfte, aber Sprache selbst stellt ein Handeln dar. Als solches Handeln ist Sprache stets in Bewegung und stellt niemals ein abgeschlossenes Feld dar, dessen Grenzen wir überschauen würden. ›Zu den Sachen selbst!‹, so lautete das Motto der Husserlschen Phänomenologie. Es geht um einen genuin philosophischen Zugang zur Objektivität. Was macht die Eigenart und die Bedeutung der Phänomenologie aus? Der erste wichtige Punkt ist, dass die Phänomenologie sich mit ihrem Ansatz als ontologische Theorie im Gegensatz zu einer naturalistischen Theorie versteht. Das heißt, ihr geht es ganz zentral um einen Begriff des Seins, der den Horizont des Denkens und damit von Wissen und Erkennen bildet. Dieser Begriff vom Sein bezieht die Subjektivität in das Denken ein und schützt in eins damit die naive Erfahrungswirklichkeit. Die Phänomenologie ist eine Wissenschaft von der Erfahrung, einer Erfahrung des Bewusstseins, d. h. einer Introperspektive, von der aus ein ›Ich‹ seine gesamte Welt zu erschließen versucht. Wahrnehmung ist die Methode einer solchen Denkweise. Husserl geht soweit zu sagen, dass nicht einmal Gott diesen subjektiven Erfahrungsbezug überspringen könne: »Auch eine göttliche Physik kann aus kategorialen Denkbestimmungen keine schlicht anschaulichen machen, sowenig göttliche Omnipotenz es machen kann, daß man elliptische Funktionen macht oder auf der Geige spielt.« (Husserl 2002, S. 102; vgl. dazu: Levinas 1995, S. 9) Den zweiten Punkt stellt die Einsicht dar, dass es so etwas wie regionale Ontologien gibt. Seiendes ist unterschiedlich je nach dem Bereich zu verstehen, in dem es vorkommt. Das Sein selbst ist deshalb streng genommen kein spezifischer Gegenstand, sondern der Begriff des Seins bezeichnet das Verhältnis des einen Seienden zu einem anderen Seienden. Sein ist ein Relationsbegriff. Insofern gilt auch, dass Universalität als Allgemeingültigkeit und Generalität als Allgemeinheit zu unterscheiden sind. Universalität kommt nur in Generalität vor. Weil dies so ist, ist Universalität aber auch immer mit einem bestimmten regionalen Index versehen. Der dritte Punkt betrifft das Verständnis der Seinsfrage als Sinnfrage. Der Schlüsselbegriff dieses Unterfangens lautet Intentionalität. Intentionalität meint die Beziehung eines Subjekts auf ein Objekt. Indem sich das Interesse eines Subjekts auf ein Objekt richtet, wird dieses als Gegenstand thematisiert und damit erst eigentlich zum Objekt. Das 26

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§ 3 Der Zugang der Phänomenologie

Spannende an der Phänomenologie ist, dass sie diese Bezugnahme als Akt einer Sinngebung oder Sinnsetzung interpretiert. Das heißt, indem ein Subjekt ein Objekt in den Blick nimmt, verleiht es dem Objekt einen Sinn. Sinn wiederum besagt, einer Sache eine Bedeutung geben. Genauer, es geht um die Bedeutung, die etwas für uns hat. Ohne Sinn würden wir alle nicht das tun, was wir leben nennen, wir würden nur dahinvegetieren. Der Sinn ist das Humanum schlechthin. Den Sinn legt das Subjekt in das Objekt hinein, ein aktiver Vorgang. Würde sich ein Objekt nicht für unterschiedliche Sinngebungen anbieten, wäre Vielfalt unverständlich. Die Pointe des auf diese Weise entfalteten phänomenologischen Umgangs mit der Erfahrung liegt in deren Ausgangspunkt im Bewusstsein. In Beantwortung der Frage: ›Was bedeutet Phänomenologie?‹ schildert Levinas die phänomenologische Einstellung besonders eindrücklich. »In erster Linie die Möglichkeit, sich zu besinnen, sich zu fassen oder wieder zu fassen, klar und deutlich die Frage zu stellen: ›Woran sind wir?‹, den Ort bestimmen. Möglicherweise ist gerade das die Phänomenologie in ihrem weitesten Sinn und jenseits der Vision des Wesens, der Wesensschau, die so viel Aufsehen erregt hat. Eine radikale und eigensinnige Reflexion über sich selbst, ein cogito, das sich sucht und beschreibt, ohne sich durch irgendeine Spontaneität oder fertige Präsenz täuschen zu lassen, aus einem erheblichen Misstrauen gegenüber dem, was sich dem Wissen als natürlich aufdrängt, was Welt und Objekt ausmachen, aber dessen Objektivität in Wirklichkeit den sie fixierenden Blick vermauert und versperrt. Von dieser Objektivität aus muss man immer zum gesamten Horizont der Gedanken und Intentionen, die die Objektivität anstreben und die dieser ein Dorn im Auge sind und von ihr vergessen werden, zurückgehen. Die Phänomenologie ist die Erinnerung dieser vergessenen Gedanken – dieser Intentionen; volles Bewusstsein, Rückkehr zu den unterschwelligen – missverstandenen – Intentionen des Denkens, das in der Welt ist. Eine vollständige, für die Wahrheit notwendige Reflexion, selbst wenn ihre tatsächliche Ausübung die Grenzen in Erscheinung treten lassen würde. Gegenwärtigkeit des Philosophen – ohne Illusion, ohne Rhetorik – gegenüber den Dingen in ihrer wahren Verfasstheit, die gerade erhellt werden soll, der Sinn ihrer Objektivität, ihres Seins, wobei nicht nur die Frage nach dem ›Was ist das?‹ beantwortet werden soll, sondern auch die Frage ›Wie ist das, was ist, was bedeutet es, dass es ist?‹« (Levinas 2008, S. 23 f.) A

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Als phänomenologische Theorie ist die hier vorliegende Untersuchung anzusehen, weil sie sich auf Erfahrung, genauer auf ein solches Erfahrungen machendes Bewusstsein richtet. Ein Erfahrungen machendes Bewusstsein aber wird von der Phänomenologie als Intentionalität beschrieben, welches sprachliches Geschehen als Ausdrucksgeschehen auffasst. Das heißt, es geht nicht nur darum, wie und inwiefern eine sprachliche Form, eine Sprechhandlung oder ein Sprachspiel einen Inhalt repräsentieren. Vielmehr geht es darum, wie und inwiefern ein Sprachspiel einen Zustand eines Subjekts zum Ausdruck bringt. Diese Auffassung hat Charles Taylor als Expressivismus bezeichnet. »Das Leben als einen Ausdruck zu begreifen bedeutet, es als die Realisierung einer Absicht zu begreifen, und insofern diese Absicht nicht bedeutet, letztlich zwecklos zu sein, kann man von der Realisierung einer Idee sprechen. Das aber wird gleichermaßen als die Realisierung eines Selbst verstanden. […]« (Taylor 1983, S. 29)

Kern dieses Verständnisses von Sprache als Ausdrucksgeschehen ist letztlich ein starker Begriff von Freiheit. Freiheit ist der authentische Selbstausdruck eines Subjekts, welches sich selbst in und mit der Realisierung seiner Ideen verwirklicht. Für eine phänomenologische Theorie des Konsenses wird es darauf ankommen zu sehen, wie das Phänomen des Konsenses in der Intentionalität als dem Kern unserer Erkenntnisart von den Gegenständen erscheint.

§ 4 Der Gang der Untersuchung Mein Interesse an der Beschäftigung mit dem Konsensbegriff wurde ursprünglich durch die Diskursethik geweckt. Insbesondere auch die Vorarbeiten von Habermas haben mich immer wieder davon überzeugt, dass dem Begriff des Konsenses aus guten Gründen eine Schlüsselstellung insofern zukommt, als unser individuelles Handeln auf Zustimmungsfähigkeit setzt, auch und gerade im Widerspruch zur normativen Kraft des Faktischen. Woher begründet sich das Interesse am Begriff des Konsenses? Im Begriff des Konsenses geht es um unsere Zustimmungsfähigkeit, welche für ein pluralistisches Selbst- und Weltverständnis unverzichtbar ist. In der Diskursethik hat die Konsenstheorie eine gleichzeitig umfassende und sehr spezialisierte Ausgestaltung auf den unterschiedlichsten Ebenen erfahren. Dennoch scheint mir dieses Verständ28

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§ 4 Der Gang der Untersuchung

nis in zwei Punkten ungenügend zu sein. Erstens überschätzt die Diskursethik die Wirkung des Vorrats an prozeduralen Regeln, wie er in der sprachlichen Verkettung zum Tragen kommt. Hier verbleibt immer ein Graben, welchen auf Äußerungen antwortende Äußerungen immer überspringen müssen. Zweitens wird die Diskursethik der mit dieser Fragestellung durchaus verbundenen Fremderfahrung des Gegenübers als des anderen Subjekts nicht gerecht. Wenn das Subjekte verbindende Gemeinsame nur dem zwanglosen Zwang der Einsicht folgen soll, dann stellt ein Konsens etwas dar, was aus sich heraus entsteht. In der Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Diskursethik gelangte ich deshalb zu der Überzeugung, dass mit dem Begriff des Konsenses zwar das richtige Thema in den Mittelpunkt gerückt wurde, dass aber die Grundlagen der Theorie des kommunikativen Handelns ein unzureichendes Bild von Subjektivität bieten. Den unhintergehbaren Mehrwert der Subjektivität als Individualität habe ich über Manfred Franks Interpretationen zu Schleiermachers Dialektik entdeckt. Damit stellte sich die Aufgabe, eine neue Konsenstheorie zu entwickeln, welche vor allem auf drei Fragen angemessen antworten kann. Erstens geht es darum, dass eine Konsenstheorie erklären kann, inwiefern Subjektivität als Individualität auf so ein Einheit schaffendes Moment wie einen Konsens angewiesen ist. Zweitens geht es darum, wie eine Konsenstheorie den Impuls zur Radikalisierung der Fremderfahrung verarbeiten kann, einer Fremderfahrung, mit welcher die Subjektivität immer schon konfrontiert ist, wenn sie dem Solipsismus entgehen will. Und drittens geht es darum, dass eine Konsenstheorie in ihrem Entwurf auch und gerade den Wert und die Bedeutung des Dissenses erklären kann. Meine Intuition geht dahin, dass für einen solchen Konsensbegriff ein irgendwie geartetes ›pathisches‹ Moment von entscheidender Bedeutung ist. Die Aspekte dieser Dimension versuche ich über eine Rekonstruktion der theologischen Theorie der Gelassenheit zu erschliessen. Von hier aus öffnet sich der Weg zu einer offerentiellen Konsenstheorie. Das heißt, ein Konsens stellt ein Einvernehmen dar, welches aus einem Angebot von Einverständnissen hervorgeht. Die vorliegende Untersuchung, die in einem ersten Schritt ihren Ausgang von der Analyse des Unvernehmens genommen hat, behauptet die Notwendigkeit der Möglichkeit von Übereinstimmung als Voraussetzung von Verstehen. Die Inkommensurabilität eines UnA

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vernehmens scheint nur erklärbar vor einem Hintergrund an Kommensurabilität, wie er im Begriff der Übereinstimmung vorausgesetzt wird. Der Begriff des Konsenses, der seinen Ort im Dialog unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer hat, bezeichnet die Art und Weise von Übereinstimmung, wie sie in solchen Dialogen als Zielvorstellung unterlegt ist. Dabei greift die Idee des Konsenses auf die Bestimmung der Gesprächsteilnehmer über deren Teilnehmerperspektive zurück, welche durch Individualität gekennzeichnet ist. Die Irreduzibilität der Individualität einer Teilnehmerperspektive ist der Ausgangspunkt, deren notwendiger Bestandteil Normativität ist. Das heißt, die Idee des Konsenses impliziert auch die Komponente der Normativität. Von hier aus werden in einem zweiten Schritt verschiedene Konsenstheorien daraufhin gesichtet, wie sie den Vorgang einer Übereinstimmung erklären. Es handelt sich um die Konsenstheorien von Schleiermacher, Husserl, Gadamer und Habermas. Als all diesen Ansätzen gemeinsames grundlegendes Problem wird sich die von Lyotard aufgeworfene Frage nach dem Verketten und der Verkettung von Sätzen ergeben. Eine zureichende Antwort auf diese Frage wird sich an Schleiermachers Einsicht zu orientieren haben, dass die Feststellung eines Streits ihrerseits zwei unhintergehbare Voraussetzungen macht, in welchen die Basis für eine Überwindung des Streits zu suchen wäre. Die eine Voraussetzung ist die eines gemeinsamen Gegenstandes, um den gestritten wird. Die andere Voraussetzung ist die einer gemeinsamen Perspektive, in der gestritten wird. In einem dritten Schritt werden die vorgestellten Theorien einer Kritik unterzogen, insofern sie aufgrund ihrer Orientierung an den paradigmatischen Ideen des Produzierens und Regelns das Phänomen der Fremdheit und damit die Eigenart des Verstehens als Antworten verfehlen. Eine Klärung dieser Voraussetzungen muss meines Erachtens mit einer Bestimmung von Subjektivität als Individualität einsetzen. Den Ausgangspunkt in der Bestimmung der Individualität verlege ich in ein Verständnis von Selbstbewusstsein als Selbstgefühl, das heißt in die Unmittelbarkeit eines präreflexiven Selbstbewusstseins. Es gibt so etwas wie die Ipseität einer Person, der gegenüber das Bemühen der Person um die Vergewisserung ihrer eigenen Identität notwendigerweise zu spät kommt, weil Identität in einem Handeln entsteht, dessen Sinn sich immer erst im Nachhinein erschließt. Das heißt, für das Sein einer Person ist eine Art Unbestimmtheit konstitutiv. Anders 30

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ausgedrückt, Identität ist stets fragmentarisch. Das bedeutet aber, dass die Suche einer Person nach ihrer Identität diese Person auf ihr Verhältnis zu anderen Personen verweist. Denn wenn Identität fragmentarisch ist, wird die Identität des Anderen zu einer Äußerlichkeit, welche ›jenseits meines Seins‹ liegt, weil die Identität des fremden Anderen mit seinen Möglichkeiten meinen Möglichkeiten auf eine prinzipielle Art und Weise entzogen ist. Meine Intuition geht dahin, diese Differenz zwischen der Gesamtheit einer Person und ihrer Äußerlichkeit, zwischen der Totalität und ihrer Exteriorität, wie Levinas sagen würde, als das produktive Moment zu begreifen, aus dem heraus die Kraft der Bindung im kommunikativen Handeln plausibel gemacht werden kann. Deshalb sehe ich das Konzept der Expressivität als einen geeigneten Boden zur Beantwortung der Frage nach der die Kraft der Bindung bewirkenden rationalen Allgemeinheit an. Das Verketten von Sätzen geschieht dieser Sichtweise zufolge in einem Ausdrucksgeschehen. Doch auch die im Vollzug der Expressivität vorausgesetzten situativen oder kontextuellen Ansprüche bedürfen noch eines Horizonts ihrer normativen Grundlagen. Die Idee des Konsenses scheint mir einen geeigneten Begriff für einen solchen Rahmen von Rationalität abzugeben, welcher als Dispositiv zur Konsensualität, das heißt als Dispositiv zur ›Einvernehmlichkeit‹ im kommunikativen Handeln wirksam wird. Von hier aus wird in einem vierten Schritt der Begriff des Konsenses als Einvernehmen entfaltet. Ein Einvernehmen wird als ein Ereignis an Übereinstimmung aufgefasst. Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen meint eine zwanglose Einigung mit jedem beliebigen Anderen. Dieser Konsensbegriff wird als offerentiell bezeichnet, weil er von der Einsicht ausgeht, dass sich ein Einvernehmen nicht einfach herstellen lässt. Ein Einvernehmen bedarf eines Zusammenpassens von Einverständnissen, welches mein je subjektives Vermögen übersteigt. Schärfer ausgedrückt, die Bedeutung der durch ein Einvernehmen bewirkten Generalität und Universalität beruht gerade darauf, dass ein Einvernehmen mehr ist als mein Verständnis und mehr ist als mein Einverständnis. Insofern gilt für das Vermögen meiner Subjektivität, dass ich ein Einvernehmen nicht herstellen, sondern nur anbieten und zulassen kann. Die im Begriff eines Einvernehmens unterstellte Idee idealer Akzeptabilität nimmt die Form eines Motivs an, welches einer auf Allgemeinheit zielenden Rationalität als regulative Idee dienen kann. Der Sinn eines solchen Regulativs liegt darin, die Kraft der im A

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kommunikativen Handeln wirksamen Bindung aus einer Selbstbegrenzung der Subjektivität heraus zu erklären. Im Anschluss an die Bestimmung der Idee des Konsenses gilt es, den Perspektiven nachzugehen, welche sich von einem Konsensbegriff des Einvernehmens aus zu den Aspekten der Normativität, der Universalität und der Rationalität eröffnen. In einem fünften Schritt geht es um die Frage nach dem Gehalt dessen, was ich ideale Akzeptabilität nenne. Hier soll geklärt werden, auf welche Art und Weise ein Konsens gebildet wird. Der Konsensbegriff mit seinem Potential einer idealen Akzeptabilität artikuliert ein dialogisches Verständnis von Normativität, dessen Kern aus der Achtung des Anderen, das heißt aus der Anerkennung des Anderen als anderer, besteht. Den sechsten Schritt bildet die Untersuchung des Konsenses in Bezug auf dessen Funktion im Prozess des Verstehens und Sich-Verständigens. Für die Frage nach der Normativität liegt die Bedeutung der Idee des Konsenses darin, dass das Motiv des Konsenses als Einvernehmen eine Vorstellung situierter Vernunft ermöglicht, welche von einer Verbindung zwischen Verstehen und Verständigung ausgeht. Kontextualität und Universalität werden nicht als einander ausschließende Gegensätze, sondern als auf einander verwiesene Dimensionen aufgefasst. Für die Frage nach der Universalität liegt die Bedeutung der Idee des Konsenses darin, dass das Motiv des Konsenses als Einvernehmen ein limitatives Verständnis von Rationalität entwickelt. Das heißt, das Konzept der Konsensualität gibt weder einen Gesamt- noch einen Grundbegriff, sondern einen Grenzbegriff von Rationalität. Seine Grenzziehung begrenzt und entgrenzt zugleich die Ordnung einer Rationalität. Generalität und Universalität erwachsen demzufolge aus einer kontextuellen Approximation, in welcher Selbsterfahrung und Fremderfahrung so miteinander verschränkt sind, dass sich eine selbstbestimmte Aufmerksamkeit im Prozess einer sich selbst begrenzenden Achtsamkeit verwirklicht. In einem siebten Schritt geht es abschließend um den Kern an Unbestimmtheit, welcher das Einvernehmen auszeichnet. Für die Frage nach der Rationalität liegt die Bedeutung der Idee des Konsenses darin, dass das Motiv des Konsenses als Einvernehmen mit seiner Bemessung der Achtsamkeit ein rationales Maß von Selbstverständigung liefert. Eine solche Auffassung von Rationalität folgt dem Selbstverständnis einer Hermeneutik und deren Entdeckung der Bedeutung einer Teilnehmerperspektive. Sie entwickelt eine Auffassung von Hermeneutik, 32

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deren Pointe in der Unabschließbarkeit allen Darstellens besteht. Es ist diese Auffassung von Konsensualität als der eines Grenzbegriffes von Rationalität, in welcher Generalität und Universalität eines Interesses zum Zuge kommt.

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Kapitel 2: Konsenstheorien im Überblick

Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas. Theodor W. Adorno

§ 5 Schleiermacher I.

Das Programm einer Dialektik

Spätestens seit dem deutschen Idealismus steht das Thema der Subjektivität im Zentrum philosophischer Reflexionen. Von Anfang an war dabei umstritten, inwieweit ein Subjekt als ›Herr im eigenen Hause‹ anzusehen sei. Kann ein Selbstbewusstsein, welches den Kern von Subjektivität darstellt, als selbstständige, freie Quelle seiner selbst und der Welt, als Produzent eines schöpferischen Handelns angesprochen werden, oder befindet sich ein Selbstbewusstsein nicht vielmehr in einer grundlegenden Abhängigkeit, welche ihm immer nur einen relativen Spielraum an Freiheit erlauben würde? Schleiermacher ist als ein Vertreter derjenigen zu nennen, welche sich einerseits ohne Wenn und Aber im Gegensatz zur überlieferten metaphysischen Tradition auf die kantianisch vorgedachte idealistische Wende zum Subjekt eingelassen haben. Andererseits gehört Schleiermacher aber auch genau zu denjenigen, die im Ausgang von einem starken historischen Impuls den Gedanken einer Abhängigkeit des Subjekts ausformuliert haben. Die Besonderheit des Schleiermacherschen Denkens besteht darin, dass sein Begriff eines abhängigen Subjekts in eine Konzeption von Kommunikativität mündet. Schleiermacher entwirft eine ›Dialektik‹ genannte Theorie kommunikativen Handelns, in deren Kern sich ein Konsensbegriff findet. Der Begriff eines Konsenses hat seinen Ort in der Ausbildung einer Theorie dezentrierter Subjektivität. Schleiermacher verlegt die Basis seiner Theorie einer Dialektik in 34

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§ 5 Schleiermacher

das Selbstbewusstsein. Er unterscheidet und analysiert zwei Elemente im Selbstbewusstsein: »In jedem Selbstbewußtsein also sind zwei Elemente ein – um so zu sagen – Sichselbstsetzen und ein Sichselbstnichtsogesetzthaben, oder ein Sein, und ein Irgendwiegewordensein; das letzte also setzt für jedes Selbstbewußtsein außer dem Ich noch etwas anderes voraus, woher die Bestimmtheit desselben ist, und ohne welches das Selbstbewußtsein nicht grade dieses sein würde. Dieses andere jedoch wird in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein, mit dem wir es hier allein zu tun haben, nicht gegenständlich vorgestellt.« (Schleiermacher 1999, S. 24)

Schleiermacher bezeichnet die zwei Elemente des Selbstbewusstseins auch als »Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit« (ebd., S. 24). Selbstbewusstsein stellt also eine Einheit aus einem aktiven oder produzierenden und einem passiven oder pathischen Element dar. Die Eigenart des pathischen Elements der Empfänglichkeit liegt in dem Gedanken einer Abhängigkeit. »Das Gemeinsame aller derjenigen Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins, welche überwiegend ein Irgendwohergetroffensein der Empfänglichkeit aussagen, ist, dass wir uns als abhängig fühlen.« (ebd., S. 25) Das heißt, das Element der Empfänglichkeit bezeichnet »ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl« (ebd., S. 28), also ein für das jeweilige Subjekt nicht hintergehbares Gefühl absoluter Abhängigkeit. Die Empfänglichkeit des Selbstbewusstseins gilt der Selbsttätigkeit als vorgeordnet, weil sich jedes Freiheitsgefühl immer schon auf bestimmte vorgegebene Gegenstände richtet und insofern vom Gefühl der Abhängigkeit begleitet wird. Die Einheit des sich im Abhängigkeitsgefühl erfahrenden Selbstbewusstseins liegt nach Schleiermacher darin begründet, dass eine Person immer zugleich »denkendes Sein und seiendes Denken« (Schleiermacher 2001, Bd. II, S. 274) ist. Personale Einheit stellt eine Kombination aus konstruktivem Denken und organischem Sein dar. Daraus folgt für Schleiermacher, dass Denken und Sprache unabdingbar zusammengehören. »Wir müssen zurückgehen zu der Voraussetzung einer Mehrheit denkender Subjekte, die in eine Mitteilung des Denkens treten können. Jede Mitteilung, wodurch der eine zum Gegenstand für den anderen wird und also ins Gebiet des Seins gehört, beruht immer auf der organischen Tätigkeit in der Rede und darstellender Tätigkeit.« (ebd., S. 175)

Eben weil Subjekte als abhängige Wesen eine Einheit von Denken und Sein darstellen, bedürfen sie zum Denken der Mitteilung an andere A

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2 · Konsenstheorien im Überblick

Subjekte und von anderen Subjekten. Deshalb gilt auch: »Der Streit würde nie entstehen, wenn jeder nur an sich selbst gewesen wäre. Aber stets stehen wir in Mitteilung und Ergänzung zueinander.« (ebd., S. 157) Die Epistemologie muss demzufolge auf eine Theorie kommunikativen Handelns gegründet werden, welche Schleiermacher als Dialektik bezeichnet. Dialektik ist die »Kunst des Gedankenwechsels« (Schleiermacher 2001, Bd. I, S. 161), welche »die Gemeinschaftlichkeit des Denkens und der Konstruktion, die Identität der Prinzipien und des Verfahrens in allen« (ebd., S. 161) entwickelt. In der Dialektik geht es um eine Theorie des Wissens, welche die Einheit von Denken und Sein gewährleistet. Als solche Theorie ist die Dialektik eine Kunstlehre, keine apriorische Grundlegung transzendental-philosophischer Art. »Denn Kunstlehre nennen wir jede Anleitung, bestimmte Tätigkeiten richtig zu ordnen, um ein Aufgegebenes zu erwirken.« (Schleiermacher 2001, Bd. II, S. 13) Mit dieser Bestimmung schließt sich der Kreis. Die dialektische Theorie des Wissens ist eingebettet in eine Theorie kommunikativen Handelns, welche auf einen ontologischen Begriff des Menschen im Sinne einer dependenten Subjektivität zurückgreift.

II.

Konsens als Zusammenstimmung

Im Gegensatz zur traditionellen Metaphysik, aber auch im Gegensatz zur idealistischen Philosophie misst Schleiermacher dem Gedanken des Streits eine positive Bedeutung zu. Streit entsteht notwendigerweise mit Kommunikation, und Kommunikation ist ein notwendiges Element zur Entfaltung dezentrierter Subjektivität. Der Gedanke des Streits würde aber nach Schleiermacher dann in eine Sackgasse führen, wenn man davon ausgehen würde, dass sich ein Streit nicht beilegen ließe. Es ist die Position des Skeptikers, die Schleiermacher hier ins Visier nimmt. »Will aber der Skeptiker seinem Gegner dieses gewiß machen, dass der Streit nicht könne beendigt werden, dann freilich muß er ein Gespräch führen und auch kunstmäßig; aber von dem Augenblicke an wird er sich selbst untreu. Denn er will nun selbst eine Zusammenstimmung im Denken erwirken, welche nicht zufällig und vorübergehend sei, und er muß hierzu voraussetzen, dass es im Denken, sowohl in dem Akt für

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sich, als im Fortschreiten von dem einen zum andern, etwas von jener Verschiedenheit der Einzelwesen nicht Affiziertes gebe, indem er sonst auch nicht einmal das eine Gespräch kunstmäßig, und so, dass es für alle gelten soll, führen könne.« (ebd., S. 11)

Schleiermacher wirft dem Skeptiker eine Art performativen Selbstwiderspruch vor. Der Skeptiker würde mit seinem Argument zugunsten der Nichtabschließbarkeit des Streits bei seinem Opponenten auf eine Zusammenstimmung im Denken abzielen, deren Möglichkeit er in seinem Argument gerade bestreiten würde. Das heißt, es könne überhaupt keinen Streit geben, ohne dass nicht zumindest die Möglichkeit eines Konsenses immer schon unterstellt worden sei. Wie aber ließe sich dann ein Streit überhaupt auflösen? Nach Schleiermacher bestünde die Aufgabe der Dialektik genau darin, die Bedingungen dafür zu analysieren, wie ein Streit aufgelöst werden könne. Ein Gespräch, welches sich in einen Streit verwandeln kann, beruht auf zweierlei Voraussetzungen. Eine Voraussetzung ist, dass in jedem Gespräch, auch in einem Streit, immer ein Bezug auf einen Gegenstand impliziert ist. »Der Streit überhaupt setzt die Anerkennung der Selbigkeit eines Gegenstandes voraus, mithin überhaupt die Beziehung des Denkens auf das Sein.« (ebd., S. 19) Es gibt sozusagen kein Gespräch ohne Referenz. Diese erste Bedingung epistemologischer Art ergänzt Schleiermacher um eine zweite Bedingung kommunikativer Art, welche auf die Notwendigkeit eines Zusammenhangs im Denken abzielt. »Das Gespräch gibt entweder einem recht, wenn der Zusammenhang beim andern falsch ist, oder beiden recht, wenn beide Zusammenhänge in ihrer Verschiedenheit anerkannt sind. Dann aber ist jeder Streitende zu zwei Vorstellungen gekommen, und es ist dann zugleich ein zweifacher Zusammenhang anerkannt und aufgestellt worden. Hat aber einer von beiden unrecht, so existiert der Zusammenhang, den der eine hatte, nicht. Es lässt sich also gar nicht denken, dass ein Gespräch geführt werde, ohne dass ein Zusammenhang des Denkens gesetzt werde. Durch jede Anwendung der Regeln wird ein Zusammenhang festgestellt.« (ebd., S. 59)

Der Zusammenhang des Denkens entsteht aus der Gesprächsführung (ebd., S. 60). Oder umgekehrt, eine Gesprächsführung unterstellt immer schon einen solchen Zusammenhang. Schleiermacher bezeichnet diesen Zusammenhang des Denkens auch als »Übereinstimmung streitiger Vorstellungen« (ebd., S. 111). Diese Idee eines Konsenses besteht A

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aus zweierlei Komponenten, nämlich zum einen aus einer den Gesprächsteilnehmern gemeinsamen Vorstellung inhaltlicher Art und zum anderen aus den von den Gesprächsteilnehmern anerkannten Regeln des Gesprächs. »Außer den streitigen Vorstellungen muß uns offenbar noch etwas anderes gegeben sein. Und dies ist zweierlei: nämlich einmal muß irgendein gemeinsamer Gedanke, eine gemeinsame Vorstellung gegeben sein, und dann müssen gemeinsame, anerkannte Regeln über das Verfahren des Fortschreitens von einer Vorstellung zur anderen da sein.« (ebd., S. 94)

Der Schleiermachersche Begriff des Konsenses zielt auf ein gemeinsames Wissen als Übereinstimmung durch Zusammenstimmung. Dieser Auffassung zufolge »… kommt also ein Denken in mir zustande dadurch, dass ich mir einen intellektuellen Prozeß des andern aneigne, oder, wenn ich diesen habe, die Eindrücke des andern; und dadurch kann ein gemeinsames Wissen zwischen beiden entstehen, ohne dass alle dasselbe tun.« (ebd., S. 156) In der Idee des Konsenses geht es deshalb um die »Identität des Prozesses aller Denkenden« (ebd., S. 129).

III. Versöhnung des Idealen und des Realen Nach Schleiermacher haben alle Denkprozesse einen Bezug zum Individuellen, weil Denken auf Vernunft und Erfahrung beruht. Den Grund des Wissens bildet der Übergang von der Idee Gottes als einer Einheit ohne Gegensätze zur Idee der Welt als einer Einheit mit Gegensätzen. Schleiermachers Dialektik zielt mit ihrer Vorstellung von einer Identität des Prozesses aller Denkenden auf eine Versöhnung von Idealismus und Realismus. »Das Sein als Gegenstand des Denkens […] ist das Reale. Das Denken aber […] ist das Ideale. Und beides zusammen ist die Totalität des Seins.« (ebd., S. 177) Die Totalität des Seins setzt sich aus dem Idealen und dem Realen zusammen. Das Reale ist das organische Leben in seiner Vielfalt und Unterschiedenheit. Das Ideale ist das vernünftige Denken in seiner Einheit und Allgemeinheit. Im Selbstbewusstsein als dem Kern des Subjekts wirken beide Momente gemeinsam. Die Versöhnung von Idealem und Realem, wie sie der Begriff der Totalität unterstellt, wäre sozusagen der Standpunkt Gottes, in dem alle idealen Gedanken zum realen Leben ihre Einheit fänden. Der Standpunkt des Menschen bleibt hinter dem Standpunkt 38

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Gottes zurück, weil ihm andere Vorstellungen fehlen. Deshalb stellt der Standpunkt des Menschen eine Annäherung an den Standpunkt Gottes dar, eine Annäherung, welche sich als Aneignung und in Vermutungen vollzieht. Die Approximation an die Totalität des Seins vollzieht sich als Aneignung, in der und durch die wir unsere Vernunft und Erfahrung erweitern. »In diesem Prozeß des gegenseitigen Aneignens leben wir stets und ergänzen immer unsere Vorstellungen, wo wir einig sind; und wo dieser Prozeß gehemmt wird, suchen wir die durch die Hemmung entstandenen streitigen Vorstellungen zu schlichten. Dies ist der innere Lebensgrund, vermöge dessen wir Erfahrung und Gedanken ergänzen.« (ebd., S. 156 f.)

Die Aneignung geschieht einerseits vergleichend auf komparative Art und Weise, in der unterschiedliche Erfahrungen und Gedanken abgeglichen werden. Sie geschieht andererseits durch Divination, womit Schleiermacher eine intuitive Art erratender Rekonstruktion meint, die sich vielleicht auch als eine spezifische Art von Spekulation bezeichnen ließe. Komparation und Divination gestalten in ihrer Wechselwirkung den Prozess approximativer Aneignung. Auch wenn Schleiermacher in seiner Version einer Dialektik das kommunikative Handeln durch die Öffnung der Vernunft zur Ergänzung durch Mitteilung in den Prozess des Wissens hereingeholt und damit den Mehrwert des Konsenses thematisiert hat, unterschätzt Schleiermacher die Dimension der Pluralität. Sein Modell einer Aneignung der Totalität des Seins bleibt letztlich immer noch monistisch, weil sich die realen Differenzen in einer allgemeinen Vernunft aufheben lassen. Anders ausgedrückt: »Selbst wenn Schleiermacher die skeptische Zusatzannahme als vorderhand berechtigt anerkennt, dass wir dem Zustand des Streits bei weitem noch nicht entkommen sind, hätte er noch zeigen müssen, dass und warum wir ihm auf keine Weise und zu keiner Zeit entkommen können.« (Frank in: Schleiermacher 2001, Bd. I, S. 118) Wir können dem Streit deshalb nicht entkommen, weil es so etwas gibt wie eine Inkommensurabilität, also eine Unvergleichbarkeit, welche allen individuellen Entscheidungen zugrunde liegt. Es gibt nicht einfach eine Totalität des Seins, welche sich in einer Allgemeinheit des Vernünftigen widerspiegeln würde. Deshalb auch bedarf jede Art einer Übereinstimmung von Vorstellungen ihrer Ergänzung durch das Versprechen einer Zustimmung. A

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§ 6 Husserl I.

Das Programm einer Phänomenologie

Husserls Philosophie zielt auf ein Fundament von Wissenschaft ab. Sie sucht es im »Urboden der Erfahrung« (Husserl 2003, S. 263). Erfahrung gilt der Wissenschaft deshalb als Urboden, weil sie den unüberholbaren Ausgangspunkt allen Wissens darstellt. Erfahrung setzt einen »absoluten Anfang […] als eine Quelle, aus der man schöpft, als ›Rechtsquelle‹, die sich selbst als eine Quelle ausweist« (ebd., S. 264). Mit ihrem Fundament erhebt Wissenschaft einen Anspruch auf Objektivität. Objektives Wissen hat einen höheren Stellenwert als subjektives oder intersubjektives Wissen. Objektives Wissen ist klar und deutlich, es ist zweifelsfrei. Seine Wahrheit gilt für alle und alles gleichermaßen. Mit dem Anspruch auf eine Objektivität der Wissenschaft überschreitet Husserls Philosophie jeden Psychologismus oder Skeptizismus. Der Zugang der Erfahrung zur Objektivität des Wissens vollzieht sich in der Intentionalität eines Bewusstseins. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Es ist auf einen Inhalt ausgerichtet. Diese Gerichtetheit des Bewusstseins bedeutet zweierlei: Zum einen erschließt der Bezug auf einen Inhalt die Dimension des Objektiven im Sinne einer Gegenständlichkeit. Zum anderen besitzt Bewusstsein eine Struktur, welche die Dimension des Subjektiven als Gerichtetheit ausweist. Husserls Philosophie versteht sich als Kombination von subjektiver Dimension, das heißt aktivem Erkennen, und objektiver Dimension, das heißt einem Gegebensein von Wirklichkeit. Weil Wirklichkeit dem Bewusstsein auf eine bestimmte Art und Weise erscheint, man könnte auch sagen, weil die Sachen selbst als Phänomene auftreten, deswegen begreift sich Husserls Philosophie als Phänomenologie. Mit dem Begriff der Intentionalität deutet Husserl Bewusstsein als eine teleologische Struktur. In jeder Erfahrung richtet sich Noesis auf Noema und dringt auf diese Weise zu den Sachen selbst vor. Diese teleologische Struktur thematisiert die Ebene der Bedeutung. Denn Bedeutung resultiert aus einem Meinen, das sich auf einen Gegenstand bezieht. Solches Meinen entsteht aus der Aufmerksamkeit, welche die aktive Konstitution eines Gegenstandes durch die Ausbildung eines Horizonts leistet. Wer etwas meint, der begreift etwas als etwas. Es ist diese signifikative Differenz, auf welcher Bedeutung, Wissen und Wissenschaft beruhen. 40

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§ 6 Husserl

Für die Struktur der Intentionalität kann folgende Formel gelten: ›ego cogito cogitata mea‹, was man übersetzen könnte als: Ich denke meine Gedanken. Den hier wiederum auftauchenden Doppelaspekt von Subjekt und Objekt fasst Husserl in den Gegensatz von Noesis und Noema. Während Noesis die »intentionalen Erlebnisse« bezeichnet, bezieht sich Noema auf deren »intentionale Korrelate« (ebd., S. 57). Husserl entfaltet diesen Gegensatz am Beispiel des Blicks in einen Garten auf einen blühenden Apfelbaum (ebd., S. 58). Damit Noesis und Noema tatsächlich als Struktur von Bewusstsein und das heißt als Momente von Intentionalität ergriffen werden, gilt es zunächst, die natürliche Einstellung zurückzuweisen. Die Phänomenologie will im Rückgang hinter unsere natürliche Einstellung das Erlebnis freilegen, welches unserer Erfahrung zugrunde liegt. Weil die Phänomenologie dieses Anliegen realisieren will, will sie »rein dieses Erlebnis selbst befragen« (ebd., S. 58), ohne irgendwelche andere Gedanken, Vorstellungen, Theorien usw. zu Hilfe zu nehmen. Die Phänomenologie versucht sozusagen die Wirklichkeit jenseits der Erfahrung auszuschalten oder auszuklammern und kümmert sich nur um die Erfahrung selbst. Dieses Ausklammern der Wirklichkeit nennt Husserl ›epoché‹. Es geht hier nicht um irgendwelche Reduktionen einer Sache oder eines Sachverhalts, sondern im Gegenteil um die Erschließung der ursprünglichen Erfahrung durch Reduktionen des sich der Sache nähernden Subjekts. Das heißt, es geht um Reduktionen des einer Erfahrung zugrunde liegenden Erlebnisses. Eine erste solche Reduktion wird phänomenologische Reduktion genannt, weil sie die Bewertung der Sachen zugunsten von deren Beschreibung ausklammert. Eine zweite ist die eidetische Reduktion, welche auf das Wesen der Dinge, nicht auf deren Sonderfall abstellt. Es geht um Regelmäßigkeit statt Unregelmäßigkeit in der Erfahrung, es geht um den Aspekt der Ordnung. Eine dritte Reduktion ist die transzendentale, welche die Wirklichkeit überhaupt ausklammert und die Sache selbst als Idee fasst. Damit wird die Phantasie der freien Variation in die Phänomenologie geholt. Die Objektivität des Wissens vollendet sich just an dem Punkt »der Selbst-Erscheinung, des Sich-selbst-Darstellens, des Sich-selbstGebens einer Sache, eines Sachverhalts, einer Allgemeinheit, eines Wertes usw. im Endmodus des ›Selbst-da‹, ›unmittelbar anschaulich‹, ›originaliter‹ gegeben.« (Husserl 1995, S. 59) Mit diesen FormulierunA

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2 · Konsenstheorien im Überblick

gen beschreibt Husserl den Wahrheitsbegriff der Evidenz als Zielpunkt, von dem her und auf den hin die Tätigkeit des Wissens fassbar wird. Es kommt dabei ganz entscheidend auf den Vorrang des ›Sichselbst-Gebens einer Sache‹ an. Letztlich bedeutet dieser Vorrang der Selbstgegebenheit nichts anderes als die Unabhängigkeit von Wahrheit gegenüber dem Subjekt, welches ja das Wesen der Wahrheit ausmacht. Nicht: Etwas ist wahr, weil ich es erkenne, sondern: Weil etwas wahr ist, erkenne ich es. Ohne dieses Moment der Unabhängigkeit von Wahrheit wäre Wissen nichts anderes als Für-wahr-Halten.

II.

Konsens als Einverständnis

In der fünften seiner Cartesianischen Meditationen formuliert Husserl einen, wie er es nennt, »schwerwiegenden Einwand« (ebd., S. 91) gegen das phänomenologische Konzept der Intentionalität: »Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch die phänomenologische epoché auf mein absolutes transzendentales Ego reduziere, bin ich dann nicht zum solus ipse geworden, und bleibe ich es nicht, solange ich unter dem Titel Phänomenologie konsequente Selbstauslegung betreibe?« (ebd., S. 91) Husserl stößt hier auf das Problem der Intersubjektivität. Den Ausgangspunkt des Selbst als eines transzendentalen Ego beibehaltend geht Husserl das Problem der Intersubjektivität in einer Theorie der Fremderfahrung an. Dahinter scheint mir eine Überlegung zu stecken, die sich so ausdrücken lässt: Ist der Andere wie Ich, erschließt sich mir die Wirklichkeit des Anderen unproblematisch aus mir selbst. Ist der Andere aber anders als Ich, erscheint die Wirklichkeit des Anderen als fremde Wirklichkeit. Solche Fremdheit fasst Husserl als »bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« (Husserl 2003, S. 161). Dieser Begriff von Fremdheit ist durch drei Momente charakterisiert. Erstens geht es in der ›bewährbaren Zugänglichkeit‹ um Fremderfahrung im Ausgang von einem erfahrenden Subjekt. Dieser Ausgang trifft zweitens auf ein ihm sich entziehendes Moment, die ›Unzugänglichkeit‹. Der Andere ist in dieser Unzugänglichkeit anwesend, allerdings in einer Art ›tertiärer Originalität‹, »weil jetzt zu meiner Gegenwart wie andererseits zu dem als Anderer Vergegenwärtigten alles Erinnerungsmäßige (Wiedererinnerung, Miterinnerung, Vorerinnerung) zuzurechnen ist« (ebd., S. 164). Dies bedeutet aber nichts anderes als, und dies ist das dritte 42

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§ 6 Husserl

Moment, dass die originale Unzugänglichkeit bereits im erfahrenden Subjekt selbst verankert ist. Ich bin mir selbst auf eine Art und Weise fremd. Fremdheit ist also etwas, was sowohl die Wirklichkeit des Anderen als auch den eigenen Zugang zur Wirklichkeit des Anderen kennzeichnet. Wie kann Intersubjektivität mit einer solchen Theorie der Fremderfahrung gedacht werden? Anders ausgedrückt: Wie lässt sich Gesellschaftlichkeit oder, wie Husserls es ausdrückt, Sozialität begründen? »Aller Sozialität liegt zugrunde« – so Husserl – »der aktuelle Konnex der Mitteilungsgemeinschaft« (ebd., S. 179). Sozialität beruht also auf einem spezifischen Verständnis von Kommunikation oder kommunikativem Handeln. Kommunikation heißt, dass Personen sich anderen Personen zuwenden, das heißt, »sie richten sich in ihrem geistigen Tun aufeinander« (ebd., S. 166). Die andere Person kann »auf diese Einwirkung willig eingehen oder sie unwillig ablehnen« (ebd., S. 166). Aus Aufmerksamkeit und Akzeptabilität entstehen auf diese Weise »Beziehungen des Einverständnisses« (ebd., S. 166). »In diesen Beziehungen des Einverständnisses ist eine bewußtseinsmäßige Wechselbeziehung der Personen und zugleich eine einheitliche Beziehung derselben zur gemeinsamen Umwelt hergestellt.« (ebd., S. 166 f.) Sozialität beruht auf Kommunikation, und Kommunikation beruht ihrerseits auf Konsens. »Die sich im Erfahren von den Anderen, in Wechselverständnis und im Einverständnis konstituierende Umwelt bezeichnen wir als kommunikative. Sie ist ihrem Wesen nach relativ zu Personen, die sich selbst in ihr finden und sie als ihr gegenüber finden.« (ebd., S. 167) Husserls Theorie des Konsenses begreift Einverständnis als Wechselbeziehung von Aufmerksamkeit und Akzeptabilität. »Ein Einverständnis kommt erst zustande, wenn das Tun der einen Person die Intention einer anderen erfüllt, so dass aus dem AufeinandergerichtetSein ein ›verbunden-einheitliches Verhalten‹ entsteht.« (Waldenfels in: Husserl 2003, S. 246) Die Pointe von Husserls Konsenstheorie sehe ich darin, dass eine Kommunikation, die auf diesem Begriff eines Konsenses beruht, ein vollkommen und ausschließlich subjektabhängiges Tun bleibt. Kommunikation ist ›relativ zu Personen‹, wie Husserl es ausdrückt, weil sich Kommunikation aus Akten von Fremderfahrung zusammensetzt. Personen entscheiden im Vollzug des Konsenses über Sein oder Nichtsein von Kommunikation, und damit letztlich auch von Sozialität. An ihre Grenze stößt eine solche Auffassung, wenn sie das Selbst A

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und den Anderen in einer Perspektive von Normalität übergreift. »Der normale Mensch im Sinn der Definition ist eine Idealisierung des reifen und dabei in einem anderen Sinn (einem erst zu bestimmenden) normalen Menschen.« (Husserl 2003, S. 178) Mit der Extrapolation des Normalen, wie zurückhaltend auch immer diese in concreto ausgeübt werden mag, wird beim Selbst und beim Anderen eine Gemeinsamkeit vorausgesetzt, welche erst noch herzustellen wäre. Waldenfels zieht deshalb folgenden Schluss: »Das methodische Allheilmittel, das Husserl bereitstellt, besteht darin, dem Fremden mit Abwandlungen des Selbst und des Selben den Stachel purer Exteriorität zu nehmen. Doch dieses Allheilmittel macht blind für die Zusammenstöße zwischen verschiedenen Ansprüchen und Anspruchssystemen, die inkompossibel sind und die Harmonie eines Monadenalls sprengen. Diese Harmonie ist nicht einmal ein frommer Wunsch.« (Waldenfels 1995, S. 67)

III. Die Grenzen von Idealität und Normalität Das Faszinierende an Husserls Konsenstheorie scheint mir das aktive Moment zu sein, welches seinen Begriff des Konsenses prägt. Dieses aktive Moment leitet sich von seinem Konzept der Intentionalität her. Fremderfahrung ist ein Tun, welches nicht grundsätzlich aus dem Konzept der Intentionalität herausfällt. Dennoch wird der Begriff der Intentionalität in der Theorie der Fremderfahrung auf eine eigentümliche Art und Weise gebrochen, wie es der paradoxe Ausdruck einer ›Zugänglichkeit des Unzugänglichen‹ andeutet. In zweierlei Hinsicht sind hier Anfragen an Husserls Konzept notwendig. Erstens geht es um den Begriff des Anderen. Nach Husserl ist der Andere in meiner Unzugänglichkeit anwesend. Aber geht es hier wirklich um ›den Anderen als anderen‹ in einem Sinne, wie ›die Sache selbst‹ einer subjektiven Erfahrung voraus liegt? Weil nicht nur der Andere als mir auf eine spezifische Art und Weise begegnendes Objekt jenseits meiner Möglichkeiten liegt, sondern weil auch die Möglichkeiten des Anderen außerhalb meiner Möglichkeiten liegen, wie es Levinas mit seinem Begriff der Exteriorität thematisiert, deshalb müsste die Andersheit des Anderen auch in meinem Horizont zur Geltung kommen können. Gerade um das aktive Moment der Fremderfahrung zu bewahren, wie dies Husserl in seiner Rückwendung der Unzugäng44

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§ 7 Gadamer

lichkeit auf ihren Ursprung im Ego selbst ausgelegt hat, müsste eine Rückwendung auch das Moment der Andersheit des Anderen bewahren. Eben dies scheint mir zu Recht die Einsatzstelle der Theorie der Responsivität von Waldenfels zu sein, in der die Fremderfahrung als ›Antwort‹ expliziert wird. Eine zweite Anfrage richtet sich an die Bedeutung, welche Husserl zufolge die Mitteilung für das intentionale Subjekt hat. Auch wenn sich hier mancherlei Verschiebungen in Husserls Theorie ergeben haben, scheint mir Husserl doch am Begriff eines idealen Subjekts festzuhalten. Für ein ideales Subjekt aber sind die Zeichen der Mitteilung in erster Linie Anzeichen, nicht Ausdruck. Mitteilbarkeit ist dem idealen Subjekt etwas Äußerliches, wie Derrida eingewendet hat (Derrida 2003, S. 54 f.). Wenn aber Subjektivität in ihrem Kern mit Kontingenz behaftet ist, dann müsste die Frage nach der Bedeutung der Mitteilbarkeit mit neuem Nachdruck gestellt werden. Denn ein kontingentes Subjekt wäre im Gegensatz zu einem idealen Subjekt zwingend auf die Mitteilbarkeit angewiesen, weil sich ihm die Wirklichkeit als Wirklichkeit des Anderen nur in der Mitteilung erschlösse. Das Subjekt bedürfte eines Motivs, welches seine Aufmerksamkeit auf den Anderen richtete. Dieses Motiv dürfte den Anderen nicht nur als Objekt für mich selbst oder als Subjekt wie mich erfassen, sondern es müsste mich auf den Anderen als anderen jenseits meiner Möglichkeiten orientieren.

§ 7 Gadamer I.

Das Programm einer Hermeneutik

Gadamers Hermeneutik ist in direktem Anschluss an Heideggers Konzept einer Ontologie des Daseins entstanden. Gadamer selbst sieht seine Hermeneutik als Antwort auf die Frage nach dem Verstehen. »Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich? Das ist eine Frage, die allem verstehenden Verhalten der Subjektivität, auch dem methodischen der verstehenden Wissenschaften, ihren Normen und Regeln, schon voraus liegt. Heideggers temporale Analytik des menschlichen Daseins hat, meine ich, überzeugend gezeigt, dass Verstehen nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjekts, sondern die Seinsweise des Daseins selber ist. In diesem Sinne ist der Begriff ›Hermeneutik‹ hier verwendet worden. Er bezeichnet die Grundbewegtheit A

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des Daseins, die seine Endlichkeit und Geschichtlichkeit ausmacht, und umfasst daher das Ganze seiner Welterfahrung.« (Gadamer 1986, Bd. II, S. 439 f.)

Gadamer knüpft damit an Heideggers methodischen Ausgangspunkt an, wie er in ›Sein und Zeit‹ vorliegt. Der Begriff einer Hermeneutik würde demzufolge weder die Lehre einer Auslegungskunst noch das Auslegen selbst bezeichnen, wie man von Schleiermacher her vermuten könnte. Vielmehr geht es um das Wesen der Auslegung selbst, welches Heidegger selbst als »Zeigen der Botschaft und Kunde« (Tietz 2000, S. 34) interpretiert hat. Gadamer hat ein solches Wesen von Auslegung aber stets im Unterschied zu Heidegger in der Bewegung des Gesprächs verortet, von der her und auf die hin die Seinsweise des Daseins in sich selbst durchsichtig werden kann. Das Gespräch als dynamisches Geschehen bildet den Horizont der Gadamerschen Hermeneutik. Ein Gespräch ist nach Gadamer durch mehrere verschiedene Merkmale gekennzeichnet, deren wichtigste Stichworte lauten: Vorurteil, hermeneutischer Zirkel und Tradition. Kein Gespräch und auch kein Verstehen beginnt an einem Nullpunkt. Gespräch und damit auch Verstehen setzen immer ›irgendwie‹ in der Mitte ein. Sie greifen auf eine Vorstruktur von Verstehen zurück, aus der heraus sich ein Gespräch überhaupt erst entwickelt. Erstes Merkmal einer solchen Vorstruktur von Verstehen ist in Gadamers Verständnis das Vorurteil. »An sich heißt Vorurteil ein Urteil, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird.« (Gadamer 1986, Bd. I, S. 275) Entscheidend für die Bezeichnung eines Urteils als Vorurteil ist dessen Abhängigkeit vom Geschehen des Gesprächs. Ein Vorurteil ist ein in den Gesprächsprozess eingebettetes Urteil, das vor dem Abschluss der Prüfung des Verstehens gebildet wird. Daraus folgt: »›Vorurteil‹ heißt also durchaus nicht notwendig falsches Urteil. In seinem Begriff liegt, dass es positiv und negativ gewertet werden kann.« (ebd., S. 275) Gadamer versucht das Vorurteil gegen den rationalistischen Ansatz der Aufklärung als ein Vorverständnis im historistischen Sinne zu rehabilitieren. Der Charakter eines Vorurteils als Vorverständnis beinhalte keine Vorentscheidung über Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage, er belege nur die Unhintergehbarkeit eines Horizonts von Verstehen, wie er jedem Gespräch immer schon zugrunde liege. Zweites Merkmal von Verstehen ist nach Gadamer dessen prozessualer Charakter, der im Begriff des hermeneutischen Zirkels seinen 46

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§ 7 Gadamer

Ausdruck findet. Gesprächsweises Verstehen vollzieht sich in einem zirkelhaften Verhältnis, in welchem Teil und Ganzes, subjektive und objektive Seite ineinander greifen. Gadamer schließt hier ausdrücklich an Schleiermacher an. »Wie das einzelne Wort in den Zusammenhang des Satzes, so gehört der einzelne Text in den Zusammenhang des Werkes seines Schriftstellers und dieses in das Ganze der betreffenden literarischen Gattung bzw. der Literatur. Auf der anderen Seite gehört aber der gleiche Text als Manifestation eines schöpferischen Augenblicks in das Ganze des Seelenlebens seines Autors.« (ebd., S. 296)

Der hermeneutische Zirkel bildet einen Bedingungszusammenhang in Bewegung ab. Weder einzelne Momente aus der Erfahrung noch eine übergreifende allgemeine Vorstellung können einen angemessenen Ausgangspunkt für ein gesprächsweises Verstehen liefern. Es gibt keinen Vorrang deduktiven oder induktiven Denkens mit einem Ansatz von oben oder einem von unten. Vielmehr kommt beim gesprächsweisen Verstehen alles darauf an, auf eine angemessene Art und Weise in den Kreislauf von Erfahrungen und Vorstellungen hineinzukommen. Der entscheidende Punkt ist, dass sich gesprächsweises Verstehen in der Teilnahme am Gespräch vollzieht und deshalb »Teilnahme am gemeinsamen Sinn« (ebd., S. 297) ist. Insofern das Wesen der Auslegung als im Bringen der Botschaft verankert gedacht wird, kann der hermeneutische Zirkel eines verständigungsorientierten Gesprächs als Ausdruck der Vollzugsform des Daseins selbst angenommen werden. Drittes Merkmal der Vorstruktur des Verstehens ist der Rückbezug des Verstehens auf Tradition. Wenn der dynamische Charakter eines Gesprächs unaufhebbar ist, kann es in gewisser Weise keinen Abschluss eines Gesprächs geben. Insofern kann es streng genommen auch keine endgültigen Urteile geben. Vielmehr sind und bleiben alle Urteile Vorurteile. Es geht also beim Vollzug eines Urteils nicht nur darum, welcher der Gegenwart angehörende und damit auch vorläufige Beurteilungsstandpunkt in ihm zum Ausdruck gebracht wird, sondern es geht auch darum, an welche Voraussetzungen ein Urteil anknüpft und welche Voraussetzungen in ihm selbst zum Ausdruck kommen. »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die A

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Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.« (ebd., S. 281)

Die Macht der Reflexion ist eingebettet in die Macht der Tradition. Jedes Gespräch ist als Geschehen Teil eines größeren Überlieferungszusammenhangs, dessen dynamischen Nachvollzug das Verstehen darstellt. Verstehen bildet ein Moment in der Wirkungsgeschichte des Daseins.

II.

Konsens als Einverständnis

Das dynamische Geschehen eines Gesprächs ist nach Gadamer für die Macht der Reflexion nicht unzugänglich, auch wenn die Macht der Reflexion als in die Macht der Tradition eingebettet gedacht wird. Die Bewegung des Gesprächs kennt ein Ziel, und dieses Ziel ist nichts anderes als der Konsens, wie er im Einverständnis zustande kommt. »Das Ziel aller Verständigung und allen Verstehens ist das Einverständnis in der Sache.« (ebd., S. 297) Dass Verstehen Einverständnis voraussetzt, muss nach Gadamer als »Axiom aller Hermeneutik« (ebd., S. 376) gelten. Ein Einverständnis bildet einen »Vorgriff der Vollkommenheit« (ebd., S. 299), in dem und durch den das Ziel gesprächsweisen Verstehens immer schon vorweggenommen wird. Ein solcher Vorgriff bietet einen maximalen Ausblick auf Verständigung, verbunden mit einer minimalen Festlegung. Die durch ein konsensuales Einverständnis bestimmte Vorstruktur des Verstehens kennt keine weiteren Festlegungen inhaltlicher oder formaler Art, welche dieses dem Verstehen immanente Moment überschreiten würden. Sie geht vielmehr davon aus, dass im Verstehen inhaltliche und formale Momente je nach Art und Verlauf des Gesprächs durch die Gesprächsteilnehmer miteinander verknüpft werden. Mit dem Axiom des Einverständnisses ist nur festgelegt, dass die Teilhabe an Sinn, wie sie sich den Teilnehmern eines Gesprächs erschließt, durch einen Akt der Zustimmung der Gesprächsteilnehmer besiegelt wird. Das im Verstehen implizierte Einverständnis als Vorgriff auf Vollkommenheit unterstellt mit dem Geben einer Zustimmung, dass so etwas wie eine Begegnung der unterschiedlichen Horizonte der Teilnehmer eines Gesprächs stattfinden kann. Gadamer denkt diese Begegnung 48

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§ 7 Gadamer

unterschiedlicher Horizonte als Verschmelzung. Für ihn ist »Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte« (ebd., S. 311). Gadamer versucht diese Begegnung unterschiedlicher Horizonte im Sinne einer Konvergenz zu denken. »Wenn sich unser historisches Bewußtsein in historische Horizonte versenkt, so bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unserer eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen großen, von innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewußtseins umfaßt. In Wahrheit ist es also ein einziger Horizont, der all das umschließt, was das geschichtliche Bewußtsein in sich enthält. Die eigene und fremde Vergangenheit, der unser historisches Bewusstsein zugewendet ist, bildet mit an diesem beweglichen Horizont, aus dem menschliches Leben immer lebt und der es als Herkunft und Überlieferung bestimmt.« (ebd., S. 309 f.)

Nach Gadamer können die unterschiedlichen historischen Horizonte miteinander verschmelzen, weil sie letztlich nichts anderes als Teile eines einzigen Horizonts sind, welcher das gesamte geschichtliche Bewusstsein beinhaltet. Die Macht der Reflexion ist universal, weil die Macht der Tradition universal ist. Von daher bedeutet eine Horizontverschmelzung nicht nur eine Horizontverschiebung, sondern eine Horizonterweiterung (Tietz 2000, S. 83), in welcher sich unser Gesichtskreis vervollkommnet. Als Gesprächspartner sind wir alle in den universalen Prozess der Tradition eingebunden. Weil dies so ist, bedeutet Interpretation soviel wie Anwendung. »Der Entwurf des historischen Horizonts ist also nur ein Phasenmoment im Vollzug des Verstehens und verfestigt sich nicht zu der Selbstentfremdung eines vergangenen Bewußtseins, sondern wird von dem eigenen Verstehenshorizont der Gegenwart eingeholt. Im Vollzug des Verstehens geschieht eine wirkliche Horizontverschmelzung, die mit dem Entwurf des historischen Horizonts zugleich dessen Aufhebung vollbringt. Wir bezeichnen den kontrollierten Vollzug solcher Verschmelzung als die Wahrheit des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins. Während von dem ästhetisch-historischen Positivismus im Gefolge der romantischen Hermeneutik diese Aufgabe verdeckt worden war, liegt hier in Wahrheit das zentrale Problem der Hermeneutik überhaupt. Es ist das Problem der Anwendung, die in allem Verstehen gelegen ist.« (Gadamer 1986, Bd. I, S. 312) A

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2 · Konsenstheorien im Überblick

Interpretation ist also Anwendung, Applikation. »Applikation ist keine nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allgemeinem, das zunächst in sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall, sondern ist erst das wirkliche Verständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist. Das Verstehen erweist sich als eine Weise von Wirkung und weiß sich als eine solche Wirkung.« (ebd., S. 346) Mit dieser doppelten Struktur, Wirkung zu sein und Wirkung hervorzubringen, fügt sich die Interpretation als Applikation in den hermeneutischen Zirkel gesprächsweisen Verstehens ein. Genauer meint Interpretation die Bewegung gesprächsweisen Verstehens, insofern sich diese vom Ziel des Einverständnisses leiten lässt.

III. Reflexion und Tradition Gadamers Hermeneutik beruht auf der Vorstellung eines einheitlichen Horizonts, wie er sich uns in der hermeneutischen Applikation erschließt, mittels derer wir in die geschichtliche Teilhabe am Sinn eintreten. Es geht um eine Auffassung, in der Reflexion und Tradition, Vernunft und Geschichte eine Einheit bilden. Gadamer nimmt den Zugang zur Universalität der Einheit von Vernunft und Geschichte folgendermaßen in den Blick: »Dieses Tun der Sache selbst ist die eigentliche spekulative Bewegung, die den Sprechenden ergreift. Wir haben ihren subjektiven Reflex im Sprechen aufgesucht. Wir erkennen jetzt, dass diese Wendung vom Tun der Sache selbst, vom Zur-Sprache-Kommen des Sinns, auf eine universal-ontologische Struktur hinweist, nämlich auf die Grundverfassung von allem, auf das sich überhaupt Verstehen richten kann. Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Das hermeneutische Phänomen wirft hier gleichsam seine eigene Universalität auf die Seinsverfassung des Verstandenen zurück, indem es dieselbe in einem universellen Sinne als Sprache bestimmt und seinen eigenen Bezug auf das Seiende als Interpretation.« (ebd., S. 478)

Vom Sein über die Sprache zur Vernunft, so ließe sich die universalistische Struktur der Gadamerschen Hermeneutik zusammenfassen. Eine erste erfreuliche Konsequenz dieses Ansatzes ist, dass ein solches universalistisches Konzept von Hermeneutik eine selbstkritische Pointe aufweist. Wenn alles fraglich werden und befragt werden kann, dann gilt das auch für die Voraussetzungen des Fragenden selbst. 50

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§ 7 Gadamer

»Ich muß die Überlieferung in ihrem Anspruch gelten lassen, nicht im Sinne einer bloßen Anerkennung der Andersheit der Vergangenheit, sondern in der Weise, dass sie mir etwas zu sagen hat.« (ebd., S. 367) Das heißt, ich rechne damit, dass die Maßstäbe des eigenen Wissens durch eine Überlieferung in Frage gestellt werden können. Jeder Versuch hermeneutischer Applikation schließt einen Impuls des Sichselbst-aufs-Spiel-setzen mit ein. Andersherum gewendet besagt diese Einsicht auch, dass sich einer hermeneutischen Applikation nur dort ein Stück Universalität erschließen kann, wo sich das hermeneutische Subjekt selbst ins Spiel bringt und aufs Spiel setzt. Nur in der Teilnahme kann es eine Teilhabe geben. Eine andere weniger erfreuliche Konsequenz dieses universalistischen Ansatzes der Hermeneutik liegt darin, dass ihre hermeneutische Applikation oder Anwendung immer noch nach dem Modell einer Aneignung gedacht wird. Gadamer folgt an dieser Stelle ausdrücklich Hegels Konzeption: »Das Leben des Geistes besteht vielmehr darin, im Anderssein sich selbst zu erkennen.« (ebd., S. 352) Der Andere ist hier nicht der Andere als anderer, sondern der Andere wird Teil meiner Bewegung, mit der ich am Sinn teilhabe. Die Fremderfahrung bleibt dem Modell der Aneignung verhaftet, welche den Anderen auf ein Moment meiner Welt reduziert und ihn damit letztlich instrumentalisiert. Tut dieser Einwand Gadamer nicht Unrecht? Ich denke nein, denn nochmals Gadamer: »Verständigung im Gespräch ist nicht ein bloßes Sichaussprechen und Durchsetzen des eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war.« (ebd., S. 384) In dem Gedanken der Verständigung als einer ›Verwandlung ins Gemeinsame‹ steckt diese doppelte Konsequenz. Verwandlung ins Gemeinsame bedeutet einerseits eine selbstverändernde, selbstkritische und selbstrevisionistische Veränderung für das Subjekt. Verwandlung ins Gemeinsame bedeutet andererseits aber auch stets eine selbstgemachte Vorgabe, in welche der Standpunkt des Anderen eingepasst wird. Denn jedes Gemeinsame ist Produkt einer Ordnungsleistung, die von einem bestimmten Subjekt ihren Ausgang nimmt. Dagegen wäre aber geltend zu machen, dass sich die Erfahrung des Fremden nicht umstandslos in ein Gemeinsames integrieren lässt.

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§ 8 Habermas I.

Das Programm einer Universalpragmatik

In mehreren Anläufen und in unterschiedlichen Ausformungen hat Habermas gegen den universalistischen Anspruch einer Hermeneutik Einspruch erhoben. Sein Haupteinwand geht dahin, dass es nicht nur darauf ankäme, einen Konsens zu erzielen, sondern dass dieser Konsens ein vernünftiger Konsens sein müsse. Was aber würde einen Konsens zu einem vernünftigen Konsens machen? Habermas entwickelt seinen Konsensbegriff auf dem Boden einer Universalpragmatik. Das Programm einer Universalpragmatik hat Teil an der sprachphilosophischen Wende der Philosophie, welche die Semiotik als Lehre von den Zeichen in den Mittelpunkt des Philosophierens stellt. Philosophiegeschichtlich gesehen würde auf das ontologische Paradigma des Seins und das mentalistische Paradigma des Bewusstseins das linguistische Paradigma der Sprache folgen, welches Sein und Bewusstsein vermittelt. Dabei versteht sich die Universalpragmatik in Konkurrenz zu syntaktischen oder semantischen Theorien, welche die Frage nach der Verknüpfung oder nach der Bedeutung der Zeichen zum Mittelpunkt machen. Im Gegensatz dazu richtet sich das Interesse der Universalpragmatik auf die »Regeln der Situierung von Sätzen in beliebigen Sprechsituationen« (McCarthy 1989, S. 317). Die Universalpragmatik begreift Äußerungen nicht nur als Sätze, welche Informationen über etwas liefern, sondern sie begreift Äußerungen als Sprechhandlungen, mit denen ein Teilnehmer eines Gesprächs etwas tut, indem er etwas sagt. Neben das konstative Moment tritt das performative Moment einer Äußerung. Denn in und mit der Sprache kann ich informieren, aber auch versprechen, loben drohen, ankündigen usw. Es ist diese Situierung von Sätzen in Situationen, von der her Äußerungen verständlich werden. Das, was ein Gesprächsteilnehmer können muss, damit er sich verständlich machen kann, bezeichnet Habermas als kommunikative Kompetenz. »Habermas’ Konzeption der Universalpragmatik beruht auf dem Argument, dass […] bestimmte Merkmale von Äußerungen – d. h. also nicht nur die Sprache, sondern auch die Rede; nicht nur die linguistische Kompetenz, sondern auch die ›kommunikative Kompetenz‹ – eine rationale Rekonstruktion in einem universalistischen Rahmen zulassen.« (ebd., S. 312)

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§ 8 Habermas

Die von der Universalpragmatik rekonstruierte kommunikative Kompetenz meint die Beherrschung der Regeln, denen Sprechhandlungen unterliegen. Als universal wird diese sich mit der kommunikativen Kompetenz befassende Pragmatik bezeichnet, weil sie unterstellt, dass alle Teilnehmer an Gesprächen solchen Regeln folgen und insofern deren Äußerungen aus der Analyse der ihnen zugrunde liegenden Regeln verständlich gemacht werden können. Habermas erläutert den Begriff kommunikativer Kompetenz folgendermaßen: »Im Verständigungsparadigma ist vielmehr grundlegend die performative Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die ihre Handlungspläne koordinieren, indem sie sich miteinander über etwas in der Welt verständigen. Indem Ego eine Sprechhandlung ausführt und Alter dazu Stellung nimmt, gehen beide eine interpersonale Beziehung ein. Diese ist durch das System der wechselseitig verschränkten Perspektiven von Sprechern, Hörern und aktuell unbeteiligten Anwesenden strukturiert. Dem entspricht auf grammatischer Ebene das System der Personalpronomina. Wer in dieses System eingeübt ist, hat gelernt, wie man in performativer Einstellung die Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Person jeweils übernimmt und ineinander transformiert.« (Habermas 1985, S. 346 f.)

In der Ausübung kommunikativer Kompetenz überschreitet ein Gesprächsteilnehmer jede Art eines rein strategischen oder instrumentellen Verhaltens, weil er sich in einem System bewegt, welches immer schon eine Vielfalt von Perspektiven enthält. Ohne einen angemessenen Umgang mit dieser Vielfalt von Perspektiven wäre jede kommunikative Kompetenz von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was gehört nun zu einem solchen angemessenen Umgang in kommunikativer Kompetenz? Habermas benennt vier Voraussetzungen: »Die vier wichtigsten Präsuppositionen sind: (a) Öffentlichkeit und Inklusion: Niemand, der im Hinblick auf einen konkreten Geltungsanspruch einen relevanten Beitrag leisten könnte, darf ausgeschlossen werden; (b) kommunikative Gleichberechtigung: Allen wird die gleiche Chance gegeben, sich zur Sache zu äußern; (c) Ausschluss von Täuschung und Illusion: Die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen; und (d) Zwanglosigkeit: Die Kommunikation muss frei sein von Restriktionen, die verhindern, dass das bessere Argument zum Zuge kommt und den Ausgang der Diskussion bestimmt.« (Habermas 2001, S. 45) A

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2 · Konsenstheorien im Überblick

Das universalpragmatische Konzept kommunikativer Kompetenz von Habermas mündet auf diese Weise in einen Begriff »rationaler Akzeptabilität« (Habermas 1999, S. 136). Die Beherrschung von Regeln für Sprechhandlungen setzt die Anerkennung der Form einer argumentativen Verfahrensweise voraus, mittels derer so etwas wie ein ›begründetes Einverständnis‹, also ein vernünftiger Konsens erzielt werden kann. »Wie immer auch das Bild einer ideal erweiterten Kommunikationsgemeinschaft (Apel), die unter idealen Erkenntnisbedingungen (Putnam), vor einem idealen Auditorium (Perelman) oder in einer idealen Sprechsituation (Habermas) ein begründetes Einverständnis erzielt, in die Irre führt, bleiben uns ähnliche Idealisierungen keineswegs erspart. Denn die Wunde, die ein problematisch gewordener Wahrheitsanspruch in der Alltagspraxis aufreißt, muss in Diskursen geheilt werden, die weder durch ›schlagende‹ Evidenzen, noch durch ›zwingende‹ Argumente ein für alle Mal beendet werden können. Zwar lassen sich Wahrheitsansprüche in Diskursen nicht einlösen; aber es sind allein Argumente, durch die wir uns von der Wahrheit problematischer Aussagen überzeugen lassen. Überzeugend ist, was wir als rational akzeptieren können.« (Habermas 2001, S. 37)

II.

Konsens als Einverständnis

Als Zielpunkt eines Verfahrens herrschaftsfreier Argumentation rückt der Begriff des Konsenses ins Zentrum der Universalpragmatik von Habermas. Oder, wie es McCarthy mit Habermas’ eigenen Worten ausdrückt: »Die Aufgabe der Universalpragmatik besteht also zunächst in der Rekonstruktion der ›allgemeinen Voraussetzungen von konsensualen Sprechhandlungen‹« (McCarthy 1989, S. 327; der Einschluss ist ein Originalzitat von Habermas aus: Habermas 1995, S. 353). Konsens bedeutet bei Habermas Einverständnis, das heißt eine Zustimmung eines Gesprächsteilnehmers zu einer Übereinstimmung im Wissen. »Gemeinsam nenne ich ein Wissen, das Einverständnis konstituiert, wobei Einverständnis in der intersubjektiven Anerkennung von kritisierbaren Geltungsansprüchen terminiert. Einverständnis bedeutet, dass die Beteiligten ein Wissen als gültig, d. h. als intersubjektiv verbindlich akzeptieren.« (Habermas 1995, S. 573 f.) Welche Funktion kommt einem idealen Einverständnis in der Kommunikation zu? 54

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§ 8 Habermas

»Ziel der Verständigung ist die Herbeiführung eines Einverständnisses, welches in der intersubjektiven Gemeinsamkeit des wechselseitigen Verstehens, des geteilten Wissens, des gegenseitigen Vertrauens und des miteinander Übereinstimmens terminiert. Ein Einverständnis ruht also auf der Basis der Anerkennung der vier korrespondierenden Geltungsansprüche: Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit.« (ebd., S. 355)

Habermas differenziert hier vier unterschiedliche Momente an dem kommunikativen Akt einer Sprechhandlung. Diese vier Momente benennt er als wechselseitiges Verstehen, geteiltes Wissen, gegenseitiges Vertrauen und miteinander Übereinstimmen. Das heißt, ein Einverständnis muss diesen Momenten des kommunikativen Handelns gerecht werden. Anders herum gesehen weist der kommunikative Akt vier Anforderungen auf, vier Geltungsansprüche, die eingelöst werden müssen, damit der kommunikative Akt gelingen kann. Dies sind die bekannten Geltungsansprüche auf Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit. Habermas erläutert die vier Geltungsansprüche folgendermaßen: »Der Sprecher muß einen verständlichen Ausdruck wählen, damit Sprecher und Hörer einander verstehen können; der Sprecher muß die Absicht haben, einen wahren präpositionalen Gehalt mitzuteilen, damit der Hörer das Wissen des Sprechers teilen kann; der Sprecher muß seine Intentionen wahrhaftig äußern wollen, damit der Hörer an die Äußerung des Sprechers glauben (ihm vertrauen) kann; der Sprecher muß schließlich eine im Hinblick auf bestehende Normen und Werte richtige Äußerung wählen, damit der Hörer die Äußerung akzeptieren kann, so dass beide, Hörer und Sprecher, in der Äußerung bezüglich eines anerkannten normativen Hintergrunds miteinander übereinstimmen können. Ferner gilt, dass kommunikatives Handeln ungestört nur so lange fortgesetzt werden kann, wie alle Beteiligten unterstellen, daß sie die reziprok erhobenen Geltungsansprüche zu Recht erheben.« (ebd., S. 354 f.)

Mit diesem auf den vier Geltungsansprüchen von Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit beruhenden Begriff des Einverständnisses formuliert Habermas eine Konsenstheorie in einem starken Sinne. Diese begegnet dem Einwand, dass nicht jedes verständigungsorientierte Gespräch auf ein Einverständnis abzielt. Habermas greift diesen Einwand auf:

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2 · Konsenstheorien im Überblick

»Einverständnis im strengen Sinne wird nur dann erreicht, wenn die Beteiligten einen Geltungsanspruch aus denselben Gründen akzeptieren können, während eine Verständigung auch dann zustande kommt, wenn der eine sieht, dass der andere im Lichte seiner Präferenzen unter gegebenen Umständen für die erklärte Absicht gute Gründe hat, d. h. Gründe, die für ihn gut sind, ohne dass sich der andere diese Gründe im Lichte eigener Präferenzen zu eigen machen müßte.« (Habermas 1999, S. 116 f.)

Dennoch unterliegt nach Habermas jedes verständigungsorientierte Gespräch letztlich dem Prinzip des Einverständnisses, denn sobald ein Gespräch mit einem vereinfachten Anspruch auf Verständigung nicht mehr einfach funktioniert und von den Gesprächsteilnehmern auf irgendeine Art und Weise problematisiert wird, kommen die expliziten Ansprüche eines starken Konsensbegriffes unweigerlich wieder ins Spiel. Das heißt, auf eine gewisse Art und Weise bildet der Begriff des Einverständnisses implizit immer eine unhintergehbare Bedingung jedes verständigungsorientierten Gesprächs, ob dies nun ausdrücklich thematisiert wird oder nicht. Die starke Konsenstheorie von Habermas deutet damit rationale Akzeptabilität als »ideal gerechtfertigte Akzeptabilität« (ebd., S. 285). Ideal gerechtfertigte Akzeptabilität besagt, »nur die Urteile und Normen sind gültig, die unter dem inklusiven Gesichtspunkt der gleichmäßigen Berücksichtigung der einschlägigen Ansprüche aller Personen von jedem Betroffenen aus guten Gründen akzeptiert werden könnten« (ebd., S. 301).

III. Recht und Grenze des Regelbegriffes Die Bedeutung eines Konsensbegriffes ideal gerechtfertigter Akzeptabilität kommt auch dort zum Tragen, wo die Wechselseitigkeit kommunikativen Handelns nur eingeschränkt oder überhaupt nicht gegeben ist. In der Anwendung des Konsensbegriffes auf die mit der Bioethik gegebenen Probleme des Eingriffs in menschliches Leben wird dies sichtbar. Habermas argumentiert gegen die Zulässigkeit von verbrauchender Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik über eine, wie er es nennt, gattungsethische Einbettung der Moral. »Die Teilnehmerperspektive des ›erlebten Lebens‹ stößt in dem Maße, wie sich dem eugenisch manipulierten Heranwachsenden sein Leib auch

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§ 8 Habermas

als etwas Gemachtes enthüllt, mit der vergegenständlichten Perspektive von Herstellern oder Bastlern zusammen. Denn mit der Entscheidung über sein genetisches Programm haben die Eltern Absichten verbunden, die sich später in Erwartungen an das Kind verwandeln, ohne jedoch dem Adressaten die Möglichkeit zu einer revidierbaren Stellungnahme einzuräumen. […] Die Eltern haben ohne Konsensunterstellung allein nach eigenen Präferenzen so entschieden, als verfügten sie über eine Sache.« (Habermas 2001a, S. 90)

Das entscheidende Problem besteht nach Habermas darin, dass ohne die Konsensunterstellung die Teilnehmerperspektive des Heranwachsenden instrumentalisiert wird, im Sinne der Vorstellungen und Wünsche der Eltern. »Die Selektion muss einseitig und insofern instrumentalisierend vorgenommen werden, weil ein antizipiertes Einverständnis, das sich wie im Falle gentherapeutischer Eingriffe zu Stellungnahmen der behandelten Patienten wenigstens nachträglich überprüfen ließe, nicht unterstellt werden kann: hier entsteht eine Person gar nicht erst.« (ebd., S. 117)

Ohne antizipiertes Einverständnis in Bezug auf die Stellungnahme der Teilnehmerperspektive des Anderen wird dieser Andere nicht als Person wahrgenommen oder geachtet, stärker noch, diese Person verliert ihr Existenzrecht. Habermas verwendet die Konsensunterstellung hier ganz im normativen Sinne eines kategorischen Imperativs, also im Sinne eines starken Regelbegriffes. Diese Verwendung entspricht aber nicht den im universalpragmatischen Programm angenommenen Voraussetzungen. Denn dort operiert Habermas mit einem schwachen Regelbegriff, wie er sich aus den Zwängen sprachlicher Praxis ergibt. Der Sprachtheorie stellte sich das Problem, wie und warum es gelingen könne, dass ein Gesprächsteilnehmer mit seiner Äußerung auf eine sinnvolle Art und Weise an die Äußerung eines anderen Gesprächsteilnehmers anknüpfen könne. Nur wenn es ein solches Anknüpfen gibt, kann es das geben, was wir ein Gespräch zu nennen pflegen. Habermas rekonstruiert das Müssen des Anknüpfens in seiner Universalpragmatik als eine Version regelgeleiteten Verhaltens. »Die Nötigung eines solchen ›Müssens‹ ist eher im Sinne von Wittgenstein als von Kant zu verstehen – nicht im transzendentalen Sinne von allgemeinen, notwendigen und ursprungslos-intelligiblen Bedingungen möglicher Erfahrung, sondern im Sinne einer ›Unvermeidlichkeit‹, die A

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sich aus internen begrifflichen Zusammenhängen eines eingeübten, allerdings ›für uns nicht hintergehbaren‹ Systems regelgeleiteten Verhaltens ergibt.« (Habermas 2001, S. 11 f.)

Habermas erläutert den von ihm verwendeten Regelbegriff ausführlich folgendermaßen: »Regeln sind ›normativ‹ in dem schwachen, von allen Konnotationen verpflichtender Handlungsnormen noch unberührten Sinn, dass sie die Willkür eines Subjekts binden, indem sie dessen Absichten in eine bestimmte Richtung ›lenken‹ : – Regeln ›binden‹ den Willen in der Weise, dass die handelnden Subjekte versuchen, mögliche Regelverstöße zu vermeiden; die Befolgung einer Regel bedeutet die Unterlassung eines ›Entgegenhandelns‹ ; – wer einer Regel folgt, kann Fehler machen und setzt sich der Kritik an möglichen Fehlern aus; im Gegensatz zum praktischen Wissen, wie man einer Regel folgt, verlangt die Beurteilung, ob ein gegebenes Verhalten korrekt ist, explizites Regelwissen; – grundsätzlich muss sich der, der einer Regel folgt, vor einem Kritiker rechtfertigen können; deshalb gehört die virtuelle Arbeitsteilung zwischen den Rollen und dem Wissen des Kritikers und des Praktikers zum Begriff der Regelbefolgung selbst; – mithin kann niemand einer Regel solipsistisch, für sich alleine folgen; die praktische Beherrschung einer Regel bedeutet die Fähigkeit zur sozialen Teilnahme an einer eingewöhnten Praxis, in der sich die Subjekte, sobald sie sich ihres intuitiven Wissens zum Zwecke der Rechtfertigung voreinander reflexiv vergewissern, bereits vorfinden.« (ebd., S. 72)

Den entscheidenden Punkt dieses schwachen Regelbegriffes sehe ich darin, dass nach diesem Modell eine Regel so etwas wie eine Leitlinie darstellt, die von mindestens zwei Subjekten befolgt werden muss. Aus der kommunikativen Verwendung einer solchen Leitlinie heraus werden die Sprechhandlungen plausibel, die Wittgenstein als Sprachspiele gedeutet hat. Den Bezug auf Spiele unterstellt, scheint es mir aber notwendig, zwei Arten von Regeln in Spielen zu unterscheiden, die dennoch beide unverzichtbar sind für das Gelingen eines Spieles. Wer weiß, dass beispielsweise im Falle des Schachspieles der König immer nur ein Feld vorrücken oder ein Läufer nur diagonal ziehen darf, kann beim Schachspiel mitmachen, weil er die Regeln beherrscht. Aber er beherrscht das Schachspielen noch nicht. Das Schachspielen beherrscht er erst, wenn er beispielsweise in der Eröffnungsphase feste Kombinationen von Angriffs- und Verteidigungszügen kennt wie die sizilianische Verteidigung. Oder, mit einem anderen Beispiel, es gibt beim 58

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§ 8 Habermas

Fußballspiel einerseits Regeln wie das Verbot des Handspiels, des Foulspiels, die Abseitsregel usw. Andererseits gibt es aber auch die Regeln, die für die erfolgreiche Spielanlage einer Mannschaft erforderlich sind, so z. B. die Wahl eines bestimmten Spielsystems wie 4–3–3 oder 4– 4–2, Raumdeckung oder Manndeckung, Pressing usw. Es gilt, diese strategischen oder taktischen Regeln des Spielens von den eher rechtlich zu nennenden Regeln des Spiels selbst zu unterscheiden. Die erste Schwierigkeit mit dem Habermasschen Regelbegriff besteht darin, dass er zwischen der Regel als Norm und der Regel als Strategie changiert, wenn er einmal das Existenzrecht einer Person an der Konsensunterstellung festmacht, ein andermal Regelbefolgen als Teilnahme an einer sozialen Praxis bestimmt. Eine zweite Schwierigkeit liegt darin, dass Habermas mit dem Merkmal des Regelbefolgens durch mindestens zwei Subjekte die Intersubjektivität von Personen als Ausgangspunkt nimmt. »Habermas bevorzugt deshalb das umgekehrte Verfahren: er nimmt Intersubjektivität zum Ausgangspunkt und konstruiert Subjektivität in Relation dazu. Dieses Verfahren ist repräsentiert in Meads Modell der Rolle, die reziproke Verhaltenserwartungen festlegt, und in Wittgensteins Modell der Regel, die von mindestens zwei Subjekten befolgt werden muss. Begriffe wie ›Rolle‹ und ›Regel‹ müssen von Anfang an im Rahmen der Intersubjektivität definiert werden.« (McCarthy 1989, S. 188 f.)

Diese Einsicht beim Wort zu nehmen würde bedeuten, dass der Kern einer Person aus der Rolle oder aus dem Gesamt der Rollen bestehen würde, welche die Person im kommunikativen Handeln einnähme. Würde damit eine Person nicht auf den Status eines Teils im System reduziert? Oder andersherum gefragt, wäre dem tatsächlich so, woher wüsste dann eine Person, dass sie es ist, welche die Rolle einnimmt? Letztlich löst die Herleitung einer Person aus einer Regel oder aus einer Rolle immer die Personalität einer Person auf und tastet in eins damit die Bedeutung der Konsensunterstellung an, wie sie Habermas in Sachen Bioethik ins Feld führt. Denn das Ziel eines Konsenses kann immer nur das Ziel eines Gesprächsteilnehmers sein, dessen Individualität im Weg zu diesem Ziel zum Zuge kommt.

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§ 9 Zwischenbilanz I.

Eine Charakteristik der Positionen

Am Ausgangspunkt der Untersuchung der unterschiedlichen Konsenstheorien stand die Frage nach der Kraft der Bindung kommunikativen Handelns. Die von Habermas aufgestellte These lautete, dass die Allgemeinheit eines Interesses, aus welcher sich die Kraft der Bindung kommunikativen Handelns ergibt, auf einem Verständnis von Rationalität als einer Form situierter Vernunft beruhe. Welche Rolle spielt der Begriff des Konsenses in einem solchen Konzept von Rationalität? Die erste Station der Untersuchung beschäftigte sich mit dem Begriff des Konsenses bei Schleiermacher. Schleiermachers Verdienst liegt in der Entdeckung der Dimension der Kommunikativität. Schleiermacher verbindet als erster die Dimension des Wissens mit der des kommunikativen Handelns, indem er neben der für einen Streit unverzichtbaren Voraussetzung eines identischen Gegenstandes auf die Voraussetzung einer identischen Perspektive verweist. Allerdings gilt ihm Konsens als Übereinstimmung im Sinne eines Zusammenstimmens, in welchem die unterschiedlichen Sinneseindrücke von einer einheitlichen Vernunft zusammengefügt werden. Letztlich beruht die Unterschiedlichkeit der Perspektiven nur auf einer Unterschiedlichkeit von Erfahrungen, nicht auf einer Unterschiedlichkeit in der Vernunft selbst. Insofern bleibt Schleiermachers Konzept einer Ordnungsvorstellung traditioneller Metaphysik verpflichtet. Sie behält den Rahmen einer Gesamtordnung bei, in welcher der Akt einer Zustimmung sich immer nur auf bereits Gegebenes richtet und noch keine neue Welt schafft. Demgegenüber besteht Husserls Leistung darin, gegen den Gedanken der Aneignung das Moment des Bruchs in der Erfahrung oder das Gebrochensein der Erfahrung thematisiert zu haben. Husserl entwirft eine Theorie der Fremderfahrung, aus deren Berücksichtigung des ursprünglich Unzugänglichen ein erneuertes Verständnis von Konsens als Einverständnis hervorgehen kann. Husserls Konsensbegriff ist allerdings sozusagen nur als ein Nebenprodukt seiner gesamten Überlegungen zur Fremderfahrung anzusehen. Die Schwierigkeiten seiner Auffassung liegen darin, dass hier das Einverständnis als Extrapolation des Normalen aufgefasst wird. Ein solcher Konsensbegriff, der den Konflikt zwischen Normalität und Normativität unterschätzt, bleibt 60

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hinter den eigenen Einsichten in die Fremderfahrung zurück und unterstützt letztlich wieder den Rahmen einer Gesamtordnung. Der Ansatz von Habermas nimmt in gewisser Weise den umfassenden Horizont Schleiermachers mit seiner Verbindung von Wissen und kommunikativem Handeln auf. Allerdings entwickelt Habermas seinen Konsensbegriff eines Einverständnisses als idealer Akzeptabilität im Unterschied zu Schleiermacher aus einer Einbettung des Wissens in kommunikatives Handeln. Auf Verständigung hin ausgerichtetes kommunikatives Handeln liefert den Rahmen verstehenden Wissens. Die Schwierigkeiten seines Begriffes einer idealen Akzeptabilität resultieren aus der Anwendung des Regelbegriffes in einer universalpragmatischen Theorie, in welcher eine objektiv-formale weil quasi-transzendentale Grundordnung als Muster kommunikativen Handelns gedacht wird. Abschließend möchte ich noch auf Gadamers Konzept zurückkommen. Ich setze es an die letzte Stelle dieser Aufzählung, weil es meiner Meinung nach in sich heterogen ist. Einerseits sieht Gadamer klar die Inkommensurabilität individueller Perspektiven und gelangt von hier aus zum Modell einer Multiperspektivität. Gadamers Verdienst liegt in der radikalen Individualisierung von Verstehen und Verständigung, von Wissen und kommunikativem Handeln. Andererseits nimmt Gadamer mit dem Hegelschen Gedanken der Versöhnung in die offene Struktur der Multiperspektivität ein synthetisches Element auf, welches immer schon eine Gesamtheit impliziert. Dies zeigt sich in seinem Begriff universaler Vernunft, aus dem ein Verständnis konsensualer Antizipation als Anwendung folgt. Der Gedanke einer solchen Anwendung, welcher die Subsumtion eines Anderen unter die eigene Vorstellung voraussetzt, führt zu einer Vereinnahmung des Anderen und fällt damit letztlich hinter Husserls Einsichten in die Fremderfahrung zurück. Gadamers Konzept beruht auf der Entdeckung einer Art individueller Teleologie in Überschreitung aller vorgegebenen Ordnungen, welche sich in der Antizipation eines Konsenses realisiert. Der Begriff des Konsenses als Einverständnis findet seinen Abschluss in der Begegnung unterschiedlicher Horizonte, die dann gelingt, wenn es zu einer Verschmelzung dieser Horizonte kommt. Insofern könnte man sagen, Gadamers Ansatz schwankt zwischen dem Modell einer Gesamtordnung und dem einer Grenzordnung.

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II.

Ein bilanzierender Vergleich

In der Absicht, die unterschiedlichen Positionen im Konsensbegriff zum Zweck der Vergleichbarkeit übersichtlich zu machen, möchte ich folgende Charakteristik vorschlagen. Während sich Schleiermachers Position als deterministische Gesamtordnung und Husserls Position als stochastische Gesamtordnung bezeichnen ließen, können Gadamers Position als teleologische Gesamtordnung und Habermas’ Position als deontologische Grundordnung beschrieben werden. Gesamtordnungen zeichnen sich durch den Vorrang einer universalen Vernunft als Leitbild inhaltlicher und formaler Aspekte aus, während Grundordnungen sich auf die Vorgabe formaler Aspekte beschränken. Gesamtordnungen entfalten ein vollständiges Bild aller deskriptiven Beschreibungen und aller präskriptiven Ansprüche, während Grundordnungen, vom permanenten Wandel der deskriptiven Beschreibungen ausgehend, nur dem Bereich des Präskriptiven unveränderliche Geltung zusprechen. Schleiermachers Gesamtordnung nenne ich deterministisch, weil sie davon ausgeht, dass sich ein Streit in der Genauigkeit des Abgleichens unterschiedlicher Eindrücke und Ideen auflösen lässt. Hingegen nenne ich Husserls Gesamtordnung stochastisch, weil sie unterstellt, dass sich die Auflösung eines Streits über eine Annahme von Wahrscheinlichkeiten herstellen lässt. Gadamers Gesamtordnung nenne ich teleologisch, weil sie von der Voraussetzung des gemeinsamen Zieles einer gelingenden Begegnung ausgeht, während ich Habermas’ Grundordnung deontologisch nenne, weil sie das Gelingen von Gemeinsamkeit an einem Befolgen von Regeln festmacht. Gemeinsam ist allen diesen Positionen ein Primat der Ordnung vor dem Außerordentlichen, der sich mit Waldenfels als Normalismus (Waldenfels 2001, S. 438) bezeichnen ließe. Die Schwierigkeit für jede Art von Normalismus besteht darin, dass er auf irgendeine Art und Weise die Inkommensurabilität von Individuen bestreitet oder zumindest verkleinert. Es ist diese Inkommensurabilität, auf der ein Phänomen wie der von Lyotard analysierte Widerstreit beruht, welcher eben aus der Unverrechenbarkeit von Ansprüchen besteht. Wenn Individualität mehr sein soll als irgendeine akzidentielle Abweichung von dem Vorbild einer Gesamtnorm, einer Grundnorm, einer statistischen Gesamtheit oder einer idealen Ganzheit, dann muss sie ihren Maßstab immer schon in sich selbst tragen. Dann ist sie auf eine gewisse Art und Weise unverrechenbar oder unvergleichbar, eben weil sie einzig62

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artig ist. Daraus folgt dann, dass es keinen Primat der Ordnung vor dem Außerordentlichen im Sinne der Normalisten, sondern einen Primat des Außerordentlichen vor der Ordnung im Sinne der Exzeptionalisten geben muss. Der Primat des Außerordentlichen vor der Ordnung ist ein Ansatz, der auf den ersten Blick vielleicht ungewohnt erscheinen mag und der auch sicherlich eine Menge theoretischer Fragen und Probleme aufwirft. Dennoch rückt er als unvermeidliche Konsequenz aus der Einsicht in die Inkommensurabilität der Individuen und der daraus folgenden Affirmation von Individualität ins Blickfeld. Im Ausgang von der Annahme eines Primats des Außerordentlichen stellt sich aber sofort die Frage nach der Bedeutung von Ordnung. Die Annahme eines Primats des Außerordentlichen besagt nicht, dass es so etwas wie Ordnung überhaupt nicht gäbe. Vielmehr gilt in einem exakten Sinne: »Es gibt Ordnung.« (Waldenfels 1985, S. 123; der Satz stammt mit einer leichten Veränderung der Wortstellung aus dem Vorwort zu ›Die Ordnung der Dinge‹ von Michel Foucault, vgl. Foucault 1995, S. 23) Der Satz, es gibt Ordnung, bedeutet, dass es Ordnung gibt in dem Sinne: Sie kommt vor. Ordnung gibt es in demselben Sinne, wie Lyotard sagt, dass das Verketten unvermeidlich ist. Es passiert einfach, oder es geschieht. Das heißt, eine Ordnung besitzt den Status eines Ereignisses. Insofern müssen Ordnungen immer als vorläufig betrachtet werden. Ordnungen entstehen und vergehen. Ordnungen treten immer im Plural auf. Ordnungen sind variabel. Mit einem Wort, Ordnungen sind kontingent.

III. Konsequenzen für den weiteren Gang der Untersuchung Im folgenden Gang der Untersuchung wird es darauf ankommen, die Konsequenzen eines solchen Ansatzes für den Begriff eines Konsenses zu entfalten. Dabei behalte ich den von Schleiermacher gesetzten Ausgangspunkt bei, demzufolge die Feststellung eines Streits auf zwei unhintergehbaren Voraussetzungen beruht. Damit ein Streit überhaupt als Streit identifiziert werden kann, bedarf es zweier Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten sind zum einen ein gemeinsamer Gegenstand, zum anderen eine gemeinsame Perspektive. Ein gemeinsamer Gegenstand ist für das Zustandekommen eines Streits notwendig, weil es sich bei einem Streit ohne gemeinsamen Gegenstand einfach um ein A

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Missverständnis handeln würde. Die an einem Streit beteiligten Parteien müssen ein Interesse an derselben Sache haben. Eine gemeinsame Perspektive ist für das Zustandekommen eines Streits notwendig, weil ohne gemeinsame Perspektive ein Konflikt nicht einmal entstehen könnte. Die an einem Streit beteiligten Parteien müssen einander widerstreitende Interessen an derselben Sache haben. Der Konflikt, welcher dann im Streit ausgetragen wird, bezieht sich darauf, welche Allgemeinheit der dem Streit zugrunde liegenden Interessen zum Zuge kommt. In dieser Interpretation eines Streits wird bereits das Vorhandensein eines Vermögens von Rationalität vorausgesetzt. Das bedeutet keineswegs, dass jedes Zustandekommen eines Streits, jeder Ablauf eines Streits oder jede Lösung eines Streits auf eine rationale Weise erfolgen würde. Aber es bedeutet, dass jede Art von Streit einem Vermögen von Rationalität zugänglich ist in dem Sinne, dass das Vermögen der Rationalität eine Analyse des Streits vornehmen kann. Mit Manfred Frank lässt sich die Notwendigkeit eines Konsensbegriffes wie folgt bilanzieren: »Die kontrafaktische Unterstellung des Konsensus – dessen regulative Natur seiner Unvermeidlichkeit keinen Abbruch tut – ersetzt die fehlende ›Über-Ordnung‹ der irreduzibel vielfältigen Satzverwendungsregeln und Redegattungen vollkommen. Denn unmotiviert ist der Übergang von einem Satz zu einem anderen nur für den, der am Argumentationsspiel nicht teilnimmt, sondern es – mit dem verfremdeten Blick des Ethnologen – aus der Außenperspektive observiert. Für die argumentierenden Dialogpartner selbst ist ein Übergang zwischen Sätzen verschiedener Codes jederzeit durch die Übereinstimmung motiviert, die zu unterstellen sie mit ihrem Partner im Verlauf des Argumentationsspiels und im Blick auf die richtige Deutung ihres Streitgegenstandes gar nicht vermeiden konnten, soll ihr Dialog nicht abbrechen. Ein Dialog, der – für beide Partner sichtbar – nicht mehr die gleiche Sache anvisiert und auch nicht mehr vom Verständigungswillen getragen wird, kann aber nicht einmal einen ›différend‹ produzieren; denn ein solcher kann sich nur in einem Dialogspiel als Negativerfahrung bemerklich machen, das die beiden Voraussetzungen explizit oder implizit anerkannt hätte.« (Frank 1988, S. 95 f.)

Das heißt, die in einem Streit beanspruchte Version von Allgemeinheit, besser die in einem Streit beanspruchten unterschiedlichen Versionen von Allgemeinheit bleiben einer rationalen Analyse nicht 64

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grundsätzlich verschlossen. In einer solchen Sichtweise werden die beiden Dimensionen eines Streits mit einem Bezug auf Geltungsansprüche verbunden. In jeder Version von Allgemeinheit, die einen Gegenstand als denselben Gegenstand zu identifizieren in der Lage ist, wird ein Geltungsanspruch auf Wahrheit erhoben. In jeder Version von Allgemeinheit, die eine Perspektive als dieselbe Perspektive zu identifizieren in der Lage ist, wird ein Geltungsanspruch auf Wahrhaftigkeit erhoben. Ohne Bezugnahme auf die Geltungsansprüche von Wahrheit und Wahrhaftigkeit kann es eben überhaupt keinen Streit, demzufolge auch keine Lösung eines Streits und damit auch keine sinnvolle Idee eines Konsenses geben. Meine Vermutung geht dahin, dass in der Bezugnahme auf die Geltungsansprüche von Wahrheit und Wahrhaftigkeit eine wie auch immer geartete realistische Intuition enthalten sein muss. Was den Geltungsanspruch der Wahrheit betrifft, so wird mit dessen Inanspruchnahme vorausgesetzt, dass es ein Erreichen eines Gegenstandes geben kann, welches mehr ist als nur eine unterschiedliche Zugangsweise. Es muss an einem bestimmten Punkt einen Widerstand geben, welcher vom Gegenstand selbst her initiiert wird. Jede Art von Evidenz als der Selbstgegebenheit einer Sache setzt voraus, dass es einen solchen Anhaltspunkt in der Sache selbst geben kann, der mehr enthält als der Zugang zum Phänomen allein. Was den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit betrifft, möchte ich hier die metaphysische Idee der Verpflichtung von Levinas ins Spiel bringen. Dabei weist der Ausdruck der Metaphysik nicht auf Überzeugungen im Sinne einer Hinter- oder Sonderwelt jenseits der Wirklichkeit hin. Der Ausdruck einer Metaphysik bezeichnet hier vielmehr Überzeugungen im Sinne von letzten Gedanken, wie dies Henrich annimmt: »In ihnen wird ein Leben in einer Summe zusammengefaßt und zugleich auf das Ganze dessen, was ist, bezogen.« (Henrich 1999, S. 195) Levinas hat ein solches Konzept von Metaphysik entworfen, in welchem der Gedanke einer Verantwortung vor dem Anderen und für den Anderen als unbedingter Verpflichtung im Mittelpunkt steht. Ein solches Konzept von Metaphysik beschreibt eine Grenze in der Welt, indem es eine Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen zieht. Diese Grenze bildet aber eine Art ›innerer Transzendentalität‹ (Vgl. dazu: Dussel 1989, S. 62), weil sie auf dem Boden des Selbst verläuft. Sie stellt eine Grenze des Selbst in sich selbst oder sich selbst gegenüber dar, indem sie darauf verweist, dass die Möglichkeiten des AndeA

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2 · Konsenstheorien im Überblick

ren den Möglichkeiten des Selbst auf eine grundsätzliche Art und Weise entzogen sind. Daraus folgt, dass das Selbst der unbedingten Verpflichtung durch den Anderen nicht ausweichen kann. Vielmehr verwirklicht sich das Selbst in der Art und Weise, wie es seine Verpflichtung durch den Anderen erträgt. Wenn den Geltungsansprüchen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ein realistischer Hintergrund in der beschriebenen Art und Weise zukommen kann, dann bedeutet dies für eine Theorie des Konsenses, dass der Begriff des Konsenses ein notwendiges Moment am Geschehen des kommunikativen Handelns bezeichnet. Für eine zureichende Bestimmung dessen, was Konsens heißen könnte, müsste aber in einem ersten Schritt die Struktur der Subjektivität näher bestimmt werden, welche die Geltungsansprüche von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zum Ausdruck bringt. Auf dieser Grundlage könnte dann in einem zweiten Schritt ein erneuerter Begriff des Konsenses selbst in der Ausgestaltung der Geltungsansprüche von Wahrheit und Wahrhaftigkeit entfaltet werden.

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Kapitel 3: Der Einspruch des Anderen

Wir halten uns unter dem Tisch an den Händen. Bruno Schulz

§ 10 Lyotards Minimalismus I.

Das Konzept einer kommunikativen Analytik

Im Ausgang von einem Primat des Außerordentlichen vor jeder Ordnung bietet die postmoderne Analytik von Lyotard einen alternativen Zugang zur Frage nach dem Konsens, der dann aber doch mit überraschenden Gemeinsamkeiten zu den im vorhergehenden Kapitel besprochenen Konsenstheorien aufwarten kann. Lyotards Anliegen ist es, jenseits aller von der Subjektivität her erschlossenen Gemeinsamkeiten die Fremdheit des Anderen wahrzunehmen, ohne sie zu vereinnahmen. Lyotard kann als einer der Protagonisten derjenigen Bewegung angesehen werden, welche unter dem Begriff der Postmoderne als Nachfolgerin der Moderne verhandelt wird. Legt der Ausdruck der Postmoderne vor allem den Gedanken einer Ablösung der Moderne nahe, so entspricht diese Auffassung nicht ganz dem Selbstverständnis von Lyotard. Postmoderne bedeutet bei Lyotard in erster Linie Vielfalt, ein pluralistisches Denken, welches von einem Nebeneinander von Fragmenten ausgeht. Mit einer solchen Denkweise schließt Lyotard durchaus an die ästhetische Moderne an, insoweit diese avantgardistisches Experimentieren zu ihrer Richtschnur gemacht hat. Ihr kritisches Potential gewinnt diese Denkweise aus einer Analyse des Gegenwärtigen als »Abarbeitung des ursprünglich Vergessenen« (ReeseSchäfer 1995, S. 48). Sie verfährt damit als Analytik nach dem Vorbild der Psychoanalyse im Sinne einer Aufdeckung des Verborgenen, ohne die inhaltlichen Annahmen der Psychoanalyse zu übernehmen. A

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Mit seiner postmodernen Analytik wendet sich Lyotard gegen zwei verschiedene Versionen, eine theoretisch begründete Legitimation gesellschaftlicher Prozesse aufzubauen. Zum einen lehnt Lyotard ein spekulatives Legitimationsmodell im Sinne einer Gesamtordnung universaler Vernunft ab, demzufolge das Leben des Geistes allen einzelnen theoretischen und praktischen Schritten Sinn verleihen würde. »Wenn aber das Bewußtsein aufkommt, daß das Leben des Geistes selber nur eine Geschichte unter vielen anderen ist, verschwindet die spekulative Hierarchie der Erkenntnisse.« (ebd., S. 28) Und mit dem Gedanken einer spekulativen Hierarchie, so ließe sich hier ergänzen, verschwindet der Anspruch auf eine vernünftige Gesamtordnung. Zum anderen lehnt Lyotard aber auch ein emanzipatorisches Legitimationsmodell ab, demzufolge alle einzelnen theoretischen und praktischen Schritte sinnvoll werden, wenn sie sich in ihrer Konstitution an den formalprozeduralen Regeln universaler Vernunft ausrichten. Denn: »Das emanzipatorische Legitimationsmodell zerfällt, weil das Bewußtsein dafür entsteht, dass aus wissenschaftlichen Beschreibungen keine präskriptiven Aussagen gewonnen werden können.« (ebd., S. 28) Weil also weder von einer Gesamtordnung noch von einer Grundordnung universaler Vernunft die Rede sein kann, ist nach Lyotard mit der Postmoderne als dem Ende der Moderne auch das Ende der großen Erzählungen erreicht. Dennoch sieht Lyotard weiterhin ein Bedürfnis nach Legitimation in dem Sinne, dass Individuen, Gruppen oder Gesellschaften ihre theoretischen und praktischen Anstrengungen als sinnvoll interpretieren wollen. Ein solcher Versuch ist nach Lyotard von vornherein durch das Paradox gekennzeichnet, dass er einerseits zwar unabdingbar notwendig erscheint, andererseits aber mit unzureichenden Mitteln durchgeführt wird. Versuche theoretischer Legitimation knüpfen an ein Gefühl an, welches Lyotard im Gefolge Kants als Enthusiasmus bezeichnet. Am Enthusiasmus lassen sich die geschichtlichen Zeichen der Zeit ablesen. »Der Enthusiasmus ist eine Modalität des erhabenen Gefühls. Die Einbildungskraft versucht, eine unmittelbare, sinnliche Darstellung für eine Idee der Vernunft (denn das Ganze ist ein Gegenstand der Idee, etwa die Gesamtheit praktisch-vernünftiger Wesen) zu liefern, scheitert jedoch daran und empfindet damit ihre Kraftlosigkeit, entdeckt aber zugleich ihre Bestimmung, die darin ersteht, ihre Übereinstimmung mit den Ideen der Vernunft durch eine passende Darstellung zu realisieren.

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§ 10 Lyotards Minimalismus

Aus diesem gestörten Bezug folgt, dass man – anstatt eines Gefühls für einen Gegenstand – ein Gefühl ›für die Idee der Menschheit in unserem Subjekt‹ empfindet.« (Lyotard 1989a, S. 273 mit Kant-Zitat aus KUK § 25, § 27)

Das Legitimationsmodell der postmodernen Analytik steht damit vor der Schwierigkeit, dass es die Unmittelbarkeit der Erfahrung mit der vermittelnden Kraft der Vernunft zusammen denken will. Dabei stellt die postmoderne Analytik fest, dass das Vermögen der Vernunft im Erfassen der Unmittelbarkeit der Erfahrung an seine Grenzen gerät. Im Enthusiasmus der geschichtlichen Zeichen der Zeit taucht das Gefühl des Erhabenen auf. »Das Erhabene ist ein anderes Gefühl. Es hat statt, wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand auszustellen, der mit einem Begriff, und sei es auch nur im Prinzip, zur Übereinstimmung gelangen könnte. Wir verfügen zwar über die Idee der Welt (der Totalität dessen, was ist), aber wir haben nicht die Fähigkeit, von ihr ein Beispiel aufzuzeigen. Wir haben die Idee des Einfachen (des nicht weiter Teilbaren), aber wir können es nicht durch einen Sinnesgegenstand veranschaulichen, der dafür als ein Fall fungierte. Wir können uns das absolut Große, das absolut Mächtige vorstellen, aber jegliche Darstellung eines Gegenstands, die darauf abzielte, jene absolute Größe oder Macht ›sehen zu lassen‹, erscheint uns schmerzlich unzureichend. Es sind Ideen, deren Darstellung nicht möglich ist; durch sie wird also nichts Wirkliches erkannt (was der Erfahrung angehörte); sie untersagen die freie Übereinstimmung zwischen den Vermögen, die das Gefühl des Schönen hervorruft; sie verhindern die Bindung und Feststellung eines Geschmackes. Man kann sie undarstellbar nennen.« (Lyotard 1996, S. 23 f.)

Die mittels Vernunft unternommene Rettung der Unmittelbarkeit der Erfahrung führt in die Undarstellbarkeit, wie sie das Gefühl des Erhabenen anzeigt. Dieses Gefühl des Erhabenen sperrt sich gegen jeden Versuch einer Ordnung. Es verhindert die Abschließung von Ordnung, umgekehrt betrachtet, es gewährleistet die Offenheit einer Ordnung. Das heißt, neben der Ordnung, genauer, neben allen Ordnungen gibt es ein Außerordentliches, zu dem alle Ordnungen in einem bestimmten Verhältnis stehen. Lyotards Intuition lässt sich sehr schön anhand eines Aphorismus von Wittgenstein charakterisieren: »Die bürgerliche Stellung des Widerspruchs, oder seine Stellung in der bürgerlichen Welt: das ist das philosophische Problem.« (Wittgenstein 1993, S. 85; vgl. dazu: ReeseA

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3 · Der Einspruch des Anderen

Schäfer 1995, S. 74 f.) Es geht Lyotard um diese Bedeutung der Inkommensurabilität, wie sie im Auseinandertreten von Ordnung und Außerordentlichem aufscheint. Lyotard fasst dieses Auseinandertreten in den Begriff des Widerstreits. Die Idee des Widerstreits beruht auf drei elementaren Voraussetzungen. Erstens gibt es so etwas wie eine Kommunikativität, die sich in Sprachspielen vollzieht. Zweitens sind diese Sprachspiele einander heterogen und befinden sich deshalb drittens miteinander im Konflikt. Lyotard selbst erläutert den Begriff des Widerstreits in Abgrenzung zu einem Rechtsstreit. »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit wäre ein Widerstreit ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, dass die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu (einer von ihnen zumindest, und allen beiden, wenn keine diese Regel gelten läßt)« (Lyotard 1989a, S. 9)

Das heißt, ein Widerstreit bezeichnet einen Konfliktfall, in dem die unterschiedlichen Perspektiven nicht von einem Allgemeinen umfasst werden können. Jede Perspektive ist in ihrer Einzigartigkeit unverrechenbar. Und weil dies so ist, ist auch der Schaden, den eine Perspektive erleidet, irreparabel. Lyotard leitet diese Einsicht in die Inkommensurabilität von Perspektiven aus einer Analyse der Sprachspiele ab. »Ein Satz, selbst der gewöhnlichste, wird nach einer Gruppe von Regeln gebildet (seinem Regelsystem [règlement]). Es gibt mehrere Regelsysteme von Sätzen. Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw. Zwei Sätze ungleichartiger heterogener Regelsysteme lassen sich nicht ineinander übersetzen. Sie können im Hinblick auf einen durch eine Diskursart festgelegten Zweck miteinander verkettet werden. Beispielsweise verkettet der Dialog eine Frage mit einer Ostension (Zeigen) oder einer Definition (Beschreiben), wobei der Einsatz darin besteht, dass die beiden Parteien Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung eines Referenten erzielen. Diese Diskursarten liefern Regeln zur Verkettung ungleichartiger Sätze, Regeln, mit denen Ziele erreicht werden können: Wissen, Lehren, Rechthaben, Verführen, Rechtfertigen, Bewerten, Erschüttern, Kontrollieren … Es gibt keine

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§ 10 Lyotards Minimalismus

›Sprache‹ [langage] im Allgemeinen, es sei denn als Gegenstand einer Idee.« (ebd., S. 10)

Wenn die Idee eines Allgemeinen als derart prekär anzusehen wäre, wie könnte dann überhaupt so etwas wie Verstehen oder Verständigung entstehen? Lyotards Konzept scheint dann plausibel, wenn man davon ausgeht, dass das Allgemeine nicht als ein Fall von Über- oder Unterordnung anzusehen ist, sondern als Zuordnung. Auch wenn die Sprachspiele zueinander nicht in Form einer Hierarchie auftreten können, heißt das nicht, dass es überhaupt keine Form von Bindung gibt. Ein Sprachspiel ist vielmehr mit einem anderen Sprachspiel verkettet. Für Lyotard gilt dabei: »Verketten ist notwendig, eine Verkettung nicht.« (ebd., S. 142). Das besagt: »Erstens muß ein Satz, der geschieht, weiter verkettet werden (und sei es mit einem Schweigen, das ein Satz ist), man hat keine Möglichkeit, die Verkettung auszulassen. Zweitens: die Verkettung ist notwendig, die Art und Weise kontingent.« (ebd., S. 58) Sprache als Praxis des Spielens von Sprachspielen bildet für Lyotard eine Form von Paralogie. Paralogie meint wörtlich ein Nebenvernünftiges. Bei Lyotard bezeichnet es den Prozess des Verkettens durch Nebeneinanderstellen. Die Paralogie bildet ein Gegenkonzept zur Vorstellung eines universalen Konsenses. »Wir haben aber mit der Analyse der wissenschaftlichen Pragmatik gezeigt, dass der Konsens nur ein Zustand der Diskussion und nicht ihr Ziel ist. Dieses ist vielmehr die Paralogie. Was mit dieser doppelten Feststellung (Heterogenität der Regeln, Analyse der Nichtübereinstimmung) verschwindet, ist eine Überzeugung, die noch die Forschungsarbeit von Habermas belebt, nämlich dass die Menschheit als kollektives (universelles) Subjekt ihre gemeinsame Emanzipation mittels der Regelung in allen Sprachspielen erlaubter ›Spielzüge‹ anstrebt und dass die Legitimität einer beliebigen Aussage aus ihrem Beitrag zu dieser Emanzipation besteht.« (Lyotard 1986, S. 189 f.)

Konsequenterweise verabschiedet sich Lyotard deshalb von der Idee des Konsenses, was aber keinen Abschied von der Idee der Verständigung überhaupt bedeuten soll. »Der Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man muß also zu einer Idee und Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsenses gebunden ist. Das Erkennen der Heteromorphie der Sprachspiele ist ein erster Schritt in diese Richtung. Es impliziert offenkundig den Verzicht auf den Terror, A

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3 · Der Einspruch des Anderen

der ihre Isomorphie annimmt und zu realisieren trachtet. Das zweite ist das Prinzip, dass, wenn es einen Konsens über die Regeln gibt, die jedes Spiel und die darin gemachten ›Spielzüge‹ definieren, so muß dieser Konsens lokal sein, das heißt von gegenwärtigen Mitspielern erreicht und Gegenstand eventueller Auflösung.« (ebd., S. 190 f.)

Verständigung beruht nach Lyotard auf einer Anerkennung von Gerechtigkeit. Konkret bedeutet das eine Aufforderung zur Anerkennung der Vielfalt im Sinne eines Zulassens der Vielfalt. Dies beinhaltet eine Ermutigung zum Dissens gegen jeden Konsens einer Gesamt- oder Grundordnung. Die in der verkettenden Verkettung gelingende Verständigung bedarf nur eines lokalen Konsenses, in dem bestimmte Gesprächspartner in einer bestimmten Situation eine überschaubare, also begrenzte Einigung erzielen. Es gilt hier festzuhalten, dass der Konsensbegriff in diesen Überlegungen nicht vollständig verschwindet. So spielt er untergründig durchaus auch eine Rolle im Begriff der Gerechtigkeit. Denn wenn Gerechtigkeit heißt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, stellt sich die Frage, wie festgestellt werden soll, was denn als gleich und was als ungleich zu bezeichnen wäre. Das heißt, der Begriff des Konsenses kommt hier ebenso wieder zum Vorschein wie in den Überlegungen zu einem lokalen Konsens. Der Begriff des Konsenses wird bei Lyotard aber auf eine untergeordnete Funktion eines Gesprächs reduziert. Pointiert ausgedrückt könnte man sagen, es handelt sich bei Lyotard um eine inverse Konsenstheorie, weil der Dissens zum Horizont des Konsenses erhoben wird. Die postmoderne Analytik Lyotards behauptet den Widerstreit als Zentrum von Kommunikativität. Indem sie den Dissens als Horizont einer möglichen Einigung vorstellt, wird sie selbst zum »Denken der Dispersion« (Lyotard 1989a, S. 12). Lyotard versucht mit diesem Ansatz die Nachtseite von Gemeinschaft auszuleuchten. Als schlimm wäre demzufolge die Situation der Diaspora als der Zerstreuung oder Vereinzelung der Unterdrückten zu bezeichnen. Vielleicht wäre die Dispersion, das heißt die Zerstreuung oder Vereinzelung der Sätze als noch schlimmer einzuschätzen. Der eigentliche Skandal aber wäre diejenige Dispersion, die so radikal wäre, dass es niemanden mehr gäbe, der sich der Dispersion erinnern und annehmen würde. In der zeugenlosen Dispersion fände die endgültige Auslöschung der Unterdrückten und damit so etwas wie eine definitive Exklusion statt. 72

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§ 10 Lyotards Minimalismus

»Die zeugenlose Dispersion, die ›wir‹ gerade als Auslöschung des Dritten beschrieben haben, mußte durch einen Dritten ausgedrückt werden. Daß wir in Auschwitz abgetötet wurden, haben zumindest ›wir‹ gesagt. Es gibt keinen Übergang vom Universum des Satzes des Deportierten zu dem des Satzes der SS. Zu dieser Behauptung aber war es notwendig, dass wir beide Universen behaupteten, als ob ›wir‹ jeweils die SS und der Deportierte gewesen wären. Damit haben ›wir‹ ausgespielt, was ›wir‹ suchten, nämlich ein wir. Auf der Suche nach ihm drückte es sich also aus, wie es von Anbeginn im Spiel war. Denn ohne die Voraussetzung dieser Beständigkeit eines denkenden ›Wir‹ hätte es überhaupt keine nachforschende Bewegung gegeben. Sicher ist es nicht die Totalisierung der jeweils unter dem Namen von ›Auschwitz‹ ausgespielten Ich, Du, Er, denn tatsächlich bezeichnet dieser Name die Unmöglichkeit einer solchen Totalisierung. Es ist aber die reflektierte Bewegung dieser Unmöglichkeit, das heißt die Dispersion, die sich erkennt und sich in der Affirmation des Nichts von der Vernichtung erholt. / Das Wir, das zumindest aus dem schreibenden Ich und dem lesenden Du besteht.« (ebd., S. 176)

Gegen die Gefahr der Auslöschung will Lyotard an der Macht des Wir festhalten, eines Wir, welches nach Lyotard so etwas wie ein Angebot darstellt, das in der Verkettung eines Satzgefüges mit enthalten ist. Das heißt, bei aller Betonung von Dispersion und Dissens setzt auch Lyotard damit einen affirmativen Horizont von Kommunikativität voraus.

II.

Zur Kritik des Konzepts einer kommunikativen Analytik

In gewisser Weise scheint Lyotards Konzept in sich zweideutig zu sein. Einerseits sagt Lyotard ganz klar: »Verketten ist notwendig, eine Verkettung nicht.« (ebd., S. 142) Das heißt: »Man muß verketten heißt nicht du sollst verketten. […] Man ist vom Vorkommnis nicht wie durch eine Verpflichtung gebunden.« (ebd., S. 197) Andererseits postuliert Lyotard in der Dispersion eine ›Affirmation des Nichts‹, welche dem gemeinsamen Wir zugrunde liegt. Folgt die erste Überlegung dem Wittgensteinschen Regelverständnis als Normalität, so steckt in der zweiten Überlegung das kantische Regelverständnis mit seinem Anspruch auf Normativität. Auf eine ganz andere Art und Weise gerät Lyotard hier in dieselben Aporien wie Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns. Der Grund dafür ist in deren gemeinsamem Ausgangspunkt A

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gegeben, wie ihn Lyotard in der Fortsetzung des schon angeführten Satzes festhält: »Verketten ist notwendig, eine Verkettung nicht. Sie kann aber für triftig erklärt werden, der Satz, der dies tut, ist eine Verkettungsregel.« (ebd., S. 142) Es ist dieses Beharren auf dem Gedanken einer Verkettung durch Regeln, welcher Lyotards Konzept in Schwierigkeiten bringt. Mit der Beschränkung auf ein Regeldenken als einfacher Normalität würde der Minimalbegriff des Wir als eines schreibenden Ich und eines lesenden Du getilgt. Mit der Ausdehnung des Regeldenkens auf eine verpflichtende Normativität aber würde eine Gemeinschaft unterstellt, in der kein Raum wäre für Widerstreit, Dissens und Dispersion. Ein Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma könnte darin liegen, eine Verpflichtung nicht als Regel, sondern als Motiv zu begreifen. Lyotard wendet sich in einem ersten Schritt mit aller Entschiedenheit gegen jeden Anspruch von Normativität im kommunikativen Handeln und damit gegen jede Vorstellung eines Konsenses. Aufgrund der Entdeckung unüberbrückbarer Inkommensurabilität in der Individualität spricht er sich für einen Vorrang des Dissenses aus, welchen er allerdings in einem zweiten Schritt selbst wiederum mit Formen eines begrenzten Konsensbegriffes verknüpft. Eine nicht verrechenbare Negativität, wie sie im Widerstreit ihren Ausdruck findet, ermangelt eines affirmativen Horizonts. Aller Ablehnung einer Gesamt- oder Grundordnung zum Trotz bleibt der in und mit dem Regelbegriff gegebene Konflikt zwischen Normalität und Normativität auch bei Lyotard ungelöst. Mit Lyotard gilt es in einem ersten Schritt festzuhalten, dass es in Gesprächen, also beim Aufeinandertreffen von Äußerungen so etwas wie Anknüpfung gibt. Ohne dieses ›Wir‹ selbst in der Minimalform von Schreiber und Leser, wie es Lyotard sagt, gäbe es überhaupt kein Gespräch. In einem zweiten Schritt stellt Lyotard fest, dass Verketten notwendig sei, nicht aber die Verkettung. Anders ausgedrückt, das ›Dass‹ des Anknüpfens stelle eine Notwendigkeit dar, das ›Wie‹ der Anknüpfung nicht. Alle Anknüpfung wäre dann freie Variation. Diesen zweiten Schritt halte ich für problematisch, auch wenn seine Antwort so einfach und übersichtlich aussehen mag. An dieser Stelle möchte ich gegenüber diesem zweiten Schritt mehrere Einwände geltend machen. Erstens lassen sich das ›Dass‹ des Verkettens und das ›Wie‹ der Verkettung nicht so einfach trennen. Anknüpfen und Anknüpfung sind Bestandteile eines einzigen Aktes von Äußerung, die 74

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§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas

sich aufeinander beziehen. Es gibt kein Anknüpfen ohne Anknüpfung. Zweitens gibt es auch ein Gelingen oder Misslingen des Anknüpfens, welches mit der Art und Weise des Anknüpfens, also mit der Anknüpfung zusammenhängt. Wonach unterscheiden wir denn, wenn wir von einem Gelingen oder Misslingen des Anknüpfens sprechen? Wir unterscheiden immer spontan bessere von schlechteren Anknüpfungen. Bessere oder schlechtere Anknüpfungen lassen sich ihrerseits nur vor einem Horizont einer idealen Anknüpfung unterscheiden. Insofern hängt das Gelingen des Anknüpfens mit dem Gelingen der Anknüpfung untrennbar zusammen. Drittens folgt auch die Idee der Anknüpfung als freier Variation bereits der Idee einer zwanglosen Einigung. Denn nach welchem Maß sollte ich ein Gelingen in einer freien Variation beurteilen können, wenn nicht nach der Kraft des besseren Arguments? Abschließend gesagt, Lyotard unterbietet mit seinem Konzept die durch die fremde Subjektivität und das auf sie bezogene Fremdverstehen gestellte Aufgabe und damit die Ansprüche des Anderen als Prätention und Appell, weil seine Unterscheidung der Aufgabe der Normativität nicht gerecht wird. Aus den genannten Einwänden möchte ich den Schluss ziehen, dass sowohl das ›Dass‹ des Anknüpfens als auch das ›Wie‹ der Anknüpfung einer regulativen Idee bedürfen.

§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas I.

Das Konzept einer heteronomen Subjektivität

Im Gefolge der Kritik von Lyotards Unterbietung von Normativität muss die Frage nach der Kraft der Bindung durch Sprache in der Normativität neu gestellt werden. Der Einspruch des Anderen bedeutet das Geltendmachen einer Transzendenz als Ursprung von Normativität. Dieser Einspruch sprengt den Rahmen des Subjekts auf und führt das Subjekt über sich hinaus. Bei Emmanuel Levinas wird Transzendenz als radikale Transzendenz gedacht, insofern sie die Wurzel des Subjekts antastet. Das Subjekt wird in seiner Selbständigkeit in Frage gestellt und als ein Subjekt in Abhängigkeit gedacht. Was bleibt von der Idee der Autonomie angesichts solcher Heteronomie? Das Anliegen, welches Levinas mit seiner Theorie einer utopischen Subjektivität verfolgt, könnte man in A

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3 · Der Einspruch des Anderen

einem Aufweis von Transzendenz sehen. Die Subjektivität soll in ihrem Verhältnis zur Transzendenz bedacht werden. Diese Transzendenz ist radikal, weil sie die Schlüsselstellung des Subjekts als ›Ich‹ angreift. Der Andere ist in keiner Weise so etwas wie ein Nicht-Ich. Vielmehr geht es um den Anderen in seiner Andersheit. Nach Marquardt will Levinas uns lehren, »a. die Andersheit des Anderen auszuhalten, b. der Andersheit des Anderen sich dergestalt zu fügen, daß wir uns c. selbst abhängig machen von ihr, und dies d. darin versuchen, daß wir sie mehr schützen als unser eigenes Leben und unsere eigene Identität« (Marquardt 1997, S. 476). Wie gelangt Levinas zu einem solchen Verständnis von Transzendenz? Mit Transzendenz bezeichnet Levinas einen Ort jenseits des Seins. In der philosophischen Tradition entdeckt Levinas diesen Ort in der Interpretation des Parmenides-Dialogs von Platon. Dieser Dialog schließt mit der Einsicht, dass die Einheit des Einen dem in Zweiheiten spaltenden Denken immer schon voraus liegt. Der Gedanke der Einheit des Einen bildet eine wirkliche Voraussetzung all unseres Denkens und führt uns insoweit zu der Bestimmung von Transzendenz als Unendlichkeit. Levinas hat das Problem der Einheit der Individualität mit dem Schlüsselbegriff der Intrige als einer Verstrickung zu umschreiben versucht. Verstrickung meint, dass ein Individuum in etwas verwickelt wird, was es nicht selbst in Gang gesetzt hat. Eine Verstrickung bildet sozusagen einen »Knäuel«, bei dem dann letztlich nur zählt, ob er »aufgewickelt« oder »abgewickelt« (Levinas 1992, S. 167) wird. Levinas entfaltet die Bedeutung der Subjektivität »aus der außerordentlichen Alltäglichkeit meiner Verantwortung für die anderen Menschen […]« (ebd., S. 309). Seine These lautet, dass sich die Subjektivität des Individuums primär als Passivität vollzieht (Vgl. ebd., S. 49; ich stütze mich in dieser Darstellung aus Gründen der Einheitlichkeit und der Übersichtlichkeit im Wesentlichen auf Levinas’ Werk ›Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht‹ und vernachlässige die Unterschiede in Levinas’ Gesamtwerk.). Es handelt sich um eine »bodenlose Passivität« (ebd., S. 357), oder noch schärfer ausgedrückt: »Das Subjekt ist Geisel.« (ebd., S. 248) Das heißt, die Verstrickung des Individuums besteht aus einer Verpflichtung. Ich bin ich selbst, weil ich für den Anderen verantwortlich bin. Die Einheit der Individualität bildet sich über die Verantwortung für den Anderen. Das bedeutet, dass die Subjektivität eines Individu76

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§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas

ums sich genau in der Art und Weise äußert, mit dieser Verpflichtung umzugehen. Dafür gibt es keine vorgegebene Form und keine Struktur. Denn Subjektivität heißt nicht, allgemeine Aussagen über die erste Person zu machen. Vielmehr heißt Subjektivität, »in der ersten Person sprechen« (ebd., S. 185). Mit seiner Auffassung von Subjektivität als Passivität wendet sich Levinas gegen alle Ansätze, welche Subjektivität primär als Tätigsein, das heißt als Aktivität begreifen. Es geht um den Ausgangspunkt eines Verständnisses von Subjektivität, dessen Paradox Sartre als radikaler Vertreter der aktivistischen Auffassung auf die Formel gebracht hat: Wir sind zur Freiheit verurteilt. Nach Levinas setzt sich ein Subjekt in keiner Weise als absoluten Beginn. Vielmehr beginnt ein Subjekt da, wo immer schon mit ihm begonnen wurde. »Das Subjekt wird affiziert, ohne daß die Quelle der Affektion zum Gegenstand der Vorstellung würde. Diese auf das Bewußtsein irreduzible Beziehung haben wir als Besessenheit bezeichnet: Beziehung zu einer Exteriorität, die ›früher‹ ist als der Akt, der sie eröffnen konnte. Beziehung, die gerade nicht Akt, nicht Thematisierung ist, nicht Setzung im Fichteschen Sinne. Nicht alles, was im Bewußtsein ist, ist demnach durch das Bewußtsein gesetzt, was jenem Satz widerspricht, den Fichte für grundlegend hielt.« (ebd., S. 223)

Levinas stellt sich hier ausdrücklich gegen den obersten Grundsatz aus der Fichteschen Philosophie, demzufolge das Ich ursprünglich sein eigenes Sein setzt. Subjektivität als Passivität meint Besessenheit in dem wörtlichen Sinne, dass ein Subjekt Besitz von etwas anderem oder Besitz eines anderen ist. Dies bedeutet, dass ein Subjekt negativ gesehen in sich gebrochen ist. Es ist unvollständig bzw. unabgeschlossen. Positiv gesehen bedeutet diese Unabgeschlossenheit die Abhängigkeit von etwas Anderem, deren Unausweichlichkeit der Ausdruck der Verstrickung anzeigt. Die Levinas’sche Analyse der Subjektivtät lässt sich auch als eine Antwort auf Lyotards Anliegen interpretieren. Lyotard sieht die Teilnehmer eines Gesprächs als Bewohner inkommensurabler Welten an. Dennoch gibt es so etwas wie Sprache und Gespräch, weil man verketten muss. Levinas’ Antwort auf Lyotards Frage nach der Notwendigkeit der Verkettung würde lauten, dass Verketten notwendig sei, weil Verketten immer schon mehr sei als Verketten. Es gibt ein Übermaß des Sagens gegenüber dem Gesagten, ohne welches ein Gesagtes vollkommen unverständlich bliebe. Ohne dieses Übermaß des Sagens wäre so A

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etwas wie ein Zeigen nicht begreifbar. Zeigen heißt, etwas auf eine indirekte Weise zu sagen, etwas so zu sagen, dass in ihm mehr zum Ausdruck kommt, als das Gesagte nahe legt. Das Zeigen eröffnet im Gesagten einen doppelten Boden. Es gilt auf das Sagen als dem Ursprung des Gesagten zurückzugehen. Den doppelten Boden zwischen Gesagtem und Sagen deutet Levinas als den Punkt, an dem das einfache Was einer Frage »in die ›Kommunikation‹ des Gegebenen einen Hilferuf einbringt, einen an den Anderen gerichteten Ruf um Beistand« (ebd., S. 67). Waldenfels hat diese Differenz in den Begriffen von Sachfrage und Anfrage erläutert. Jedes Gesagte einer Sachfrage beruht auf dem Sagen einer Anfrage. Das heißt, in ein Gespräch ist die Dimension einer Begegnung radikal unterschiedlicher Individualitäten eingelassen, von der her so etwas wie ein Gespräch überhaupt erst verständlich wird. Und diese Dimension des Sagens ihrerseits wird nach Levinas nur verständlich aus einer Deutung von Subjektivität als Verantwortlichkeit. »Wer behauptet, dass die Beziehung mit dem Nächsten, die sich unbestreitbar im Sagen vollzieht, eine Verantwortung für den Nächsten bedeutet, dass Sagen für den Anderen Bürgen heißt, der behauptet damit zugleich, dass für eine solche Verantwortung weder Grenze noch Maß mehr angebbar sind, ist sie doch ›seit Menschengedenken‹ niemals vertraglich eingegangen worden und ist sie doch der Freiheit und dem Schicksal des anderen Menschen ausgeliefert, auf die ich keinen Einfluss habe. Er behauptet damit zugleich die Vision einer äußersten Passivität […] als die höchste Passivität der Ausgesetztheit den Anderen gegenüber; ebendies ist die Verantwortung für die freien Initiativen der Anderen.« (ebd., S. 115)

Levinas analysiert die Dimension der Kommunikativität, wie sie im Sagen zu Tage tritt, über den Begriff der Nähe. Der Begriff der Nähe zielt auf eine Ebene, welche dem Bewusstsein oder der Reflexion vorausgeht. Nähe meint die Ebene der Unmittelbarkeit des Umgangs einer Person mit sich selbst, in die von vornherein ein Bezug zum Anderen eingelassen ist. Eine solche Nähe erhält ihre Bedeutung nicht von einer anderen Instanz. Sie ist nicht bedeutsam, weil sie die Anerkennung des Subjekts realisieren würde, weil sie Zuneigung und Wärme vermitteln würde, weil sie der Verwirklichung einer Gemeinschaft dienen würde o. ä. Die Nähe selbst ist »die Bedeutsamkeit der Bedeutung, […] die Einsetzung des Sinns, den alle thematisierte Bedeutung im Sein spiegelt« (ebd., S. 191). Die Nähe liefert den Ausgangs78

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§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas

punkt von Bedeutung. Das durch Nähe gekennzeichnete Subjekt ist Teil einer Beziehung, »an der ich als Beziehungsglied teilnehme, in der ich jedoch mehr – oder weniger – als ein Beziehungsglied bin« (ebd., S. 185). Die Beziehung des Subjekts zum Anderen stellt keine symmetrische Beziehung dar, sondern eine asymmetrische Beziehung, in welcher das Subjekt immer schon vom Anderen betroffen ist. »Nicht deshalb betrifft mich der Nächste, weil er als einer erkannt wäre, der zur selben Gattung gehörte wie ich. Er ist gerade Anderer. Die Gemeinschaft mit ihm beginnt in meiner Verpflichtung ihm gegenüber.« (ebd., S. 194 f.) Die Konsequenz einer solchen radikalen Betroffenheit sieht Levinas darin, dass sie das Ich aus allen Formen oder Strukturen herausragen lässt. »Es läßt sich nicht mehr sagen, was das Ich oder die Ichform ist. Man muß fortan in der ersten Person sprechen.« (ebd., S. 185) Was bedeutet das alles für das Verständnis von Subjektivität? Levinas fasst den Begriff der Subjektivität folgendermaßen: »Diesseits des Nullpunkts der Reglosigkeit und des Nichts, defizitär gegenüber dem Sein, in sich und nicht im Sein, eben ohne Ort, um sich hinzulegen, im Nicht-Ort und insofern ohne Stellung, ohne Stand, ohne Rang – erweist sich das Sich als Träger der Welt, trägt es die Welt, erleidet es die Welt, im Scheitern von Ruhe und Heimat, eingebunden in die Verfolgung – Stellvertretung für den Anderen.« (ebd., S. 242, Anm. 12)

Mit diesen Bestimmungen entwickelt Levinas einen utopischen Begriff von Subjektivität, dessen erstes Moment die Sensibilität eines Ich ist. Jenseits aller Reflexion verweist Levinas auf das Vorhandensein oder Gegebensein eines Subjekts in den ›hyletischen Daten‹, sprich in Formen seiner Leiblichkeit. Der spezifische Charakter des utopischen Begriffs der Subjektivität von Levinas wird prägnant in seinem zweiten Moment, welches das Moment der Abhängigkeit ist, welche in der Passivität eines Ich als Sich zum Ausdruck kommt. Ein »Sich kann sich nicht bilden, es ist bereits gebildet aus absoluter Passivität« (ebd., S. 232). Diesen Rückgang eines Ich auf sich selbst, also die Unterscheidung von Ipseität und Identität, bezeichnet Levinas auch als Rekurrenz (Vgl. ebd., S. 227). Das passive Sich ist »Opfer einer Verfolgung« (ebd., S. 232). Es steht in einer Abhängigkeit vom Anderen, die so radikal ist, dass das Sich ohne diese Abhängigkeit überhaupt nicht zu denken wäre. Dies ist es, was Levinas mit seiner Formel zum Ausdruck bringt: »Das Subjekt ist Geisel.« (ebd., S. 248). A

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»Die Verantwortung für die anderen, die kein Unfall ist, der einem Subjekt zustößt, sondern die in ihm dem Sein vorausgeht, hat nicht auf die Freiheit gewartet, in der ein Engagement für die Anderen hätte eingegangen werden können. Ich habe nichts getan und bin doch immer schon betroffen gewesen: verfolgt. Die Selbstheit in ihrer Passivität, ohne die arché der Identität, heißt: Geisel.« (ebd., S. 253)

Das dritte Moment des Levinas’schen Begriffs von Subjektivität ist das Moment der Verantwortlichkeit oder der Stellvertretung. »In der Verantwortung für den Anderen ist das Ich – schon Sich, schon besessen vom Nächsten – einzig und unersetzbar, genau darin bestätigt sich meine Erwählung.« (ebd., S. 274). Das heißt, ich kann mich in allem vertreten lassen nur nicht in meiner Verantwortung für den Anderen. Mit diesem dritten Moment wird die vollkommene Umkehrung in der Konzeption der Subjektivität vom tätigen Ich zum abhängigen Sich vollzogen. Denn es ist die ethische Verantwortlichkeit für den Anderen, welche die Individualität begründet. »Ich kann mich vom Sich nicht freimachen, d. h. die Verantwortung nicht aufheben, die mir und keinem Anderen auferlegt ist, unabhängig von den Fragen und Antworten des freien Dialogs, den die Verfolgung lähmt, ohne doch die Verantwortung rückgängig zu machen; ich bin jedoch imstande, den Anderen in ihrer Andersheit, insofern sie unter den Begriff des Ich fallen, zu verzeihen. Darin liegt der Vorrang des Sich vor jeder Freiheit (oder Unfreiheit).« (ebd., S. 283, Anm. 29)

Sensibilität, Abhängigkeit und Verantwortlichkeit, das sind die drei Momente des Levinas’schen Begriffs utopischer Subjektivität. Deren Unterscheidung liegt auf einer analytischen Ebene. Das heißt, Passivität, Abhängigkeit und Verantwortlichkeit sollte man sich nicht als Stufen irgendeiner Struktur von Subjektivität vorstellen, sondern es sind die Aspekte, unter denen Subjektivität betrachtet wird. Die Schwierigkeit mit diesem Begriff von Subjektivität liegt darin, dass die Einheit des Subjekts als ortlos, also utopisch gedacht wird. Anders ausgedrückt, die Ipseität des Subjekts besitzt eine »an-archische Identität« (ebd., S. 317), welche als Außerordentliches jeder Ordnung prinzipiell entzogen ist. Die Identität eines Subjekts ist eine flüchtige, vorläufige, gefährdete Einheit, deren Kern ein »Sich-selbst-Entrissenwerden« (ebd., S. 303) darstellt. Subjektivität bedeutet demzufolge primär Offenheit: »Die Offenheit des Raumes als Offenheit des Sich – ohne Welt, ortlos, die U-topie, das Nichteingemauertsein, die Inspiration bis zum Ende, bis zum Aus80

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§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas

hauchen – genau das ist die Nähe des Anderen, die nur möglich ist als Verantwortung für den Anderen, welche wiederum nur möglich ist als Stellvertretung für ihn.« (ebd., S. 388) Mit seinem utopischen Begriff von Subjektivität überschreitet Levinas die Alternative stoische versus epikureische Anthropologie. Subjektivität bildet sich weder durch Pflicht noch durch Lust. Subjektivität bildet sich vielmehr durch Geduld, durch ein »selbst geduldig sein, ohne die Geduld von den Anderen zu verlangen« (ebd., S. 378). Nach Levinas ist die Menschlichkeit des Menschen seine »Passivität, die ganz und gar ein Ertragen ist« (ebd., S. 384).

II.

Zur Kritik des Konzepts heteronomer Subjektivität

In gewisser Weise könnte man sagen, dass Levinas die Verantwortlichkeit vor und für den Anderen nicht als Norm, sondern als Wert begreift, genauer als einen Wert, den wir nicht erfinden, sondern den wir vorfinden. Dieser Wert ist etwas, was für uns unhintergehbar ist. Das bedeutet, dass unser Selbst als ›Sich‹ aus der Bezugnahme auf diesen Wert entsteht, aus einer Bezugnahme, der gegenüber unser Bewusstsein immer schon zu spät kommt. Letztlich würde das heißen, dass unsere Würde auf einem Wert beruhen würde, der unserem Zugriff entzogen wäre, weil umgekehrt unser Zugriff erst aus diesem Wert einsichtig würde. Ein solcher uns entzogener Wert aber wäre ein Gut im Sinne eines platonischen Guten, welches ›Jenseits des Seins‹ läge (vgl. dazu: ebd., S. 24). Im Unterschied zu Platon aber begründet das Gute bei Levinas keine Ordnung. Das Gute ist vielmehr das Außerordentliche, d. h. die Entwicklung »der Subjektivität aus der außerordentlichen Alltäglichkeit meiner Verantwortung für die anderen Menschen« (ebd., S. 309). Von hier aus ergeben sich verschiedene Fragen an Levinas’ Begriff von einer utopischen Subjektivität, die sich um zwei Schwerpunkte gruppieren lassen. Zum einen geht es um Levinas’ Verständnis von Subjektivität, genauer hin um die Selbsterfahrung, die Levinas mit dem Begriff der Rekurrenz eines Subjekts bezeichnet. Nach Levinas ist das Ich primär ein Sich: »Das Wort ich bedeutet: hier, sieh mich, verantwortlich für alles und für alle.« (ebd., S. 253) Die Selbsterfahrung eines Subjekts beginnt mit seiner Betroffenheit durch den Anderen. In grammatikalischen Termini ausgedrückt hieße das, dass sich ein Subjekt im AkkuA

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sativ erfährt. »Im Akkusativ – der nicht Abwandlung irgendeines Nominativs ist – im Anklagefall, in dem ich auf den Nächsten treffe, für den ich, ohne es gewollt zu haben, verantwortlich bin, wird der Unersetzbare angeklagt.« (ebd., S. 276) Die Selbsterfahrung der Betroffenheit wird von Levinas radikalisiert bis hin zum Anklagefall, weil die Individualität eines Subjekts darin besteht, dass es in seiner Verantwortlichkeit für die Anderen unvertretbar und deshalb unersetzbar ist. So einleuchtend der Aufweis der Betroffenheit als Ausgangspunkt einer Selbsterfahrung des Subjekts sein mag, so problematisch scheint die Annahme, mit dieser Bestimmung die Selbsterfahrung eines Subjekts ausgeschöpft zu haben. Nach Waldenfels »bedeutet es eine Einseitigkeit, wenn Levinas in seiner Revision der Zentrierung auf das Ich den Akkusativ als ›Anklagefall‹ an den Anfang des Sprechens setzt. Jemand kann nur ›angeklagt‹, das heißt zur Verantwortung gezogen werden, wenn ihm das Wort gegönnt und ihm eine Verantwortung zugeschrieben wird, die er übernimmt.« (Waldenfels 1994, S. 591 f.) Grammatikalisch gesprochen tritt neben den Akkusativ der Dativ, wenn ich einem Anderen eine Antwort gebe. Würde das Auf-Sichselbst-Zurückgehen des Subjekts, welches Levinas als Rekurrenz bezeichnet, aus allen anderen Bezügen herausgelöst und damit verabsolutiert, würde der Begriff der Verantwortung entleert. Denn einer Verantwortung, vor welche ich nicht nur geladen würde, sondern für die ich in keiner Weise aufkommen könnte, würde es an der Dimension des Antwort-Gebens mangeln, die konstitutiv zur Verantwortung gehört. Verantwortlich sein heißt immer auch Verantwortung übernehmen oder übernehmen können. In Bezug auf die Rekurrenz der Subjektivität geht es nach Waldenfels darum, dass Levinas in Gefahr steht, »den Unterschied zwischen Widerfahrnis und Anruf, zwischen Affektion und Appell, zwischen dem ›Patienten‹, dem Adressaten einer Aufforderung und dem Respondenten zu verwischen.« (Waldenfels 2002, S. 147) Denn: »Als ›Patient‹ ist das Selbst kein Adressat, es wird zum Adressaten im Antworten auf das, was es zum eigenen Tun auffordert und in der Aufforderung sein Gewicht erhält.« (ebd., S. 110) Hinter diesen Differenzierungen steht auf eine andere Art und Weise letztlich nichts anderes als die Unterscheidung zwischen dem Anderen und dem Fremden. Fremd ist, was mir als fremd begegnet, während der Andere ein anderes Selbst außerhalb meines Selbst ist. Dieser Andere, der sich außerhalb meines Selbst befindet, begegnet mir als Fremder. Fremdheit aber stellt ein 82

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§ 11 Utopie und Heteronomie bei Levinas

Problem meines Zugangs zum Anderen dar. Das Besondere an der Fremderfahrung besteht darin, dass der Fremde da ist, indem er sich entzieht. Oder, wie Levinas schreibt: »Die Abwesenheit des anderen ist seine Anwesenheit als des anderen.« (Levinas 2003, S. 65; vgl. dazu: Waldenfels 1987, S. 208). Der Ertrag der Levinas’schen Konzeption der Subjektivität als Rekurrenz wäre also darin zu sehen, dass die Individualität in ihrer Verantwortlichkeit als asymmetrisches Verhältnis angelegt ist. Es geht um eine Asymmetrie, in der sich das Selbst in einer Passivität vorfindet. Der Andere ist ebenso wenig ein ideales Subjekt wie ich selbst. Als Fremder ist er für mich unzugänglich, weil er der Kontingenz unterworfen ist wie ich selbst. Diese primäre Unzugänglichkeit ist die Jedeinigkeit des Anderen als Exteriorität. »Der ›Jemeinigkeit‹ entspricht eine ›Jedeinigkeit‹, die nicht zu meinen Möglichkeiten zählt.« (Waldenfels 2002, S. 227) Die Radikalität der Grenze zum Anderen, der Bruch im Verhältnis zu seiner Exteriorität, das heißt, die Asymmetrie des Verhältnisses, bedeutet aber deshalb noch nicht die Aufhebung des Verhältnisses als Verhältnis. Von dieser Differenzierung der Levinas’schen Position ausgehend richtet sich eine zweite Nachfrage an Levinas’ Begriff der utopischen Subjektivität auf die Frage nach der Praxis. Wie ist das aus der Passivität des Subjekts entspringende Aktivsein zu denken? Anders ausgedrückt, in welchem Verhältnis stehen Ordnung und Außerordentliches zueinander? Für Levinas ist die Verantwortung für den Anderen eine Unmittelbarkeit der Nähe, die durch den Eintritt des Dritten gestört wird. »In der Nähe des Anderen bedrängen mich – bis zur Besessenheit – auch all die Anderen, die Andere sind für den Anderen, und schon schreit die Besessenheit nach Gerechtigkeit, verlangt sie Maß und Wissen, ist sie Bewusstsein.« (Levinas 1992, S. 344) Der Eintritt des Dritten bedeutet eine Extensivierung und eine Intensivierung der Verantwortlichkeit. Die Verantwortlichkeit dehnt sich vom mir begegnenden Nächsten auf alle Anderen aus. In eins damit erfordert sie den Eintritt in die Ordnung, aus deren Gegenüber sich das Außerordentliche als Regelloses und Regelwidriges profiliert. Für eine im Sinne von Levinas inspirierte Perspektive ist klar, dass das Außerordentliche das primäre Moment, die Ordnung das sekundäre Moment ist. Denn nur so erwiese sich die Subjektivität in ihrer Individualität als Passivität des für den Anderen Verantwortlichseins. Die entscheidende Frage aber geht dahin, ob das der Ordnung gegenüberA

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stehende Außerordentliche der Ordnung vorgeordnet oder übergeordnet ist. Würde das Außerordentliche der Ordnung übergeordnet, dann bildete es sozusagen einen Fixpunkt, von dem her eine Ordnung als Gesamt- oder Grundordnung durchschaubar würde. Würde dagegen das Außerordentliche einer Ordnung vorgeordnet, dann verlöre die Ordnung zwar ihre Eigenständigkeit als in sich plausibles Regelwerk. Im Ausgang von der Quelle des Außerordentlichen behielte sie aber ihre relative Selbständigkeit. Das Problem der Über- oder Vorordnung überschneidet sich mit der Frage nach der theologischen Interpretation der Andersheit. Für Levinas bezeichnet der Eintritt des Dritten den Ort des Erscheinens der Illeität als der Spur der »Herrlichkeit des Unendlichen« (ebd., S. 211). Ist die Illeität nur auf eine indirekte Weise zugänglich, eben im Aufnehmen ihrer Spur in der Verantwortung, oder gibt es zu ihr auch einen direkten Zugang in dem Sinne, dass sie das Einnehmen eines Standpunkts ermöglichen würde? Levinas’ Ethik steht hier vor dem Problem aller theologischen Ethik, die sich im Dilemma zwischen Redundanz und Destruktion befindet. Ergänzt die theologische Ethik nur die bestehende Moral, scheint sie überflüssig. Beurteilt sie die bestehende Moral, scheint sie anmaßend (Vgl. dazu: Taureck 1997, S. 100 f.). Im Ausgang von der Einsicht in die Fremderfahrung scheint die Möglichkeit einer Überordnung auszuscheiden. Denn: »Wer schon weiß, auf wen er hört, hört nicht auf den Anderen.« (Waldenfels 2004, S. 269) Die zweite Möglichkeit der Vorordnung des Außerordentlichen vor der Ordnung könnte also in dem Sinne einsichtig werden, dass das Außerordentliche als Quelle von Ordnung aufgefasst würde. Denn Freiheit und Abhängigkeit schließen sich nach Schelling nicht vollkommen gegenseitig aus. Abhängigkeit meint, etwas geht voraus, ein anderes folgt nach. Dem Nachfolgenden könne durchaus Freiheit zukommen, wenn seine Abhängigkeit nicht vollständig sei, weil ihm ein »nie aufgehender Rest« (Schelling 1997, S. 32) zugrunde läge. Es ist eben dieser Rest, welcher die Beschränktheit einer Perspektive ausmacht. Ohne diese Beschränktheit aber gäbe es überhaupt keine Perspektivität. Das heißt, die Beschränktheit der Perspektive definiert in einem sowohl ihre Grenze als auch ihre Möglichkeit. Die Exteriorität des Außerordentlichen bezeichnet so gesehen den Hintergrund in einem asymmetrisch angelegten Verhältnis. Wie die Besonderheit des Zusammenwirkens von Vordergrund und Hintergrund in einem solchen Verhältnis zu denken wäre, das wird noch zu erörtern sein. 84

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§ 12 Antwort und Antworten bei Waldenfels

§ 12 Antwort und Antworten bei Waldenfels I.

Das Konzept der Responsivität

Es ist die Einsicht in die Rationalität begrenzter Ordnungen, welche den Ausgangspunkt von Waldenfels’ Überlegungen zu einer Theorie der Responsivität bildet. Einerseits ist die Rationalität von Ordnungen weder als die von Gesamtordnungen in einem teleologischen Sinne noch als die von Grundordnungen in einem normativen Sinne anzusprechen. Andererseits ist die Rationalität von Ordnungen auch nicht einfach als chaotisch im Sinne von Beliebigkeit zu bezeichnen. Für die Rationalität begrenzter Ordnungen gilt: »In ihr verkörpert sich eine offene Regelung, da das, was geordnet wird, nicht selber dieser Ordnung entstammt.« (Waldenfels 1987, S. 47) Ordnungen sind deshalb variable Ordnungen, in denen sich jeweils eine bestimmte Art von Rationalität verkörpert. Insofern also von einem Verhältnis von Rationalität zu irgendeiner Art von Kontext auszugehen ist, erscheinen Ordnungen in dieser Sichtweise als Antwortversuche auf Herausforderungen der Wirklichkeit. Waldenfels unternimmt in seiner Theorie der Responsivität eine Analyse des Antwortens: »Das Konzept der Responsivität […] läßt sich also begreifen als Transformation der phänomenologischen Konzeption der Intentionalität, und dies unter Benutzung kommunikationstheoretischer Einsichten.« (Waldenfels 1994, S. 332) Die Analyse der Responsivität richtet sich darauf, »was das Antworten zu einem Antworten macht« (ebd., S. 320). Die Grundstruktur der Responsivität wird bündig zum Ausdruck gebracht in dem Satz: ›Ich antworte jemandem etwas.‹ Das heißt, dem Antworten ist eine Doppelstruktur zu eigen. Antworten meint einerseits ein Antwort-Geben im Sinne des Beantwortens einer Frage. Antworten meint andererseits ein AntwortGeben im Sinne des Antwortens auf ein Fragen. Der Anspruch, auf den das Antworten antwortet, ist einerseits eine Sachfrage als Prätention auf eine Sache, andererseits eine Anfrage als Appell einer anderen Person. Prätention und Appell sind im Antworten stets miteinander verbunden, so dass gilt: »Das Geben einer Antwort geht nicht auf in der gegebenen Antwort.« (ebd., S. 191) Der Auffassung von Sprache, welche dieser Theorie des Antwortens zugrunde liegt, gilt Sprache als Ereignis. Sprache ist das Ereignis eines Sagens, weil es eine »Überbestimmtheit der Phänomene« (ebd., A

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S. 199) gibt. So enthält jeder Sprechakt nach Schulz von Thun beispielsweise eine Information, eine Selbstdarstellung, eine Beziehung und einen Appell. Genau diese Mehrfachbelegung eines Sprechaktes, wie immer sie im Einzelnen zu bestimmen wäre, ist mit dem Ausdruck der Überbestimmtheit gemeint. Aus der Einsicht in die Überbestimmtheit folgt, »daß das Ereignis des Sagens sich nicht immanent entfaltet oder additiv erweitert, sondern sich differenziert, faltet, verzweigt, auseinanderlegt – wie eine zerspringende Form mit aufklaffenden Bruchstellen, die das Geschehen markieren, indem sie es unterbrechen« (ebd., S. 199). Sprache besteht demzufolge aus Ereignissen, die jeweils so überbestimmt sind, dass deren Verbindung immer auch eine Unterbrechung bedeutet. Das heißt, Sprache setzt sich aus Sprechakten als singulären Ereignissen zusammen. Diese Ereignisse unterscheiden sich als sprachliche Ereignisse von anderen Ereignissen durch ihren Selbstbezug. Das Ereignis, dass es blitzt, unterscheidet sich von dem sprachlichen Ereignis, dass einer sagt, es blitzt. »Im Gegensatz zu einem Ereignis, das bloß zur Sprache kommt wie der aufleuchtende Blitz, wäre das Sagen ein Ereignis, das etwas zur Sprache bringt, indem es selbst mit zur Sprache kommt, so wie das Tun ein Ereignis ist, das etwas ins Werk setzt, indem es selbst mit hervortritt.« (ebd., S. 201) Dem Sagen als Ereignis liegt etwas zugrunde, was in dem Ereignis des Sagens selbst entsteht. Das, was in diesem Moment entsteht, ist weder vorher noch nachher als substantielles Selbst vorhanden. Es entsteht nur mit und besteht nur in dem Ereignis des Sagens selbst. Man könnte es auch so ausdrücken, dass dieses Selbst als Ereignis das ist, was ›sich‹ ereignet. Es geht um diesen reflexiven Bezug, der das Spezifische des Sagens als Ereignis ausmacht. Dieser reflexive Bezug, der in dem Sich-Ereignen steckt, ist seinerseits von keiner Reflexion vollständig einholbar. Ihm ist zu eigen, was Levinas die Herkunft des Selbst aus seiner ›Rekurrenz‹ genannt hat. Das Selbst des Sich-Ereignens steht in einer Abhängigkeit. Es gibt immer schon »ein Außen, dem das Selbst von Anfang an ausgesetzt ist: keine Position ohne Exposition« (ebd., S. 223). Dieses Außen der Ordnung ist die Exteriorität des Außerordentlichen, welche den Punkt markiert, worauf einer in seiner Rede antwortet. Das spezifische Selbst entsteht als »Besonderheit in Abhebung vom Fremden« (ebd., S. 234). Wenn das Selbst des Sich-Ereignens immer schon in Abhängigkeit von einem Außen steht, dann ist Sprache dadurch gekennzeichnet, dass sie aus einer Zusammensetzung von Sprechakten besteht, welche die 86

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§ 12 Antwort und Antworten bei Waldenfels

Form von Fragmenten haben. »Der Holismus des Gesprächs greift zu weit, wie der Atomismus von Sprechakten zu kurz greift.« (ebd., S. 234) Fragmente sind Teile einer variablen Ordnung, deren Verkettung durch Anknüpfung entsteht. Anknüpfungen sind im Gegensatz zu Verknüpfungen lateral, unterliegen also nicht einer Hierarchie. Ebenso wenig werden sie von einem vermittelnden Dritten erzeugt noch sind sie reziprok, d. h. auf Wechselseitigkeit hin angelegt (Vgl. dazu: ebd., S. 233). Eine variable Ordnung sieht sich also immer darauf verwiesen, etwas zu ordnen, was nicht ihrer Ordnung entstammt, sondern ihr vorausliegt. »Ein Gesetz, das nicht einem Anspruch des Fremden entspränge, wäre selbst schon eine Form der Aneignung, weil es einen fremden Anspruch zum Fall eines Gesetzes degradieren würde.« (ebd., S. 310) Dennoch gilt auch, dass eine variable Ordnung eben eine Ordnung ist. Sie vollzieht die dialogischen Funktionen von Sprache wie Rechenschaftsabgabe oder Zuschreibung (Vgl. dazu: ebd., S. 310), allerdings in einer »unvermeidlichen Nachträglichkeit« (ebd., S. 311). Diese Nachträglichkeit der Ordnung stellt nichts anderes als die Kehrseite des Vorrangs des Ereignisses dar. Ihr entscheidendes Plus besteht darin, dass sie das Einnehmen der unterschiedlichen Rollen im Dialog in den Mittelpunkt des Interesses stellt. ›Worauf‹ einer antwortet, das ist der Punkt, von dem her und auf den hin ein Sprechakt verständlich wird. »Das Moment der Achtung hängt zusammen mit dem beachten; Achtung schenken hat mit dem Blick, mit dem Hinhören, mit dem Hinsehen zu tun. Hier ist nicht von der Aufmerksamkeit im Sinne einer bloßen Fokussierung die Rede (ich konzentriere mich auf etwas), sondern die Aufmerksamkeit wird zur Achtsamkeit, die man fremden Ansprüchen entgegenbringt und mit der man auf die Abwesenheit des Anderen antwortet.« (Waldenfels 2000, S. 392)

Es scheint lohnend, von hier aus die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Konsenses neu aufzunehmen. Denn auch wenn mit Waldenfels davon auszugehen ist, »daß zwischen Frage und Antwort ein Hiatus klafft« (Waldenfels 1994, S. 231), so gilt doch gleichermaßen die Notwendigkeit der Verkettung, ohne die weder Frage noch Antwort als Momente von Sprache plausibel werden können. Die Lücke zwischen Frage und Antwort muss geschlossen werden. Sie kann nicht durch ein ›und‹, sie kann nur durch ein ›auch‹ geschlossen werden. Es geht also um die Frage nach einer alternativen Form der Verkettung, wie sie das Modell der Anknüpfung impliziert. A

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3 · Der Einspruch des Anderen

II.

Zur Kritik des Konzepts der Responsivität

Waldenfels’ Theorie der Responsivität geht den einen Schritt mit Lyotards Ansatz gemeinsam, dass nämlich nur das Verketten notwendig sei, nicht aber die Verkettung. Mit diesem Zug verfehlt Lyotard die Aufgabenstellung der Normativität. Und unter diesem Mangel leidet auch die Theorie der Responsivität von Waldenfels in deren Gefolge. In seiner Analyse der Responsivität betont Waldenfels den Charakter des Sich-Ereignens von Anworten und Antwort. Diese Akzentuierung führt meines Erachtens nach dazu, dass an dieser Stelle das ›Ich‹ des Antwortens ausgeklammert wird. Dadurch aber wird der Unterschied zwischen einer ›Ich-Perspektive‹ und einer ›Er-Perspektive‹ aufgehoben. Es bleibt unbestimmt, ob die Responsivität einer systemischen oder einer expressiven Interpretation von Sprache folgt. Die Konsequenz daraus ist, dass der Punkt des Zusammenpassens, der Einigung in einem Gespräch, sowohl zufällig als auch unbestimmt bleibt. Es gibt keinen Hinweis darauf, wie eine solche Einigung aussehen könnte. Für den Gesprächsteilnehmer stellt sich dann die Frage in der Form, ob ich auf einen Punkt hinarbeiten kann und soll, von dem ich überhaupt nichts wissen kann. Letztlich würde dieser Ansatz dazu führen, dass Einigung nicht als wichtig wahrgenommen würde. Das würde aber bedeuten, dass damit auch der Streit als Auseinandersetzung über die Einigung entwertet wird. So sehr die Theorie der Responsivität das Vermögen des Antwortens stark macht, an dieser Stelle unterbietet die Theorie der Responsivität die Anforderungen einer Bindung durch Sprache in Normativität.

§ 13 Zur Notwendigkeit der Idee des Konsenses I.

Utopische Subjektivität und Konsens

Die Intuition der Konzepte utopischer Subjektivität geht dahin, den Impuls der Fremdheit für die Subjektivität zu erschließen. Mit Waldenfels gesprochen geht es um die Konsequenzen aus der Einsicht, dass deine Möglichkeiten nicht meine Möglichkeiten sind. Insofern bedarf eine Subjektivität der Weltsicht des Anderen. Das Problem mit dem Anderen oder mit der Fremderfahrung des Subjekts besteht darin, dass der Andere mehr ist als ein Nicht-Ich. Auf 88

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§ 13 Zur Notwendigkeit der Idee des Konsenses

diese Weise erkennt beispielsweise Sartre die Bedeutung des Anderen für die Subjektivität. Seine Rezeption der Wirklichkeit des Anderen verbleibt aber auf einer instrumentellen Ebene. Levinas’ Theorie von der utopischen Subjektivität versucht auf diese Fragestellung eine Antwort zu geben. Levinas will mit seiner Theorie einer utopischen Subjektivität unsere Augen für den Anderen öffnen. Es geht um den Anderen als eine Verpflichtung für das Subjekt. Levinas’ Antwort zufolge stellen die Erfahrung des Mangels und die Erfahrung der Verantwortlichkeit nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille der Einheit von Selbstbewusstsein dar. Gerade derjenige aber, dem dieses Anliegen unterstützenswert scheint, wird festhalten wollen, dass der Einspruch des Anderen immer auf ein Subjekt trifft. Gäbe es dieses Subjekt nicht, hätte der Einspruch keinen Adressaten. Der Einspruch des Anderen würde ungehört verhallen. Das Subjekt aber, auf welches der Einspruch trifft und welches er betrifft, ist ein Individuum. Es ist als Subjekt gekennzeichnet durch seine Individualität. Deshalb weiß das Subjekt, dass es im Spiel der Personalpronomen sich selbst unter dem Ausdruck ›Ich‹ einzubringen hat. Mehr noch, gegen alle Intersubjektivitätstheorien ist daran festzuhalten, dass die Rede von einem Ich in seiner Individualität voraussetzt, dass ein Subjekt immer schon mit sich bekannt sein muss, um sich als Subjekt erfahren zu können. Dies gilt auch dann, wenn es darum geht, dass das Subjekt zum Adressaten eines Einspruchs wird. Das heißt nichts anderes, als dass die Annahme eines Selbstbewusstseins konstitutiv ist für eine Theorie der Subjektivität. Die Bedingungen dafür, angesichts der radikalen Zumutungen eines Konzepts utopischer Subjektivität, am Subjekt als Ausgangspunkt festzuhalten, werden sehr übersichtlich von Jozef Tischner (Tischner 1989) erörtert. Tischners zeitgeschichtliches Interesse lag darin, eine ethische Theorie menschlicher Gesellschaft zu entwickeln, um dem Namen der politischen Bewegung der Solidarnosc einen philosophischen Inhalt zu unterlegen, das heißt die Idee der Solidarität zu begründen. Sein Klärungsversuch geht in drei Schritten vor, die lauten: Intentionalität, Existenz, Dialog. Tischner entfaltet die Dimension der Intentionalität als erste Bestimmung von Subjektivität im Anschluß an Husserl als Form der Sinnsetzung. Während das Plus der Intentionalität in der Interpretation der Sinngebung als Aktivität besteht, sieht Tischner deren Ungenügen in der Gefahr der Fixierung des Denkens auf Gegenstände, unter A

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3 · Der Einspruch des Anderen

Ausblendung der Personen. Den zweiten Schritt, der korrigierend in das Verständnis der Intentionalität eingreift, geht Tischner mit Heidegger. Wenn die Intentionalität dahingehend berichtigt werden muss, dass ein Subjekt niemals von einem Nullpunkt aus beginnt, sondern immer der Zeit unterworfen ist, dann steht der Gedanke der Existenz im Vordergrund. Existenz meint, dass die Zeit der Horizont des Seins ist. Weil dies so ist, sind wir immer schon in einer bestimmten Befindlichkeit gebunden, von der aus und auf die hin wir unsere Aktivitäten entwerfen. Das intentionale Subjekt befindet sich immer schon in einer Abhängigkeit. Den dritten, nochmals korrigierenden Schritt geht Tischner mit Levinas. Jenseits von Intentionalität und Existenz taucht der Andere auf. Er präsentiert sich mit seinem Antlitz als Exteriorität, das heißt als etwas Unverfügbares jenseits meines Weltentwurfs. Für Levinas gilt deshalb das Subjekt als Geisel des Anderen. Diese präexistente Geiselnahme begründet meine Verantwortlichkeit dem Anderen gegenüber. Die Abhängigkeit des intentionalen Subjekts wird hier als Abhängigkeit von dem Anderen interpretiert, als Verantwortlichkeit dem Anderen gegenüber. Gerade wem Levinas’ Gedanke einleuchtet, der wird versuchen, diesen Gedanken zu ergänzen. Denn Verantwortlichkeit bedarf eines Subjekts, welches als verantwortlich zu bezeichnen wäre. Das heißt, der anklagende Akkusativ von Levinas wäre um den Nominativ der Verantwortung zu erweitern, so lautet die Kritik von Waldenfels an Levinas. Dieses Argument lässt sich um eine zweite Überlegung ergänzen. Fremdheit heißt Abgeschlossenheit. Wenn es die Fremdheit ist, der ich ausgeliefert bin, dann muss es auch etwas geben, was diese Fremdheit erstens als solche erscheinen lässt und zweitens auch deren unterschiedliche Grade plausibel werden lässt. Also, so lautet der Umkehrschluss, gibt es auch so etwas wie eine Annäherung an den Anderen, zumindest ein Weniger an Fremdheit. Ausgerechnet die Analyse der Erfahrung der Fremdheit ergibt daher, dass die Erfahrung der Fremdheit die Idee von der Gleichursprünglichkeit der Subjekte widerlegt. ›Ich‹ gehe immer von ›mir‹ aus. Wäre dem nicht so, wäre Fremdheit nicht das Phänomen, als welches es sich uns darstellt. Würde ich nicht immer von mir ausgehen, würde ich von etwas anderem ausgehen und damit die Fremdheit hinter mir lassen. Weil das nicht möglich ist, geht das Subjekt immer von sich aus. Anders geht es nicht. In Frage steht nur, wie die Annäherung sich gestaltet. Aus der hier entwickelten Perspektive könnte ein Dialog auch kei90

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§ 13 Zur Notwendigkeit der Idee des Konsenses

ne Zwischensphäre darstellen, wie Waldenfels sich selbst korrigierend anmerkt. Ein Dialog ist kein Dazwischen im Sinne eines eigenen Bereichs, ein Dialog spielt vielmehr als Prozess wechselseitiger Interpretation im Bereich eines Subjekts und vollzieht sich als ein Prozess je asymmetrischer Annäherung an den Anderen. Mit Tischner lassen sich Aktivität des Subjekts und Existenz des Subjekts zusammen denken. »Die negative Grenze der Relation zwischen der Welt und dem Menschen-Subjekt wird durch den Begriffsgehalt des ›Subjekts‹ abgesteckt, die positive wird vom Begriff der Seinswahrheit gezogen.« (Tischner 1989, S. 27) Aktivität und Abhängigkeit sind sozusagen die zwei Innenansichten einer Grenze aus der Perspektive des Subjekts. Die eine bezieht sich auf das, was ich tue, die andere bezieht sich auf das, was auf mich zukommt. Deren Einheit ließe sich im Rückgriff auf Meister Eckhart in der Art formulieren, dass ich in der Annäherung an etwas immer schon angekommen sein muss, wenn es denn eine wirkliche Annäherung an etwas ist. Eckhart setzt theologisch an: »Zu Gott gibt es keinen Zugang. Wer noch im Aufsteigen und Zunehmen an Gnade und an Licht begriffen ist, der gelangte niemals je in Gott. Gott ist nicht ein zunehmendes Licht; man muß mit dem Zunehmen hineingelangt sein.« (Eckhart 2002, S. 288) Das bedeutet, Sinn wird einerseits immer aktiv gesetzt, sonst wäre es nicht ›mein‹ Sinn. Andererseits vollzieht sich die Setzung von Sinn stets in Form einer Antizipation. Die Vollendung vorwegnehmend nähern wir uns derselben an. Dieser Gedanke wiederum spiegelt Descartes’ Gottesbeweis mit seiner Idee von Unendlichkeit wider, wie ihn Levinas rezipiert hat. Für Descartes besagt das Denken der Unendlichkeit, dass der Gedanke des Unendlichen auf irgendeine Art und Weise in das Denken des endlichen Subjekts hineingelegt worden sein muss. Wenn dem nicht so gewesen wäre, wie hätte das endliche Subjekt diesen Gedanken der Unendlichkeit entwickeln können? Die Frage nach der Gültigkeit dieser Überlegung als Gottesbeweis sei hier eingeklammert. Richtet man aber sein Augenmerk an dieser Stelle auf den Aspekt, was diese Überlegung für ein endliches Subjekt bedeutet, dann wird klar, dass sich das endliche Subjekt durch ein Empfangen auszeichnet. Diese Überlegung war es, die auch bereits bei Meister Eckhart zu finden war. Die Momente der Aktivität und der Existenz des Subjekts thematisieren die Sicht des Subjekts auf seine Grenze hin. Beide Momente sind sozusagen die Innenansichten des Subjekts. Beide Innenansichten A

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des Subjekts aber sind immer schon transparent auf den Anderen hin. Gäbe es diesen Anderen nicht, wäre die Grenze letztlich keine Grenze. Sie wäre sozusagen nur die Umschlagstelle, an der das eigene Vermögen zum Unvermögen würde. Es muss so etwas wie eine dialogische Öffnung geben, denn die Außenansicht eines Anderen stört die Innenansichten eines Subjekts auf eine für das Subjekt selbst gleichzeitig nicht vorhersehbare, aber dennoch nachhaltige Art und Weise. Die Grenze, an die das Subjekt stößt, sieht von der Außenansicht her und von der Innenansicht her unterschiedlich aus. Das aber bedeutet wiederum auch, dass es dennoch immer die eine Grenze ist, die damit ein Gemeinsames zwischen Innen und Außen bildet. Levinas selbst interpretiert das Subjekt primär als Geisel des Anderen, welches sich vor dem Anderen verantworten muss. Seine Intuition scheint mir prägnant in der Formel gefasst: »Dia-Konie vor jedem Dia-Log« (Levinas 2008, S. 73). Das Wichtigste ist der Dienst am Anderen, so würde ich den Inhalt dieser Formel umschreiben wollen. Der spannende Punkt an Levinas’ Theorie ist nun die Frage, was die Bestimmung der sozialen Beziehung als einer »selbst-losen Beziehung« (ebd., S. 39) bedeutet. Folgt der Dialog einer anderen Gesetzmäßigkeit als die Erkenntnis, bedeutete dies dann, dass Erkenntnis und Dialog zwei unabhängig nebeneinander vorkommende Bereiche darstellen? Im Fall des Dialogs ein Bereich ohne intentionales Subjekt, im Falle des Wissens ein Bereich mit intentionalem Subjekt? Wie muss das dienende Subjekt gedacht werden? Waldenfels geht in seiner Interpretation von Levinas so vor: »Indem jemand sich verantwortet, tritt er auf im reflexiven Akkusativ, im Anklagefall, dem Levinas eine solch fundamentale Rolle einräumt. Wer für eine Rede oder Tat geradestehen muß, gilt als jemand, der an etwas schuld ist. Doch anders als bei Levinas, für den das Sich einen Akkusativ bedeutet, der von keinem Nominativ abzuleiten ist, steht hinter dem klassischen Subjekt, das sich für etwas rechtfertigt, ein doppelter Nominativ: der Nominativ des präsenten Sprechers und Täters, der selbst etwas gesagt und getan hat, bevor die Rechenschaftsprozedur einsetzt, und der Nominativ des repräsentativen Richters, des Dritten also, dessen Anklage und Urteil letzten Endes in eine Selbstanklage und Selbstbeurteilung des Sprechers und Täters zu überführen ist. Denn sofern der Dritte allgemeine Gründe geltend macht, spricht aus dem Richter dieselbe Vernunft wie aus dem Täter. Die Heteronomie eines Gesetzes, gemäß dem ich zur Verantwortung gezogen werde, verwan-

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delt sich mit zunehmender Moralisierung in die Autonomie eines Gesetzes, das ich mir selbst gebe.« (Waldenfels 1995, S. 326; vgl. auch Waldenfels 1994, S. 591 f.)

Vielleicht ist Levinas selbst aber gar nicht so weit weg von dieser Position, wenn er äußert: »Im Prinzip reißt sich das Ich von seiner ›ersten Person‹ nicht los; es trägt die Welt. Die Subjektivität, indem sie sich in der Bewegung selbst konstituiert, in der ihr aufgetragen wird, für den Anderen verantwortlich zu sein, reicht bis zur Stellvertretung für den Anderen.« (Levinas 2008 S. 75) Levinas fährt nach dem zitierten Satz folgendermaßen fort: »Sie [erg.: die Subjektivität] nimmt die Bedingung – oder die Unbedingtheit – des Geisel-Seins auf sich. Die Subjektivität als solche ist ursprünglich Geisel-Sein; sie geht bis dahin, für die anderen zu büßen.« (ebd., S. 75) Das würde bedeuten, dass sich das Subjekt für den Anderen aufopfert. Hier aber kommt man an eine Grenze. Denn es ist eines, wenn sich ein Subjekt freiwillig für einen anderen aufopfert, ein anderes, wenn es sich für einen anderen aus irgendeinem Grund, aus welchem auch immer, aufopfern muss. Um die Autonomie des Subjekts noch als relative oder relationale Autonomie halten zu können, bedarf es hier der Voraussetzung der Freiwilligkeit und damit der Freiheit. Umgekehrt muss gelten, wenn ich mich durch den Anderen als verantwortlich entdecke, dann setzt das voraus, dass ich mich als solcher Verantwortlicher entdecken kann. Zumindest diese Freiheit kommt mir zu. Das aber würde bedeuten, dass die Bewegung, in der sich ein Ich selbst zurücknimmt, auf irgendeine Art und Weise einer Bewertung unterliegt, in welcher sich ein Subjekt selbst einbringt. Das hieße aber, dass das Sich-Einbringen des Subjekts immer schon einen Kern an Selbstheit in seiner Subjektivität voraussetzen würde.

II.

Ricoeurs Modell der Subjektivität als Bezeugung

Schleiermachers Intention war es, eine Theorie der Subjektivität zu entwickeln, welche ihren Ausgangspunkt im Selbstbewusstsein eines Subjekts nimmt. Dass ein solches Selbstbewusstsein aber immer schon als mangelhaft anzusprechen sei, bringt Levinas auf seine Weise dergestalt zum Ausdruck, dass eine Subjektivität von vornherein auf die Exteriorität des Anderen verwiesen und gleichzeitig angewiesen sei. Der Ansatz von Paul Ricoeur versucht diesen Impuls aufzunehmen A

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und ein Modell autonomer Subjektivität zu entwerfen, welches dem Einspruch des Anderen gerecht wird. Ricoeur rückt dabei den Verweisungscharakter von Subjektivität ins Zentrum einer Theorie der Subjektivität und interpretiert diesen damit gleichzeitig als Ausdruck von Subjektivität selbst. Den Kern seiner Auffassung bildet erstens die Überzeugung von der Subjektivität als dem angemessenen Ausgangspunkt. Die Basis der Dialektik von Selbstheit und Andersheit kann nach Ricoeur nur in der Identität eines Selbst liegen (vgl. Ricoeur 1996, S. 12). Es gibt für eine Theorie der Subjektivität keinen anderen Ausgangspunkt als das Subjekt selbst. Ohne eine ›Ipseität in Identität‹ ließe sich nicht angemessen über Freiheit und Verantwortung als konstitutive Merkmale von Subjektivität sprechen. Ausgerechnet die Analyse der Erfahrung der Fremdheit verweist darauf, dass die Erfahrung der Fremdheit die Idee von der Gleichursprünglichkeit der Subjekte widerlegt. ›Ich‹ gehe immer von ›mir‹ aus. Wäre dem nicht so, wäre Fremdheit nicht das Phänomen, als welches es sich uns darstellt. Würde ich nicht immer von mir ausgehen, würde ich von etwas anderem ausgehen und damit die Fremdheit hinter mir lassen. Weil das nicht möglich ist, geht das Subjekt immer von sich aus. Anders geht es nicht. Die Frage ist nur das ›Wie‹. Zweitens aber gilt, dass die Subjektivität eines Selbst in sich gebrochen ist. Ricoeur konzipiert die Identität einer Ipseität nach dem Modell einer exzentrischen Identität, weil das Selbst seinen Grund nicht in sich hat. Das Selbstgefühl eines Selbst findet sich in einer Abhängigkeit wieder, welche Ricoeur mit dem »Dreifuß der Passivität« (ebd., S. 384) umschreibt. Die Rede vom Dreifuß der Passivität erfasst die Abhängigkeit eines Subjekts von seinem Eigenleib, von der Fremdheit und von dem Gewissen. Aus diesem Selbstgefühl der Abhängigkeit erschließt Ricoeur drittens die Einzigartigkeit eines Subjekts in seiner Aktivität als Bezeugung. Denn mit der Stimme des Gewissens beispielsweise ist die Stimme des Anderen und damit seine Wirklichkeit immer schon in mir angekommen. Bezeugung bedeutet soviel wie einen »Kredit« (ebd., S. 33) geben in Bezug auf die Bewegungsweise der Subjektivität auf den Feldern der Dialektik der Wahrheit, der Identität und des Gewissens. Es geht um die Bewegung des Subjekts in den Gegensätzen von Reflexion und Analyse, Selbstheit und Selbigkeit, Selbstheit und Andersheit. Diese Bewegungsweise der Subjektivität bedarf eines Kredits 94

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im Sinne eines Vertrauensvorschusses als Gegenteil zum »Verdacht« (ebd., S. 365). Wie der Verdacht sich am Falschsein orientiert, so die Bezeugung am Richtigsein. Die Bezeugung artikuliert die Intention, dass Gelingen möglich ist. Sie stellt eine »Selbstbezeugung« dar, deren Kern die Zuversicht ausmacht, »selbst ein Handelnder und Leidender zu sein« (ebd., S. 34). Ricoeur optiert mit seiner Bestimmung von Subjektivität als Bezeugung gegen ein Programm von Letztbegründung zugunsten der Idee einer approximativen Suche. Subjektivität ist ein Begehren, ein Streben im Verständnis von Spinozas ›conatus‹ (ebd., S. 380 f.), dessen Beharrungsvermögen sich aber nicht in der Erhaltung des Selbst erschöpft, sondern dessen Beharrungsvermögen sich gerade in seiner Offenheit für den Anderen und in seiner Hinwendung zum Anderen äußert, indem die Subjektivität ein ihr »auf Treu und Glauben Anvertrautes« (ebd., S. 33, FN 36 der dt. Übersetzung) weitergibt. Dies besagt, dass Bezeugung eine spezifische Art von Aktivität darstellt. Ein Zeuge ist jemand, der für etwas Zeugnis ablegt, was er zwar wahrgenommen, aber nicht selbst hervorgebracht hat. Er fungiert als eine Art Medium für ein anderes. Ein Subjekt mit Verweisungscharakter steht für etwas anderes. Anders als ein Zeichen aber ist es nicht austauschbar, weil kein anderer oder kein anderes seine Aufgabe übernehmen kann. Ein Subjekt gewinnt seine Individualität in der Übernahme der Verantwortung, welche ihm immer schon aufgegeben wurde. Das ist der Grundgedanke von Levinas, dem Ricoeur folgt. Und insofern ist das Selbst nicht sein eigener Grund. Aber das Selbstgefühl des Subjekts besteht genau darin, sich an diesem Mangel abzuarbeiten. Man kann hier von einer negativen Subjekttheorie sprechen im Sinne einer gebrochenen oder defizitären Subjektivität. Dabei gilt es aber in bezug auf die Abhängigkeit der Subjektivität eine Besonderheit zu beachten, wie sie beispielsweise in mittelalterlichen Theologien von Meister Eckhart und anderen für den Fall des Zeugnis-Ablegens für Gott formuliert wurde. Gott ist nicht einfach ein Gegenstand außerhalb meiner selbst, vielmehr ist Gott mir innerlicher, als ich es mir selbst bin. Levinas’ These von der auf Verantwortung beruhenden Irreduzibilität des Subjekts lese ich mit Ricoeur als Ausdrucksgeschehen eines Selbst. Ein Subjekt kommt zu sich selbst, indem es für den Anderen da ist. Insofern bedeutet ein ZeugnisAblegen keinen Bruch mit der Subjektivität, sondern eine Intensivierung der Vorstellung von der Subjektivität selbst. Diese Intensivierung A

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artikuliert sich als Expressivität, welche den Prozess des Zum-Ausdruck-Bringens des Subjekts selbst ausmacht. Die Bezeugung des Anderen durch das Subjekt und die Aufforderung des Subjekts durch den Anderen stellen eine einheitliche Bewegung dar (ebd., S. 425).

III. Die Idee des Konsenses als ›Einheitsprinzip‹ eines Gesprächs Ohne zumindest die Utopie eines ›Wie‹ der Verkettung jenseits des ›Dass‹ des Verkettens wäre jegliche Normativität verloren, welche aber konstitutiv ist für die Kommunikativität. Das heißt, mit Schleiermacher gilt es an der Notwendigkeit eines Konsensbegriffes festzuhalten. Wenn aber die Idee einer solchen Einigung den Ansprüchen des Verstehens utopischer Subjektivität und damit den Ansprüchen von Fremdheit in ihrer Eigenständigkeit gerecht werden können soll, muss der Konsensbegriff das Merkmal der Fremdheit als konstitutiven Bestandteil in sich tragen. Das Modell der Subjektivität als Bezeugung beispielsweise bietet eine Grundlage dafür, diese Schwierigkeiten zu überwinden, indem es mit seiner Idee altruistischer Expressivität eine Vorstellung von der Möglichkeit dieser Utopie von Einigung liefert. Das heißt, auf der Basis der von Schleiermacher festgehaltenen Notwendigkeit des Konsenses gilt es eine alternative Theorie des Konsenses zu entwerfen, welche die Inkommensurabilitäten utopischer Subjektivität nicht nur als Einschränkungen, sondern auch als Chancen wahrnehmen kann. Angesichts der Ansprüche einer radikalisierten Individualität kommt es für eine Konsenstheorie ganz entscheidend darauf an, dass und wie sie die Bedeutung des Dissenses thematisiert. Die Intuition eines solchen Programms leitet beispielsweise Habermas, wenn er darauf abhebt, dass in einer herrschaftsfreien Kommunikation nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments einen Geltungsanspruch zu Recht begründen kann. Für Waldenfels stellt sich ein Dialog aus phänomenologischer Sicht so dar, dass es hier um den Bereich der Intersubjektivität als einer nicht steuerbaren Zwischensphäre geht (vgl. dazu: Grathoff in Tischner 1989, S. 10; zur These: Waldenfels in Grathoff 1983). Die Ebene der Intersubjektivität ist dem Zugriff aller Subjekte enthoben. Ebenso, so müsste man ergänzen, ist Intersubjektivität keine Frage eines Systems, welches aus sich heraus einem bestimmten Programm folgen würde. Wenn subjektives Handeln eine freie Variation darstellt, dann ist Intersubjektivität als 96

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§ 13 Zur Notwendigkeit der Idee des Konsenses

ein offenes Geschehen zu bezeichnen. Ein herrschaftsfreier Dialog ist ein Geschehen, zu welchem ich nur Zugang finde über die Intentionen der beteiligten und betroffenen Subjekte. Die Frage nach dem Status einer Synthese richtet sich dann darauf, welchen Platz und welchen Stellenwert der Gedanke einer Synthese in einer Theorie der Kommunikativität besitzt. Das Gelingen eines Dialogs bedeutet das Gelingen von Verständigung. Verständigung wiederum impliziert Verstehen. Das Gelingen eines Dialogs setzt die Möglichkeit einer Synthese in Verstehen und Verständigung voraus. Ohne eine solche Möglichkeit gäbe es nicht einmal die Möglichkeit eines Missverständnisses. Mit Schleiermacher ausgedrückt: Jeder Streit setzt ein Gemeinsames voraus. Oder, nochmal anders, mit Waldenfels im Anschluss an Lyotard, es muss so etwas wie eine sinnerfüllte Verkettung von Äußerungen geben. Sonst gäbe es nichts, was wir als Gespräch bezeichnen können. Es gäbe nur einzelne Äußerungen, aber keine derart in Zusammenhang stehende Abfolge, dass wir diese verbindend gegen andere Sequenzen abgrenzen könnten. Das heißt, der Gedanke einer Synthese stellt für Verstehen und Verständigung in einem Dialog eine notwendige Bedingung dar. Waldenfels unterscheidet mit Levinas in einem Gespräch zwei Ebenen. Es sind die Ebenen des Sagens und des Gesagten. Die Ebene des Gesagten ist die Ebene der getanen Äußerungen, der erhobenen Geltungsansprüche, die Ebene, in welcher sich subjektive Intentionalität vollzieht. Grob vereinfacht könnte man sagen, es handelt sich hier um die Sachebene. Die Ebene des Sagens ist die Ebene dessen, was in und mit den Äußerungen getan wird. Es ist die Ebene der personalen Begegnung im Dialog, der Begegnung von Antlitz zu Antlitz, wie Levinas es ausdrückt. Vereinfacht gesagt, es wäre die Personebene oder die personale Ebene. Waldenfels bezeichnet nun einen Konsens als eine Angelegenheit auf der Ebene des Gesagten. Eine solche Beschränkung des Konsenses auf die Sachebene würde den Konsens auf ein Phänomen in einem rein instrumentellen Zusammenhang reduzieren. Die personale Ebene, wie sie im Wort ›Überein-Stimmen‹ anklingt, wäre unterboten. Es ginge aber entscheidend darum, die Dialektik im Verhältnis von Person- und Sachebene nicht zu verkürzen. Der Gedanke einer Synthese setzt ein irgendwie geartetes ›Passen‹ von Äußerungen in einer Dialektik von Person- und Sachebene voraus. Mit der folgenden Äußerung wendet sich wiederum Waldenfels zwar gegen einen

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3 · Der Einspruch des Anderen

Konsensbegriff im Sinne eines Systems oder einer Regel, lässt aber die Möglichkeit eines Sich-Treffens durchaus zu. »Eine dialogische Äußerung ist als solche nicht wahr, sofern sie sich dem Konsens als einem kollektiven Maßstab unterwirft oder sich einer Gesamtwahrheit einfügt, sie ist vielmehr wahr, sofern sie sich mit der fremden Äußerung trifft. Frage und Antwort sind weder Glieder einer möglichen Synthese noch Elemente eines möglichen Systems. Der so viel berufene Konsens gleicht einer sozialen Grammatik, welche für die ›Poesie der menschlichen Beziehungen‹ nicht aufkommen kann.« (Waldenfels 1995, S. 136)

Vielleicht ist ja doch so etwas wie eine Synthese denkbar, welche weder der Logik einer Gesamtordnung noch der einer Grundordnung folgt. Dass eine solche Synthese immer auch etwas mit einer Sinnsetzung zu tun haben muss, scheint mir deswegen unabweisbar, weil sonst die Einheit einer Äußerung als Moment einer Begegnung von Person zu Person verlorenginge. Jede Art von Kommunikation impliziert eine ethische Dimension. Diese bezieht sich darauf, dass in jeder Frage eine Bitte steckt. Anders ausgedrückt, jede Äußerung enthält einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. Die regulative Idee des Konsenses fasst Übereinstimmung als Ideal der Ansprüche beider Ebenen, der Ebenen von Prätention und Appell. Schleiermachers und Levinas’ Konzept gehören an dieser Stelle zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. Ohne Verstehen gibt es keine Verständigung, das wäre Schleiermachers Position. Ohne Verständigung gibt es kein Verstehen, das ist Levinas’ Anliegen. Die Brücke beider zeigt sich in Tolstois Diktum: Alles verstehen heißt alles verzeihen. Weil diese Verbindung von Verstehen und Verständigung notwendigerweise besteht, deswegen ist für eine Theorie der Subjektivität ein Anknüpfungspunkt seiner Kommunikativität im Sinne von Zustimmungsfähigkeit erforderlich. Ein Gespräch verlangt deshalb nach etwas, was man mit Manfred Frank als »synthetisches Einheitsprinzip« (Frank 2012, S. 72) bezeichnen könnte. Franks Formulierung zielt auf eine Kontinuität im Dialog, welche »eine solche von einander motivierenden abduktiven Schlüssen wäre« (ebd., S. 71). Der Einheitspunkt der Zustimmungsfähigkeit sei demzufolge kein transzendentales Prinzip, vielmehr ein Motiv zur diskursiven Approximation Schritt für Schritt bzw. von Fall zu Fall. Ohne ein solches synthetisches Einheitsprinzip gäbe es weder Verstehen noch Missverständnis noch Streit. Das ist mit anderen Worten Schleier98

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machers unverändert gültige Einsicht. Wenn es denn aber zutrifft, dass es einen Konsens im Sinne eines Zusammenpassens von Äußerungen geben können muss, dann stellt sich die Frage danach, wie sich dieses Passen vollzieht angesichts der Ansprüche, welche die Konzepte utopischer Subjektivität artikulieren. Person- und Sachebene müssen im Begriff des Konsenses so zusammenwirken wie Vorder- und Hintergrund in einem Bild. Ohne Hintergrund ist kein Vordergrund erkennbar, weil jeder Vordergrund einen Hintergrund benötigt, von dem er sich abhebt. Vorder- und Hintergrund gibt es nur als zwei unterschiedliche Momente einer einzigen Einheit. Wenn wir auf der Sachebene einen Konsens erarbeiten, dann ist das nur deshalb möglich, weil auf der Personebene vorhandene Gemeinsamkeiten artikuliert werden. Gemäß einem Modell horizontaler Anknüpfung, so ließe sich im Anschluss an Lyotards und Waldenfels’ Einwände formulieren, entsteht eine Kette nicht deshalb, weil einzelne Glieder in ein vorgefertigtes Gerüst eingesetzt werden, so wie man Perlen auf einer Schnur auffädelt. Vielmehr werden einzelne Elemente zusammengesetzt, so wie Kettenglieder ineinander eingehängt werden. Dadurch entsteht aber etwas völlig eigenständiges Neues. Franz Rosenzweig hat ein solches Ganzes als »Bahn« (Rosenzweig 1990, S. 97; S. 365 f.) bezeichnet, welche aus dem Miteinander und Nacheinander von einzelnen Elementen sichtbar wird. Das Moment des Passens stellt der Chiasmus dar, die Verkreuzung, welche als Ereignis einfach ›geschieht‹, deren Resultat aber dennoch durch Arbeit hervorgebracht wurde, allerdings durch eine wechselseitige Arbeit zwischen Subjekt und Subjekt, welche sich in Produktion und Rezeption austauschen.

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Kapitel 4: Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen

Seine Grenze wissen heißt, sich aufzuopfern wissen. G. W. F. Hegel

§ 14 Die Struktur des Einvernehmens I.

Beobachtungen zum Dialog

(1) »Vor vielen Jahren, im Mittelalter, wurde der Papst von seinen Ratgebern gedrängt, die Juden aus Rom zu verbannen. Es gehört sich nicht, sagten sie, daß diese Leute ungestört ausgerechnet im Zentrum des Katholizismus lebten. Ein Ausweisungsedikt wurde aufgesetzt und verkündet, zur großen Bestürzung der Juden, die wußten, daß sie anderswo noch schlechter behandelt würden als in Rom. So ersuchten sie den Papst, das Edikt noch einmal zu überdenken. Der Papst, ein gerechter Mann, machte ihnen einen fairen Vorschlag: die Juden sollten einen der ihren ernennen, um mit ihm in Pantomime zu debattieren. Wenn ihr Sprecher gewönne, könnten die Juden bleiben. Die Juden kamen zusammen, um den Vorschlag zu überdenken. Ablehnung bedeutete Ausweisung aus Rom, Annahme die Gefahr einer sicheren Niederlage, denn wer könnte eine Debatte gewinnen, in der der Papst sowohl als Beteiligter wie Richter mitwirkte? Gleichwohl blieb nichts anderes übrig, als anzunehmen. Nur fand sich kein Freiwilliger für diese Aufgabe. Die Bürde, für das Schicksal der Juden verantwortlich zu sein, war schwerer als jemand auf sich nehmen wollte. Als nun der Hausmeister der Synagoge erfuhr, was vorging, trat er vor den Oberrabbi und stellte sich freiwillig dafür zur Verfügung, sein Volk in der Debatte zu vertreten. »Der Hausmeister?« sagten die anderen Rabbis, als sie davon hörten. »Unmöglich!« »Je nun«, sagte der Oberrabbi, »keiner von uns ist gewillt es zu tun. Also entweder der Hausmeister oder keine Debatte.« So wurde der 100

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§ 14 Die Struktur des Einvernehmens

Hausmeister, weil kein anderer wollte, bestellt, mit dem Papst zu debattieren. Als der große Tag kam, saß der Papst auf einem Thron auf dem Petersplatz, umgeben von seinen Kardinälen, einer großen Menge von Bischöfen, Priestern und Gläubigen gegenüber. Dann traf die kleine jüdische Delegation ein in schwarzen Roben und mit wallenden Bärten, in ihrer Mitte der Hausmeister. Der Papst wandte sich dem Hausmeister zu, und die Debatte begann. Feierlich hob der Heilige Vater einen Finger und fuhr mit ihm über den Himmel. Der Hausmeister zeigte sofort energisch auf die Erde. Der Papst schien etwas überrascht. Noch würdevoller hob er wieder einen Finger und hielt ihn dem Hausmeister nachdrücklich vors Gesicht. Der Hausmeister hob daraufhin drei Finger und hielt sie genau so bestimmt vor das Gesicht des Papstes, der von dieser Geste überrascht schien. Dann griff der Papst mit der Hand in sein Gewand und holte einen Apfel aus der Tasche. Daraufhin griff der Hausmeister in seine Papiertasche und holte ein flaches Stück Matze heraus. Da erklärte der Papst mit lauter Stimme: »Der jüdische Vertreter hat die Debatte gewonnen. Das Ausweisungsdekret wird hiermit zurückgezogen.« Die jüdischen Vertreter umringten den Hausmeister und führten ihn weg. Die Kardinäle drängten sich erstaunt um den Papst. »Was geschah, Euer Heiligkeit?« fragten sie. »Wir konnten den schnellen Ausfällen und Paraden der Debatte nicht folgen.« Der Papst wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Dieser Mann ist ein brillanter Theologe, ein Meister der Debatte. Ich bewegte meine Hand über den Himmel, um damit anzudeuten, daß das ganze Universum Gott gehört. Er zeigte mit seinen Fingern nach unten, um mich zu erinnern, daß es einen Ort, Hölle genannt, gäbe, wo der Teufel absolut herrscht. Ich hob dann einen Finger, um aufzuzeigen, daß Gott Eins ist. Stellen Sie sich mein Erschrecken vor, als er drei Finger hob, um zu zeigen, daß sich dieser eine Gott auch in drei Personen manifestiert, womit er sich unserer Lehre von der Dreifaltigkeit anschloß. Wohl wissend, daß es unmöglich sein würde, dieses theologische Genie auszustechen, verlagerte ich die Debatte schließlich auf ein anderes Gebiet. Ich holte einen Apfel heraus, um anzudeuten, daß die Erde rund sei. Er zog sofort ein flaches Brot heraus, um mich zu erinnern, daß die Erde eine Scheibe sei. Es bliebt nichts anderes übrig, als ihm den Sieg zuzuerkennen.« Unterdessen waren die Juden in ihrer Synagoge angekommen. A

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4 · Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen

»Was geschah?« fragten sie den Hausmeister verwundert. Dieser war empört. »Es war ein blödes Getue«, sagte er. »Zunächst bewegte der Papst seine Hand, als wolle er den Juden sagen, raus aus Rom. Also zeigte ich nach unten, um ihm klarzumachen, daß wir uns nicht rühren würden. Dann zeigte er mit einem Finger drohend auf mich, als wollte er sagen, werd mir bloß nicht unverschämt. Also hob ich drei Finger, um ihm zu verstehen zu geben, daß er uns gegenüber dreimal so unverschämt handele, wenn er uns aus reiner Willkür aus Rom ausweise. Was macht er dann? Er holt sein Frühstück heraus. Also holte ich auch meines.« (Mello 1996, S. 39 f.) (2) Ausgehend von sehr unterschiedlichen und manchmal auch irritierenden Erfahrungen mit Gesprächen nach Art eines Dialogs wird eine phänomenologische Konsenstheorie den Begriff des Konsenses aus seiner Funktion in der ›Expressivität‹ zu entfalten suchen, in welcher sich die Teilnehmer eines Dialogs immer schon vorfinden. Ein Dialog ist ein Zwiegespräch, an dem üblicherweise zwei oder mehr Personen beteiligt sind. Ein solcher Dialog kann auf Verständigung hin angelegt sein. Ein Dialog muss aber nicht auf Verständigung hin angelegt sein, er kann auch der Konfrontation, der Täuschung, der Unterwerfung usw. dienen. Verständigung wiederum kann auf Einigung hin angelegt sein. Verständigung muss aber nicht auf Einigung hin angelegt sein, sie kann auch dem Austausch von Überlegungen, von Verhandlungspositionen, von Erlebnissen usw. dienen. Das bedeutet, dass ein Dialog mehr ist als Verständigung, Verständigung wiederum mehr als Einigung. Kann es aber einen Dialog geben ohne die Möglichkeit zur Verständigung, und kann es Verständigung ohne die Möglichkeit von Einigung geben? Die Antwort auf diese zweifache Frage ist ein klares Nein. Jeder Dialog schließt immer schon zumindest die Möglichkeit von Verständigung und die Möglichkeit von Einigung mit ein, weil in jedem Dialog die Anerkennung des Anderen vorausgesetzt wird. Lyotards Diktum, man müsse verketten, die Verkettung aber sei nicht notwendig, ist nur die halbe Wahrheit. Denn mit jeder Verkettung, die zu wählen ich auch nach Lyotard nicht umhin kann, setze ich einen Rahmen mit, von dem her und auf den hin sich meine Option eines Verkettens und einer Verkettung erschließt. Das ist deshalb so, weil Verketten immer schon mehr ist als Verketten, denn Verketten heißt Antworten. Antworten aber vollzieht sich in einer Doppelstruktur von Antworten und Ant102

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wort. Der Rahmen, welchen mein Antworten für meine Antwort bildet, enthält eine Idee davon, wie eine Einigung, also ein gelingendes Verketten aussehen könnte. Um in der Begrifflichkeit von Waldenfels zu sprechen, ein Dialog ereignet sich als Vollzug der Antwortlichkeit von Teilnehmern eines Gesprächs. Antwortlichkeit meint, dass ich jemandem etwas auf etwas antworte. Ein Antworten in der Antwortlichkeit impliziert ein Eingehen auf die Doppelstruktur von Sachfragen bzw. Prätentionen und Anfragen bzw. Appellen. Weil die Ebenen von Prätention und Appell im Antworten stets gemeinsam auftreten, besitzt das Antworten diese Doppelstruktur, in welcher Ordnung und Außerordentliches miteinander verbunden sind. In Waldenfels’ Theorie der Responsivität wird die Ebene der Prätention als Ebene der Ordnung eines Woraufhin oder eines Wonach der Antwort thematisiert. Die Ebene des Appells dagegen ist die des Außerordentlichen, die das Worauf eines Antwortens bezeichnet. Das Worauf eines Antwortens, welches der Herausforderung einer ›wilden Verantwortung‹ zu entsprechen sucht, wie sie Levinas mit seinem Begriff der Exteriorität jedweder Ordnung entgegengesetzt hat, bildet den Rahmen jeder Antwort. So wie der Vollzug eines Dialogs ein Antworten voraussetzt, so setzt das Antworten die Anerkennung des Anderen voraus. Wenn Levinas recht haben sollte mit seiner Entdeckung der Subjektivität als Passivität, dann bildet der Primat des Anderen das erste Moment in der Anerkennung des Anderen. Antworten geht aus von der Heteronomie der Anerkennung des Anderen als anderer, das heißt von der Heteronomie der Betroffenheit durch den Anderen. Wäre diese Anerkennung im ersten nicht durch meine Passivität gekennzeichnet, dann wäre diese Form der Anerkennung nicht radikal genug für eine Anerkennung des Anderen als anderer, vielmehr wäre sie nur eine weitere Form der Vereinnahmung des Anderen durch mich selbst. Zweites Moment der Anerkennung des Anderen ist, dass auch eine Anerkennung des Anderen als anderer als meine Leistung gedacht werden muss. Ich bin es, der antwortet. Ich bin es, der die Heteronomie auf sich nimmt, der sie als Verantwortung übernimmt. Wenn nun von mir nicht nur Unterwerfung, sondern Anerkennung als meine Antwort gefordert ist, dann steht mir so etwas wie eine Prüfung zu. Das ist das dritte Moment in der Anerkennung des Anderen. Anerkennung vollzieht sich vor einem Horizont, in welchen meine Ordnung eingelassen ist. Ich kann diesen Horizont meiner Ordnung nicht abschütteln oder A

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4 · Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen

abstreifen, aber ich kann meine Ordnung dem Anderen öffnen oder sie ihm verschließen. In der Achtsamkeit öffnet sich meine Aufmerksamkeit für den Anderen und damit erschließt sich ihr im selben Zug die Möglichkeit einer Einigung.

II.

Der Ort des Konsenses

(1) Eine phänomenologische Konsenstheorie analysiert individuelle und gesellschaftliche Erfahrung von Übereinstimmung. Übereinstimmung entsteht in und aus solchen Vorgängen wie Geben, Nehmen und Erwidern, den grundlegenden Handlungen des Tauschs, wie sie Marcel Mauss analysiert hat. Mit Levinas lässt sich als Ideal eines solchen Handelns die Idee des Altruismus formulieren. Altruismus meint in diesem Zusammenhang die Interpretation der Subjektivität als einer ›selbst-losen‹ Subjektivität, wie dies Levinas benennt. Das Subjekt interessiert sich nicht für sich selbst, sondern es interessiert sich für den Anderen, weil es seine Einzigartigkeit daraus bezieht, dass es dem Anderen dient. Diese Idee des Altruismus ist eine normative Idee, welche in die Normalität der Verhältnisse eingelassen ist. Insofern wäre die Gestalt der Normativität in der Normalität als eine Art ›Maßwerk‹ (Waldenfels) zu bezeichnen. Weil sie eine normative Idee in Verhältnissen von Normalität darstellt, funktioniert die Idee des Altruismus als regulative Idee innerhalb eines Konzeptes von Rationalität. Die Idee des Altruismus wird in einem solchen Kontext in die Idee einer idealen Akzeptabilität transformiert, welche mit ihrem Verständnis von Übereinstimmung ein Maß für die Begegnung des Subjekts mit dem Anderen entwickelt. Das Spezifische einer phänomenologischen Konsenstheorie zeigt sich daran, dass sie den Begriff des Konsenses sowohl als Gegenstand als auch als Akt analysiert. Das heißt, sie entdeckt den Konsens als Gegenstand im Akt der Konsensualität. Während der Konsens das Noema des Aktes der Übereinstimmung darstellt, welches als Einvernehmen benannt wird, stellt die Konsensualität die Noesis des Aktes der Übereinstimmung dar, welche als Einverständnis benannt wird. Anders ausgedrückt, Konsensualität bezeichnet die Einstellung oder Disposition zum Konsens. Die Pointe der hier vertretenen phänomenologischen Konsenstheorie ist, dass sie sich als offerentielle Konsenstheorie versteht. Ein Konsens als Einvernehmen entsteht aus Akten der Kon104

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sensualität als Einverständnissen, welche einer Dialektik von Anbieten und Annehmen folgen. Der Konsens bildet sozusagen die Grenze meiner selbst, der ich mich im Anbieten oder Annehmen nähere. Nach dem Aufweis der Möglichkeit und der Arbeitsweise des Konsenses im Sinne einer Synthese kann man die Frage nach der Bedeutung des Konsenses weiterführend beantworten. Ausgangspunkt bleibt Schleiermachers Überlegung von der Notwendigkeit der Voraussetzung eines Gemeinsamen als Bedingung der Möglichkeit einer Unterscheidung. Ein zweiter Hinweis geht in die Richtung, dass im Begriff des Konsenses die ethische Dimension des Handelns auf eine Art und Weise thematisiert wird, dass diese ethische Dimension in den Vorgang der Sinnsetzung immer schon eingebettet ist. Diese Überlegung nimmt das Anliegen von Levinas auf, dass wir uns selbst nur über unsere Verantwortlichkeit für den Anderen entdecken. Drittens bietet der Begriff des Konsenses einen Ausgangspunkt für eine veränderte Interpretation des Verfahrens der Sinnsetzung. Die Aktivität der Sinnsetzung wird als Dialektik von Produktivität und Rezeptivität, von Offerentionalität und Akzeptabilität gedeutet. Ich nehme meine Verantwortlichkeit für den Anderen wahr, indem ich der Stimme des Anderen in mir Raum gebe und meine Äußerung dem Anderen anbiete. Eine phänomenologische Konsenstheorie folgt unverdrossen dem Ansatz eines transzendentalen Subjektivismus, denn der Ansatz bei der Subjektivität erscheint ihr aus guten Gründen unhintergehbar. Erkennen und Wissen eines Subjekts gibt es nur als Interpretation. An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwieweit eine solche Denkweise als solipsistisch zu bezeichnen wäre. Interpretationen sind solipsistisch in dem Sinne, dass sie von einem Subjekt ausgehen. Sie bleiben in der Welt des Subjekts befangen, wenn es keine erkennbaren Korrekturen gibt. Gibt es aber erkennbare Korrekturen, dann heißt das, dass ein Subjekt zur Selbstrevision fähig und damit zumindest nicht in dem starken Sinne solipsistisch ist, dass es in seinem Denken und Handeln ausschließlich auf sich selbst bezogen bliebe. Die Charakterisierung des Solipsismus besagt dann, dass es immer das Subjekt bleibt, welches seine Aktivität auf die Welt richtet, eine Aktivität, in der es so etwas wie eine dialogische Öffnung auf den Anderen hin gibt. Bedingung eines solchen Vermögens zur dialogischen Öffnung und damit zur Revision der Subjektivität selbst ist der Konsens. Denn nur der Gedanke der Möglichkeit einer Übereinstimmung erlaubt es, das Sich-Einlassen des Subjekts auf den Anderen als einen Prozess von Verantwortlichkeit zu verstehen. A

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Demzufolge sagen wir, Sinn entsteht in und aus Interpretationen. Alle Interpretationen enthalten ein Moment an Konjektur, welches bei Schleiermacher als Divination bezeichnet wird. Es geht um die antizipative Struktur der Kommunikativität, welche sich über Vermutungen der Wahrheit nähert. In diesen Vorgriff der Antizipation aber muss die Exteriorität des Anderen immer schon eingelassen sein, das heißt, die Interpretation mit ihrer Konjektur muss eine Offerte, ein Angebot an den Anderen enthalten, wenn denn Wahrheit als allgemeingültig und damit als universal zu bezeichnen sein solle, eine Bestimmung, die nicht preisgegeben werden kann, ohne den Gedanken der Wahrheit selbst aufzulösen. (2) Ein Konsensbegriff als Voraussetzung von Verständigung enthält eine Vorstellung davon, was Übereinstimmung bedeutet. Mit dem Terminus der Übereinstimmung wird im weiteren Sinne stets auf irgendeine Art eines Zusammenpassens nach der Art einer Identität Bezug genommen, welche auf einem Begriff von Wahrheit beruht. In traditionellem Sinne gilt Übereinstimmung bei Schleiermacher als Übereinstimmung von Subjekt und Prädikat in einem Satz. Von hier aus ist es nur ein kurzer Weg zur Korrespondenztheorie von Wahrheit, welche Übereinstimmung als Identität einer Sache im Denken mit der Sache im Sein fasst. Eine solche Übereinstimmung kann sich auf ein Zusammenpassen von Denken und Wirklichkeit beziehen. Kantianisch geschult wissen wir aber, dass es keine Wahrheit ohne Subjekt gibt, da Erkenntnis eine Tätigkeit ist. Weil deshalb jeder erkennende Zugriff auf Wirklichkeit sprachlich vermittelt ist, bezieht sich eine sich von der traditionellen Sichtweise unterscheidende Art von Übereinstimmung auf das Zusammenpassen von Äußerungen, welche manchmal auch auf deren propositionale Struktur als Aussagen reduziert werden. Entscheidend ist dabei aber die Einsicht, dass in jeder Äußerung eine Perspektive enthalten ist, in welcher die unhintergehbare Individualität einer Subjektivität ihren Ausdruck findet. Eine Übereinstimmung von Ansichten bzw. Äußerungen von Gesprächsteilnehmern ist demzufolge komplexer als das Konzept einer Übereinstimmung im Satz selbst, weil eine Äußerung unter ganz unterschiedlichen Aspekten dessen gesehen werden kann, was sie als Sprachspiel vorstellt. Wenn Wahrheit demzufolge unter anderem auch von den Perspektiven der Gesprächsteilnehmer abhängt, dann bedarf es 106

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zur Übereinstimmung des Zusammenpassens der ›immanenten‹ Ansicht einer Binnenperspektive eines Gesprächsteilnehmers mit der ›transzendenten‹ Ansicht der Außenperspektive eines anderen Gesprächsteilnehmers unter dem Gesichtspunkt eines ›synthetischen Einheitsprinzips‹. Phänomenologisch gesehen wird mit der Bestimmung des Erkennens als Tätigkeit die Realitätsfrage eingeklammert. Indem Erkenntnis die Form eines Bewusstseinsinhaltes annimmt, erschließt sich der Reichtum der Vorstellungswelt individueller Subjektivität. In der Konsequenz dieses Zugangs klammert die Phänomenologie in der Regel das Individuelle ein, um das Wesentliche im Individuellen aufzudecken. Dies ist und bleibt ein problematisches Unterfangen, weil sich Perspektiven radikal voneinander unterscheiden. Bei der Suche nach dem Allgemeinen kann es nur um Typisierungen gehen. Denn letztlich verfügen wir in unserer Subjektivität nicht über eine Basis im Sinne eines feststehenden Wesens, sondern wir sind ›in Geschichten verstrickt‹, oder, wie es bei Schapp anders heißt, die Geschichte stehe für den Mann (Schapp 1985, S. 103). Daraus folgt, dass der Mensch nicht auf eine allgemeine Idee reduziert werden darf, sondern dass man mit dem Begriff des Allgemeinen nur die Grenze einer individuellen Perspektive aufzeigen kann. (3) Weil jede Perspektive ihrerseits einen Rahmen voraussetzt, von dem her und auf den hin sie zu verstehen ist, beruht Übereinstimmung demzufolge auf Erschlossenheit. Der Gegenstand, auf den sich die Perspektive richtet, wird dabei nur sichtbar, wenn er sich selbst zeigt. Das heißt, Wahrheit enthält immer ein Moment von Selbstgegebenheit. Im Verhältnis eines Subjektes zu einem Objekt wird diese Vorstellung von Wahrheit als Evidenz bezeichnet. Entsprechend möchte ich den Begriff des Konsenses im Verhältnis eines Subjektes zu einem anderen Subjekt ansiedeln, wenn die Äußerung eines Gesprächsteilnehmers durch einen anderen interpretiert wird. Was die Theorie der Evidenz für den Geltungsanspruch der Wahrheit im Verstehen, das ist die Theorie des Konsenses für den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit in der Verständigung. Anders ausgedrückt, Evidenz und Konsens stellen unterschiedliche Versionen von Erschlossenheit dar. Konsensuale Übereinstimmung als Überein-stimmung bezieht sich auf das Zusammenpassen von Äußerungen, welches sich sowohl auf der Ebene der Prätention als auch auf der Ebene des Appells vollA

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zieht. Es geht darum, sowohl den Gegenstand einer Äußerung in den Blick zu bekommen als auch auf die fremde Stimme des Anderen zu hören, mit dem ich in der Äußerung konfrontiert bin. Wie in der Evidenz gibt es im Konsens das Moment einer Selbstgegebenheit, in welchem sich die Wirklichkeit des anderen Subjekts aufschließt. Der Begriff des Konsenses als Übereinstimmung kann deshalb als Grenznorm für die Bewährung der Subjektivität in Kommunikativität verstanden werden. (4) Den Ausgangspunkt für diese Überlegung bildet die Einsicht, dass es so etwas wie einen irreduziblen Eigenwert von Gedanken oder Äußerungen gibt, der sich nicht durch die Regeln erklären lässt, aufgrund welcher Äußerungen oder Gedanken gebildet werden. Es gibt etwas hinter allen Regeln oder Ursachen. Dieses ›Dahinter‹ liegt im Subjekt, welches denkt oder sich äußert. Es ist seine Intention. Ein Dialog als intersubjektives Spiel folgt dem Gesetz der freien Variation, deren Wurzel die jeweilige Intentionalität ist. Die Frage lautet, wie sich Intention mit Intention trifft. Das ist eine andere Formulierung für Lyotards Anknüpfungsproblem. Die These lautet, dass jede Intention und damit alle Intentionalität eine Grenze besitzt, an welcher sie auf den Anderen trifft. Diese Grenze ist nach innen gewendet der Horizont des Subjekts, von außen gesehen die Exteriorität des Anderen. Mit diesem Ansatz wird die Intuition aufgenommen, welche Husserl in der fünften seiner Cartesianischen Meditationen entfaltet hat. Ihm ging es um die »bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« (Husserl 2003, S. 61). Diese Intuition Husserls war auch Levinas’ Ausgangspunkt seiner Entdeckung der Exteriorität. Und sie ist der Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung von Levinas’ Ansatz durch Waldenfels. Die Vorstellung einer solchen Grenze impliziert die Möglichkeit eines wie immer gearteten Kontaktes zwischen Binnenund Außenperspektive. Die Vorstellung eines solchen Kontaktes wiederum schließt damit auch die Möglichkeit einer Übereinstimmung von Binnen- und Außenperspektive ein. Das heißt, die Idee des Konsenses gehört damit auch zu den Bedingungen der Möglichkeit von Intentionalität.

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III. Die These einer offerentiellen Konsenstheorie (1) Die zentrale These einer offerentiellen Konsenstheorie lautet: Konsens ist Übereinstimmung als Ereignis offerentieller Reziprozität. Etwas weniger technisch ausgedrückt ließe sich diese Art von Übereinstimmung als Ereignis angebotlicher Wechselseitigkeit bezeichnen. Das zentrale Wort für einen solchen Konsensbegriff ist Einvernehmen. Ein Einvernehmen stellt ein Ereignis dar, insofern hier Äußerungen unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer zusammenkommen und zusammenstimmen. Ein solches Ereignis geschieht aus sich heraus, es ›ereignet sich‹. Es vollzieht sich von sich aus, es kann von den Gesprächsteilnehmern weder einfach hergestellt noch abschließend geregelt werden. Das heißt, ein Ereignis besitzt eine genuine Referentialität, welche aber nur aus der Aktivität eines Subjektes heraus zugänglich wird. Die Übereinstimmung eines Einvernehmens entsteht deshalb aus einer offerentiellen Reziprozität oder einer angebotlichen Wechselseitigkeit. Sie entsteht dadurch, dass Äußerungen als Einverständnis angeboten oder angenommen werden. Das heißt, Einverständnisse sind Angebote, welche abgegeben oder angenommen werden. Die Äußerungen, die da als Angebote zusammenkommen, müssen wechselseitig abgegeben und angenommen werden, insofern sie zusammenstimmen sollen. Das heißt, ein Einvernehmen entsteht aus Einverständnissen, wenn diese in Angebot und Annahme als Akten des Anbietens und Annehmens miteinander übereinstimmen. Das Maß der Übereinstimmung bildet eine Idee idealer Akzeptabilität als einer inklusionslogischen Akzeptabilität, also einer uneingeschränkten Annehmbarkeit, bezogen auf alle möglichen Gesprächsteilnehmer. Dieses Maß an Übereinstimmung funktioniert als eine Grenznorm. Eine solche Norm begrenzt und entgrenzt ein Individuum zugleich. Sie versetzt ein Individuum in die Lage, sich als Moment von etwas Umfassenderem zu begreifen, was man Universalität nennen kann. Den Kern von Universalität aber bildet eine Unnennbarkeit oder Unbestimmtheit. Dadurch wird Universalität zu etwas, was eine Vielfalt von Perspektiven sowohl erfordert als auch eröffnet. (2) Die Idee eines Konsenses zielt auf eine Einheit von Übereinstimmung durch Zustimmung. Die Momente der Übereinstimmung und der Zustimmung kommen zusammen, wenn ich mich mit der Äußerung eines Anderen einverstanden erkläre. Ein Einverständnis bezeichA

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net eine Einheit von Übereinstimmung und Zustimmung. Die Idee eines Konsenses überbietet aber die Vorstellung einer Einheit von Übereinstimmung und Zustimmung im Einverständnis. Denn ein einseitig gegebenes Einverständnis allein macht noch keinen Konsens. Denn ich kann zwar zu etwas mein Einverständnis geben, aber ich kann kein Einverständnis ›nehmen‹. Wenn es ein Angebot eines Einverständnisses gibt, dann kann ich dieses Angebot annehmen. Das heißt dann, dass wir uns in einem Einvernehmen befinden. Ich kann aber wiederum kein Einvernehmen ›geben‹. Ich kann ein Einvernehmen überhaupt nicht hervorbringen. Vielmehr entsteht ein Einvernehmen dann, wenn ein Einverständnis und ein anderes Einverständnis zusammenkommen. Ein Einvernehmen entsteht als Übereinkunft eines Einverständnisses mit einem anderen Einverständnis. Man kann dann sagen, dass wir uns in einem gegenseitigen Einvernehmen befinden. Das heißt aber, dass ein Einvernehmen meiner Verfügung entzogen ist. Es widerfährt mir, das ist sein pathisches Moment. Es widerfährt mir aber genau nur dann, wenn ich mich gleichzeitig mit der Abgabe des Angebots meines Einverständnisses am Zustandekommen eines Einvernehmens beteilige, indem ich das Zustandekommen eines Einvernehmens dadurch zulasse, dass ich das Angebot eines Anderen annehme. Übereinstimmung ist also Produkt der Aktivität eines Subjektes, welches aber als Produkt dem Subjekt vorausgeht, weil es als Ereignis ein Moment von Selbstreferentialität aufweist. Aktives und passives Moment sind im Zustandekommen eines Einvernehmens miteinander verschränkt. Ein Konsens wird in seiner Wechselseitigkeit gebildet, wenn ein Einverständnis auf ein anderes Einverständnis trifft. Dieses Zusammentreffen wechselseitig gegebener Einverständnisse ist es, was eine Einigung von Gesprächsteilnehmern ausmacht. Das Moment des Zusammentreffens verleiht dem konsensualen Einvernehmen die Struktur einer Übereinkunft. Eine Übereinkunft von Einverständnissen darf durch nichts anderes begründet sein als durch auf Übereinstimmung beruhende Zustimmung. Das heißt, die Idee des Konsenses unterstellt eine zwanglose Einigung, in welcher ein Einverständnis mit einem anderen Einverständnis zusammenkommt. Eine solche zwanglose Einigung aber, die zwanglos heißt, weil sie sich nicht erzwingen lässt, ist ein Einvernehmen. Diese Wechselseitigkeit lässt sich auf die Formel bringen: Das Ereignis einer Übereinstimmung als Einvernehmen entsteht aus dem Zusammenpassen eines Anbietens und Annehmens von Zustimmung als Einverständnis. 110

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§ 14 Die Struktur des Einvernehmens

Es ist dieses Moment der Angebotlichkeit einer Übereinkunft als eines sich zwanglos ereignenden Zusammenkommens von Einverständnissen, welches die Benennung als offerentieller Konsenstheorie nahelegt. (3) Im Konsensbegriff wird die Idee der Verallgemeinerung als zwanglose Einigung in einem verständigungsorientierten Dialog aufgefasst. Wenn ein Konsens besteht, dann gehen die Gesprächsteilnehmer davon aus, dass ihre Äußerungen übereinstimmen. Ideale Akzeptabilität als Orientierung auf Wahrheit hin erfolgt auf zwei Ebenen, auf der intersubjektiven Ebene als dem Rahmen eines Gesprächs und auf der objektiven Ebene als dem Gegenstandsbereich eines Gesprächs. Letztere ist die Prätentionsfunktion, erstere die Appellfunktion. Eine Übereinstimmung von Äußerungen bedeutet, dass der Informationsgehalt von Äußerungen auf der Ebene des Gesagten zusammenpasst. Übereinstimmung meint Identität der konstativen Momente einer Äußerung. Ohne eine solche Übereinstimmung von Äußerungen in der Prätentionsfunktion gäbe es keinen Konsens. Konsens meint aber nicht nur Übereinstimmung von Äußerungen unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer, sondern auch Zustimmung zu den Äußerungen unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer. Das heißt, die Idee eines Konsenses bezieht sich nicht nur auf das konstative, sondern auch auf das performative Moment von Äußerungen in der Appellfunktion. Die Zustimmung zu einer Äußerung eines Anderen besagt, dass ich die Äußerung des Anderen auf der Ebene des Gesagten und auf der Ebene des Sagens für akzeptabel halte. Ich akzeptiere die Äußerung eines Anderen in dem Sinne, wie man auch sagt, ich nehme die Äußerung eines Anderen an. Das heißt, ich nehme ihren Inhalt als wahr an und nehme gleichzeitig die Intention des Anderen auf, indem ich sie gutheiße. Das Moment der Zustimmung artikuliert sozusagen ein Versprechen, dass ich die Äußerung eines Anderen akzeptiere. Insofern schließt Übereinstimmung einen Begriff von Wahrheit ein, ist aber ihrerseits mehr als Wahrheit, weil sie das Zusammenpassen in der Dialektik von Sagen und Gesagtem enthält. (4) Zusammenfassend lässt sich der Begriff des Konsenses folgendermaßen bestimmen: Konsens ist Einvernehmen als Ereignis eines zustimmenden Vernehmens. Ein Einvernehmen ist eine Übereinkunft durch Einverständnis als zwanglose Einigung mit jedem beliebigen Anderen. Das heißt, die Idee des Konsenses artikuliert sich als Motiv inA

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klusionslogischer Akzeptabilität, welche der Aufmerksamkeit als regulative Idee mit dem Ziel einer Selbstverständigung dient. Dieser offerentielle Konsensbegriff enthält eine Utopie. Als solche Utopie kann die Idee des Konsenses zwar angestrebt, niemals aber verwirklicht werden. Sie nimmt die Form eines Motivs an, in welchem die Utopie dem aufmerksamen Subjekt voraus läuft. Als solches Motiv ist die Idee des Konsenses eingebettet in die Achtsamkeit, denn ohne Achtsamkeit gäbe es keinen Konsens. Das Motiv des Konsenses bildet sozusagen die Schnittstelle von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, von der aus die Aufmerksamkeit des Subjekts reguliert wird. Es ist die Aufmerksamkeit, die unsere Erfahrung und damit auch unsere Teilnahme an einem verständigungsorientierten Dialog anleitet. In der Aufmerksamkeit spielen wir unsere Präferenzen aus. Folgt unsere Aufmerksamkeit den Ansprüchen der Achtsamkeit, übernimmt sie eine Vorstellung zwangloser Einigung. Dem Konsensbegriff liegt inhaltlich eine Idee inklusionslogischer Akzeptabilität zugrunde, welche Einigung durch Verallgemeinerbarkeit als Annäherung an alle Anderen und damit als Annäherung an den je Anderen auffasst. Es geht deshalb um eine kontextuelle Verallgemeinerbarkeit. Die konsensuale Idee inklusionslogischer Akzeptabilität äußert sich in Form eines Motivs, welches die Möglichkeit zur Einigung als antizipatives Moment an der Aufmerksamkeit im Rahmen eines verständigungsorientierten Dialogs situiert. Das konsensuale Motiv fungiert in einem solchen Dialog als ein Maß, das aus der Achtsamkeit in die Aufmerksamkeit kommt, in welcher sich die Responsivität der Gesprächsteilnehmer vollzieht. Sein Sinn liegt darin, den Prozess einer sich als variable Ordnung begreifenden Selbstverständigung durch Selbstbegrenzung regulieren zu können.

§ 15 Der Inhalt der idealen Akzeptabilität I.

Die Anerkennung aller Anderen

(1) Konsens ist Einvernehmen als Übereinkunft durch Einverständnis. Dabei bezeichnet der Ausdruck des Einvernehmens eine zwanglose Einigung mit jedem beliebigen Anderen. Mit dieser Bestimmung wird der Inhalt des Konsensbegriffes als inklusionslogischer Akzeptabilität umschrieben. 112

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§ 15 Der Inhalt der idealen Akzeptabilität

Der Terminus der Akzeptabilität meint, dass eine Person etwas oder jemanden für akzeptabel hält. Sie sieht sich in der Lage, etwas oder jemanden anzunehmen. Akzeptabilität oder Annehmbarkeit besagt eine Art Stimmigkeit im Verhältnis der Person zu den Ansprüchen, die von einer anderen Person oder von einer Sache an die betreffende Person ergehen. Dabei geht es von vornherein immer um die Doppelstruktur von Ansprüchen, die sich im Appell und in der Prätention zeigen. Antworten auf einen Appell besagt dann, ich nehme eine andere Person als Person an. In dem Antworten auf den Appell ist die Antwort auf die Prätention mit enthalten, welche besagt, dass ich die Äußerung der anderen Person annehme. Die Idee inklusionslogischer Akzeptabilität behauptet so etwas wie eine ›ideale Akzeptabilität‹ in dem Sinne, wie Habermas sie einfordert, welche sich allerdings im Unterschied zur Auffassung von Habermas nicht auf die Regeln eines Gesprächs, sondern auf die Erfahrung der Anerkennung des Anderen in der Wahrnehmung eines anderen Gesprächsteilnehmers bezieht. Ideale Akzeptabilität meint dann so etwas wie inklusionslogische Akzeptabilität. Inklusionslogische Akzeptabilität heißt, jeder beliebige Andere kommt als möglicher Gesprächsteilnehmer und damit letztlich auch als Partner für eine zwanglose Einigung in Frage. Umgekehrt wird mit dieser idealisierten Form von Inklusion jede Art von Exklusion ausgeschieden. Niemand wird von der Teilnahme am Gespräch ausgeschlossen, alle sind zur Teilnahme am Gespräch zugelassen. (2) Der Begriff inklusionslogischer Akzeptabilität impliziert die Verwendung eines Allquantors. Eine produktive Interpretation dessen, was ein Allquantor im Lichte einer politischen Philosophie leisten kann, liefert Hauke Brunkhorst, der eine von Aristoteles gegen Platon verfochtene Unterscheidung thematisiert. Bei Aristoteles heißt es: »Der Begriff ›alle‹ hat indessen eine doppelte Bedeutung. Wenn es heißt ›jeder einzelne für sich‹, dann existiert eigentlich schon, was Sokrates erstrebt; denn jeder wird seinen Sohn als seinen Sohn und seine Frau als seine Frau bezeichnen, und ebenso wird er vom Vermögen und allem, was ihn betrifft, sprechen. Aber jene, die die Frauen und Kinder gemeinsam haben, werden gerade nicht so reden: alle zusammen können es, aber nicht jeder einzelne und ebenso alle zusammen vom Vermögen, aber nicht jeder einzelne.« (Aristoteles 1981, S. 71)

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Das Wort ›alle‹ ist nach Aristoteles doppeldeutig. Es kann sowohl ›jeden einzelnen‹ in seiner Unterschiedenheit als auch ›alle zusammen‹ in ihrer Einheit meinen, wie Brunkhorst (vgl. Brunkhorst 1994, S. 22–26) ausführt. Damit ist die Alternative klar umrissen: Individualität oder Kollektivität. Doch auch wenn Aristoteles gegen Platons Einheitsideal für das Recht der Unterschiedenheit ficht, ist er von einer Auffassung der Unterschiedenheit im Sinne der Moderne noch weit entfernt. »An die Stelle des platonischen Staatsideals einer unzerstörbaren Einheit tritt bei Aristoteles das Telos der in sich vernünftig gegliederten Vielheit eines lebendigen Organismus. An die Stelle des platonischen Einheitsklangs tritt der Zusammenklang vieler Kehlen oder Instrumente, an die Stelle der verarmten Perfektionswelt ›eines einzigen Taktes‹ das reiche, aber eben deshalb fragile und störanfällige Zusammenspiel eines komplexen ›Rhythmus‹.« (Brunkhorst 1994, S. 23)

Folgt die Auffassung des Aristoteles trotz aller Differenzen primär noch dem Modell des Allquantors als Kollektivität, so kommt die moderne Auffassung der Individualität im Gegensatz zu den antiken Modellen erst dort zum Zuge, wo die Teilnehmerperspektive eines jeden Individuums als irreduzibler Ausgangspunkt aller politischen Konzeptionen gedacht wird. Um im Bild zu bleiben: »Alle zusammen können zusammen singen, aber nicht miteinander diskutieren. Erst die einzelne Stimme, die sich zum Argument oder zum Appell an andere richtet, hat sich definitiv vom organischen Boden allen Daseins gelöst.« (ebd., S. 24) Der im Begriff der inklusionslogischen Akzeptabilität vorausgesetzte Allquantor bezieht sich auf ein individualistisches Verständnis, in dem unter der Bezeichnung ›alle‹ jeder einzelne in seiner irreduziblen Teilnehmerperspektive gemeint ist.

II.

Die Anerkennung jedes beliebigen Anderen

(1) Die Idee inklusionslogischer Akzeptabilität folgt von diesem Ansatz aus einer bestimmten Vorstellung von Universalisierung. Universalisierung gilt ihr als approximativer Prozess einer Annäherung an jeden beliebigen Anderen als den je konkreten Anderen. Ein solches Konzept fasst den Begriff einer Allgemeinheit als kontextualistische, nicht als universalistische Verallgemeinerbarkeit. Ausgangspunkt dieser Sichtweise von Universalisierung ist die Annahme der Vorstellung einer utopischen Subjektivität mit ihrem Motiv der Abhängigkeit. Die Sub114

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jektivität eines Selbst findet sich in einer Verpflichtung gegenüber dem Anderen vor, wie sie die Verantwortung für den Anderen darstellt. Dieser Gedanke hebt aus der Subjektivität zwei Aspekte heraus, die als immer schon miteinander verschränkt anzusehen sind. Einerseits besitzt ein Selbst in seiner Unmittelbarkeit einen präreflexiven Ausgangspunkt, welcher sich in seiner Befindlichkeit widerspiegelt. Andererseits ist mit dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit in diese Befindlichkeit des Selbst bereits die Differenz zum Anderen eingelassen. Die Unmittelbarkeit des Selbst ist immer schon in sich gebrochen, weil die Möglichkeiten des Anderen auf eine ganz grundsätzliche Art und Weise jenseits meiner Möglichkeiten liegen, obwohl sie mich von vornherein betreffen bzw. betroffen haben. (2) Daraus folgt, dass eine Universalisierbarkeit, die sich auf alle im Sinne jedes einzelnen richtet, mit einer grundlegenden Unbestimmtheit behaftet ist. In Weiterführung des Impulses der Levinas’schen Philosophie hat Enrique Dussel eine Deutung der Schwierigkeiten vorgeschlagen, welche der Begriff einer Allgemeinheit des Seins aufwirft. »Das Sein offenbart sich selbst geschichtlich. Aber umgekehrt ist es transzendental in dem Sinne, dass es kein Ding oder keine Gattung ist; es liegt jenseits von allem, wie ein Horizont. Dieser transzendentale Horizont ist nicht abstrakt, sondern konkret, weil es mein Horizont, unser Horizont, der Horizont unserer Epoche ist. Wir dürfen das Abstrakt-Universale des Begriffs nicht mit dem Konkret-Transzendentalen des Horizonts verwechseln. Die Frage ist ganz einfach: wenn ich ein vor mir befindliches Mikrophon zu begreifen suche, dann interpretiere ich es beispielsweise, indem ich sage, dass man ein Mikrophon benutzt, um zu … Ein Horizont ist intrinsisch nicht begrifflich darstellbar, denn, wenn ich etwas ›vor meinen Augen‹ haben und begreifen will, würde ich es von einem anderen Horizont her begreifen. Es würde dann aufhören, ein Horizont zu sein.« (Dussel 1978, S. 139)

Der Universalismus einer Verallgemeinerung vollzieht sich nach Dussel immer als Annäherung an einen bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt vor einem bestimmten Horizont. Es steht kein unabhängiges Bezugssystem zur Verfügung, in welches jedes Einzelne oder jeder Einzelne eingepasst werden könnte. Das heißt, das Verfahren der Verallgemeinerung entspricht nicht der Leitvorstellung eines abstraktuniversalen Systems, sondern der eines konkreten und transzendentalen Prozesses. Es handelt sich um einen konkreten Prozess, weil sich A

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dieser stets auf bestimmte Inhalte bezieht. Und es ist ein transzendentaler Prozess, weil er alles Bestimmte von einem Rahmen her und auf diesen hin entfaltet, in welchem sich das Selbstverständnis einer Erfahrung ausdrückt. Universalisierung ist so gesehen ein approximativer Prozess von Erfahrung in kontextueller Verallgemeinerung. (3) Im Ausgang von einem Begriff utopischer Subjektivität tritt damit neben die Brechung der Erfahrung durch die Historizität des Horizonts deren Brechung durch die Exteriorität des Horizonts. Nicht nur ist der Rahmen von Erfahrung ein sich stets wandelndes geschichtliches Sein, sondern dieser Rahmen enthält auch ein anderes, geschichtlich sich veränderndes Sein von anderen Seienden. Das heißt, der Rahmen von Erfahrung bezieht sich immer auf das Sein und auf ein Jenseits-desSeins. Der doppelte Bruch durch die Historizität und durch die Exteriorität hat insofern Konsequenzen für die Erfahrung, als dieser Bruch nicht nur das Ziel der Universalisierung als kontextueller Verallgemeinerung verändert, sondern deren Vorgehensweise selbst. Nach Levinas gilt: »Was man als Mißlingen der Kommunikation in der Liebe ausgibt, stellt gerade die Passivität des Verhältnisses dar; diese Abwesenheit des anderen ist gerade seine Anwesenheit als des anderen.« (Levinas 2003, S. 65) Wenn dies so ist, muss die Erfahrung des Anderen, der mir fremd ist, auch zu einem Fremdwerden meiner eigenen Erfahrung führen. Mit anderen Augen sehen heißt immer auch auf eine andere Art und Weise zu sehen. Es liegt in der Konsequenz des Anspruchs der inklusionslogischen Akzeptabilität, dass mit ihr nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg der Erfahrung verändert wird. Der Offenheit für jeden beliebigen Anderen entspricht die Idee einer zwanglosen Einigung.

III. Die Anerkennung des Anderen als Achtung (1) Dieses individualistische Verständnis des Allquantors im Sinne von ›jeder einzelne‹ erfordert eine Anerkennung des Anderen als anderer. Der Begriff der inklusionslogischen Akzeptabilität liefert eine prägnante Fassung dessen, was der Ausdruck von der Anerkennung des Anderen als einer Achtung des Anderen meint. Was dies konkret bedeutet, lässt sich an den Erläuterungen von Enrique Dussel nachvollziehen, wenn er die Idee der Anerkennung des Anderen im politi116

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schen Kontext verdeutlicht. Anerkennung des Anderen bedeutet nach Dussel: »a) eine ›Erkenntnis‹ des Sklaven als Funktion oder Sache (faktisch funktional im System), b) eine ›Erkenntnis‹ des Sklaven als Person (zweiter, bereits ethischer Akt), c) eine nachträgliche ›Anerkennung‹ (ein reflexiver Akt im dritten Sinn), durch die der Betreffende jetzt quasi im Gegenzug in seiner Person zuerst als Mensch betrachtet wird, bevor er innerhalb eines Herrschaftssystems als Sklave identifiziert, als Negierter situiert und ethisch beurteilt wird: als beherrschter und ausgebeuteter Sklave.« (Dussel 1995, S. 118)

Das heißt, die Anerkennung des Anderen beginnt mit seiner Anerkennung als Person. Dies ist nichts anderes als die Artikulation des Aspekts der Verantwortung für den Anderen, welche Levinas zufolge den Ursprung eines Subjekts ausmacht. Es ist die Anerkennung des Anderen als Person, von der aus die Funktionalität eines Systems in Bezug auf die Dimensionen von Herrschaft oder Befreiung durchsichtig wird. (2) Der Begriff der Achtung, der die Ebene der Verantwortlichkeit des einen für den anderen beschreibt, hat eine erste präzise Fassung bei Kant erhalten. In der ›Grundlegung der Metaphysik der Sitten‹ fasst Kant Achtung als »die Vorstellung von einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut. […] Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz.« (Kant GMS, BA 15) Aus diesem Bezug auf das Gesetz ergibt sich der Gegensatz von Neigung als Lust und Achtung als Pflicht. »Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.« (Kant GMS, BA 14) Die Achtung unterscheidet sich von der Neigung unter anderem darin, dass sich Achtung jederzeit nur »auf Personen, niemals auf Sachen« (Kant KpV, A 135) richtet. Achtung beinhaltet eine Art von Unterwerfung, auf entfernte Weise ähnlich der Bewunderung. »Vor einem niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht, und den Kopf so hoch tragen, um ihn diesen Vorrang nicht übersehen zu lassen. Warum das? Ein Beispiel hält mir ein Gesetz vor, das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen Befolgung, mithin die Tunlichkeit derselben, ich durch die Tat bewiesen vor mir sehe. Nun mag ich mir sogar eines gleichen Grades der Rechenschaft bewußt sein, und die A

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Achtung bleibt doch. Denn, da beim Menschen immer alles Gute mangelhaft ist, so schlägt das Gesetz, durch ein Beispiel anschaulich gemacht, doch immer meinen Stolz nieder, wozu der Mann, den ich vor mir sehe, dessen Unlauterkeit, die ihm immer noch anhängen mag, mir nicht so, wie mir die meinige, bekannt ist, der mir also in reinerem Lichte erscheint, einen Maßstab abgibt. Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden.« (Kant KpV, A 136 f.)

Für eine Person würde daraus folgen, dass sie sich in der Achtung dem Gesetz unterwerfen würde: »Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz … ist nun die Achtung fürs Gesetz.« (Kant KpV, A 142 f.) Eine Schwierigkeit dieser Auffassung liegt darin, dass Achtung, welche hier das Bewusstsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz bedeutet, dann als ein subjektives Moment anzusehen wäre, also als ein Gefühl. Das Gefühl der Achtung muss sich aber von dem Gefühl der Neigung unterscheiden, denn Achtung kann nicht im Sinne einer Neigung Grund oder Triebfeder von Moral sein, weil sie sonst nicht mehr zweckfrei, sondern Zweck einer Handlung wäre. Achtung bedeutet als Achtung immer Achtung vor dem Gesetz und vor dem Träger des Gesetzes, also Anerkenntnis der Autonomie des Anderen. Woher aber rührte dann der Anspruch, der sich im Gesetz geltend macht und der meine Unterwerfung unter das Gesetz verlangen würde? An Kants Ausdrucksweise angelehnt ließe sich fragen, ob der Anspruch dem Beispiel des Anderen entspringt, weil es ein Beispiel ist, oder ob der Anspruch dem Beispiel des Anderen entspringt, weil es der Andere ist, der das Beispiel gibt? Entspringt dieser Anspruch dem Gesetz, das heißt seiner Allgemeinheit und damit letztlich der Vernunft selbst, oder entspringt dieser Anspruch dem Anderen in seiner Besonderheit, der mir als Person gegenübertritt? (3) In einer Antwort auf diese Frage wäre mit Waldenfels zu unterscheiden »zwischen dem Anspruch, der sich an mich richtet, und dem Anspruch auf etwas, der sich im Anspruch an mich geltend macht. Letzterer kann berechtigt sein oder nicht, das besagt, er richtet sich nach einem bestimmten Maß, doch ersterer ist nicht berechtigt oder unberechtigt, da er ähnlich wie Kierkegaards ›Wahl der Wahl‹ den Unterschied zwischen Recht und Unrecht überhaupt erst auftreten lässt. Die Frage nach der

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Berechtigung einer Aufforderung setzt voraus, dass sie als solche vernommen wurde, so dass die Berechtigungsfrage als Gegenfrage Züge einer Antwort hat. So wenig es einen völlig rechtsfreien Raum gibt, so wenig gibt es einen völlig antwortfreien Raum.« (Waldenfels 1994, S. 308)

Waldenfels macht hier die Differenz zwischen Appell als Anspruch an mich und Prätention als Anspruch auf etwas geltend. Entsprechend dem Grundkonzept der Responsivität sind Appell und Prätention gerade in ihrer Unterschiedenheit aufeinander verwiesen. So wie es kein Gesagtes ohne Sagen und keine Antwort ohne Antworten gibt, so gibt es keine Prätention ohne Appell. Der Appell bildet den Horizont, von dem her und auf den hin die Prätention ausgelegt wird. Denn: »Ein Gesetz, das nicht einem Anspruch des Fremden entspränge, wäre selbst schon eine Form der Aneignung, weil es den fremden Anspruch zum Fall eines Gesetzes degradieren würde.« (ebd., S. 310) Erst vor dem Hintergrund eines außerordentlichen Appells erhält die Ordnung einer Prätention ihre Gestalt. Diesem außerordentlichen Appell des Anderen entspricht auf der Seite des Selbst etwas, was man Erleidbarkeit nennen könnte. Der Ausdruck der Erleidbarkeit meint, dass ich den Anderen erleide, weil seine Forderung alles, nur eben nicht mein Gesetz darstellt (Vgl. dazu: Lyotard 1989a, S. 191). Das Selbst steht in einer Verpflichtung gegenüber der Person eines anderen, nicht gegenüber dem Gesetz. Umgekehrt muss aber auch immer gelten, dass eine radikale Responsivität »bereits in der Stimme des Anderen die Stimme des Gesetzes mithört« (Waldenfels 1994, S. 312). Waldenfels kann sich hier mit vollem Recht auf seinen Gewährsmann Levinas berufen, der das Verhältnis von Appell und Prätention in der Zuordnung der Begriffe von Nähe und Gerechtigkeit thematisiert. »Die Beschreibung der Nähe als Hagiographie des der-Eine-für-den-Anderen umfaßt auch die Gesellschaft, die mit dem Auftauchen des dritten Menschen beginnt und in der meine jeder Problemstellung vorgängige Antwort, nämlich meine Verantwortung, wenn sie sich nicht der Gewalt überlassen will, Probleme aufwirft. Denn sie appelliert dann an den Vergleich, an das Maß, an das Wissen, an die Gesetze, die Institutionen – an die Gerechtigkeit. Damit aber die Gerechtigkeit auch berechtigt ist, muß sie die Bedeutung mit einschließen, von der sie einst diktiert wurde.« (Levinas 1992, S. 205, Anm. 33)

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Anerkennung des Anderen als anderer meint Achtung des Anderen im Antworten auf den Appell des Anderen. Im Antworten auf den Appell des Anderen, in der Achtung des Anderen ist die Antwort auf die Prätentionen des Anderen immer schon mit enthalten.

§ 16 Die Form des Motivs I.

Motiv statt Regel

(1) Konsens ist Einvernehmen als Übereinkunft durch Einverständnis. Die Hoffnung auf ein solches Einvernehmen wirkt als Motiv von Gesprächsteilnehmern in einem verständigungsorientierten Dialog. Motivieren heißt, etwas bewegen. Etwas reizt mich, etwas lockt mich, etwas verführt mich. Motiviert sein heißt dann antizipieren, vorwegnehmen, worauf man abzielt, was auf einen zukommt. Auf den Fall des Konsenses angewendet: Die zwanglose Einigung mit einem beliebigen Anderen vorwegnehmend bin ich geneigt, eine Übereinkunft von Einverständnissen anzunehmen. Dieses Motiv repräsentiert einen Vorgriff auf eine Allgemeinheit, welcher darauf abzielt, durch hinsehen auf den Anderen von sich selbst abzusehen, um auf ein Gemeinsames hinzusehen. Insofern ist ein solches Motiv stets ein riskantes Konstrukt, welches weder mit der Klarheit eines Zieles noch mit der Sicherheit einer Regel aufwarten kann. Vielmehr muss dieses Motiv wie jedes Motiv auf die Kraft seines Sinnangebots vertrauen, welches sich erst in dem und durch das Ergreifen des Motivs erschließt. Ein Motiv vollzieht eine Antizipation. Das heißt, es unternimmt einen zeitlichen Vorgriff, in welchem das Ziel einer Handlung vorweggenommen wird. Die Leistung einer solchen Antizipation ist deshalb notwendig, weil die Eigenart unserer Zeiterfahrung dadurch gekennzeichnet ist, dass es zwar gewiss so etwas wie Gegenwart gibt, dass uns die Gegenwart aber niemals einfach gegeben ist. Vielmehr bilden wir als Personen unsere Zeiterfahrung dadurch, dass wir auf die Vergangenheit zurück und auf die Zukunft voraus greifen. Dies sind die Zugangsweisen der Retention und der Protention, wie sie Husserl benannt und beschrieben hat. Aber Husserl selbst geht noch einen wichtigen Schritt über diesen ersten Hinweis hinaus. Sein zweiter Hinweis lautet, dass das, was Zeit ist, nicht in unserer Zeiterfahrung aufgeht. Unsere Zeiterfahrung selbst ist vielmehr als solche der Zeit ausgesetzt, das 120

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§ 16 Die Form des Motivs

heißt, sie wird nochmals von einem Fließen der Zeit umgriffen. So gesehen können weder Retention noch Protention vollständig adäquate Konstrukte sein. Sie sind zwar die einzigen Zugangsweisen, die unsere Erfahrung kennt, andere haben wir nicht. Sie ermöglichen aber keinen vollständigen Zugang, sondern nur eine Annäherung, welche sich im Fall der Protention oder Antizipation als Entwurf darbietet. (2) Traditionell wird der Charakter des Motivs in die Formel gefasst, dass ein Motiv ›inclinat, non necessitat‹, was man so übersetzen könnte: ein Motiv zieht, aber es zwingt nicht. An dieser Formel werden nochmals Stärken und Schwächen eines Motivs deutlich. Die Schwäche eines Motivs liegt darin, dass es weder Sicherheit noch Gewissheit bietet. Seine Stärke aber liegt darin, dass es intrinsisch, also im Gesprächsteilnehmer selbst als einem Subjekt wirkt. Ein Motiv besagt nach Merleau-Ponty: »Ein Phänomen löst ein anderes aus, nicht durch ein objektives Wirkungsverhältnis, sondern durch den Sinn, den es darbietet; ein eigentümlicher Seinsgrund, gleichsam ein tätiger Grund, orientiert den Fluss der Phänomene, ohne in irgendeinem für sich genommen explizit gesetzt bzw. setzbar zu sein.« (Merleau-Ponty 1966, S. 73) Daraus folgt: »Das Motiv ist ein Antezedens, das wirkt allein durch seinen Sinn, ja erst der Entschluß selbst ist es, der diesen Sinn zu einem gültigen macht und ihm seine Kraft und Wirksamkeit verleiht. Motiv und Entschluß sind zwei Elemente einer Situation: jenes ist die faktische, dieses die angeeignete Situation.« (ebd., S. 302) Auf der einen Seite unterschreitet der Begriff eines Motivs den Gehalt des Begriffes einer Regel oder eines Gesetzes. Denn es ist »analytisch klar, dass, wenn Freiheit das Gesetz erst kreiert, nachdem ein Zustand motivierend wird für den nachfolgenden, dieser Schritt unmöglich zugleich nach kausalen Erklärungsmodellen verständlich gemacht werden könnte. Entwürfe haben zwar auch ihre kausale Seite; die reine Rekonstruktion der Kausalabläufe instruiert mich indessen nie über die Intention des Handelnden.« (Frank 1988, S. 53).

Und sie instruiert mich auch nicht, so müsste man ergänzen, über die Responsivität des Handelnden. Der Begriff des Motivs bietet also einerseits weniger als der Begriff der Regel. Andererseits aber leistet der Begriff des Motivs mehr als der Begriff der Regel, indem er nämlich die Dimension eines Entwurfes mit ins Spiel bringt, eines Entwurfes, welcher das Handeln einer Person anleiten kann. Denn analytisch gesehen erschließt sich A

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der Entwurf eines Handelnden in dem Maße, wie er als Horizont eines Handelns zum Tragen kommt. Für den Begriff des Motivs folgt daraus, dass ein Motiv eine Ursache darstellt, welche »nur im Lichte einer sie als Ursache erschließenden vorgängigen Interpretation meine Handlung bestimmten könnte« (ebd., S. 53). Ein Motiv wird sozusagen erst vor einem Hintergrund einsichtig. Insofern kann ein Motiv aber ein mehrdimensionales Verständnis auch für die in Regeln oder Gesetze gefassten Abläufe anbieten, indem es die Regeln oder Gesetze mit den ihnen zugrunde liegenden Intentionen und Ansprüchen korreliert.

II.

Wechselseitigkeit in Verschränkung

(1) Ohne diese Voraussetzung eines Motivs mit dem Charakter eines Postulats, das heißt als eines nicht beweisbaren Grundsatzes, kann es keine Zustimmung als Erklärung eines Einverständnisses geben. Wenn eine solche Zustimmung einseitig gegeben wird, reicht das für ein Zustandekommen eines Konsenses noch nicht aus. Konsens ist Einvernehmen als Übereinkunft durch Einverständnis. Die zustimmende Antwort eines Einverständnisses enthält ein Versprechen, in welchem sich ein Gesprächsteilnehmer für die Zuverlässigkeit seiner Äußerung verbürgt. Etwas versprechen heißt ein Versprechen tatsächlich zu geben. Ich rede nicht nur über etwas, sondern, indem ich rede, tue ich etwas. Versprechen, »das heißt sich zu verpflichten, später das zu tun und – dies sei sofort hervorgehoben – für den Anderen das zu tun, wovon ich jetzt sage, dass ich es tun werde« (Ricoeur 1996, S. 58). Verstehen bedarf einer solchen ausdrücklichen Zustimmung, wenn es zur Verständigung werden soll. Denn die Selbstgegebenheit eines Anderen erschließt sich einem Gesprächsteilnehmer erst durch das Einnehmen der Teilnehmerperspektive des Gegenübers, welche nur in der Teilnahme des Anderen zugänglich wird. Ein solches Versprechen »erfordert eine zeitliche Antizipation und einen Vertrauensvorschuß« (Waldenfels 2002, S. 231), wie sie meiner Interpretation zufolge im Motiv des Konsenses geliefert werden. Die Schwierigkeiten mit einem derartigen Versprechen liegen darin, dass ein solches Versprechen symmetrisch und asymmetrisch zugleich ausgelegt ist. Waldenfels formuliert diese Schwierigkeit als Dilemma: »Wären wir uns schon einig, so müßten wir nichts versprechen, das Versprechen wäre nichts weiter als die Ausformulierung eines be122

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§ 16 Die Form des Motivs

stehenden Einverständnisses. Wären wir uns nicht schon einig, wie könnten wir dann mit unserem Versprechen Glauben finden?« (ebd., S. 231) Das heißt, es bedarf einer Wechselseitigkeit von Einverständnissen, damit Einvernehmen glücken kann. Eine solche Wechselseitigkeit ist nun aber kein einfaches Geben und Nehmen. Sie stellt vielmehr eine in sich verdoppelte Bewegung von Geben und Nehmen dar, in welcher unterschiedliche Bezüge zusammenlaufen. »Meine Fähigkeit, mich fiktiv an verschiedene Stellen des Raumes zu denken, ist identisch mit meinem Vermögen, zu verstehen, was es für einen anderen bedeutet, an einer solchen Stelle zu sein.« (Sommer 2002, S. 185) (2) Das im Geben und Nehmen von Einverständnis vorausgesetzte Vermögen zum Perspektivenwechsel beruht auf einer doppelten Bewegung von Angebot und Annahme. Im Angebot eines Einverständnisses denke ich mich an die Stelle des Anderen. Ich lege einen Entwurf vor. Das ist es, was in der Tradition hermeneutischer Philosophie als Einfühlung bezeichnet wird und was die Psychologie unter dem Begriff der Empathie thematisiert. Hierher gehört auch Schleiermachers Begriff der Divination, welcher das Vermögen der Einfühlung um die Dimension der Vermutung erweitert. In jedem Falle muss als Voraussetzung dessen, dass ich mich an die Stelle des Anderen denken kann, gelten, dass ich den Anderen vorbehaltlos anerkenne. Eine solche vorbehaltlose Anerkennung ist primär ein moralisches Postulat, welches der ethischen Herausforderung meiner Individualität durch die Verantwortung für den Anderen korrespondiert. Sie ist sekundär aber auch ein praktisches Postulat, ohne welches mir die Möglichkeiten des Anderen jenseits meiner Möglichkeiten verschlossen blieben. Neben dem Angebot eines Einverständnisses gibt es auch eine Annahme eines Einverständnisses. In der Annahme eines Einverständnisses denke ich den Anderen an meine Stelle. Es geht in der Annahme eines Einverständnisses um die Bestätigung eines Angebots, welche auf die Erwartungen des Anderen an mich reflektiert. Das heißt, als Voraussetzung des den Anderen an meine Stelle Denkens muss eine vorbehaltlose Aufrichtigkeit gegenüber dem Anderen gelten. Ich muss mich nicht nur in den Anderen einfühlen können, ich muss mich ihm auch öffnen können. Die Wechselseitigkeit eines Einvernehmens stellt sich über diese doppelte Bewegung des Gebens und Nehmens von Einverständnis her. Sie unterliegt einer ›intersubjektiven Egozentrik‹, wie dies Manfred Sommer in einem etwas anderen Zusammenhang nennt. A

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»Wir sind alle ›Egozentriker‹. Gerade das aber erlaubt es uns allen, exzentrisch zu sein und dennoch das Schema zusammenführender Wege zu verstehen. Keiner von uns muß faktisch das privilegierte Zentrum okkupieren; es genügt, dass jeder von uns fähig ist, sich gedanklich dorthin zu versetzen. Jeder sieht alle, sich eingeschlossen, herkommen zu sich, nämlich zu dem Platz, in den alle Wege einmünden und an dem jeder sich kraft seiner Antizipation gedanklich schon befindet. Und jeder weiß, dass auch jeder andere das so sieht. Alle, die hierherkommen und so zusammenkommen, sammeln sich hier. Indem nun jeder, der von den anderen muß sagen können: ›sie sammeln sich‹, sich selbst zugleich zu ihnen zählt, können sie alle von sich sagen: ›wir sammeln uns‹.« (ebd., S. 187)

Die diesen Perspektivenwechsel leitende Antizipation ist meinem Verständnis nach nichts anderes als das Motiv des Konsenses, welches dem Leitbild inklusionslogischer Akzeptabilität folgt, in dessen Prinzip der Achtung des Anderen als anderer die unterschiedlichen Aspekte von Anerkennung und Aufrichtigkeit zusammenkommen. Ein Angebot von Einverständnis und eine Annahme von Einverständnis sind deshalb nicht Teile, sondern »Teilganze« (Merleau-Ponty 2004, S. 276). Sie sind Ausschnitte eines Umfassenden, die als Teile das Ganze immer schon in sich enthalten.

III. Das Moment der Gelassenheit (1) Wäre Konsens nichts anderes als ein Einverständnis, das heißt eine einseitig angelegte Leistung, dann würde der Konsens zwischen den beiden Polen des Gegebenen und des Nicht-Gegebenen zerrieben. Der Konsens wäre dann entweder überflüssig, weil er nur eine Bestätigung dessen bieten würde, was schon bekannt wäre. Oder er wäre unmöglich, weil er niemals die Art von Verständigung erreichen könnte, auf die er abzielt. Wenn der Begriff des Konsenses aber mehr als nur Einverständnis meint, entgeht er dem dargelegten Dilemma. Konsens ist Einvernehmen als Übereinkunft durch Einverständnis. Oder, um Waldenfels’ auf den Begriff des Vertrages gemünzte Formulierung abzuwandeln: Ein Konsens »schafft Symmetrie, aber er beruht nicht auf Symmetrie« (Waldenfels 2002, S. 231). Ein Konsens beruht nicht auf Symmetrie, weil er ein Moment in der Responsivität des Subjekts darstellt. Diese ist durch und durch ge124

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§ 16 Die Form des Motivs

prägt von der Asymmetrie der Verantwortung, welche ein Subjekt konstituiert: »[…] mein Ich-und-kein-Anderer-Sein löst sich auf in Stellvertretung; und aufgrund dieser Stellvertretung bin ich nicht ›ein Anderer‹ oder ›ein Anderes‹, sondern ich.« (Levinas 1992, S. 282; vgl. dazu Bernasconi 2001, passim) Der asymmetrische Charakter dieser Verantwortlichkeit des Selbst zeigt sich konkret so: »Ich verlange mehr von mir, als ich je das Recht hätte, vom Anderen zu verlangen.« (Levinas 1987, S. 67) Dieser Gedankengang besagt, dass sich meine Subjektivität darin zeigt, dass ich mich in meiner Verantwortung für den Anderen nicht vertreten lassen kann und insofern von mir selbst mehr verlange, als ich je das Recht hätte, vom Anderen zu verlangen. Die Beziehung des Selbst zu einem Anderen, die Beziehung von einem Subjekt zu einem anderen Subjekt, ist dann eine Beziehung ganz eigener Art, die von außen unzugänglich ist. Sie erschließt sich nur im Zugang von dem Subjekt selbst her, welches auf den Anderen zugeht. (2) Der radikale Ansatz utopischer Subjektivität sprengt jedes Ordnungsdenken auf, insofern er auf das Moment des Außerordentlichen jenseits und gegen die Ordnung setzt. Aber er überholt das Ordnungsdenken nicht in dem Sinne, dass er Ordnung einfach zerstören oder auflösen würde. Vielmehr wird Ordnung als veränderbar gedacht, als Produkt utopischer Subjektivität, aus deren Asymmetrie Symmetrie hervorgeht. Die Symmetrie einer variablen Ordnung entsteht aus einer Wechselseitigkeit, die eine Reihe ohne Bindemittel bildet. Es ist eine Reihe, welche »auf hybride Weise« (Waldenfels 1994, S. 232) als ein Nebeneinander entsteht, das keinerlei Arten von Über- und Unterordnung kennt. Das Einvernehmen, welches der Konsens darstellt, entsteht aus einem solchen Zusammenhang, der ein Anknüpfen, kein Verknüpfen ist. Ein Anknüpfen ist eine Beziehung, die sich lateral und nicht vertikal ordnet, die nicht durch ein Drittes vermittelt wird und die nichtreziprok, also nicht umkehrbar ist (ebd., S. 233). Das Moment des Treffens, also das Moment des Zustandekommens einer Einigung, ist für eine Verkettung im Sinne eines Anknüpfens stets ein Moment, welches sich nur nachträglich feststellen lässt. Das heißt, es besteht ein Bruch zwischen dem Einverständnis, welches auf eine Einigung abzielt, und dem Einvernehmen, in welchem die Einigung zustande kommt. Die Übereinkunft als der Punkt, an dem ein Einverständnis mit einem anderen zusammenkommt, ist von der Art eines Chiasmus, wie A

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Waldenfels im Gefolge von Merleau-Ponty dies ausdrückt. Ein Chiasmus ist eine Verkreuzung unterschiedlicher Linien, in deren Gemeinsamkeit immer auch eine Unterschiedenheit eingelassen ist. Das heißt, die Übereinkunft von Einverständnissen im Einvernehmen beschreibt das Treffen einer Einigung als ein Zustandekommen, das zwar angestrebt, nicht aber hervorgebracht werden kann. Und es kann letztlich deshalb nicht hervorgebracht werden, weil Angebot und Annahme von Einverständnis unterschiedlicher Subjekte ineinander verschränkt sind. Konsens als Einvernehmen ist nicht planbar. Dennoch ist es genau diese Erwartung einer nicht planbaren, also zwanglosen Einigung, welche meine Aufmerksamkeit motiviert, die unterschiedlichen Perspektiven der Gesprächsteilnehmer im Blick auf das Gemeinsame anzunähern. (3) Ein Moment des Konsenses, das ich hier vorläufig als passives Moment bezeichnen möchte, besteht darin, ein Einvernehmen als zwanglose Einigung mit einem beliebigen Anderen zuzulassen. Das heißt, ich bin offen für die Möglichkeit einer Einigung, ich gebe der Einigung eine Chance, ich räume der Einigung eine Chance ein. Negativ gesprochen bedeutet dies die Einsicht in die Ohnmacht des Machens, denn ich kann nahezu alles machen, aber ich kann nicht machen, dass du willst. Das bedeutet umgekehrt in positiver Sicht, dass ich das Zustandekommen einer Übereinkunft von Einverständnissen nur annehmen kann im Sinne eines Zulassens oder Empfangens. Ein solches Zulassen oder Empfangen besitzt einen paradoxen Charakter in dem Sinne, dass hier etwas dafür getan werden muss, etwas auszuhalten, etwas zu ertragen oder hinzunehmen. Das pathische Moment fordert, einer Einigung eine Chance einzuräumen, ihr Zustandekommen zuzulassen und eine Einigung auszuhalten im Sinne eines Durchhaltens. Der Begriff des Einvernehmens liefert eine Art passiven Konsensbegriff, in welchem das Moment eines Zulassens der Übereinkunft den entscheidenden Faktor darstellt. So wie im Antworten auf die immer schon miteinander verbundenen Dimensionen des Appells und der Prätention Bezug genommen wird, so sind im Begriff des Konsenses als eines Einvernehmens Übereinkunft und Einverständnis ineinander verschränkt. Das Sein-Einverständnis-Geben drückt einen Aspekt von Selbsterfahrung aus, das Übereinkunft-mit-einem-anderen-Einverständnis-Zulassen drückt einen Aspekt von Fremderfahrung aus. Das Geben eines Einverständnisses und das Zulassen einer Übereinkunft 126

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§ 17 Die Funktion der regulativen Idee

sind die zwei Seiten der einen Bewegung des Annehmens. In einer solchen Akzeptabilität bildet das Zulassen der Übereinkunft den Rahmen, in welchem das eigene Einverständnis zum Zuge kommt.

§ 17 Die Funktion der regulativen Idee I.

Die Disposition der Aufmerksamkeit

(1) Konsens ist Einvernehmen als Übereinkunft durch Einverständnis. Ein Einvernehmen ist eine zwanglose Einigung mit jedem beliebigen Anderen. Diese Idee einer inklusionslogischen Akzeptabilität entfaltet den Gehalt der Achtung des Anderen als anderen. Sie wirkt in der Form eines Motivs, welches in die Einstellung der Teilnehmer eines Gesprächs eingreift. Das bedeutet aber, dass das Motiv der inklusionslogischen Akzeptabilität in der Aufmerksamkeit eines Subjekts zum Zuge kommt. Der Begriff der Aufmerksamkeit thematisiert den Ausgangspunkt der Erfahrung eines Subjekts. In der Aufmerksamkeit geht es darum, »dass überhaupt etwas in der Erfahrung auftritt, dass gerade dieses und solches auftritt und nicht vielmehr anderes und dass es in einem bestimmten Zusammenhang auftritt« (Waldenfels 2004, S. 16). In der Aufmerksamkeit richtet sich ein Subjekt auf einen bestimmten Gegenstand hin aus. Es entdeckt diesen bestimmten Gegenstand als Gegenstand seiner Intention. Die Aufmerksamkeit ist gekennzeichnet durch die Momente der Gegenständlichkeit, der Besonderheit und der Kontextualität. Wenn Aufmerksamkeit so etwas meint wie ›Ich beachte etwas‹, dann meint Achtsamkeit: ›Ich achte etwas‹ Das Beachten der Aufmerksamkeit schließt das Achten der Achtsamkeit mit ein, weil die Achtsamkeit in ihrer Kontextualität den Rahmen festlegt, innerhalb dessen sich die Aufmerksamkeit artikuliert. Geht es in der Aufmerksamkeit darum, einen bestimmten Gegenstand zu fokussieren, also in einer bestimmten Perspektive zu erfassen, so geht es in der Achtsamkeit darum, die Widerständigkeit des Gegenstandes nicht auszublenden und seine Eigenständigkeit zum Zuge kommen zu lassen. Die Aufmerksamkeit eines Gesprächsteilnehmers wandelt sich zur Achtsamkeit, wenn einer von sich selbst absieht, um auf den anderen hinzusehen. In der Terminologie von Levinas ausgedrückt, es ist die Passivität der Nähe, aus welcher sich die Aktivität A

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4 · Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen

der Gerechtigkeit speist. Das heißt, die Passivität der Nähe ist der Aktivität der Gerechtigkeit vorgeordnet. Auf eben diese Weise aber hängen auch Achtsamkeit und Aufmerksamkeit zusammen. Die Passivität der Achtsamkeit ist der Aktivität der Aufmerksamkeit vorgeordnet. Die Aufmerksamkeit aber muss die Bedeutung der Achtsamkeit mit einschließen, von der sie einst diktiert wurde. Die Achtsamkeit verwendet dabei ein Maß zur Bestimmung des Punktes, an dem eine Einigung mit dem Anderen in den Blick kommt. (2) Durch die Anwendung dieses Maßes wird die Achtsamkeit in der Hinsicht reguliert, dass ihr eine Richtschnur mitgegeben wird, von der aus und auf die hin die Achtsamkeit befragt werden kann. Das Hinsehen auf den Anderen wird der Kritik durch ein Hinsehen auf ein Gemeinsames unterzogen. Neben dem Selbst und dem Anderen kommt der Dritte ins Spiel. Die Aufmerksamkeit als Ausgangspunkt der Erfahrung realisiert sich in einem verständigungsorientierten Dialog. Die dialogische Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass unterschiedliche Personen zusammenkommen, um sich in einem Gespräch auszutauschen. Sie nehmen in diesem Gespräch unterschiedliche Rollen und unterschiedliche Perspektiven ein. Für das Gelingen eines Dialogs ist der Vollzug des Perspektivenwechsels ganz wesentlich. Das heißt, eine Person muss in der Lage sein, die unterschiedlichen Rollen von Sprecher und Hörer in der konkreten Ausformung der beteiligten Personen wahrnehmen und verarbeiten zu können. Im Perspektivenwechsel eines solchen verständigungsorientierten Dialogs greifen unterschiedliche Ebenen ineinander. Zum Ersten gibt es die Ebene der Gefühle, von welchen sich die Gesprächsteilnehmer leiten lassen. Im Verhältnis zum Anderen geht es auf dieser Ebene um die Empathie, also um das Sich-Einfühlen in den Anderen. Zum Zweiten gibt es die Ebene des Wissens, auf der die Übereinstimmung von Äußerungen gesucht und geprüft wird. Zum Dritten werden diese beiden Ebenen von der vorgängigen Ebene der Moral verklammert, auf welcher die Achtung des Anderen als anderer anzusiedeln wäre. Die Ebene der Moral thematisiert die Verpflichtetheit des Selbst in seiner Verantwortlichkeit für den Anderen vor oder jenseits aller Eigenständigkeit des Selbst. Es ist diese ursprüngliche Verantwortlichkeit, von der aus die intentionalen Ebenen der Gefühle und des Wissens überhaupt erst ihre Bedeutung erhalten.

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§ 17 Die Funktion der regulativen Idee

II.

Ein affirmativer Horizont von Rationalität

(1) Eine phänomenologisch inspirierte Theorie, welche als methodischer Individualismus entschlossen am Ausgangspunkt von Erfahrung als Subjektivität festhalten will, sieht sich mit der schwierigen Situation konfrontiert, dass Subjektivität einerseits zwar in Form von Individualität unhintergehbar ist, andererseits aber eine Passivität darstellt. Wie lässt sich angesichts dieser Sachlage eine Theorie von Erfahrung entwerfen? Mit Waldenfels lässt sich solche Subjektivität als Responsivität deuten, welche danach fragt, »worauf ich antworte, wenn ich etwas bestimmtes sage oder tue« (Waldenfels 2000, S. 368). In einem solchen Konzept bedeutet Responsivität ein quasi naturwüchsiges Antworten, welches sich aus sich heraus unausweichlich und unvermeidlich vollzieht. In der responsiven Differenz vom Antworten zur Antwort, welche der vom Sagen zum Gesagten entspricht, bleibt die Antwort dem Antworten nachgeordnet. Das heißt, das Konzept der Responsivität orientiert sich an einem zweistufigen Modell, in welchem die Antwort dem Antworten stets nachfolgt. Umgekehrt heißt das, dass das Antworten der Antwort stets vorgeordnet ist, weil das Antworten als ›wildes Sein‹ (Merleau-Ponty) den Hintergrund liefert, auf dem sich die Gestalt der Antwort im Vordergrund überhaupt erst abzeichnen kann. Das Antworten stellt den Horizont dar, vor dem und durch den die Antwort als Objekt erscheint. Dennoch bleibt auch das Antworten immer auf eine Antwort verwiesen. Jedes Antworten vollzieht sich über eine Antwort, welche den Überschuss des Antwortens auf eine jeweils ganz spezifische Art und Weise auslegt. Die Antwort arbeitet mit einem bestimmten Ordnungsraster, in dem und durch das hindurch sich der Vorgang des Antwortens präsentiert. Die Subjektivität eines Selbst artikuliert sich über eine Ordnung, wie dies auch der Ausdruck Selbstbestimmung nahe legt. Eine Ordnungsleistung aber vollzieht sich stets als Selektion und damit auch als Exklusion. Jede Ordnung impliziert Entscheidungen für bestimmte Strukturen und damit auch Entscheidungen gegen bestimmte Strukturen. Soll einer Ordnung das Außerordentliche als Regelloses und Regelwidriges aber nicht auf Dauer verschlossen bleiben, bedarf eine Ordnung immer der Transgression als einer Grenzüberschreitung durch Selbstüberschreitung.

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(2) Eine solche Selbstüberschreitung ereignet sich dann, wenn sich die Aufmerksamkeit eines Selbst zur Achtsamkeit für den Anderen wandelt. Auch die Achtsamkeit aber nimmt auf eine Ordnungsleistung Bezug, insofern sie eben, wenn auch in einem zweiten Schritt, Aktivität und nicht nur Passivität ist. Eine solche Ordnungsleistung enthält immer auch eine Art Regel, aber nicht im Sinne einer unabhängigen Norm, sondern als »ein Moment künstlicher Vorschrift« (Waldenfels 1987, S. 149). Sie wirkt als Vorbild, als »Paradigma, das man nachahmt und dem man sich mehr oder weniger annähert« (ebd., S. 148). Ein solches Vorbild stellt es so etwas wie ein konkretes Maß als »Maß-werk« (ebd., S. 146) dar. Ein Maßwerk meint ursprünglich das Konstruktionsprinzip eines gotischen Kirchenfensters, sozusagen eine Regel in einem Rahmen. Ein solches konkretes Maß stammt nicht aus der Erfahrung, aber es liegt auch nicht vor der Erfahrung. Es entsteht mit der Erfahrung, die sich nach ihm bemisst. Eine solche künstliche Vorschrift unterbindet einen blanken Positivismus variabler Ordnungen, indem sie die eigenen Präferenzen der Auseinandersetzung mit anderen Präferenzen aussetzt. Die in der Achtsamkeit wirkende Idee des Konsenses wäre als ein solches Maß zu denken. Sie ist das Maß der Achtsamkeit, welches das Außen des Anderen bemisst. Ihr Maß entsteht aus und mit der Erfahrung des Anderen, die sich am Einvernehmen als einer zwanglosen Übereinkunft durch Einverständnis bemisst. Der Konsens erbringt eine Ordnungsleistung, nämlich die zustimmende Anknüpfung an Äußerungen anderer Gesprächsteilnehmer. Eine solche Anknüpfung leistet zwar keine Verknüpfung im Sinne des Ausbaus eines Systems als eines »Gefüges bleibender Wesensformen« (ebd., S. 207). Der Konsens leistet aber eine Anknüpfung, ohne die nicht einmal eine zur Achtsamkeit gewandelte Aufmerksamkeit sich selbst verständlich bliebe. (3) Die unverzichtbare Leistung eines Motivs als eines antizipativen Entwurfs besteht darin, einen affirmativen Horizont von Wahrheit zu formulieren. Mit der Präsumtion eines bestimmten Inhalts kommt der Prozess der Wahrheitsfindung in Gang. Im Hintergrund steht hier ein spinozistisches Wahrheitsverständnis: verum est index sei et falsi. Auf eine andere Art und Weise hat Husserl denselben Gedanken ausgeführt, wenn er Wahrheit als Unterstreichung und Irrtum als Durchstreichung von Wahrheit auffasst. Beim Feststellen eines Irrtums als Durchstreichen muss ein bestimmter Inhalt gegeben sein, der bei der 130

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§ 17 Die Funktion der regulativen Idee

Feststellung durchgestrichen wird. Ebenso muss bei der Feststellung von Wahrheit als Unterstreichen ein bestimmter Inhalt gegeben sein, der unterstrichen wird. Leere Durchstreichungen oder Unterstreichungen sind nicht einmal als solche erkennbar. Aus diesem Wahrheitsverständnis speist sich die Überzeugungskraft dessen, was man als kontrafaktische Idealisierung bezeichnet. Erst im Vergleich zu einer Idee, und sei diese nur hypothetisch oder fiktiv, kann das, was ist, wahrgenommen werden. Auf den Begriff des Konsenses angewendet folgt daraus, dass es ohne das Motiv zu einer Einigung keine Einigung geben kann. Um eine Einigung erzielen zu können, muss ich immer schon wissen, was es heißt, eine Einigung zu erzielen. Ich muss eine Vorstellung von einem Einvernehmen haben. Diese Vorstellung ist einerseits weit mehr als bloßer Ausdruck eines Willens zur Einigung. Denn sie muss sagen können, was eine Einigung bedeutet. Sie muss eine Einigung von einer Unterwerfung oder einer Täuschung unterscheiden können. Andererseits ist diese Vorstellung weniger als eine Regel, denn weder ist ihr Erfolg mit Sicherheit gewährleistet noch bietet sie klare methodische Hinweise, wie ich vorgehen soll, um eine Einigung zu erzielen. Deshalb liegt eine Pointe dieses Konsensbegriffes darin, dass jede Übereinkunft, die als Einvernehmen aus Einverständnissen entsteht, dauerhaft der Exteriorität als der Äußerlichkeit der Anderen ausgesetzt bleibt. Das heißt, es gibt so etwas wie einen ›Rest‹ (Schelling), welcher einen vollkommenen Konsens als undenkbar erscheinen lässt. Konsens gibt es immer nur in eins mit Dissens. Aber ohne die Idee eines Konsenses würde es nicht einmal eine Ahnung dessen geben, was ein Dissens ist.

III. Der Status einer regulativen Idee (1) Wenn also Achtsamkeit und Aufmerksamkeit stets in ihrer Unterschiedlichkeit zusammenhängen und die Achtsamkeit der Aufmerksamkeit als Rahmen vorgeordnet ist, muss noch geklärt werden, auf welche Weise sich diese Vorordnung realisiert. Es geht darum, welche Funktion die Achtsamkeit für die Aufmerksamkeit erfüllt und wie Achtsamkeit und Aufmerksamkeit in dieser Zuordnung ein geschärftes Profil gewinnen. Die Funktion der Achtsamkeit für die Aufmerksamkeit lässt sich A

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meines Erachtens am treffendsten über den Begriff der regulativen Idee erläutern, wie ihn Kant entwickelt hat: »Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, dass dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, dass man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht, auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (Focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen. Nun entspringt uns zwar hieraus die Täuschung, als wenn diese Richtungslinien von einem Gegenstande selbst, der außer dem Felde empirisch möglicher Erkenntnis läge, ausgeschlossen wären (so wie die Objekte hinter der Spiegelfläche gesehen werden), allein diese Illusion (welche man doch hindern kann, dass sie nicht betriegt) ist gleichwohl unentbehrlich notwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind, auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken liegen, d. i. wenn wir, in unserem Falle, den Verstand über jede gegebene Erfahrung (dem Teile der gesamten möglichen Erfahrung) hinaus, mithin auch zur größtmöglichen und äußersten Erweiterung abrichten wollen.« (Kant KrV II, 565)

Die Idee des Konsenses als Motiv inklusionslogischer Akzeptabilität bezeichnet den Ort der Wirkungsweise der Achtsamkeit in der Aufmerksamkeit. Das Motiv des Konsenses funktioniert dabei als regulative Idee, welche aus der Achtsamkeit stammt und in der Aufmerksamkeit wirkt. Im kantischen Sinne entspricht eine solche Idee einer transzendentalen Idee, weil diese eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung darstellt. Transzendentale Ideen stammen selbst nicht aus der Erfahrung, sie wirken aber in der Erfahrung, indem sie die Einheit der Erfahrung im Denken ermöglichen. (2) Die Idee des Konsenses entspricht genau einer solchen Idee vor der Erfahrung. An Heideggers Einsicht in die Geschichtlichkeit des Daseins anknüpfend muss eine solche Idee im Unterschied zu Kant aber ihrerseits selbst durchaus als Produkt einer Erfahrung gedacht werden. Sie ist nicht als abstraktes Maß im Sinne einer Vorschrift, sondern als kon132

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§ 17 Die Funktion der regulativen Idee

kretes Maß im Sinne eines Vorbildes greifbar. Sie ist als Bauprinzip durchaus eigenständig, aber sie bietet keine praktische Regel, welche auf bestimmte Situationen übertragbar oder in bestimmten Situationen anwendbar wäre. Die Idee des Konsenses als Einvernehmen sagt nichts darüber aus, wie denn ein Konsens in einer spezifischen Situation zu erreichen wäre. Denn eine regulative Idee hat keinen Einfluss auf das wirkliche Verstehen. Als kontrafaktische Idealisierung bewegt sie sich auf der Ebene eines Horizonts und ist eine bloße Voraussetzung. Sie bedarf deshalb beständiger Bewährung in lebensweltlicher Verständigung. Als Idee bleibt die Idee des Konsenses dauerhaft abhängig von einer Fremderfahrung, wie sie sich in der Achtsamkeit realisiert. Sie bezeichnet sozusagen das immanente Gesetz der Achtsamkeit. Eine solche Idee dient dem regulativen Gebrauch in der Aufmerksamkeit. Insofern das Vermögen der Aufmerksamkeit die Erfahrung eines Subjekts über die Ausbildung von Präferenzen strukturiert, reguliert die Idee des Konsenses dieses Vermögen der Aufmerksamkeit. Auf den Vollzug des Perspektivenwechsels im verständigungsorientierten Dialog bezogen heißt das, dass das Motiv des Konsenses auf den Ebenen der Gefühle, des Wissens und der Moral regulierend eingreift. Auf der Ebene der Gefühle verhindert das Motiv des Konsenses negativ gesprochen die Vermischung und leistet positiv gesprochen die Trennung der unterschiedlichen Perspektiven der Personen. Die Empathie der Einfühlung in den Anderen muss auf die Eigenart der jeweiligen Personen abzielen. Auf der Ebene des Wissens leistet das Motiv des Konsenses die Möglichkeit einer Synthese im Sinne des Begreifens der Einheit von Erfahrung bei gleichzeitig größtmöglicher Ausdehnung des Gehalts der Erfahrung. Die Interpretation der Äußerungen unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer zielt auf die Übereinstimmung der Äußerungen und der in ihnen enthaltenen Urteile. Auf der Ebene der Moral, welche die Ebenen der Gefühle und des Wissens verklammert, dient das Motiv des Konsenses der Selbstbegrenzung. Die Achtung des Anderen als anderer schützt sowohl den Anderen vor meinem Zugriff als auch mich selbst vor dem Zugreifen auf den Anderen. Sie etabliert die Eigenständigkeit einer Person jenseits meines Zugreifens. Und insofern stellt die Achtung des Anderen als anderer nichts anderes dar als die Umkehrung des Gedankens von der Verantwortlichkeit des Subjekts. Verantwortlichkeit und Stellvertretung sind die zwei Seiten einer Medaille. A

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(3) Für den regulativen Gebrauch der Idee des Konsenses in der Erfahrung ist typisch, dass der regulative Gebrauch die Elemente der Erfahrung nur ordnet, aber nicht hervorbringt. Das heißt, es handelt sich um einen indirekten Zugang, der im einzelnen drei spezifische Funktionen erfüllt (vgl. dazu: Auer 1984, S. 185 ff.). Der regulative Gebrauch integriert die konsensuale Rationalität in die Erfahrung. Er räumt sozusagen der Rationalität mit ihrem Motiv des Konsenses einen Platz in der Erfahrung ein. Zweitens stimuliert der regulative Gebrauch die Erfahrung. Er kann die Entwicklung neuer Erfahrungen anstoßen. Er kann dazu anregen, eingefahrene Bahnen zu verlassen und neue Erfahrungen zu machen. Und drittens kritisiert der regulative Gebrauch die Erfahrung. Der regulative Gebrauch kann der Erfahrung zwar keine Modelle vorgeben, aber er kann bestimmte Modelle ausschließen. Mit dem regulativen Gebrauch ist einer transzendentalen Idee aber immer auch das Problem der Fiktion mit auf den Weg gegeben. Jede Vorordnung einer Idee vor die Erfahrung löst die Idee von der Erfahrung ab und macht sie zu einem Ort möglicher Täuschung. Das Problem der Fiktion ist sozusagen der Preis, welchen eine Idee für den regulativen Gebrauch zu entrichten hat. In der Idee des Konsenses widerstreitet die Annahme inklusionslogischer Akzeptabilität der Einsicht in die Operationen von Ordnungen, welche allesamt mittels Selektion und Exklusion funktionieren. Demnach kann gerade die kontextuelle Approximation der Konsensualität mit ihrer universalen Fiktion die Erfahrungen der Aufmerksamkeit integrieren, kritisieren und stimulieren. Die universale Fiktion der Idee des Konsenses besitzt den Status einer bilderlosen Utopie. Durch deren Täuschung kann man, muss man aber nicht betrogen werden. Man wird dann von deren Täuschung nicht betrogen, wenn die Utopie des Konsenses den Status einer regulativen Idee nicht überschreitet und als Maß der Achtsamkeit in der Aufmerksamkeit nicht von konkreten Erfahrungen abgekoppelt wird.

§ 18 Das Ziel der Selbstbegrenzung I.

Konsequenzen aus dem Status der regulativen Idee

(1) Konsens ist Einvernehmen als Übereinkunft durch Einverständnis. In der Antizipation eines Einvernehmens gehen Selbsterfahrung und Fremderfahrung im Entwurf des Einverständnisses und im Zulassen 134

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§ 18 Das Ziel der Selbstbegrenzung

der Übereinkunft zusammen. Das Versprechen eines Einverständnisses ist Teil der Aufmerksamkeit. Die Achtsamkeit bildet den Hintergrund, vor dem und auf dem die Aufmerksamkeit erscheint. Achtsamkeit heißt, ich achte etwas. Aufmerksamkeit heißt, ich beachte etwas. Aufmerksamkeit vollzieht sich so: Ich beachte etwas oder ich beachte es nicht. Wenn ich es beachte, dann habe ich es immer schon geachtet oder missachtet. In dem Maß, wie ich etwas achte oder missachte, ist stets mit enthalten, wie ich mich mit einem Anderen über das einigen könnte, was ich achte oder missachte. Das heißt, das Einvernehmen bildet ein Maß der Achtsamkeit. Als ein solches Maß korrigiert das Einvernehmen die Asymmetrie unserer Achtsamkeit, weil mich in der Nähe des je konkreten Anderen immer auch alle Anderen bedrängen. Als Maß aus der Achtsamkeit macht sich das Einvernehmen in der Aufmerksamkeit geltend, indem es die Achtsamkeit in die Aufmerksamkeit einschreibt. Das heißt, das Einvernehmen integriert, kritisiert und stimuliert die Aufmerksamkeit. Anders ausgedrückt, das Einvernehmen ist die regulative Idee der Achtsamkeit in der Aufmerksamkeit. Die regulative Idee des Konsenses gibt der Aufmerksamkeit eine Art teleologischer Orientierung, auch wenn der Konsens stets als provisorisches Ziel zu denken ist, welches der Antinomie verhaftet bleibt, dass ein verständigungsorientierter Dialog ohne Konsens undenkbar ist, dass aber kein Konsens als vollständig abgeschlossen gedacht werden kann. Konsens gibt es immer nur zugleich mit Dissens. Das Recht der Idee des Konsenses liegt darin, dass der Konsens so etwas wie eine lerntheoretische Bedingung der Möglichkeit von Selbstverständnis, Fremdverständnis und Wirklichkeitsverständnis darstellt. (2) Im Rückgriff auf die Unterscheidung der genannten Ordnungsarten, der Gesamtordnung, der Grundordnung und der Grenzordnung möchte ich das Profil einer offerentiellen Konsenstheorie herausarbeiten. Findet die Idee des Konsenses ihren Platz in einer Gesamtordnung, gehört die Idee des Konsenses dort auf die Ebene der Ziele. In einer Gesamtordnung ist es eine wichtige Frage, wie das Verhältnis der Mittel zu den Zielen gedacht wird. Da in einer Gesamtordnung die Ordnung von den Zielen her gedeutet wird, kann man leicht zu der Auffassung kommen, dass entweder die Mittel keine Rolle spielen in Bezug auf die Ziele oder dass die Ziele die Mittel heiligen. Sowohl die eine als auch die andere Sichtweise würden eine Verkürzung der Idee des Konsenses bedeuten, da die Idee des Konsenses sich immer auf den A

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4 · Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen

gesamten Prozess eines Gespräches bezieht und nicht nur auf ein irgendwie von diesem Prozess ablösbares Ergebnis. Findet die Idee des Konsenses ihren Platz in einer Grundordnung, wird der Einheit von Mitteln und Zielen Rechnung getragen. Als formal-prozedurales Prinzip begleitet die Idee des Konsenses das gesamte Gespräch. Problematisch scheint mir aber die in einer Grundordnung vorgenommene Bestimmung der Mittel als Regeln. Denn mit dieser Bestimmung wird die Idee des Konsenses von den am Gespräch beteiligten Subjekten abgelöst und zu einer Norm erhoben, deren äußerliche Einhaltung ein befriedigendes Ergebnis im Sinne einer Übereinstimmung hervorbringen würde. Ein solches Regelverständnis verkürzt entweder die Bedeutung der sich im Gespräch artikulierenden Subjektivität, oder aber es beschwert die Subjektivität mit einem Gebot zur Einhaltung von Normen, welches die Idee eines »zwanglosen Zwangs« überschreitet. In einer Grenzordnung wird die Idee des Konsenses wie in einer Grundordnung der Ebene der Mittel zugeordnet. Aber im Unterschied zur Grundordnung wird die Idee des Konsenses als Angebot interpretiert. Das heißt, die Idee des Konsenses steckt im Motiv einer Subjektivität, sich an einem Gespräch zu beteiligen. Denn nur das, was die Subjekte in ein Gespräch investieren, können sie auch als Ertrag aus diesem mitnehmen. Konsens als Angebot bedeutet, dass ein Subjekt der Stimme des Anderen Raum gibt. Verständigung und Verstehen sind zwei Seiten eines Prozesses, welche letztlich niemals vollständig voneinander getrennt werden können. Wenn es zu einer Übereinstimmung kommen soll, dann bedarf es einer solchen Motivation. (3) Nur in der Perspektive einer zwanglosen Einigung mit dem jeweils Anderen erschließt sich die Möglichkeit einer Gemeinschaft mit dem Anderen und damit auch die Möglichkeit einer Revision des Selbstbildes, welches der Selbstverständigung eines Subjekts zugrunde liegt. Die Grenze der Idee des Konsenses liegt darin, dass die Idee des Konsenses auf die Anwesenheit des Anderen zurückgreift, welche sich dem Subjekt aber als die Abwesenheit des Anderen darstellt. Der Andere ist dem Begriff des Subjekts auf eine ganz grundsätzliche Art und Weise immer schon entzogen, weil sich das Subjekt vom Anderen her bestimmt und nicht der Andere vom Subjekt. Diese Ambivalenz im Begriff des Konsenses findet ihren Niederschlag in der Bestimmung des Konsenses als Motiv inklusionslogischer 136

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§ 18 Das Ziel der Selbstbegrenzung

Akzeptabilität. Universalität erscheint in diesem Konsensbegriff als Prozess einer Universalisierung, das heißt als konkreter Pakt mit jedem beliebigen Anderen, mit dem je Anderen und deshalb mit allen Anderen. Der inklusionslogische Aspekt der Universalität wird als Approximation gedacht, als Annäherung an alle Anderen, die sich als Annäherung an den jeweils Anderen vollzieht. Die Schärfe der inklusionslogischen Akzeptabilität liegt darin, dass ›jeder einzelne‹ zur Definition von ›alle‹ gehört. Wenn aber die Teilnehmerperspektive jedes einzelnen derart konstitutiv für unser Verständnis von Universalität ist, dann muss auch die Universalisierung diesen Anspruch berücksichtigen, indem Akzeptabilität als zwanglose Einigung gedacht wird, in welcher die Teilnehmerperspektive jedes einzelnen zum Zuge kommen kann. Diese Vorstellung des Allgemeinen ist der Figur eines ›negativen Universalismus‹ verhaftet. Das Allgemeine, welches der Begriff des Konsenses vorstellt, erscheint als Antizipation, welche das Allgemeine in Form eines Platzhalters einführt. Konsens als Einvernehmen heißt, ich verweigere jedem Anderen das Recht, eine universale Regel für das Allgemeine aufzustellen. Konsens als Einvernehmen heißt aber auch, ich gestehe jedem Anderen das Recht zu, meine Perspektive durch seine Perspektive zu korrigieren. Die Idee des Konsenses reguliert die Selbstverständigung eines Subjekts, indem sie dessen Selbstbegrenzung dadurch gewährleistet, dass sie für die Einbeziehung aller Beteiligten und Betroffenen plädiert.

II.

Geschuldete Aufmerksamkeit

(1) Hinter der Ambivalenz des Konsensbegriffes steht die Frage nach dem Verhältnis von Ordnung und Außerordentlichem, wie es die Theorie der Responsivität im Verhältnis von Antwort und Antworten beschreibt. Es gibt das Dass des Antwortens mit seiner Unausweichlichkeit und es gibt das Wie des Antwortens mit seiner Erfindungskraft. Der Begriff des Konsenses lässt sich nur klären in der Frage nach dem Zusammenhang der beiden Momente des Dass und des Wie. Waldenfels hat in seiner Analyse der Aufmerksamkeit darauf verwiesen, dass es zwischen dem Dass des Antwortens und dem Wie des Antwortens noch einen weiteren Bereich gibt, »nämlich ein Ja / Nein, das keinen binären Entscheidungscharakter hat. Antworten wären nicht nur zu erfinden, sondern in einem emphatischen Sinne zu geben. Ein Ja vor A

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4 · Der Begriff des Konsenses als Einvernehmen

dem Ja und Nein ist nicht etwas gar so Seltenes.« (Waldenfels 2004, S. 272 f.) Übrigens sei hier nur kurz angemerkt, dass dieses Ja vor dem Ja und Nein tatsächlich in vielen antwortenden Äußerungen konkreter Sprechsituationen vorkommt. Vielleicht ist das Ja vor dem Ja oder Nein oftmals doch nicht nur eine Verlegenheitsfloskel, sondern bringt eine grundsätzliche Akzeptanz zum Ausdruck, auf welcher dann das Ja und Nein der Stellungnahme beruhen kann. Der Zwischenbereich der in vielen Antworten immer schon mitgegebenen Entscheidung bezieht sich auf drei Momente, die in einer Antwort stecken. Zum einen kann ich nicht nicht antworten in dem Sinne, wie Watzlawick festgestellt hat, dass ich nicht nicht kommunizieren kann. Jedes Verhalten, auch das der Verneinung oder des Vermeidens, lässt sich als Antworten interpretieren. Zum zweiten kann ich einem Antworten nicht ausweichen, ohne die Ansprüche des Anderen zu verletzen, der eine Antwort von mir erwartet. Das heißt, meine Verantwortung für den Anderen ist immer schon mit im Spiel. Und drittens gilt das erst recht für die Fälle, in denen ich falsch, unvollständig, unaufrichtig usw. antworte. Das heißt, das Ja und Nein des Antwortens äußert sich Waldenfels zufolge »im Eingehen oder Nichteingehen auf das Fremde, im Entgegenkommen oder Nichtentgegenkommen« (ebd., S. 274). Mit der Thematisierung dieses Zwischenbereichs des Eingehens oder Nichteingehens auf das Fremde als Entgegenkommen oder Nichtentgegenkommen meines Selbst zielt Waldenfels auf den Punkt, an dem sich Aufmerksamkeit und Achtsamkeit überschneiden. Es geht genau um die Bedeutung des Außerordentlichen für eine Ordnung. Einerseits gilt, es gibt keine ideale Ordnung, weder im Sinne einer Gesamtordnung noch im Sinne einer Grundordnung. Wäre dem nicht so, stünde doch wieder die Ordnung über dem Außerordentlichen. Andererseits gilt aber auch, dass nicht jede Ordnung gleichermaßen mit dem Außerordentlichen umgeht. Nicht jede Ordnung lässt das Außerordentliche auf die gleiche Weise zu. (2) Es gilt also auch, dass sich Ordnungen darin unterscheiden, wie sie das Außerordentliche zulassen. Das ist die Frage des Entgegenkommens oder Nichtentgegenkommens der Aufmerksamkeit, des Ja oder Nein einer Ordnung zum Außerordentlichen. Die Stellungnahme der Aufmerksamkeit aber, die sich in jedem Antworten mit ihren Antworten widerspiegelt, unterliegt einer regulativen Idee, welche einen 138

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§ 18 Das Ziel der Selbstbegrenzung

Horizont der Antwortverweigerung darstellt. Es ist die Idee des Konsenses als Einvernehmen, das heißt als Idee zwangloser Einigung mit dem jeweils Anderen, von der her und auf die hin die Aufmerksamkeit ihre Stellungnahme formuliert. Diese regulative Idee gibt der Stellungnahme des Antwortens ein Maß in doppelter Hinsicht. Das Maß bringt einerseits den Gesichtspunkt der Ordnung ein. Es macht die Aufmerksamkeit in der Achtsamkeit geltend, indem es das Außerordentliche in der Ordnung prüft. Das Maß bringt andererseits den Gesichtspunkt des Außerordentlichen ein. Es macht die Achtsamkeit in der Aufmerksamkeit geltend, indem es die Öffnung der Ordnung für das Außerordentliche motiviert. Das Zueinander der beiden Aspekte des Maßes lässt sich im aristotelischen Sinne nicht nur als Ergänzung, sondern auch als Steigerung interpretieren. Anders ausgedrückt, durch die Ergänzung wird ein Mehrwert erschlossen, welcher die beiden Aspekte auf ein Niveau hebt, welches getrennt unerreichbar wäre. (3) Damit verändert sich auch der Begriff der Aufmerksamkeit. Wenn die Achtsamkeit mit ihrem Regulativ des Konsenses in der Aufmerksamkeit zum Zuge kommt, dann wird die Aufmerksamkeit zu einer »geschuldeten Aufmerksamkeit« (ebd., S. 275). Das bedeutet: »Am Anfang gibt es nicht jemanden (eine Person, ein Subjekt), dem oder der wir etwas schulden, sondern jemand wird für mich zu jemandem, dem ich etwas schulde und dem ich etwas schenke oder verweigere, darunter die Aufmerksamkeit.« (ebd., S. 277) Das, was Subjektivität bedeutet, erschließt sich überhaupt erst in der Art und Weise, wie ich meine Verantwortung für den Anderen übernehme. Der Hintergrund der Achtsamkeit macht die Aufmerksamkeit zu einer geschuldeten Aufmerksamkeit. Eine geschuldete Aufmerksamkeit beruht auf »einem Auffallen, das auf mich zukommt derart, dass mein Aufmerken ganz und gar von Fremdem durchwirkt ist« (ebd., S. 286). Die Freiheit des Beachtens meiner Aufmerksamkeit entdeckt sich in einer vorgängigen Abhängigkeit, welche die Aufmerksamkeit von Grund auf prägt. Der Sinn der Rede von einer geschuldeten Aufmerksamkeit liegt in einer Umkehrung der Pflicht zur Begründung meines Handelns. Dass ich einen Anderen beachte und achte, das wäre der Fall, der keiner weiteren Begründung bedürfte. Dass ich einen Anderen nicht beachte oder nicht achte, das wäre der Fall, der einer Begründung bedürfte. Eben das ist die regulative Funktion der Idee des Konsenses. A

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III. Selbstverständigung durch Selbstbegrenzung (1) Die Idee des Konsenses als Motiv inklusionslogischer Akzeptabilität ist unverzichtbar für das Verständnis dessen, was Verständigung meint. Verständigung heißt, dass ich mich mit einem anderen Gesprächsteilnehmer über bestimmte Äußerungen austausche. Ein solcher Austausch von Perspektiven setzt stets einen gewissen Vorrat an Gemeinsamkeiten voraus, vor deren Hintergrund die Möglichkeit einer Einigung geprüft wird. Das Einvernehmen bildet sozusagen einen Rahmen von Verständigung. Dieser Rahmen ist aber nicht nur unverzichtbar für das, was Verständigung meint, sondern für jede Art von Dialog. Denn ein Dialog beinhaltet immer das Setzen und Vollziehen von Präferenzen. Präferenzen aber arbeiten mit offenen oder verdeckten Verallgemeinerungen, welche dem Anderen einen ihm adäquaten Platz einräumen oder verweigern. Es ist die Subjektivität eines Selbst, welche sich in den Präferenzen ausdrückt und damit im Vollzug des Antwortens ihre Verantwortlichkeit für den Anderen übernimmt oder verfehlt. Die Idee des Konsenses beschreibt den Schnittpunkt von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, genauer die Art und Weise, wie Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in der Stellungnahme des Antwortens ineinander greifen. Das Einvernehmen stellt den Horizont der Stellungnahme der Aufmerksamkeit dar, indem es die Idee einer zwanglosen Einigung mit dem jeweils Anderen in einen verständigungsorientierten Dialog einschreibt. Etwas macht Sinn, wenn es als Mittel zu einem Zweck dient. Eine individualistische Theorie setzt auf Selbstverständigung als Zweck. Die Idee des Konsenses dient dann als Mittel zum Zweck der Selbstverständigung. Der Sinn der Idee des Konsenses liegt darin, die Selbstverständigung durch eine über die Anerkennung des Anderen erfolgende Selbstbegrenzung zu regulieren. Es geht darum, durch Hinsehen auf den Anderen von sich selbst abzusehen, um Gemeinsamkeit herzustellen. (2) Die Selbstverständigung einer Person sieht sich mit der Selbstgegebenheit des Anderen konfrontiert. Es verhält sich damit so, dass sich die Selbstgegebenheit des Anderen nicht nur der Selbstverständigung entzieht, sondern dass die Selbstgegebenheit des Anderen die Selbstverständigung immer schon von vornherein geprägt hat. Weil sich die Subjektivität des Selbst in der Verantwortlichkeit für den anderen rea140

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§ 18 Das Ziel der Selbstbegrenzung

lisiert, ist die Selbstverständigung von der Selbstgegebenheit des Anderen abhängig. In der Bezugnahme der Selbstverständigung auf die Selbstgegebenheit des Anderen aber muss ein Minimum von Einigung unterstellt werden, damit die Bezugnahme als Bezugnahme überhaupt gelingen kann. Weil die Möglichkeiten der Anderen auf eine grundsätzliche Art und Weise meinen Möglichkeiten entzogen sind, erschließt sich mir die Selbstgegebenheit des Anderen nur im Einvernehmen. Indem ›auch‹ ich mit dem Einverständnis des Anderen einverstanden bin, knüpft meine Äußerung an die Äußerung des Anderen an. Auf diese Weise bildet sich ein Einvernehmen als zwanglose Einigung mit dem jeweils Anderen. Selbstbegrenzung und Selbstüberschreitung werden von der Selbstgegebenheit des Anderen her einsichtig, welche sich im Einvernehmen erschließt. Die Idee des Konsenses liefert dem Selbst ein Maß zur Prüfung von Verständigung. Sie besitzt ein Maß für die Gefahren und Mängel von Unverständnis und Missverständnis, wie sie in der Verständigung auftauchen. Die Idee des Konsenses bewahrt das Subjekt vor der Gefahr des Zynismus, der die Vereinnahmung eines Anderen durch die instrumentelle Vernunft betreibt. Der Zyniker wird durchschaubar als einer, der einen Anderen als Mittel für seine Zwecke gebraucht, weil er die Anerkennung des Anderen als anderer verweigert. Und die Idee des Konsenses schützt das Selbst vor seiner Selbstaufgabe, indem es die Prätentionen des Anderen einer Prüfung im Lichte seines Appells unterzieht. (3) Nochmals angesetzt: Ausgangspunkt von Subjektivität in ihrer Individualität ist die Verantwortung für den Anderen. Die Subjektivität realisiert sich als Reaktion auf die Herausforderung durch die Verantwortung für den Anderen. Ihre Reaktion vollzieht sich in der Responsivität des Ineinander von Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, in welcher ein Selbst nicht nur anderes sieht, sondern auch anders sieht. Indem sich ein Selbst durch den Anderen bemisst, revidiert es die Grenzen seiner selbst. Der durch die regulative Idee des Einvernehmens begrenzten Aufmerksamkeit des Selbst erschließt sich die Selbstgegebenheit des Anderen, deren Möglichkeiten auf eine grundsätzliche Art und Weise jenseits des Selbst liegen. Das heißt, die im Einvernehmen erfolgte Selbstbegrenzung eröffnet die Chance auf eine Perspektive neuer Selbstverständigung. Damit schützt und vollendet die regulative Idee des Konsenses das Leitbild positiver Unbestimmtheit, gemäß A

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dem ein Subjekt zu sich selbst findet, indem es sich über sich selbst verständigt: »Eben weil nichts ganz und gar durch die Ordnung bestimmt ist, der es angehört oder der es untersteht, bleibt in gewisser Hinsicht offen, ob etwas ein solches ist oder ein solches, was es ist und wann es so ist, wie es ist.« (Waldenfels 2002, S. 280)

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Kapitel 5: Der Modus idealer Akzeptabilität

Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Philosophie. Novalis

§ 19 Zum Begriff der Aktivität I.

Die Frage nach der idealen Akzeptabilität

In diesem Kapitel geht es um die Entfaltung des Modus des Konsensbegriffes vom Einvernehmen. Die Frage nach dem Modus bezieht sich darauf, welche Struktur und welche Arbeitsweise der Konsens aufweist. Dazu gehören solche Fragen wie: Wie ist ein Konsens aufgebaut, wie funktioniert er? Wie bildet sich ein Konsens heraus? Welcher Voraussetzungen bedarf ein Konsens? Wie vollzieht sich ein Konsens? Meine These dazu lautet: Konsens als Einvernehmen ist ein Ereignis idealer Akzeptabilität. Daran anschließend könnte man sagen, dass die Aufgabe dieses Kapitels darin besteht, dass geklärt werden muss und soll, was ideale Akzeptabilität heißt. Dabei möchte ich von Anfang an festhalten, dass die Auseinandersetzung mit der idealen Akzeptabilität eine ontologische Fragestellung darstellt. Eine ontologische Fragestellung ist sie deshalb, weil sie bei der Teilnehmerperspektive eines Subjekts ansetzt. Die Teilnehmerperspektive eines Subjekts unterscheidet sich von einer Beobachterperspektive nicht nur epistemologisch in dem Sinne, dass ein Subjekt einmal als Beteiligter, das andere Mal als Zuschauer auftritt. Vielmehr geht es in der Teilnehmerperspektive um die Existenz der Subjektivität in ihren Vollzügen. Es geht darum, wie Subjektivität ist, nicht nur, wie sie funktioniert. Und insofern handelt es sich hier um eine ontologische Fragestellung. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob und inwiefern der A

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Gedanke von der grundlegenden Passivität des Menschen, wie ihn Levinas entfaltet, mit dem Konzept eines aktiven Selbstbewusstseins vereinbar ist. Letztlich geht es auch um die Vereinbarkeit oder Nicht-Vereinbarkeit von Heteronomie und Autonomie.

II.

Der Ort in der Subjektivität

Dem Konzept eines aktiven Selbstbewusstseins kommt bei der Bestimmung dessen, was Subjektivität ist, eine Schlüsselstellung zu. Denn wenn ein Subjekt nicht nur ein Gegenstand ist, sondern immer auch einen Zustand bedeutet, dann geht es darum, wie ein Subjekt die Welt und sich selbst erfahren kann. In dieser Erfahrung aber ist immer schon vorausgesetzt, dass ein Subjekt ein Wissen von sich selbst in der Art hat, dass es nicht nur Bewusstsein, sondern Selbstbewusstsein hat. Oder wie Fichte es ausdrückt: »Alles Bewustsein ist begleitet von einem unmittelbaren Selbstbewusstsein.« (Fichte 1994, S. 34) Diese Einsicht, dass jedes Bewusstsein von einem Gegenstand immer auch Selbstbewusstsein ist, ist ›Fichtes ursprüngliche Einsicht‹, wie sie Henrich und Frank nennen. Selbstbewusstsein aber ist kein in Repräsentationen arbeitendes und kein gegenständliches Bewusstsein. Die für ein Verständnis von Subjektivität entscheidende Frage lautet, wie ein Selbstbewusstsein aufgebaut ist. Nach Manfred Frank, der in diesen Punkten die Ansicht der sogenannten ›Heidelberger Schule‹ vertritt, sind drei Merkmale für ein Selbstbewusstsein konstitutiv: Vertrautheit mit sich selbst, Unmittelbarkeit und Spontaneität. Das erste Merkmal der Vertrautheit mit sich selbst meint, dass ein Selbstbewusstsein sich seiner selbst als ihm selbst bewusst ist. Ein Selbstbewusstsein weiß, dass es ›es selbst‹ ist. Dieses Wissen eines Selbstbewusstseins von sich selbst wird aber auf keine Art und Weise erworben. Ein Selbstbewusstsein hat immer schon von sich selbst als sich selbst Kenntnis, bevor es in irgendeiner Art und Weise sich selbst zum Gegenstand wird. Mit anderen Worten, ein Selbstbewusstsein ist präreflexiv. Das zweite Merkmal der Unmittelbarkeit meint, dass sich dem Selbstbewusstsein seine Gegenwart im Nu erschließt. Es gibt hier keine zeitliche Spanne, in welcher das Selbstbewusstsein einen Weg zurücklegen würde, um zu sich zu kommen. Das Selbstbewusstsein ist immer schon augenblicklich und in jedem Augenblick ganz bei sich. Das dritte Merkmal der Spontaneität besagt, dass ein Selbstbewusst144

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§ 19 Zum Begriff der Aktivität

sein durchgehend als aktiv gedacht werden muss. Dies ist so, weil sich ein Selbstbewusstsein als solches immer im Prozess erfährt. Indem sich ein Selbstbewusstsein als es selbst erfährt, befindet es sich bereits in einer Tätigkeit. Ein Selbstbewusstsein kennt sich nur, indem es sich zum Ausdruck bringt. Insofern ist es durchgängig aktiv. An dieser Stelle taucht die Schwierigkeit auf, wie denn der eine Gedanke eines abhängigen Selbstbewusstseins, wie ihn Schleiermacher entwickelt hat und wie ich ihn als prägend für ein Selbstbewusstsein voraussetzen würde, mit dem anderen Gedanken des Selbstbewusstseins als eines durchgängig aktiven Selbstbewusstseins zusammen zu denken wäre. Denn auf den ersten Blick scheinen sich Abhängigkeit und Aktivität auszuschließen. Vielleicht müssen sich Abhängigkeit und Aktivität gegenseitig nicht vollständig ausschliessen, doch auf jeden Fall in der Form, dass gleichzeitig sowohl von einer schlechthinnigen Abhängigkeit als auch von einer durchgängigen Aktivität eines Subjekts gesprochen werden könnte. Sprechen wir der Subjektivität Autonomie oder Heteronomie zu? Auf diese Frage gilt es eine Antwort zu finden. Schleiermacher sieht die Sachlage so, das Abhängigkeit und Freiheit, also Aktivität durchaus kompatible Größen sind. Der Abhängigkeit und damit der Passivität aber gebührt der Vorrang, so dass sich die Frage stellt, wie es sich denn dann mit dem Zueinander von Aktivität und Passivität verhält. Diese Frage verschärft sich zusätzlich dann, wenn Aktivität exklusiv als Produktivität gedacht wird. Als charakteristisch für dieses Verständnis von Aktivität als Produktivität mag beispielsweise Sartres Position gelten, welche in die bekannt strengen Formulierungen mündet wie: Jeder hat den Krieg, den er verdient. Wird Aktivität ausschließlich als Produktivität vorgestellt, ist hier ein Widerspruch zu konstatieren. Denn wenn sich ein Selbst als Selbstbewusstsein ausdrücklich und ausschließlich sich selbst verdanken würde, dann würde der Gedanke der Passivität als Abhängigkeit mit dem Gedanken der Aktivität als Produktivität kollidieren. Wenn Autonomie bedeutet, ein Selbstbewusstsein bringe alles, was es ist, aus sich hervor, dann kann es nicht sein, dass sich das Selbstbewusstsein gleichermaßen als an etwas anderes gebunden oder von diesem abhängig erfährt. Denn dann wäre es der Heteronomie unterworfen. Fichte hat diese Schwierigkeit durchaus gesehen und deshalb von einer zunehmenden und einer abnehmenden Aktivität gesprochen. Dort, wo die Passivität um sich greift, geht die Aktivität zurück. UmgeA

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kehrt, wo die Aktivität zum Zuge kommt, wird die Passivität verdrängt. Aktivität und Passivität werden zu antagonistischen Kräften, welche für das Selbstbewusstsein entweder Freiheit oder Abhängigkeit bedeuten. Unbefriedigend an diesem Konzept einer vermehrten oder verminderten Abhängigkeit bleibt die Vorstellung einer exklusiven Bindung der Aktivität an die Produktivität. Denn ein rein produktives Selbstbewusstsein schreibt sich selbst alles Gelingen als Leistung zu und schiebt das Misslingen auf die Bedingungen einer zu schwachen oder unvollständigen oder fehlerhaften Durchführung der Aktivität. An dieser Stelle melde ich Widerspruch an. Denn manches Gelingen kommt zustande, obwohl unsere Produktivität nicht ausreicht. Und manches Misslingen ist exakt das Resultat einer perfekten Produktivität. Dies verhält sich vor allem deshalb so, weil die Anderen, welche an unseren Aktivitäten teilhaben und teilnehmen, und welche von unseren Aktivitäten betroffen sind, im Horizont einer rein auf Aktivität als Produktivität orientierten Subjektivität ausgeblendet werden. Vereinfacht ausgedrückt, die Anderen besitzen hier kein Mitspracherecht. Gegen die Identifikation von Aktivität und Produktivität möchte ich mit Meister Eckhart eine Vorstellung geltend machen, welche besagt, dass Aktivität als ein ›Tun und Lassen‹ zu denken sei. Anders ausgedrückt, eine Aktivität ist zwar der Ausdruck eines präreflexiven und unmittelbaren Selbstbewusstseins. Wenn ein Selbstbewusstsein sozusagen in Bewegung ist, wenn es ›arbeitet‹, dann wird damit der Grundzug des Selbstbewusstseins als Begehren erfasst. Dieses Begehren aber unterliegt seinerseits einer Modifizierung durch Affirmation oder Negation. Das Begehren kann sich auf etwas richten, es kann aber auch von etwas absehen. Neben die Gerichtetheit der Intentionalität tritt eine Gelassenheit der Resignativität, welche die Möglichkeiten des Verzichts, des Freigebens und des Empfangens beinhaltet. Selbstbewusstsein als Selbstgefühl meint den Umstand, dass ein Selbstbewusstsein abhängig ist. Ein Selbstbewusstsein kommt deshalb gegenüber sich selbst immer schon zu spät. Es gibt im Selbstbewusstsein etwas, was das Selbstbewusstsein nicht sich selbst verdankt, so Levinas gegen Fichte (Levinas 1992, S. 223). Dies ist die Rekurrenz, die Herkunft des Subjekts aus einer ihm entzogenen Vorgängigkeit. Wie geht diese Einsicht mit der Vorstellung von der Aktivität des Selbstbewusstseins zusammen? Nach Schleiermacher ist das abhängige Selbstbewusstsein »nicht gegenständlich« (Schleiermacher 1999, S. 33). 146

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Wenn es nicht gegenständlich ist, dann kann, ja muss man mit Dussel sagen, dass es einen Horizont darstellt. Das heißt, die Passivität des Subjekts, welche aus seiner Betroffenheit durch den Anderen resultiert, ist der Rahmen, von dem her und auf den hin sich die Aktivität des Subjekts abspielt. Eben aus der Nicht-Gegenständlichkeit des Selbstbewusstseins erklärt sich das Flüchtige des Selbstbewusstseins (Vgl. dazu: Schleiermacher 1999, S. 33). Der Witz dieser Struktur, welche im Selbstbewusstsein zusammengefasst ist, liegt in der Darstellung der Einheit eines Individuums, in einer Einheit, welche sich aber als abhängig erweist und auch so empfindet. Mit Levinas kann man dann sagen, dass diese Einheit zwei wichtige Momente aufweist. Erstes Moment ist die Abhängigkeit von der Rekurrenz als ein »Vor-den-eigenen-Anfang-Zurückgehen« (Levinas 1992, S. 227 Fußnote). Zweites Moment ist die Entdeckung der Abhängigkeit als Geisel-Sein, das heißt als ethische Verpflichtung. Abhängigkeit heißt deshalb Verantwortlichkeit. Daraus folgt, dass das Subjekt zwar durchgängig als aktiv gedacht wird, dass seine Aktivität aber nicht nur Intentionalität, sondern auch Resignativität ist. In der Aufmerksamkeit der Intentionalität schält sich die Achtsamkeit der Resignativität heraus. Von daher differenziert sich dann die Aktivität in Produktivität und Rezeptivität. Der Ausdruck eines aktiven Selbstbewusstseins kann sowohl den Weg des Tuns als auch den des Lassens einschlagen. Beide Wege können auch zusammenhängen. Wenn ich beispielsweise eine Sache wähle, schließe ich mit diesem Zug eine andere aus. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass ich immer ein anderes wähle, wenn ich etwas ausschließe. Das heißt, die Option der Gelassenheit der Resignativität tritt als gleichwertig neben die Option der Gerichtetheit der Intentionalität. Die Interpretation, deren Grundzüge ich hier skizziere, besitzt meiner Ansicht nach drei Vorzüge. Erstens erlaubt sie Heteronomie und Autonomie zusammen zu denken. Sie vermag gleichermaßen den Gedanken der Abhängigkeit des Selbstbewusstseins und den Gedanken der Aktivität des Selbstbewusstseins durchzuhalten. Das Selbstbewusstsein erfährt sich im Ausdruck einer Befindlichkeit, zu welcher auch die Abhängigkeit gehört. Zweitens erschließt diese Interpretation eine Alternative neben dem Konzept der Aktivität als Intentionalität, ohne dieses zu schmälern oder aufzugeben. Vielmehr wird mit dem Konzept der Aktivität als Resignativität eine Öffnung der Intentionalität für eine freie Variation von ›Aufmerksamkeit in Achtsamkeit‹ A

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denkbar. Drittens stellt diese Interpretation die Rezeptivität neben die Produktivität. Dabei bewahrt sie den aktiven Charakter beider und erschließt die Unterscheidung von Geben und Nehmen, von Hervorbringen und Empfangen als Momente innerhalb der Aktivität.

III. Zur Kritik der Vorstellung von der Aktivität als Intentionalität (1) Dem Konzept der Intentionalität zufolge sind Wissen und Erkennen aktive Vorgänge. Zu einem solchen aktiven Vorgang gehört, dass sich ein Subjekt von sich aus auf ein Objekt bezieht und damit eine Relation von sich als Subjekt zu einem Objekt herstellt. Wissen und Erkennen werden mit Recht deshalb als aktive Vorgänge betrachtet, weil nur ein aktives Bezugnehmen des Subjekts selbst gewährleistet, dass es sich bei der kognitiven Relation um einen absichtlich ausgeführten, methodisch reflektierten und wiederholbaren Akt handelt. »Eine intentionale Relation entsteht erst, wenn der Intellekt gezielt bestimmte Gegenstände zu seinen kognitiven Objekten macht. Daher muss eine adäquate Intentionalitätstheorie immer vom aktiven Intellekt und nicht etwa von irgendwie einwirkenden assimilierbaren Gegenständen ausgehen.« (Perler 2004, S. 108) Das Subjekt bezieht einen Gegenstand als Objekt in sein Handeln ein und gibt dem Objekt damit eine Orientierung auf ein Ziel. Anders ausgedrückt, Wissen und Erkennen konstituieren ihre Objekte, sie repräsentieren sie nicht. Damit ist eine feste Basis für die Antwort auf die bekannte erkenntniskritische Frage gewonnen, die da lautet: Woher weißt du das? Die Antwort lautet: Ich weiß es, weil ich es herstellen kann. Wissen und Erkennen als aktive Vorgänge zu betrachten heißt, sie im Lichte der Intentionalität zu betrachten. Mit dem Begriff der Intentionalität wird seit Brentano und Husserl die Struktur des Bewusstseins als Gerichtetheit oder Gerichtetsein beschrieben. Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Es gibt kein Bewusstsein ohne Ausrichtung, und es gibt kein Bewusstsein ohne Inhalt. Das bedeutet, dass sich an der Intentionalität des Bewusstseins die zwei Aspekte von Noesis und Noema unterscheiden lassen. Während Noesis das Gerichtetsein als den Akt des Bewusstseins selbst bezeichnet, bezieht sich Noema auf den Inhalt des Bewusstseins, den das intentionale Bewusstsein umspannt. Die Ausfaltung der Intentionalität des Bewusstseins in Noesis und 148

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Noema bedeutet, dass das monologische Apriori von Wissen und Erkennen zerteilt wird. Das Apriori von Wissen und Erkennen wird pluralistisch gedacht, ebenso wie Objekte nur in einer Vielzahl auftreten. Streng genommen gibt es ›das‹ Subjekt nur noch in der Mehrzahl von vielen Subjekten mit unterschiedlichen Perspektiven, die einander berichtigen und ergänzen. Wissen und Erkennen als aktive Vorgänge werden zu konstruktiven Akten, welche je spezifische Relationen zwischen Subjekten und Objekten herstellen. Der Begriff des Bewusstseins als Intentionalität steht damit jeder Art von Illuminationstheorie und jeder Art von Repräsentationstheorie entgegen. Wissen und Erkennen beruhen nicht auf übernatürlicher Erleuchtung. Sie vermitteln auch kein Abbild eines vorgegebenen Urbildes. Wissen und Erkennen sind schöpferische Akte eines eigenständigen Bewusstseins. (2) Die Kritik der Intentionalität setzt mit der Einsicht ein, dass aller vielleicht wünschbaren und gewünschten Eigenständigkeit zum Trotz sich das Bewusstsein in einer unhintergehbaren Abhängigkeit befindet, wie Levinas gezeigt hat. Bevor wir sozusagen die Augen aufschlagen, sind wir immer schon mit einem Anderen konfrontiert, der uns in Anspruch nimmt. »Das Bewußtsein aber – das Wissen des Selbst um sich selbst – erschöpft nicht den Begriff der Subjektivität. Das Bewußtsein geht bereits auf eine ›subjektive Bedingtheit‹ zurück, auf eine Identität, die man ›Ich‹ nennt.« (Levinas 1992, S. 227 f.) Die Einmaligkeit des Ich beruht auf der Einmaligkeit seiner Verantwortung für den Anderen. Dem Bewusstsein geht eine Bezogenheit auf den Anderen voraus, als »Beziehung zu einer Exteriorität, die ›früher‹ ist als der Akt, der sie eröffnen könnte« (ebd., S. 223). Levinas verwendet für diese Bezogenheit den Ausdruck einer Rekurrenz. Wir sind die Geisel des Anderen, die von diesem angeklagt und zur Rechenschaft gezogen wird, weil wir in unserer Verantwortlichkeit für den Anderen unersetzlich und deshalb unvertretbar, also einmalig sind. Für ein mit Bewusstsein ausgestattetes Subjekt bedeutet dies, dass sich das Subjekt von allem Anfang immer schon in einer Situation der Abhängigkeit befindet. Diese Abhängigkeit ist sozusagen das erste Merkmal des Subjekts. Mit Schleiermacher lässt sich dieses Merkmal als schlechthinnige Abhängigkeit bezeichnen, welche unserer Situation als einer Situation endlicher und kontingenter Wesen geschuldet ist. Das bedeutet dann weiter, dass das Subjekt zweitens durch eine grundlegende Passivität gekennzeichnet ist. Ein Subjekt kann für seinen eiA

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genen Anfang nicht aufkommen. Es ist gezwungen, von bestimmten Voraussetzungen auszugehen, und das heißt, dass es diese hinnehmen muss, so wie sie sind. Ihren epistemologischen Niederschlag findet dieser ontologische Sachverhalt drittens in der Erweiterung der kognitiven Relation zwischen Subjekt und Objekt um das Moment des Horizonts. Erkennen und Wissen sind nicht einfach die Bezugnahme eines Subjekts auf ein Objekt. Sie stellen vielmehr die Bezugnahme eines Subjekts auf ein Objekt vor einem Horizont dar. Ohne Hintergrund kein Vordergrund, ohne Rahmen kein Bild, ohne Voraussetzung keine Folge. Für den Begriff der Intentionalität bedeutet dies, dass sowohl die Noesis als auch das Noema des Bewusstseinsaktes um die Dimension eines ›Worauf‹ erweitert werden muss. (3) Das Konzept der Responsivität von Waldenfels geht davon aus, dass wir niemals am Anfang beginnen, sondern immer schon in der Mitte. Der Begriff der Responsivität thematisiert diese Lage des Wissens und Erkennens und erweitert damit das Konzept der Intentionalität. Wissen und Erkennen beginnen nicht mit dem Fragen, schon gar nicht mit einem voraussetzungslosen Fragen an einer Art Nullpunkt, sondern sie beginnen als Antworten. Das heißt, sie sind immer schon auf etwas bezogen, bevor sie sich selbst auf etwas beziehen. Antworten setzt ein mit dem Worauf des Antwortens. Das Worauf des Antwortens ist das Wovonher des Wissens und Erkennens, aristotelisch gesprochen dessen Kausalursache, welche sowohl in der Formalursache des Aktes der Noesis als wissendem und erkennendem Zugriff als auch in der Materialursache des Noema als der Gegenständlichkeit des wissenden und erkennenden Zugriffs zur Geltung gebracht wird. Das Wovonher des Wissens und Erkennens mündet in ein Woraufhin, in eine Finalursache. Über die Kausal- und die Finalursache wird die Formal- und die Materialursache eines kognitiven Aktes derart ausdifferenziert, dass der kognitive Akt zu einem Antworten wird, welches vom Horizont eines Wovonher zum Horizont als Woraufhin zurück läuft. Responsivität als Antwortlichkeit unterscheidet zwischen Antworten und Antwort. Während das Antworten eine Reaktion auf den Anspruch des Anderen als Appell darstellt, bezieht sich die Antwort auf den Anspruch des Anderen als Prätention. Stark vereinfacht geht es um die Ansprüche, welche der Andere als Person und welche der Andere in der Sache erhebt. Anders gesprochen geht es um die perfor150

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§ 19 Zum Begriff der Aktivität

mative und die konstative Ebene eines Sprechaktes, wie ihn das Antworten darstellt. Die beiden Ebenen stehen nicht unverbunden nebeneinander. Im konkreten Akt des Antwortens sind Antworten und Antwort stets untrennbar verbunden. Auch kann es kein Antworten ohne Antwort oder keine Antwort ohne Antworten geben. Responsivität meint stets ein Antwort gebendes Antworten. Das aber bedeutet, dass im Konzept der Responsivität die Idee der Aktivität, wie sie dem Konzept der Intentionalität zu eigen ist, verwandelt wird. Denn dem Antworten als Antwort geben entspricht immer auch ein Antworten als Antwort nehmen oder annehmen. Das heißt, die Aktivität der Gerichtetheit des Wissens und Erkennens ist nicht einfach eine Produktivität, welche bestimmte Ergebnisse herstellt oder hervorbringt. Die Aktivität des Wissens und Erkennens ist mindestens ebenso sehr eine Rezeptivität, welche bestimmte Ergebnisse annimmt oder empfängt. Demzufolge gilt es festzuhalten, dass sich die Responsivität des Antwortens dadurch auszeichnet, dass ihr eine Dialektik von Produktivität und Rezeptivität zugrunde liegt. Diese Dialektik des Moments der Aktivität am Antworten überschneidet sich mit einer zweiten Dialektik des Antwortens, welche damit zu tun hat, dass der Andere, dem ich antworte, ein Fremder ist. Ich und Du sind nicht nur nummerisch unterscheidbare Wesen einer Art, sondern eigenständige Wesen, deren Innerlichkeit auf je unterschiedlichen Welten beruht. Das bedeutet, dass im Antworten immer sowohl ein Entbergen als auch ein Verbergen enthalten ist. Der kommunikative Austausch zwischen dem einen und dem anderen ist eben gerade nicht die simple Weitergabe einer Information eines Senders an einen Adressaten, sondern eine wechselseitige Bezugnahme unterschiedlicher Entitäten im Zusammenspiel von Anwesenheit und Abwesenheit. (4) Das Konzept der Responsivität korrigiert das Konzept der Intentionalität um die Dimension kommunikativer Kontingenz. Die Responsivität stellt sozusagen eine kontingente Form von Wissen und Erkennen vor, welche im Worauf des Antwortens die Abhängigkeit des kognitiven Aktes thematisiert, von daher die Aktivität des Wissens und Erkennens in Produktion und Rezeption differenziert und diesen wechselseitigen Prozess in seiner Gleichzeitigkeit von Nähe und Fremdheit als Annäherung kennzeichnet. Epistemologisch gesprochen bedeutet dies dann entgegen Gadamers Auffassung, dass sich die HoriA

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zonte von Gesprächsteilnehmern niemals direkt begegnen. Jeder Gesprächsteilnehmer verwendet als Antwortender einen je anderen Horizont als Bezugsrahmen, von dem er ausgeht und auf den er abzielt. Der Horizont des anderen Gesprächsteilnehmers taucht, wenn er thematisiert wird, immer als Objekt, niemals aber als Horizont auf. Das heißt, Horizont und Horizont begegnen sich ausschließlich auf eine indirekte Weise. Gerade weil sich dies so verhält, stellt sich aber an dieser Stelle mit allem Nachdruck die Frage, wie dann überhaupt so etwas wie Verständigung als ein Sich-Verständigen denkbar sein soll. Irgendwie muss es denn doch ein Passen des Antwortens und der Antworten geben, sonst wäre alles Antworten nur ein vollkommen beliebiges Spiel diskreter Entitäten, welche sich in einem Prozess gemeinsamer Auseinandersetzung weder einander annähern noch voneinander entfernen könnten. Noch jeder Streit setzt eine Übereinstimmung in den Differenzen voraus, über welche gestritten wird. Und sogar die Entdeckung eines Unvernehmens bedarf ebenfalls der Entschlüsselung solcher Differenzen, wenn es denn überhaupt um eine Harthörigkeit als einer zu thematisierenden Inkommensurabilität in Bezug auf den anderen gehen soll. (5) Was aber kann die Basis sein, auf der Heteronomie und Autonomie vereinbar sind? Wie lässt sich die durchgängige Aktivität eines Subjekts mit seiner gleichzeitigen Abhängigkeit zusammen denken? An dieser Stelle vermag das Konzept der Aktivität als Expressivität weiterzuhelfen. Das Konzept der Aktivität als Expressivität oder Expressivismus, wie es Charles Taylor nennt, wurde zur Zeit der Romantik insbesondere von Herder entwickelt. Isaiah Berlin hat es im Gefolge seiner Untersuchungen zur Unterscheidung der Begriffe einer ›negativen Freiheit‹ von einer ›positiven Freiheit‹ wiederentdeckt. Charles Taylor hat die Expressivität als philosophisches Konzept etabliert, um über die Struktur der Moderne und ihre ›Quellen des Selbst‹ Auskunft geben zu können. Mit dem Terminus der Expressivität wird ein »Ausdrucksgeschehen« (Taylor 1983, S. 28) bezeichnet. In einem Ausdrucksgeschehen wird etwas, was innen im Subjekt geschieht, nach außen vermittelt und für andere sichtbar, hörbar, kurz erfahrbar gemacht. Der Vorgang hat Ähnlichkeiten mit dem Auspressen bzw. Ausquetschen einer Orange beispielsweise. Aber ein Ausdrucksgeschehen beinhaltet noch mehr. Ein Ausdrucksgeschehen besitzt zwei unterschiedliche Aspekte, wie 152

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§ 19 Zum Begriff der Aktivität

sich ein Subjekt zu etwas und damit auch zu sich selbst verhält. Wenn es um ein Ausdrucksgeschehen geht, »[…] ist der vollständigste und überzeugendste Ausdruck eines Subjekts derjenige, der dessen Bestrebungen sowohl realisiert wie klärt.« (Taylor 1983, S. 32) In einem Ausdrucksgeschehen geht es sowohl darum, dass ein Subjekt sein inneres Geschehen nach außen zum Ausdruck bringt. Es geht aber auch darum, dass sich das innere Geschehen selbst in diesem Sich-Ausdrücken findet und klärt. Kleists Diktum von der ›allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ weist auf diesen Sachverhalt hin. Das SichAusdrücken ist ein fester Bestandteil der Bedeutung, welche das Geschehen für das Subjekt hat. Anders formuliert heißt das, dass die Perspektive eines Selbst mit ihrer unhintergehbaren Individualität als ihrem ganz eigenen ›Maß‹ (Herder) erst in der Bewährung an und durch ein Ausdrucksgeschehen zu sich selbst findet. Reine Innerlichkeit und reine Äußerlichkeit sind beide unzureichende Vorstellungen. Weder ist die Absicht des aktiven Subjekts diesem in der Art einer Entelechie immer schon eingepflanzt und damit vollständig vorgegeben, noch ist die Absicht des aktiven Subjekts einfach als Vorhaben anzusehen, das es umzusetzen gilt. An diesem Punkt geht es ganz entscheidend darum, dass und wie die Rolle des Anderen in der Absicht eines Subjekts zur Geltung kommt. Dies ist die Fragestellung von Levinas, der darauf verweist, dass sich das Selbst über seine Verantwortlichkeit für den Anderen definiert. Das bedeutet dann, dass sich das Subjekt immer schon in einer Abhängigkeit vom Anderen vorfindet und sich an dieser Abhängigkeit abarbeitet. Das Subjekt befindet sich in einem Zustand der Heteronomie. Aber indem es auf diesen Zustand ›reagiert‹, bringt es seine Autonomie zum Ausdruck. Insofern kann die Aktivität in ihrer Expressivität als ein Antworten auf diese Abhängigkeit betrachtet werden. (6) Intentionalität heißt soviel wie Streben nach etwas, sich auf etwas ausrichten, sein Augenmerk auf etwas richten, etwas fokussieren. Der Begriff der Intentionalität impliziert die Begriffe Intention, Absicht, Aufmerksamkeit und Perspektive. Der Gedanke der Intentionalität ist unverzichtbar für eine Theorie der Erkenntnis als einer aktiven Erkenntnis. Wissen und Erkennen sind aktive Vorgänge als Bezugnahme eines Subjekts auf ein Objekt. Wären sie dies nicht, würden die Objekte dem Subjekt nichts sagen, weil das Subjekt über die Objekte nichts in Erfahrung bringen wollte. A

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Aus dem Begriff der Intentionalität folgt aber weder zwingend ein Produktions- noch ein Kommunikationsparadigma von Erkenntnis. Denn die Vorstellung von einer sich in Abhängigkeit befindenden und erfindenden Intentionalität nimmt Korrekturen am Begriff der Intentionalität vor, weil ihr das Paradigma der Produktion zu fixiert auf den Gedanken des Hervorbringens eines Objekts und das Paradigma der Kommunikation zu fixiert auf den Gedanken eines Handelns nach Regeln zu sein scheint. Wissen und Erkennen stellen immer noch aktive, weil intentionale Weisen einer Bezugnahme dar, allerdings in einem bestimmten Rahmen, von dem her und auf den hin Wissen und Erkennen zu einem Sich-Ausdrücken wird. Solches Sich-Ausdrücken ist einer grundlegenden Passivität in dem Sinne unterworfen, dass es immer schon von bestimmten Ansprüchen als Appellen und Prätentionen ausgeht. Es findet auf einem vorgegebenen Feld statt. Gerade deshalb aber kennt das Sich-Ausdrücken als Tätigkeit die zwei Dimensionen des Strebens und Lassens, des Gebens und Nehmens, des Hervorbringens und Empfangens, des Sprechens und Hörens. Es gilt innerhalb jeder Aktivität eine Dialektik von Gerichtetheit und Gelassenheit zu unterscheiden. Aufgrund dieser Dialektik von Gerichtetheit und Gelassenheit wird das Sich-Ausdrücken in die Lage versetzt, eine Anknüpfung zu bewerkstelligen, deren Passen ein Ereignis von Übereinstimmung beinhaltet, welches wiederum das Sich-Ausdrücken mit einem Motiv versieht, das als Grenznorm aller Verständigung gelten kann. Vielleicht kann ein Beispiel aus dem Denken der mittelalterlichen Philosophie in dieser Lage eine Orientierungshilfe dafür bieten, wie und warum Streben und Lassen, Geben und Nehmen, Anbieten und Annehmen zusammengehören können. Ich möchte die Spur dazu genau an der Stelle aufnehmen, an welcher der Ursprung der Idee eines aktiven Selbstbewusstseins zu suchen ist, nämlich bei Meister Eckhart. Die Rückbesinnung auf Meister Eckharts philosophische Theorie scheint mir aus zwei Gründen erfolgversprechend zu sein. Erstens entfaltet Eckhart unter den Bedingungen und mit den Mitteln mittelalterlichen Denkens eine ziemlich modern anmutende Subjekttheorie. Indem Eckhart im Gefolge Dietrichs von Freiberg den Begriff einer durch und durch tätigen Vernunft konzipiert, interpretiert er menschliches Sein als Aktivität, das heißt als Handeln. Zweitens aber ist dieser ins Zentrum des Denkens gerückte Handlungsbegriff breiter angelegt, als es sich die Moderne mit ihrem Primat des Herstellens oder Produzierens träumen lässt. Eckharts Handlungsbegriff umfasst Tun und Las154

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§ 20 Ein philosophiegeschichtlicher Exkurs zu Meister Eckhart

sen, Sich-Aneignen und Sich-Entäußern, Geben und Empfangen, Produktivität und Rezeptivität. Es ist diese Konzeption eines umfassenden Handlungsbegriffes, verbunden mit einer unbeugsamen Subjekttheorie, welche das Denken Eckharts auszeichnet.

§ 20 Ein philosophiegeschichtlicher Exkurs zu Meister Eckhart I.

Das Thema der Gottesgeburt

(1) Eckharts zentrales Thema ist die Idee der Geburt Gottes im Menschen, genauer die Idee der Gottesgeburt in der Seele. »Wenn man mich fragt: Warum beten wir, warum fasten wir, warum ist Gott Mensch geworden, was das Höchste war? – Ich würde sagen: darum, auf daß Gott in der Seele geboren werde und die Seele (wiederum) in Gott geboren werde.« (Eckhart Werke I, S. 407) Das Geschehen der Gottesgeburt in der Seele ist ein Vorgang, an dem in ein- und derselben Bewegung zwei Richtungen zu unterscheiden sind. Zum einen geht es darum, dass Gott in die Seele kommt, zum anderen, dass die Seele in Gott kommt. Anders ausgedrückt, es geht um die Menschwerdung Gottes und um die Gottwerdung des Menschen. Biblisch gesprochen: »Das Reich Gottes ist mitten unter euch.« (Lk 17, 10–25) Während die Formel von der Menschwerdung Gottes aus Sicht christlicher Theologie zum üblichen Sprachgebrauch gehört, fällt die Formel von der Gottwerdung des Menschen durchaus aus dem Rahmen. Es wird genau zu prüfen sein, was Eckhart unter dieser Formel versteht. Worauf es hier im ersten ankommt, ist, dass das Geschehen der Gottesgeburt in der Seele einen wechselseitigen Prozess zwischen Gott und Mensch bezeichnet, in dem beide zueinander finden. Nach Eckharts Lesart dieses Prozesses ist diesem gegenseitigen Finden unter bestimmten Bedingungen ein Gelingen garantiert. Das Gelingen ist möglich, wenn und weil in der Seele ein unsterblicher Funke glimmt, demzufolge uns in gewisser Weise die Redeweise erlaubt sein soll, dass der Mensch ein Teil des Göttlichen sei. »So sagen wir denn, daß der Mensch so arm sein soll, daß er weder eine Stätte sei noch irgendeine Stätte habe, in der Gott wirken könnte. Wo der Mensch noch eine Stätte für sich behält, da behält er [noch] Unterschiedenheit. Darum bitte ich denn Gott, daß er mich ledig mache von ›Gott‹, denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, insofern A

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denn, als wir Gott als Ursprung der Kreaturen begreifen. Denn in eben jenem Sein Gottes, wo Gott oberhalb von Sein und deshalb von Unterschiedenheit ist, da war ich selber, da wollte ich mich selber und erkannte ich mich selber, um diesen Menschen [mich] zu erschaffen. Darum denn bin ich meinem Sein nach, das ewig ist, die Ursache meiner selbst, jedoch nicht meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und gemäß der Weise meiner Ungeborenheit vermag ich niemals zu sterben. Der Weise meiner Ungeborenheit entsprechend, bin ich ewiglich gewesen und bin ich neu und werde ewiglich bleiben. Was ich der Geborenheit nach bin, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; darum muß es mit der Zeit zugrunde gehen. In meine Geburt, da wurden alle Dinge geboren, und ich war die Ursache meiner selbst und aller Dinge. Und hätte ich es gewollt, ich wäre nicht, [und] auch alle Ding wären nicht; und wäre ich nicht, so wäre auch ›Gott‹ nicht; daß Gott ›Gott‹ ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht ›Gott‹. Dies zu wissen ist jedoch nicht notwendig« (Eckhart Werke I, S. 561 f.)

In diesem Abschnitt kommen alle wichtigen Elemente von Eckharts Konzeption zur Sprache: Gott, Mensch und Gelassenheit. Eckharts »Metaphysik der Inkarnation« (Decorte 2006, S. 252), die den Menschen derart ins Zentrum des philosophischen Interesses rückt, knüpft die Idee der Gottesgeburt der Seele daran, dass eine Bedingung erfüllt wird. Der Mensch bedarf der Einübung in die Gelassenheit oder, wie Eckhart auch sagt, der Abgeschiedenheit. Nur über den Weg der Gelassenheit finden Mensch und Gott zusammen. (2) Meister Eckhart, die deutsche Übersetzung des lateinischen ›magister eckhardus‹, also schlicht und einfach Lehrer Eckhart, wird oftmals als Mystiker bezeichnet. Der Ausdruck Mystik meint keinerlei Geheimlehre oder irgendeinen Weg des Denkens, der neben der Vernunft verliefe, die Regeln der Vernunft außer Kraft setzen könnte oder ihr gar widerspräche. Das Wort Mystik bezieht sich auf den Begriff des Geheimnisses als Lehrinhalt. Es geht um das Bedenken unseres Lebens, des Geheimnisses in unserem Leben oder des Geheimnisses unseres Lebens insgesamt, um die Frage nach Gott und damit um einen Versuch, den man als das Begreifen des Unbegreifbaren beschreiben könnte. In diesem Sinne besäße jede Art von Theologie oder Philosophie, die sich nicht auf reduktive Weise mit dem positivistischen Abbilden von Gegebenheiten abfände, ein mystisches Moment. Weiter wird mittel156

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alterliche Mystik manchmal in Gegensatz gebracht zur mittelalterlichen Philosophie als Schuldisziplin, zur Scholastik. Auch diese Entgegensetzung scheint eher zufälliger Art, vielleicht angeregt durch unterschiedliche Interessenschwerpunkte von Scholastik und Mystik, die sich einmal eher auf die Theorie, ein andermal eher auf die Praxis beziehen. Denn alle mittelalterliche Philosophie und Theologie bewegt sich im Gesamtrahmen einer christlichen Weltsicht, einer Ordnung mit Gott an ihrer Spitze. In seiner Schrift ›Auslegung des heiligen Evangeliums nach Johannes‹ erläutert Eckhart seinen eigenen Ansatz in der Art und Weise, dass er »die Lehren des heiligen christlichen Glaubens, und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen« (Eckhart Werke II, S. 489) gedenkt. Die im Mittelalter so oft verwendete Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher Vernunft übergehend setzt Eckhart explizit auf die Kraft der Vernunft, welche er durchaus dazu in der Lage sieht, die gesamte Wirklichkeit zu erhellen. Aus diesem Grunde interpretiert Kurt Flasch Eckharts Ansatz als eine Art Aufklärung, genauer als den Beginn neuzeitlichen Subjektivitätsdenkens, welches mit der Bestimmung der Rolle der Vernunft in Eckharts quaestio parisiensis seinen Anfang nähme. (Vgl. dazu: Flasch 2010, S. 113; dagegen: Nikolaus Largier in: Eckhart Werke II, S. 876 ff.) Ob mit Eckharts quaestio parisiensis historisch gesehen tatsächlich der neuzeitliche Diskurs der Subjektivität beginnt, ist die eine Frage. Eine andere, weit wichtigere Frage scheint mir zu sein, inwieweit es an der Forderung nach einer umfassenden Bestimmung von Rationalität Abstriche zu machen gäbe. Das aber kann ich nicht erkennen. Eckhart ist Rationalist durch und durch. Ob sich die Vernunft dann als philosophische anstelle theologischer Vernunft oder als philosophische verbunden mit theologischer Vernunft artikuliert und ob Eckhart als Begründer einer Denktradition gelten kann, ist aber letztlich nicht ausschlaggebend, wenn es darum geht, die eckhartsche Lehre nachzuvollziehen. Um der eckhartschen Lehre von der Gottesgeburt auf die Spur zu kommen, werde ich in einem ersten Schritt versuchen, die Rolle Gottes im Geschehen der Gottesgeburt zu bestimmen. In einem zweiten Schritt geht es weiter um die Rolle des Menschen. Und drittens bleibt zu überlegen, unter welchen Bedingungen das Gelingen der Gottesgeburt garantiert sein kann. Eckharts Antwort auf diese Frage bildet die Lehre von der Gelassenheit.

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(3) Es gibt ganz unterschiedliche Wege, die versuchen, denkend die Notwendigkeit Gottes aufzuzeigen. Für die Tradition, in der Eckhart steht, ist der Gegensatz von Einheit und Vielfalt kennzeichnend. Das, was wir in der Welt erfahren oder durch unsere Erfahrung wahrnehmen, ist die Vielfalt der Dinge. Diese Vielfalt aber muss einen Ursprung haben, der wiederum selber nicht der Vielfalt unterworfen sein kann. Vielfalt setzt immer schon Einheit voraus. Aus diesem Grund gilt Gott als »die Ursache allen Seins« (Eckhart Werke II, S. 549). Flasch erläutert in seinen Ausführungen zu den Predigten des Nikolaus von Kues diesen Gedanken weiter: »Nichts kann sich selbst hervorbringen, sonst wäre es, bevor es existierte. Dies zu denken verbietet der Verstand, die ratio, nicht der Glaube. Also ist es notwendig, nicht nur de facto wahr, ein Erstes, ein Ewiges anzunehmen.« (Flasch 2008, S. 124) Das Erste oder Ewige bildet in seiner Einheit die notwendige Voraussetzung unserer Erfahrung von der Vielfalt der Welt. Die eckhartsche Auffassung gewinnt an Konturen, wenn es darum geht, die Einheit Gottes als Voraussetzung der Vielfalt der Welt zu bestimmen. Denn Eckhart deutet die Einheit in der Tradition negativer Theologie als Unnennbarkeit. »Es gibt etwas, das über das geschaffene Sein der Seele hinausreicht, an das keine Geschaffenheit rührt, das nichts ist. Selbst der Engel hat es nicht, welcher ein lauteres Sein hat, das lauter und weit ist; es rührt nicht daran. Es besteht eine Verwandtschaft göttlicher Art, sie ist mit sich selbst eins, es hat mit nichts etwas gemein. Diesbezüglich kommen manche große Gottesgelehrte ins Hinken. Es ist eine Fremde und eine Wüstenei und ist eher namenlos, als daß es einen Namen hat, und ist eher unerkannt, als daß es erkannt ist. Könntest du dich selbst einen Augenblick vernichten – ich sage, noch kürzer als für einen Augenblick –, dann wäre dir alles dies zu eigen, was es in sich selbst ist. Solange du auf dich selbst oder auf irgendein Ding achtest, so lange weißt du so wenig, was Gott ist, wie mein Mund weiß, was Farbe ist, und wie mein Auge weiß, was Geschmack ist: so wenig weißt du und ist dir bekannt, was Gott ist.« (Eckhart Werke I, S. 323)

Von Gott lässt sich präzise nur auf dem Wege der Verneinung reden, ganz im Sinne des zweiten Gebotes, du sollst dir kein Bildnis von Gott machen. Eckhart formuliert die Unnennbarkeit Gottes folgendermaßen: »Vielmehr, so wie er einfaltiges Eins ist, ohne alle Weise und Eigenheit, so ist er weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist in diesem Sinne 158

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und ist doch ein Etwas, das weder dies noch das ist.« (Eckhart Werke I, S. 35) Gott ist ein Was, das ist kein Dies und Das. Bei Nikolaus von Kues kommt dieser Sachverhalt in dem Begriff des non aliud, des Nicht-Anderen, zum Ausdruck. Das Nicht-Andere unterscheidet sich von allem anderen durch seine Ununterscheidbarkeit. Es ist das Eine, was allen Unterscheidungen immer schon voraus liegt und ohne das die Unterscheidungen nicht denkbar wären. Das Nicht-Andere bezeichnet eine Wahrheit jenseits des Seins, welche sich im Sein von sich aus zeigt. Es ist die theologische Tradition, in der schon Anselm von Canterbury Gott als dasjenige bestimmt hat, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Die Einheit Gottes ist eine Größe, welche sich nicht einfach festlegen und bestimmen lässt. Vielmehr gilt umgekehrt, dass als sich zeigende Wahrheit jenseits des Seins die Einheit Gottes der Ort ist, von dem aus alle Festlegungen und Bestimmungen erfolgen müssen. (4) Die Einheit Gottes als Wahrheit jenseits des Seins bringt in einer ersten Perspektive die Transzendenz Gottes im Gegensatz zur Immanenz des Menschen zum Ausdruck. Gott wird als Schöpfer, der Mensch als Geschöpf verstanden. Eckhart fasst diesen Sachverhalt in der Unterscheidung von Gebären und Geborenwerden. »Das Gute und die Gutheit sind nichts als eine Gutheit, völlig eins in allem, abgesehen vom Gebären einerseits und Geboren-Werden andererseits; indessen ist das Gebären der Gutheit und das Geboren-Werden in dem Guten völlig ein Sein, ein Leben.« (Eckhart Werke II, S. 235) Gebären ist Sache Gottes, Geborenwerden Sache des Menschen. Oder genauer noch, Gebären ist eine Sache Gottes als des Urbildes, Geborenwerden eine Sache des Menschen als Abbild des Urbildes. Dies ist genau der Punkt, an dem sich Gott und Mensch unterscheiden. Und für Eckhart heißt das noch viel präziser, das ist der einzige Punkt, in dem sich Gott und Mensch wirklich unterscheiden. In einer zweiten Perspektive sieht Eckhart durchaus die Parallelen von Gott und Mensch, welche theologisch betrachtet darauf beruhen, dass der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen wurde. »Er [Gott] schenkt sich selbst in gebärender Weise; denn das edelste Werk in Gott ist das Gebären, wenn in Gott überhaupt eines edler wäre als das andere; denn Gott hat all seine Lust in dem Gebären. Alles, was mir angeboren ist, das vermag mir niemand zu nehmen. Alles, was mir zufallen kann, das kann ich verlieren. Darum gebiert sich Gott ganz und A

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gar in mich, damit ich ihn niemals verliere; denn alles, was mir angeboren ist, dies verliere ich nicht.« (Eckhart Werke I, S. 627 ff.)

Gott als Schöpfer wendet sich seinem Geschöpf aus reiner Lust zu. Er wählt sich den Menschen als Partner und stellt ihn als Freund an seine Seite. An dieser Stelle taucht in Eckharts Denken umrissartig eine Überlegung auf, die sich durchaus von anderen theologischen Traditionen unterscheidet. Die Lehre vom »Seelenfünklein« (Eckhart Werke I, S. 33), mit der Eckhart die Beziehung von Gott und Mensch zu erhellen gedenkt, enthält eine äußerst kühne Pointe. Denn mit der Teilhabe am Göttlichen wird der Mensch zu einem Freund Gottes. Sein Platz ist nicht mehr unter, sondern neben Gott zu suchen. »So auch soll die gerechte Seele gleich bei Gott sein und neben Gott, ganz gleich, weder darunter noch darüber.« (Eckhart Werke I, S. 83) Aus biblischer Sicht ließe sich diese Position mit der Theologie des Johannes-Evangeliums untermauern, wie sie Eckhart selbst auch zitierenderweise in seine Predigt einfügt. »Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.« (Joh 15, 15) Die einmalige und unverlierbare Würde des Menschen als Freund Gottes hebt den Menschen als etwas ganz Besonderes aus der Menge aller Kreaturen heraus und verleiht ihm eine Schlüsselstellung. Zweierlei folgt aus dieser Konzeption. Erstens bedeutet dies selbstverständlich eine Aufwertung des Bildes vom Menschen durch seine Rolle als Freund und Gegenüber neben Gott. Zweitens bedeutet es aber auch eine Veränderung des Bildes von Gott, in welchem eine Art von Dialektik zwischen seinem unhintergehbaren Vorrang als Schöpfer und seiner Solidarität mit seinen Geschöpfen entsteht. Diese Dialektik findet ihren Ausdruck in der kenotischen Theologie von der Selbstentäußerung Gottes. (5) Charakteristisch für Eckharts Denken ist die Wendung der Gottesfrage in die Subjektivität des Menschen. In seiner Metaphysik der Inkarnation kommt alles darauf an, dass sich die Geburt Gottes in der Seele des Menschen vollzieht. Das heißt, Gott ist der Gott des Menschen, sozusagen ›mein‹ Gott, wenn ich Gott als Gott annehme. »Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlass, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage noch 160

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mehr: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur.« (Eckhart Werke I, S. 85) Ohne Frage ist der Mensch Gottes Kreatur. Für diese gilt: »Alle Kreaturen sind ein lauteres Nichts. Ich sage nicht, daß sie gering seien oder ein Etwas seien: sie sind ein lauteres Nichts. Sämtliche Kreaturen haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwärtigkeit Gottes.« (Eckhart Werke I, S. 53) In einer anderen Überlegung nähert sich Eckhart dem Verhältnis des Menschen zu Gott in der Weise, dass er dem Menschen zubilligt, auf eine bestimmte Art und Weise Gott zu etwas zwingen zu können. Für Eckhart gilt, dass »die Abgeschiedenheit Gott zwingt, daß er mich liebe. Nun ist es um vieles vorzüglicher, daß ich Gott zu mir zwinge, als daß ich mich zu Gott zwinge. Und das liegt daran, weil Gott sich eindringlicher zu mir fügen und besser mit mir vereinigen kann, als ich mich mit Gott vereinigen könnte. Daß Abgeschiedenheit Gott zu mir zwinge, das beweise ich damit, daß ein jeglich Ding gern an seiner naturgemäßen Stätte ist. Gottes naturgemäße eigene Stätte ist nun Einheit und Lauterkeit; das aber kommt von Abgeschiedenheit. Deshalb muß Gott notwendig sich selbst einem abgeschiedenen Herzen geben.« (Eckhart Werke II, S. 435 f.)

Das heißt, ausgehend von der Gleichstellung des Menschen im Verhältnis zu Gott kann der Mensch in einer bestimmten Konstellation davon ausgehen, dass sich Gott genau so verhält, wie es der Mensch erwartet. Gott ist keine dunkle, unbegreifliche Macht, welche sich den Menschen unterwirft. Gott ist ein verlässlicher Partner. Und es sei hinzugefügt, die Frage ist eher die, inwieweit der Mensch ein verlässlicher Partner Gottes ist. Was das ›Zwingen‹ Gottes betrifft, ist zu bedenken, dass es hier eben nicht um ein Zwingen im Sinne eines Ausübens von Herrschaft oder Ähnlichem geht. Zwingen durch Abgeschiedenheit, das ist soviel wie ein zwangloser Zwang. Diese Formulierung findet sich bei Habermas, wenn dieser die Kraft von Argumenten beschreibt. Es geht um ein Zwingen, in dem keinerlei äußerliche Macht wirkt, sondern das aus sich selbst heraus etwas bewirkt. Und genau um ein solches Tun mit notwendiger Konsequenz geht es hier. Dennoch bleibt der herausragende Einfluss des Menschen auf diesen Vorgang festzuhalten. Wenn Gott und Mensch derart zusammenfinden, dass es kein Gottesverhältnis ohne den Menschen geben kann und dass der Mensch sich in der Lage vorfindet, Gott zu etwas bewegen zu können, dann A

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werfen diese Überlegungen ein neues Licht auf die Formel, gemäß der das Auge, in dem ich Gott sehe, dasselbe ist, mit dem Gott mich sieht. Eckhart denkt die Verbindung von Gott und Mensch in einer Art Verschränkung, derzufolge Gottes Wirken und des Menschen Werden stets zusammenspielen. »Das Wirken und das Werden ist eins. Wenn der Zimmermann nicht wirkt, entsteht auch das Haus nicht. Da, wo die Axt ruht, da ruht auch das Werden. Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt, und ich werde.« (Eckhart Werke I, S. 87) Die Differenz zwischen Gott und Mensch bleibt bestehen. Für Eckhart unterscheiden sich Seele und Gott aber letztlich nur in dem einen Aspekt, dass Gott auf die Seite des Gebärens und die Seele auf die Seite des Geborenwerdens gehört. Aus diesem Gedanken lässt sich ableiten, dass Gott und Mensch zwar in der Hinsicht als vollkommen gleich anzusehen sind, dass ihr Sein als eine Form von Aktivität aufzufassen ist. Gott und Mensch, beide sind nach Eckhart aktiv Handelnde. Was die Auffassung von der Freiheit eines Subjekts angeht, ist dieser erste Gesichtspunkt durchaus schon als revolutionär zu bezeichnen. Und es ist dieser Ansatz, aufgrund dessen Kurt Flasch vom Beginn der Aufklärung im Mittelalter spricht. Ebenso revolutionär scheint mir aber der zweite Gesichtspunkt zu sein, welcher der Differenzierung in Gebären und Geborenwerden folgt. Beim Menschen gibt es demzufolge nochmals eine Differenzierung in der Form der Aktivität. Denn es ist Gottes Wirken, welches das menschliche Werden voranbringt. Menschliche Aktivität ist nicht nur Gebären wie Gott, menschliche Aktivität ist auch Geborenwerden. Eckhart selbst differenziert Gebären und Geborenwerden auch in der Weise, dass er sie als ein Sprechen und Hören unterscheidet. Demzufolge müsste menschliche Aktivität in ein Tun und Lassen, ein Geben und Empfangen unterschieden werden. Handeln hieße nicht nur produzieren, sondern auch rezipieren. Von hier aus kommt Eckharts ethisches Konzept in den Blick. Demzufolge mündet eine Metaphysik der Inkarnation in eine Ethik der Gelassenheit. Gelassenheit ist eine Haltung, aus der ein Handeln folgt. Dieses Handeln nimmt eine Form an, welche die einfache Alternative von Aktivität und Passivität überschreitet. In der Gelassenheit geht es darum, die Dinge ›sein zu lassen‹. Es geht um ein Tun, welches ein Lassen ist, um ein Handeln, welches ein Empfangen ist.

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II.

Die Hochschule der Gelassenheit

(1) Meister Eckharts Lehre läßt sich mit seinen eigenen Worten kurz und präzise wie folgt zusammenfassen: »Erkenne dich selbst, und wo du dich findest, da lass von dir ab.« (Eckhart Werke II, S. 341 Übersetzung Flasch) Diese Formel gibt sich auf den ersten Blick recht sperrig, sie scheint ziemlich paradox und eher verdunkelnd als erhellend. Ihre Worte führen aber direkt ins Herz der Lehre Eckharts. Seine Lehre von der Gelassenheit antwortet ganz exakt auf die antike Forderung nach Selbsterkenntnis, wie sie Sokrates, Platon, Aristoteles und alle wichtigen antiken Philosophen aufgestellt haben. Gelassenheit ist Eckharts Antwort auf die umfassendste Frage griechischen Wahrheitsstrebens. Was aber bedeutet diese Lehre von der Gelassenheit? Was meint Eckhart, wenn er uns rät, dort von uns abzulassen, wo wir uns selbst gefunden haben? In Predigt 52, welche den Titel trägt »Beati pauperes spiritu«, entfaltet Eckhart den Gedanken der Gelassenheit als Abgeschiedenheit am Thema der geistigen Armut. Dem Evangelium zufolge, welches Eckhart hier auslegt, ist ja Armut die Bedingung für Glückseligkeit. Eckhart gibt drei Bestimmungen dafür, wann ein Mensch arm sei. »Zum ersten sagen wir, daß der ein armer Mensch sei, welcher nicht(s) will.« (Eckhart 2002, S. 224) Der Mensch wird aufgefordert von seinem Willen abzusehen. »Zum zweiten ist der ein armer Mensch, der nicht(s) weiß.« (ebd., S. 227) Der Mensch soll nach dem Willen auch von der Erkenntnis absehen. Diese zweite Bestimmung erinnert an die alte sokratische Maxime von der Bedeutung des Nichtwissens. »Zum dritten ist der ein armer Mensch, der nicht(s) hat.« (ebd., S. 230). Die Konsequenz der geistigen Armut ist die leibliche Armut, weil es darauf ankommt, in allem auf Gott zu vertrauen. »Genau hier, in dieser Armut, da erlangt der Mensch das ewige Sein, das er gewesen ist und das er nun ist und das er immerdar bleiben wird.« (ebd., S. 231) Demzufolge können wir jetzt sagen, Gelassenheit oder Abgeschiedenheit heißt Verzicht. Der Sinn des Verzichts besteht nach Eckharts Theologie darin, dass der Mensch sich für Gottes Wirken öffnet. Indem der Mensch sich öffnet, wird er zum Werkzeug Gottes, wobei die Pointe von Eckharts Theologie genau darin besteht, dass der Mensch in seiner Eigenständigkeit unendlich mehr ist als ein ›Werkzeug‹ und nur deshalb zum Ort für Gottes Wirken werden kann.

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5 · Der Modus idealer Akzeptabilität

(2) »Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und daß der Mensch ledig werden soll seiner selbst und aller Dinge.« (Eckhart Werke I, S. 565) Der Begriff der Abgeschiedenheit oder der Gelassenheit wurde von Meister Eckhart als terminus technicus in die Philosophie und Theologie eingeführt. Meinte Ataraxie, was sich mit Gelassenheit übersetzen läßt, im stoischen Gedankengut eine unerschütterliche Gemütsruhe, führte Eckhart das Wort Gelassenheit als Fachausdruck in die deutsche Sprache ein und gab ihm eine ganz spezifische Bedeutung. Die Wörter ›gelazen‹ und ›gelazenheit‹ sind Wortschöpfungen Eckharts, wie sie z. B. in Predigt 28 vorkommen. Eckhart übersetzt damit den lateinischen Ausdruck des ›abnegare‹ als ›lazen‹. Lazen heißt hier soviel wie sich selbst verleugnen oder von sich selbst absehen, eine Verbindung von abnegare, relinquere und odire. (Vgl. Eckhart Werke I, S. 960 f.) Eckharts Auslegung setzt an bei der Feststellung, Sehen und Gesehen-Werden, Gebären und Geboren-Werden seien eins. »Darin nämlich besteht die Armut des Geistes, daß er [der Mensch] Gottes und all seiner Werke derart ledig steht, daß, wollte Gott in der Seele wirken, er selbst in der Seele die Stätte sei, in der er wirken will, und dies tut er gerne. Denn findet er den Menschen derart arm vor, dann ist Gott sein eigenes Werk wirkend, und der Mensch ist somit in sich Gott erleidend, und Gott ist die [ihm] eigene Stätte seiner Werke [dadurch], daß er ein Wirker in sich selbst ist.« (Eckhart 2002, S. 231)

Daraus ergibt sich die Vorstellung von einer Tätigkeit, welche weder reine Aktivität eines Strebens noch reine Passivität eines Erleidens ist. »Die ›ledichheit‹ ist nicht die Passivität einer Kraft; sie steht jenseits der Alternative von aktiv und passiv; sie ist die Seele ›in irem ledigen Wesen‹. Auf das Wort Wesen kommt es hier an. Eckhart gebraucht zwar das Bild des Holzes, das ganz in Feuer verwandelt wird, also passiv die Einigung an sich geschehen läßt. Aber hier gilt Alberts und Eckharts Mahnung, nicht bei der bildhaften Vorstellung stehenzubleiben. Die Seele wird nicht verzehrt, sondern sie wird Gott und sieht, wie Gott sieht.« (Flasch 2006, S. 157 f.)

Das ist die Angleichung der Seele an Gott, welches sich nach dem Modell der Angleichung des Erkannten an den Erkennenden vollzieht. Indem ich erkenne, gewinne ich den Gegenstand der Erkenntnis in seinem vollen Umfang. Eckhart verwendet anstelle von Gelassenheit auch das Synonym Abgeschiedenheit, welche er als Unbeweglichkeit gegenüber allen Vor164

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§ 20 Ein philosophiegeschichtlicher Exkurs zu Meister Eckhart

fällen menschlichen Lebens und damit als Merkmal Gottes bezeichnet. Analog zur Intentionalität als der Gerichtetheit ließe sich der Ausdruck der Gelassenheit als ›Resignativität‹ wiedergeben. Solche Gelassenheit enthält einen Verzicht, weshalb Thomas von Kempen auch Nachfolge als Hingabe mit resignatio übersetzte. Das lateinische Verb resignare meint soviel wie etwas zurückgeben, weggeben oder verzichten, im engeren politischen Sinne abdanken. Der Verzicht bedeutet ein NichtTun. Es geht ganz streng darum, etwas Bestimmtes nicht zu tun, also zu unterlassen, damit ein anderes stattdessen geschehen kann. Dies entspricht vergleichsweise auch den Überlegungen des Sextus Empiricus zur Pointe des Skeptizismus, wie sie zum Beispiel bei Roland Barthes thematisiert werden. Barthes übrigens verbindet den Gedanken des Nicht-Tun mit dem Konzept des chinesischen wu-wei (Barthes 2005, S. 290 ff.). Diese Verbindung, die so auch bei Brecht oder Bloch auftritt, zeigt an, dass es dem (modernen) westlichen Denken nach dem Verständnis dieser Theoretiker an etwas mangelt, was sie mit dem Nicht-Tun zu umschreiben suchten. Eckhart artikuliert die christliche Botschaft in einer theologischen Theorie der Gelassenheit mit den philosophischen Begriffen des Neuplatonismus. Seine rationalistische Theorie entwickelt ein Programm, welches sich, wie gesagt, als eine »Metaphysik der Inkarnation« (Decorte 2006, S. 252) verstehen lässt. Es geht Eckhart um eine rationale Gesamtschau der Menschwerdung Gottes. Die Menschwerdung ist nicht nur ein historisches Ereignis, die Geschichte des Lebens und Sterbens des Jesus von Nazareth, sie ist auch die Geschichte des Ankommens Gottes bei und in jedem einzelnen Menschen. Das heißt, es geht um die »Geburt Gottes in der menschlichen Seele« (ebd., S. 253). Zugespitzt formuliert, es geht nicht darum, ob Gottes Wort in der Welt ankommt, sondern ob Gottes Wort in mir ankommt. Ein solcher theologischer und philosophischer Ansatz verleiht dem Wahrheitssubjekt eine gänzlich neue Prägung. Das Subjekt der Wahrheit, also das suchende, ringende, fragende und antwortende Subjekt ist nun der bevorzugte Ort, an dem sich entscheidet, ob Gottes Wort in der Geschichte ankommt oder nicht. Diese Einsicht zieht mehrere Konsequenzen nach sich. Erstens geht es primär um jeden einzelnen Menschen in seiner Individualität, in seiner haecceitas oder seiner Diesheit, wie die Schüler von Eckharts Zeitgenossen Duns Scotus es ausgedrückt hätten. Zweitens geht es um einen Vorgang, für den es konstitutiv ist, in den Begriffen des Gebärens A

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und des Geborenwerdens die beiden Aspekte des Gebens und Nehmens am Handeln zu unterscheiden. Und drittens geht es um die Rolle des Intellekts als Ort der Anwesenheit Gottes. (3) Die Lehre der Hochschule von der Gelassenheit besagt, dass die Seele von sich lassen soll. Sie soll von sich selbst ablassen, sich selbst vergessen. Als Forderung aufgefasst steckt in dieser Lehre ein Paradox, denn ich kann unter keinen Umständen das leisten, was gefordert wird. Ich kann nicht absichtlich etwas vergessen. Aber, und darum geht es dieser Lehre, die Seele kann sich zurücknehmen, sozusagen Verzicht einüben. Warum aber sollte die Seele sich einem solchen Ansinnen unterziehen? Gäbe sie mit dieser Selbstpreisgabe sich selbst nicht auf? Ja und Nein. Ja in dem Sinne, dass sie von sich absehen würde; nein in dem Sinne, dass sie dann nicht mehr existieren würde. Denn in dem Maß, wie die Seele von sich absieht, wächst ihr zu, was von Gott kommt, so Eckharts Überlegung. Eckhart drückt diesen Gedanken ganz pointiert so aus, dass er sagt, dass »die Abgeschiedenheit Gott zwingt, daß er mich liebe. (…) Daß Abgeschiedenheit Gott zu mir zwinge, das beweise ich damit, daß ein jeglich Ding gern an seiner naturgemäßen eigenen Stätte ist. Gottes naturgemäße eigene Stätte ist nun Einheit und Lauterkeit; das aber kommt von Abgeschiedenheit.« (Eckhart Werke II, S. 457) Dieses ›Zwingen Gottes‹ funktioniert so, dass das erkennende Subjekt über die Einsicht in eine Notwendigkeit zu einer unumstößlichen Gewissheit gelangt. Wenn diese Notwendigkeit zuträfe, dann hätte ich hier ein Fundament, auf dem sich aufbauen ließe. Was aber ist das Ziel der Lehre Eckharts von der Gottebenbildlichkeit? Es geht um das Erreichen des Grundes der eigenen Existenz durch Selbstvergessenheit. »Wir aber sagen, […] es gibt vielmehr ein Etwas in der Seele, aus dem Erkennen und Lieben ausfließen; es selbst erkennt und liebt nicht, wie’s die Kräfte der Seele tun. Wer dieses kennenlernt, der erkennt, worin die Seligkeit liegt. Dies hat weder Vor noch Nach, und es wartet auf nichts Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren. Deshalb ist es auch des Wissens darum, daß Gott in ihm wirke, beraubt; es ist vielmehr dasselbe, das sich selbst genießt in der Weise, wie Gott es tut.« (Eckhart Werke I, S. 557)

In der menschlichen Seele gibt es einen Grund, auf den Eckhart hinweist. Der Begriff des Grundes wird hier mit mehreren Bedeutungen gefüllt. Grund meint erstens so etwas wie ein existentielles Lebensfun166

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dament. Ein Grund ist das, worauf ich mein Leben aufbauen kann, worauf ich mich verlassen kann. Insofern meint Grund zweitens immer schon eine Einheit in Verschiedenheit. Denn der Grund vereinnahmt oder zerstört das Wesen in keiner Weise. Er orientiert es vielmehr auf seine Weise. Vergleichsweise könnte man hierzu die Überlegungen von Cusanus zur Bereicherung des Blickwinkels anführen, wie er sie in der Auslegung des Bildes von der alle Betrachter stets gleichzeitig anblickenden Figur entfaltet. Und drittens ist der Grund von Bedeutung, weil er letztlich der dauerhafte Ursprung des Wesens ist und bleibt. Eckharts Hochschule von der Gelassenheit ist seine Lehre von der Abgeschiedenheit. Abgeschiedenheit bedeutet, dass durch die Preisgabe des Selbst die Öffnung eines Raumes für die Anwesenheit Gottes erwirkt wird.

III. Das philosophische Konzept (1) Eckhart äußert die Auffassung, dass derjenige seine Lehre vollständig verstanden hat, der den Unterschied vom Gerechten zur Gerechtigkeit verstanden habe. Die menschliche Seele ist der Gerechte, Gott ist die Gerechtigkeit, ich füge hinzu, Gott ist die Idee der Gerechtigkeit. Diese Idee ist das Urbild oder Vorbild, dessen Abbild das ist, was wir in unserer Aktivität erstreben. Der Gerechte und die Gerechtigkeit verhalten sich zueinander wie Abbild und Urbild. »Der Gute und die Gutheit sind nichts als eine Gutheit, völlig eins in allem, abgesehen vom Gebären einerseits und Geboren-Werden anderseits; indessen ist das Gebären der Gutheit und das Geboren-Werden in dem Guten völlig ein Sein, ein Leben.« (Eckhart Werke II, S. 235) Das Verhältnis von Mensch und Gott wird bei Eckhart in dem Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit durchgespielt. »Den gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, daß, wenn Gott nicht gerecht wäre, sie nicht die Bohne auf Gott achten würden.« (Eckhart Werke I, S. 79) Starke Worte. Kurt Flasch beginnt Eckharts Gedankengang folgendermaßen zu erläutern: »Der Gerechte ist in der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist nicht in ihm, sondern er ist in ihr. Er trägt sie nicht als seine Eigenschaft; er schaut nicht zu ihr auf als zu einem obersten ›Wert‹. Alles kommt nach Eckhart darauf an, das Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit nicht dinghaft, sondern abstrakt zu denken. Es ist ein Verhältnis lebendiger A

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Identität. Doch gilt die Identitätszusage nur unter zwei Bedingungen: Sie ist wahr, sofern der Mensch in der Gerechtigkeit lebt. Sie gilt nicht bezüglich der tausend anderen Bestimmungen, die wir im Menschen sonst noch antreffen. Sie ist wahr, wenn wir dieses Sofern scharf mitdenken. Zweitens: Die Gerechtigkeit findet sich in uns nicht als ein fertiger Naturbestand. Sie muss in uns geboren werden. Wir müssen in sie hineingeboren werden. Auch hier ist ein Sofern zu beachten: Sofern wir noch dabei sind, in sie hineinzugehen, sind wir mit ihr nicht identisch.« (Flasch 2003, S. 26)

Auch wenn die Rolle Gottes und die Rolle des Menschen in der Geburt der Seele zu unterscheiden sind, letztlich kommt nach Eckhart alles auf die Einheit von Gott und Mensch an. Die Einheit ist ein Prozess der Begegnung Gottes mit dem Menschen. »Es bleibt immer das Eine, das in sich selber quillt. ›Ego‹, das Wort ›Ich‹, ist niemandem eigen als Gott allein in seiner Einheit. ›Vos‹, dieses Wort bedeutet soviel wie ›Ihr‹, daß ihr eins seid in der Einheit, das heißt: Das Wort ›ego‹ und ›vos‹, ›Ich‹ und ›Ihr‹, das deutet auf die Einheit hin.« (Eckhart Werke I, S. 523 f.) Es ist eine dialogische Einheit, die uns Eckhart vorstellt, eine dialogische Einheit, die aber den Unterschied von Gott und Mensch in keiner Phase überspielt. Die Einheit des Menschen mit Gott ist eine Folge der Einheit Gottes mit sich selbst. In diesem Konzept der Einheit Gottes mit dem Menschen kommt der Mensch auf eine unerhört neue Art und Weise ins Spiel. Denn Eckhart denkt Gott, der so eindeutig dem Menschen vorausgeht, auch als vom Menschen abhängig. »In meiner (ewigen) Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich, noch wären alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch ›Gott‹ nicht; daß Gott ›Gott‹ ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht ›Gott‹.« (Eckhart Werke I, S. 561 f.) Ohne den Menschen, der Gott denkt, wäre Gott nicht. Dieser Gedanke setzt die Subjektivität des Menschen als Endpunkt. Ohne den Menschen, in dessen Seele Gott geboren würde, gäbe es Gott nicht. Das ist die eine Seite dieses Gedankens. Die andere Seite ist aber, dass der Endpunkt nicht der Ausgangspunkt ist. Gott ist sehr wohl dem Menschen vorgeordnet, sonst wäre Gott nicht Gebären und der Mensch nicht Geborenwerden. Mensch und Gott, der Gerechte und die Gerechtigkeit, verhalten sich zueinander wie Abbild und Urbild. Elementar ist der Vorrang des Urbildes. 168

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»Ein Bild ist nicht aus sich selbst, noch ist es für sich selbst; es stammt vielmehr von dem, dessen Bild es ist, und gehört ihm mit allem, was es ist, zu. Was dem, dessen Bild es ist, fremd ist, dem gehört es nicht zu, noch stammt es von ihm. Ein Bild nimmt sein Sein unmittelbar allein von dem, dessen Bild es ist, und hat ein Sein mit ihm und ist dasselbe Sein.« (Eckhart Werke I, S. 191)

Eckharts Gedankengang zum Verhältnis von Abbild und Urbild ist durch und durch platonische Philosophie. In gewisser Weise könnte man sagen, Eckhart realisiert hier explizit das Diktum, das Christentum sei letztlich nichts anders als ›Platonismus für das Volk‹. Mensch und Gott stehen zueinander in einem Verhältnis lebendiger Identität, in dem Gott in gewisser Weise ein Vorrang eingeräumt wird. Die sich hier anschließende Frage lautet, wie man sich dieses Verhältnis von Mensch und Gott vorstellen soll. (2) Was Eckhart nicht müde wird zu betonen, ist, dass Gott der ›Unnennbare‹ jenseits aller Seienden und allen Seins ist. Und es ist dieser Ansatz negativer Theologie, der soviel Schwung in die Konzeption von der Gottesgeburt bringt. Denn wenn die Einheit Gottes, seine Einfachheit nicht einfach abbildbar ist, sondern als Urbild jedes Abbild überschreitet, dann führt dieser Ansatz zur Betonung der Vielfalt. In jedem menschlichen Blickwinkel kann jetzt die Perspektive Gottes zum Ausdruck gebracht werden, wenn das Abbild das Urbild zum Zuge kommen lässt. Hinter der Lehre von der Selbstvergessenheit steht die Auffassung, dass die Seele nichts und Gott alles ist. Anders ausgedrückt, alles, was in der Seele wertvoll ist, hat seinen Ursprung in Gott, alles, was nicht wertvoll ist, hat seinen Ursprung im Kreatursein der Seele. Das heißt, in der Terminologie scholastischer Philosophie ausgedrückt, die Gnade der göttlichen Selbstmitteilung überformt die menschliche Natur. In ihrer Fülle setzt sie die menschliche Natur in ihrer Mangelhaftigkeit voraus, nimmt sie auf und vollendet sie. Eckharts Gottesbegriff, der sich an dieses scholastische Konzept anschließt, zeichnet sich dadurch aus, dass Gott als eine Größe verstanden wird, welche jenseits all dessen zu finden ist, welchem wir das Merkmal des Seins zusprechen. »Gott ist ein Was, das ist kein Dies und Das« (Eckhart Werke I, S. 107). Gottes Transzendenz wird nach Art der negativen Theologie auf eine verneinende und zugleich überbietende Weise erschlossen. Diese A

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Jenseitigkeit Gottes bedeutet erstens, dass Gott von allem Sein und allen Seienden streng zu unterscheiden ist. Zweitens bedeutet sie, dass Gott auf diese Weise in allem Sein und in allen Seienden anwesend sein kann. Diese Anwesenheit kann so gedacht werden, wie dies Nikolaus von Kues ausführt, wenn er Gott als durch seine Ununterschiedenheit unterschieden sieht: »nota quomodo deus sua indistictione distinguitur« (Cusanus nach Eckhart, Werke I, S. 840). Gott ist ein non-aliud, ein Nicht-Anderes, welches insofern ein Ganz Anderes ist. Als Einfachheit ist Gott der Grund für die Vielfalt der Welt. Was aber ist das, was das Sein und alle Seienden auf so radikale Art und Weise umfasst und überschreitet? Für Eckhart kommt hier nur eine Größe in Frage: Es ist das Denken, der Intellekt. Gott wird bestimmt als ›istigu vernünftigkeit‹, d. h. als »eine lebendige, wesenhafte, seiende Vernunft, die sich selbst begreift und selbst in sich selbst ist und lebt und dasselbe ist« (Eckhart Werke II, S. 21). Mit dem Terminus der ›istichheit‹ beschreibt Eckhart das Wesen der Vernunft, welches in ihrer Selbstbezüglichkeit besteht, das heißt in ihrer Fähigkeit zur Reflexivität. Die Pointe dieses Gottesbegriffes liegt darin, dass Eckhart Gott als Intellekt auffasst, weil das entscheidende Merkmal des Intellekts die Aktivität ist. Weil Gott durch und durch aktiv ist, deshalb ist er Intellekt. Würde das Verhältnis von Gott und Mensch in der Art gedacht, dass der Mensch eine Art Gefäß sei, welches Gott aufnähme, entstünde das Problem, dass der Mensch in einer solchen Beziehung als ausschließlich passives Wesen vorgestellt würde. Eckhart unterzieht diese Vorstellung der Kritik. »Wenn man Wasser in ein Gefäß gäbe, so umfinge das Gefäß das Wasser, das Wasser aber wäre nicht in dem Gefäß, noch wäre das Gefäß in dem Wasser; die Seele aber ist so ganz eins mit Gott, daß eines ohne das andere nicht verstanden werden kann. Wohl kann man die Hitze ohne das Feuer und den Schein ohne die Sonne denken; Gott aber kann sich nicht ohne die Seele und die Seele nicht ohne Gott denken; so völlig eins sind sie.« (Eckhart Werke I, S. 631)

Für die Seele bedeutet dies, dass ihre Art der Teilhabe an Gott als eine besondere Art und Weise gedacht werden muss. Sie ›muoz liden‹ die Anwesenheit Gottes. Eckhart verwendet an anderer Stelle dann das Bild des Holzes, welches vom Feuer aufgezehrt wird. Auch dieses Bild kommt aber an seine Grenze, weil das Bild impliziert, dass das Holz vom Feuer aufgezehrt wird. Das trifft aber im Falle der Teilhabe der Seele an Gott nicht zu. 170

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Aufgrund dieser Überlegungen schlägt Eckhart einen anderen Weg ein und denkt das Verhältnis von Gott und Mensch im Modus des Intellekts. Es geht um die Einsicht in den Denkvorgang selbst. Denn ein erkennendes Subjekt, welches sich im Erkennen einen Gegenstand erschließt, wird im Akt des Erkennens mit dem Erkannten eins. »Man muß wissen, daß Gott zu erkennen und von Gott erkannt zu werden, Gott zu sehen und von Gott gesehen zu werden, der Sache nach eins ist. Darin erkennen wir Gott und sehen, daß er uns sehen und erkennen macht.« (Eckhart Werke II, S. 127; vgl. auch: Eckhart Werke I, S. 507) Im Erkennen ist diese vollständige Überformung des einen durch das andere ohne dessen Auflösung gegeben. »Aber als Intellekt (im qualifizierten Sinne) bin ich in der göttlichen Einheit. Sie hat keine Unterschiede; was sie tut, tue ich; wie sie, beziehe ich mich nicht erst auf anderes, um zu meinem Ziel zu kommen. Ich bin Ziel in mir selbst. Nicht sofern ich dieser einzelne Mensch bin, sondern sofern ich Intellekt bin und in ihm lebe. Ich lebe in ihm durch die Ablösung von allem, von der Welt und von Gott. Der wahre Gott, das wahre Selbst, sie sind nie herausgetreten, sie sind immer in der Einheit. Sie sind die Einheit. Dies ist das selige Leben, das wir immer geführt haben und das wir immer führen.« (Flasch 2003, S. 43)

Wenn Gott aber derart nach dem Muster der platonischen Idee gedacht wird, dann hat dies Konsequenzen für unsere Teilhabe an Gott, anders ausgedrückt für den Zugang der Seele zu Gott. Denn wenn Gott Intellekt ist, dann führt das Denken als die Tätigkeit des Intellekts direkt zu Gott. Denn: »Im Erkennen ist alles der Kraft nach enthalten als der obersten Ursache.« (Eckhart Werke II, S. 551) Wenn die Vorstellung vom Intellekt hier als Metapher für die Einheit des Verhältnisses von Gott und Mensch angezogen wird, müsste auch gefragt werden, was denn unter Intellekt zu verstehen sei. Intellekt ist bei Eckhart nicht einfach das Vermögen des Verstandes oder das Vermögen von Verstand und Vernunft. Intellekt meint etwas Umfassendes. Der Intellekt ist »unser menschliches Denken, aber als immer-tätiger Seelengrund« (Flasch 2003, S. 45). Intellekt in dieser Form stellt nichts anderes als ein aktives Bewusstsein dar, in den Dimensionen von Erinnerung, Erkenntnisvermögen und freiem Willen. Was bedeutet dieses Konzept für unser Erkennen? Erkennen als unsere Aktivität ist einerseits reine Intentionalität, andererseits aber ist sie auf etwas angewiesen, was sie mit ihrer Intentionalität zwar in den Blick, aber in keiner Weise in den Griff bekommt. Und dies wiederum ist der Grund dafür, warum EckA

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hart der Seele rät, von sich selbst abzusehen. Hier kommt die Abgeschiedenheit oder Gelassenheit ins Spiel, wie Eckhart sagen würde. Es geht um Gelassenheit in der Gerichtetheit oder um Resignativität in der Intentionalität. (3) Meister Eckharts philosophische Position erscheint prägnant zusammengefasst in einem Satz seiner quaestio parisiensis. Dieser Satz lautet: »Die Beziehung hat aber ihr ganzes Sein von der Seele, und als solche ist sie eine reale Kategorie, wie die Zeit; obwohl diese ihr Sein von der Seele hat, ist sie trotzdem eine Unterart der Quantität, also einer realen Kategorie.« (Eckhart Werke II, S. 545) In diesem Satz präzisiert Eckhart seine philosophische Position in drei Punkten. Erstens bezieht Eckhart eine entschieden rationalistische Position. Er geht von einem Primat der Vernunft aus, weil Gott für den Intellekt sozusagen unverstellt zugänglich sei. Gott sei die Wahrheit, auf welche sich unsere Erkenntnis richtete. Zweitens zeigt sich die Wahrheit als Relation, genauer in der Relation unseres Bezugnehmens auf die Dinge. Drittens, und das ist der entscheidende Punkt, es ist die Seele, welche das erkennende Bezugnehmen auf die Dinge leistet und damit einen Zugang zur Wahrheit und letztlich auch zu Gott gewinnt. Eckharts Theorie von der Geburt Gottes in der Seele beruht demzufolge auf einem spezifischen Begriff menschlicher Subjektivität, aufgrund welcher der Mensch als Subjekt in der Lage ist, mittels seiner Vernunft zur Wahrheit zu gelangen. Der diesem Verständnis zugrunde liegende Begriff der Vernunft wurde von Dietrich von Freiberg, Eckharts Lehrer entwickelt. Dietrich von Freiberg begreift Vernunft als tätigen Intellekt. Kurt Flasch fasst Dietrichs Lehre folgendermaßen zusammen: »Der tätige Intellekt, der sein Sein empfängt, indem er seinen Grund erkennt, erkennt in diesem sich selbst und die Wesensgründe der Dinge.« (Flasch 2007, S. 336) Die Eigenart der Vernunft, technischer ausgedrückt, des Intellekts besteht darin, dass die Vernunft sich in ihrer Tätigkeit selbst verwirklicht. Indem die Vernunft etwas erkennt, realisiert sie sich als erkennendes Vermögen. Ihr Sein besteht aus diesem Vollzug. Der Vernunft kommt laut Dietrich von Freiberg solche überragende Bedeutung deshalb zu, weil sie das entscheidende Merkmal ist, weshalb der Mensch als Gottes Ebenbild anzusprechen ist. Durch die Vernunft ist der Mensch Gottes Ebenbild. Das heißt, als ein vernünftiges Abbild entspricht menschliche Vernunft mit ihrer Tätigkeit dem göttlichen Urbild. 172

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Der Begriff des tätigen Intellekts bei Dietrich lässt sich an der Metapher des Bildes verdeutlichen. Entsprechend dem Satz aus Husserls Phänomenologie, dass Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist, gilt für ein Bild, dass ein Bild immer Bild von etwas ist. Jedem Bild kommt ein Moment an Materialität oder Inhaltlichkeit zu. Aber gleichermaßen gilt, dass ein Bild niemals einfach die Wirklichkeit des Gegenstandes selbst oder eines seiner Aspekte ist. Ein Bild bildet einen Gegenstand auf seine je spezifische Art und Weise ab, welche immer einen Unterschied von Abbildung und Wirklichkeit enthalten wird. Daraus folgt, dass es erstens etwas gibt, was ein Bild macht. Auf den hier angesprochenen Vergleich bezogen: Der tätige Intellekt ist sozusagen das, was ein Bild hervorbringt. Das ist das erste Moment des tätigen Intellekts. Es besagt letztlich, dass ein Objekt nur dadurch zum Objekt wird, indem sich ein Subjekt auf das Objekt als Objekt bezieht. Aktive Vernunft beginnt mit einer subjektiven Bezugnahme. Insofern sich aber der tätige Intellekt dazu auf irgendwelche Gegenstände oder deren Aspekte bezieht, verhält er sich als aktive Vernunft rezeptiv. »Auch Empfangen ist Tätigkeit.« (ebd., S. 329). Das ist das zweite Moment des tätigen Intellekts. Ein tätiger Intellekt ist immer zugleich produktiv und rezeptiv, herstellend und empfangend. Beiden Formen des Intellekts aber, sowohl der Produktivität als auch der Rezeptivität, sind die Momente des subjektiven Bezugnehmens wie des objektiven Bezogenseins gleichermaßen zu eigen. Ohne das Moment subjektiven Bezugnehmens könnte man dem tätigen Intellekt keine schöpferische Eigenständigkeit zusprechen, ohne das Moment objektiven Bezogenseins würde ihm der Kontakt zur Realität fehlen. Es wäre nicht weit hergeholt, hier Parallelen zu Kants Programm eines methodischen Idealismus zu sehen. Die von Dietrich und Eckhart entfaltete Dialektik von Produktivität und Rezeptivität steht in einer Tradition averroistischer und aristotelischer Philosophie, in welcher es eine Dialektik von creare und denudare gibt. Diese wiederum bezieht sich auf Aristoteles’ Schrift ›de anima‹, welche den aktuellen und den potentiellen Aspekt des Intellekts entfaltet. Für Averroes besitzt der Intellekt zwei Funktionen, eine hinnehmende und eine tätige. Die aktive Funktion ist das denudare als Ablösen, Entkleiden oder Nacktmachen, während die passive Funktion das Aufnehmen dessen bezeichnet, was beim Ablösen oder Entkleiden sichtbar wird. »Der Intellekt macht das Allgemeine. Sein ›Entkleiden‹, denudare, ist ein Machen, facere, ein Erschaffen: Intellectus, qui creat et A

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generat intelligibilia.« (Flasch 2006, S. 63) Es geht um eine Dialektik von Negation und Affirmation. Das Herausarbeiten ist das Schaffen der Form einer Substanz, deren Inhalt gegeben ist. Insofern entfaltet diese Traditionslinie von Averroes über Dietrich von Freiberg zu Meister Eckhart letztlich nichts anderes als das Vernunftkonzept des Aristoteles. Positio und ablatio, denudare-creare, empfangen-gebären, aufnehmen-hervorbringen, nehmen-geben, bejahen-verneinen, das sind die zwei Momente der einen Arbeitsweise des Intellekts. Aus Dietrichs Lehre vom tätigen Intellekt lassen sich zwei Einsichten gewinnen. Zum ersten fasst Dietrich die Seele, das heißt das menschliche Subjekt, als den Ursprung der Welt. Mit Ursprung ist in der Lehre vom Intellekt ein Erkenntnisgrund, kein Realgrund gemeint. Zum zweiten ist das wichtigste Merkmal der Seele das Tätigsein, die Aktivität. Dietrich unterscheidet sich aber in diesem Punkt von der Auffassung des Aristoteles, dass zwar die wirkende Vernunft aktiv, die mögliche Vernunft aber passiv sei. Vernunft ist Aktivität durch und durch, eben weil der Mensch Gottes Abbild ist und mittels der Vernunft zu Gott gelangt. Wir haben sozusagen nichts anderes als die Vernunft in der Form eines tätigen Intellekts. Zum dritten verhält sich der tätige Intellekt sowohl produktiv als auch rezeptiv. Dies ist deshalb so, weil sich der Intellekt als Erkenntnisgrund immer schon auf einen Realgrund bezieht, der ihm voraus liegt. Die Pointe eines solchen Begriffes einer aktiven Vernunft besteht darin, dass er einen Bezugspunkt liefert, welcher eine Perspektive auf das Gesamt menschlicher Existenz bieten kann, gerade weil er nicht in den Verhältnissen der Welt, oder um mit Wittgenstein zu reden, in dem, was der Fall ist, aufgeht. Flasch erläutert diese aus Dietrichs Lehre folgende Perspektive in der Art: »Ihr Menschen mißversteht euch, wenn ihr euch nach dem Modell von Sachen denkt. Damit gebt ihr dem Äußeren eine Gewalt, die euer Bestes erdrückt. Es gibt Gewalt; es gibt Außenwelt, aber dies können wir nur von einem Identitätspunkt aus sagen, den keine Gewalt und keine Außenwirkung erreicht. Dieser tätige Identifikationskern ist kein Bestandteil eurer äußeren Erfahrung, er ist deren verborgene Bedingung. Jeder, der sich banal betrachtet, darf weiterhin einwenden, er habe noch nicht bemerkt, daß er immer denke, und er wisse nichts davon, daß er das Urbild alles Seienden als Seienden sei. Deswegen ist dieser Identifikationskern aber keine bloße Konstruktion oder nur ein Postulat; er ist in eurem intellektuellen und willentlichen Leben das, was euer Herz im

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Leibe ist. Er ist lebendiger Selbstvollzug, intellektuelle Durchdringung und liebende Bejahung seiner selbst. Von ihm her, nicht aus der Physik sollt ihr euer Konzept von Gott bilden. Hier habt ihr sein Bild, seine von ihm begründete, ausdrücklichste Selbstdarstellung. Es ist kein statisches Bild, sondern die Einheit von Statik und Dynamik. Indem ihr euch selbst auf diese Weise begreift, begreift ihr euer Leben neu. Auch euren Gott denkt ihr dann anders. Es ist an der Zeit, diese Änderung der Denkart vorzunehmen und sie argumentierend in der Philosophie, in der Theologie, in der Naturwissenschaft durchzuführen. Befreien wir unseren Selbstbegriff von verdinglichenden Vorstellungen und erneuern wir unser Verständnis des christlichen Glaubens. Wir beginnen ihn zu begreifen.« (Flasch 2007, S. 226)

Klarer und pointierter lässt sich Dietrichs Anliegen kaum ausdrücken. Dreh- und Angelpunkt dieser Perspektive ist die Einsicht in die Eigenart des Menschen als einem Subjekt. Der Mensch ist kein Ding, er ist kein Gegenstand wie andere Gegenstände. Vielmehr ist der Mensch ein Zustand. Das ist der entscheidende Punkt an dieser Auffassung von Subjektivität. Der Mensch ist ein Zustand mit einem Bewusstsein seiner selbst, ein Zustand mit einem Selbstgefühl, wie es Manfred Frank ausdrückt. Dieser Befund verändert das Nachdenken über den Menschen von Grund auf. Philosophische Etiketten sind stets mit großer Vorsicht zu genießen. Unter Vorbehalt aufgeklebt können sie einen Gewinn an Klarheit eintragen, oftmals eher über das Verständnis ihres Verfassers als über die Position des Dargestellten. Eckharts Philosophie bedeutet eine Erneuerung des platonischen Denkens im Mittelalter. Dessen Intention liegt darin, gegen den thomistischen Aristotelismus die Bedeutung der menschlichen Aktivität zu stärken, ohne die Transzendenz Gottes anzutasten. Methodisch gesehen folgt diese Philosophie damit einer realistischen Intention, wie sie Decorte beschrieben hat. »Der menschliche Intellekt entdeckt durch sinnliche Erfahrung in den einzelnen, singulären Dingen eine intelligible Ordnung abstrakter Wesenheiten und notwendiger Relationen, die ontologisch dem Sein der konkreten kontingenten Dinge vorausgehen (ewige universelle Wesenheiten, göttliche Ideen) und macht die intelligible Struktur (eidos) des Dinges aus, wie sie durch den Verstand in einem Begriff (species) oder in einer Definition gefasst wird.« (Decorte 2006, S. 279 f.)

Eckharts Philosophie, mitten in der scholastischen Tradition stehend, folgt einem solchen realistischen Ansatz, der allerdings durchaus unA

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terschiedliche Varianten aufweisen kann. Eckharts Position läßt sich beschreiben durch die Merkmale Realismus, Konzeptualismus und Individualismus. Realismus meint die Annahme einer intelligiblen Ordnung abstrakter Entitäten. Konzeptualismus heißt, diese abstrakten Entitäten sind uns nur über ihre Anwesenheit in konkreten kontingenten Dingen zugänglich. Und Individualismus bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dieser Zugang zu den abstrakten Entitäten über konkrete Entitäten deren Eigengewicht in ihrer irreduziblen Diesheit zur Geltung zu bringen hat. Typisch für Eckharts und Dietrichs Denkweise scheint zu sein, dass in beiden Auffassungen die Idee als Allgemeines ein Zentrum bildet, von dem aus alle Verzweigungen und Verästelungen erschlossen werden. Alle Wirklichkeit steht als reales Abbild in Beziehung zum idealen Urbild. Ebenso typisch scheint für Eckhart und Dietrich, dass diese Teilhabe im Modus der Univozität gedacht wird. Es geht um univoke Reziprozität statt um analoge Partizipation (Vgl. Flasch 2007a, S. 122) Das heißt, das, was über das Urbild ausgesagt wird, gilt in derselben Art und Weise, wenn es auf das Abbild bezogen wird. Was von Gott zu sagen ist, ist in genau derselben Weise vom Menschen zu sagen, mit Ausnahme der Differenz des Gebärens zum Geborenwerden. Insofern macht Eckhart durchaus ernst mit der Aufwertung des Menschen, der als Ebenbild Gottes weit mehr ist als irgendein passiver Reflex einer göttlichen Illumination. Eckhart und Dietrich stellen sich hier gegen die Auffassung von der analogen Äquivozität, dass solche Aussagen nur analog, also in Entsprechung zu machen wären. Theologisch gesprochen geht es darum, inwieweit die Rede vom Menschen als Freund Gottes ernst zu nehmen ist. Ist der Mensch als Freund Gottes anzusehen, dann reicht die Auffassung von der Äquivozität nicht aus. Denn als Freund Gottes befindet sich der Mensch auf ein und derselben Ebene mit Gott. (4) Eckharts Auffassung vom tätigen Intellekt enthält den Keim einer Freiheitslehre. Diese Überlegung, die Nikolaus von Kues weiterverfolgt, thematisiert Freiheit in Differenz zur augustinischen Theologie. »Die Gnade ist nicht mehr eine göttliche Kraft, die unabhängig von Vernunft und Verdienst wirkt, sondern eher eine Kraft, die innig mit den persönlichen Handlungen des Menschen verbunden ist. Es ist diese Vorstellung, die Nikolaus klar und entschieden in der Abhandlung De visione dei, einem Dialog zwischen dem Menschen und Gott, zum Aus-

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druck bringt: ›Diese Kraft, die ich von Dir erhalten habe‹, erklärt Nikolaus jetzt, ›und in der ich ein lebendiges Abbild der Kraft deiner Allmacht besitze, ist der freie Wille, durch den ich die Aufnahmefähigkeit für deine Gnade vergrößern oder verringern kann.‹« (Klibansky 2001, S. 82)

Der Mensch ist in Gott, und der Mensch ist aktiv. Der Wille des Menschen ist nicht mehr einfach die Folge der göttlichen Gnade. Er ist vielmehr zugleich die Bedingung dafür, wie die Gnade aufgenommen werden kann. »Wie gibt sich Gott selbst seiner Schöpfung hin, fragt beklommen der Mensch. Gott aber antwortet: ›Sei du dein, und ich werde dein sein.‹ (Sis tu tuus et ergo ero tuus)« (ebd., S. 82, mit Zitat von Nikolaus von Kues) Unbeschadet aller vorgenommenen Einschränkungen, es hängt vom Menschen selbst ab, ob er den Stand der Gnade erlangt. Der Mensch trägt die Verantwortung für sein Schicksal selbst. Das ist eine kühne theologische Position, die sozusagen mit Augustinus gegen Augustinus denkt. Es kommt alles auf die Gnade Gottes an, aber die Gnade Gottes ist nichts, was unabhängig vom Menschen wirkt, sondern eine Kraft, die mit den Vorstellungen der Menschen verbunden ist. »Die Gnade wirkt nicht; ihr Werden ist ihr Werk.« (Eckhart Werke I, S. 133) Bei Nikolaus von Kues führt dieser Ansatz dazu, dass die Selbsterhaltung des Menschen sanktioniert wird, denn indem das Einzelwesen sich primär auf sich selbst bezieht, bezeugt es die Anwesenheit Gottes im Angeblicktwerden des Menschen. (Vgl. dazu Flasch 2008, S. 416) Das ist aber nicht die Position Eckharts. Eckhart denkt nicht in Begriffen wie Selbsterhaltung oder Selbstbewahrung. Er beharrt darauf, dass es elementar sei, dass mit dem Menschen eine Veränderung geschehe: »Alle Kreaturen berühren Gott nicht nach ihrer Geschaffenheit, und was geschaffen ist, muss aufgebrochen werden, soll das Gute herauskommen. Die Schale muß entzwei sein, soll der Kern herauskommen.« (Eckhart Werke I, S. 153) Die Pointe seiner Lehre von der Einheit Gottes mit dem Menschen liegt in der Lehre von der Abgeschiedenheit oder Gelassenheit. Der Mensch muss alles lassen um Gottes willen. Letztlich, so radikalisiert Eckhart diese Überlegung, muss er sogar von Gott lassen, um zur vollkommenen Abgeschiedenheit zu gelangen. Der Witz seiner Überlegungen liegt in einem Verzicht auf das Warum. »Wer das Leben tausend Jahre lang fragte: ›Warum lebst du?‹, müßte es antworten, es spräche nichts anderes als: ›Ich lebe darum, daß ich lebe.‹ Dies kommt daher, weil das Leben aus seinem eigeA

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nen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt. Darum lebt es ohne Warum dadurch, daß es sich selbst lebt.« (Eckhart Werke I, S. 71) Was bedeutet dieser Verzicht auf jedes Warum? Kurt Flasch identifiziert als Wurzel für Eckharts Gedanken das aristotelische Konzept der Entelechie. »Lebendig ist, was seinen Zweck in sich hat, nicht in einem anderen. Das ist klar und aristotelisch: Das Lebendige hält sein Telos in sich; es ist Entelechie. Eckhart radikalisiert das: Der Mensch soll weder sich selbst leben noch der Wahrheit noch für Gott. In der Einheit ist er diese selbst; er hat kein Außen mehr; er kennt keinen Zweck und benutzt nichts als Mittel. Er gibt jede Zweckorientierung auf. Er lebt, um zu leben, oder besser: Er lebt ohne wozu.« (Flasch 2003, S. 38)

Die Einheit des Menschen mit Gott ist so angelegt, dass der Mensch ohne diese gar nicht mehr er selbst wäre. In gewisser Weise ist der Mensch mit Gott identisch, aber auf eine Art und Weise, in welcher der Mensch von sich absieht und ›Gott‹ geschehen lässt. Oder in Eckharts Worten: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.« (Eckhart Werke I, S. 149) Eckharts Konzept bedeutet zweierlei. Erstens bedeutet es, dass mit der Option für den Intellekt alles Sein als Aktivität interpretiert wird. »Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; […]« (Eckhart I, 87) Zweitens aber bedeutet dies auch, dass die Aktivität differenziert wird in ein Geben und ein Nehmen, in ein Herstellen und ein Empfangen. Denn das vollständige Zitat Eckharts aus der sechsten Predigt lautet: »Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt, und ich werde.« (ebd.) Für Eckhart unterscheiden sich Seele und Gott letztlich nur in dem einen Aspekt, dass Gott auf die Seite des Gebärens und die Seele auf die Seite des Geborenwerdens gehört. Das ist seine Theorie der Gottebenbildlichkeit des Menschen.

IV. Ertrag (1) Wozu diese ausführliche Auseinandersetzung mit einer neuplatonischen Philosophie aus der Zeit des Mittelalters? Es geht mir nicht um die Konstruktion einer Traditionslinie oder etwas Ähnlichem. Eckharts Philosophie, sein Verständnis von Gott, Mensch und Gelassenheit ist eine ganz eigene Konzeption, die nicht mehr unseren heutigen An178

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schauungen und Gewohnheiten entspricht. Aber Eckharts Theorie bewahrt in und mit seiner Lehre von der Gelassenheit eine Idee des Handelns, welche unsere gängige Vorstellung menschlicher Aktivität erweitern und erneuern kann. Denn Eckhart unterstützt einerseits voll und ganz eine Interpretation menschlichen Seins als Handeln, als Tun, als Aktivität. Diese Interpretation geht mit der Konjunktur des Ausdrucks ›fabricare‹ einher. Insofern kann Eckhart zu Recht als einer der Begründer moderner Freiheitslehre und damit moderner Subjekttheorie gelten. Es ist diese Spur, auf welcher Flasch das eckhartsche Denken als Theorie einer Identität von Subjekt und Objekt rekonstruiert. Andererseits fasst Eckhart exakt diese menschliche Aktivität in seiner Lehre von der Gelassenheit als eine Dialektik von Geben und Nehmen auf. Seine Theorie gibt der menschlichen Aktivität das Moment des Empfangens zurück. Damit kommt eine Dimension ins Spiel, die im Moment des Herstellens oder Produzierens nicht aufgeht. Handeln wird greifbar als Anbieten und Annehmen, abhängig von einem Ereignis, in dessen Rahmen oder Kontext die Handlung realisiert wird. Anders ausgedrückt, Eckharts Handlungsbegriff kann dazu anleiten, die Verkürzung des Intentionalitätsbegriffes in einem Produktionsparadigma zu revidieren. (2) Eckharts Handlungsbegriff gehört in den Kern seiner Lehre von der Gelassenheit. Gelassenheit heißt für Eckhart, etwas gelassen zu haben oder, im Präsens formuliert, etwas zu lassen. Der Begriff der Gelassenheit bezieht sich auf die Einheit mit Gott. »Die Einheit mit Gott findet nur derjenige, der alles läßt und dem Sohn nachfolgt und eins wird mit ihm, sich also Gott ganz überläßt.« (Eckhart Werke I, S. 961) Gelassenheit im eckhartschen Sinne meint Abgeschiedenheit, frei von allen kreatürlichen Forderungen und Anstrengungen, frei dazu Gott zu empfangen und zu gebären. Es geht um das Loslassen der Ichbezogenheit, letztlich in der Aufforderung gipfelnd, Gott selbst zu lassen, um ihn zu finden. Lassen wird hier in einem ersten Schritt verstanden als Ablassen von etwas, als Weglassen von etwas oder als Verzichten auf etwas. Es geht um den Gedanken des Absehens von etwas, eine Idee, wie sie häufig unter dem Stichwort des Loslassens verhandelt wird. Das erste Moment der Gelassenheit ist Gelassensein als etwas sein lassen oder als etwas ge-lassen haben. Ich werde gelassen, wenn ich etwas lasse oder loslasse. Der Mensch soll alles Streben loslassen und auf das achten, A

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was Gott ihm anbietet. In einem zweiten Schritt bedeutet ein solches Lassen soviel wie Gewährenlassen oder Zulassen. Es geht um ein konzessives Lassen, welches einen Raum eröffnet, in dem nicht das zählt, was ich tue, sondern in dem ein anderer etwas tun kann. Es geht sozusagen um eine Erlaubnis oder ein Zugeständnis meinerseits an einen anderen. Indem ich etwas sein lasse, lasse ich etwas anderes zu. Ich gebe etwas anderem Raum, ich mache Platz für ein anderes. Darin steckt der Gedanke der Resignation als des Verzichtes auf etwas, das Aufgeben eigener Pläne, aber nicht in dem Sinne eines Sich-Gehen-Lassens als quietistischer Genuss oder als Ausdruck eines Aufgebens. Dies alles spielt durchaus mit, aber letztlich geht es um eine Selbstpreisgabe als Hingabe, als konzessives Zu- oder Gewährenlassen dessen, was auf mich zukommt. In einem dritten Schritt bedeutet Lassen dann Empfangen, Bekommen oder Erhalten. Wenn ich etwas zugelassen habe, wenn ich einem anderen ein Zugeständnis gemacht habe, dann heißt das, dass jetzt etwas geschieht oder geschehen kann, was in irgendeiner Art und Weise Auswirkungen auf mich hat, und insofern erhalte ich etwas, wenn ich etwas zulasse. Das kreatürliche Lassen entspricht in allen drei Dimensionen dem kreatürlichen Geborenwerden des Menschen, welches die angemessene Antwort auf das göttliche Gebären darstellt. Mensch und Gott unterscheiden sich für Eckhart letztlich genau in diesem Punkt, Gebären oder Geborenwerden. Das göttliche Gebären denkt Eckhart als eine Art des Sich-Selbst-Mitteilens Gottes, welches Eckhart als Ausfließen oder noch bildlicher als »Sprudeln« (Eckhart Werke II, S. 829 ff.) umschreibt. Das Gebären Gottes und das Geborenwerden des Menschen gehören untrennbar zusammen. Sie bilden einen Prozess und stellen sozusagen die zwei Seiten einer Medaille dar. (3) Charakteristisch für den eckhartschen Handlungsbegriff des Lassens als Weglassen, Zulassen und Empfangen ist eine Dialektik auf mehreren Ebenen. Erstens bedarf das Lassen immer eines Gegenübers. Das heißt, das Lassen findet sich immer schon in einer Beziehung vor. Sein Gegenpart ist das Streben. Streben und Lassen, Geben und Nehmen, oder ganz riskant und schon sehr missverständlich ausgedrückt, Aktivität und Passivität gehören zusammen. Sie stehen in einer unauflösbaren Wechselwirkung zueinander. Zweitens impliziert die Rede von einer Dialektik stets die Vorstellung von einer Notwendigkeit, wie sie den Handlungsweisen in ihrem wechselweisen Miteinander zu 180

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eigen ist. Damit ich etwas lassen kann, muss etwas hervorgebracht gewesen sein. Eckhart spricht an dieser Stelle davon, dass ich durch mein Lassen Gott zu mir zwingen kann, weil Gott gar nicht anders kann, als sich mir in seiner freundschaftlichen Selbstmitteilung zuzuwenden. Und drittens gehört diese Dialektik zu einer rationalistisch eingefärbten Auffassung, welche das Handeln massgeblich als ein Handeln aus Einsicht versteht, ohne welche weder die Funktionsweise noch die Notwendigkeit der Wechselseitigkeit durchschaubar würden. Dass Eckhart die Einheit von Werden und Wirken nach dem Modell intellektuellen Begreifens versteht, hat nicht nur eine metaphorische Dimension, sondern bringt auch immer ein rationalistisches Motiv mit ins Spiel. Im Begriff der Gelassenheit geht es um das Paradox des ›zwanglosen Zwangs‹, welches beispielsweise bei Habermas den Kern der Diskursethik ausmacht und was Habermas von Adornos Vorstellung von Versöhnung als einer Größe im Sinne der Zartheit, die »nichts anderes ist als das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweckverhafteten tröstlich streift« (Adorno 1989, S. 44), aus dessen negativer Dialektik übernommen hat. Es gibt da eine alte Formulierung zu den Funden bei Meister Eckhart, derzufolge Hegel durch Franz von Baader derart auf Eckhart aufmerksam gemacht wurde: »Da haben wir ja, was wir suchen.« (Flasch 2006, S. 121) Das heißt, Meister Eckhart wird von den Protagonisten idealistischer Dialektik als einer ihrer Vorläufer betrachtet. Das ist vice versa dieselbe Spur, auf welche der Briefwechsel von Adorno mit Benjamin hinweist, wenn er die Theologie als den ›Glutkern‹ des dialektischen Materialismus bezeichnet. Inwieweit sich hier schon die neuzeitliche Konzeption einer Identität von Subjekt und Objekt (Vgl. dazu: Flasch 2008, S. 169) abzeichnet, ist eine weitergehende Frage, die vielleicht das eckhartsche Denken überstrapaziert. Denn nicht jede Version von Dialektik folgt dem hegelschen Identitätsverständnis. Tun und Lassen erscheinen hier als Bewegungsformen des Ich. Sie gehören dem Bereich der Tätigkeit zu, insofern sie ein ›Sich-aufetwas-Einstellen‹ enthalten. Tun und Lassen sind durchaus intentional angelegt, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Während das Tun zielorientiert und direkt vorgeht, ist das Lassen eine Aktivitätsform, die indirekt und vagabundierend vorgeht. Im Gegensatz zur kalkulierenden Vorgehensweise des Tuns rechnet das Lassen mit dem Unvorhersehbaren, indem es sich abwartend verhält. Es ist dennoch durch und durch immer Aktivität, wie auch die Redeweise von der »Übung« A

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(Eckhart Werke II, S. 209 ff.; Eckhart spricht hier z. B. vom ›durchgeübten Seinsgrund‹ Marthas) belegt. Es ist die Korrektur an der Vorstellung einer produzierenden Intentionalität, auf die es hier ankommt. In der Handlungsweise der Gelassenheit geht es darum, von dem abzusehen, was wir erstreben. Es geht darum, sich auf nichts einzustellen und damit Gott zu etwas zu veranlassen. Sozusagen eine Bewegung des Nachgebens, welche ein Ergreifen ermöglicht. Um das Paradox auf die Spitze zu treiben, es geht um ein nicht-strebendes Streben. Es gibt keine kontradiktorische Alternative von Resignativität versus Intentionalität. Die Intentionalität lässt sich weder ausschalten noch überspringen, denn ein Bewusstseinsakt ist immer inhaltsorientiert. Aber erstens beginnt auch die Intentionalität in ihrer Inhaltlichkeit niemals bei einem Punkt Null. Sie geht stets von bestimmten Voraussetzungen aus, sie bezieht sich auf einen Rahmen. Das ist die eine Korrektur, welche das Konzept der Resignativität am Konzept der Intentionalität anbringt. Zweitens bedarf die Intentionalität darüber hinaus ebenfalls in der Form ihrer Aktivität deshalb der Klärung. Husserl spricht von der Epoché als Einklammerung. Und vielleicht ließe sich ja Eckharts Konzept der Abgeschiedenheit auch als eine Art Epoché interpretieren, in welcher das Absehen von sich selbst zur höchsten Konzentration auf das Andere führt. Die Vorstellung von der Resignativität verändert so gesehen den Grund der Intentionalität und vollzieht damit eine zweite Korrektur am Konzept der Intentionalität.

§ 21 Ereignis und Akt I.

Der Begriff des Ereignisses bei Heidegger

Es gilt, den Ertrag aus dem Exkurs zur mittelalterlichen Philosophie Eckharts auszuwerten. Den Ausgangspunkt dazu bildet die Einsicht in die Abhängigkeit der Subjektivität. Auf dieser Grundlage geht es dann weiter darum, wie die Aktivität der Subjektivität gedacht werden muss. Das heißt, es erfolgt eine Neubestimmung des Aktes, welcher unterbrochen wird von dem, was wir Ereignis nennen. Dem Eckpunkt der Abhängigkeit der Subjektivität entspricht deshalb die Thematisierung des Ereignisses. Dem Begriff des Ereignisses messe ich so hohe Bedeutung zu, weil die Aktivität der Subjektivität unterhalb eines Primats 182

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§ 21 Ereignis und Akt

der Passivität nicht als von sich aus vollständig anzusehen ist. Vielmehr ist die Aktivität eines Subjekts in gewisser Weise defizitär und bedarf einer Ergänzung. Heideggers philosophisches Vorhaben ist dadurch gekennzeichnet, dass die Temporalität als Grundbedingung des Daseins und damit des Seins gedeutet wird. »Weil die Zeitlichkeit die Grundverfassung des Seienden ausmacht, das wir Dasein nennen, zu welchen Seienden als Bestimmung seiner Existenz das Seinsverständnis gehört, und weil die Zeit den ursprünglichen Selbstentwurf schlechthin ausmacht, ist in jedem faktischen Dasein, wenn anders es existiert, je schon Sein enthüllt, und das heißt: Seiendes erschlossen bzw. entdeckt.« (Heidegger 2005, S. 453)

Heideggers Denken setzt ein mit der Bestimmung des menschlichen Seins als Existenz. »Die Existenz kann also nur gefasst werden als eine bestimmte Weise des Seins, als ein bestimmter ›ist‹-Sinn, der wesentlich (ich) ›bin‹-Sinn ist, der nicht im theoretischen Meinen genuin gehandhabt wird, sondern gehabt im Vollzug des ›bin‹, eine Seinsweise des Seins des ›Ich‹ […]« (Denker 2011, S. 64 mit Originalzitat Heidegger) Mit dieser Bestimmung wird ein Zugang zum Wesen des Menschen eröffnet, der darauf besteht, dass »die Frage nach dem Sein nur von der konkreten Existenz des Menschen her erörtert werden kann« (ebd., S. 89). Anders formuliert, der Ausgangspunkt des Denkens und Handelns liegt im Subjekt. Dem fragenden Subjekt tritt ein ›es gibt‹ gegenüber. »Dieses Geben gibt es auf zwei Weisen: 1. Das Geben des Seins ist das Geben als Geschick, und 2. Das Geben der Zeit ist das lichtende Reichen der vier Dimensionen der Zeit. Beide gehören zusammen, weil wir das eine nicht ohne das andere denken können. ›Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, also in ihr Zusammengehören, bestimmt, nennen wir: das Ereignis.‹« (ebd., S. 213 mit Originalzitat Heidegger; unter den vier Dimensionen der Zeit versteht Heidegger Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und die Existenz.)

Der Zusammenhang von Sein und Zeit im Ereignis erfordert eine bestimmte Haltung der Subjektivität, nämlich die Gelassenheit. »In dieser Haltung lassen wir die Dinge nicht länger nur Gegenstände sein. Wir entbergen das Seiende nicht nur als Gegenstand, der uns als Subjekt gegenübersteht, sondern lassen es auch als Ding, das die Erde und den Himmel, die Sterblichen und die Göttlichen versammelt, sein. Und plötzlich werden wir gewahr, dass wir in dieser verwandelten BeA

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ziehung zur Natur und Welt von einem Sinn angerührt werden, der sich zwar noch verbirgt, aber zugleich auch schon auf uns zukommt. Für diesen Sinn, der sich zugleich zeigt und sich entzieht, gilt es nach Heidegger eine Haltung der Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu entwickeln, die er ›Offenheit für das Geheimnis‹ nennt. Die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis gehören zusammen und gewähren uns die Möglichkeit eines nicht mehr nur technischen Aufenthalts in der Welt.« (ebd., S. 157)

Zusammenfassend bilanziert Denker: »In seiner Philosophie vertieft Heidegger die Seinsfrage in ihrer Doppeldeutigkeit. Die Antwort auf die Frage: Wer bin ich? setzt die Antwort auf die Frage: Was ist Sein? voraus. Aber was sein heißt, kann ich nur in meiner eigenen Existenz erfahren. Dieses Paradox, dass ich nur, wenn ich weiß, wer ich bin, auch wissen kann, was sein heißt, und dass nur wenn ich weiß, was sein heißt, auch wissen kann, wer ich bin, kann nur durch eine durchgängige philosophische Vertiefung gelöst werden. Diese Vertiefung besteht darin, dass wir uns, statt uns auf unsere Entwürfe festzulegen, uns von diesen auch wieder befreien sollen. Dieses Streben nach Offenheit, nach Erweiterung unserer Horizonte und nach Transzendierung der Grenzen unserer Endlichkeit nennt Heidegger Gelassenheit. In der Gelassenheit versuchen wir das Sein frei zu lassen, damit es sich uns so offenbaren kann, wie es ist.« (ebd., S. 18)

Wenn man Denker in seiner Darstellung folgen will, ist der Begriff des Ereignisses bei Heidegger ganz eng mit der Frage nach der Kontinuität des heideggerschen Denkens insgesamt verknüpft. Galt in den zwanziger Jahren und zu Beginn der Dreißiger als Zielpunkt des heideggerschen Denkens der Übermensch als Arbeiter, so veränderte sich diese Perspektive hin zu einem Verständnis des Übermenschen als Lehrer, zu welchem Heidegger vor allem Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren gelangte. (ebd., S. 138) Ohne diese Entwicklung hier auch nur ansatzweise nachzeichnen zu können, es bleibt festzuhalten, dass mit der Bestimmung des Übermenschen als Lehrer die Realisierung dessen, was wir Menschen tun, nicht mehr direkt von unserer Aktivität abhängig gemacht wird. Natürlich bedarf es dieser Aktivität noch, sie ist aber nicht mehr das entscheidende oder, genauer gesagt, allein entscheidende Element bei der Realisierung. Im Handeln öffnet sich eine Lücke zwischen Ausgangspunkt und Endpunkt. Das heißt aber nichts anderes, als dass die ontologische Struktur des Aktes so verändert wird, dass die Kluft, die sich zwischen der Absicht des Handelnden und dem Resultat 184

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der Handlung öffnet, über den Begriff des Ereignisses geschlossen wird. (ebd., S. 213) Was ist ein Ereignis? In einem Ereignis wird ein Subjekt von der Kontingenz berührt, allerdings auf eine ganz besondere Art und Weise. Ein Ereignis ist ein Geschehen als ein singulärer und instantaner Akt. Singulär bedeutet, ein Ereignis tritt einzeln auf, es kann, muss aber nicht in einen größeren Zusammenhang gehören. Instantan heißt, ein Ereignis ist eine Sache eines Augenblicks, es geschieht sozusagen ›im Nu‹. Entscheidend scheint an einem solchen Geschehen zu sein, dass es mir als Subjekt in seinem Vollzug entzogen ist, obwohl ich vielleicht durchaus an ihm beteiligt oder von ihm betroffen bin. Die Autonomie des Subjekts ist an dieser Stelle durchbrochen, weil ein Ereignis eine Selbstreferentialität besitzt, welche dem Vermögen des Subjekts vorausgeht. Das Subjekt sieht sich in der Notwendigkeit, sich mit etwas zu befassen, mit dem es sich letztlich nur näherungsweise, aber auf keinen Fall abschließend auseinandersetzen kann. Bewahrenswert an Heideggers Konzeption scheint mir zum einen die Entdeckung dieser Lücke in der Struktur einer Handlung bei der Subjektivität. Wichtig bleibt zum anderen aber auch die Bestimmung der Subjektivität als konkreter Existenz. Es geht immer um unser Sein in der Welt, um Mitsein und Jemeinigkeit. Von seiner Bestimmung des Ereignisses aus gelangt Heidegger zu einem Verständnis von Gelassenheit im Sinne eines »Strebens nach Offenheit« (ebd., S. 18; S. 224), welches man auch als ›Verzicht‹ deuten könnte. Dieser Interpretation möchte ich entschieden widersprechen. Heideggers Idee von Gelassenheit verfehlt genau den Gedanken des Verzichts, weil sie erstens immer noch ein Streben unterstellt und zweitens der Verzicht nicht ›um des Anderen willen‹ ausgeübt wird. Der Andere kommt in diesem Konzept von Gelassenheit überhaupt nicht vor. Letztlich soll er das nach Heidegger auch gar nicht, weil es in dieser Form von Gelassenheit um die Unberührbarkeit, Unerschütterlichkeit oder auch Unantastbarkeit des Selbst geht. Damit wird auch plausibel, warum in dieser Thematik die Kontinuität heideggerschen Denkens insgesamt auf dem Spiel steht. Mit den für seine Wende elementaren Begriffen Ereignis und Gelassenheit verabschiedet sich Heidegger von den Konsequenzen seiner Konzeption des Übermenschen als Arbeiter. Die Option für die Nicht-Verantwortlichkeit eines Subjekts und der damit verbundene Verzicht auf Rache für die Anderen (!) scheint mir Heideggers Versuch zu sein, der A

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Schuld und dem Eingeständnis von Schuld zu entkommen. Heideggers Idee von Gelassenheit verbleibt im Rahmen einer Figur stoischer Gelassenheit. Der Andere wird nur als Mitsein im Kontext instrumenteller Vernunft wahrnehmbar. Von daher bleibt die Omnipotenz des Subjekts ungebrochen, auch wenn dem Subjekt kein direkter Zugang zu den Folgen seiner Handlung mehr gelingt.

II.

Der Begriff des Ereignisses bei Levinas

Im Unterschied zu Heidegger entdeckt Levinas in der Temporalität als der Grundbedingung von Dasein und Sein die Alterität als entscheidende Voraussetzung. Nach Levinas kommt alles darauf an, wie die Spur des Anderen in der Subjektivität interpretiert wird. Insofern geht es bei Levinas in striktem Gegensatz zu Heidegger um eine Figur altruistischer Gelassenheit. Den unhintergehbaren Ausgangspunkt bildet die schon beschriebene Erfahrung der Passivität, welche Levinas aus einer Analyse des Todes, genauer der Todeserwartung, gewinnt. »Was entscheidend ist im Nahen des Todes ist dies, daß wir von einem bestimmten Moment an nicht mehr können können; genau darin verliert das Subjekt seine eigentliche Herrschaft als Subjekt.« (Levinas 2003, S. 47) Die Passivität der Subjektivität stellt sich in Bezug auf den Anderen ganz präzise als Ende des ›Können Könnens‹ dar. Die Subjektivität vermag nicht mehr für sich selbst aufzukommen, weil ihre eigene Aktivität an unüberwindbare Grenzen stößt. Aus dieser Einsicht in die Passivität der Subjektivität folgert Levinas zweierlei. Erstens sieht er die Subjektivität in einer Abhängigkeit befangen. An dieser Stelle treffen sich Levinas’ Einsichten mit den Analysen von Schleiermacher. Zweitens interpretiert Levinas die Situation der Abhängigkeit als Ansatz für die Kommunikativität. »Dieses Nahen des Todes zeigt an, daß wir in Beziehung sind mit etwas absolut anderem« (ebd., S. 47), eben weil der Tod unser Genießen der Andersheit durchbricht. Das bedeutet, dass, wie Levinas es ausdrückt, die Einsamkeit »durch den Tod zerbrochen« (ebd., S. 47) und damit »die Existenz pluralistisch« (ebd., S. 47) wird. Ein Ereignis ist etwas, was von außen auf mich zukommt. Im Ereignis geschieht etwas, was jenseits meiner Möglichkeiten ist. Ein solches Ereignis kann meine Erwartungen bestätigen oder aber, was häufiger der Fall sein dürfte, durchkreuzen. Nach Levinas stellt ein 186

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§ 21 Ereignis und Akt

Ereignis ein »Widerfahrnis« (ebd., S. 50) dar. Typisch für ein Ereignis als Widerfahrnis ist, dass sich im Ereignis der Andere zu Wort meldet. Dieser Andere ist nicht einfach mein alter ego, »er ist das, was ich gerade nicht bin« (ebd., S. 55). Aufgrund dieser radikalen Unterschiedenheit ist im Verhältnis zum Anderen nicht dessen Anwesenheit, sondern dessen Abwesenheit entscheidend. Diese Abwesenheit wiederum vollzieht sich als Warten auf den Anderen in einem Horizont der Zukunft und stellt deshalb die Zeit dar. Der Grund dafür ist, dass meine Subjektivität ein Verhältnis zum Anderen besitzt, in dem sie sich immer schon vorfindet. Es gibt für mich keinerlei Möglichkeiten aus diesem Verhältnis auszusteigen. Das einzige, was ich tun kann, ist, dass ich auf meine Selbstbehauptung verzichte und mich der mir auferlegten Verantwortlichkeit für den Anderen öffne. Genau deswegen und erst dann kann aber gelten, dass »diese Abwesenheit des Anderen […] der Ort seiner Anwesenheit [ist]« (ebd., S. 65). Das heißt dann, dass der Subjektivität eine Grenze eingeschrieben ist. Dies bedeutet für ein Subjekt, dass das eigene Tun keinen vollständigen Weg von der Absicht einer Handlung bis zu ihren Resultaten zurücklegen kann. Zwischen die Absicht des Handelnden und das Resultat der Handlung tritt das Ereignis. Radikaler Altruismus bedeutet, dass der Andere als Wurzel des Ereignisses erkannt wird.

III. Der Eckstein der Abhängigkeit An der hier entworfenen Gegenüberstellung von Heidegger und Levinas zum Begriff des Ereignisses werden die Voraussetzungen der Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Heteronomie und Autonomie in Bezug auf die Bestimmung der Subjektivität durchsichtig. Mit Schleiermacher halten wir für die Bestimmung der Subjektivität die Passivität einer schlechthinnigen Abhängigkeit fest. Absolute Abhängigkeit und absolute Freiheit stehen hier als kontradiktorische Alternativen einander gegenüber. Absolute Freiheit ist undenkbar, denn wenn dem Menschen absolute Freiheit zukäme, wäre er Gott. Also bleibt die Alternative der absoluten Abhängigkeit in dem Sinne, dass ein menschliches Subjekt nicht für sich selbst aufkommen kann. Diesem Gesichtspunkt entsprechen auch unsere Erfahrungen in der Art der Flüchtigkeit oder Vergänglichkeit unseres Bewusstseins. Wir sind nicht in der Lage, bestimmte Momente als beständig so festA

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zuhalten, wie wir es sein müssten, wenn wir uns in einem Zustand absoluter Freiheit befänden. Die Abhängigkeit aber, um die es hier geht, meint keine Abhängigkeit nach einem Schema von Kausalität. Es geht um das, was in unseren konkreten Vollzügen auf eine indirekte Art und Weise immer schon mit gesetzt ist. Es geht nicht um unser gegenständliches Tun, sondern um den Horizont, der unser Handeln begleitet. Es geht um die teleologische Struktur unseres Handelns. Nach Levinas verhält es sich genau so, dass der Andere im Horizont eines Subjekts erscheint. Dies gilt in dem Sinne, dass das Subjekt immer schon mit dem Anderen konfrontiert ist, weil es dieses Moment in oder an seinem Horizont überhaupt nicht beeinflussen kann. Für das Subjekt ist nur die Frage, wie es sich auf den Anderen in seinem Horizont einstellt. Das bedeutet, dass sich das Subjekt mit einem Primat der Heteronomie konfrontiert sieht. Nochmals anders angesetzt bedeutet diese Einsicht, dass es neben der Immanenz immer auch eine Transzendenz geben muss. Ohne Bezug auf eine solche Transzendenz gäbe es nicht einmal die Immanenz. Die Schwierigkeit der Subjektivität besteht darin, einer solchen Transzendenz ausgesetzt zu sein. Innerhalb oder unterhalb einer Annahme absoluter Abhängigkeit einer deshalb grundsätzlich als passiv anzusprechenden Subjektivität können und müssen Abhängigkeit und Freiheit als miteinander kompatibel gedacht werden. Dies ist deshalb so, weil die Subjektivität dem Ansatz der Expressivität zufolge erst im Prozess der Aktivität zu sich selbst findet. Wenn Abhängigkeit und Freiheit aber unter einem Primat absoluter Abhängigkeit dennoch als miteinander vereinbar gelten können sollen, muss Freiheit auf eine andere Art und Weise gedacht werden, als dies im Produktionsparadigma geschieht. Mit Levinas interpretieren wir die Erfahrung der Heteronomie der schlechthinnigen Abhängigkeit als die Erfahrung einer Abhängigkeit vom Anderen. Dieser Gedanke führt uns zu der zweiten Bestimmung. Unsere heteronome Subjektivität findet zu sich selbst in der Stellvertretung des Anderen. Anders ausgedrückt, die Stellvertretung des Anderen ist der Weg des Subjekts zur Autonomie. In dem Maß, in dem sich das Subjekt dieser Aufgabe, mit welcher es auf eine grundsätzliche Art und Weise überfordert ist, unterzieht, gewinnt das Subjekt seine Autonomie. Der Andere kommt zum Zug, wenn das Selbst zurücktritt. Und indem das Selbst zurücktritt, findet es zu sich selbst. Das ist die Idee des Verzichts als altruistischer Gelassenheit. Was bedeutet das alles für den Begriff des Konsenses? Etwas un188

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§ 22 Die Struktur der idealen Akzeptabilität

vorsichtig formuliert könnte man sagen, ohne einen Primat an Passivität in der Subjektivität gäbe es überhaupt keine Notwendigkeit für einen Konsens, weil es nicht die Notwendigkeit der Zustimmungsfähigkeit gäbe. Gäbe es diesen Primat der Passivität nicht, wäre die Subjektivität suisuffizient. Sie könnte all ihre Leistungen ohne Kommunikativität erbringen. Weil dem aber genau nicht so ist, deshalb bedarf die Subjektivität in ihrer Kommunikativität der Idee eines Konsenses. Näherhin macht die Bestimmung der Idee des Konsenses als Ereignis die Unterscheidung von drei Dimensionen am Akt des Konsenses möglich. Erstens gibt es ein Subjekt, welchem das Ereignis widerfährt. Zweitens gibt es die Exteriorität des Anderen, welche dem Subjekt im Ereignis aufscheint. Drittens stehen Subjekt und Exteriorität damit in einem Verhältnis zueinander. Das Verhältnis eines Subjekts zur Exteriorität des Anderen ist dadurch bestimmt, dass es ein asymmetrisches Verhältnis darstellt. Es kann in diesem Verhältnis nicht einfach einen Rollenwechsel geben. Es ist immer das Subjekt, welches sich den Zugang im Ereignis erschließen muss, und es ist immer die Exteriorität, welche erschlossen wird. Aus diesem Grund ist dieses Verhältnis aber auch hyperbolisch zu nennen, weil das Subjekt sich der Exteriorität in einem Überschusshandeln zuwendet, welches der Abhängigkeit des Subjekts von der Exteriorität geschuldet ist. Eben deswegen steckt in der Idee des Konsenses als Ereignis die Idee des Konsenses als Akt eines Angebots.

§ 22 Die Struktur der idealen Akzeptabilität I.

Der Aufriss der idealen Akzeptabilität

(1) Indem die Theorie der Resignativität als Ergänzung einer Theorie der Intentionalität auftritt, entfaltet sie eine Erklärung dessen, was ideale Akzeptabilität im Rahmen einer offerentiellen Konsenstheorie bedeutet. Ihr Ausgangspunkt liegt in der Radikalisierung der Bestimmung der Subjektivität durch die Andersheit des Anderen, wie sie Levinas denkt, welche eine Radikalisierung der Bestimmung der Individualität besagt. Eine Idee des Konsenses, welche dieser Anforderung zu entsprechen versucht, ist angewiesen auf ein das Vermögen zur Intentionalität übersteigendes Vermögen der Subjektivität. Übereinstimmung bedeutet mehr, als das Vermögen der Intentionalität erwirken A

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kann. Oder, wie Waldenfels es ausdrückt: »Der ›Jemeinigkeit‹ entspricht eine ›Jedeinigkeit‹, die nicht zu meinen Möglichkeiten zählt.« (Waldenfels 2002, S. 227) Dieses das Vermögen der Intentionalität übersteigende Vermögen stellt das Vermögen der Resignativität dar. Das Vermögen der Resignativität ist ebenfalls eine Form von Aktivität, aber eben von anderer Art als die Intentionalität. Wie diese sich etwas durch ihre Absicht erschliesst, so jene durch den Verzicht. Insofern kann das Vermögen der Resignativität auch in keiner Weise das Vermögen der Intentionalität ersetzen. Vielmehr erweitert es unsere Vorstellung von Aktivität, indem sie ihr neben dem Gestalten ein freisetzendes Moment beigesellt. In Anlehnung an Husserl gesprochen, neben das Vermögen intentionaler Selbstauslegung tritt ein Vermögen resignativer Selbstauslegung. Deren gemeinsame Wurzel liegt in der expressiven Intuition, wie sie der Subjektivität zu eigen ist. Das Vermögen resignativer Selbstauslegung bezieht sich auf die Anwesenheit des Anderen im Subjekt, wie sie beispielsweise im Phänomen des Gewissens aufscheint, welches die Stimme des Anderen in mir ist. (2) Ist dem Selbstbewusstsein und in eins damit der Subjektivität das Merkmal der Aktivität zuzusprechen? Mit Frank antworte ich auf diese Frage mit ja, aber in einer gewissen Variation. Frank sagt: »Das Selbst verdankt alles, was es ist (nicht seine Existenz, aber sein Wesen), sich selbst; es gibt keine Rezeptivität / Passivität des ursprünglich selbstbewussten Wesens.« (Frank 2012, S. 34) Bei diesem Satz lohnt es sich zu verweilen. Dieser Satz bildet eine Art Resümee bei Frank zum Abschluss der Überlegungen, welche dafür argumentieren, dass ein Selbstbewusstsein als Kern von Subjektivität durchgängig als aktiv zu verstehen sei. Subjektivität steht unter dem Primat der Passivität. Das ist der Ansatz von Schleiermacher, auch in der Wendung, welche er bei Levinas nimmt, wenn dieser die Passivität als Verantwortlicheit interpretiert. Diese erste Bestimmung, die ich hier ohne weitere Begründung so setze, scheint mir nicht so problematisch wie die zweite Bestimmung, dass nämlich unter diesem Primat an Passivität das Selbstbewusstsein durchgehend aktiv in Bezug auf sein Wesen, nicht auf seine Existenz sei. Dass Aktivität und Passivität derart vereinbar sein sollen, scheint denkbar zu sein, denn die Konzeption einer Aktivität als einer unvollständigen, eingeschränkten Bewegung im Rahmen einer umfassenden Abhängigkeit scheint durchaus möglich. Aber 190

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ist diese Vorstellung von einer durchgehenden Aktivität auch notwendig? Die Beantwortung dieser Frage wirft größere Schwierigkeiten auf. Letztlich geht es hier auch um die Berechtigung der Kritik von Waldenfels an Levinas, wenn Waldenfels auf die Bedeutung des Subjekts als eines souveränen ›Ich‹ abhebt, welches in Levinas’ Bestimmung des Subjekts im ›Mich‹ als Geisel des Anderen unzulässig verkleinert wird. Jetzt komme ich zu Franks Satz, dass sich ein Selbst alles selbst verdanke, was sein Wesen, nicht seine Existenz beträfe. Ich stimme diesem Satz vollständig zu, wenn damit die Zurechenbarkeit von Handlungen in Bezug auf ein Subjekt gemeint ist. Die Zurechenbarkeit des Subjekts muss als ungeschmälert gedacht werden, damit ein Subjekt den Ansprüchen an sich überhaupt nachkommen kann. Dies gilt sowohl für den Aspekt der Verantwortlichkeit eines Subjekts, wie sie im Levinasschen Akkusativ des ›Mich‹ angesprochen ist, als auch für den Aspekt des Tätigsein als Aktivität, wie es im Taylorschen Nominativ des expressiven ›Ich‹ vorausgesetzt wird. Nur in dieser umfassenden Weise kann ein Subjekt als verantwortliches Subjekt gedacht werden. Ich stimme diesem Satz aber in keiner Weise zu, wenn damit die Planbarkeit oder Herstellbarkeit der Handlungen des Subjekts gemeint ist. Das, was ein Subjekt ist, verdankt es in dieser Hinsicht niemals allein sich selbst. Und der Dank eines Selbstbewusstseins wird keinesfalls sich selbst gelten, denn ein Subjekt ist kein solipsistisches Ich. Die Aktivität eines Subjekts ist von vornherein durch die beteiligten und betroffenen Anderen affiziert. Dies gilt nicht nur in einem akzidentiellen Sinne, sondern auch in einem substantiellen Sinne, weil Expressivität bedeutet, dass die Aktivität einer Subjektivität erst im Ausdrucksgeschehen und der damit verbundenen Konfrontation mit den beteiligten und betroffenen Anderen zu sich selbst und damit zu ihrem Wesen als Subjektivität findet. Wenn der Satz von Frank, dass sich ein Selbst alles selbst verdanke, was sein Wesen, nicht seine Existenz beträfe, seine Gültigkeit behalten soll, dann ist damit genau der Punkt bezeichnet, an welchem das Verständnis von Aktivität als Produktivität korrigiert bzw. erweitert werden muss. Aktivität ist nicht einfach Produktivität. Neben dem Vermögen der Intentionalität wird ein anderes Vermögen notwendig, das ich als Vermögen der Resignativität benenne. Aktivität ist Tun und Lassen, neben die Absicht tritt der Verzicht. Genau diese Veränderung im Konzept der Aktivität aber ist letztlich die Konsequenz aus der BeA

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hauptung der durchgängigen Aktivität der Subjektivität unterhalb eines Primats der Passivität. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Passivität und Aktivität möchte ich von daher im Anschluss an die gewonnenen Einsichten in drei Thesen zusammenfassend beantworten: (A) Die Exteriorität ist dem Sein vorgeordnet. Diese These entfaltet den Gedanken der Abhängigkeit menschlichen Seins, wie ihn sowohl Schleiermacher als auch Levinas je auf ihre Art entwickelt haben. Demzufolge gibt es in der Subjektivität einen Primat der Passivität. (B) Sein ist Aktivität als Expressivität. Unterhalb eines Primats der Passivität ist menschliches Sein durchgängig als Aktivität anzusprechen. Der Terminus der Expressivität besagt, dass das Wesen einer Subjektivität in dieser Aktivität seinen Ausdruck findet. (C) Die expressive Aktivität eines Subjekts vollzieht sich sowohl als Intentionalität als auch als Resignativität. Weil Subjektivität durch eine Abhängigkeit geprägt ist, artikuliert sich ihre Teilnehmerperspektive als Aktivität in Anerkenntnis dieser Abhängigkeit nicht nur über die Intentionalität einer Absicht, sondern auch über die Resignativität eines Verzichts. (3) Weil ein Konsens immer auch die ontologische Struktur eines Aktes besitzt, schien es angemessen, den Begriff des Konsenses im vorherigen Kapitel anhand der vier Momente des aristotelischen Modells der Bewegung auszulegen. Denn die Bewegung stellt ja den ursprünglichen Typ eines Aktes überhaupt dar. Nun ist aber der Konsens eine eigentümliche Version eines Aktes insofern, als wir den Akt des Konsenses nicht allein zu Ende bringen können. Ein Konsens ist immer ein Akt mehrerer Subjekte. Streng genommen müsste man sagen, ein Konsens besteht aus dem Zusammenpassen mehrerer Akte unterschiedlicher Subjekte. Da das Zusammenpassen dieser Akte dem Zugriff eines Subjekts dauerhaft entzogen bleibt, stellt der Konsens als Einvernehmen ein unverfügbares Ereignis dar. Für die Struktur des Konsensbegriffes bedeutet dies, dass wir für das Verständnis des Konsenses als Akt eines Subjekts, das heißt als Einverständnis, neben der Ebene von Produktivität und Rezeptivität und der Ebene von Prätention und Appell eine weitere Ebene voraussetzen müssen. Mit der Ebene von Prätention und 192

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Appell kommt die Unterscheidung von Anspruch in der Sache und Anspruch an die Person in den Blick. Die Ebene von Produktivität und Rezeptivität bezieht sich auf das wechselseitig gegebene Erfordernis Einverständnis anzubieten und Einverständnis anzunehmen. Darüber hinaus bedarf es aber einer weiteren Ebene, auf welcher sich das agierende Subjekt der Unzulänglichkeit seiner Aktivität stellt und das Gegenüber des Anderen als Quelle der Einigung anspricht. Ebenso wie das agierende Subjekt im Einverständnis die Einigung mit dem Anderen anstreben muss, ebenso muss sich das agierende Subjekt in Bezug auf den Anderen zurücknehmen, weil es die Ansprüche des Anderen zur Kenntnis nehmen muss. Diese Ebene ist die der Unterscheidung von Intentionalität und Resignativität, von Absicht und Verzicht beim Geben und Nehmen eines Einverständnisses. Erst von dieser Ebene aus wird die Begrenztheit des Subjekts und seine Bindung an den Konsens als Einvernehmen durchsichtig. Unser Ausgangspunkt war die These zur idealen Akzeptabilität. Diese lautete, dass Konsens ein Einvernehmen darstellt, das heißt, Übereinstimmung wird als ein Ereignis offerentieller Reziprozität gedacht. Diese These gilt es in ihren unterschiedlichen Momenten zu entfalten. Erstens geht es um die Bestimmung des Konsenses als Ereignis. Weil Ereignisse immer kontingent sind, deswegen ist ein Konsens streng genommen immer nur a posteriori feststellbar. Zweitens geht es darum, das Verständnis der zum Konsens führenden Aktivität zu beschreiben. Diese Beschreibung führt über die Darstellung der dreifachen Dialektik von Intentionalität und Resignativität, Prätention und Appell, Produktivität und Rezeptivität. Drittens geht es um das Moment des Zusammenpassens von Einverständnissen zu einem Einvernehmen. Es wird zu klären sein, wie die zu einem Einvernehmen gehörende Übereinstimmung sich vollzieht. (4) Die Gesamtheit der hier vorgestellten Elemente lassen sich meines Erachtens zutreffend unter dem Begriff einer offerentiellen Konsenstheorie zusammenfassen. Damit wird ganz entscheidend auf das Moment abgehoben, dass ein Konsens ein Angebot darstellt. Der Annahme einer grundlegenden Abhängigkeit der Subjektivität korrespondiert die expressive Aktivität des Subjektes als Angebot. Die veralteten, aus der kaufmännischen Sphäre stammenden Termini wie Offerte für Angebot oder Offerent für Anbieter bilden die Wurzel für diese Wortschöpfung. A

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Dass der Akzent auf die Bestimmung des Konsenses als Angebot gelegt wird, lässt sich mit folgender Überlegung plausibel machen. Einvernehmen entsteht aus Einverständnis. Hier findet sich ein Wechselverhältnis von Geben und Nehmen. Ein Einverständnis kann ich annehmen. Dann willige ich in das Angebot an Einverständnis des Gegenübers ein. Oder ich kann ein Einverständnis geben, das heißt anbieten. Dann ist das Gegenüber aufgefordert, in dieses Angebot einzuwilligen. Ausschlaggebend ist in jedem Falle, dass die eine Seite niemals ohne freie Zustimmung der anderen Seite zum Ziel gelangen kann. Deshalb gehört zur Bestimmung des Wesens der Übereinstimmung in einer offerentiellen Konsenstheorie der Aspekt einer singulären, antizipativen, asymmetrischen und pathischen Affirmation. Weil ein Konsens als Einvernehmen ein Ereignis darstellt, verbleibt uns als Aufgabe der Konsens als Angebot eines Einverständnisses. Dies bedeutet näherhin, dass ein Einverständnis als einzelner, diskreter Akt auftritt. Der Zusammenhang von Äußerungen eines Diskurses entsteht und besteht nur über Brüche hinweg. Dieser Akt eines Einverständnisses greift auf etwas Gemeinsames vor, das ist die Antizipation als Angebot. Das Angebot enthält eine Affirmation, welche aber asymmetrisch ist. Ob die andere Seite dem Einverständnis folgen wird, ist offen. Das Einverständnis bedarf der Annahme. Insofern ist der einzelne Akt eines Einverständnisses unvollständig und bedarf des Ereignisses der Übereinstimmung. Zusammenpassen im Sinne einer Überein-Stimmung setzt ein Sich-Entwickeln-Lassen voraus. Wenn es um den Gesichtspunkt eines Sich-Entwickeln-Lassens geht, scheinen zwei Wege denkbar. Die eine Variante wird das ›sich‹ eines ›sich etwas entwickeln lassen‹ als einen Standpunkt neben anderen interpretieren. Sie nimmt dadurch einen systemischen Zugang ein, welcher aber den Nachteil mit sich bringt, dass damit der Freigabe, also dem ›zwanglosen Zwang‹ wiederum ein anderer Gesichtspunkt übergeordnet wird. Von daher scheint einzig die zweite Variante angemessen, welche die Beschränktheit des Verzichts in das Moment eines Angebots transformiert. Das Angebot eines Einverständnisses, das ist der am weitesten ausholende Schritt, den wir gehen können. Und er muss das Beste von dem enthalten, was wir geben können, gerade weil das Angebot auf die Freiheit des Anderen zielt.

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II.

Der Impuls der Resignativität

(1) Woher rührt das Interesse an diesem Thema, das ich mithilfe des Ansatzes von Meister Eckhart unter dem Begriff der Resignativiät zu fassen versuche? Es geht darum, dem Verständnis von Aktivität neben dem Produktionsparadigma einen alternativen Bereich zu erschließen, besser gesagt, zurückzugewinnen, der mit der Gleichsetzung von Aktivität und Produktivität im Bewusstsein weitgehend verschüttet worden ist. Meine Kritik an der Einseitigkeit des Produktionsparadigmas bezieht sich auch auf Habermas’ Kommunikationsparadigma, dessen eher systemischer Ansatz im Verständnis des einzelnen Handlungsaktes dem Gedanken der Intentionalität verpflichtet bleibt und damit die Fremderfahrung ausblendet. Durch Eckharts Lehre von der Gelassenheit und ihrem Verständnis von Tun und Lassen wird eine neue Dimension in der Struktur von Aktivität sichtbar. Neben das Konzept der Intentionalität mit der Absicht tritt das Konzept der Resignativität des Verzichts. Der Begriff der Resignativität erlaubt die Beschreibung all der Formen der Aktivität, welche nicht im Konzept der Intentionalität aufgehen, die aber unabdingbar sind für das Verständnis dessen, was ideale Akzeptabilität heißt. Es geht um die bereits thematisierten Stichworte wie Lassen, Zulassen, Freigabe, Empfangen usw. Der Intentionalität ist eine teleologische Struktur eigen. Das heißt, in allem Handeln gibt es eine Finalität, ein ›um zu‹ oder ein ›um willen‹. Die Idee der Gelassenheit, welche Eckhart eingeführt hat, meint Abgeschiedenheit, also das von sich selbst Absehen. Der Gerechte kümmert sich ausschließlich um die Gerechtigkeit. Dadurch sieht er von sich ab, er lässt sich sein und kommt zu sich, indem er sich in der Gerechtigkeit findet. Damit tritt eine andere Form von Aktivität neben die Intentionalität. Die Struktur des Bewusstseins ist nicht immer eine der Intentionalität. Dies gilt nur, wenn der Gegenstand des Bewusstseins ein Objekt ist. Dass es noch eine andere Art von Aktivität neben der Intentionalität gibt, darauf hat Husserl bereits hingewiesen, indem er Vorgänge thematisierte wie die passive Synthesis. Die andere Form der Aktivität neben der Intentionalität benenne ich als Resignativität. Mit Resignativität sind beispielsweise solche Vorgänge gemeint wie etwas abziehen, von etwas wegsehen, etwas freigeben oder freisetzen, auf etwas verzichten, loslassen. Der Ausdruck des re-signare bedeutet ursprünglich soviel wie Abdankung oder Thronverzicht. Die Zeichen A

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der Macht werden zurückgegeben. Genau darum geht es in der Beschreibung der Subjektivität. Das Subjekt verzichtet auf seine Selbsterhaltung, um dem fremden Gegenüber gerecht zu werden. Bei Thomas von Kempen, der das aus der mittelalterlichen Philosophie Meister Eckharts stammende Stichwort der Gelassenheit mit ›resignatio‹ übersetzt hat, lesen wir die bekannte Maxime des Mönchtums, dass es darauf ankomme, »sich selbst richtig zu erkennen und geringzuschätzen« (Thomas von Kempen 2010, S. 12). Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis ist eine Forderung, welche die Philosophie seit ihren Anfängen begleitet, wenn Philosophie im weiteren Sinne irgendetwas mit Aufklärung zu tun haben soll. Eine besondere Färbung gewinnt die Forderung zur Selbsterkenntnis dann, wenn sie mit der Forderung zur eigenen Geringschätzung verbunden wird. Wörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck des ›pro nihil reputari‹, der hier als Geringschätzung wiedergegeben ist, soviel wie ›sich für nichts zu halten‹. Warum aber soll sich das Selbst, das sich erkennen will, für nichts halten? Eine Antwort auf diese Frage gibt eine andere Textstelle bei Thomas von Kempen, welche lautet: »Denn sobald sich die Gnade Gottes dem Menschen mitteilt, vermag er alles.« (ebd., S. 59) Das heißt, das Selbst solle sich für nichts halten, damit Gott in ihm, mit ihm und durch es wirken kann. Es geht nicht um eine Abwertung des Selbst in dem Sinne, dass es als Selbst überhaupt zu nichts taugen würde. Vielmehr geht es darum, dass das Selbst allein aus sich heraus nicht zu mehr taugt, als es immer schon mitbringt. Ist das Selbst aber auf mehr angewiesen, als es aus sich heraus aufzubringen vermag, dann taugt es genau dann zu etwas, wenn es die empfangene Gnade Gottes zum Ausdruck bringt. Insofern bedeutet die Aufforderung an das Selbst zur Geringschätzung seiner selbst soviel wie die Aufforderung zur Öffnung seiner selbst. Das heißt, Demut wird als Bedingung zur Offenheit gedacht. Am Beginn der Selbsterkenntnis steht der Verzicht auf Selbstbehauptung, der Verzicht, welcher diese Öffnung auf den Anderen hin darstellt. In diesem Verzicht als Offenheit für den Anderen besteht das Moment der Resignativität. Der noematische Aspekt der Aktivität bezieht sich auf den Gegenstand der Finalität. Universalistisch gesehen geht es hierbei um Inklusion statt Exklusion. Inklusion meint alle anderen. Alle anderen sind alle. Nicht abstrakt sondern konkret gesehen heißt das, wenn es um alle anderen geht, geht es um den jeweils anderen, der mir begegnet. Das ist anderswer, autrui. Insofern bildet die Achtsamkeit einen Horizont 196

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aus, von welchem her und auf den hin die Aufmerksamkeit wirkt. Mich selbst finde ich dann in dem Umweg über den jeweils anderen. Was bedeutet dann Eckharts Idee der Abgeschiedenheit oder Gelassenheit als Resignativität? Sie bedeutet eine Alternative zur Struktur der Finalität. Die Veränderung zu dieser Alternative hin geschieht im Mechanismus der Exklusion und Selektion, auf einer Metaebene. Der Auswahlmodus wird bestimmt durch oder orientiert auf Partizipation und Inklusion. Selektion und Exklusion werden von Partizipation und Inklusion her interpretiert. Der noetische Aspekt in der Aktivität bezieht sich auf den Vorgang des Wählens, also der Selektion und Partizipation. Ich wähle eine Finalität und wähle mit diesem Zug andere Finalitäten ab. Wenn ich mir mit der Option für die Inklusion der Achtsamkeit bewusst werde, verändert sich die Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit bleibt Merkmal der Aktivität, aber sie weiß, dass sie gewählt hat, sie weiß, was sie abgewählt hat, und sie achtet auf die Ränder dessen, was sie gewählt hat. Die Aufmerksamkeit setzt sich nicht absolut, sie lässt sich überraschen, sie lässt sich korrigieren. An dieser Stelle muss ich eine Anmerkung zu meiner eigenen Terminologie machen. In der ersten Auflage dieses Buches habe ich den Konsensbegriff des Einvernehmens als pathischen Konsensbegriff charakterisiert. Den Begriff des Pathischen habe ich gewählt, um das Moment des Zulassens, Empfangens oder Annehmens eines Konsenses zu bezeichnen. An dieser Beschreibung halte ich jederzeit fest. Aus heutiger Sicht aber scheint mir der Terminus des Pathischen zu unscharf gewählt in Bezug auf die präzise Unterscheidung von Aktivität und Passivität. Denn einen Konsens muss ich immer eingehen im Sinne eines Anbietens und Annehmens, aber ich kann einen Konsens niemals erleiden. Deshalb spreche ich jetzt an dieser Stelle von einer mehrfachen Dialektik von Intentionalität und Resignativität, von Produktivität und Rezeptivität. (2) Der Begriff des Konsenses wurde als Ereignis idealer Akzeptabilität bestimmt. Ideale Akzeptabilität kann eine Verpflichtung gegenüber dem Gesetz, so sieht es Kant, oder gegenüber dem Anderen, so sieht es Levinas, enthalten. In jedem Falle aber stellt die Pflicht eine selbstgesetzte Regel dar. Eine solche Regel unterliegt nach Harry Frankfurt (vgl. dazu Seel 2002, S. 291) dem Paradox, dass wir uns auf etwas festlegen, worauf wir bereits festgelegt sind. A

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»Wir treffen unsere tragenden existentiellen Festlegungen nicht in der Weise, dass wir erst eine bewusste und begründete Wahl dieser oder jener uns wertvoll erscheinenden Zielsetzung vornehmen, um uns dann auf den Weg ihrer Verwirkllchung zu machen. Vielmehr konstituiert die Leidenschaft für eine Sache den Weg, den sie für uns hat oder gewinnt …« (ebd., S. 292)

Das heißt, wir wählen etwas, was wir uns selbst vorgegeben haben. Insofern scheint unsere Selbstverpflichtung eine Antwort auf unsere eigene Entscheidung zu sein. Damit gewinnt die Sichtweise von Levinas an Plausibilität, dass es in der Verantwortlichkeit darum ginge, wie wir uns gegenüber dem Anderen verhalten, dem wir immer schon verpflichtet sind. Annehmen als Nehmen ist dann nicht als Wegnehmen im Sinne einer privatio zu verstehen, sondern als Entgegennehmen oder Empfangen im Sinne einer conceptio. Dieses aber impliziert ein konzessives Lassen als Gewährenlassen. Damit gerät das Lassen in einen Gegensatz zur Intentionalität. Intentionalität wird üblicherweise verstanden als Gerichtetheit oder Gerichtetsein. In Husserls Sinne gilt sie als bewusstes Handeln, deren Bewusstheit insofern Intention zu nennen ist, als ein Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. Hier wäre die Frage zu stellen, wie diese Gerichtetheit oder dieses Gerichtetsein zu verstehen ist. Handelt es sich um Materialität im Sinne von Inhaltlichkeit oder um Finalität im Sinne einer Zielbestimmtheit? Ich neige dazu, der Intentionalität beide Aspekte in dem Sinne zuzuschreiben, dass die Materialität den Ausgangspunkt, die Finalität den Endpunkt darstellt. Die spezifische Arbeit der Intentionalität läge dann dazwischen als Übergang von einem Befasstsein mit einem Inhalt hin zu einem zielgerichteten Handeln. Die alleinige Lesart der Finalität verengt die Inhaltlichkeit auf eine unzulässige Weise. Denn jedes zielgerichtete Handeln ist ein Handeln, aber nicht jedes Handeln ist zielgerichtet. Es gibt auch Handlungen oder Handeln ohne Zielausrichtung, beispielsweise einfache Wiederholungen oder Handlungen, die unbestimmt bzw. vage oder probierend angelegt sind usw. Das bedeutet, Intentionalität meint in einem ersten Schritt einfach, dass an einer Handlung das Handeln selbst als Tätigkeit und sein inhaltliches Bestimmtsein zu unterscheiden sind. Genau dies scheint mir auch der Sinn der Husserlschen Unterscheidung von Noesis und Noema zu sein. In einem zweiten Schritt ließe sich dann aber die Materialität näher bestimmen, z. B. als Finalität im Fall der Zielgerichtet198

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heit einer Handlung. Oder aber und alternativ dazu möchte ich an dieser Stelle den Handlungsbegriff von Meister Eckhart mit seinem Konzept der Gelassenheit ins Spiel bringen, die Materialität einer Handlung könnte als Resignativität beschrieben werden. In diesem Fall ginge es um das Gegenteil eines Hinsehens auf etwas, es ginge um ein Absehen von etwas, um ein Ausklammern, ein Weglassen, ein Preisgeben oder ein Verzichten. Auch in diesem Falle liegt eine inhaltliche Bestimmtheit vor. Der Umgang mit dieser inhaltlichen Bestimmtheit ist aber ein gänzlich anderer als der im Falle der Zielgerichtetheit. Bei der Resignativität geht es um ein Sich-auf-etwas-Beziehen durch Wegsehen. Dieser Vorgang ist auf eine Art immer noch ein Tun, also eine Aktivität. Aber er stellt kein Tun im Sinne eines Herstellens oder Hervorbringens dar. Vielmehr geht es um ein Tun als Lassen. Von hier aus können ganz unterschiedliche Formen einer Tätigkeit erschlossen werden, die alle dem Impuls der Resignativität folgen, wie er der Lehre von der Gelassenheit zu eigen ist. Erstens kann man Tun und Nicht-Tun unterscheiden. Das gilt in dem einfachen Sinne, dass ich die Möglichkeit habe, etwas zu tun oder es nicht zu tun. Beispielsweise kann ich mich dafür entscheiden, ins Kino zu gehen, oder ich entscheide mich dafür, nicht ins Kino zu gehen. In diesem Falle würden wir sagen, ich lasse es, ins Kino zu gehen, besser formuliert, ich lasse es bleiben, ins Kino zu gehen. Dieser Unterscheidung liegt die Logik von Affirmation und Negation zugrunde. Entweder entscheide ich mich für etwas, das ist die Form der Bejahung, oder ich entscheide mich dagegen, das ist die Form der Verneinung. Von Husserl werden diese beiden Optionen als Unterstreichen bzw. Durchstreichen einer Proposition gefasst. Beachtenswert ist die Asymmetrie der beiden Vorgänge zueinander, obwohl Affirmation und Negation auf den ersten Blick sich scheinbar sehr symmetrisch verhalten im Wechsel von Zustimmung und Ablehnung. Die Affirmation wählt eine Möglichkeit aus vielen Möglichkeiten aus, die Negation schließt eine Möglichkeit aus vielen aus. Auf eine Art wählt die Affirmation mit ihrer konkreten Bezugnahme auf etwas eine Bestimmtheit, während sich die Negation mit ihrem einfachen Ausschluss letztlich viele Möglichkeiten offen hält und sich mit ihrer Entscheidung gegen eine Bestimmtheit für die Unbestimmtheit ausspricht. Auf der anderen Seite gewinnt die Negation mit ihrem einen Ausschluss durch ihre Eindeutigkeit ein Maximum an Gewissheit, während die Affirmation mit ihrer einen Be-

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jahung das Risiko der Mehrdeutigkeit vieler parallel anzuschauender Aspekte und Möglichkeiten eingeht. In einem zweiten Schritt kann man Tätigsein wie gezeigt in Tun und Lassen unterscheiden. Dies gilt im Sinne eines Hinsehens auf etwas oder eines Absehens von etwas, eines Sich-Zuwendens oder eines Sich-Abwendens. Während die eine Seite des Tuns als Sich-Zuwenden eine Erweiterung der Vorstellung von der Affirmation zu sein scheint, bekommt die andere Seite des Lassens als Sich-Abwenden eine Bedeutung, welche die der reinen Negation überschreitet. Denn das Absehen von etwas oder das Sich-Abwenden von etwas kann als konzessives Zulassen verstanden werden. Ein konzessives Zulassen ist ein Gewährenlassen oder Geltenlassen, kein Bleibenlassen. Es geht hier nicht um die Ablehnung eines bestimmten Sachverhalts o. ä., sondern es geht um die Ablehnung einer bestimmten Art und Weise des eigenen SichBeschäftigens mit etwas oder des eigenen Sich-Einmischens. Wenn ich jemanden oder etwas gewähren lasse, dann ist in meiner Option immer noch eine Affirmation enthalten, aber auch eine Negation, nämlich in Bezug auf meine eigene Art von Tätigkeit. Ein solches Zulassen oder Gewährenlassen, aus welchem die eckhartsche Gelassenheit oder Abgeschiedenheit hervorgeht, ist jederzeit eine Tätigkeit. Es handelt sich keinesfalls um eine Passivität in dem Sinne, dass ich etwas erleiden würde oder dass etwas mit mir gemacht würde. Ein Zulassen stellt immer ein aktives Tun dar, aber eben ein Tun, welches kein Herstellen oder Hervorbringen bedeutet. In einem dritten Schritt kann man die Tätigkeit darauf aufbauend weiter differenzieren in ein Geben und Nehmen. Die eine Seite ist das Tun als Geben, die andere Seite ist das Tun als Nehmen, genauer als Entgegennehmen, das heißt als Aufnehmen und Annehmen. In der Unterscheidung von Geben und Nehmen geht es um die Logik von Produktivität und Rezeptivität. Wichtig ist es zu sehen, dass Produktivität und Rezeptivität nicht einfach mit Intentionalität und Resignativität gleichzusetzen sind. In jedem Akt der Produktivität steckt ein Moment an Resignativität in dem Sinne des Seinlassens, jetzt ist es genug, das muss ausreichen. Umgekehrt steckt in jedem Akt der Rezeptivität ein Moment an Intentionalität im Sinne einer bewussten Aufmerksamkeit, welche sich auf einen Gegenstand richtet. Wiederum scheint die Tätigkeit des Produzierens sich dem Verständnis einfacher zu erschließen, wenn man davon ausgeht, dass beim Produzieren das affirmierende Tun etwas hervorbringt, was als Pro200

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dukt seiner Tätigkeit gelten kann und was weitergegeben werden kann. Die Tätigkeit des Rezipierens treibt dagegen den Gedanken des Lassens als Zulassen weiter, wenn beim Gewährenlassen etwas auftritt, was es dennoch zu bejahen gilt. Die Affirmation an dieser Stelle bedeutet sowohl ein Aufnehmen als auch ein Annehmen. Das, was ich zugelassen habe, empfange ich. Nochmals kurz zusammengefasst heißt Verzicht in Bezug auf das Subjekt Loslassen. In Bezug auf die Exteriorität wird der Verzicht zum Freilassen oder Freigeben. Dadurch kommt dann die Dimension des Schenkens und Beschenktwerdens ins Spiel. Die Unterscheidung der Aktivität als Produktivität und Rezeptivität folgt dem Verständnis der Arbeitsweise des Intellekts. Der Intellekt nimmt zum einen bestimmte Inhalte aus der Erfahrung auf und verarbeitet diese zum anderen mittels seines Vermögens an Vernunft. Genau an der Interpretation dieses Vorgangs gehen die Positionen von Rationalismus oder Empirismus auseinander, je nach dem, welchem Teil des Erkenntnisvorgangs, dem Aufnehmen oder dem Verarbeiten der Vorrang eingeräumt wird. Für unser heutiges Verständnis bietet Kants Auffassung dieses Vorgangs eine gewisse Schwierigkeit, obwohl es ja gerade in Kants Absicht lag, das Gegeneinander von Rationalismus und Empirismus zu überwinden. Kants Empfehlung ist bekannt: »Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.« (Kant KrV 25)

Das heißt, Kant optiert an dieser Stelle für Spontaneität und gegen Rezeptivität. Mit dem Ausdruck der Spontaneität wird das Verständnis an diesem Punkt aber meines Erachtens eher erschwert als erleichtert. Denn wie gezeigt, kann und muss auch die Rezeptivität als Aktivität und damit als Spontaneität verstanden werden. Spontaneität und Rezeptivität bilden überhaupt keinen Gegensatz in der Hinsicht, dass es in beiden Fällen um ein Tun, um Aktivität geht. Umgekehrt tappt man mit der Annahme der Spontaneität recht schnell in die Falle der Voraussetzungslosigkeit. Es gibt aber kein Handeln ohne irgendwelche Voraussetzungen. Die Frage ist nur, ob ich die Voraussetzungen kenne. Jedes Handeln, jede Handlung kennt Voraussetzungen in dem Sinne, dass sich die Handlung auf etwas bezieht und sich in einem bestimmten A

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Rahmen bewegt. Es ist immer schon etwas gegeben. Der Ausdruck der Spontaneität kann sich von daher nur mit Recht auf das selbstgesteuerte Moment subjektiver Tätigkeit beziehen, anders ausgedrückt auf das Moment an Eigensinn, welches in einer Handlung zum Ausdruck kommt. Spontaneität als Eigensinn, das ist genau der Punkt, an dem die Wasserscheide von Aktivität und Passivität verläuft. Parallel zur Terminologie der Grammatik formuliert: Entweder ich tue etwas, oder ich erleide etwas. Und wenn überhaupt so etwas wie Handeln, Sich-Entscheiden, Sich-Einbringen, Sich-Einmischen, Sich-Beteiligen usw. möglich sein soll, dann muss es dieses Moment an Eigensinn geben, welches ich als Handelnder in meine Aktivität hineinlege. Nichts anderes aber ist das, worauf Husserl mit dem Begriff der Intentionalität abzielt. Um auf Kant zurückzukommen, es muss einerseits sehr wohl diesen Punkt der Spontaneität im Sinne einer reinen Tätigkeit geben, weil es der Punkt ist, an dem eine Perspektive entsteht, in der und mit der ein Subjekt seine Welt hervorbringt. Andererseits sind für den Begriff der Tätigkeit die Dimensionen der Produktivität und der Rezeptivität voneinander zu unterscheiden. Es gibt Tätigkeit als Tun und Lassen, als Geben und Nehmen, als Produzieren und Rezipieren. (3) Bei Habermas findet der Gedanke der Herrschaftsfreiheit seinen Ausdruck in der Formulierung, dass Herrschaftsfreiheit dann gegeben sei, wenn alle Beteiligten und Betroffenen eines Diskurses ausschließlich dem ›zwanglosen Zwang der Vernunft‹ (Habermas) folgen würden. In Abwandlung der bekannten Gedichtzeile von Erich Fried ›Freiheit herrscht nicht‹, welche als Kritik an der gebräuchlichen Wendung ›Bei uns herrscht Freiheit‹ gelesen werden kann, könnte man formulieren: ›Konsens herrscht nicht‹. Auch dieser Ausdruck richtet sich gegen ein Verständnis in dem Sinne, hier herrscht Konsens darüber, dass usw. Wenn also Konsens etwas mit Herrschaftsfreiheit zu tun haben soll, was bedeutet das für unser Verständnis vom Konsens? Die Idee des Konsenses folgt, das ist jedenfalls meine Behauptung, einer Dialektik von Intentionalität und Resignativität, von Gerichtetheit und Gelassenheit, von Absicht und Verzicht. Der Ausgangspunkt für diesen Gedanken liegt in der Einsicht, dass jedes Hinsehen auf etwas im gleichen Zug immer ein Absehen von etwas impliziert. Oder weiter ausgeführt, jede Inklusion impliziert eine Exklusion, jede Partizipation eine Selektion. Aber, und das ist die 202

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Kehrseite dieses Gedankens, nicht jedes Absehen von etwas impliziert ein Hinsehen auf etwas. Jede Absicht impliziert einen Verzicht, aber nicht jeder Verzicht impliziert eine Absicht. Im Verzicht liegt eine Offenheit für das Unbestimmte, welche mit einer Absicht auf Bestimmtes verbunden werden kann, aber nicht verbunden werden muss. Der Verzicht ist sozusagen nicht nur die hässliche oder zumindest unvermeidliche Kehrseite der Absicht. Der Verzicht besitzt eine ganz eigene Qualität in dem Sinne, dass der Verzicht diejenige Aktivität bezeichnet, welche ein Ereignis zulässt. Im Ereignis, genauer im Zulassen des Ereignisses öffnet sich ein Raum. Karel Košik hat dies an Schwejks Erlebnissen als Kommandant von Bulguma erläutert (Košik 1999, S. 352). Wenn man sich nicht entscheiden kann zwischen zwei ganz schlechten Alternativen, gibt es immer noch die Option eines Nicht-Handelns, welche einen Ort jenseits der Feindschaft eröffnet. Der Verzicht ist diejenige Aktivität, die dem Anderen Raum gibt, welchen er benötigt, um als Subjekt auftreten zu können. Indem der Verzicht von etwas absieht, öffnet er sich dem Unbestimmten. Er richtet sich nicht auf einen konkreten Gegenstand in dessen Anwesenheit. Insofern bildet der Verzicht das genaue Gegenstück zur Absicht in ihrer Intentionalität mit Noesis und Noema. Verzicht als Gegenstück von Absicht ist nicht-intentional ausgelegt. Aber in diesem Zug des Sich-Öffnens liegt noch mehr als das einfache Absehen von etwas. In einem der heideggerschen Unterscheidung von Angst und Furcht ähnlichen Sinne könnte man sagen, dass sich der Verzicht auf das Unbestimmte bezieht. Der Verzicht lässt ab vom Bestimmten, um sich dem Unbestimmten zuzuwenden. In einer Formulierung von Levinas heißt das, es gäbe so etwas wie die Anwesenheit des Anderen in seiner Abwesenheit. Der Verzicht kennt sehr wohl ein ›um willen‹, einen Horizont, von dem her und auf den hin der Verzicht ausgeübt wird. Dieser Horizont ist der Andere, um dessentwillen der Verzicht ausgeübt wird, denn wenn jedes Hinsehen auf etwas ein Absehen von etwas einschließt, dann setzt das Hinsehen auf den Anderen ein Absehen des Subjekts von sich selbst voraus. Das heißt, das Absehen von sich selbst ist die notwendige Bedingung dafür auf einen Anderen hinsehen zu können. Als Inspiration für den Hintergrund dieser Überlegungen mag das Modell des Zimzum als der ›contractio dei‹ dienen, wie es Isaak Luria in seiner Lichtmetaphysik entwickelt und wie es beispielsweise auch

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Habermas in seinen Überlegungen zu Schelling rezipiert hat. Die Vorstellung des Zimzum ist nach Scholem folgende: »Es heißt kurz gesagt, daß die Existenz des Weltalls durch einen Prozeß des Einschrumpfens in Gott möglich gemacht wurde. […] Der erste aller Akte des unendlichen Wesens, des En-sof, war also, und das ist entscheidend, nicht ein Schritt nach außen, sondern ein Schritt nach innen, ein Wandern in sich selbst hinein, eine, wenn ich den kühnen Ausdruck gebrauchen darf, Selbstverschränkung Gottes aus sich selbst in sich selbst.« (Scholem 1991, S. 286 f.)

Oder, wie es Scholem nochmals anders ausdrückt: »Gott hat ›sich selbst von sich selbst auf sich selbst‹ beschränkt.« (ebd., S. 442 Anm. 45) Die Idee der Selbstverschränkung Gottes ist Ausdruck einer Selbstbegrenzung Gottes, deren Motiv in der »Freigabe des eigenen Platzes für ein anderes« (Habermas 1969, S. 127) liegt. Gott hat sich in sich zurückgezogen hat, um den Menschen freizusetzen. Es ist diese Bewegung der Freisetzung, welche den Grundgedanken des Verzichts ausmacht. Indem der Verzicht das Bestimmte wegräumt, schafft er Platz für das Unbestimmte. Diese Bewegung stellt die Bewegung einer Öffnung dar. Für das Subjekt bedeutet dies, dass es in eine Haltung des Wartens und der Erwartung gerät, welche aber durchaus mit Aufmerksamkeit verbunden ist. Diese folgt allerdings keiner bestimmten Richtung, sondern ist frei vagabundierend. In dieser Unbestimmtheit aber liegt die Funktion, dem Anderen den Raum zu gewähren, in dem er seine Initiative entfalten kann. Nur im Absehen von sich selbst kann das Subjekt den Anderen wahrnehmen.

III. Die Logik der reziproken Akzeptanz (1) Die eckhartsche Idee der Abgeschiedenheit als ›ledichheit‹ ist nicht einfach die Passivität einer Kraft, sie steht jenseits der Alternative von Aktivität und Passivität. Die Seele nimmt Gott nicht in dem Sinne auf wie das Holz das Feuer, was dazu führen würde, dass das Holz verbrennen würde. Der Intellekt »muoz liden die überformunge gotes« (Flasch 2010, S. 158), das heißt, der Intellekt nimmt die Vorstellungen Gottes an im Sinne des Anziehens eines Kleides oder des Aufnehmens eines Inhalts. Denn das Spezifische der Arbeitsweise des Intellekts liegt darin, dass das Erkennende durch das Erkennen dem Erkannten gleich wird. Indem sich das Erkennende dem Erkannten öffnet, nimmt es das 204

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Erkannte in sich auf. »Die geistige Erkenntnis und das geistig Erkannte sind eins.« (ebd., S. 120; vergleiche hierzu auch Eckhart über »geistige Gefäße« (Eckhart Werke I, S. 187)). Der Mensch ist ein Gefäß Gottes, ja das ist er, aber er ist auch mehr als das, weil Begegnung mehr ist als sinnlich erfahrbares Auffüllen. Begegnung erfolgt als geistiges Auffüllen nach dem Modell des Intellekts, bei dem Aufnehmen bedeutet, dass das Erkennende und das Erkannte eins werden. Nochmals anders ausgedrückt am Beispiel der Tugend der Gerechtigkeit: Wenn der Gerechte gerecht handelt, dann sind der Gerechte und die Gerechtigkeit eins. Im Begriff der Gelassenheit kommen Wirken und Werden zu einer Einheit. Wenn Gott in mir wirkt, dann werde ich. Gelassenheit ist ein werdendes Wirken, dessen Streben einem Empfangen entspringt. (2) Für den Begriff der Aktivität ist entscheidend, dass mit der eckhartschen Theologie eine Dialektik des Handelns in mehreren Schritten sichtbar wird. Erstens geht es um eine Dialektik von Tun und Lassen. Neben das absichtsvolle Tun tritt das absichtslose Lassen als ein Wegsehen oder Absehen und damit als ein Geschehenlassen. Der intrinsische Charakter des Handelns wird auf diese Weise gegenüber der extrinsichen Auffassung gestärkt, weil das Ziel dem Handeln so verbunden ist, dass das Ziel keinem äußerlichen Zweck mehr dienen kann. Es ist ein Handeln ohne Warum, einfach aus sich selbst heraus, ähnlich dem Bogenschützen, der im Akt des Zielens das Zielen vergisst und den Pfeil dann loslässt, wenn ›es‹ der richtige Zeitpunkt ist zu schießen. Die zweite Dimension bildet die Dialektik des Gebens und Nehmens. Das Lassen im Gegensatz zum Tun macht nur dann Sinn, wenn es etwas gibt, was ich mit dem Lassen erreichen kann, auch wenn ich davon absehe, es erreichen zu wollen. Das heißt, es geht um ein Empfangen. Das ist das Moment des Nehmens. Handeln besteht aus Geben und Nehmen. Die dritte Dimension ist die des Anbietens und Annehmens. Denn Geben und Nehmen sind Akte eines Subjekts im Blick auf ein anderes Subjekt, welche dem Eigensinn des jeweils anderen aber nicht vorgreifen können. Die Dialektik von Geben und Nehmen verwandelt sich in eine Dialektik von Anbieten und Annehmen, in welcher sich die Individualität in einer diachronen Bewegung realisiert. An dieser Stelle taucht dann die Frage nach dem Moment des Zusammenpassens auf, wenn denn in der Dialektik des Handelns die eine Initiative mit der anderen zusammentreffen können soll.

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(3) Das Eigentümliche an der Rolle des Anderen ist nach Levinas die Abwesenheit des Anderen, welche umgekehrt die Anwesenheit des Anderen in meiner Absicht bedeutet. Es gibt kein ›Zwischen‹ einer dialogischen Philosophie, es gibt nur reine Hermeneutik, puren Solipsismus überspitzt gesagt, welcher die Erfahrung des Fremdverstehens in der Stufe fünf nach Alfred Schütz nicht zu überspringen vermag. Genau deshalb bedarf es neben der Absicht auch des Verzichts, also des Absehens von sich selbst, um den Anderen wahrzunehmen. Aktivität als Expressivität vollzieht sich auf zwei Arten, mit Eckhart formuliert als Tun und Lassen. Tun und Lassen bilden deshalb einen konträren, keinen kontradiktorischen Gegensatz innerhalb aller Aktivität. Es geht um die Einarbeitung der Affirmativität und der Negativität in die Aktivität. In dieselbe Richtung weist Martin Seel, wenn er das Lassen als Tun interpretiert, das heißt, als ein Handeln im Sinne des »Ergreifens einer Verhaltensmöglichkeit« (Seel 2002, S. 271). Diese Auffassung stellt sich quer zu Heideggers Ansicht, welcher das Lassen ausschließlich als ›Nicht-Tun‹ interpretiert. Lassen ist aber eine Form des Handelns, nämlich des »Sicheinlassens-auf« (ebd., S. 275) was dazu führt, dass die Autonomie der Subjektivität anders gedacht werden muss. »Jedes Sicheinlassen enthält eine Affirmation des Unbestimmbaren in der Bestimmtheit des Denkens und Handelns.« (ebd., S. 275) Lassen ist in einem ersten Schritt Nicht-Tun. Etwas unterbleibt. In der Rechtsprechung gibt es dazu einen Ansatzpunkt, den Begriff der unterlassenen Hilfeleistung. Nicht-Tun wird hier als zurechenbare Handlung interpretiert. Entscheidend für das Verständnis des NichtTuns ist die Einsicht in die Art und Weise der Negation. Die Negation als ›Durchstreichen‹ (Husserl) eines Bestimmten bedeutet die Öffnung zum Unbestimmten. Es geht um die Gewinnung einer Leerstelle. Die Grundlage des Nicht-Tuns ist der Gedanke des Verzichts, etwas bleibenlassen. In einem zweiten Schritt wird das Lassen zum Zulassen. Die Einbeziehung der Leerstelle bedeutet, dass ich etwas sich entwickeln lasse. Es geht darum, dass ich mich zurücknehme, um etwas anderes zum Zuge kommen zu lassen. Ich sehe von etwas ab, weil weniger vom einen mehr vom anderen ist. Es geht darum, dem Anderen Raum zu gewähren, indem sich ein Subjekt selbst beschränkt. In einem dritten Schritt geht es um die Konsequenz aus dem Zulassen in der Hinsicht nämlich, was dieses Zulassen des Anderen für mich bedeuten kann. Der Gedanke des Verzichts richtet sich auf den Anderen, um dessentwillen 206

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ich etwas preisgebe oder freisetze. Lassen wird zum Empfangen, zum Empfangen eines freien Gegenübers auf Augenhöhe. Es geht im Empfangen um die Möglichkeit des Schenkens und Beschenktwerdens. (4) Es gibt Aktivitäten, die man nicht alleine zu Ende bringen kann. Zu diesen gehört beispielsweise der Konsens. Insofern stellt sich die Frage, wie aus einem Einverständnis ein Einvernehmen werden kann. Es geht hier um die ontologische Struktur des Aktes, welcher zur Übereinstimmung führt. Die Logik der reziproken Akzeptanz des Konsenses als Akt eines Einverständnisses unterliegt einer dreifachen Dialektik. Deren Struktur möchte ich anhand zweier Modelle aus der sprachanalytischen bzw. sprachpragmatischen Philosophie veranschaulichen. Zum einen beziehe ich mich auf das Modell der Sprechakttheorie von Searle, zum anderen auf Brandoms Diskursmodell. Die Sprechakttheorie von Searle (Searle 1983, S. 40) folgt der Auffassung, dass Sprechen eine Handlung bedeutet. Indem ich spreche, tue ich etwas. Searle geht der Frage nach, welche Momente in einem Sprechakt wirksam sind. Er unterscheidet erstens das lokutionäre Moment am Sprechakt. Hier geht es um den Wortlaut des Sprechaktes, sozusagen um das ›Gesagte‹. Das ist das Moment des Sachbezugs. Das zweite Moment ist das perlokutionäre Moment. Das perlokutionäre Moment bezeichnet das, was ich mit meiner Äußerung beim Anderen erreichen möchte. Es geht um die beabsichtigte Wirkung, den Fremdbezug. Das dritte Moment ist das illokutionäre Moment, der Ichbezug. Das illokutionäre Moment bezieht sich darauf, was der Sprecher in seiner Äußerung von sich selbst zum Ausdruck bringt. Es geht um den Ausdruck der Absicht des Sprechers selbst. In gewisser Weise ist dieses illokutionäre Moment dasjenige, welches den Rahmen des Sprechaktes stiftet. Die Logik der reziproken Akzeptanz des Konsenses als Einverständnis lässt sich recht zwanglos diesen Momenten von Sachbezug, Ichbezug und Fremdbezug zuordnen. Auf der Ebene des illokutionären Moments geht es um die Dialektik von Intentionalität und Resignativität, von Absicht und Verzicht. Indem das Lassen neben das Tun tritt, wird der Andere als Gegenüber einer auf Übereinstimmung zielenden Äußerung wahrgenommen. Auf der Ebene des perlokutionären Moments geht es um die Dialektik von Prätention und Appell, von Anspruch in der Sache und Anspruch vom Anderen her und auf den Anderen hin. Anspruch in der Sache und Anspruch in Bezug auf die A

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Person thematisieren das Ziel der in der Äußerung implizierten Übereinstimmung. Und auf der Ebene des lokutionären Moments geht es um die Dialektik von Produktivität und Rezeptivität, von Herstellen und Empfangen. Einverständnis geben und nehmen, Einverständnis anbieten und annehmen sind die beiden Seiten, die zueinander finden müssen, wenn eine Übereinstimmung erzielt werden soll. Mithilfe dieses Modells und seiner Differenzierung in die drei Momente lässt sich zeigen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit aus einem Einverständnis ein Einvernehmen wird. Übereinstimmung findet statt, wenn es ein Zusammenpassen eines Einverständnisses mit einem anderen Einverständnis in den drei Dimensionen von Intentionalität und Resignativität, Prätention und Appell, Produktion und Rezeption gibt. In der Wechselseitigkeit der Momente geht es nicht um das Finden einer Mitte durch Vermittlung in welcher Form auch immer. Vielmehr geht es darum, dass alle Momente durchlaufen werden, damit ein Zusammenpassen gelingen kann. Dieses Zusammenpassen ist dann als gelungen anzusehen, wenn die Stimme des Anderen ihren Raum findet. Dass aus einem Einverständnis aber tatsächlich ein Einvernehmen wird, das bleibt immer ein Ereignis. Insofern stößt die Wechselseitigkeit der Dialektik hier an eine Grenze. Für den Begriff der idealen Akzeptabilität bedeutet dies, dass die Einheit des Konsenses darin liegt, wie ein Angebot von Einverständnis zu einem Einvernehmen werden kann. Und weil es letztlich aus Sicht eines sich äußernden Subjektes auf eben dieses Angebot an Konsens ankommt, deswegen spreche ich von einer offerentiellen Konsenstheorie. (5) Auf welche Art und Weise sich das Ineinander der dreifachen Dialektik der reziproken Akzeptanz praktisch vollziehen kann, soll im Folgenden im Anschluss an Brandoms Modell des Diskurses als eines Spiels des Gebens und Verlangens von Gründen veranschaulicht werden (Brandom 2001, S. 217 ff.). Geben und Nehmen wird hier einseitig auf ein Geben und Verlangen verengt, zumindest in der deutschen Übersetzung. Im englischen Original ist hier immer die Rede von den ›makers and takers of reasons‹, was weit näher am Geben und Nehmen liegt. Die deutsche Übersetzung trifft aber meines Erachtens durchaus die Intentionen Brandoms, der seine Theorie als eine Theorie der Intentionalität entfaltet. Der Begriff der Akzeptabilität als Annehmbarkeit kennt drei 208

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Dimensionen. Die erste Dimension ist das Annehmen als Aufnehmen. Eine Äußerung muss als solche wahrgenommen und aufgenommen werden. Dies ist der Vorgang der Rezeption der Äußerung. Die zweite Dimension ist das Annehmen als Zustimmen. Das, was aufgenommen wurde, wird geprüft und zustimmend oder ablehnend beurteilt. Um angenommen zu werden ist für eine Äußerung erforderlich, dass sie zustimmend beurteilt wird. Das ist das Moment der Affirmation der Äußerung. Die dritte Dimension ist das Annehmen als Übernehmen. Das heißt, das Subjekt macht sich die aufgenommene und zustimmend beurteilte Äußerung zu eigen. Es übernimmt die Ansprüche, die mit der Äußerung erhoben werden, und handelt entsprechend. Das ist das Moment der Internalisierung einer Äußerung. Diese drei Dimensionen der Akzeptabilität entsprechen den drei Funktionen des Sprachspiels, wie es von Brandom als Spiel eines Gebens und Verlangens von Gründen interpretiert wird. Erstes Moment ist das Aufnehmen. Das Aufnehmen oder Wahrnehmen einer Äußerung beinhaltet die Feststellung einer Überzeugung. Ohne das Auftreten einer Überzeugung kann es kein Aufnehmen einer Äußerung geben. Aufnehmen meint hier so etwas wie auf den Anspruch des Anderen im Sinne der Prätention und des Appells hören, welchen der Andere zum Ausdruck bringt. Es geht hier um das Moment der Rezeption einer Äußerung. Das zweite Moment ist das Annehmen. Das Annehmen einer Äußerung entfaltet sich als ein Zulassen, Zugeben oder Einräumen. Eine Äußerung annehmen bedeutet, einer Äußerung zuzustimmen. Es ist das Moment der Affirmation einer Äußerung. Das Zustimmen zu einer Äußerung bezieht sich auf das Beurteilen der Gründe, welche für die Überzeugung vorgebracht werden. Keine Überzeugung tritt ohne Begründung auf, und die Affirmation einer Äußerung bedeutet das Annehmen einer Äußerung. Das dritte Moment ist das Übernehmen einer Äußerung. Das Übernehmen entspricht der Verinnerlichung der als gut begründet eingeschätzten Äußerung eines Anderen als einer eigenen Überzeugung. Die gut begründete Überzeugung wird sozusagen wahrgemacht, indem sie verinnerlicht wird. Das Übernehmen bedeutet die Internalisierung einer Äußerung, indem die Proposition des Anderen als eigene Proposition übernommen wird. Brandoms Modell sucht den platonischen Anspruch einer gerechtfertigten wahren Überzeugung in einem pragmatischen Konzept einzulösen, welches die drei Dimensionen von Wissen und Erkennen nicht nur in ihrer Inhaltlichkeit erläutert, sondern welches die drei DimenA

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sionen des Wissens und Erkennens aus ihrer Funktion heraus zu erklären sucht. Ganz pragmatisch gedacht: Ich habe etwas verstanden, wenn ich weiß, wie es funktioniert, und wenn ich damit umgehen kann. Auf unseren Fall angewendet hieße das, wenn ich eine Äußerung als Äußerung mit einer Überzeugung identifiziere, deren Begründung als gerechtfertigt einsehe und deren Anspruch als wahr übernehme, dann entstünde eine Übereinstimmung, welche als Konsens zu bezeichnen wäre. Das heißt, der Begriff der Akzeptabilität formuliert einen Horizont dessen, was das Handhaben einer gerechtfertigt wahren Überzeugung bedeutet. Anders gesagt: Der Begriff der Akzeptabilität liefert eine inhaltliche Bestimmung dessen, was Konsens bedeutet. Rezeption, Affirmation und Internalisierung sind die drei Modi des Konsenses als Prozess. Von hier aus wird nochmals die Dialektik von Produktivität und Rezeptivität in der Intentionalität durchsichtig. Die Rezeptivität schreitet von der Aufnahme über die Zustimmung zur Übernahme. Die Produktivität dagegen setzt bei der Übernahme ein und äußert diese als Angebot oder Vorschlag, worauf der Andere wiederum in einer Rezeptivität antwortet. Es gibt ein Streben und ein Lassen, ein Geben und Nehmen von Einverständnissen. Passen das Geben und Nehmen von Einverständnissen zusammen, findet das Ereignis eines Einvernehmens statt. Das heißt, es ereignet sich Übereinstimmung. Damit sind sozusagen die beiden Aspekte eines Einvernehmens als Akt und als Resultat umgriffen, wie sie als Aktivität und als Ergebnis der Aktivität auftreten.

§ 23 Ideale Akzeptabilität als Verschränkung I.

Notwendigkeit der Übereinstimmung eines Zusammenpassens

Gegen Lyotard gilt, dass das Anknüpfen von Äußerungen an Äußerungen nicht einfach einen trivialen Vorgang darstellt. Jedes Anknüpfen enthält neben allen instrumentellen Aspekten immer auch eine normative Komponente. Diese besagt, dass als Minimum irgendein Element von Zustimmung oder Ablehnung vorliegt. Eben deshalb bedarf es der Aufklärung, wie der Vorgang des Anknüpfens mit der Idee eines Konsenses zusammenhängt. Diese Einsicht in die Struktur der Anknüpfung greift auf die Tradition platonischen Denkens insofern zu210

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§ 23 Ideale Akzeptabilität als Verschränkung

rück, als sie an der Notwendigkeit einer Feststellung oder eines Festsetzens als Bestandteil einer Äußerung, einer Überzeugung, einer Ansicht oder eines Urteils festhält. Präferenzen gehören notwendig zu allen irgendwie mit Intellektualität verbundenen Zusammenhängen dazu. Diese Normativität ist stets eine eingebettete, situierte Normativität, welche in konkreten Verhältnissen und niemals losgelöst von diesen greifbar wird. Wenn aber Normativität immer eingebettete, konkret situierte Normativität ist, dann gibt es aber auch einen Bezug der Normativität als Ordnung auf das Außerordentliche jenseits der Ordnung. Dieses Außerordentliche jenseits der Ordnung stellt eine Art ›wildes Sein‹ (Merleau-Ponty) dar, welches als neuer Horizont dem Horizont der eigenen Ordnung gegenübertritt. Von daher scheinen zwei Annahmen konstitutiv zu sein. Erstens ist jede Präferenz eine Präferenz vor einem Horizont. Nur dann ist eine Affirmation wirklich eine Präferenz. Zweitens findet sich jede Präferenz in einem Feld von Präferenzen wieder. Zur Präferenz gehören Pluralität, Historizität und damit auch Konfliktträchtigkeit. Dies alles aber setzt seinerseits die Möglichkeit von Übereinstimmung voraus. Übereinstimmung ist Reziprozität. Als Horizont von Anknüpfung ist sie eine Art stimmige Wechselseitigkeit oder Wechselbezüglichkeit. Diese Vorstellung wendet sich gegen eine Vorstellung von Reziprozität als Kommutativität im Sinne einfacher Vertauschbarkeit. In einer Übereinstimmung geht es gerade darum, dass unterschiedliche Vorstellungen zu einem Gemeinsamen finden. Dieses Gemeinsame aber ist auch keine Harmonie als Proportionalität gegebener Maßverhältnisse. Es gibt kein vorgegebenes Drittes, von dem her und auf das hin die zur Übereinstimmung anstehenden Ansichten zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden könnten. Und Übereinstimmung meint auch nicht eine Vermittlung von Gegensätzen im Sinne der Suche nach einer goldenen Mitte. An welchem Punkt Ansichten zur Übereinstimmung gelangen, kann in gar keiner Weise als von vornherein abgemacht gelten. Deshalb kann man zwar von einer Dialektik des Konsenses zwischen Angebot und Ereignis sprechen. Diese Dialektik stellt aber eine offene Wechselseitigkeit dar, welche keinem Zwang folgt, wie es der Begriff einer Dialektik vielleicht nahelegen würde. Im Folgenden werden verschiedene Momente des Zusammenpassens von Übereinstimmung nach Art der Reziprozität, also einer Wechselbezüglichkeit und Wechselseitigkeit diskutiert. A

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II.

Anknüpfung als passive Synthesis

Das Motiv des Konsenses stellt die Antizipation eines Einvernehmens als zwangloser Einigung mit jedem beliebigen Anderen dar. Ein solcher Konsensbegriff ist als ›pathisch‹ zu bezeichnen, weil er die Übereinkunft einer Einigung als eine Art Zusammenpassen auffasst. Im Gefolge einer phäno-menologischen Tradition von Husserl und MerleauPonty lässt sich dieses Zusammenpassen einer Übereinkunft in der Figur der passiven Synthesis deuten. »Syn-thesis bedeutet kantisch gesagt, dass etwas zusammengesetzt wird. Und passiv ist diese Synthesis, die eigentlich keine thesis ist, weil nicht etwas zusammengesetzt wird, sondern etwas zusammenkommt. […] In der aktiven Synthesis werden bestimmte Aspekte unterschieden und auf einen Einheitspool bezogen. Passive Synthesis besagt dagegen, dass b von a zu c übergeht und im Übergang, also implizit auf a und c voraus- bzw. zurückverweist.« (Waldenfels 2000, S. 295)

In der Figur der passiven Synthesis geht es um Verkettung als Anknüpfung, nicht als Verknüpfung. Anknüpfung meint eine laterale Allgemeinheit, in der zwei Momente zusammenkommen und eine Einheit bilden. Diese Art von Einheit enthält kein übergeordnetes Moment. Sie ist nichts anderes als eine Synopse, das heißt eine Zusammenschau unterschiedlicher Momente. Waldenfels verweist in diesem Zusammenhang auf die Problematik der Zeit als Beispiel. »Wo ist die Vergangenheit? Die Vergangenheit ist in der Gegenwart selber gegenwärtig als das, was verschwindet, was in den Hintergrund gedrängt wird, was vergessen oder erinnert wird. Wo ist die Zukunft? Die Zukunft habe ich nirgends anders als in den Erwartungen, Befürchtungen und Planungen, die jetzt erfolgen. Es gibt einen Übergang zwischen den Zeiten, und gerade dieser Übergang macht die Zeit aus.« (ebd., S. 296)

Der Begriff der passiven Synthesis stellt Einheit als einen solchen Übergang dar, welcher streng genommen nur im Vorgang des Übergehens von einem Moment zum anderen greifbar wird. Daraus folgt für das Verständnis der passiven Synthesis, dass die Einheit, die im Übergang entsteht, eine Form von Gemeinschaftsbildung ist, »die keiner für sich allein in Anspruch nehmen kann, weil im Sprechen, im Antworten, im Hören selber etwas entsteht, das nicht dem einzelnen zugerechnet werden kann.« (ebd., S. 300) Das heißt einerseits, dass jede Äußerung immer schon mitgeprägt ist durch die 212

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§ 23 Ideale Akzeptabilität als Verschränkung

Beteiligung der Anderen. Andererseits heißt es auch, dass eben deshalb das Zustandekommen der Synthese nicht einfach das Produkt unseres Bemühens ist. »Doch wollte die Rede von passiver Synthesis vielmehr sagen, dass in ihr das Mannigfaltige zwar von uns durchdrungen ist, gleichwohl aber nicht wir es sind, die seine Synthese vollbringen.« (Merleau-Ponty 1996, S. 485) Unser Tun und Handeln, unsere Praxis, vollzieht sich in einer prekären Schwebe zwischen Erzeugung oder Hervorbringung und Hinnahme oder Zulassen. Merleau-Ponty bringt diesen Synkretismus so zum Ausdruck: »Was hier Passivität heißt, ist nicht unser Hinnehmen einer fremden Realität oder kausale Einwirkung eines Äußeren auf uns; vielmehr eine Belehnung, ein Sein in Situation, dem zuvor wir gar nicht existieren, das wir beständig aufs neue beginnen und das uns selbst erst konstituiert. Eine ein für allemal ›erworbene‹ Spontaneität, die ›auf Grund des Erwerbs‹ fortfährt, Spontaneität zu sein […]« (ebd., S. 486)

Merleau-Ponty zitiert hier Sartre, für den freilich die Vorstellung einer erworbenen Spontaneität ein Missgebilde ist, welches zur radikalen Freiheit des Subjekts in Widerspruch steht. (Vgl. dazu: Sartre 1991, S. 285 f.) Denkt man aber Selbstbewusstsein nicht als absoluten Grund seiner selbst, sondern als Selbstgefühl mit der Verpflichtung einer Verantwortlichkeit für den Anderen, dann gewinnt die Vorstellung einer erworbenen Spontaneität an Plausibilität. Mein Sein-in-Situation unterliegt einer Struktur an Expressivität, in welcher sich die Aufmerksamkeit des Selbst vollzieht. Die Idee des Konsenses bezeichnet den Punkt der Gemeinschaftsbildung, den ich strebend vorwegnehme und vorwegnehmend anstrebe, ohne ihn erzeugen oder hervorbringen zu können. Einigung ist ein anzustrebendes Ziel, Einigung ist kein planbarer Zweck.

III. Ereignis als Verkreuzung Konsens ist Einvernehmen. Ein Einvernehmen ist eine Übereinkunft von Einverständnissen, welche sich für einen offerentiellen Konsensbegriff im Sinne einer passiven Synthesis als anzustrebendes Ziel, nicht als planbarer Zweck darstellt. Ein Einvernehmen entsteht, wenn sich Einverständnisse bildlich gesprochen überlappen. Das im Überlappen entstehende Gemeinsame ist keine selbstständige Größe, welche A

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als Übergeordnetes die Einverständnisse umgreifen würde. Es stellt nur einen Kreuzungspunkt unterschiedlicher Perspektiven dar, die sich treffen, die sich aber auch hätten verfehlen können. Das heißt, die Universalität einer Übereinkunft von Einverständnissen erweist sich als etwas, was man eine Verkreuzung von ›hyperbolischen‹ (Waldenfels) Initiativen nennen könnte. Der Begriff der Verkreuzung oder des Chiasmus wurde von Merleau-Ponty aus seinen Untersuchungen zur Körperwahrnehmung entwickelt. Wenn ich meine Hände ineinanderlege, dann entsteht ein »Überkreuzen von berührendem und berührtem« (Merleau-Ponty 2004, S. 176). Ich erfahre die Berührung meiner Hände stets so, dass die eine Hand als berührende und die andere Hand als berührte Hand wahrgenommen wird. Dennoch erfahre ich das Berühren und das Berührtwerden als einheitlichen Vorgang einer Berührung, deren Eigenart eben aus diesem Überkreuzen oder Verkreuzen besteht. Es geht um die Figur einer Einheit in Unterschiedenheit. Dieses Überkreuzen oder Verkreuzen wird auch als Chiasmus bezeichnet, »eine rhetorische Figur, benannt nach dem griechischen Buchstaben Chi (geschrieben: x). Chiasmus bedeutet, A und B überkreuzen sich in C. Das Entscheidende am Chiasmus ist, dass die Kreuzungsstelle weder zu der einen Linie gehört noch zu der anderen.« (Waldenfels 2000, S. 286) Im gesprächsweise erfolgenden Perspektivenwechsel geht es darum, dass ich mich fiktiv an verschiedene Stellen eines Raumes versetze, indem ich versuche zu verstehen, was es für einen Anderen bedeutet, an einer solchen Stelle zu sein. Die Eigenart eines Perspektivenwechsels besteht darin, dass einerseits »die eigene Tätigkeit in sich selber schon durch fremde Mitwirkung, etwa durch die Erwartung des Hörers, durch den Einwand des Anderen, sogar durch einen möglichen Einwand geprägt ist.« (ebd., S. 301) Andererseits übersteigt die Jedeinigkeit immer schon die Jemeinigkeit auf eine so grundsätzliche Art und Weise, dass sich die Lücke zwischen einem Selbst und einem Anderen niemals schließen lässt. Die Einheit in Unterschiedenheit ist in diesem Sinne ein unsichtbares Band, eine Lücke, welche eine Verbindung darstellt. Die Idee des Konsenses bezeichnet den Punkt, an dem die Antwort die Frage trifft. Für einen Perspektivenwechsel käme alles auf den Versuch an, an dem Moment eines Zusammenpassens festzuhalten, wie es beispielsweise in Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung auftaucht. Denn ohne dieses Zusammenpassen wäre so etwas wie Verstän214

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§ 23 Ideale Akzeptabilität als Verschränkung

digung nicht denkbar. Wenn es aber zu Recht um ein Zusammenpassen von Horizonten geht, dann kann Zusammenpassen keine Verschmelzung bedeuten. Horizonte können nicht miteinander verschmelzen, weil sie sich nicht direkt begegnen. Jeder Horizont wird für einen jeweils neuen Horizont nur dann als Gegenüber sichtbar, wenn er als Objekt vor einem neuen Horizont thematisiert wird. Das bedeutet, dass sich Horizonte nur so begegnen, dass sie einander immer im gleichen Zuge treffen und verfehlen. Der Begriff des Chiasmus kann diese Art des Zusammenpassens verdeutlichen. Denn in der Begegnung von Jemeinigkeit und Jedeinigkeit kann es ein Zusammentreffen geben, bei dem zwei Perspektiven im Perspektivenwechsel miteinander konvergieren. Im selben Maß aber, wie sie konvergieren, divergieren sie auch. Ihre Distanz erhöht sich, weil ihr Gemeinsames nicht einfach eine neue Perspektive darstellt, in welcher beide Perspektiven auf identische Weise aufgehoben wären. Jede Perspektive bleibt vielmehr als solche erhalten, hat sich aber in ihrer Art und Weise verändert, indem sie ein Moment aus der anderen Perspektive in ihre eigene Sichtweise übernommen hat.

IV. Übereinstimmung als Verschränkung Für eine konsistente Konsenstheorie geht es ganz entscheidend um die Frage, wie die unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlicher Gesprächsteilnehmer zusammenkommen und sich treffen können. Am Anfang der Überlegungen zu diesem Punkt möchte ich auf einen Gedanken hinweisen, der von Enrique Dussel entwickelt wurde. »Das Sein offenbart sich selbst geschichtlich. Aber umgekehrt ist es transzendental in dem Sinne, dass es kein Ding oder keine Gattung ist; es liegt jenseits von allem, wie ein Horizont. Dieser transzendentale Horizont ist nicht abstrakt, sondern konkret, weil es mein Horizont, unser Horizont, der Horizont unserer Epoche ist. Wir dürfen das Abstrakt-Universale des Begriffs nicht mit dem Konkret-Transzendentalen des Horizonts verwechseln. Die Frage ist ganz einfach: Wenn ich ein vor mir befindliches Mikrophon zu begreifen suche, dann interpretiere ich es beispielsweise, indem ich sage, dass man ein Mikrophon benutzt, um zu … Ein Horizont ist intrinsisch nicht begrifflich darstellbar, denn wenn ich etwas ›vor meinen Augen‹ haben und begreifen will, würde

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ich es von einem anderen Horizont her begreifen. Es würde dann aufhören, ein Horizont zu sein.« (Dussel 1978, S. 139)

Der Universalismus einer Verallgemeinerung vollzieht sich nach Dussel immer als Annäherung an einen bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt vor einem bestimmten Horizont. Es steht kein unabhängiges Bezugssystem zur Verfügung, in welches jedes Einzelne oder jeder Einzelne eingepasst werden könnte. Das heißt, das Verfahren der Verallgemeinerung kann nicht der Leitvorstellung eines abstrakt-universalen Systems entsprechen, sondern muss der eines konkreten und transzendentalen Prozesses entsprechen. Dies besagt, dass es sich um einen konkreten Prozess handelt, weil sich dieser stets auf bestimmte Inhalte bezieht. Und es ist ein transzendentaler Prozess, weil sich in ihm alles Bestimmte von einem Rahmen her und auf diesen hin entfaltet, in welchem das Selbstverständnis einer Erfahrung ihren Ausdruck findet. Universalisierung ist so gesehen ein approximativer Prozess von Erfahrung in kontextueller Verallgemeinerung. Das Spannende an dieser Überlegung scheint mir die Art und Weise zu sein, wie hier die Begegnung von Perspektive zu Perspektive vorgestellt wird. An jeder Perspektive lassen sich Objekt und Horizont, das heißt Vordergrund und Hintergrund unterscheiden. Jede Perspektive setzt sich aus einem bestimmten Verhältnis von Objekt und Horizont zusammen. Die Eigenart der Perspektive ist durch die Eigenart des Verhältnisses von Objekt und Horizont gekennzeichnet. Es ist diese Einsicht, welche Waldenfels mit seiner Unterscheidung der Anspruchsebenen von Prätention und Appell thematisiert. Wenn sich Perspektiven nun begegnen, dann geschieht diese Begegnung auf eine indirekte Art und Weise. Denn ein Gesprächsteilnehmer, der sich mit der Perspektive eines anderen Gesprächsteilnehmers auseinandersetzt, unternimmt diese Auseinandersetzung vor seinem eigenen Horizont. Dussel folgend müsste man das so ausdrücken, dass der eine Gesprächsteilnehmer die Perspektive des anderen Gesprächsteilnehmers als Objekt vor seinem Horizont interpretiert. Das bedeutet aber, dass in der Wechselbezüglichkeit der Perspektiven eine Inversion stattfindet. Wenn ein Gesprächsteilnehmer den Gedanken eines anderen übernimmt, dann heißt das immer, er nimmt diesen Gedanken in seine Perspektive herüber. Die Redewendung, wie wir sie beispielsweise in der Form kennen, dass Marx der Ansicht war, er würde mit seiner materialistischen Philosophie ›Hegel vom Kopf auf die Füße stellen‹, bezeichnet letztlich keinen ausgefallenen Vorgang. Jeder Gesprächs216

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teilnehmer stellt sozusagen die Perspektive des anderen für den eigenen Gebrauch vom Kopf auf die Füße. Er tut dies deshalb, weil er gar nicht anders kann. Objekt und Horizont, Vordergrund und Hintergrund des einen und des anderen Gesprächsteilnehmers sind niemals identisch. Wären sie es, wären sich unterschiedliche Perspektiven letztlich immer so ähnlich, dass jede Art von Inkommensurabilität immer nur Schein bliebe. Aus diesem Gedankengang lassen sich mehrere Konsequenzen für das Zustandekommen einer Übereinstimmung und damit für den Begriff eines Konsenses ableiten. Erstens gilt, dass sich Perspektiven niemals direkt, sondern immer nur indirekt begegnen können. Dies ist so, weil der Individualität des einen Subjekts die Fremdheit eines anderen Subjekts entspricht. Die Individualität eines Subjekts mit ihrer Macht der Interpretation ist unhintergehbar. Zweitens bedeutet dies, dass jede Interpretation eine Inversion der ihr begegnenden Perspektive vornimmt. Sie deutet die fremde Perspektive vor dem eigenen Horizont und verändert sie auf diese Weise. Drittens heißt das, dass damit der Begegnung von Perspektiven eine versetzte Wechselbezüglichkeit zukommt. Die Begegnung von Perspektiven erfolgt Zug um Zug in einem Wechselspiel von Äußerungen, welche als Angebot und Annahme auftreten. Die Übereinstimmung von Perspektiven in Äußerungen geschieht als Ereignis eines Einvernehmens, welches aus der Verschränkung von angebotenen und angenommenen Einverständnissen zwischen unterschiedlichen Perspektiven hervorgeht. Eine offerentielle Konsenstheorie fasst deshalb Identität als Übereinstimmung einer Verschränkung, das heißt nach Art einer inversen Reziprozität. Die Pointe einer offerentiellen Konsenstheorie liegt darin, dass mit der Vorstellung einer Verschränkung von Einverständnissen in einem Einvernehmen die Rolle des Dissenses für die Entstehung eines Konsenses deutlich wird. Wenn ein Konsens auf dem zwanglosen Zwang der Einsicht beruht, also dem Prinzip der Freiwilligkeit folgt, und wenn ein Konsens damit ein Ereignis darstellt, welches mir immer vorausgeht und von dem ich abhängig bin, weil es die Stellungnahme des Anderen beinhaltet, dann ist damit zwingend die Notwendigkeit des Dissenses gegeben als die Möglichkeit, das auf mich Zukommende abzulehnen, oder anders, mich in Bezug darauf frei zu verhalten. Dieses Argument setzt damit ein, dass Herrschaftsfreiheit als zwangloser Zwang einer Einsicht interpretiert wird, welche immer auch eine Suche nach Übereinstimmung enthält. Bei einem Festhalten A

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an unterschiedlichen Perspektiven bedeutet dies gleichzeitig immer auch eine Nicht-Übereinstimmung. Weil ein Konsens als Einvernehmen immer ein Ereignis idealer Akzeptabilität darstellt, also aus nur einem zwanglosen Zusammenpassen von Angeboten an Einverständnis ein Einvernehmen entsteht, deswegen gehört der Dissens notwendig zum Konsens. Die Bedeutung des Dissenses bringt damit den Schutz des Anderen und in eins damit auch den Schutz des Selbst zum Ausdruck. Das heißt, die Bedeutung des Dissenses liegt darin, dass er Ausdruck von Freiheit ist. Konsens und Dissens stehen einander nicht gegenüber wie zwei sich gegenseitig ausschließende Welten. Vielmehr gilt, dass in jeden Konsens ein Stück Dissens eingebaut ist, so wie noch jeder Dissens eine Ahnung von möglichem Konsens mit sich führt. Konsens und Dissens gehören zusammen wie Vorder- und Rückseite einer Münze, weil jedes Einvernehmen aus einer indirekten und inversiven Wechselbezüglichkeit hervorgeht. Nicht dass es kein Zusammentreffen gäbe. Das gibt es sehr wohl, sonst wäre nicht einmal das Anknüpfen einer Äußerung an eine andere Äußerung denkbar. Wir würden alle agieren wie Autisten. Genau dies tun wir aber nicht. Wir beziehen uns mit unseren Äußerungen aufeinander. Aber das Zusammenschiessen von Einverständnissen zu einem Einvernehmen bleibt immer vorläufig, flüchtig und gefährdet. Weil ein Konsens immer zuerst ein Angebot darstellt, deshalb gehört die Notwendigkeit des Dissenses zwingend zu einem Begriff des Konsenses dazu. Erst das Annehmen des Angebots macht den Konsens zum Ereignis des Einvernehmens und befreit ihn auf diese Weise von jedem Zwang. Der ›zwanglose Zwang‹ eines guten Arguments kommt genau dann zur Geltung, wenn ein Subjekt einer idealen Akzeptabilität folgt und sich auf das Wagnis eines Einvernehmens einlässt.

V.

Zusammenfassung

Das Moment der Konsensualität zielt auf den Punkt des Zusammenpassens oder Zusammentreffens von Äußerungen im Konzept der Expressivität. Auch wenn es keine direkte Entsprechung von der einen Äußerung zu der anderen Äußerung gibt, muss es einen indirekten Kontakt geben, von dem her und auf den hin Annäherung oder Entfernung verständlich wird. Ohne ein solches Anknüpfen gäbe es kein 218

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Gespräch. Es geht hier um die Einlösung der Forderung nach einer »Synthese abduktiver Urteile« (Frank 2012, S. 71). Der Begriff des Konsenses bringt zum Ausdruck, dass die Stimme des Anderen in der Selbstverständigung eines Subjekts zum Zuge gekommen sein und die Verschränkung von fremder und eigener Perspektive stattgefunden haben wird. Die ›Erschlossenheit‹ des Konsenses meint in diesem Sinne den vorwegnehmenden Rückblick darauf, dass es ein Gelingen des Anknüpfens von einer Äußerung an eine andere Äußerung als ein verständiges Verstehen gibt, weil eine Übereinstimmung vorgelegen hat. Die Qualität des Konsenses als Ereignis erfordert eine spezifische Korrektur am Begriff der Expressivität, insofern in jeder Äußerung die Frage nach der Übereinstimmung mit dem oder den anderen immer schon mitentschieden ist. Die Konsensualität, welche der Expressivität notwendig eingeschrieben ist, zeigt durchgängig Spuren der Dimension der Resignativität. Dies meint erstens einen Vorrang des Pathischen. Ein Ereignis ist etwas, was auf mich zukommt. Es ist etwas, demgegenüber ich immer den zweiten Schritt tue, weshalb sich mir die Erschlossenheit in einer Retrospektive zeigt. In diesem Nachhinein bildet sich der ethische Primat des Anderen ab, welcher sich in meiner Passivität widerspiegelt. Davon ausgehend wird die Expressivität in ihrer Konsensualität in einem zweiten Schritt zu einem Akt des Zulassens oder Annehmens. Ich muss das Angebot des Einvernehmens, das auf mich zukommt, annehmen, wenn es denn ein Einvernehmen werden soll. Einvernehmen wird hier zu einem Vorgang, der ähnlich angelegt ist wie die Vorgänge des Verzeihens oder Sich-Entschuldigens. Ich kann mich nicht entschuldigen, ich kann letztlich nur um Entschuldigung bitten, und ein anderer nimmt die Entschuldigung an. Gleiches gilt für das Verzeihen oder Vergeben. Für den Konsens heißt dies, wenn ein Angebot eines Einvernehmens auf mich zukommt, kann ich es annehmen. Oder andersherum, ich kann ein Einvernehmen anbieten. Aber ich kann ein Einvernehmen niemals herstellen. Die Struktur dieser Vorgänge entspricht der Denkfigur der Gelassenheit, wie sie oben entwickelt wurde. Gelassen bin ich dann, wenn ich etwas gelassen habe und damit frei von diesem bin. Wenn ich etwas lasse, dann bin ich aber nicht nur frei von diesem, sondern auch frei zu etwas anderem, das heißt frei für das, was auf mich zukommt. Dieses Sich-Öffnen als Annehmen ist der Schlüssel zur Dialektik des Gebens und Nehmens von Einverständnis, in welcher dann Einverständnis mit Einverständnis zu einem Einvernehmen zusammenschießt. Die Dialektik des Gebens und A

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Nehmens von Einverständnissen ist das dritte Moment an der Konsensualität. Sie vollzieht sich in Wechselseitigkeit. Es ist eine Art des Handelns, welche stets ein Gegenüber erfordert. Die Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens gelingt dann, wenn sich die beiden Akte in ihrer Bewegung an einem bestimmten Punkt überschneiden. Dieser Punkt, an dem Geben und Nehmen zum Schnitt kommen, lässt sich mit Merleau-Ponty als Chiasmus bezeichnen. Chiasmus meint in diesem Zusammenhang einen nicht planbaren Schnittpunkt, einen Schnittpunkt, der zwar auf irgendeine unbestimmte Art und Weise angezielt werden kann, der sich aber auf eine nicht determinierbare Art und Weise ereignet und dann wiederum nur zugelassen oder angenommen werden kann. Die Dialektik einer solchen Übereinstimmung nach Art eines Chiasmus kann nach Art der platonischen Partizipation vorgestellt werden. Solche Partizipation macht einen Unterschied zwischen geistigen und körperlichen Gehalten. Während beim Aufeinandertreffen körperlicher Gehalte das eine Moment das Gefäß, das andere der Inhalt ist, geschieht ein Aufeinandertreffen geistiger Gehalte in der Form, dass sich die beiden Seiten des Aufnehmens und des Aufgenommenwerdens in ihrem Treffen verwandeln. Auch wenn es, platonisch gesehen, einen Vorrang des Urbildes vor dem Abbild gibt, also hier im Falle des Antwortens einen Vorrang des eigenen Horizonts vor allem anderen mir Begegnenden, durchdringen sich das Aufgenommene und das Aufnehmende gegenseitig. Das ist die durchaus zutreffende Intuition an Gadamers Idee einer Horizontverschmelzung. Insofern kommt es zu einem tatsächlichen Treffen oder Passen im Sinne einer Übereinstimmung, wenn auch die Übereinstimmung stets von einer Unterschiedenheit begleitet wird, weil sie in eine jeweils unterschiedliche Kontextualität eingebettet bleibt. Der hier vorgeführte Zusammenhang der Konsensualität von der Passivität des Subjekts über das Zulassen des Subjekts bis zur Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens von Einverständnissen lässt sich zusammenfassend in Nacharbeitung eines Zitates von Frank wie folgt darstellen. Frank schreibt: »Sowie es (erg.: das Selbstbewußtsein) sich als das, was es ist, erfasst, ist es schon gezeichnet von der Spur einer Verspätung gegenüber dem, wovon es sich – durch sein unverfügliches Bestimmtsein – geprägt, d. h. ›abhängig‹ fühlt. Es ist, sobald es die Augen aufschlägt, schon um seine Selbstgegenwärtigkeit gebracht.« (Frank 1988, S. 118)

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§ 23 Ideale Akzeptabilität als Verschränkung

Wenn dies so ist, bedeutet das für das Subjekt, dass seine Aktivität, so wie sein Selbstbewusstsein, nicht das erste Moment, sondern ein zweites Moment darstellt, welches sich an etwas Vorgegebenem, in einem Rahmen orientieren muss. Das heißt, weil Aktivität nicht nur ein Streben, sondern auch ein Lassen, nicht nur ein Produzieren, sondern auch ein Rezipieren ist, entsteht Sinn nicht nur aus Absicht, sondern auch aus Verzicht. Ein Einverständnis stellt deshalb eine Interpretation als Offerte einer antizipativen Retrospektive dar. Die Dialektik des Passens im Geben und Nehmen von Einverständnissen aber folgt keiner apriorischen Notwendigkeit, sondern geschieht als Ereignis, welches sich als solches einstellt oder eben nicht. Genau das ist der Sinn des Satzes vom Konsens, welcher ein Einvernehmen als Ereignis von Übereinstimmung darstellt.

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Kapitel 6: Der Status einer Grenznorm

Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen der Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten. Ludwig Wittgenstein

§ 24 Normativität als Kraft der Bindung I.

Die Fragestellung

Der Witz der Idee des Konsenses liegt in der These, dass ohne die Idee eines Konsenses weder ein Streit über einen Gegenstand oder einen Sachverhalt noch die Auflösung eines solchen Streits denkbar seien. Das scheint mir die unverändert zutreffende Intuition Schleiermachers zu sein. An die ontologische Analyse des Modus des Konsensbegriffes anschließend wird es in diesem Kapitel darum gehen, den epistemologischen Status des Konsensbegriffes zu klären. Der Begriff des Konsenses wird einer offerentiellen Konsenstheorie zufolge als Idee eines Einvernehmens im Sinne idealer Akzeptabilität bestimmt. Jetzt gilt es, die epistemologischen Konsequenzen einer solchen Konsenstheorie in Bezug auf die Aspekte Normativität, Universalität und Rationalität herauszuarbeiten. Denn eine offerentielle Konsenstheorie enthält eine starke Auffassung von Normativität, derzufolge die Annahme von Geltungsansprüchen wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit unabdingbar zur Selbstverständigung eines Individuums gehört. Die kontextualistische Interpretation der Normativität solcher Geltungsansprüche führt weiter zu einer Auffassung von Universalität, in welcher Konsensualität als Grenzbegriff von Rationalität gedacht wird.

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§ 24 Normativität als Kraft der Bindung

II.

Die Basis der Kommunikativität

Eine kontextualistische Auffassung von Normativität bezieht sich auf den Bereich der Kommunikativität als den Boden, aus dem Normativität hervorgeht, in dem sie gegründet ist und der sie formt. Mit der Bezugnahme auf den Bereich der Kommunikativität ist hier die Vorstellung von einem menschlichen Zusammenleben verbunden, welches auf einem Setzen von Präferenzen beruht, also auf einem Handeln, welches sich an Wertungen und Werten orientiert. Für den Bereich der Kommunikativität lassen sich grob gesprochen zwei Modelle von Anerkennung unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es Hegels symmetrisches Modell von Anerkennung, auf der anderen Seite Levinas’ asymmetrisches Modell. Beide Modelle gehen davon aus, dass eine Person, welche sich über ein Setzen von Präferenzen artikuliert, immer schon in eine bestimmte Art von Gemeinschaft eingebunden ist. Den entscheidenden Bezugspunkt intersubjektiver Kommunikativität bildet aber sowohl bei Hegel als auch bei Levinas nicht ein wie immer zu denkender Primat einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, sondern das Individuum als Person. Insofern sind beide Modelle einem methodischen Individualismus verpflichtet. Hegels Grundgedanke geht dahin, dass eine auf einem Konzept von Anerkennung beruhende Theorie kommunikativen Handelns plausibel machen kann, warum sich das Zusammenleben von Menschen nicht gemäß einem ideal gedachten oder real ausgehandelten Vertrag vollzieht, sondern sich in, mit und durch Konflikte entwickelt. Dies ist so, weil ein Individuum seine Identität nicht für sich allein verwirklicht. Vielmehr bedarf ein Individuum zur Ausbildung seiner Identität des Bezuges auf andere Menschen, welche das Individuum stützen und stärken, korrigieren und begrenzen. Der in der Französischen Revolution auf eine ganz und gar praktische Weise errungene Gedanke, dass die Freiheit des einen Menschen dort endet, wo die Freiheit des anderen Menschen beginnt, kommt hier zum Tragen. »Hegel vertritt in jener Zeit die Überzeugung, dass sich aus einem Kampf der Subjekte um die wechselseitige Anerkennung ihrer Identität ein innergesellschaftlicher Zwang zur praktisch-politischen Durchsetzung von freiheitsverbürgenden Institutionen ergibt; es ist der Anspruch der Individuen auf die intersubjektive Anerkennung ihrer Identität, der dem gesellschaftlichen Leben von Anfang an als eine moralische Spannung innewohnt, über das jeweils institutionalisierte Maß A

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6 · Der Status einer Grenznorm

an sozialem Fortschritt wieder hinaustreibt und so auf dem negativen Weg eines sich stufenweise wiederholenden Konfliktes allmählich zu einem Zustand kommunikativ gelebter Freiheit führt.« (Honneth 1994, S. 11)

Hegel fasst nun diesen Bezug auf den Anderen in den Begriff der Anerkennung, welcher besagt, dass sich eine Person affirmativ oder negativ wertend auf das Handeln einer anderen Person bezieht. Ein »Individuum kann sich ein Gefühl der Sicherheit darüber, ob es von seinem Interaktionspartner anerkannt wird, nur durch die Erfahrung der praktischen Reaktion verschaffen, mit der jener auf eine gezielte, ja provokative Herausforderung antwortet.« (ebd., S. 50) Als symmetrisch wird diese Form der Anerkennung bezeichnet, insofern eine Person gleichzeitig Anerkennung übt und erfährt, anerkennt und anerkannt wird. Nur wenn sich aktives Anerkennen und passives Anerkanntwerden die Waage halten, kann Hegel zufolge Identität gelingen. Die Idee der Anerkennung des Anderen nimmt in Levinas’ asymmetrischem Modell von Anerkennung im Unterschied zu Hegel ihren Ausgangspunkt darin, dass in der Bewegung der Anerkennung ein Ungleichgewicht wirksam ist. Dieses Ungleichgewicht beruht darauf, dass ich dem Anderen gegenüber immer schon auf eine ganz grundsätzliche Art und Weise verpflichtet bin, welche jeder Form von Symmetrie vorausgeht. Wie bereits gezeigt, bringt Levinas diesen Gedanken so zum Ausdruck, dass er das Subjekt als Geisel des Anderen auffasst. Ich bin dem Anderen deshalb verpflichtet, weil ich den Anderen als anderen immer schon anerkannt haben muss, damit ich selbst von dem Anderen als anderer anerkannt werde. Das heißt, es existiert eine Asymmetrie in doppelter Hinsicht. Zum einen entzieht sich mir der Andere als anderer. Das bedeutet, dass sich meine Anerkennung des Anderen nicht in der Funktion erfüllen darf, dass der Andere auch mich anerkennt. Bezöge sich Anerkennung strikt auf diese Idee einer Wechselseitigkeit, würde ich den Anderen gerade nicht in seiner Andersheit belassen, sondern als Teil meiner Welt vereinnahmen. Das Konzept einer Anerkennung des Anderen als anderer wird mit allem Nachdruck darauf bestehen, dass Anerkennung des Anderen nicht nur ein Aneignen, sondern auch ein Ertragen oder Aushalten bedeutet. Zum anderen existiert eine Asymmetrie aber auch in der Hinsicht, dass ich in der Beziehung zum Anderen für den Anderen unersetzbar bin. Wo ich unersetzbar bin, das heißt, wo ich mich nicht vertreten lassen kann, da muss ich für den Anderen ein224

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treten, für ihn einstehen, Stellvertreter sein für den Anderen. Meine Subjektivität realisiert sich dieser Überlegung zufolge geradezu in meiner Verantwortung für den Anderen. Das asymmetrische Modell von Anerkennung als einer Anerkennung des Anderen als anderer beharrt also darauf, dass ich nicht nur wissen muss, dass der Andere mich als sich selbst weiß, sondern dass ich auch wissen muss, dass der Andere sich als sich selbst weiß. Insofern besagt der Ausdruck der Asymmetrie in diesem Zusammenhang keine Über- oder Unterordnung im Sinne einer unterschiedlichen Wertigkeit von Subjekt und Anderem. Vielmehr hebt die Rede von der Asymmetrie der Anerkennung die unverrechenbare Freiheit des Anderen einerseits und die moralische Verantwortung des Subjekts andererseits hervor.

III. Der Anspruch der Normativität Diese Auffassung eines asymmetrischen Modells von Anerkennung zeitigt Folgen für die Ausgestaltung des Verständnisses von Normativität. Der Bereich der Normativität beginnt mit der Frage, welche Werte und Wertungen Anerkennung verdienen, also anerkennungswürdig sind. Gemäß dem Ansatz einer Theorie kommunikativen Handelns in dem weiten Sinne, dass die Kommunikativität als Boden der Normativität gesehen wird, verdienen solche Werte und Wertungen Anerkennung, die zustimmungsfähig sind. Für ein asymmetrisches Modell von Anerkennung stellt sich hier die Schwierigkeit, eine angemessene Antwort auf die Frage nach der Konsensfähigkeit, also nach der Beurteilung einer Anknüpfung von sprachlichen Äußerungen zu finden. Es geht um die Frage nach der Notwendigkeit der kontingenten Struktur von Sprache. Hier kann die Theorie der Responsivität insofern weiterhelfen, als sie einen neuen Bezugspunkt im sprachlichen Verketten geltend macht, von dem her und auf den hin die Praxis des Verkettens zu denken wäre. »Der Überschritt vollzieht sich im Antworten auf einen fremden Anspruch, der weder einen Sinn hat, noch einer Regel folgt, der im Gegenteil geläufige Sinn- und Regelbildungen unterbricht und neue in Gang setzt. Das, was ich antworte, verdankt seinen Sinn der Herausforderung dessen, worauf ich antworte.« (Waldenfels 1998, S. 42) Dieser Einsicht zufolge träfe es zwar zu, dass das Verketten notA

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wendig sei und die Verkettung nicht. Der entscheidende Punkt aber wäre jenseits des lyotardschen Ansatzes darin zu sehen, dass ich die Verkettung immer schon vollzogen habe, auch wenn sie nicht als notwendig anzusehen wäre. Das heißt, das Vermögen der Vernunft, wie es in der normativen Kompetenz zum Zuge kommt, muss als von vornherein durch den Anderen begrenzt gelten. Demzufolge ginge es in einer Bestimmung der Konsensualität darum, inwiefern die Bezugnahme auf den Anderen mit einer wahrheitsfähigen Stellungnahme eines Subjekts zu verknüpfen wäre. Für die Frage nach der Normativität liegt die Bedeutung der Idee des Konsenses darin, dass sie eine Vorstellung situierter Vernunft ermöglicht, welche von einer Verbindung zwischen Verstehen und Verständigung auf der Basis des unverzichtbaren Wertes von Wahrheit ausgeht. Wenn die Idee des Konsenses in Zusammenhang mit den Geltungsansprüchen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit gesehen werden muss, dann bedeutet dies, dass Wahrheit immer auch etwas mit Konvention zu tun hat. Wahrheit wird als etwas verstanden, was vereinbart, was hergestellt oder gemacht wird. Eine radikale Interpretation einer solchen Auffassung von Wahrheit und Konvention hat Richard Rorty vorgeschlagen. Sein zentrales Argument lautet: »Da Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, da die Existenz von Sätzen abhängig von Vokabularen ist und da Vokabulare von Menschen gemacht werden, gilt dasselbe für Wahrheiten.« (Rorty 1992, S. 49) Rorty zufolge liegt der Irrtum aller realistischen Erkenntnistheorien darin, dass diese davon ausgehen würden, dass ein Bewusstsein aus spezifischen mentalen Prozessen oder Akten bestünde. Eine angemessenere Auffassung wäre, dass Verstehen oder Meinen soviel bedeuten würde wie Konversation, also Zeichen in Übereinstimmung mit einer sozialen Praxis zu verwenden. Ideale Akzeptabilität wäre dann nichts anderes als rationale Akzeptabilität im Rahmen einer spezifischen Gesellschaft, überspitzt gesagt, letztlich nichts anderes als soziale Akzeptabilität. Genau das ist gemeint, wenn Rorty die Begriffe Wahrheit und Wahrhaftigkeit durch die Begriffe Kontingenz, Ironie und Solidarität ablösen will. Zu welchen Konsequenzen würde ein solches konventionalistisches Verständnis von Wahrheit führen? Wenn Rationalität ausschließlich durch die jeweilige soziale Praxis bestimmt würde, dann gäbe es Vernunft nur in Abhängigkeit von einem Wir, welches sich über diese Perspektive seiner jeweiligen sozialen Praxis definieren wür226

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de. Wer aber würde dann die Perspektive dieses Wir bestimmen? Würde jedes Wir diese Perspektive dezisionistisch für sich selbst festlegen? Wie aber wäre dann Kommunikation überhaupt noch denkbar? Wenn aber die Rationalität eines Wir auch für ein anderes Wir gelten würde, wie offen wäre dann noch die Rationalität des Wir für ein fremdes Ihr? Nochmals anders gefragt: Was könnte den Relativismus sozialer Perspektiven begrenzen und damit füreinander aufschließen? Angesichts dieser das Unternehmen einer radikal pragmatischen Theorie stark in Zweifel ziehenden Fragen scheint eher der anderslautende Gedanke plausibel, dass Wahrheit und Konvention als nicht deckungsgleich anzusehen wären. Umgekehrt angesetzt, wenn das Festhalten an der Idee von Wahrheit überhaupt einen Wert haben soll, dann den, dass Wahrheit etwas ist, was dem Menschen vorgegeben ist. Wahrheit ist nichts, was dem Menschen zu seiner freien Verfügung gegeben ist. Wahrheit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie es ist, an der sich der Mensch orientiert. Karel Košik hat diesen Gedanken an der Deutung des Satzes ›Nicht wir haben die Wahrheit, sondern die Wahrheit hat uns‹ entwickelt: »Diese Ausdrucksweise zeichnet sich durch Eleganz aus und kann als abgekürzte Einführung in das kritische Denken dienen: zunächst zeigen sich die Dinge anders, als sie in Wirklichkeit sind; wer meint, die Wahrheit zu besitzen, erliegt einer Täuschung, und die Erfahrung führt ihn früher oder später aus seinem Irrtum heraus. Anfangs leben die Menschen in der Überzeugung, dass sie recht hätten oder dass die Wahrheit auf ihrer Seite sei, doch in der erschütternden Erfahrung stellen sie fest, dass sie Opfer von Verirrung, Wahn und launenhaftem Meinen wurden. Kein Lebensalter, weder das Alter noch die Jugend, steht zur Wahrheit in einem Eigentumsverhältnis. Die Wahrheit läßt sich nicht mit Händen greifen, sie entzieht sich jeglichem Zugriff. Niemand ist Besitzer der Wahrheit.« (Košik 2002, S. 355)

Košiks Überlegungen zum Wert der Wahrheit versuchen sich der Wahrheit und dem Wert der Wahrheit anzunähern, indem sie die Voraussetzungen und Konsequenzen von Wahrheit in den Blick nehmen. Das entscheidende Moment ist nach Košik, dass es die Wahrheit ist, die das Subjekt begrenzt und nicht umgekehrt. Das heißt, Wahrheit definiert sich nicht über eine soziale Perspektive, sondern eine soziale Perspektive wird durch Wahrheit definiert. Dennoch sind Wahrheit und Konvention nicht einfach zwei grundsätzlich verschiedene Dinge. Es A

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gilt hier zwei Fragen zu unterscheiden. Die erste Frage lautet: Ist Wahrheit Resultat eines Aktes der Herstellung oder eines Aktes der Widerspiegelung? Die zweite Frage lautet: Ist Wahrheit vorgeordnet oder nicht? Wenn die Rede von Wahrheit überhaupt eine Bedeutung haben soll, dann die, dass Wahrheit der Perspektive eines erkennenden Subjekts vorgeordnet ist. Ein erkennendes Subjekt ist abhängig von einem Bezug zur Wahrheit. Dieser Bezug zur Wahrheit aber ist dem Subjekt nicht einfach fix und fertig vorgegeben. Das Subjekt selbst ist es, welches den Bezug auf die Wahrheit herstellt. Und weil es selbst diesen Bezug herstellt, kann es die Wahrheit treffen oder verfehlen. Der Bezug zur Wahrheit ließe sich so gesehen als Akt einer Reproduktion beschreiben, in welchem sich der Initiative eines Subjekts ihr zugängliche Phänomene erschließen. Anders gesagt, ginge es um ein Antwort gebendes Antworten auf die Herausforderungen der Wirklichkeit. Gegen die Rede von einem Wert der Wahrheit ließe sich einwenden, dass hier eine epistemologische und eine ethische Ebene auf unzulässige Weise vermischt würden. Mit Bernard Williams lässt sich dagegenhalten: »Die Formulierung ›Wert der Wahrheit‹ sollte als Abkürzung für den Wert verschiedener Zustände und Tätigkeiten aufgefaßt werden, die man mit der Wahrheit in Verbindung bringt.« (Williams 2003, S. 19) Das Spannende an Williams Auffassung ist, dass sie die Bedeutung der Wahrheit über eine Theorie des Wertes der Wahrheit, also aus dem Zusammenhang von Wahrheit und Konvention heraus, plausibel machen will. Es geht sozusagen um eine funktionale Theorie zur Begründung von Wahrheit. Jeder Versuch einer Leugnung der Notwendigkeit von Wahrheit gerät nach Williams in einen Selbstwiderspruch, in dem sich derjenige verfängt, der die Notwendigkeit von Wahrheit bestreiten möchte. »Der Angriff auf eine spezifische Form der Wahrheit, wie etwa im genannten Fall auf die historische Wahrheit, ist abhängig von diesen oder jenen Behauptungen, die ihrerseits für wahr gehalten werden müssen.« (ebd., S. 12) Einsicht in Wahrheit ist also eine immer schon notwendige Voraussetzung, um spezifische Formen von Wahrheit, die sich als Irrtümer herausstellen, zu bestreiten. Basis eines solchen Umgangs mit Wahrheit ist nach Williams eine Sprachgemeinschaft. »Im Naturzustand gibt es eine Gesellschaft weniger Menschen mit gemeinsamer Sprache, aber ohne komplizierte Technik und ohne jede Form von Schrift.« (ebd., S. 69) Williams entwirft damit ein genealogisches Modell kommunikativer Intersubjektivität, mittels dessen bei vereinfach228

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§ 24 Normativität als Kraft der Bindung

ten Bedingungen der Wert der Wahrheit plausibel gemacht werden soll. In diesem genealogischen Modell schreibt Williams einer Sprachgemeinschaft drei elementare Merkmale zu. Neben den Merkmalen des Erlernens der Sprache und der Verwendung von Vorstellungen über Raum und Zeit kommt der in der Sprachgemeinschaft gepflegten Kommunikation das Merkmal der Positionsbedingtheit zu. Positionsbedingtheit ist als Vorteil anzusehen, weil ihr die Vorstellung zugrunde liegt, »ein Sprecher könne einer anderen Person deshalb über eine Situation berichten, weil er sich in ihr befindet oder befand, während sich der Hörer nicht dort befindet oder befand.« (ebd., S. 70) Damit eine solche positionsbedingte Kommunikation gelingen kann, bedarf es bestimmter Einstellungen oder Dispositionen seitens der Individuen, die sich als Sprecher und Hörer im Kommunikationsprozess bewegen. »Die Gemeinschaft hat ein Interesse am Besitz korrekter Informationen über die Umwelt, über deren Risiken und Chancen, und das gleiche gilt für jedes Individuum. Daher hat jeder einzelne (grob gesprochen) ein Interesse daran, die Eigenschaft der Genauigkeit zu besitzen, und außerdem liegt es (noch gröber gesprochen) ebenfalls im Interesse des einzelnen, dass andere diese Eigenschaft haben.« (ebd., S. 92) Genauigkeit und Aufrichtigkeit sind diese Dispositionen. »Man hat alles, was man kann, um zu wahren Überzeugungen zu gelangen; und was man sagt, zeigt, was man glaubt.« (ebd., S. 26) Williams’ Argumentationsgang lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Damit sich das Merkmal der Positionsbedingtheit für eine Sprachgemeinschaft als Vorteil darstellt, bedarf es seitens der Teilnehmer dieser Sprachgemeinschaft einer Einstellung, die nach Genauigkeit und Aufrichtigkeit strebt. Diese Einstellung kommt durch die vorbehaltlose Anerkennung der Geltungsansprüche von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zustande. Das heißt, für die Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft müssen die Werte der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit ein »intrinsisches Gut« (ebd., S. 142) bezeichnen. Ihnen »muß ihr Wert sozusagen von innen heraus sinnvoll erscheinen« (ebd., S. 142). Anders herum gewendet, die Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft müssen an den Werten von Wahrheit und Wahrhaftigkeit immer und vielleicht gerade dann festhalten, wenn ihnen selbst als Teilnehmern das Festhalten an diesen Werten nicht zum Vorteil, sondern zum Nachteil gereichen würde.

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IV. Rationalität als situierte Vernunft (1) Die Frage nach der Universalität des Vermögens der Vernunft bildet den Hintergrund für eine in der Sozialphilosophie verhandelte Alternative, wie sie in den Begriffen ›offene Gesellschaft‹ versus ›geschlossene Gesellschaft‹ zum Allgemeingut der philosophischen Diskussion geworden ist. Entwickelt wurden diese Begriffe von Henri Bergson (Bergson 1980) Anfang des 20. Jahrhunderts. Von Karl Popper (Popper 2003; Popper 2003a) wurden sie unter dem Titel ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ in die Form des Kalten Krieges gebracht. Ohne hier die Bedeutungsgeschichte dieser Begriffe auch nur annähernd nachzeichnen zu können, möchte ich die Beschreibung des Gegensatzes von der offenen zur geschlossenen Gesellschaft als Grundlage für die Analyse eines universalistischen Selbstverständnisses des Vermögens der Vernunft heranziehen. In einer geschlossenen Gesellschaft besteht ein gemeinsamer Nenner gesellschaftlicher Normen, welche dem einzelnen vorgegeben sind. In einer offenen Gesellschaft gibt es keinen gemeinsamen Nenner gesellschaftlicher Normen, allenfalls einen Prozess der Suche nach solchen Normen, aber in einer Weise, dass alle einen Anspruch darauf haben, an dieser Suche beteiligt zu sein. Die Alternative von der offenen gegenüber der geschlossenen Gesellschaft lässt sich in die Formel ›Autonomie versus Heteronomie‹ fassen, was den Aspekt individueller Freiheit betrifft. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation scheinen zum einen die Nachteile offener Gesellschaften drängend zu werden, wie sie beispielsweise unter solchen Stichworten wie Orientierungslosigkeit, Zerfall von Gemeinschaft, zynischem Selbstverständnis thematisiert werden. Zum anderen können sich aber auch nach innen hin offene Gesellschaften in ihrem Außenverhältnis durchaus als harte Formen geschlossener Gesellschaften darstellen. Von daher möchte ich die Frage aufwerfen, welchen Sinn die Verwendung der Kategorien von offener und geschlossener Gesellschaft haben kann. Es kann nicht von vornherein als ausgemacht gelten, ob ein bestimmtes Gesellschaftssystem dem Typ einer offenen oder dem Typ einer geschlossenen Gesellschaft entspricht. Vielmehr kann eine solche Unterscheidung nur als ein im Sinne Max Webers idealtypischer Orientierungsrahmen der Sozialphilosophie dienen, von dem aus konkrete Gesellschaftssysteme interpretiert werden. Die spezifische Bedeutung der bergsonschen Unterscheidung von 230

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offener und geschlossener Gesellschaft sehe ich aber darin, dass hier der Bereich der Sozialphilosophie über eine epistemologische Unterscheidung des Vermögens der Vernunft erschlossen wird. Die epistemologische Unterscheidung bezieht sich auf die Differenz zwischen dem Universalen und dem Kontextuellen. Universal meint das Gesamt der von menschlicher Vernunft entwickelten Formen, der Formen von Theorie, Praxis und Poiesis im aristotelischen Sinne. Kontextuell meint den Rahmen oder Horizont, innerhalb dessen sich eine bestimmte Gesellschaft konstituiert. Nun sind mindestens zwei Arten einer sinnvollen Verknüpfung des Universalen mit dem Kontextuellen denkbar. Die eine Verknüpfung setzte das Universale über das Kontextuelle. Dies entspräche dem Modell der geschlossenen Gesellschaft, in welchem die Formen der Vernunft, genauer gesagt, ein Universum epistemischer Rationalität, den allgemeinen Rahmen eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses definieren würde. In einem solchen Konzept würde der Begriff eines Systems oder einer Totalität zum Ausgangspunkt gemacht. Die Allgemeinheit eines Wissens bildete den Dreh- und Angelpunkt, von dem aus alle anderen Bereiche zugänglich würden. Eine zweite Verknüpfung setzte umgekehrt das Kontextuelle über das Universale. Diese wäre das Modell der offenen Gesellschaft, in welcher das Universum epistemischer Rationalität vom Rahmen eines spezifischen gesellschaftlichen Selbstverständnisses in Anerkenntnis anderer, konkurrierender Gesellschaften her definiert würde. In diesem Konzept würde der Begriff eines Axioms oder einer Alterität zum Dreh- und Angelpunkt. Hier ginge es in einem ersten Schritt um eine Anerkennung unterschiedlicher Individualitäten, die sich erst in einem zweiten Schritt dem Wissen aufschlössen. In einer wissenschaftsgeschichtlich interessierten Perspektive hat Michel Serres (Serres 1998, S. 636 ff.) zugunsten des Typs einer offenen Gesellschaft argumentiert. Sein Argument folgt einer Überlegung von Regis Debray, welche das Gödelsche Axiom in die Sozialphilosophie überträgt. Das Gödelsche Axiom besagt vereinfacht gesprochen, dass jedes formale System mindestens eine Voraussetzung hat, die in und von dem formalen System selbst nicht mit zureichender Notwendigkeit dargestellt werden kann. Das würde aber bedeuten, dass die Vernunft eines Systems über jede von ihr hergestellte Formalisierung hinausgehen muss. Aus dieser Einsicht würde folgen, dass Systeme nicht geschlossen sind, weil sie nicht vollständig selbstbezüglich A

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sein können. Systeme sind offen angelegt, eben weil sie axiomatisch sind. Wenn dieses Argument zutreffen sollte, ließe sich daraus ein Hinweis ableiten, dass das Modell einer offenen Gesellschaft mit seiner Überordnung des Kontextuellen über das Universale dem Modell einer geschlossenen Gesellschaft vorzuziehen wäre. Die Schwierigkeiten eines Modells der offenen Gesellschaft lägen dann aber darin, und in der Antwort darauf unterscheiden sich die Interpretationen gravierend, wie denn dieses Axiom eines Kontextuellen zu deuten wäre. Denn einerseits befindet sich das Axiom außerhalb des Systems selbst, andererseits müsste aber jede Art von Deutung vom System selbst her vorgenommen werden. Das Problem bestünde also darin, wie so etwas wie ein für ein System kontextuelles Axiom von eben dem System aus sollte beschrieben werden können, dem es prinzipiell nicht zugänglich wäre. (2) Diese paradoxe Form von Anforderungen einer gleichzeitig gegebenen Einbindung und Überschreitung macht den Kern dessen aus, was die Auffassung von einer Kontextualität der Vernunft bedeutet. Der Auffassung von einer Kontextualität der Vernunft zufolge ist Rationalität als Vernünftigkeit im Sinne eines Vermögens an Vernunft immer nur als Vermögen in einem bestimmten Rahmen fassbar. Vernunft ist deshalb stets situierte Vernunft. Ein solches Basisvermögen an Rationalität lässt sich beispielsweise mit Herbert Schnädelbach folgendermaßen beschreiben: »Die Figur des ›reflexiven Habens‹ als Basismerkmal von Rationalität überhaupt kann somit präzisiert werden anhand der selbstbezüglichen Thematisierung von … Performanzen in der Perspektive der 1. Person Singular oder Plural; nur, wer es vermag, ›ich‹ oder ›wir‹ zu sagen und das, was er ist oder tut, zu thematisieren und sich selbst zuzurechnen, ist rational.« (Schnädelbach 1992, S. 76; vgl. dazu auch: Habermas 1999, S. 103) Das Basisvermögen von Rationalität als selbstbezüglicher Reflexion artikuliert sich demzufolge in den Merkmalen Selbstbewusstsein, Thematisierung und Verantwortlichkeit. Ein solches Vermögen der Vernunft, oder besser, ein solches Vermögen zur Vernunft ist immer eingebettet in die Strukturen einer Person. Deshalb tritt neben das erste Merkmal von Rationalität als situierter Vernunft als zweites Merkmal der konventionelle Charakter der Rationalität. Situierte Vernunft als Rationalität ist eingebettet in die Strukturen einer Person, welche wiederum immer individuell und 232

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sozial geprägt sind. Das heißt, die Kontextualität von Vernunft bedeutet immer auch deren Konventionalität. Für den Gedanken einer Universalität von Vernunft folgt daraus weiter als drittes Merkmal, dass sich die Universalität der Vernunft in einer Erweiterung von Rationalität vollzieht. Die Universalität der Vernunft wird zu einem komparativischen Prinzip, welches bedeutet, dass das Vermögen einer Rationalität eine Allgemeinheit stets von einem Rahmen her und auf einen Rahmen hin interpretiert. In der Frage nach der Universalität der Vernunft geht es dann ganz entscheidend um das Vermögen einer Rationalität zu ihrer Offenheit beziehungsweise zu ihrer Öffnung. Denn die Allgemeinheit eines Interesses muss sich in der Auseinandersetzung mit anderen Interessen bewähren. (3) Letztlich vermag nur ein Wert im Sinne eines intrinsischen Gutes der Gefahr eines Relativismus zu begegnen, weil sich erst ein solcher Wert als Selbstzweck darstellen kann, der in fortwährender Reflexion stabil bleibt. Von hier aus wird der Gedanke einer Art Selbstbegrenzung denkbar, ohne welchen eine Selbstverständigung nicht hinreichend kritisch zu nennen wäre. »An diesem Punkt macht sich häufig ein müßiger Relativismus bemerkbar, der darauf hinausläuft, dass die Äußerungen der anderen ›für sie‹ wahr seien, während unsere Äußerungen ›für uns‹ wahr seien. Sofern man diese Auffassung überhaupt kohärent wiedergeben kann, stellt sie eine Form der Interpretation dar, die in unserem speziellen Fall die Behauptungen der Fremden und unsere eigenen so deutet, dass sie keine einander widerstreitenden Erklärungen implizieren. Diese Form der Interpretation mag einigen Fällen angemessen sein, aber wenn dem so ist, muß es nachgewiesen werden, und zwar im Lichte eines allgemeinen Bildes, das wir uns von dem Verhältnis zwischen uns und den anderen machen. Die genannte Form von Relativismus geriert sich oft ganz selbstzufrieden als Zeugin der Gleichheit aller Menschen und als Weigerung, den anderen unsere eigenen Vorstellungen aufzuzwingen, aber in Wirklichkeit setzt sie, sofern sie überhaupt etwas leistet, eine unserer Vorstellungen gegen andere durch. Sie gibt auf, ehe die eigentliche Arbeit des Verstehens der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Menschen auch nur beginnt.« (ebd., S. 84)

Wenn Wahrheit und Wahrhaftigkeit intrinsische Güter vorstellen, dann lassen sich aus diesen Werten Leitvorstellungen zur Überprüfung der Wirklichkeit ermitteln. Williams versucht es, die Intuitionen KritiA

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scher Theorie aufnehmend, ein solches Prinzip zu entwickeln. Dies führt ihn zu folgender Formel: »Wenn sie richtig verstünden, wie sie zu dieser Überzeugung gekommen sind, würden sie diese Überzeugung dann fallen lassen?« (ebd., S. 337) Der springende Punkt in Williams’ Formulierung dieses Prinzips ist sein immanenter Ansatz, in welchem sich diese Formulierung von der Tradition der Kritischen Theorie unterscheidet. Kein kritisches Prinzip vermag die in Überzeugungen gegebene und nur hermeneutisch zu erschließende Selbstverständigung zu überspringen. Aber ein kritisches Prinzip muss in der Lage sein, die Überzeugungen von einem unabhängigen Maßstab her austesten zu können. »Gemäß der hier vorgelegten Analyse liegt das Interesse der Benachteiligten im Streben nach dem fundamentalsten Freiheitsgefühl, nämlich dem Gefühl, nicht der Macht eines anderen ausgeliefert zu sein. Vor allem wenn diese nicht erkannt wird; und das Streben nach Wahrheit richtet sich auf diesem Gebiet auf das Ziel, Vorstellungen auszuräumen, die den Effekt haben, Menschen in einer solchen Situation zu halten.« (ebd., S. 343)

Eine solche Interpretation wäre nach Williams’ eigener Einschätzung deshalb »kontextualistisch« (ebd., S. 336) zu nennen, weil sie die Werte der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit im Rahmen von Selbstverständigung verankern würde. Eine kontextualistische Theorie hält an der Einheit von Weg und Ziel bei den Werten von Wahrheit und Wahrhaftigkeit fest. Solche Selbstverständigung vollzieht sich in Perspektivität, weil die Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft stets nur ›positionsbedingt‹ operieren. Ohne diesen Hintergrund vermag eine Sprachgemeinschaft nicht zu funktionieren. Es geht hier um die Bewahrung kontextualistischer Theorie vor der Pointe eines Witzes, mit dem Rortys Position kritisiert wurde, und den Williams zitiert: »Natürlich ist der Pragmatismus wahr; das Mißliche ist, dass er nicht funktioniert.« (Williams 2003, S. 94, Anm. 14) Ohne das Beharren auf einer Auffassung von Wahrheit als eines intrinsischen Gutes und mit der Reduzierung von Wahrheit auf Schaden-Nutzen-Kalküle würde das Vermögen der Vernunft entscheidend beeinträchtigt, die Selbstverständigung eines Individuums zu hinterfragen. (4) Ein kontextualistischer Ansatz bezieht sich auf ein um Selbstverständigung ringendes Subjekt, welches durch die Struktur einer Teilnehmerperspektive charakterisiert ist. Auf dem Boden der Perspektivi234

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tät, sozusagen als deren Grundlage, findet sich das Phänomen der Unentscheidbarkeit. Jacques Derrida hat den Gedanken der Unentscheidbarkeit folgendermaßen entwickelt: »Die Unentscheidbarkeit ist alles andere als eine Phase, welche die Entscheidung hinter sich lassen könnte; und die Prüfung des vielleicht, der die Unentscheidbarkeit, das heißt die Bedingung der Entscheidung, uns unterzieht, ist kein Moment, den man überwinden, vergessen, auslöschen könnte. Sie ist und bleibt das, was die Entscheidung als solche konstituiert, sie ist auf immer mit ihr verbunden, sie bringt sie allererst hervor, als Entscheidung im Unentscheidbaren und durch es hindurch.« (Derrida 2000a, S. 296) Derrida zufolge ist Unentscheidbarkeit eine konstante Bedingung von Entscheidungen. Entscheidungen gehen aus der Unentscheidbarkeit hervor und bleiben ihr verbunden. Das heißt, es gibt ein kontingentes Moment, welches den Kern aller Entscheidungen ausmacht. Dieses kontingente Moment, welches die Unentscheidbarkeit darstellt, kann einerseits als voluntaristisches Moment erscheinen, insofern es einen subjektiven Willen in einer objektiven Ordnung artikuliert. Andererseits kann auch ein solches voluntaristisches Moment einer objektiv beobachtenden Analyse unterzogen werden, welche dessen genetische Wurzeln und Strukturen freilegt. Der springende Punkt liegt darin, dass die Unentscheidbarkeit in den Kern des Subjekts als Person gehört. Anders ausgedrückt, die nach Identität strebende Ipseität eines Selbst ist es, welche in der Unentscheidbarkeit zum Ausdruck kommt. Das Phänomen einer derartigen Unentscheidbarkeit beruht auf der Singularität und auf der Iterabilität von Ereignissen. Jedes Zeichen ist singulär, also einzigartig, und in der Iterabilität, also in der Wiederholung, wird es immer schon verändert. Derrida argumentiert Manfred Frank zufolge ungefähr so, dass »jedes Zeichen – da nicht ›von Natur‹ artikuliert – seine Identität durch Ausgrenzung seines Zeichenkörpers von dem aller anderen vermittelt. Die Bedeutung des Zeichens a wäre also vermittelt durch Relationen des Andersseins – als gegenüber den Zeichen b, c, d, e, f usw. Nun gibt es keinen zwingenden Grund anzunehmen, dass die Kette der negativ vom ersten (zu identifizierenden) Zeichen fernzuhaltenden Oppositionsterme endlich wäre. Mithin sind die Grenzen der semantischen Identität eines Terms Funktionen eines offenen Systems permanenter Neudifferenzierung ohne mögliche Präsenz eines Terms mit sich selbst. Das kann man theatralischer mit Derrida auch so formulieren, dass jeder Zeichensinn von sich selbst getrennt, die Zeichenidentität also gespalten und die A

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Sinnzuweisung des Zeichens zu etwas Unentscheidbarem wird.« (Frank 1992, S. 29 f.)

Weil sich ein Zeichen immer in Relation zu anderen Zeichen definiert und die Menge der Relationen unendlich ist, deshalb steckt im Zeichenbegriff jene bestimmte Art von Unabschließbarkeit, welche Derrida als Unentscheidbarkeit bezeichnet. Die Unhintergehbarkeit des sich selbst gegenüber immer schon verspäteten Subjekts hat Derrida in seiner Kritik an Husserls Vorstellung von einer Kontinuität der Wahrnehmung näher erschlossen. Dort gilt als das entscheidende Moment einer Ganzheit der Wahrnehmung, welche der Ganzheit eines Subjekts, also ihrer Identität entspricht, der Augenblick. In dem Moment aber, in dem aus dem diskreten Moment des Augenblicks eine Kette von Augenblicken entstehen soll – und sie entsteht zweifelsfrei, sonst gäbe es keine kontinuierliche Wahrnehmung –, tritt neben den Augenblick ein Moment des Augenschließens. Das heißt, die Kontinuität der Wahrnehmung eines Subjekts ist immer schon in sich gebrochen. »Sowie man diese Kontinuität des Jetzt und des Nicht-Jetzt, der Wahrnehmung und der Nicht-Wahrnehmung in der Urimpression und Retention gemeinsamen Originaritätszone zugesteht, empfängt man den Anderen in der Selbstidentität des Augenblicks: die Nicht-Gegenwärtigkeit und die Nicht-Einsichtigkeit im Augenzwinkern des Augenblicks. Es gibt eine Dauer des Augenzwinkerns, und sie verschließt das Auge.« (Derrida 2003, S. 89)

Derridas Einsicht zufolge gibt es eine Ganzheit der Wahrnehmung nur als Nebeneinander von Verbindung und Bruch. Es ist diese in sich gebrochene Einheit, welche die Struktur eines Selbst bildet. Der Begriff der Unentscheidbarkeit beschreibt deshalb ein double bind, das heißt eine unmögliche Situation. Auf der einen Seite unterliegt meine Individualität allen möglichen Determinationen, auf der anderen Seite geht sie in keiner dieser Determinationen vollständig auf. Wenn dies so ist, dann bedeutet das, dass sich die Individualität durch einen Spielraum auszeichnet, den sie durch eine Option, also durch eine Entscheidung nutzen kann. (Vgl. dazu: Derrida 2001, S. 229) Diese Option ist und bleibt aber eine Option. Sie kann niemals vollständig in eine Determination überführt werden. Den Schwierigkeiten mit der Unentscheidbarkeit lässt sich aber andersherum auch ein positiver Grundzug abgewinnen. Denn wenn und weil Individuen niemals füreinander transparent sind, sind sie aufeinander verwiesen und 236

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angewiesen. Gerade aufgrund ihres Kerns an Unentscheidbarkeit bedürfen Individuen einer Vorstellung von einer Allgemeinheit zum Zwecke ihrer gegenseitigen Verbindung. (5) Aus dieser Einsicht in die in sich gebrochene Einheit einer Option folgert Derrida, dass es keine vollständige Theorie des Performativen geben kann. Entscheidungen lassen sich ›vielleicht‹ im Nachhinein aufschlüsseln, aber sie lassen sich nicht im Vorhinein bestimmen. »Der Augenblick der Entscheidung muß jedem Wissen als solchem, jeder theoretischen oder konstativen Bestimmung gegenüber heterogen bleiben, auch wenn jedes denkbare Wissen und Bewußtsein ihm vorangehen können und müssen.« (Derrida 2000a, S. 296) Die Entscheidung, jede Entscheidung bleibt deshalb ein unhintergehbarer Akt, von dem Theorie als verstehendes Wissen auszugehen hat. Mit der Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Entscheidungen aufgrund ihrer Unentscheidbarkeit gewinnt aber der Rahmen dieser Entscheidungen an Bedeutung. Keine Entscheidung ohne Voraussetzungen, kein Text ohne Kontext, könnte man sagen. Das Besondere eines solchen kontextualistischen Ansatzes wäre darin zu sehen, dass die Geltungsansprüche, die in Überzeugungen enthalten sind und mit deren Artikulation erhoben werden, sich in einer Zwischenlage befänden. Sie befänden sich in einer »Zwischenlage, die sich der Dichotomie anspruchsfreier Tatsachen und kontrafaktischer Ansprüche entzieht« (Waldenfels 1987, S. 37). Das heißt, es handelt sich um situative oder kontextuelle Ansprüche, in denen Rationalität und Faktizität immer schon ineinander verwoben sind. Für die Kontinuität des Verkettens, wie es in einem Gespräch notwendigerweise gegeben sein muss, bedeutete dies, dass eine Verkettung nicht als Verknüpfung, sondern als Anknüpfung gedacht werden müsste. Die Form ihrer Allgemeinheit würde in Form einer lateralen Allgemeinheit vorgestellt. Nach Waldenfels wäre die Form einer Anknüpfung dadurch gekennzeichnet, dass der Zusammenhang der Bindeglieder nicht durch ein Drittes hergestellt würde, sondern aus einem unmittelbaren Nebeneinander zwischen den Gliedern einer Kette entstünde. Weiter wäre deren Beziehung als asymmetrisch zu bezeichnen, das heißt spezifisch in dem Sinne, dass die Beziehung immer auf die Eigenart der Bindeglieder zurückginge. Und die Beziehung wäre offen zu nennen in dem Sinne, dass die Eigenart der Bindeglieder nicht in der Beziehung aufginge. In einer lateralen Allgemeinheit gibt es stets ein A

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»Feld von Anknüpfungsmöglichkeiten« (ebd., S. 39), dessen Potential niemals ausgeschöpft wird. Im Hintergrund einer solchen kontextualistischen Auffassung steht Heideggers Begriff von Wahrheit als Erschlossenheit. Eine Perspektive aufzuweisen ist entscheidendes Merkmal von Praxis. Nach Heidegger bezeichnet der Primat der Praxis das ›Sich-nicht-melden der Welt‹. Erst durch die Distanz einer Beobachterperspektive wird ein Sachverhalt bestimmbar und damit erkennbar. Diese Distanz stellt die Beobachterperspektive her, indem sie etwas als etwas betrachtet. Das heißt, sie deutet einen Gegenstand als Phänomen. Diese Einsicht lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen. Wenn ich anhand eines Thermometers die Temperatur in Grad Celsius ermittle, dann bedeutet diese Datenfeststellung für das Thermometer überhaupt nichts. Auch einem Tier würde diese Datenfeststellung nichts bedeuten. Für mich als messenden Beobachter kann diese Datenfeststellung aber etwas bedeuten, wenn ich die Ergebnisse in einen Zusammenhang einordne, das heißt, wenn ich sie angemessen interpretiere. Erst wenn ich die Sachverhalte als Phänomene deute, gewinnen sie eine Bedeutung. Auf dieser Überlegung baut eine phänomenologische Theorie auf, wenn sie Wissen als einen subjektiven Zugang zur objektiven Wirklichkeit nimmt. (6) Aus einem solchen kontextualistischen Ansatz lassen sich verschiedene Konsequenzen ziehen. Eine erste Konsequenz wäre die, dass zum Begriff der Wahrheit so etwas gehören würde wie Evidenz als Selbstgegebenheit einer Sache. Es ist die Sache selbst, die sich einer subjektiven Perspektive als Phänomen zeigt. Das heißt, Erkennen als Verstehen impliziert ein Moment an Passivität beim Subjekt, welches darin besteht, dass das Subjekt im Verstehen auf etwas anderes zurückgreift. Umgekehrt ist es das Objekt, welches sich dem Subjekt zeigt. Streng genommen bedeutet der Ansatz bei der Erschlossenheit, dass es für ein Subjekt immer nur einen indirekten Zugang zu den intendierten Objekten gibt. Der Zugang ist deshalb stets indirekt, weil er immer schon den Umweg über einen Horizont nimmt. In allen kontextgebundenen Formen des Wissens steckt eine ›praktizierte Unmöglichkeit‹. Eine zweite Konsequenz würde besagen, dass ein kontextualistischer Ansatz einer realistischen Wahrheitstheorie zu folgen hätte. Eine realistische Wahrheitstheorie sucht ihren Ausgangspunkt in einer Art und Weise, wie es Wittgenstein schildert: »Habe ich die Begründungen 238

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erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück.« (Wittgenstein 1993, S. 139 f.) Dieser Ansatz bezieht sich auf Erfahrung im Umgang mit Sachen und Sachverhalten. Das heißt, es geht zwar um ein pragmatisches Fundament, um das, was wir immer schon können. Die Erfahrung erreicht aber in einem solchen pragmatischen Fundament ihren Boden dann, wenn die Begründungen leerlaufen. Der Boden ist da gegeben, wo wir aufhören müssen zu graben, weil wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr weiterkommen. Im Mangel an weiteren sinnvollen Verweisen zeigt sich die Selbstgegebenheit einer Sache in ihrer zweifelsfreien Ersichtlichkeit. Die cartesianischen Prinzipien der Gewissheit und Klarheit sind gegeben, wenn das Wissen einen Ruhepunkt erreicht hat. Eine dritte Konsequenz ginge dahin, dass der Kontext einer Teilnehmerperspektive einen variablen und keinen konstanten Zusammenhang darstellen würde. Ein Kontext erscheint als Horizont. Das heißt, er weist einen Rahmen aus, der letztlich unerreichbar ist, dem wir uns aber annähern oder vor dem wir zurückweichen können. Ein Kontext ist unabschließbar. Das bedeutet, dass eine kontextuelle Rationalität sowohl von der Historizität unterschiedlicher Entscheidungen als auch von der Exteriorität der Entscheidungen unterschiedlicher Teilnehmerperspektiven abhängig ist.

§ 25 Zum Begriff einer Grenznorm I.

Welt der Ordnungen

Ordnungen sind bestimmte Gesamtheiten an Normen und Wertvorstellungen, welche jeweils einer einheitlichen Perspektive unterliegen. Sie weisen Merkmale einer bestimmten Gesetzmäßigkeit auf, wobei Gesetzmäßigkeit hier soviel meint wie ein Minimum eines erkennbaren Zusammenhangs, einer irgendwie gearteten Struktur oder eines Musters. Ordnungen spiegeln sozusagen eine bestimmte Perspektive wider. Nach Waldenfels lassen sich drei Arten von Ordnungen unterscheiden. Es gibt Gesamtordnungen, Grundordnungen und Grenzordnungen. Der Unterschied zwischen den einzelnen Arten von Ordnung wird dadurch bestimmt, welche Rolle die jeweils leitende Norm für die Ordnung spielt. In einer Gesamtordnung habe ich eine Gesamtnorm, welche alle A

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Bereiche erfasst und für diese ein konstitutives Verständnis entwickeln kann. Mit der Gesamtnorm habe ich den Plan der Welt verstanden, ich kann sie als System deuten. In einer Grundordnung gibt es diese einheitliche Gesamtschau nicht mehr. In einer solchen Ordnung gibt es nur eine Grundnorm, von welcher aus die Basis der Unterschiedlichkeiten festgelegt werden. Die Welt besteht aus zwei Bereichen, der regelgeleiteten Basis mit ihrer Grundnorm und dem ›Überbau‹ mit seinen Variationen. In einer Grenzordnung gilt es zu konstatieren, dass sich auch diese vorgeblich so sichere Unterscheidung von Basis und Überbau aufgelöst hat. Es gibt weder eine einheitliche Gesamtschau noch einen festen Vorrat an Regeln. Dennoch existiert ein Bedürfnis nach Ordnung, welches einerseits aus der Einsicht in die ungebrochene Notwendigkeit von Gemeinsamkeit gespeist wird, andererseits aus der Einsicht in die Kraft und Vielfalt freier Variation, wie sie in unterschiedlichen Perspektiven ihren Ausdruck findet. Aufgabe der Grenznorm ist es, die Gemeinsamkeiten von Sinn in den unterschiedlichen Perspektiven geltend zu machen. Während das Konzept einer Gesamtnorm ein fixes Konzept zur Regulierung von Deskriptivität und Präskriptivität annimmt, unterscheidet das Konzept einer Grundnorm die Aspekte einer historisch sich entwickelnden Deskriptivität und einer fixen Präskriptivität. Das Konzept einer Grenznorm wiederum geht von der Historizität sowohl der Deskriptivität als auch der Präskriptivität aus, interpretiert aber die in der Präskriptivität vorliegende Normativität in ihrer kontextuellen Funktion als regulative Idee von Verstehen und Verständigung.

II.

Das Wesen der Grenze

Im Mittelpunkt des Verständnisses einer Grenznorm steht eine Perspektive. Diese gestaltet sich als freie Variation in Aufmerksamkeit. Aber auch hier gilt, dass die Freiheit des einen dort aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt. Diesem Satz zufolge ist das Thema der Grenze das Thema der Freiheit, wie es Rymkiewicz formuliert hat. Der Universalismus der Freiheit beruht darauf, dass es diese Grenze gibt. Fällt diese Grenze, gibt es auch keine Freiheit mehr. Grenze setzt Freiheit und Freiheit setzt Grenze voraus. Bei Klibansky findet sich die Formulierung, dass es ohne zumindest einen Rest von Platonismus keinen Humanismus gäbe. Das legt 240

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ein Verständnis nahe, gemäß welchem die Idee als Grenze des Seins gelten kann. In unserem Zusammenhang hieße das dann, dass ein solcher Rest an Idee als Grenznorm fungiert. Ohne zumindest einen solchen Rest an Idee wäre ein Verständnis von Sein überhaupt nicht denkbar. Ideen bieten Ideale, sie bieten einen Überschuss an Verständnis und Verständigung, vielleicht sogar die Intuition einer heilen Welt. Jede Grenze zeigt, dass es etwas gibt, was vor der Grenze liegt, und dass es etwas gibt, was hinter der Grenze liegt. Insofern beinhaltet eine Grenze mit ihrer Trennung zugleich auch immer einen Übergang. Das heisst, eine Grenze ist immer zugleich Schranke und Schwelle. Als Schranke verweist eine Grenze darauf, dass es Eigenes vor der Grenze von Fremdem hinter der Grenze auseinanderzuhalten gilt. Die Bereiche des Eigenen und des Fremden stehen aber nicht gleichartig nebeneinander. Wir befinden uns immer schon im Eigenen, das wir auch nicht verlassen können. Vom Eigenen aus gehen wir den Austausch mit dem Fremden an. Weil das Fremde ein Bereich ist, der sich nicht von uns beherrschen lässt, gibt es immer die Notwendigkeit der Aneignung des Fremden, aber auch das Fremdwerden des Eigenen. Hegel entwickelt die Auffassung, dass Einsicht in das Wesen der Schranke schon bedeutet, über dieselbe hinaus zu sein. Er führt aus, »daß darin selbst, daß etwas als Schranke bestimmt ist, darüber bereits hinausgegangen ist. Denn eine Bestimmtheit, Grenze ist als Schranke nur bestimmt im Gegensatz gegen sein Anderes überhaupt als gegen sein Unbeschränktes; das Andere einer Schranke ist eben das Hinaus über dieselbe.« (Hegel 1979, S. 145) Damit gewinnen wir einen Ansatz für das Verständnis der Grenze als Schwelle. Eine Schwelle ist ein Ort des Übergangs, an dem oder über den das Eigene zum Fremden und das Fremde zum Eigenen gelangt. So wie eine Grenze das Eigene in Bezug auf das Fremde begrenzt, so kann es das Eigene in Bezug auf das Fremde auch entgrenzen. In der mittelalterlichen Philosophie wurde die Grenze auch als ›Mauer des Paradieses‹ interpretiert. Diese Metapher thematisiert die doppelte Bedeutung der Grenze als Schranke und als Schwelle in einer bestimmten Hinsicht. Die Grenze gilt ihr als Schranke in epistemologischer Hinsicht. An dieser Stelle gibt es für die Vernunft nur ein Begreifen des Unbegreiflichen, mit einem Rest an Unbestimmtheit. Die Grenze gilt ihr als Schwelle in eschatologischer Hinsicht. Sie ist die Pforte, an welcher sich die Erschließung von und durch Gottes Perspektive zeigt, nicht als Gesamtperspektive, sondern in dem Sinne, dass ein A

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Ganzes in jeder Einzelperspektive sichtbar wird. Das Einzelne wird damit als Moment in oder an einem Ganzen identifizierbar (Decorte 2006, S. 319 f.). In diesen Zusammenhang gehört auch Walter Benjamins Bestimmung der Zeit als der eschatologischen Pforte, durch welche der Messias in die Welt trete. Diese Überlegungen dienen als Hinweis darauf, dass der Begriff der Grenze ein konstitutiver Bestandteil einer Perspektive ist. Eine Grenze sorgt für Identität und für Kontakt. Sie leistet Begrenzung und Entgrenzung der Perspektive. Der Ort einer Grenze ist die Perspektive. In dieser Hinsicht erfüllt eine Grenze mehrere Aufgaben. Erstens erscheint die Grenze als Hintergrund. Ein Hintergrund ist notwendiger Bestandteil zur Konstitution eines Vordergrundes. Nur im Kontrast auf einem Hintergrund kann ein Vordergrund sichtbar werden. Mit ihrer Unterscheidung von Eigenem und Fremdem liefert die Grenze einen solchen Hintergrund. Zweitens erscheint die Grenze als Horizont oder Rahmen. Ein Horizont oder Rahmen schließt eine Vorstellung einer Ausrichtung ein. Nur in Richtung auf irgendetwas hin und von irgendetwas her wird unser Verhalten zu einem Handeln. Diese teleologische Struktur ist auch unserem Verstehen eingeschrieben. Durch den Rahmen bildet sich eine Perspektive, das heißt, unsere Inhalte sortieren sich entsprechend der Orientierung an Sinn, den wir ihnen über die Struktur der Intentionalität geben. Drittens richtet eine Grenzordnung ihr Augenmerk, im Unterschied sowohl zur Gesamtordnung als auch zur Grundordnung, auf die Ränder ihrer Ordnung. An den Rändern der Ordnung vollzieht sich der Austausch des Eigenen mit dem Fremden. Hier ist der Ort, den Merleau-Ponty als das »rohe oder wilde Sein« (Merleau-Ponty 2004, S. 220) bezeichnet, und welcher den Boden bildet, aus dem unsere Perspektive erwächst.

III. Das Konzept einer Grenznorm im Anschluss an Kant (1) Kants kopernikanische Wende bestand darin, die Erkenntnis als Ausgangspunkt zu wählen. »Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.« (Kant KrV B XVII) 242

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§ 25 Zum Begriff einer Grenznorm

Erkenntnis ist für Kant ein durch und durch aktiver Vorgang, weil »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (Kant KrV XIV). Erkenntnis ist Produktion. Unsere Erkenntnis bringt zwei unterschiedliche Klassen von Gegenständen als Bewusstseinsinhalte hervor. Die eine Klasse nennt Kant die der Phainomena, die andere die der Noumena. Ein Phainomenon bezeichnet ein Objekt, wie es sich mir in der sinnlichen Wahrnehmung zeigt. Es ist das Objekt, wie es mir als Subjekt erscheint. Ein Noumenon bezeichnet ein Objekt, welches nur im Verstand vorkommt. Das Noumenon entsteht dadurch, dass wir nach Kant aus dem Phainomenon ein Noumenon bilden. Dieses stellt sozusagen die aus den Wahrnehmungen gewonnene und abstrahierte Idee des Gegenstandes vor. Wozu bilden wir diese Noumena? Kants Antwort auf diese Frage lautet: »Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche.« (Kant KrV B, 311) Hier haben wir den Begriff, dem unser Interesse gilt, den Grenzbegriff. Das Noumenon ist nach Kant ein Grenzbegriff, weil dieser Begriff negativ abgrenzend den Bereich bestimmt, der zu einem bestimmten Gegenstand gehört. Das Noumenon ermöglicht die Unterscheidung und Zuordnung der Phainomena. Der Inhalt der Phainomena aber kommt allein aus der sinnlichen Wahrmehnung, aus der Erfahrung. Die Noumena selbst sind Ideen, welche Kant als regulative Ideen bezeichnet. Diese bieten dem Verstand »einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.« (Kant KrV B, 673)

Regulative Ideen sind regulativ, weil sie die Gegenstände nicht konstituieren, sondern nur eine Orientierung von ihnen bieten. Solche regulative Ideen nennt Kant ›focus imaginarius‹. Der Ausdruck ›focus imaginarius‹ ist durchaus sprechend. Dieser Ausdruck ließe sich übersetzt ungefähr als ›fiktive Perspektive‹ wiedergeben. Fiktive Perspektiven funktionieren wie Sterne für die Seefahrt. Diese dienen der Orientierung, ohne dass sie selbst das Ziel der Fahrt wären. Insofern sind sie A

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fiktiv, gleichzeitig aber durchaus praktisch notwendig, wie die Sterne, ohne welche die Orientierung nicht gelänge. Oder, mit Habermas formuliert, regulative Ideen besitzen eine kontrafaktische Intuition. (2) Anschließend an die Kantische Bestimmung einer regulativen Idee kann die Kontroverse zwischen Habermas und Rorty in einem neuen Lichte erscheinen. Rorty fasst die Differenzen zwischen seiner Position und der von Habermas folgendermaßen zusammen: »Als Rest-Differenz zwischen Habermas und mir bleibt folgendes: Sein Universalismus führt dazu, dass er diese Konvergenz [erg.: des Prozesses hin zu einer unverzerrten Kommunikation] an die Stelle ahistorischer Grundlagen rückt, während mein Insistieren auf der Kontingenz der Sprache dazu führt, dass ich schon gegenüber der Idee einer ›universalen Geltung‹, für die eine solche Konvergenz bürgen können muß, mißtrauisch bin. Habermas möchte die traditionelle (Hegel und Peirce gemeinsame) Geschichte von der asymptotischen Annäherung an foci imaginarii bewahren. Ich möchte sie ersetzen durch eine Geschichte von der wachsenden Bereitwilligkeit zum Leben mit Pluralitäten und zum Beenden der Suche nach universeller Geltung. Eine zwanglose Übereinstimmung möchte ich verstehen als Übereinstimmung darin, wie man gemeinsame Ziele erreicht (zum Beispiel die Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens von Atomen oder Menschen, das Erreichen gleicher Lebenschancen, die Verringerung von Gewalt), aber ich möchte diese gemeinsamen Ziele vor dem Hintergrund eines wachsenden Verständnisses für die radikale Vielfalt privater Ziele sehen, für den radikal poetischen Charakter individuellen Lebens und für die ausschließlich poetischen Grundlagen des ›Wir-Bewußtseins‹ hinter unseren sozialen Institutionen.« (Rorty 1992, S. 120 f.)

Rortys Intention geht dahin, den Konsens als zwanglose Übereinstimmung auf die ausschließlich ästhetischen oder poetischen Grundlagen eines Wir-Bewusstseins zu gründen. Das heißt, Rorty setzt auf ein ontologisches Konzept von Erfindung. Nach Rorty »müssen wir erkennen, dass ein Focus imaginarius um nichts weniger gilt, wenn er nur eine Erfindung, nicht (wie Kant sich das vorstellte) eine natürliche Eigenschaft des menschlichen Geistes ist. Richtig verstanden ist die Parole: ›Wir haben moralische Verpflichtungen gegenüber Menschen als solchen‹ ein Mittel, uns daran zu erinnern, dass wir immer weiter daran arbeiten müssen, unser Verständnis des ›Wir‹ so weit auszudehnen, wie wir nur können.« (ebd., S. 316)

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§ 25 Zum Begriff einer Grenznorm

An diesen Einlassungen von Rorty lassen sich die Schwierigkeiten des Pragmatismus gut zeigen. Selbstverständlich sind foci imaginarii einerseits fiktiv, insofern sie sich nicht auf Gegenstände unserer Erfahrung beziehen. Anders ausgedrückt, weil foci imaginarii nicht gegenständlich sind, gehören sie in den Bereich eines Horizonts. Dass aber andererseits alles, was zu einem Horizont gehört, nur eine ›Erfindung‹ sein soll, das ist nicht nachvollziehbar, wenn man um die Abhängigkeit eines Subjekts vom Anderen und damit um den Boden der Kommunikativität für die Normativität weiß. Insofern bleibt die Vorstellung einer asymptotischen Annäherung intakt, auch wenn man diese Annäherung weder im Sinne eines Fortschrittsgedankens interpretieren noch ihr Ziel auf irgendeine Art und Weise naturalistisch bestimmen will. (3) Eine Theorie der Subjektivität wird stets eine Vorstellung von Identität als zentral für das Verständnis eines Subjekts ansehen. »Unsere Identität ist das, wodurch wir zu bestimmen vermögen, was für uns wichtig ist und was nicht.« (Taylor 1994, S. 60) Diese Feststellung von Taylor umreißt mehrere Annahmen des von mir als zutreffend unterstellten Konzepts von Subjektivität sehr präzise. Subjektivität ist erstens von vornherein verknüpft mit Normativität. Zweitens ist Normativität in ihrer Entfaltung nur greifbar über die Selbstbeschreibung eines Subjekts, denn »der Horizont, vor dem wir unser durch ebendiesen Horizont verständlich gemachtes Leben führen, muß solche starken qualitativen Unterscheidungen mit umfassen.« (Taylor 1994, S. 54 f.) Und drittens impliziert diese Selbstbeschreibung immer einen Rahmen. Dies verhält sich so, denn »sobald wir ausführlich darzulegen versuchen, was wir voraussetzen, wenn wir einer Lebensform wahren Wert zusprechen, unsere Würde von einer bestimmten Leistung oder einem bestimmten Rang abhängig machen oder unsere moralischen Pflichten in bestimmter Weise definieren, artikulieren wir etwas, was ich hier als »Rahmen« bezeichne.« (Taylor 1994, S. 53) Mit diesen Bestimmungen wird greifbar, was eine Grenznorm ist und wo sie wirkt. Regulative Ideen als Grenznormen beziehen sich auf den Rahmen einer Teilnehmerperspektive. Sie geben der Subjektivität einer Teilnehmerperspektive eine universalistische Orientierung, ohne als Gesamtnorm die Vorstellung einer umfassenden Universalität oder als Grundnorm die Vorstellung einer festgeschriebenen Regelbefolgung vorauszusetzen. Grenznormen treten als Begleiter für den Weg A

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der Produktivität vom Eigenen zum Fremden und der Rezeptivität vom Fremden zum Eigenen auf. Ihre Notwendigkeit leitet sich daraus ab, dass wir eines universalistischen Gesichtspunkts in Verstehen und Verständigung bedürfen, wenn wir Verstehen und Verständigung überhaupt als möglich unterstellen wollen.

§ 26 Die Idee des Konsenses als Grenznorm I.

Subjektivität und Exteriorität

(1) Der Konsens als Grenznorm bietet einen Rahmen für ein Subjekt, dessen Selbstverständigung aufgrund seines ontologischen Mangels an die Kommunikativität verwiesen ist. Solche Selbstverständigung vollzieht sich als Selbstverwirklichung, das heißt als Selbstbehauptung, und als Revision der Selbstverwirklichung, das heißt als Selbstbegrenzung. In dieser doppelten Bewegung spiegelt sich die Dialektik der Logik der reziproken Akzeptanz mit ihren Ebenen von Intentionalität und Resignativität, Prätention und Appell, Produktivität und Rezeptivität wider. Es ist die Grenznorm des Konsenses, welche den Prozess der Selbstverständigung in Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung reguliert. Die Unabschließbarkeit der Selbstverständigung hängt mit der Geschichtlichkeit des Subjekts und mit der Äußerlichkeit des ihm begegnenden fremden Subjekts zusammen. Das heißt, aufgrund seiner Kontextualität ist ein Subjekt auf Kommunikativität verwiesen. Levinas und in seinem Gefolge Dussel haben die Äußerlichkeit des Anderen in den Begriff der Exteriorität gefasst. Der springende Punkt an der Bestimmung der Exteriorität ist, dass diese nicht nur die Andersheit des Anderen gegenüber dem Selbst bezeichnet, sondern die Äußerlichkeit des Anderen gegenüber dem Sein des Selbst. Die Exteriorität steht konträr zur Totalität. Sie verweist auf eine andere Welt, welche die Totalität als Gesamtheit der Welt des Selbst überschreitet. Über diesen Begriff der Exteriorität wird die Beziehung zum Anderen in zwei Dimensionen entfaltet. Zum einen geht es um die Exteriorität für mich, d. h. die Außenperspektive des Anderen. Zum anderen geht es um die Exteriorität an sich, das heißt die Selbstgegebenheit des Anderen.

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(2) Dussel nimmt über den Begriff der Exteriorität die Kontaminationen der Metaphysik durch die Politik in den Blick, das heißt, in der Terminologie des phänomenologischen Zeichenbegriffs gesprochen, die Kontaminationen des Ausdrucks durch das Anzeichen. Mit Levinas, der wiederum Husserl folgt, interpretiert Dussel das expressive Subjekt als Totalität, welche sich immer schon auf eine ihr vorgängige Exteriorität bezieht. Die Rede von der vorgängigen Exteriorität trifft etwas Wichtiges, wenn sie davon ausgeht, dass sich ein Subjekt niemals selbst reflexiv vollständig einholen kann. Das Bewusstsein eines Subjekts ist sich selbst gegenüber stets verspätet. Weil sich aber Freiheit und Abhängigkeit nicht vollständig ausschließen, darum kann auch und gerade das defizitäre Subjekt eine eigenständige Praxis entwickeln. Wenn dies so ist, stellt sich die Frage nach dem Status der Exteriorität. Auf der Basis des phänomenologischen Zeichenbegriffs von Husserl gefragt: Ist die Exteriorität ein Ausdruck oder ein Anzeichen? Wenn sie nur ein Anzeichen wäre, das für mich als Subjekt vorgängig wäre, dann wäre die Vorstellung eines intentionalen Subjekts hinfällig. Praxis würde dann entweder als Nachbildung metaphysischer Gesetzmäßigkeiten oder als Element systemischer Steuerungsprozesse begriffen. Beide Alternativen ließen keinen Raum für Autonomie. Wenn aber auch dem defizitären Subjekt Expressivität zukommen können soll, dann darf die Exteriorität nicht nur Anzeichen, sondern dann muss sie auch Ausdruck sein. Die Exteriorität als die Äußerlichkeit des Anderen wäre dann immer auch je meine Außenperspektive des Anderen. In der Exteriorität rekonstruierte das Selbst die Fremdheit des Anderen als die Außenperspektive, von der her und auf die hin die Binnenperspektive seiner Totalität der Revision unterzogen würde. Wenn nun meine Rekonstruktion der Fremdheit des Anderen in der Exteriorität nur eine historische, praktische Notwendigkeit darstellen würde und keine transzendentale, wäre dann die Exteriorität für mich nicht doch eine akzidentielle Voraussetzung? Und entfiele damit nicht wieder der Gedanke der Abhängigkeit? Das defizitäre Subjekt macht seine Erkenntnis auf Probe und ist auf Mitteilung zur Revision angewiesen. Der Mehrwert eines realen Gesprächs liegt darin, dass erstens der Andere eine Einsicht eröffnet, die ich von mir aus nicht erschließen kann. Denn sein Ausdruck enthält etwas, was für mich nicht von vornherein sichtbar ist, da das Erlebnis des Anderen meiner Anschauung entzogen ist. Zweitens sind im realen Gespräch geistige und sinnliche Seite des Ausdrucks vereinigt. Wenn A

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es also einen Mehrwert des realen Gesprächs gibt, dann stellt die Differenz der Expressivität in Totalität und Exteriorität die Bedingung dafür dar, die am Gespräch beteiligten Perspektiven als Binnenperspektive und Außenperspektive zueinander ins Verhältnis zu setzen. Gegen den Solipsismus des Monologs artikuliert eine differenzierte Expressivität die Idealität der dialogischen Eigenart des Wissens. Das Subjekt der Interpretation erfährt ›sich‹ nur im Übergang von der Interpretation eines Objekts vor einem Horizont zu einer Interpretation seines Horizonts als Objekt vor einem anderen Horizont usw. In dieser unabschließbaren Bewegung gewinnt ein Subjekt Gewissheit durch ein Nacheinander unterschiedlicher Standpunkte, deren notwendiges, aber erfahrungsabhängiges Medium Kommunikation ist. Um des von seiner eigenen Kontextualität her erforderlichen Perspektivenwechsels willen muss sich die Subjektivität ihrer Exteriorität vergewissern. Das Selbst rekonstruiert die Fremdheit des Anderen als Exteriorität, das heißt als diejenige Außenperspektive, von der her und auf die hin ihm die Binnenperspektive seiner eigenen Totalität durchsichtig wird. Es ist aber immer noch das Subjekt selbst, welches diese Rekonstruktion vollzieht und damit dem Anderen antwortet. ›Ich‹ kann dem Anderen nur deshalb antworten, weil ich die Fremdheit des Anderen, seine Äußerlichkeit an sich, als seine Andersheit für mich, als seine Außenperspektive auf mich in den Blick bekomme. Für seine ›Augen‹ der Perspektiven gilt: »Indem sie sich gegenseitig relativieren, leisten sie mehr als Relativität, fördern aber zugleich noch mehr Relativierung, als sie gegenseitig aufzubringen vermögen.« (Blumenberg 2002, S. 54) Gegen den Strich gelesen verweist gerade die Einsicht in die xenologische Differenz vom Anderen an sich zum Anderen für mich, welche in der Expressivität auftaucht, auf die Dialektik von Intentionalität und Resignativität. Denn es gibt keine Fremderfahrung ohne ein Selbst mit einer Selbsterfahrung, die aller Reflexion voraus liegt. Erst auf dem Boden des Selbst, welcher die Totalität ist, kann die Frage nach der Fremderfahrung sinnvoll gestellt werden. (3) Der Ansatz einer asymmetrischen Kommunikativität als Teil der Kontextualität bringt Konsequenzen im Verständnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit mit sich. Eine intrinsische Auffassung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit war nach Williams notwendig, damit in einer Sprachgemeinschaft die Funktionen von Genauigkeit und Zuverlässig248

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keit hatten eingelöst werden können. Wenn nun Wahrheit die Selbstgegebenheit der Sache meint, wie sie sich der Teilnehmerperspektive eines Selbst erschließt, dann zielt Wahrhaftigkeit auf die Selbstgegebenheit des Anderen, dessen Außenperspektive im Gespräch meiner Binnenperspektive gegenübertritt. Der Gesichtspunkt der Selbstgegebenheit des Anderen schärft das Verständnis dessen, was für die Einlösung der Funktion der Zuverlässigkeit notwendig ist. Denn zum einen bezeichnet die Zuverlässigkeit, die für ein Gespräch benötigt wird, nicht nur die des Sprechers, sondern auch die des Hörers. Es geht um eine Zuverlässigkeit des Sich-Äußerns und um eine Zuverlässigkeit des Vernehmens. Zum anderen kommt hier der levinassche Gesichtspunkt von der Asymmetrie im Verhältnis der Rollen des Subjekts zum Tragen. Das heißt, Zuverlässigkeit im Sinne von Aufrichtigkeit wäre das, was Nietzsche meint mit einem ›ich will‹, nämlich, ich will nicht nur keinen anderen betrügen, sondern ich will mich auch selbst nicht betrügen. Dieser Ansatz führt zu einem Verständnis von Aufrichtigkeit als Authentizität, in dem Aufrichtigkeit als soziale Anerkennung gedacht wird. Wir beziehen unser Selbstwertgefühl aus der Anerkennung, welche sich Subjekte aus freien Stücken zuteil werden lassen. Solche souveräne Anerkennung ist zwar auf Reziprozität hin angelegt, im ersten aber ist sie eine Antizipation, welche ein Subjekt unternimmt, ohne dass es um die Gegenleistung weiß. Das heißt, Anerkennung ist als Antizipation eine Antwort auf die meiner Existenz voraus liegende Existenz des Anderen. Von hier aus fällt von der Grundlage einer ontologischen Theorie der Expressivität, welche in diesem Punkt dem Konzept der Responsivität von Waldenfels folgt, Licht auf das epistemologische Verhältnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Die signifikative Differenz des Wissens verwandelt sich nach Waldenfels in eine responsive Differenz. Das entscheidende Moment in der Verschiebung von der signifikativen Differenz der Intentionalität hin zur responsiven Differenz der Responsivität besteht darin, dass sich in der Responsivität ein fremder Anspruch meldet. Solche Responsivität ist eine fungierende Responsivität, weil sie nur in konkreten Akten greifbar wird. Unter dem Gesichtspunkt der Intention betrachtet lautet die für das Handeln entscheidende Frage: ›Woraufhin ist mein Handeln ausgerichtet?‹, unter dem Gesichtspunkt der Regel lautet die Frage: ›Wonach richtet sich mein Handeln?‹. Unter dem Gesichtspunkt der Responsivität aber lautet die entscheidende Frage: ›Worauf antworte ich mit meinem HanA

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deln?‹ Das Worauf des Handelns sind Aufforderungscharaktere, welchen das Handeln begegnet und zu denen es sich immer schon auf irgendeine Art und Weise verhält. Deren ausschlaggebendes Moment liegt darin, dass das Handeln auf ein Ansprechen und ein Ansprucherheben eingeht, welches dem Subjekt selbst voraus liegt. Das Subjekt reagiert sozusagen auf die Herausforderung, die sich ihm stellt. Das rekonstruierende Selbst ist also immer schon ein antwortendes Selbst, weil der Andere dem Selbst vorausgeht. Die Exposition meiner Selbst geht der Position meines Selbst voraus. Levinas zieht daraus den Schluss, dass der Andere nicht vor mir steht als jemand, zu dem ich Zugang finde, »ich stehe vielmehr an seiner Stelle, ich existiere, indem ich subsistiere, für den Anderen einstehe« (Waldenfels 2002, S. 147). Wenn es so etwas wie Individualität als Prozess einer zu ihrer Identität findenden Ipseität gibt, dann gibt es zwischen dem Selbst und dem Anderen eine Grenze, welche das Selbst nicht überwinden kann. Es gibt sozusagen eine Andersheit des Anderen, die dem Selbst definitiv entzogen ist. »Der ›Jemeinigkeit‹ entspricht eine ›Jedeinigkeit‹, die nicht zu meinen Möglichkeiten zählt.« (ebd., S. 227) Um die Vielstimmigkeit der Perspektiven eines Kontextes in einer Antwort einholen zu können, muss sich die responsive Differenz zur xenologischen Differenz zwischen der Andersheit des Anderen und der Äußerlichkeit des Anderen erweitern. Der Gedanke der xenologischen Differenz besagt, dass einer einem anderen als anderem antwortet. In dem, worauf einer antwortet, steckt jenseits aller relational erschließbaren Kommunikativität ein Moment von Äußerlichkeit als Fremdheit, welches dem Selbst immer schon eine Grenze gezogen hat. (4) Der Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit artikuliert die Selbstgegebenheit des Anderen. Er realisiert auf diese Weise das Moment der Bindung, das in jedem Verketten vorausgesetzt ist. Auch in einer Form des Verkettens als Anknüpfung in lateraler Allgemeinheit bedarf es der Kraft einer Bindung, welche den Anschluss des einen an das andere Bindeglied herstellt. Eine solche Kraft einer Bindung steckt in jeder Entscheidung, einschließlich dem Akt des Versprechens, in dem ein Partner eine Verpflichtung für einen anderen eingeht. Es ist die Achtsamkeit, welche diese Bindung der Aufmerksamkeit vorgibt. In der Achtsamkeit aber ist ein Maß an Einvernehmen enthalten, welches das Eingehen der Bindung prüft. Im Einverständnis knüpft die Achtsamkeit an die Äußerung eines anderen Gesprächsteilnehmers an. 250

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Glückt die Wechselseitigkeit von Einverständnissen, dann kommt ein Einvernehmen zustande. Die Bindung kann dann als gerechtfertigt angesehen werden. Der Begriff des Konsenses spielt eine Schlüsselrolle in diesem Prozess der Rechtfertigung einer Bindung. In Kants Kritik der reinen Vernunft wird die Idee des Konsenses als ›Einstimmung aller Urteile‹ (Kant KrV, B 848; vgl. dazu: Höffe 2003, S. 160) eingeführt. Konsens meint hier das Zusammenpassen von Urteilen im Sinne eines Abgleichens, deren Maß aber in einer konsensusabhängigen Objektivität zu suchen wäre. Solche Objektivität verstünde sich als eine Regel, welche die Einheit und Bestimmtheit von Urteilen gewährleistet. Die Anwendung der Regel wäre dem Gehalt der Regel selbst untergeordnet. Demzufolge muss aber geltend gemacht werden, dass die Mitteilbarkeit für eine Äußerung nicht nur akzidentiell, sondern substantiell ist, weil erst die Äußerung eines Urteils den Sinn realisiert. Mit der Akzentuierung des performativen Moments in der Konstruktion des Wissens, welche aus der Struktur der Expressivität folgt, müsste eine epistemologische Theorie Wahrheit und Wahrhaftigkeit aus dem Prozess ihrer Entstehung heraus als kontextuelle Momente begreifen. Der Gehalt einer Regel und die Anwendung der Regel wären als Einheit zu betrachten, deren Momente sich gegenseitig bedingen würden. Verstehen bedarf eines Vorschusses auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, der nicht auf den Regeln eines Sprachspiels beruht, sondern nur in der Teilnahme am Sprachspiel selbst wirksam wird. Das Zusammenpassen von Urteilen bedarf eines Versprechens seitens der Gesprächsteilnehmer, welches seinerseits keine Regel darstellt. Denn wenn sich in jeder Fremderfahrung der Fremde entzieht, dann ist Unverständnis die »Grenze der Verständlichkeit« (Waldenfels 1999, S. 81). Das heißt, ein Unverständnis bezeichnet den »Nicht-Ort« (ebd., S. 111) der eigenen Unmöglichkeit. Erst die Einsicht in die Grenze bricht mit der Homologie und öffnet einen Polylog jenseits aller Monologe. »Reflexive Verdoppelung und polyphone Vervielfältigung, die verhindern, dass die Fremderfahrung im eigenen beginnt und in einem Ganzen endet, setzen ein Movens voraus, das sich nicht dingfest machen läßt.« (ebd., S. 148) Das einigende Band im Pluralismus kann kein Vorgegebenes sein, sondern es ist nur ein Interesse an der Einigung, welches im Ergreifen der Einigung wirksam wird. Es ist das Motiv zur Konvention, das sich im Individuum findet, nicht aber die Konvention selbst. Dieses Motiv ist immer schon mit gesetzt im performativen A

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Moment des Sprechaktes und von daher auch die Bedingung der Möglichkeit eines performativen Selbstwiderspruchs. Es ist das Motiv eines offerentiellen Konsensbegriffes als Idee einer zwanglosen Einigung mit jedem beliebigen Anderen. Der normative Gehalt des Konsensbegriffes lässt sich von daher unter dem Stichwort der Akzeptabilität beschreiben. Konsensualität als Akzeptabilität bildet ein Maß in der und für die Expressivität. Das Maß des Einvernehmens enthält eine Annehmbarkeit im doppelten Sinne eines Annehmens des Anderen und eines Annehmens der Äußerungen eines Anderen. Denn in jeder Äußerung sind die zwei Ebenen des Sagens als Antworten auf den Appell des Anderen und des Gesagten als Antwort auf die Prätention des Anderen enthalten. Das Sagen gibt sozusagen einen Rahmen vor, in dem das Gesagte geäußert wird. Setzt man die Geltungsansprüche von Wahrheit und Wahrhaftigkeit in den Akt der Expressivität ein, dann gilt folgendes Verhältnis: Die Wahrhaftigkeit verhält sich zur Wahrheit wie das Sagen zum Gesagten. So wie der Geltungsanspruch der Wahrheit den Prüfstein des Gesagten bildet, so bildet der Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit den Prüfstein des Sagens. Mit dieser Erläuterung von Konsensualität als Akzeptabilität lässt sich jetzt genauer beantworten, was Anerkennungswürdigkeit im Sinne einer Idee des Konsenses meint. Anerkennungswürdig im Sinne einer Idee des Konsenses, das heißt richtig im Sinne der Idee des Konsenses, ist, was für alle annehmbar ist. Diese Bestimmung fasst Annehmbarkeit als eine doppelte Annehmbarkeit, die ich auf folgende Formel bringen möchte: Den Appell des Anderen aufnehmend stimme ich seinen Prätentionen zu. Annehmbarkeit im ersten Sinne eines Sagens als Antworten heißt, den Appell des Anderen aufzunehmen. Es ginge darum, den Anspruch eines Anderen als anderem zu vernehmen. Eine solche Annehmbarkeit würde damit einen Horizont ausbilden, von dem her und auf den hin andere Prätentionen überhaupt erst als Prätentionen eines Anderen wahrgenommen werden könnten. Annehmbarkeit im zweiten Sinne eines Gesagten als Antwort auf die Prätentionen eines Anderen würde sich dann als eine Zustimmung zu den Prätentionen eines Anderen entfalten. Die Annehmbarkeit inklusionslogischer Akzeptabilität meint ein zustimmendes Vernehmen, in welchem das Antworten auf die Anfrage eines Anderen und die Antwort auf die Sachfrage eines Anderen zusammenlaufen. Der Begriff des Konsenses entfaltet das affirmative Potential der Annehmbarkeit in 252

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einem zweifachen Sinne. Annehmbarkeit als Affirmativität bedeutet auf der Ebene der Anfrage einer Äußerung das Sich-Einstimmen auf den Anderen als Zustimmung zu und Übereinstimmung mit dem Sein des Anderen. Annehmbarkeit als Affirmativität bedeutet auf der Ebene der Sachfrage einer Äußerung das Einstimmen in das Urteil des Anderen als Zustimmung zu und Übereinstimmung mit den vom Anderen angeführten Sachverhalten und Gründen. Die Idee einer solchen Annehmbarkeit bringt die Möglichkeit von revisionistischen Stellungnahmen ins Spiel, in welcher sich ein Interpret vorbehaltlos der Auffassung eines Anderen öffnet, damit seine eigene Auffassung in Frage stellt und eine zwanglose (Neu-)Bestimmung seiner eigenen Auffassung ins Auge fasst. Es ist die Affirmativität der Idee des Konsenses, auf welcher die Möglichkeit einer Revision von Stellungnahmen beruht. Die Notwendigkeit der Affirmativität eines solchen zustimmenden Vernehmens liegt darin begründet, dass ein Subjekt nur von einem fremden Horizont her seinen eigenen Horizont thematisieren und damit eine Grenze ziehen kann. Die Idee des Konsenses fungiert damit als formal-prozedurales Prinzip von Allgemeinheit in einem schwachen Sinne, weil ihr Prinzip nicht transzendental im Sinne einer apriorischen Bedingung einer Möglichkeit, sondern kontingent ist. Dennoch ist ein solches Prinzip unhintergehbar notwendig, weil sonst das ›Ich‹ zu einem Absolutum würde, für welches die in und mit den Personalpronomina ›Du‹ und ›Er‹ angezeigten Positionen ausschließlich auf Funktionen des ›Ich‹ reduziert würden. Ohne die Affirmativität des Konsenses ist die Selbstbegrenzung eines Subjekts nicht denkbar. (5) Eine solche Bestimmung von Konsensualität als einer doppelten Akzeptabilität spiegelt die Verschränkung des konstativen und des performativen Moments im Sprechakt wider, wie es mit den Dimensionen Verstehen und Verständigung angezeigt wird. Von dort aus ließe sich ein Modell von Wissen als einem verständigen Verstehen bilden, in welchem vier Zustände denkbar wären. Dieses Modell ist den Anstrengungen Schleiermachers nachempfunden, welche die Funktionalität des Dissenses plausibel machen wollen. Denn der Gegensatz zwischen Dissens und Konsens ist nicht einfach von der Art, dass der Dissens ein Übel darstellte, welches zugunsten des Gutes Konsens aufzuheben wäre. Vielmehr bezeichnet der Dissens den Ort des Mangels an Konsens im Sinne eines ›Hier fehlt etwas‹. Der Dissens markiert den Ort des A

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Ringens um den Konsens, und als solcher ist er notwendig und sinnvoll. Seine implizite Voraussetzung lautet aber, dass sich ein Dissens nur im affirmativen Lichte eines Strebens nach Konsens zeigt. Es gibt keinen vollständigen Blick eines Dritten von nirgendwo, es gibt immer nur probeweise Annäherungen an ein Gemeinsames, welches als Synthese des einen und des anderen auftritt. In der ersten Variante des Modells, im Zustand wahrhaftiger Wahrheit, wären Genauigkeit und Zuverlässigkeit zur Deckung gekommen. Es ist der Zustand des geglückten Einvernehmens. Die unwahrhaftige Wahrheit als zweite Variante wäre die Situation des Zynikers (Vgl. dazu: Dussel 1993), welcher die konstative Genauigkeit zu performativen Zwecken verdreht. Der Trick des Zynikers besteht genau in seinem Missbrauch des Konsenses, denn indem der Zyniker ein Einvernehmen nur vortäuscht, verrät er sein gegebenes Versprechen. Die dritte Variante, der Fall der wahrhaftigen Unwahrheit, bezeichnete erst einmal den trivialen Irrtum, dann aber auch die Situation des Skeptikers als des grundsätzlich zur Möglichkeit des Irrtums hingezogenen Gesprächsteilnehmers. Die vierte Variante, der Fall der unwahrhaftigen Unwahrheit, scheint aus dieser Sicht ein Grenzfall zu sein, welcher uns wohl deswegen so seltsam anmutet, weil Wahrheit und Wahrhaftigkeit in ihrer doppelt negativen Kombination jedwede Funktionalität im Sprechakt eingebüßt haben. Von hier aus rückt nochmals Williams’ Deutung des kritischen Prinzips in den Blick, welches gelautet hatte: »Wenn sie richtig verstünden, wie sie zu dieser Überzeugung gekommen sind, würden sie diese Überzeugung dann fallen lassen?« (Williams 2003, S. 337) Die erkenntnisleitenden Gesichtspunkte von Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind demzufolge zwar einerseits Momente, die unserer Verfügung entzogen sind, weil wir uns als Mitglieder einer Sprachgemeinschaft diesen Gesichtspunkten unterordnen. Sie sind aber andererseits nichts, was wir von außen an einen Sachverhalt herantragen würden. Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind durch die Aktivität verständigen Verstehens im Kontext eines Sachverhalts mit angelegt. Das heißt, Wahrheit und Wahrhaftigkeit erfordern einen je immanenten Zugang zur Perspektive der Gesprächsteilnehmer und damit auch einen Perspektivenwechsel.

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II.

Annäherung und Vorbehalt

(1) Aus dem Blickwinkel einer Teilnehmerperspektive gesehen kommt alles darauf an, inwieweit es gelingen könnte, Kontextualität und Universalität nicht als einander ausschließende Gegensätze, sondern als aufeinander verwiesene Dimensionen aufzufassen. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage wird in die Richtung gehen, dass Allgemeinheit aus einer kontextuellen Approximation an Universalität erwächst, in welcher Selbsterfahrung und Fremderfahrung so miteinander verschränkt sind, dass sich eine selbstbestimmte Aufmerksamkeit im Prozess einer sich selbst begrenzenden Achtsamkeit artikuliert. Mit ihrer ontologischen These vom Primat der Wirklichkeit setzt eine realistische Wahrheitstheorie auf Referenz gegen Selbstreferentialität. Mit ihrer epistemologischen These von Wissen als Partizipation an der Wirklichkeit setzt eine realistische Wahrheitstheorie im gleichen Zug auf Kontextualität gegen Universalität. Referenz und Partizipation sind sozusagen die zwei Seiten einer Medaille, die beispielsweise ein Ansatz wie Putnams Theorie eines internen oder internalen Realismus zusammensehen will. Darin wird ein Erkenntnisbegriff vorausgesetzt, der davon ausgeht, dass unser Verständnis von Wirklichkeit durch unsere Art der Beschreibung der Wirklichkeit bestimmt wird. Es bedarf deshalb einer antirealistischen Intuition. Eine solche Theorie erachtet es nicht als sinnvoll, einen absoluten Standpunkt Gottes einzunehmen: »Es gibt keinen Gottesgesichtspunkt, den wir kennen oder uns mit Nutzen vorstellen könnten, sondern nur die verschiedenen Gesichtspunkte tatsächlicher Personen, die verschiedene Interessen und Zwecke erkennen lassen, denen ihre Beschreibungen und Theorien dienlich sind.« (Putnam 1992, S. 76) Der Leitsatz einer solchen internalistischen Theorie des Realismus lautet, dass Wahrheit den Gebrauch nicht transzendiert. Wahrheit ist dem Gebrauch zwar vorgeordnet, aber sie ist ihm nicht enthoben. Denn mit einem veränderten Zugang zur Wahrheit verändert sich die Wahrheit selbst. Insofern könnte man zu Recht sagen, Wahrheit besitze so etwas wie einen ›Zeitkern‹ (Habermas). Wahrheit ist etwas, was sich im Kontext einer Sache geltend macht. Sie ist ein Anspruch, den wir im Akt der Erkenntnis mit unserem Horizont einbringen, auch wenn sie unserer Verfügung entzogen ist. Der Idee des Konsenses als regulativer Idee der Aufmerksamkeit A

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wird damit eine limitative Konzeption von Universalität zugesprochen. Dies ist so, weil ein Konsens einem Sachverhalt nicht als externales Prinzip gegenübertritt, sondern im Erschließen eines Sachverhalts von seinem Kontext her wirksam wird. Das heißt, ein Konsens wirkt als internales Prinzip der Erschließung eines Sachverhalts, welche von dessen Rahmen, also vom Sein eines Seienden ausgeht. Das Sein eines Seienden stellt dessen konkrete Lebenswelt dar, in und mit welcher die Bedingungen der Möglichkeit verstehender Verständigung gegeben sind. Ein abstrakt-universaler Zugriff, wie ihn die Theorie unternimmt, ist immer Moment einer solchen Teilnehmerperspektive. Jeder Blick auf eine solche Teilnehmerperspektive enthält aber selbst wiederum eine Teilnehmerperspektive als Voraussetzung. Insofern gibt es keine schlüssige Metatheorie der Metatheorie, sondern immer nur Verstehen und Verständigung in Kontexten. Wahrheit meint die Sache selbst, wie sie sich uns zeigt. Sie ist eine Fiktion, die uns leitet, wenn wir die Sache selbst suchen. Wir verstehen eine Sache nur, wenn wir uns über sie verständigen. Ohne meine und deine Perspektive ist die Sache selbst unerkennbar. Wir sind also immer schon auf eine Bedeutungskonvention verwiesen. Wenn wir aber einer Bedeutungskonvention folgen, lassen wir uns vom Motiv des Konsenses leiten. Denn Wahrheit kann als eine im Lichte einvernehmlicher Verständigung hergestellte Übereinstimmung von Äußerungen begründet werden. (2) Der Zugang zur Universalität wurde in die Formel einer Annäherung an Universalität gefasst, eine Annäherung, welche asymptotisch einem Ziel näher kommt, ohne es je zu erreichen. Das heißt, die Vorstellung einer solchen Annäherung setzt ein mit der Teilnehmerperspektive eines Seienden, das sich immer schon in einem bestimmten Feld, seinem Sein, vorfindet. Der springende Punkt liegt nun darin, dass es weder nur ein einziges Seiendes noch nur ein einziges Sein von unterschiedlichen Seienden gibt. Im Gegenteil, sowohl Seiendes als auch Sein sind in einer Mannigfaltigkeit vorhanden, die es zu berücksichtigen gilt. Für die Konzeption einer approximativen Universalisierung ergeben sich daraus erhebliche Schwierigkeiten. Denn sowohl im Prozess der Universalisierung als auch im Produkt der Universalität eröffnet sich der Spalt zwischen Ordnung und Außerordentlichem, zwischen Ordnung und Chaos. Ordnung und Chaos prägen immer gleichzeitig Weg und Ziel der Universalisierung, welche damit ihre Eindeutigkeit 256

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verlieren. Weil die Identität einer Ipseität niemals einfach gegeben ist, sondern sich in einem Prozess befindet, gehört die Fremderfahrung konstitutiv in die Selbsterfahrung hinein. Die Selbsterfahrung stellt immer nur eine asymptotische Näherung an Universalität dar, welche aber mit jedem Zug eines annähernden Aufdeckens im selben Moment etwas anderes verdeckt. Dennoch entgeht eine solche Annäherung dem Einwand einer schlechten Unendlichkeit im Sinne Hegels, weil sie das Endliche nicht einfach ins Unendliche verlängert. Ihr ist das Andere nicht gleichfalls ein Anderes; das Endliche entsteht nicht wieder, sondern entfernt sich bei jeder weiteren Phase der Annäherung um die ganze »Andersheit des Anderen« (Levinas 1992, S. 210, Anm. 34), wie es der alte scholastische Grundsatz von der analogia entis festhält, der besagt, dass die Unähnlichkeit in eins mit der Ähnlichkeit zunimmt. Die Fremderfahrung, welche die Selbsterfahrung von innen her aufsprengt, artikuliert nach Levinas »die Maßlosigkeit des Unendlichen« (ebd., S. 211). Sie beinhaltet das Paradox, dass sich der Abstand zwischen Selbst und Anderem mit jeder Annäherung vergrößert. Anders ausgedrückt: Das Außerordentliche ist und bleibt von der Ordnung radikal unterschieden. Chaos ist nicht einfach eine andere Form von Ordnung. Für die Konzeption approximativer Universalisierung bedeutet diese Einsicht, dass sich Verallgemeinerung zwar in einer pragmatischen Art und Weise des Gebrauchs vollzieht, dass dieser pragmatische Gebrauch aber auf einer, wenn auch vagen, dennoch weitergehenden Vorstellung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit beruhen muss. Vage ist diese Vorstellung von Wahrheit deshalb zu nennen, weil sie sich aus prinzipiellen Gründen jeder Festlegung entzieht. Denn in ihr wirkt sich der spezifische Charakter der Fremdheit aus, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie das Unzugängliche jenseits des Zugänglichen ist. Die Problematik der Zuordnung von Ordnung und Außerordentlichem liegt darin, dass deren Verhältnis einerseits unauflösbar, andererseits asymmetrisch ist. Es ist unauflösbar, weil es keine Ordnung ohne Außerordentliches und kein Außerordentliches ohne Ordnung gibt. Ein Außerordentliches ohne Ordnung würde das Selbst der Herrschaft blinder Begriffe ausliefern. Alle Erkenntnis wäre reines Abbild eines Vorgegebenen. Eine Ordnung ohne Außerordentliches würde das Selbst der Machbarkeit eigener Ansprüche übergeben. Alle Erkenntnis wäre freie Erfindung beliebiger Inhalte. Ordnung und Außerordentliches sind also unauflösbar aufeinander verwiesen. Asymmetrisch ist A

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deren Verhältnis, weil sich die Ordnung vom Außerordentlichen her erschließen lässt, nicht aber umgekehrt. Eine Ordnung, die das Außerordentliche in den Griff bekäme, hätte ihr Gegenüber aufgelöst. Für die Zuordnung von Ordnung und Außerordentlichem scheinen mir drei Hinweise wesentlich. Erstens hat das Absolute als im Relativen verankert zu gelten, nicht abgetrennt über oder unter ihm. Es gibt keinen direkten Zugang zum Absoluten, sondern nur einen indirekten Zugang über das Relative. Diese aristotelische Einsicht gilt auch für das Verhältnis von Ordnung und Außerordentlichem. Das Außerordentliche wird nur von einer Ordnung her greifbar, genauer gesagt, im Bemühen um Ordnung zeigt sich das Außerordentliche. Zweitens gilt mit Dussel, dass das Außerordentliche kein Prinzip, sondern einen Horizont darstellt. Zur Deutung eines Horizonts bedarf das Subjekt eines anderen Horizonts, vor dem der ursprüngliche Horizont als Objekt thematisiert werden kann. Ein Horizont kann also nicht direkt, sondern immer nur indirekt vor einem anderen Horizont thematisiert werden. Das heißt, Allgemeinheit gibt es nur als Approximation einer Ordnung vor dem Horizont eines Außerordentlichen. Drittens liegt die Funktion eines Horizonts darin, eine Gestalt sichtbar zu machen. Mit Merleau-Ponty wären hier Ordnung und Außerordentliches als Vordergrund und Hintergrund zu interpretieren, aus deren Zusammenspiel eine Figur wie die Allgemeinheit überhaupt erst deutlich werden kann. (3) Mit den Augen einer kontextualistischen Theorie gesehen schiene es plausibel, mit Rorty davon auszugehen, dass es keine ahistorischen Grundlagen von ›Kommunikation und Gespräch‹ gebe. Verständigung geschehe im Horizont von Geschichte. Insofern würde gelten, dass der Austausch mit dem Anderen als Geselligkeit einer lebensweltlichen Intersubjektivität an die Stelle der Suche nach der Wahrheit treten würde. Verständigung funktionierte demzufolge nicht im Sinne eines certistischen Ansatzes als Letztbegründung oder im Sinne eines quasitranszendentalen Ansatzes als Grundnorm menschlichen Handelns. Verständigung wäre vielmehr das genaue Gegenteil als Angebot einer zweitbesten Antwort, einer Antwort, die wir haben, weil der Ausgangspunkt des Subjekts von Endlichkeit geprägt ist und dieses deshalb mangelhaft zu nennen ist. Die Rechtfertigung des Konsensbegriffes funktionierte auf analoge Weise zu Winston Churchills Rechtfertigung der Demokratie, welche lautet, Demokratie ›sei die schlechteste Regie258

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rungsform, die man sich vorstellen könne, bis auf all die anderen, die man bisher ausprobiert habe‹« (Rorty 1989, S. 25). Konsens wäre demzufolge die schlechteste Form einer Einigung, abgesehen von allen anderen Formen, die man bisher ausprobiert hat. Die Idee eines Vorschlags als einer zweitbesten Lösung enthält nicht nur die Komponente eines Notbehelfs oder eines Auswegs. Natürlich geht es immer auch um einen Notbehelf oder Ausweg. Aber in seinen Analysen zum Sein als Orientiertsein hat Merleau-Ponty gezeigt, dass in dem Gedanken des unendlichen Verwiesenseins von einer Bedingung auf die nächste und so fort noch ein anderes Moment steckt. Er wendet ein, »dass nämlich die Konstitution eines Niveaus immer schon ein gegebenes anderes Niveau voraussetzt, dass der Raum immer schon sich selbst vorausgeht. Doch diese Bemerkung ist nicht die einfache Feststellung eines Fehlschlags. Sie belehrt uns vielmehr über das Wesen des Raumes selbst und die einzig mögliche Weise, ihn zu verstehen. Es ist dem Raum wesentlich, ›je schon konstituiert‹ zu sein, und wie vermöchten wir zu verstehen, zögen wir uns in eine Wahrnehmung ohne Welt zurück.« (Merleau-Ponty 1966, S. 294)

Es geht also nicht um den Rückgriff vom einen zum anderen und so fort, sondern um die Umkehrung des Zugangs. Das heißt, die Vorstellung des Raumes kann überhaupt nur verständlich werden aus der Prämisse, »daß Sein Orientiertsein heißt« (ebd., S. 294). Eben aus dieser Einsicht in die in aller Bedingtheit sich durchsetzende Unbedingtheit heraus muss man aber dem Vorschlag von Rorty und auch den Überlegungen von Putnam zum Gottesgesichtspunkt, welche in diesem Falle die Konsequenzen des Ansatzes von Rorty abbilden, widersprechen. Laut Putnam ist die Annahme eines Gottesgesichtspunktes als eines übergeordneten Standpunkts nicht sinnvoll. Es gibt nur die Standpunkte der jeweiligen einzelnen Menschen. Freiheit besteht in diesem Sinne aus einem Relativismus an Perspektiven. Aber auch ein solcher Relativismus kann in einen Absolutismus umkippen, wenn er nämlich zum Dezisionismus wird. Gegen den Einzug der Macht des Stärkeren ist die Bedeutung des Universalismus gefordert. Universalismus heißt, es geht um alle, das heißt, jeder einzelne ist gefragt. Was würde derjenige oder diejenige dazu sagen, der etwas sagen möchte? Das ist Freiheit. Der Gottesgesichtspunkt kann an dieser Stelle die Funktion eines Platzhalters ausüben. Der Platzhalter steht für alle diejenigen, die nicht gefragt werden. Das können sein, mit A

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Bloch gesprochen, die Schwachen und die Benachteiligten, die Erniedrigten und die Beleidigten, alle Unmündigen und nicht zuletzt alle Toten. Universalistisch gesehen sind, auch gegen die Diskursethik gerichtet, ›Alle‹ mehr als alle Beteiligten und Betroffenen. Alle, das ist jeder einzelne, tot oder lebendig. Den theologischen Theorien zum eschatologischen Vorbehalt folgend dient die Vokabel ›Gott‹ in diesem Zusammenhang als Platzhalter für die ›Anderen‹. Die Rede vom Gottesgesichtspunkt bezieht ihre Legitimation aus der Einsicht in die ontologische Struktur der Stellvertretung. Weil Freiheit da aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt, sind wir verpflichtet, stellvertretend die Freiheit des anderen mitzubedenken und für den anderen mitzuhandeln. Levinas folgend erringen wir in der Unvertretbarkeit der Stellvertretung unsere Individualität. Für eine Konsenstheorie bedeutet diese Einsicht, dass Verständigung überhaupt nur verständlich werden kann aus der Prämisse einer zwanglosen Einigung. Die Idee des Einvernehmens ist die Prämisse, von der her und auf die hin sich erschließen lässt, was Verständigung überhaupt bedeuten kann. Eben dies ist die Funktion eines Hintergrunds, aus dessen Außerordentlichem eine Ordnung ihre Plausibilitäten gewinnt. Denn die als regulative Ideen funktionierenden Foci imaginarii sind zwar Erfindungen, aber eben Erfindungen in Situationen. Gemäß Merleau-Pontys Einsicht in die Eigenart einer erworbenen Spontaneität »geben wir der Geschichte ihren Sinn, doch nicht, ohne dass sie ihn selber uns nahe legte. Die Sinngebung ist keine bloß zentrifugale, und daher ist das Subjekt der Geschichte nicht das Individuum. Zwischen verallgemeinerter Existenz und individueller Existenz vollzieht sich ein Austausch, beide geben und beide nehmen.« (ebd., S. 510) (4) Erfindungen sind Ordnungen vor einem Hintergrund an Außerordentlichem. Insofern also Erfindungen Erfindungen-in-Situationen als Ausdruck einer relativen Freiheit sind, ist ein Wir-Bewusstsein zwar als radikal poetisch, nicht aber als auto-poetisch zu bezeichnen. Ein Wir-Bewusstsein sieht sich immer schon mit einem Ihr konfrontiert. Für den Weg vom Wir zum Ihr gibt es nur das Angebot einer zweitbesten Lösung, das Angebot des Konsenses, das ebenso kontingent wie notwendig ist. Denn wir müssen uns von anderen sagen lassen, wer wir sind. Genau auf diese Problematik zielt die Diskussion um die Frage, ob 260

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es einer regulativen Idee von Wahrheit überhaupt bedürfe. (Vgl. dazu: Wellmer 2003; Apel 2003) Wellmer geht davon aus, dass man, um der Gefahr des Relativismus zu entgehen, zwischen Wahrheit und Rechtfertigung unterscheiden müsse. Weil es kein standpunktunabhängiges Wissen geben könne, sei Rechtfertigung von Nöten. Wenn die Rechtfertigung eines Sachverhalts aber schlechthin mit der Wahrheit eines Sachverhalts zusammenfallen würde, würde die Personen- und Zeitgebundenheit der Rechtfertigung auf den Wahrheitsanspruch übertragen. Das würde die Relativierung des Wahrheitsanspruchs bedeuten. Obwohl also Wahrheit und Rechtfertigung zu unterscheiden seien, seien sie dennoch untrennbar miteinander verbunden. Denn Wahrheit sei das Ziel aller Rechtfertigung. Es gebe aber in der Rechtfertigung so etwas wie eine ›grammatische Differenz‹, welche auf dem Perspektivenwechsel der einzelnen Gesprächsteilnehmer beruht. »Wenn ich mit Gründen eine Behauptung mache – eine Überzeugung vertrete –, so verstehe ich sie mit Gründen als wahr. Das ist der interne Zusammenhang zwischen Wahrheit und Rechtfertigung. Sofern aber ein anderer eine Behauptung macht – eine Überzeugung vertritt –, so kann ich diese als die Behauptung oder Überzeugung, die sie ist, nur verstehen, indem ich sie mit ihren – tatsächlichen oder möglichen – Gründen verstehe.« (Wellmer 2003, S. 157)

Daraus folgert Wellmer: »Meine Gründe – was immer ich als gute Gründe annehme – sind eo ipso gute Gründe (das ist eine Bemerkung zur Grammatik von ›guter Grund‹): das soll heißen: Für mich sind die begründeten Überzeugungen notwendigerweise die wahren Überzeugungen. Mit Bezug auf jeden anderen sind dagegen Begründungen nicht notwendigerweise stichhaltig und entsprechende Überzeugungen nicht notwendigerweise wahr.« (ebd., S. 157)

Das bedeutet, »Wahrheit und Rechtfertigung fallen mit Bezug auf den Vollzug von Urteilen und Begründungen zusammen, aber nicht mit Bezug auf die Zuschreibung von Urteilen und Begründungen an andere.« (ebd., S. 169) Wellmer zieht daraus den Schluss, dass wir keines archimedischen Punktes bedürften, um an der Idee der Wahrheit festzuhalten (ebd., S. 170). Dem ist insofern zuzustimmen, dass es tatsächlich unmöglich ist, einen solchen Gottesgesichtspunkt im Sinne einer Gesamtordnung oder einer Grundordnung einzunehmen. Weil aber gilt, dass wir uns von anderen sagen lassen müssen, wer wir sind, kommt es ganz entA

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scheidend darauf an, an der kritischen Funktion des archimedischen Punktes gegenüber den subjektiven Intentionen festzuhalten. Ich kann meine Identifikation von Wahrheit und Rechtfertigung einerseits zwar nicht aufheben, aber ich muss sie andererseits immer in Frage stellen, damit ich meine Rechtfertigung revidieren kann. Und ich stelle meine Rechtfertigung in Frage, indem ich den Blickwinkel eines Anderen einnehme. Das heißt, die Einstellung der Konsensualität als Akzeptabilität entfaltet eine regulative Funktion in Bezug auf die Binnenperspektive eines Subjekts. Es geht um die funktionale Dimension des Verzichts, wie sie in Husserls Konzept einer Epoché realisiert ist. Hier kommt die skeptische Tradition zum Tragen, welche das Subjekt auffordert, sich zurückzunehmen. Weil es um einen Verzicht in Bezug auf die Selbstbehauptung gegenüber dem Anderen geht, könnte man auch von einer kommunikativen Epoché sprechen. Deren Sinn läge darin, dass die Idee des Konsenses als eine Art altruistischer Vorbehalt in der Selbstverständigung eines Subjekts fungierte. Ein solcher altruistischer Vorbehalt bricht die Identifikation von Wahrheit und Rechtfertigung im Subjekt auf. Selbstverständlich ist und bleibt auch eine erneuerte Perspektive immer eine Leistung des Subjekts selbst. Aber das probeweise Übernehmen des Standpunkts eines Anderen als eines anderen Standpunkts ›dekonstruiert‹ den eigenen Standpunkt, indem der eigene Standpunkt als Objekt vor einem Horizont erscheint. Insofern erweitert die sich in und mit dem Perspektivenwechsel vollziehende Annehmbarkeit eines zustimmenden Vernehmens die Binnenperspektive eines Subjekts. Als regulative Idee leistet das Motiv des Konsenses die Selbstbegrenzung des Subjekts durch die Unterstellung von Wahrheit beim Anderen. Ihrer Annahme liegt eine ›konkrete Antizipation‹ (Vgl. dazu: Øfsti 2003, S. 206 f.) zugrunde, wie sie sich auf den Anderen als anderswen, also auf jeden beliebigen Anderen, richtet. In dieser vorweglaufenden Antizipation erscheint der Blickwinkel des Anderen als ein Moment, welches die kritische Funktion des archimedischen Punktes auf eine hypothetische und approximative Weise ausübt.

III. Konsens als Motiv (1) Konsens ist Einvernehmen. Das heißt, ein Konsens ist ein Ereignis von Übereinstimmung. Der Ort eines Konsenses ist das Gespräch. Ein 262

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§ 26 Die Idee des Konsenses als Grenznorm

Einvernehmen entsteht, wenn die Teilnehmer des Gesprächs zu einer Übereinstimmung finden. Die Bestimmung des Konsenses als Ereignis heißt, dass ein Konsens ein singulärer Akt ist, der seinerseits nicht subsumierbar ist, weder einer Ordnung noch einer Regel o. ä. Das bedeutet, ein solches Ereignis kommt auf uns zu, wir stellen es nicht her. Konsens als Ereignis an Übereinstimmung meint, dass es in diesem Ereignis um das Gelingen einer Anknüpfung im Gespräch geht. Eine Anknüpfung gelingt, wenn es ein Zusammenpassen auf der intersubjektiven Ebene des Appells und auf der objektiven Ebene der Prätention gibt. Ein solches Zusammenpassen folgt der Orientierung an einer idealen Akzeptabilität. Konsensualität bezeichnet die Eigenschaft oder besser die Disposition im Gesprächsteilnehmer als Subjekt, welche macht, dass dem Subjekt im Antworten die Anknüpfung an anderes Antworten gelingt. Eine solche Eigenschaft oder Disposition ist eine Grundhaltung oder ein Grundzug, welche im antwortenden Subjekt wirkt, eine Art anthropologischer Transzendentalie im Sinne der mittelalterlichen Transzendentalienlehre als Eigenschaft, die allen menschlichen Wesen zukommt, der es aber an einer transzendentalen Notwendigkeit mangelt, weil das Antworten immer eine freie Variation darstellt, also ein nicht festgelegtes Erfinden in Reaktion auf eine festgelegte Herausforderung. Die Disposition zur Konsensualität bildet das Motiv der Verständigung aus. Erstes Moment der Konsensualität ist die Passivität des Subjekts, welche seinem ethischen Herausgefordertsein durch den Anderen geschuldet ist. Das Ereignis des Antwortens und damit auch das Ereignis des Konsenses kommt auf das Subjekt zu. Das Subjekt ist diesem Ereignis ausgesetzt. Zweites Moment der Konsensualität ist die Akzeptabilität. Akzeptabilität heißt Annehmbarkeit. Das Subjekt muss den Konsens annehmen. Es geht hier um das Zulassen einer zwanglosen Einigung. Die Annehmbarkeit ist eine ideale Akzeptabilität, wenn sie inklusionslogisch gedacht wird. Das bedeutet, die Einigung eines Einvernehmens ist tendentiell für alle und damit für jeden einzelnen offen, egal, welche Voraussetzungen er oder sie mitbringt. Das Zulassen entspricht dem Moment des Zwanglosen an der Einigung. Ich verzichte sozusagen auf jede Form der Machtausübung und nehme die Einigung an, weil ich zustimme um der Sache und der Person willen. Solches Zulassen ist A

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ein konzessives Gewährenlassen, kein kausatives Veranlassen. Es wird gedacht nach der theologischen Figur der Gelassenheit, wie sie in der mittelalterlichen Mystik beispielsweise von Meister Eckhart entwickelt wurde. Ich bin gelassen, weil ich etwas gelassen habe. Wenn ich etwas gelassen habe, werde ich davon leer. Ich mache Platz für ein anderes. Bei Eckhart ist es der Mensch, der von seinem Ich absieht und Gott Raum gibt. Entscheidend für die mittelalterliche Mystik ist der Verzicht auf jedes Warum. Das heißt, durch mein Lassen gebe ich der Sache, um die es geht, Raum. Ich nehme alle Hindernisse weg, welche den Weg zur Sache versperren. Auf den Konsens gewendet bedeutet das, dass das Subjekt versucht, sich unverstellt den erhobenen Ansprüchen als Prätention und als Appell zuzuwenden und darauf zu antworten. Sache und Person des Anderen sind Selbstzweck. Wenn man so will, es geht um die Orientierung auf eine intrinsische Motivation und die Ausschaltung aller extrinsischen Interessen. Drittes Moment der Konsensualität ist die Wechselseitigkeit oder Reziprozität im Konsens. Ein Einvernehmen entsteht nur als ein Zusammentreffen oder Zusammenpassen. Die Wechselseitigkeit vollzieht sich in einer Dialektik von Geben und Nehmen, von Angebot und Annahme. Das eine Subjekt bietet ein Einverständnis an, welches ein anderes Subjekt annimmt. Damit gehört die Verständigung eines Einvernehmens zu den Vorgängen, die nur in einem Miteinander, genauer in einem zeitlich versetzten Nacheinander eines Miteinander zustande kommen können. Vergleichbar wäre hier die Vorgänge des Entschuldigens oder des Verzeihens bzw. Vergebens. Genau genommen kann ich mich nicht entschuldigen, ich kann nur einen anderen um Entschuldigung bitten, welche mir der Andere gewährt oder nicht gewährt. Ebenso kann ich Verzeihen oder Vergeben nur erbitten, aber nicht selber leisten. Wechselseitigkeit meint dieses Handeln eines Zug-um-Zug. Mit einer Symmetrie von Gesprächssituationen hat diese Wechselseitigkeit nur bedingt zu tun. Es gibt wohl eine Symmetrie in dem Sinne, dass jedes Subjekt gleichviel zählt wie ein anderes, weil jedem die Würde des Menschen zukommt. In der Gesprächssituation selber ist die Wechselseitigkeit aber eher durch eine verschränkte Asymmetrie gekennzeichnet. Ein Subjekt bietet ein Einverständnis an, ohne Wissen darum, wie die andere Seite reagiert. Und das andere Subjekt nimmt das Einverständnis des Anderen an, ohne zu übersehen, wie sich der Andere zu der Annahme verhalten wird. 264

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(2) Allgemein gesprochen besteht die Funktion des Konsenses als Motiv in einem Gespräch darin, den Impuls einer zwanglosen Einigung wachzuhalten. Jede Ordnung, auch eine Grenzordnung, besteht dadurch, dass in ihr zwei Mechanismen wirken. Es ist dies die Dialektik von Inklusion und Exklusion sowie die von Partizipation und Selektion. Jede Ordnung kennt das Drinnen und das Draußen. Das ist die Dialektik von Inklusion und Exklusion. Mit jedem Akt, mit dem wir bestimmen, ob etwas drinnen oder draußen ist, wählen wir. Und mit jeder Wahl entscheiden wir uns für Teilhabe oder Abwählen, also für Partizipation oder Selektion. Das Motiv des Konsenses wirkt auf diese Dialektik von Inklusion und Exklusion, von Partizipation und Selektion in der Art ein, dass die Idee der zwanglosen Einigung die Ordnung auf das Außerordentliche außerhalb der Ordnung hin öffnet und in eins damit die Selbstbegrenzung der Ordnung leistet. Im einzelnen lassen sich drei Funktionen unterscheiden. Das Motiv des Konsenses kann die Öffnung stimulieren. Es setzt den Impuls, auf den anderen zu hören. Das Motiv des Konsenses kann die Öffnung kritisieren. Es wacht darüber, was ein Subjekt vom anderen übernimmt. Und das Motiv des Konsenses kann integrieren. Es entscheidet, was ein Subjekt vom anderen annimmt. In jedem Falle wirkt die Grenznorm des Konsenses als regulative Idee, das heißt auf eine indirekte Art und Weise. Als formal-prozedurales Prinzip stimuliert, kritisiert und integriert die Grenznorm des Konsenses die Öffnung des Selbst, durch welche die Stimme des Anderen mit ihrer fremden Perspektive zum Ausgangspunkt der Selbstverständigung eines Subjekts wird. (3) Konsens als Grenznorm bedeutet soviel wie Aufmerksamkeit in Achtsamkeit. Man kann die Ebene der Aufmerksamkeit als die Ebene der Ordnung ansehen, welche sich vor der Ebene der Achtsamkeit als dem Horizont des Außerordentlichen abzeichnet. Der Horizont der Achtsamkeit macht die Aufmerksamkeit zu einer geschuldeten Aufmerksamkeit, in welcher die Aufmerksamkeit eines Selbst dezentriert ist, weil sie sich altrozentrisch auf den Anderen orientiert. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit greifen ineinander, um den Anschluss eines Selbst an einen Anderen zu realisieren, welcher immer schon ein Moment von Einigung voraussetzt. Solche Einigung bildet sich in einem Einvernehmen. Ein Einvernehmen bezeichnet den Punkt der Übereinkunft, an dem Einverständnisse zusammenkommen. Im Motiv des A

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6 · Der Status einer Grenznorm

Konsenses bringt das Selbst dem Anderen einen Vertrauensvorschuss entgegen und nimmt damit ein Einvernehmen vorweg. Der Kredit, den eine geschuldete Aufmerksamkeit gewährt, artikuliert sich in der Form des Konsenses als Motiv. Dem Begriff des Konsenses als Motiv kommt eine Zwischenstellung im Ineinander von ordentlicher Aufmerksamkeit und außerordentlicher Achtsamkeit zu. Zum einen bezeichnet das Motiv des Konsenses die Schnittstelle von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, an der die außerordentliche Achtsamkeit in die ordentliche Aufmerksamkeit übergeht und diese verändert. Das Motiv des Konsenses ist so etwas wie die rationale Form der Achtsamkeit in der Aufmerksamkeit, in welcher sich die Achtsamkeit in der Aufmerksamkeit ausdrückt. Zum anderen bezeichnet das Motiv des Konsenses die Funktion der Achtsamkeit für die Aufmerksamkeit, welche darin liegt, dass die Achtsamkeit die Aufmerksamkeit auf Wahrhaftigkeit hin ausrichtet. Das heißt, das Motiv des Konsenses reguliert als Idee inklusionslogischer Akzeptabilität einen verständigungsorientierten Dialog, in den die geschuldete Aufmerksamkeit eines Gesprächsteilnehmers eintritt. Dieses Verständnis von Konsensualität etabliert sich in drei Momenten. Das erste Moment ist die Ebene des Ereignisses. Konsens wird als ein Widerfahrnis und damit als Ereignis begriffen. Ein Einvernehmen stellt in seiner Funktionsweise als zwangloser Übereinkunft ein Geschehen dar, welches sich fortlaufend aus sich selbst heraus erneuert und immer wieder auf sich selbst anwendbar ist. Aufgrund dieser Qualität einer iterierbaren Selbstreferentialität, welche dem Konsens aus seiner Teilhabe am Antwortgeschehen zuwächst, ist das Phänomen des Konsenses in der Lage, die Selbstbezüglichkeit eines Subjekts zu begrenzen und zu entgrenzen, das heißt, die Selbstbezüglichkeit eines Subjekts zu bestimmen und gleichzeitig aufzubrechen und damit das Subjekt für den Anderen zu öffnen. Das zweite Moment ist die Ebene der Norm. Das Einvernehmen als Ereignis einer Übereinkunft von Einverständnissen enthält einen normativen Kern, der sich als die Idee der Anerkennung des Anderen als anderer umschreiben ließe. Die normative Kraft des Konsenses zielt auf eine inklusionslogische Achtung aller Anderen und damit auf eine Beteiligung aller Betroffenen an einer Einigung. Das dritte Moment ist die Ebene des Motivs, in welcher die beiden anderen Ebenen des Ereignisses der Übereinkunft und der Norm des Einverständnisses zusammenlaufen. Die Idee des Konsenses ›fungiert‹ als Motiv, so könnte man sagen. Der Ausdruck des Fungie266

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rens steht hier für so etwas wie eine ›werdende Idee‹ oder eine ›Idee in Bewegung‹ (Vgl. dazu: Waldenfels 2002, S. 235). Das heißt, ein Motiv ist keine reine Idee, es stellt vielmehr eine kontextabhängige Norm vor, welche auf Dauer auf ein Ereignis bezogen bleibt. Ein Motiv ist sozusagen eine Internalisierung der in einem Ereignis erscheinenden Norm. Das heißt, indem eine Person am Ereignischarakter des Antwortgeschehens teilhat, bildet sich in den einzelnen Akten subjektiver Gesprächsteilnahme das Motiv des Konsenses als Einstellung einer Konsensualität im Sinne einer durchgängigen Dispositivität zum Einvernehmen heraus. Eine solche Konsensualität als Einvernehmlichkeit meint die Bereitschaft des Antwortens, eine Antwort anzunehmen. In einer solchen Einvernehmlichkeit steckt der Impuls der Akzeptabilität, das heißt, es geht um Annehmbarkeit im doppelten Sinne eines Annehmens des Anderen und eines Annehmens der Äußerungen eines Anderen. Die Dispositivität zur Konsensualität ist es, die sich im Motiv des Konsenses geltend macht. Konsensualität erweist sich von daher als Grenzbegriff von Rationalität.

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Kapitel 7: Ein hermeneutisches Konzept von Rationalität

Denn jeder Anfang ist Fortsetzung nur, und das Buch der Ereignisse ist stets in der Mitte aufgeschlagen. Wislawa Szymborska

§ 27 Von der Phänomenologie zur Hermeneutik I.

Eine Grundentscheidung

In Kapitel 5 wurde der ontologische Modus des Konsensbegriffes reflektiert. Die erkenntnisleitende Frage dabei war, wie, d. h. auf welche Art und Weise ein Konsens arbeitet oder funktioniert. Als Ergebnis wurde die Bestimmung des Konsenses als Angebot formuliert. In Kapitel 6 wurde der epistemologische Status des Konsensbegriffes reflektiert. Hier ging es um die Frage, welchen Stellenwert die Idee des Konsenses für die philosophische Theorie besitzt, d. h. wozu wir die Idee eines Konsenses benötigen. Ergebnis war die Bestimmung des Konsenses als Grenznorm. In diesem letzten Kapitel geht es um die Frage nach den epistemologischen Konsequenzen aus den Bestimmungen der ontologischen Struktur und der epistemologischen Funktion für eine Methode. Anders ausgedrückt, es geht um die Voraussetzung des Moments der Unbestimmtheit in der Universalität als Bedingung der Möglichkeit eines Dissenses. Den Ausgangspunkt für diese Frage nach der Methode bildet dabei die Einsicht in die Radikalisierung der Vorstellung von der Subjektivität in deren Verständnis als Individualität. Jede Allgemeinheit besitzt einen Index von Individualität und stellt deshalb ein prinzipiell unabgeschlossenes System dar. Individualität kann also nur erschlossen werden im Lichte des Selbstbildes, welches ein Individuum von sich ent268

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§ 27 Von der Phänomenologie zur Hermeneutik

wirft. Diese Erschließung leistet die Hermeneutik. Deswegen lautet der Titel dieses Kapitels: Von der Phänomenologie zur Hermeneutik. Dieser Ausgangspunkt spiegelt eine Grundentscheidung in der Philosophie wider. Es geht hierbei um nichts weniger als die Bestimmung der Rolle der Metaphysik in der Philosophie. Diese grundlegende Alternative kleidet sich mit Walter Redmond, dessen Intention sich hier emphatisch an Fichte anschließt, in die Frage: »Was für ein Philosoph bist du?« (Redmond 1996, S. 91) Die Antwort auf diese Frage kann in zwei Richtungen erfolgen. Der erste Weg setzt von unten an. Er beginnt bei einem Subjekt, welches seine Erfahrungen jeweils neu interpretiert. Diesem Verständnis zufolge wäre Metaphysik ein Projekt, Bloch würde sagen ein ›laboratorium possibilis salutis‹. Der zweite Weg setzt von oben ein. Er beginnt mit dem Schema eines Gesamten, in welchem den Subjekten und Objekten bestimmte Funktionen zugesprochen werden. Diesem Verständnis zufolge wäre Metaphysik ein System. Welche Alternative zu wählen sei, steht sowohl für Redmond als auch für Fichte außer Frage. Die richtige Option ist die der Metaphysik als Projekt, weil einzig sie angemessen mit unseren Vorstellungen, Wünschen, Bildern und Begriffen umgeht, welche Ausdruck einer um Einsicht ringenden, suchenden, leidenden und deshalb lebendigen Subjektivität sind. So überzeugend die Option für das System auch daherkommen mag, letztlich beruht ihr Anspruch immer auf einer Erschleichung, weil die Option für das System zirkelhaft immer schon ihre eigenen Ansprüche in das Gesamtbild hineinprojiziert, aus welchem sie dann dieselben Ansprüche abzuleiten pflegt.

II.

Der Ansatz der Hermeneutik

Für die Frage nach einer Bestimmung dessen, was Rationalität heißen kann, stellt die Theorie des Konsenses ein limitatives Moment für ein Konzept von Rationalität bereit. Das Motiv des Konsenses als Einvernehmen liefert ein Maß subjektiver Selbstverständigung. Eine solche Auffassung von Rationalität folgt einem Selbstverständnis von Hermeneutik, dessen Pointe in der Unabschließbarkeit allen Darstellens zum Zuge kommt. Ein Gespräch stellt so gesehen ein Ereignis dar, welches keiner universalisierbaren Regel unterliegt. In einem Gespräch treffen unterschiedliche konkrete Lebenswelten in ihrer Kontingenz aufeinander. Der Universalismus mit all seinen Implikationen entsteht A

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7 · Ein hermeneutisches Konzept von Rationalität

überhaupt erst an dem Punkt, in dem sich diese Lebenswelten kreuzen. Dieser Kreuzungspunkt enthält die Bedingung der Möglichkeit einer Begegnung von Selbst und Anderem, wie sie die Idee des Konsenses artikuliert. Es ist das Motiv des Einvernehmens einer zwanglosen Einigung mit jedem beliebigen Anderen, welches in einer solchen Begegnung als regulative Idee des Vermögens der Aufmerksamkeit wirkt. Das Vermögen der Aufmerksamkeit wiederum bezeichnet nichts anderes als die Einstellung der Gesprächsteilnehmer, deren Dispositiv dem Ereignis eines Gesprächs seine Struktur verleiht. Der alles entscheidende Punkt in einer solchen phänomenologischen Theorie des Konsenses ist die Auffassung eines Gesprächs als Ereignis. Die Einsicht in die ursprüngliche Abhängigkeit unseres Handelns aufnehmend, mündet die phänomenologische Theorie damit in ein hermeneutisches Konzept von Rationalität. »Denn wenn es auch stimmt, dass die ›Ontologie … nur als Phänomenologie möglich‹ ist, so ist doch die Phänomenologie nur als Hermeneutik möglich, sofern nämlich unter der Herrschaft des Vergessens die Verdeckung die Grundbedingung für jeden Versuch einer letzten Aufweisung darstellt.« (Ricoeur 1988, Bd. III S. 99)

Diese Überlegungen setzen bei der Einsicht in die Struktur einer Teilnehmerperspektive an. Im Ausgang von der Abhängigkeit der Subjektivität gehen in einer Teilnehmerperspektive Verdeckung und Aufdeckung ihre untrennbare Verbindung ein. Verdeckung und Aufdeckung bilden die Struktur einer Perspektive, deren Begrenztheit geradezu die Bedingung der Möglichkeit ihrer Entfaltung beinhaltet. Ein solches kontingentes Selbstbewusstsein ist immer ein historisches Bewusstsein. »Bekennen, dass das Selbstverständnis des historischen Bewußtseins dergestalt durch Ereignisse affiziert werden kann, von denen wir, noch einmal, nicht sagen können, ob wir sie herbeigeführt haben oder ob sie uns bloß widerfahren sind, heißt die Endlichkeit des philosophischen Akts bekennen, in dem sich das Selbstverständnis des historischen Bewusstseins herstellt. Diese Endlichkeit der Interpretation bedeutet, dass jedes denkende Denken Voraussetzungen unterliegt, die es nicht beherrscht, woraus dann wiederum Situationen entstehen, die die Basis unseres Denkens bilden, sich als solche jedoch unserem Denken entziehen.« (ebd., S. 332)

Die Hermeneutik ist ein Kind des Historismus. Das heißt, wenn alles geschichtlich ist, ist auch das Subjekt der Geschichtlichkeit unterwor270

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§ 27 Von der Phänomenologie zur Hermeneutik

fen. Subjektivität ist in ihrer Individualität als ein kontingentes Selbstbewusstsein angelegt, welches sich demzufolge als historisches Bewusstsein realisiert. Anders ausgedrückt, Wissen vollzieht sich als Verstehen. Alle Wahrnehmung, alle Erfahrung bleibt dauerhaft verwiesen auf Verstehen als Deuten eines Objekts durch ein Subjekt vor einem Horizont. Das heißt, Verstehen vollzieht sich im ›Konflikt der Interpretationen‹ (Ricoeur). Das ist die hermeneutische Auffassung von Rationalität als radikaler Interpretation. Mit dieser Sichtweise bricht die Hermeneutik definitiv mit jeder philosophischen Methodik, welche gut scholastisch dem Primat der Beobachterperspektive folgend auf den Grundsatz vertraut: ›operari sequitur esse‹. Für die Hermeneutik mit ihrem Primat einer Teilnehmerperspektive gilt vielmehr umgekehrt: »esse sequitur operari« (Vgl. dazu: Marquardt 1985, S. 19; Marquardt zitiert hier aus der Interpretation von Hans Urs von Balthasar zur Theologie Karl Barths). Es geht um einen Primat der Praxis, um einen Vorrang des Handelns vor dem Sein, welcher sich auch in der zentralen Bedeutung des Begriffes des Ereignisses niederschlägt. Alles Ordnungsdenken wird in Bezug auf das relativiert, was als Außerordentliches vor, jenseits oder außerhalb der Ordnung liegt.

III. Aspekte einer hermeneutischen Theorie Der Ausgangspunkt zur Interpretation eines Gesprächs liegt in dem ›Es gibt‹ des Bandes der Verständigung. Das Dass des Anknüpfens sei unbestritten, es diene als Ausgangspunkt. Das Wie der Anknüpfung sei offen, es unterliege der freien Variation. So sieht es die pragmatische Theorie. Aber wie funktioniert die pragmatische Theorie? Kennt sie eine Gesamtnorm, eine Grundnorm, oder vielleicht nur, aber immerhin eine Grenznorm? Der bekannte, etwas boshafte Einwand gegen den Pragmatismus lautet ja, dass dessen Schwierigkeit nicht die ist, dass er funktioniert, sondern dass er wahr ist. Das heißt, jede pragmatische Position ist immer schon mehr als eine pragmatische Position. Sie enthält metaphysische Voraussetzungen, welche eine pragmatische Theorie als pragmatische Theorie aufzuklären nicht in der Lage ist. Aus dieser Überlegung ergeben sich bestimmte Folgerungen für die Gestalt einer hermeneutischen Theorie. Zum einen wird damit die pragmatische Interpretation der Teilnehmerperspektive auf eine HerA

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7 · Ein hermeneutisches Konzept von Rationalität

meneutik verpflichtet, welche die Voraussetzungen zu erhellen sucht, mit denen die pragmatische Theorie arbeitet. Diese Voraussetzungen stellen eine Art Grenze dar, die Grenze des um Verständigung mit sich selbst und den anderen ringenden Subjekts, welches sich immer schon in einem Rahmen bewegt. Dieser Rahmen ist in hermeneutischer Sprache ein Horizont. Zum zweiten bringt der Begriff eines Horizonts bestimmte Merkmale für die Art und Weise ins Spiel, wie die Grenze zu denken wäre. Ein Horizont wirkt immer indirekt. Das heißt, er fungiert als Hintergrund eines Vordergrundes. Wird er selbst als Thema zum Vordergrund gemacht, bedeutet das nur, dass der Horizont in einen Gegenstand verwandelt wird, welcher selbst wiederum vor einem neuen Hintergrund gedeutet wird, der in die Betrachtung mit eingeht. Im Sinne einer konzeptualistischen Position formuliert, die Universalia existieren nur in den Einzeldingen. Zum dritten werden die Universalia als real unterstellt. Der Konzeptualismus stellt eine Variante des Realismus dar. Den ontologischen Ausgangspunkt einer solchen realistischen Wahrheitstheorie bildet die Behauptung eines Primats der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit hat Vorrang vor den Ideen. Ideen sind nur in der Wirklichkeit vorhanden, nicht unabhängig von ihr. Diese Auffassung folgt Sartres Argument (Vgl. dazu: Frank 2002, S. 234 ff. sowie: Sartre 1991, S. 16 f.), welches sich auf die Grundstruktur von Phänomenen bezieht. Wenn es Phänomene, also Erscheinungen gibt, kann man diese dann auf ihr Erscheinen reduzieren? Oder setzt nicht vielmehr die Rede von Erscheinungen bereits die Annahme eines Seins von Erscheinungen voraus, welches notwendig mehr ist als ihr Erscheinen? Wenn dies so zuträfe, dann gälte ein Primat der Wirklichkeit. Ideen sind dann etwas, was der Wirklichkeit nachfolgt, Wissen ist demzufolge Rekonstruktion. Der ontologische Ansatz eines Primats von Wirklichkeit bildet sich in dem epistemologischen Theorem ab, dass es einen Primat der Passivität gibt. Ein Subjekt kann deshalb nicht die Stelle eines Grundes von Wirklichkeit einnehmen, weil es im Verhältnis zur Wirklichkeit immer schon zu spät kommt. Es besitzt eine Teilnehmerperspektive, welche unhintergehbar jeden wissenden Zugang zur Wirklichkeit prägt. Weil aber das Subjekt selbst in seiner Zuständlichkeit Teil von Wirklichkeit ist, ist Wissen Rekonstruktion als Partizipation. Zum vierten bedeutet der indirekte Zugang zum Universalen, dass dieses einen Kern von Unbestimmtheit besitzt. Das, was sich in einer 272

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§ 28 Zur Ambivalenz des Verstehens

Perspektive zeigt, ist wahr, aber nicht vollständig. In dem Maß, wie sich im Blickwinkel einer Teilnehmerperspektive die Wahrheit einer Sache erschließt, zeigt sich die Wahrheit dieser Sache, gibt etwas von der Sache preis, aber in eins damit verbirgt sie auch etwas von der Sache. Die Dinge, die wir auf der Suche nach dem Unbedingten finden, sind nicht ein für allemal festgestellt. Sie bleiben Momente unseres Prozesses von Suchen und Finden, Momente unseres hermeneutischen Verständnisses.

§ 28 Zur Ambivalenz des Verstehens I.

Der hermeneutische Grundsatz

Die Idee des Konsenses stellt auf eine Art den Ausgangspunkt für den hermeneutischen Grundsatz der Nachsichtigkeit dar in dem Sinne, dass uns daran gelegen sein muss, die Äußerungen eines Anderen bestmöglich zu verstehen. Bestmöglich meint hier zum einen, dass ich versuche die Äußerungen des Anderen möglichst sorgfältig und genau nachzuvollziehen. Bestmöglich meint aber auch, dass ich versuche möglichst viele gute Gründe für die Richtigkeit der Äußerungen des Anderen aufzubieten. Zur Geschichte hermeneutischer Theorie gehört unabdingbar der wohlbekannte und stets neu diskutierte Grundsatz, dass Hermeneutik diejenige Theorie sei, welche es möglich mache, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstehe. Die von Schleiermacher stammende Formel meint bei diesem, dass ein Allgemeingültiges dadurch produziert würde, dass jede Interpretation den ursprünglichen Text um eine neue Deutung anreichere. Deutungen sind deshalb neu, weil und insofern sie ihre je spezifische Geschichtlichkeit einbringen. BesserVerstehen meint demzufolge neu verstehen. »Die Aufgabe ist also so gestellt eine unendliche, weil es ein Unendliches der Vergangenheit und der Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen.« (Schleiermacher 1977, S. 88; vgl. dazu: Frank 1985, S. 358 ff.) Nach Frank geht es hierbei nicht um »ein positivistisches Credo, das über die Bedeutung eines Diskurses aus der zeitlichen Distanz kompetenter zu verfügen sich anmaßt, sondern im Sinne der Steigerung seiner Sinnfülle« (Frank 1985, S. 361) wird der Text auf diese Weise um neue Verständnismöglichkeiten angereichert, ähnlich wie der Stamm eines A

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Baumes mit dem Anlegen der Jahresringe wächst. Gadamer hat den schleiermacherschen Grundsatz so interpretiert, dass Besser-Verstehen als Neu-Verstehen hieße, einen Autor immer anders zu verstehen (Gadamer 1986, Bd. I S. 195 ff.). Es ist zwar zutreffend, dass so etwas wie eine Anreicherung eines Textes durch die sich auf ihn beziehenden Deutungen entsteht. Diese Deutungen bedeuten aber nicht unbedingt eine Steigerung der Sinnfülle des Textes im Sinne eines Besser-Verstehens, sondern sie besagen das Entstehen einer Tradition. In den Traditionen, welche mit dem Bemühen um die Aneignung eines Textes entstehen, wird das in dem Text enthaltene Allgemeingültige gemäß den je besonderen geschichtlichen Problemlagen interpretiert. Es gibt in dieser Sichtweise keinen Sinnzuwachs in einem strengen Sinne, sondern einfach neue Antworten auf alte Fragen. Anders ausgedrückt, die Zahl der Deutungen nimmt zu. Deren Besser-Verstehen läge nur darin, dass die neue Deutung einen Text besser in die veränderte geschichtliche Situation einpassen würde. Dagegen wiederum beharrt Apel darauf, dass Besser-Verstehen mehr ist als Anders-Verstehen. Denn Verstehen eines Allgemeingültigen hat nach Apel etwas damit zu tun, dass die Frage nach der Rechtfertigung, also nach den Begründungen gestellt wird. Nach Apel muss »die Geltungsreflexion in allem Verstehen gerettet werden« (Apel 1991, Bd. I S. 49). Anders ausgedrückt, nicht jede neue Interpretation wäre eine Steigerung der Sinnfülle, weil Interpretationen dem Geltungsanspruch auf Wahrheit unterworfen werden müssten. Eine solche Bezugnahme auf das Wahrheitskriterium legt aber den starken Verdacht nahe, dass letztlich doch wiederum eine vorgängig bekannte ideale Beobachterperspektive als Maßstab in die Deutung eingeführt würde, welche Interpretationen als richtig und welche als falsch zu bezeichnen wären.

II.

Der doppelte Boden des Verstehens

Zur Eigenart von Verstehen gehört es, dass Verstehen eine doppelte Bewegung beinhaltet. Im Verstehen geht es darum, die Perspektiven eines Anderen zu verstehen. Die Redlichkeit gebietet es, diese Perspektive des Anderen möglichst genau nachzuzeichnen. Die Schwierigkeit des Verstehens ist aber damit gegeben, dass wir es sind, die den Ande274

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§ 28 Zur Ambivalenz des Verstehens

ren verstehen. Unsere eigene Perspektive geht in das Verstehen der Perspektive des Anderen notwendigerweise mit ein. Dieses Miteingehen der eigenen Perspektive ist nun aber nicht nur die Begrenzung der Wahrnehmung der Perspektive des Anderen, sondern es stellt sozusagen die Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung der Perspektive des Anderen überhaupt dar. Ohne diese eigene Perspektive gäbe es keinerlei Wahrnehmung und deshalb auch keinerlei Zugang zur anderen Perspektive. Weil es kein Verstehen ohne dieses Ineinander von eigener und fremder Perspektive gibt, ist Verstehen von vornherein durch eine Differenz gekennzeichnet. Jedes Verstehen ist anders, weil sich die Intentionalität des Meinens in unterschiedlichen Teilnehmerperspektiven ausdrückt. Die Unaufhebbarkeit der Differenz innerhalb des Verstehens bedeutet daher, dass Verstehen immer einen indirekten Weg einschlägt. Verstehen als Interpretieren eines Objekts durch ein Subjekt vor einem Horizont erfasst einen Gegenstand als eine Gestalt, welche im Vordergrund eines Hintergrunds erscheint. Doch trotz des differentiellen Charakters des Verstehens gibt es ein besseres und ein schlechteres Verstehen. Verstehen ist nicht etwa nur ein selbstreferentielles Spiel von Perspektiven. Verstehen kennt Referenz, das heißt die Bezugnahme auf ein Objekt. Das heißt, Verstehen vollzieht sich als Approximation in Genauigkeit und Zuverlässigkeit, welche sich an den Geltungsansprüchen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit orientiert. Die Sprachgemeinschaft der Verstehenden kann deshalb auch als eine Interpretationsgemeinschaft bezeichnet werden. Eine Interpretationsgemeinschaft oder Kommunikationsgemeinschaft kennt keine übergeordnete oder grundlegende Regel transzendentaler oder quasi-transzendentaler Art. Aber sie kennt ein Motiv, welches der Aufmerksamkeit ihrer Teilnehmer als Supplement dient, um sich in einem Gespräch zurechtzufinden. Von hier aus fällt nochmals Licht auf die Notwendigkeit des Streits. Streit ist deshalb notwendig, weil es einen Austausch von Perspektiven geben muss, welche ich ohne den Austausch nicht kennen lernen würde. Die Unterschiedlichkeit von Perspektiven trägt die Differenz als Voraussetzung in sich. Dissens meint dann das Austragen der Differenzen, welches aber den Horizont eines Konsenses erfordert. Denn ohne zumindest die Vorstellung eines oftmals unscheinbaren Rahmens einer zwanglosen Einigung gäbe es nicht einmal das Streiten des Streits. Die Notwendigkeit eines Streits liegt in der Notwendigkeit A

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des Perspektivenwechsels begründet, welcher nicht nur der Bewährung des Eigenen, sondern auch und vor allem der Aufnahme des Fremden und damit der Revision des Eigenen dient. Daraus folgt, dass es im Motiv des Einvernehmens mitgegeben ist, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst versteht.

III. Verstehen und Fremdverstehen Zu den entschiedenen Kritikern des hermeneutischen Grundsatzes vom Besserverstehen gehört F. W. Marquardt, der einwendet, dass in diesem Grundsatz eine ›Anmaßung‹ stecken würde. »Aber jemanden, etwas nur zu erkennen, wenn es ›ein Stück von mir‹ ist, ich sie, ihn, es mir gleich gemacht habe, das macht mich zum Maß aller Dinge und über alle Menschen …« (Marquardt 1997, S. 468) Um dieser Gefahr zu entgehen schlägt Marquardt vor sich an Levinas zu orientieren. »Für Levinas ist der Gedanke des Paulus, daß ein Erkennen […] nur in einem Erkanntwerden […] bestehen könne (1. Kor 13,12), auch ein philosophisch tragender und notwendiger Gedanke. Erkennen heißt nicht: Dinge und Menschen ergreifen (was sie ja feststellen und festhalten bedeutet) – vielmehr: sich angreifen und durchdringen lassen von dem, was begegnet.« (ebd., S. 468)

Im Lichte dieser Perspektive müsste der hermeneutische Grundsatz konsequent umgedreht werden: Einen Autor besser verstehen, als er sich selbst versteht, müsste heißen, der Andere als Autor hat mich immer schon besser verstanden, als ich mich selbst verstehe. Oder: Ich muss mir von einem Anderen sagen lassen, wer ich bin. Ein zentrales Anliegen einer offerentiellen Konsenstheorie besteht darin, diesem selbstkritischen Aspekt eines Dialogs Geltung zu verschaffen. Das heißt aus diesem Blickwinkel, dass es im Verstehen um ein Gelingen von Fremderfahrung geht. Einerseits geht es um einen Zuwachs an Perspektiven oder Sinnmöglichkeiten. Andererseits geht es darum, ob mit dem Zuwachs eine Anknüpfung an das Sinnverstehen des Autors gelingt. Es geht um ein Treffen der Fremderfahrung mit der Selbsterfahrung. Dieses Treffen der Fremderfahrung gelingt als verständiges Verstehen, wenn ein Einvernehmen entsteht. Letztlich beruht die Idee einer Kommunikations- oder Interpretationsgemeinschaft auf dem Überschuss der reziproken Akzeptanz von Intentionalität und Resignativität, wie sie in der gelingenden Wechselseitigkeit des Anbie276

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tens und Annehmens von Einverständnis, welches im Einvernehmen gipfelt, zum Tragen kommt. Aus diesem Ansatz ergeben sich verschiedene Konsequenzen für das Funktionieren einer Interpretationsgemeinschaft. Die erste Konsequenz besagt, dass die Ambivalenz des Sich-Ausdrückens unaufhebbar bleibt. Es gibt immer ein einerseits-andererseits, eine nicht reduzierbare Vielfalt von Perspektiven. Die zweite Konsequenz lautet, dass sich der Überschuss des in einer Antwort enthaltenen Sich-Ausdrückens nur im Medium einer Vermutung erschließt. Alles Verstehen, jede Interpretation impliziert ein solches Moment an Ungewissheit, wie es sich im Vorgriff einer Vermutung niederschlägt. Die dritte Konsequenz lautet, dass erst eine Antizipation vorauslaufenden Vermutens genau den Rahmen liefert, von dem her und auf den hin eine Antwort gegeben werden kann. Als Ereignis enthält jedes Gespräch ein Risiko. Das Annehmen des Risikos ist der erste Schritt zur Verwandlung des Risikos in eine Chance.

IV. Die Leistung der Hermeneutik Die Leistung eines hermeneutischen Konzepts von Rationalität liegt darin, dass es das selbstkritische Moment der Struktur einer kontingenten Teilnehmerperspektive denkbar werden lässt. »Die Hermeneutik ist eine universale Disziplin, weil sie nicht fremden Sinn an eigenem ausrichtet, sondern das Rationalitätskonzept – den ›Begriff‹, der die eigene Interpretation vorgängig leitet – mit ins Geschehen der wechselseitigen Verständigung einbringt und so selbst der Befragung sich aussetzt.« (Frank 1985, S. 153 f.)

Für ein solches hermeneutisches Konzept von Rationalität bildet eine offerentielle Konsenstheorie eine notwendige Voraussetzung. Ihre Beschreibung des Konsenses als Einvernehmen meint, dass es im Konsens um ein Widerfahrnis geht. Etwas zeichnet sich dadurch aus, dass es mir widerfährt. Das heißt, mir begegnet etwas ohne mein Zutun. Ich entscheide aber, auf welche Art und Weise mir das begegnet, was auf mich zukommt. Der Ausdruck des Einvernehmens bezieht sich deshalb auf die Fremdheit des Widerfahrnisses und auf die Fremderfahrung des Widerfahrnisses. Hierbei geht es nicht um ein Zusammenwirken von Aktivität und Passivität im Sinne eines Ausgleichs, sondern um das Paradox eines Sich-Ausdrückens einer Passivität als eines aktiven Tuns, A

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nämlich als ein Zulassen, Ertragen, Empfangen, eben um Annehmbarkeit. Die Fremderfahrung der Fremdheit bedeutet ein aktives Empfangen, so könnte man dies ausdrücken. Demzufolge vermag ich eine zwanglose Einigung niemals zu stiften, aber ich vermag eine zwanglose Einigung anzubieten oder anzunehmen. Den Gedanken einer offerentiellen Konsenstheorie verfolgend möchte ich Hermeneutik als Theorie der Interpretation mit den Merkmalen Antizipation, Approximation und Angebot beschreiben. Eine Hermeneutik fasst jede Äußerung als interpretationsbedürftig auf. Als grundlegendes Merkmal von Interpretation mag die Sinnhaftigkeit gelten. Das hieße, Hermeneutik ginge von der Totalität eines nach Selbstverständigung suchenden Subjekts aus, welches aufgrund seiner prekären Voraussetzungen gerade nicht über einen festen Bestand von Gegebenheiten oder Regeln verfügt. Vielmehr müsste sich ein Subjekt in jedem Akt des Verstehens immer selbst aufs Spiel setzen und auf diese Weise eine kritische Distanz sich selbst gegenüber einnehmen. Eine solche Hermeneutik lieferte erstens mit ihrer Interpretation einen Entwurf. Ihr Zugang zur Selbst- und Fremderfahrung wäre als eine sich dauerhaft über Mutmaßungen vollziehende Antizipation zu kennzeichnen. Verständiges Verstehen ist ein Sich-Annähern in Vermutungen, wie es Schleiermacher in seinem Konzept der Divination angedacht hat, unabschließbarer Prozess einer Begegnung zwischen einem Selbst und einem Anderen. »Wir sind beständig in der Probe begriffen, und so auch in der Wahrnehmung der Identität der Konstruktion. Alle Mitteilung über äußere Gegenstände ist beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren.« (Schleiermacher 1977, S. 460; vgl. dazu: Frank 1992, S. 20) Zweitens enthielte eine solche Hermeneutik aller Ambivalenz des Sich-Ausdrückens zum Trotz eine Approximation als Annäherung an Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Es gibt durchaus so etwas wie einen Mehrwert des Verstehens. Drittens bezeichnete eine solche Hermeneutik den Entwurf ihrer Interpretation als Angebot. Das soll besagen, dass Übereinstimmung möglich erscheint, wenn ein nach Selbstverständigung suchendes Subjekt von der Binnenperspektive seiner Totalität her der Außenperspektive der Exteriorität des Anderen Raum gewähren würde, um die Stimme des Anderen zu hören. Denn auf Grund der Struktur seiner Expressivität wäre ein Subjekt in seiner interpretativen Selbstverständigung auf den doppelten Weg von Selbsterfahrung und Fremderfahrung verwiesen. 278

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§ 29 Der Mehrwert der Unbestimmtheit

Eine solche Auffassung einer hermeneutischen Theorie folgte dem Leitbild eines Polylogs. Konsequent weitergedacht müsste dann ein Nebeneinander von Perspektiven und Theorien ins Auge gefasst werden, wie es Derrida (Derrida 2000) mit dem Begriff einer Idiomatik unternommen hat. Idiomatische Theorien leiten ihre Gemeinsamkeiten von einer Vorstellung her, die der Zuordnung verschiedener Sprachen entspricht. Jeder Sprecher bringt eine Muttersprache mit, zu der weitere Sprachen hinzukommen. Wenn der Sprecher sich in diesem Nebeneinander zurechtfindet, kann dies zu einem fruchtbaren Miteinander führen. Insofern ist das, was jeder Sprecher an Sprache entwickelt, eine Art ›Idiolekt‹ (Lyotard 1996, S. 131), welcher seine spezifische Perspektive in ihrer Ausdrucksweise kennzeichnet. Hermeneutik würde damit zu einer idiomatischen Theorie im doppelten Sinne. Einerseits wäre sie selbst ein idiomatischer Zweig im Gebilde der Theorie, nämlich epistemologische Theorie von Wissen als verständigem Verstehen. Andererseits wäre sie auch eine Theorie des Idiomatischen, indem sie das Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven erklärt. Das Programm einer Hermeneutik wird auf diese Weise zu einer differentiellen Theorie einer Pluralität von Perspektiven. Als die ›Kunst, die Rede eines andern richtig zu verstehen‹ (Schleiermacher) ist Hermeneutik die idiomatische Theorie eines Polylogs, in welchem Individuen um ihrer Selbstkritik willen nach Verständigung durch Gespräch streben.

§ 29 Der Mehrwert der Unbestimmtheit I.

Spuren negativer Theologie

Theodor Adorno in seinem Briefwechsel mit Walter Benjamin folgend, entdecken wir in aller mit historischer Konkretheit aufgeladenen materialistisch zu nennenden Theorie einen »theologischen Glutkern« (Adorno/Benjamin 1995, S. 143), in dem die Unbestimmtheit aller Konkretheit enthalten ist. Der Unbestimmtheit liegt das Bilderverbot zugrunde, welches den Schutz der Erfahrung vor dem sprachlichen Ausdruck, den Schutz der Innerlichkeit vor der Äußerlichkeit einfordert. Etwas locker ausgedrückt könnte man sagen, dass es die negative Theologie ist, welche Schwung in die Sache bringt. Die UnbestimmtA

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heit als Kern der Wahrheit aufzufassen, das entspricht einer theologischen Einsicht, der Einsicht nämlich, dass es darauf ankäme, die Unbegreiflichkeit Gottes zu begreifen. An diesem Punkt treffen sich Theologie und Skepsis in dem Interesse, das Recht des Konkreten vor einem Besitzanspruch von Allgemeinheit in Schutz zu nehmen. Diese Interpretation versucht am Messianismus ein Moment zu erschließen, welches, traditionell gesprochen, nicht zur natürlichen, sondern zur übernatürlichen Theologie gehört. Es geht um die Struktur von Gnade und Glaube als Schlüssel zum Verständnis von Aktivität und Passivität in der condition humaine, wie sie uns in der Vorstellung von der Resignativität als Gelassenheit begegnete. Der ethischen Bestimmung der Subjektivität im Umfeld von Levinas ist es eigen, dem Subjekt einen Bezug zur Transzendenz zu unterstellen, wie sie sich im Anspruch des Anderen an die Subjektivität findet. Mit dem Ausdruck der Transzendenz werden, so Marquardt (Marquardt 1997, S. 467 ff.), mindestens drei unterschiedliche Momente angesprochen. Erstens heisst Transzendenz soviel wie ›Jenseits des Seins‹, eine Formel, wie sie sich beispielsweise in einem Teil der deutschen Übersetzung des Titels des zweiten Hauptwerkes von Levinas wiederfindet. Es geht um einen Bereich, der sich außerhalb dessen befindet, was wir Subjekte als Seiende aus unserem Vermögen hervorbringen können. Jenseits des Seins befindet sich eine wirkliche Möglichkeit, welche alle meine Möglichkeiten übersteigt. Zweitens meint Transzendenz so etwas wie die Einheit des Einen, wie sie dem in Unterscheidungen, das heißt in Zweiheit, spaltenden Denken immer schon voraus liegt (ebd., S. 501). Zur Transzendenz gehört die Ununterschiedenheit der Einheit. Drittens bezieht sich die Rede von der Transzendenz auf die in dieser Einheit vorausgesetzte Vorstellung von Unendlichkeit, welche mit dem Hyperbolischen als übersteigendem Moment in den »Überschußphänomenen« (Waldenfels 2012, S. 11) uns subjektive Seienden über uns hinausführt. Zusammenfassend gesehen bedeutet dieser Bezug zur Transzendenz, dass so etwas wie Unendlichkeit in den Gedanken der Einheit eingelassen ist. Im Anschluss an Platons Parmenides-Dialog entdeckt Levinas das, was wir Unbestimmtheit nennen können. »Das vom Philosophen so inständig gesuchte (und darum vorausgesetzte) Eine ist ›etwas anderes‹ als alles das, worum Platons Dialogpartner sich bemüht hatten, ›anders‹ in absoluter Weise und nicht relativ auf irgendeinen Bezugpunkt. ›Es ist das Unoffenbare: unoffenbar nicht des-

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§ 29 Der Mehrwert der Unbestimmtheit

wegen, weil alle Erkenntnis zu begrenzt oder zu klein wäre, um sein Licht zu empfangen, sondern unoffenbar, weil eines und weil erkannt werden eine Zweiheit impliziert, die sich schon von der Einheit des Einen abhebt‹.« (ebd., S. 501, Levinas 1983, S. 213 zitierend)

Auf eine ähnliche Art und Weise hatten schon Eckhart oder Seuse den Gedanken der Einheit Gottes als unbestimmbarer Einfachheit reflektiert. In dieselbe Richtung weist auch des Cusanus Gottesbegriff eines Non-aliud. Gott wird hier als ein Nicht-Anderes gedacht, unterschieden durch Ununterschiedenheit, denn Gott ist »eine stille Wüste, in die Unterschiedenheit hineinlugte« (Eckhart Werke I, S. 509). Das, was allem gemein ist, ist die Einheit Gottes. Diese zeigt sich darin, dass Gott ohne ›nicht‹ ist. Das heißt, weil Gott nicht durch Unterschiede, sondern durch das, was allen gemeinsam ist, bestimmt ist, ist er unbestimmt. Gott als dieses Nicht-Andere ist, wie die paradoxale Formulierung lauten könnte, ein prinzipienloses Prinzip, dessen Wahrheit jenseits des Seins liegt, welche sich aber dem Seienden zeigt (vgl. Flasch 2008, S. 559). Aus diesem Ansatzpunkt lässt sich für ein hermeneutisches Konzept von Universalität zweierlei folgern. Erstens impliziert der Gedanke der Einheit eine ganz grundsätzliche Unbestimmtheit als Kern von Universalität. Der Gedanke der Unbestimmtheit bietet einen Raum, in welchem sich die je individuelle Stimme des Anderen Gehör verschaffen kann. Zweitens bedeutet dies, dass damit auch die in der Aktivität geübte Universalität unabschließbar wird. Anders ausgedrückt, weil und insofern unsere Äußerungen auf Zustimmungsfähigkeit angewiesen sind, bleibt Universalität ein Angebot. Dergestalt ist eine Antwort auf die Frage nach der Rationalität und Kommunikativität denkbar, wie sie mit der Bestimmung von Theorie als ›Großen Erzählungen‹ erforderlich wird. Denn auch Erzählungen – sogenannte große und kleine – bedürfen der Anknüpfung an Äußerungen eines anderen Gesprächsteilnehmers. Gerade in einer kontextualistischen Sichtweise bedarf es auch des Blicks für die in aller Kontextualität implizierte Normativität.

II.

Universalismus ohne Universalität

Wer nach der Konzeption eines Universalismus ohne Universalität sucht, wird bei einem Konzept nachfragen, welches Martin Seel als die Position eines moderaten Holismus benennt. Hier geht es darum, dass eine Ganzheit oder Gesamtheit gesucht wird ohne Ganzes, weil A

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»die Überzeugungen, die jemand hat, ihren Gehalt nur in Abhängigkeit von weiteren seiner Überzeugungen haben« (Seel 2002, S. 90). Es geht um einen Zusammenhang von Überzeugungen, also um eine Art Ordnung, welche weder eine Gesamtordnung noch eine Grundordnung ist. Mit dem Insistieren auf dem Ordnungsgedanken kommt die Position eines Holismus der Einsicht nach, dass in einem Gespräch Zusammenhänge erkennbar und verstehbar werden, welche nur von innen erkundet werden können (vgl. ebd., S. 97). Für einen Gesprächsteilnehmer folgt daraus, dass er in seiner individuellen Subjektivität unhintergehbarer Bestandteil der Rezeption ist. »Ich kann fremde Äußerungen und Gedanken nur verstehen, wenn ich sie in den Haushalt meiner Sprach- und Weltkenntnis einordnen kann, wenn ich mich also meinerseits im Inneren einer Praxis des Sprechens und Überlegens aufhalte, wo es wiederum kein überschaubares Ganzes gibt.« (ebd., S. 95)

Aus dieser doppelten Einsicht in die Bedingtheit und die Begrenztheit einer Teilnehmerperspektive mit ihrem Horizont und ihrer Praxis der Übernahme fremder Vorstellungen und Gedanken ergeben sich nach Seel Konsequenzen für das Verständnis der Gesamtheit. »Holistische Beziehungen – und mit ihnen das, was verstanden werden soll, wenn etwas verstanden werden soll – reichen nicht ad infinitum, sondern lediglich ad indefinitum.« (ebd., S. 97) Mit dieser Schlussfolgerung greift Seel einen Gedanken von Michael Esfeld auf, welcher damit zwar eine offene Reichweite holistischer Verhältnisse nahelegt, diese aber von den mit dem Gedanken der Unendlichkeit gegeben Ansprüchen von Transzendenz freizuhalten sucht. »Es kann und darf offen bleiben, bis zu welchem Punkt wir einander folgen und verstehen können (und wollen). Statt ›ad infinitum‹ – ins Unendliche – zu reichen, sind die Vernetzungen des Denkens ›ad indefinitum‹ – bis ins Unbestimmte – artikuliert. Einen bestimmten Gehalt haben unsere Gedanken vor dem Hintergrund einer unbestimmt weiten Verbindung mit anderen Gedanken und mit den Gedanken anderer.« (ebd., S. 97)

Der bestimmte Gehalt unserer Gedanken bedarf des Hintergrunds einer unbestimmten Verbindung, welche aber in aller Unbestimmtheit durchaus auf indirekte Weise so etwas wie Unendlichkeit voraussetzt. Denn ohne den Gegensatz eines Unendlichen wäre auch das Endliche nicht endlich. Gespräche setzen eine Struktur mit Anfang und Zielpunkt voraus, 282

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§ 29 Der Mehrwert der Unbestimmtheit

deren Zentrum undarstellbar ist. Es geht um einen Universalismus als ›Schema ohne Kern‹, um einen Universalismus ohne Universalität. Dies verhält sich so, nicht weil es diese Universalität nicht gäbe, sondern weil diese nicht einfachhin direkt zugänglich ist. Als Universalität verbleibt sie in einer Unbestimmtheit. Das bedeutet dann weiter, dass jede Theorie unter einer Art kommunikativem Vorbehalt steht. Einen universalistischen Anspruch löse ich weder dadurch ein, dass ich ein System von Universalität im Sinne einer Gesamtordnung entwerfe, noch dadurch, dass ich einen elementaren Regelbestand im Sinne einer Grundordnung aufstelle. Einen universalistischen Anspruch löse ich vielmehr dadurch ein, dass ich einer Einstellung von Resignativität folgend meine eigenen Entwürfe begrenze und in der Begegnung mit Anderswem entgrenze. Ein Universalismus ohne Universalität im Sinne einer Grenzordnung kann universalistisch genannt werden, weil er sich dem jeweils beteiligten und betroffenen Anderen öffnet. Der Sinn eines solchen Unterfangens besteht darin, der Stimme des Anderen den Raum und die Zeit zu lassen, in dem sie und in der sie gehört werden kann. Ricoeur zufolge ist die Stimme des Gewissens die Stimme des Anderen in mir selbst. »Die Stimme des Gewissens zu hören würde dann ein Aufgefordertsein durch den Anderen bedeuten.« (Ricoeur 1996, S. 421) Im Aufgefordertsein spiegelt sich die ursprüngliche Passivität der Subjektivität wider. »Verhält es sich so, so besteht die Passivität des Aufgefordertseins in der Situation des Hörens, in der das ethische Subjekt sich einer Stimme gegenüberfindet, die in der zweiten Person an es gerichtet ist.« (ebd., S. 423) Der Andere stellt einen Anspruch an mich, Ricoeur nennt diesen Anspruch Gebot, welcher unterhalb des Anspruchs eines allgemeinen Gesetzes liegt. Das Subjekt ist ganz direkt und von vornherein durch diesen Anspruch des Anderen betroffen. Damit wird die Subjektivität in ihrer Individualität radikal auf die Andersheit des Anderen verwiesen, aber gerade in ihrer Verwiesenheit bleibt sie sie selbst. Anders ausgedrückt, in dieser Verwiesenheit gewinnt die Subjektivität ihre Individualität, welche sie immer schon ist. »Gegen M. Heidegger habe ich eingewandt, daß die Bezeugung ursprünglich eine Aufforderung ist; andernfalls verlöre sie jede ethische und moralische Bedeutung. Gegen E. Levinas möchte ich einwenden, daß die Aufforderung ursprünglich eine Bezeugung ist; andernfalls würde die Aufforderung nicht entgegengenommen und das Selbst würde nicht im Modus des Aufgefordertseins berührt. Die tiefe Einheit von A

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Selbstbezeugung und Aufforderung vom Anderen rechtfertigt es, die Modalität der Andersheit in ihrer irreduziblen Spezifizität anzuerkennen. Sie entspricht auf der Ebene der »großen Gattungen« der Passivität des Bewußtseins auf der phänomenologischen Ebene.« (ebd., S. 425 f.)

Subjektivität als Bezeugung einer Aufforderung, das ist der Kern von Ricoeurs Theorie der Subjektivität. Aufforderung bedeutet Aufgefordertsein durch jemanden oder von jemandem. Aber es bedeutet auch, dass jemand zu etwas aufgefordert ist. Wenn ein Subjekt seine Aufforderung annimmt, dann leistet es die Bezeugung. Insofern begleitet das Wechselspiel von Intentionalität und Resignativität auch an dieser Stelle den Übergang von der Passivität der Subjektivität zu einer aktiven Individualität in Produktivität und Rezeptivität.

III. Das Positive der Unbestimmtheit Zusammenfassend lässt sich dieser Sachverhalt treffend an dem Zitat des Novalis erläutern: Wir suchen das Unbedingte, aber wir finden nur Dinge. Die Einsicht, dass es nur Dinge sind, die wir finden, aber nicht das Unbedingte selbst, bedeutet nicht, dass es das Unbedingte nicht gibt. Wir finden das Unbedingte deshalb nicht auf dieselbe Art und Weise, wie wir die Dinge finden, weil das Unbedingte zu einer anderen Ebene gehört. Das Unbedingte findet sich nur in den Dingen. Umgekehrt gilt aber, dass wir ohne die Suche nach dem Unbedingten die Dinge gar nicht finden würden, weil uns der Rahmen fehlen würde, von dem her und auf den hin wir die Dinge als Dinge wahrnehmen. Anders ausgedrückt, ohne ein Moment an Transzendenz in aller Immanenz könnte man nicht einmal sinnvollerweise von der Immanenz selbst sprechen. Auf die Unterbrechung der Subjektivität durch die Exteriorität antwortet die Subjektivität mit der Bereitschaft zur Öffnung. »Wie am deutlichsten Emmanuel Levinas gesehen hat, steht am Anfang der Moral nicht eine Restriktion, sondern die Aufhebung einer Restriktion: die Bereitschaft nämlich, sich durch das Wohl und Wehe des Anderen bestimmen zu lassen.« (ebd., S. 297) Diese Bereitschaft ist es, welche sich in der kommunikativen Epoche spiegelt, in der und durch die sich die Subjektivität selbst zurücknimmt, um der Stimme des Anderen Raum zu geben. »Wer schon weiß, auf wen er hört, hört nicht auf den Anderen.« (Waldenfels 2004, S. 269) Umgekehrt gilt: Wer auf den 284

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§ 29 Der Mehrwert der Unbestimmtheit

Anderen hört, weiß nicht, auf wen oder was er hört. Weil die Fremderfahrung immer schon mit in die Selbsterfahrung hineingehört, ist das Moment der Vermutung unhintergehbar in eine Interpretationsgemeinschaft eingelassen. Die Aufnahme des Moments der Vermutung tastet die Begrifflichkeit der Theorie in ihrer Wurzel an. Sie setzt auf ein Denken aus Metaphern gegen ein Denken in Formeln. Bei Hans Blumenberg wird diese Theorie der ›Unbegrifflichkeit‹ in ihren Grundzügen ausgeführt. »Deshalb auch gilt Wittgensteins Satz von 1929: ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand. Erfrischung ist hier selbst Metapher, antithetisch zur ebenfalls metaphorischen Erschöpfung: das Gleichnis zeigt mehr als in dem schon steckt, wofür es gewählt wird. Es ist der Paradefall für Hermeneutik, aber in umgekehrter Richtung: nicht die Ausdeutung bereichert den Text über das hinaus, was der Autor in ihn hineingewußt hat, sondern der Fremdbezug fließt unabsehbar in die Produktivität zu Texten ein.« (Blumenberg 1997, S. 90)

Der frei flottierende Fremdbezug entspricht dem Grundsatz der Kontextualität. Wenn das Allgemeine stets kontextualistisch und nicht universalistisch zu denken ist, dann verläuft hier die Grenze des Reiches der Begrifflichkeit und es beginnt das Reich der Bilder. Es macht keinen Sinn, die Theorie strikt auf das Reich der Begriffe begrenzen zu wollen, wie es die analytische Philosophie zu großen Teilen unternimmt. Denn ohne eine Art von Fremdbezug würde Theorie eindimensional und verfehlte ihre Aufgabe der Selbstverständigung. Es gibt also kein Zurück hinter die Unbestimmtheit, aus deren Offenheit sich jede Ordnung speist. Das Positive der Unbestimmtheit liegt in der Chance zur Füllung in Zukunft: »Eben weil nichts ganz und gar durch die Ordnung bestimmt ist, der es angehört oder der es untersteht, bleibt in gewisser Hinsicht offen, ob etwas ein solches ist oder ein solches, was es ist und wann es so ist, wie es ist.« (Waldenfels 2002, S. 280) Die Kraft der positiven Unbestimmtheit bildet die Basis aller Bestimmtheiten. Ohne deren ›Außerhalb‹ gibt es keine Ordnung. Welches Hoffnungspotential darin steckt, hat Friedrich Schlegel unnachahmlich festgehalten: »Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes? […] Eine unglaublich kleine Portion ist zureichend, wenn sie nur unverbrüchlich treu und rein bewahrt wird und kein frevelnder Verstand es wagen darf, sich der heiligen Grenze zu nähern. Ja das Köstlichste, was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst A

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7 · Ein hermeneutisches Konzept von Rationalität

hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält und diese Kraft in diesem Augenblicke verlieren würde, wo man ihn im Verstand auflösen wollte. Wahrlich es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist sie selbst, diese unendliche Welt nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?« (Schlegel 1969, S. 245 f.; vgl. dazu auch: Gamm 2000, S. 197 f.)

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(1) ›Das Leben ist einfach, der Mensch ist es nicht.‹ Den wunderbaren Satz von Jon Kalman Stefansson nehme ich als Beleg für den ›Sitz im Leben‹ der Einsicht, gemäß der wir alle uns als Individuen begreifen. In gewisser Weise lässt sich der Begriff des Konsenses als Abschluss oder Vollendung eines solchen auf Individualität zielenden Begriffes von Subjektivität interpretieren. Hierin wird vorausgesetzt, dass es nicht einfach ein einziges vollkommenes ideales Subjekt gibt, sondern eben eine Vielzahl defizitärer realer Subjekte. Wir alle sind Individuen, deren Selbstgefühl einen unhintergehbaren Ausgangspunkt darstellt. (2) Meine Erzählung vom Konsens setzt mit Schleiermachers Einsicht in die Notwendigkeit von Übereinstimmung als Voraussetzung dieser Art von ausdifferenzierter Individualität ein. Wir Individuen entdecken uns in unserem Selbstgefühl als abhängige Subjekte. Diese Abhängigkeit, die von Grund auf durch eine ethische Dimension ausgezeichnet ist, empfinden wir als Mangel, den wir durch Kommunikation auszugleichen suchen. Kommunikation aber bedarf eines synthetischen Elements zur Verknüpfung sprachlicher Äußerungen. Denn würde Kommunikation vollständig in Inkommensurabilität beginnen, verharren oder enden, wäre selbst ein Streit undenkbar. Jeder Streit, schärfer noch jede Differenz, setzt immer schon eine Gemeinsamkeit voraus, ein bestimmtes Maß an Übereinstimmung, so Schleiermacher. Gäbe es eine solche Gemeinsamkeit nicht, könnte man über die Sache, welche strittig ist, gar nicht streiten. Dieser Gedanke folgt dem Muster, ohne Übereinstimmung kein Dissens, das heißt ohne Einheit keine Unterschiede, ohne Affirmation keine Negation, ohne Universalität keine Relativität. Gäbe es eine solche Gemeinsamkeit nicht, wären weder Verständnis noch Missverständnis oder Unverständnis denkbar. Ohne eine solche Gemeinsamkeit wäre nicht einmal mit Lyotard von einem ›Wir‹ eines Diskurses zu reden, wie es jeder Autor immer schon unterstellt, wenn er für einen Leser schreibt. Anders ausgedrückt, ohne eine A

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Zusammenfassung

Minimalvorstellung von Universalität ist so etwas wie Relativität nicht einmal denkbar. Die Idee einer solchen Übereinstimmung als einer zwischen streitenden Parteien vorausgesetzten Gemeinsamkeit bezeichne ich als Konsens. (3) In einer einfachen Schematisierung lassen sich drei unterschiedliche Muster von Konsenstheorien unterscheiden. Funktioniert das Zusammenpassen von Sprachspielen nach dem Muster eines Gesamtbildes, in welches alle Züge der verschiedenen Sprachspiele einzupassen wären? Diese erste Möglichkeit, welche in unterschiedlichen Varianten Schleiermacher und Husserl verfolgen, scheidet aus, weil ein solches Gesamtbild eine einheitliche Perspektive aller beteiligten Subjekte voraussetzen oder zumindest eine solche Vereinheitlichung ihrer Perspektiven als wünschbar vorstellen würde. Eben dies ist aber weder gegeben noch wünschenswert. Andernfalls wären solche Inkommensurabilitäten wie Missverständnisse oder Unverständnisse keine substantiellen Defizite, sondern nur akzidentielle Mängel, welche in einer einheitlichen Sichtweise aufgelöst werden könnten oder müssten. Die gemeinsame Anstrengung des Diskurses verlohnt sich aber gerade deshalb, weil die Unterschiedlichkeit der Perspektiven deren Wurzel betrifft. Jedes Subjekt artikuliert einen unverwechselbaren und deshalb unverzichtbaren Eigensinn, welcher ohne Austausch verlorenginge. Einer zweiten Richtung zufolge, wie sie Habermas vertritt, wird das Funktionieren des Zusammenpassens von Sprachspielen nach dem Muster des Funktionierens von Regeln vorgestellt. Zugestanden wird hier eine materiale Differenz, deren Austausch auf der Basis eines formalen Grundbestandes vermittelt wird. Dieser Ansatz bedeutet aber, dass es ungeachtet aller Differenzen immer schon einen gemeinsamen Vorrat an Regeln gibt. Würden sich Subjekte auf diesen Bestand an Regeln beziehen, gelänge der Austausch ihrer Sprachspiele. Auch diese Sichtweise scheint insofern zu optimistisch, als sie die Unverträglichkeit formaler Aspekte unterschätzt und die Möglichkeit einer klaren und deutlichen Trennung in materiale und formale Aspekte eines Austauschs überschätzt. Der Austausch von Sprachspielen im Interesse von Verstehen und Verständigung ist und bleibt ein offenes Abenteuer. Es ist eben nicht von vornherein ausgemacht, ob ein Austausch gelingt oder misslingt. Das bedeutet aber, dass die Vorstellung eines Anknüpfungspunktes nach einem dritten Muster zu denken wäre. Dieses dritte Muster 288

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Zusammenfassung

folgt der Idee einer gelingenden Grenzüberschreitung, wie sie Gadamer intendiert. Ein Zusammenpassen von Sprachspielen ist immer flüchtig und vorläufig, mit einem Wort, es ist kontingent. Es entzieht sich der Verfügungsgewalt eines Subjektes, weil das Zusammenpassen von Sprachspielen bedeutet, dass sich ein Subjekt über seine Grenzen hinaus auf das Gebiet eines Fremden hinüber begibt. Es ist dieser Punkt, den Gadamer unterschätzt. Das Subjekt weiß eben im vornherein genau nicht, was es von dort in sein Verständnis mit hinübernehmen kann und wird. Und letztlich weiß das Subjekt nicht einmal genau, was es selbst bei seinem Grenzübertritt an Gepäck mit sich führt. Aber genau weil das Subjekt von einem Mangel an einem solchen Wissen auszugehen hat, ist es unumgänglich darauf angewiesen, sich selbst zurückzunehmen. Das Subjekt muss sich auf Unerwartetes und Unberechenbares einstellen, wenn es denn die Perspektive eines Fremden nachvollziehen können will. (4) Der Begriff des Konsenses erhält in meiner Erzählung deshalb andere Konturen, als der Ansatz bei Schleiermacher nahelegen würde. Die Idee eines Konsenses muss der Unverfügbarkeit des Zusammenpassens von Sprachspielen gerecht werden. Ein Konsens lässt sich nicht einfach herstellen oder aneignen. Ein Konsens kommt auf mich zu, er entsteht und vergeht. Er lässt sich nicht festhalten. Es geht deshalb um die Entdeckung einer neuen Dimension in oder neben aller Intentionalität. Dies ist notwendigerweise so, weil die Perspektive eines anderen Subjekts immer inkommensurabel ist und bleibt. Nicht nur in einer realen Kommunikationsgemeinschaft bildet der Andere eine meiner Verfügung entzogene Größe. Auch in der Vorstellung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft verharrt der Andere in der Differenz seiner Perspektive, weil seine Fremdheit in den Grundbestand aller Subjektivität hineingehört. (5) Meiner Auffassung nach ist ein Konsens weder eine Tat bzw. ein Akt, welcher Übereinstimmung direkt hervorbringen könnte, noch ist ein Konsens eine Regel, mittels welcher sich einfach Übereinstimmung herstellen ließe. Ein Konsens bezeichnet vielmehr Übereinstimmung als etwas, was zwischen den streitenden Parteien liegt und in deren Wechselspiel entsteht. Solche Übereinstimmung vollzieht sich als ein Ereignis. Das heißt: Übereinstimmung meint Konsens als Einvernehmen. Als These formuliert: Konsens ist Übereinstimmung als Ereignis A

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offerentieller Reziprozität. Aus dem Wechselspiel eines Anbietens und Annehmens von Zustimmung und Ablehnung zu Prätentionen und Appellen entsteht die ideale Akzeptabilität einer Übereinstimmung. Deren Wechselspiel weist eine asymmetrisch-hyperbolische Reziprozität auf, in welcher Geben und Nehmen nur jeweils eigenständig und gegeneinander versetzt zusammenpassen. Anders ausgedrückt, ein Einvernehmen entsteht in seiner Dialektik zwischen Angebot und Ereignis aus der Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens von Einverständnissen. Weil der Konsens ein Einvernehmen darstellt, verbleibt uns Subjekten als Aufgabe der Konsens als Angebot eines Einverständnisses. Demzufolge möchte ich den in meiner Erzählung entwickelten Begriff vom Konsens als Einvernehmen als Version einer offerentiellen Konsenstheorie bezeichnen. Übereinstimmung ist ein Angebot, das ist der Kern dieser Auffassung des Konsenses. (6) Die Äußerungen, die da als Angebote zusammenkommen, müssen angenommen werden, insofern sie überein-stimmen sollen. Das Maß ihrer Übereinstimmung ist das Maß einer idealen Akzeptabilität, also einer zwanglosen uneingeschränkten Annehmbarkeit, bezogen auf alle möglichen Gesprächsteilnehmer. Der Dreh einer Idee idealer Akzeptabilität besteht darin, durch den Rückbezug der eigenen Intentionalität auf die Intentionalität des Anderen das einseitige Verständnis von Aktivität als Produktivität in Intentionalität aufzubrechen. Denn wenn die Orientierung am Sein Gerichtetheit bedeutet, dann erfordert eine Orientierung am Jenseits des Seins Gelassenheit. Die ontologische Bezugnahme der Kommunikativität erfolgt als Intentionalität und Resignativität, das heißt als Absicht und Verzicht. Die Stimme des Anderen erschließt sich mir dann, wenn ich mich mit der Anwesenheit des abwesenden Anderen befasse, welche sich mir in den Erfahrungen des Eigenleibs, der Fremdheit und des Gewissens eröffnet. Wenn der Überstieg von der Subjektivität zur Objektivität, von der Teilnehmerperspektive eines Ich zur Beobachterperspektive eines Er möglich ist, genauer, zumindest insofern ein solcher Überstieg möglich ist, dann und insofern ist ebenso auch ein Überstieg von der Subjektivität einer Teilnehmerperspektive zur Subjektivität einer anderen Teilnehmerperspektive möglich. Denn Bedingung ist in beiden Fällen gleichermaßen die Kunst, von sich selbst absehen zu können, der Verzicht auf die Absicht der Intentionalität, anders ausgedrückt, das Vermögen zur Resignativität. 290

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(7) Die Funktion des Konsensbegriffes vom Einvernehmen besteht in seiner Bestimmung des Konsenses als Grenznorm von Verstehen und Verständigung. Im Unterschied zu einer Gesamtnorm oder einer Grundnorm bleibt eine Grenznorm immer an das erkennende und handelnde Subjekt gebunden. Ihr Kontextualismus bietet eine schwach universalistische Theorie, weil sich ihr Universalität nur aus der subjektiven Perspektive eines je unterschiedlichen Individuums erschließt. Das Motiv des Konsenses versetzt ein Individuum in die Lage, sich als Moment von etwas Weitergehendem zu begreifen, was man Universalität nennen kann. In aller Bestimmtheit von Universalität aber findet sich ein Kern von Unbestimmtheit. Eben darin liegt der Grund für die Vorläufigkeit und Zerbrechlichkeit des Konsenses einerseits, für die Notwendigkeit des Dissenses andererseits. So wie die vollständige Inkommensurabilität von Äußerungen undenkbar ist, eben so verhält es sich mit der vollständigen Kommensurabilität. Gerade weil Übereinstimmung nur als Angebot besteht, welches angenommen werden muss, geht der Dissens als konstitutives Moment in eine Theorie des Konsenses mit ein. Erst die wechselseitige Ergänzung unterschiedlicher Perspektiven führt zu einer Annäherung an die Wahrheit, welche demzufolge stets in gewisser Weise unbestimmt bleibt. Weil eine derartige Unnennbarkeit oder Unbestimmtheit den Kern von Universalität bildet, wird Universalität als etwas gedacht, was eine Vielfalt von Perspektiven sowohl erfordert als auch eröffnet. (8) Die Pointe dieser Überlegungen zu einem offerentiellen Konsensbegriff liegt in dem Gedanken einer Selbstbegrenzung des Subjekts. Denn eine Grenznorm bestimmt den Rahmen eines Subjektes und verhilft diesem damit zur Ausbildung seiner Perspektive. Die Grenznorm des Konsenses liefert der auf Kommunikativität zurückgreifenden Selbstverständigung des Subjektes eine regulative Idee ihrer Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung. Sie erweitert die Selbstverständigung eines Individuums im Blick auf dessen Fähigkeit zur Revision. Das heißt, es gibt so etwas wie den Vorbehalt einer kommunikativen Epoché in dem Sinne, dass die Idee des Konsenses ein Subjekt immer zugleich begrenzt und entgrenzt. Jeder Andere kann zu meinem eigenen Verständnis beitragen, aber niemand kann dafür ein höheres Verständnis beanspruchen. Damit bildet die Idee des Konsenses zwar kein Prinzip zur Verknüpfung sprachlicher Äußerungen aus, sie entfaltet aber das Motiv dafür schlechthin. A

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ALBER PHILOSOPHIE

Peter Penner

https://doi.org/10.5771/9783495998595 .

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Das Einvernehmen

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ALBER PHILOSOPHIE

Peter Penner

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Danksagung

›Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.‹ Dieses Fragment des griechischen Dichters Archilochos nimmt Isaiah Berlin als Ausgangspunkt für seine Klassifikation von den recht einseitig auf eine Sache hin ausgerichteten Igeln und den vielseitig interessierten Füchsen, derzufolge ich wohl doch eher zu den Igeln als zu den Füchsen zähle. In mehreren Anläufen habe ich diese meine eine Sache jetzt zum Abschluss bringen können, die mich über so viele Jahre hinweg beschäftigt hat. Mein Dank dafür geht zum einen an Lukas Trabert für die Aufnahme meines Textes in die Schriften des Alber-Verlages sowie an alle Mitarbeiter des Verlages für die freundliche und sachkundige Betreuung. Mein Dank gilt zum anderen in ganz besonderer Weise denen, die mich unentwegt in der direkten Arbeit am Text unterstützt haben, nämlich Raúl Fornet-Betancourt, Jürgen Fahle und Gisela Rexer-Schneider. Darüber hinaus gilt mein herzlicher Dank dem gesamten Kreis all derer, die mich in den schwierigen Zeiten der letzten Jahre auf vielfältige Art und Weise begleitet und getragen haben. Ohne diese freundschaftliche und fürsorgliche Unterstützung unterschiedlichster Art wäre mir ein Abschluss dieser Arbeit nicht möglich gewesen.

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Das Einvernehmen

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