Gewalt und Gewaltlosigkeit: Probleme des 20. Jahrhunderts 9783205157915, 3702800956, 3486446118, 9783205779599


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German Pages [280] Year 1977

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Gewalt und Gewaltlosigkeit: Probleme des 20. Jahrhunderts
 9783205157915, 3702800956, 3486446118, 9783205779599

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GEWALT U N D

GEWALTLOSIGKEIT

W I E N E R BEITRÄGE ZUR G E S C H I C H T E DER N E U Z E I T HERAUSGEGEBEN VON FRIEDRICH ENGEL-JANOSI, G R E T E KLINGENSTEIN, HEINRICH LUTZ MITHERAUSGEBER:

HEINRICH BENEDIKT, WOLFDIETER

BIHL, E V A - M A R I E

CSÄKY,

CSAKY, JOHANNES DÖRFLINGER, H E L M U T « GRÖSSING, GÜNTHER HAMANN, G E R N O T ALFRED K O H L E R , H E L M U T RUMPLER, E D I T H SAURER, GERALD STOURZH, MICHAEL WEINZIERL

BAND 4

V E R L A G

F Ü R

G E S C H I C H T E

U N D

P O L I T I K

W I E N

MORITZ HEISS,

Gewalt und Gewaltlosigkeit Probleme des 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von FRIEDRICH ENGEL-JANOSI GRETE KLINGENSTEIN HEINRICH LUTZ

VERLAG FÜR GESCHICHTE UND POLITIK WIEN 1977

Dieser Band wurde mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forsdiung, des Verbandes der Wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs sowie des DDr.-Franz-Mayer-Gunthof-Fonds an der österreichischen Akademie der Wissenschaften gedruckt.

Redaktion: Wolfdieter Bihl, Historisches Institut der Universität Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien. © 1977 Friedrich Engel-Janosi, Grete Klingenstein, Heinrich Lutz Einbandentwurf: Renate Usdian-Boyer ISBN 3-7028-0095-6 Auch erschienen im R. Oldenbourg Verlag München ISBN 3-486-44611-8

INHALT

VORWORT der Herausgeber

THEORETISCHE

KLÄRUNGEN

UND

ERKLÄRUNGEN

PHILOSOPHISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUR FÄHIGKEIT OPPOSITIONELLER GEWALT

LEGITIMATIONS-

HERTA NAGL-DOCEKAL

Revolution als Thema der praktischen Philosophie - Die naturrechtliche Argumentation: Hobbes, Locke, Rousseau - Der kategorische Imperativ als praktisches Legitimationsprinzip und die Idee der Gerechtigkeit: Kants Aktualität für die Problemstellung der Gegenwart - Kritik des geschichtsphilosophischen Legitimationsversuchs: Hegel und Marx.

DOMENICO SETTEMBRINI

DAS PROBLEM MARXISMUS

DER

GEWALT BEI

KARL MARX

UND

IM

Marxismus und Anarchismus - Die Grenzen des Fortschritts - »Religiosität« des Marxismus - Marxistische Orthodoxie und Wissenschaft - Die zwei Gesichter des Marxismus - Marxistischer Sozialismus und Liberalsozialismus.

WALTER B. SIMON

GEWALT, AUTORITÄT, DEMOKRATIE UND DAS IDEAL DER GEWALTLOSIGKEIT Klärung der Begriffe - Zusammenhänge zwischen Autoritätsbesitz und Gewaltanwendung - Engbegrenzte Funktionen der Demokratie - Entschärfung, aber nicht Aufhebung von Konflikten.

6

INHALT

IRING FETSCHER

S T R U K T U R E L L E GEWALT. Entstehung, Bedeutung und Funktion eines sozial wissenschaftlichen Modewortes

85

Bedeutung des Terminus »strukturelle Gewalt« - Verhältnis von struktureller und offener Gewalt - Bewußtsein und strukturelle Gewalt.

ZUR BESTANDSAUFNAHME: PSYCHOLOGIE, K I R C H L I C H E S LEBEN,

KUNST

A . M . B E C K E R u n d H . STROTZKA.

KRITIK

DER

AGGRESSIONSTHEORIEN

94

Problematik der implizit polemischen Anwendung des Aggressionsbegriffes Darstellung der psychoanalytischen, lerntheoretischen und ethologischen Theorieansätze zum Aggressionsproblem und deren Schwierigkeiten - Nachteile der extremen Gegenüberstellung genetisch programmierter Aktivitätsdispositionen einerseits und bloß umweltbedingter Anreizkontrolle anderseits - Gefahren »autistischer Feindseligkeit«. M I C H A E L WEINZIERL

D I E C H R I S T E N UND D I E PROBLEMATIK K R I E G E S IM ATOMZEITALTER

DES

GERECHTEN 114

Das Problem bis zum Ersten Weltkrieg - Die Positionen in der katholischen Kirche: Die Atomwaffendiskussion im westdeutschen Katholizismus 1958 bis 1960 - Die Wendung der katholischen Weltkirche vom gerechten Krieg zu neuen Friedenskonzeptionen seit Johannes X X I I I . - Die Diskussionen in der E K D und im Weltkirchenrat: Die Atomdiskussion - Akzentverschiebung in der Friedenskonzeption des Weltkirchenrates - Konklusionen. F R I E D B E R T ASPETSBERGER

GEWALT UND GEWALTLOSIGKEIT SCHER V E R F A H R E N S W E I S E N

ALS PROBLEM

LITERARI-

Der Problemhorizont und die literarische Tradition - Futurismus und Expressionismus: Beispiele literarischer Vergeblichkeit gegenüber gesellschaftlicher Gewalt - Der Verzicht auf die Bildungstradition: Literatur als Ver-

143

7

INHALT

fahrensweise gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit von Brecht bis Scharang - Das biographische Modell: Die Wertvorstellung Individualität im Rahmen der Problemgeschichte »Literatur und Gewalt«.

W I L H E L M MESSERER

BRUTALITÄT I N DER NEUEREN KUNST

174

Keine Darstellungen von Brutalem, sondern brutale Kunstwerke - Gewaltsamkeit und Brutalität - Einige Kriterien, deren Abgrenzung - Brutalität und Kraftlosigkeit: Beispiele - Gefühltes und Emotionales - Angemessenheit - Grenzfragen, künstlerische Verwandlung von Brutalem - Zukunftsaussichten - Exkurs: Eine bildhafte Formel für den Fortschritt.

FALLSTUDIEN: DEUTSCHLAND, INDIEN, VEREINTE

NATIONEN

KLAUS TENFELDE

GEWALT U N D KONFLIKTREGELUNG IN KÄMPFEN DER RUHRBERGLEUTE BIS 1918

DEN

ARBEITS185

Veränderungen in den Anlässen, Formen und Resultaten von Arbeitskonflikten: Spontaneität, Gewalt und Drohung mit Gewalt; Petition, Beschwerde und Resolution; Abwehr- und Angriffsstreik; Massenausstand - Veränderung des Konfliktverhaltens unter den Bedingungen der entwickelten Verbandspolitik seit 1889 - Rationalisierung der Konfliktstrategien durch Anpassung und Organisation - Ursachen und Formen von Gewalt im Arbeitskampf.

HELENE MAIMANN

G A N D H I , ODER MÖGLICHKEITEN GEWALTFREIHEIT

UND

GRENZEN

DER

Religionshistorischer und -soziologischer Hintergrund Gandhis - Gewaltfreiheit und ihre Anwendung auf die politische Aktion - Formen des gewaltfreien Widerstandes - Koppelung der gewaltfreien Aktion mit alternativen Gesellschaftskonzepten - Voraussetzungen und Probleme einer erfolgreichen gewaltfreien Aktion auf Massenbasis: Indien und einige zeitgenössische Beispiele - Grenzen der Gewaltfreiheit.

237

8

INHALT

H E L M U T RUMPLER

DIE UNO IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN FRIEDENSSICHERUNG UND RÜSTUNGSWETTLAUF. Zur Gesdiidite des Abrüstungsproblems unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Vereinten Nationen

254

Die UNO als Institutionalisierung des Prinzips der kollektiven Sicherheit nach dem Vorbild des Völkerbundes - Grundsätzliche Ausklammerung der Rüstungsbeschränkung - Der Baruch-Plan als Grundlage der Abrüstungsdiskussion - Der Moskauer Vertrag von 1963 über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre - Stabilisierung des Rüstungsgleichgewichtes statt Abrüstung: SALT, MBFR, KSZE - Die UNO als wirksames Forum der Weltmeinung für die Fortführung der Abrüstungsdiskussion.

MITARBEITER

271

CONTENTS

273

VORWORT Die Vorbereitung des vorliegenden Bandes brachte den Herausgebern Erfahrungen, die über den gewohnten Umkreis editorischer Routine hinauswiesen. Zunädist war es vor allem das Drängen einiger jüngerer Mitherausgeber, das zu dem Plan führte, bald einen Band unserer Reihe dem 20. Jahrhundert zu widmen. Es sollte sich die Bereitschaft der Historie, aus dem Elfenbeinturm herauszutreten, in doppelter Hinsicht erweisen: Das Sicheinlassen mit Problemen, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hereinreichen, würde die analytischen Möglichkeiten und die Orientierungskraft unserer Wissenschaft erproben; die Einbeziehung benachbarter Disziplinen könnte ein erweitertes Erkenntnisfeld mit komplexeren Methoden erschließen. Als sich dann aus vielen Gesprächen die thematische Akzentuierung durch den Problemkreis „Gewalt und Gewaltlosigkeit" ergab, wurde Wert darauf gelegt, die Vieldeutigkeit des Wortes Gewalt nicht nur durch den beigefügten Gegenbegriff einzugrenzen, sondern auch mit Hilfe des englischen Wortgebrauchs von »violence« den Rahmen des Sammelbandes zu definieren. Dabei stand keineswegs nur die angelsächsische Begriffssprache Pate — wo zum Beispiel 1960 als Titel des einschlägigen Bandes der New Cambridge Modern History für die neueste Zeit die Bezeichnung »Era of Violence« verwendet wurde. Auch ein breiter und zunehmender Bereich des deutschen Wortgebrauchs von »Gewalt« entspricht der Bedeutung von »vis« und »violentia«. Das Grimmsche Wörterbuch zeigt diesen Kontrast zu den anderen, positiveren, gewissermaßen legitimistischen Begriffsschattierungen, die sich um den lateinischen Begriff »potestas« gruppieren. Und so wie das Wörterbuch — der betreffende Band erschien 1911 — der politischen Kultur des Liberalismus seine Definition der Violentia-Gewalt entnahm: »die Ausübung der überlegenen Kraft wird an dem Maßstab der Moral oder des Rechtes gemessen«, so steuerte Jakob Grimm zu dieser, unserer Absicht entsprechenden Variante der Wortbedeutung posthum sein eigenes Sprachzeugnis bei. Das Wörterbuch zitiert ihn selbst, aus seiner Schrift »Über meine Entlassung«, wo er den Göttinger Universitätskonflikt besdireibt: »Nicht der Arm der Gerechtigkeit, die Gewalt nöthigte mich ein Land zu räumen, in das man mich berufen . . . « Wohl wissend, daß die Erscheinungen der Gewalt und ihrer Antithesen sich heute anders und viel komplexer darstellen als zur Zeit Jakob Grimms, haben die Herausgeber auf jeden weiterreichenden Versuch verzichtet, von ihrer Seite her Definitionsfragen aufzugreifen. Unser Bestreben war es, im oben angedeuteten Sinne der Violenz das Gewaltproblem und seine Antithesen — vereinfacht ausgedrückt durch »Gewaltlosigkeit« — als ein zentrales Problemfeld des 20. Jahrhunderts zur Diskussion zu stellen. Unsere Einladung richtete sich an Fachvertreter

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VORWORT

der Philosophie und der Psychologie, der Politologie und der Soziologie, der Germanistik und der Kunstgeschichte, gemeinsam mit einigen Historikern das Ihre zu diesem Thema beizusteuern. Es war von Anfang an klar, daß die starke Beteiligung nichthistorischer Disziplinen (die aber doch in sich jeweils spezifische geschichtliche Kategorien besitzen bzw. entwickeln) an einem solchen Band besondere methodische Fragen aufwerfen mußte. Wenn der Historiker den »Nichthistoriker« zu einer Zusammenarbeit einlädt — wie bestimmt oder unbestimmt, wie offen oder präzise können dabei die Wünsche und Verabredungen formuliert werden? Um Mißverständnissen vorzubeugen: die Ergebnisse dieser Einladungen, die Beiträge unserer Freunde und Kollegen aus den Nachbardisziplinen zu dem vorliegenden Band sind höchst dankenswert und wertvoll. Dennoch bleibt im Rückblick auf diese anregende Zusammenarbeit und im Vorausblick auf die Leser unseres Bandes ein Stachel der Reflexion. Vielleicht liegt es auch an dem Thema selbst, das den Übergang aus der Zeitgeschichte in die Gegenwart und in die Zukunft so offen läßt und damit auch die Zuordnung der »nichthistorischen« und der historischen Analysen weniger streng bestimmt, als es sonst vielleicht der Fall wäre . . . Stachel der Reflexion: Wie läßt sich das hohe Maß der fachinternen Methodenstrenge optimal verbinden mit jener largesse d'esprit, welche — bis zum Beweis des Gegenteils — als Unterpfand des Zusammenwirkens der verschiedenen Wissenschaften zu gelten hat? Oder, nochmals anders gefragt: Gibt es vielleicht für die Geschichtswissenschaft besondere Bedingungen, nur ihr eigene Ecken und Kanten, um die herum sie erst ihre Ansätze und Methoden mit anderen, systematisch angelegten Disziplinen zu gemeinsamer Forschung zu vereinigen vermag? Was nun das Gesamtthema des Bandes angeht, so liegt die Frage nahe, wie denn die Herausgeber und Mitarbeiter den Ort ihrer Bemühung inmitten einer heute weltweit gewordenen Diskussion des Gewaltproblems und seiner Antithesen sehen wollen. Nachdem die Wahl des Themas und des Titels schon entschieden war, stießen wir auf ein gleichnamiges Sammelwerk, das vor fast fünfzig Jahren von dem Wiener Pazifisten Franz Kobler im Auftrag der Internationale der Kriegsdienstgegner herausgegeben wurde: »Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus«. Mit Beiträgen von Romain Rolland, Alfred Adler, Theodor Lessing, Stephan Zweig, Hans Kohn, Norman Thomas, Helene Stöcker, Gandhi, Hendrik de Man, Kurt Hiller, Nikolaus Ehlen und anderen bietet der 1928 erschienene Band ein eindrucksvolles Panorama des damaligen Versuches, von unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen her etwa auf der Linie der neu beachteten Lehre Gandhis eine politische «Antikriegsbewegung» zu bilden. Kennzeichnend für viele der damals vereinigten Stimmen mag ein Zitat aus Romain Rollands Gandhi-Buch sein, das der Herausgeber zu Beginn des Bandes abdruckte: »Der Sturm der Gewalt fegt über die Welt. Das Gewitter, das die Ernten unserer Zivilisation zerschlagen, hatte nichts Unerwartetes. Jahrhunderte brutalen Nationalstolzes, aufgestachelt durch die abgöttische Ideologie der Revolution und verbreitet durch die blinde Nachahmungssucht der Demokratien — und als Krönung ein Jahrhundert unmenschlichen Industrialismus und alles verschlingender Plutokratie, ein unterjochender Mechanismus, ein

VORWORT

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ökonomischer Materialismus, der die Seele erdrosselt — mußten unausweichlich zu diesen verworrenen Kämpfen führen, in denen die Reichtümer des Abendlandes verschwinden. Es ist nicht genug, hier von einer Notwendigkeit zu sprechen. Es handelt sich um gerechte Vergeltung. Ein Volk erwürgt das andere im Namen der gleichen Prinzipien, die die gleichen Interessen verhüllen und die gleichen Kain-Instinkte. Alle — Nationalisten, Faschisten, Bolschewisten, Volk und unterdrückte Klassen, Volk und herschende Klassen — beanspruchen für sich das Recht zur Gewalt, in dem sie das Redit erblicken, und wollen es den anderen vorenthalten. Vor einem halben Jahrhundert nodi unterdrückte die Gewalt das Recht. Heute ist es viel schlimmer: die Gewalt ist das Redit. Sie hat das Recht verschlungen. Keine Zuflucht, keine Hoffnung mehr in dieser alten Welt, die zusammenstürzt. . . «

Die Radikalität der Kultur- und Gesellschaftskritik Rollands ist das eine, der leidenschaftliche Appell an eine neue Kraft der Gesinnung ist das andere, verbunden mit dem Bewußtsein, einer kleinen Minorität anzugehören, deren Opfergeist allein der Menschheit einen sinnvollen Weg in die Zukunft weisen kann. Rolland sagt — und darin liegen schon die neuen Erfahrungen mit Faschismus und Bolschewismus, nicht mehr nur das Erlebnis des Ersten Weltkrieges: »Unsere NonViolenz ist der härteste Kampf . . . Diejenigen, die nicht glauben können, oder die sich fürchten, mögen sich zurückziehen! Der Weg des Friedens ist die Aufopferung seiner selbst!« Nicht daß es in diesem Sammelband von 1928 an Versuchen gefehlt hätte, das ethische Postulat mit wissenschaftlichen Erörterungen zu verbinden. Aber als vorherrschendes Kennzeichen begegnet hier wie bei vielen anderen Ansätzen der Zwischenkriegszeit der Ruf nach der neuen Gesinnung, die den Sieg über eine Welt der Gewalt heraufzuführen imstande ist. Heute, nach den Wandlungen und Erlebnissen eines halben Jahrhunderts, dessen Signatur gewiß nicht der Sieg der Gewaltlosigkeit war, stellen sich die Bedingungen einer Diskussion des Gewaltproblems anders dar. Es kann nicht die Aufgabe dieser Bemerkungen sein, die internationale Diskussion, wie sie sich im Zeichen des Kampfes gegen Nationalismus und Faschismus, der Auseinandersetzung mit Stalinismus und Neokolonialismus, der Bürgerrechtskämpfe in den USA und der Menschenrechtsbestrebungen rund um die Vereinten Nationen und in der UdSSR entwickelt hat, nachzuzeichnen. Geht man einfach vom Stand der Dinge aus, den die hier vereinigten Beiträge zeigen, so sind wohl vor allem zwei allgemeine Feststellungen zu machen. Das eine ist die durchgehende Bemühung, der wissenschaftlichen Analyse als solcher einen maßgebenden Rang in der Erkenntnis der Realitäten und Möglichkeiten menschlichen Lebens zu sichern. Nicht im Sinne einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit, vielmehr im Ringen um eine methodisch gesicherte und damit verbindliche Weise des Erkenntnisfortschritts. Nicht mehr das pathetische Erlebnisfeld von Bekehrung und Bekenntnis gilt als Drehscheibe des Menschheitsschicksals. Der langsame, mühsame und auch widerspruchsvolle Weg des Sammeins und Sichtens analytischer Einsichten erscheint als wesentliche Aufgabe. Bedeutet dies, daß die heutige wissenschaftliche Bemühung um das Gewaltproblem von den realen Wegen der Menschheit weniger berührt, an ihnen weniger

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VORWORT

interessiert wäre als früher? Überblickt man die zeitgenössischen Arbeiten auf den weit entfalteten Feldern der Konflikt-, Friedens- und Violenzforschung, so wird man diese Frage rasdi verneinen können. Wer sich mit solchen Dingen befaßt, wie verschieden auch immer die methodologischen und lebensweltlichen Voraussetzungen sind, ist mit der praktischen Relevanz der Forschung vertraut. Dies dürfte auch für alle Beiträge des vorliegenden Bandes gelten. Wie sieht es nun des näheren mit dem heutigen Wissenschaftsverständnis in bezug auf die praktische Relevanz aus? Die unterschiedlichen Varianten dieses Bezugs, die heute im allgemeinen diskutiert und angewandt werden, machen auch die spezielle Vielfalt unserer Aufsatzsammlung aus: Varianten innerhalb des gleichen Faches, Unterschiede von Fach zu Fach, Differenzierungen hinsichtlich der ausdrücklichen oder nur immanenten Berücksichtigung dieses Bezugs. Eine dritte Bemerkung, die den Ort unseres Bandes im heutigen Diskussionsfeld betrifft, gilt dem Faschismus. Warum wird in einem Sammelwerk, das Historiker zum Thema der Gewalt im 20. Jahrhundert herausgeben, das Problem des Faschismus nicht in zentraler Weise behandelt, sondern nur am Rande gestreift? Gewiß ist der Gesamtkomplex »Faschismus« für eine Geschichte der Gewalt (und ihrer Antithesen) im 20. Jahrhundert von enormer Bedeutung. Ohne Zweifel ist es auch für die Betrachtung aller deutschen, europäischen und globalen Geschichte nach 1945 wesentlich, die Nachwirkung in Rechnung zu stellen: daß nicht nur unterentwickelte und durch imperialistische Einwirkungen deformierte Gesellschaften auf ihren beabsichtigten Wegen zu einer besseren Zukunft in neuer Weise in das Gewaltproblem sich verstricken, sondern daß sehr hochentwickelte, zu einem Optimum an Differenzierung und Individualkultur gelangte Gesellschaften soweit zurückfallen konnten. Doch liegt über die Fragen des Faschismus eine reiche und leicht zugängliche Literatur vor. Dort, wo es um fällige, wichtige Weiterführungen, Dispute und Forschungsdesiderate geht, sind umfassende Ansätze nötig, die weit über die Möglichkeiten dieses Bandes hinausgegangen wären und eine andere Schwerpunktbildung erfordert hätten. So schien es uns vordringlicher, Aspekten Raum zu geben, die — im Wissen um die fundamentale Bedeutung und Hypothek des Faschismus — dem noch weiteren Rahmen des Gewaltproblems entsprechen. In einer ersten Gruppe von Aufsätzen werden philosophische, soziologische und politologische Fragen an das Problem der Gewalt gerichtet. Herta Nagl-Docekal untersucht die Beiträge neuerer Philosophen zur Legitimationsfähigkeit oppositioneller Gewalt. Sie betont die Bedeutung der kantischen Überlegungen zur ZweckMittel-Relation und kommt über eine Analyse von Hegel, Marx und Lenin zu der Feststellung, „daß durch den Marxschen Versuch, die Legitimationsbasis für Handlungen aus der Geschichtsphilosophie zu gewinnen, Kants moralphilosophische Reflexionen zum Beurteilungsprinzip von Handlungen nicht überholt sind". Marx und der Marxismus ist das Thema von Domenico Settembrini, dessen einschlägige Bücher im deutschen Sprachraum noch wenig bekannt geworden sind. Er geht von den entwickelten Positionen der italienischen Marxismusdiskussion aus und gelangt zu differenzierten Kritiken der unterschiedlichen Formen und Konsequenzen, zu

VORWORT

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denen das Marxsche Denken über Gewalt und Revolution geführt hat. Ganz anders setzt der Soziologe Walter B. Simon an. In anschaulicher Erörterung durchschreitet er den weiten Umkreis von »Gewalt, Autorität, Demokratie« und verbindet begriffliche Klärungen mit empirischer Betrachtung von demokratischen Entscheidungsprozessen und Verhaltensweisen. Der verwendete Begriff der Gewalt wird durch sein Verhältnis zu Legitimität und Autorität bestimmt. Er unterscheidet sich somit in lehrreicher und anregender Weise von dem in unserem Band sonst betonten Bedeutungsgehalt im Sinne der »Violence«. Simons Schlußabschnitt über das Ideal der Gewaltlosigkeit bietet eine ausgewogene Erörterung der Postulate und auch der Aporien, die sich auf dieser Ebene ergeben. Schließlich hat Iring Fetscher einen scharf akzentuierten Beitrag beigesteuert, der sich mit dem auf Johan Galtung zurückgehenden Begriff »strukturelle Gewalt« auseinandersetzt. In informativer Weise wird das Entstehen des Begriffs aus der Diskussion um die Uberwindung einer traditionellen Konzeption der Friedensforschung gezeigt. Fetscher sieht jedoch das Programm einer Aufhebung struktureller Gewalt bei den Friedensforschern & la Galtung weiterhin mit der Schwäche eines »subjektiven Moralismus« behaftet. Der zweite Teil unseres Bandes gilt dem Versuch von Bestandsaufnahmen in wichtigen Einzelbereichen, wobei jeweils die historische Dimension betont wird, aber zugleich die anhaltende Bedeutung der untersuchten Erscheinungen und Positionen hervortritt. Hans Strotzka und Alois M. Becker handeln über die »Kritik der Aggressionstheorien«. Es liegt in der Absicht der Autoren und wohl auch im Wesen der Theoriebildung auf dem Gebiet der Psychologie, daß dieser Beitrag über eine Berichterstattung hinausgeht und zu unverhohlenen Stellungnahmen in der heute lebhaften Diskussion gelangt. Von ganz anderer Seite als die Philosophie stößt die Psychologie bei unserem Thema gleichfalls auf das Problem der ZweckMittel-Relation und stellt die Frage: »Welches Maß von Aggressivität beim Propagieren von Gewaltlosigkeit ist mit dem Erreichen des gesetzten Zieles noch verträglich?« Darüber hinaus formulieren die Autoren zu Ende ihres Beitrages Forschungsanliegen, die für eine weitere Zusammenarbeit von Psychologie und Historie anregend sein können. Der folgende Aufsatz des Historikers Michael Weinzierl greift das große Thema des christlichen Verhaltens gegenüber der Problematik des »bellum iustum« im Atomzeitalter auf. Das Ringen um neue, angemessene Kategorien der politischen Ethik wird in seinem Hinausgreifen über die traditionelle Krieg-Friedensfrage eindringlich vorgeführt. Der Literatur und der bildenden Kunst wenden sich die Untersuchungen von Friedbert Aspetsperger und Wilhelm Messerer zu. Aspetsberger will zeigen, wie es um die Möglichkeiten der Literatur steht, angesichts der von Gewalt bedrohten Conditio humana unseres Jahrhunderts wirksam zu werden. Er verfolgt die Frage der »literarischen Verfahrensweise in ihrem Verhältnis zur politisch-gesellschaftlichen Gewalt unseres Jahrhunderts« und beschreibt in erhellenden Analysen Wege, die von der »Bildungsliteratur« und ihren herkömmlichen Privilegien fort führen. Wilhelm Messerers Überlegungen gelten Werken der bildenden Kunst; Architektur, Plastik,

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VORWORT

Malerei und Graphik des 20. Jahrhunderts werden unter dem Gesichtspunkt der »Brutalität« betrachtet und beschrieben. Die Sprache des Kunsthistorikers verbindet Anschaulichkeit und Reflexion und führt den Leser zu nachhaltigem Fragen jenseits gängiger Kategorien. Ein dritter Abschnitt enthält »Fallstudien« von der Hand historischer Fachleute. Klaus Tenfelde entwickelt von den Voraussetzungen der Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts her an dem Beispiel des deutschen Ruhrbergbaus die Probleme von Konflikt, Gewalt und Ausgleich in der industriellen Produktion. Die Skala der Information reicht von der Sozialgeschichte weit in die innere Geschichte des preußisch-deutschen Staates mit seinen besonderen Problemen von Gewalt, Autorität und Integration. Helene Maimann interpretiert aus der heutigen Erfahrungslage der sozialen und nationalen Kämpfe und Ungleichheiten das Leben und Wirken Mahatma Gandhis. Sie faßt von daher auch die aktuellen Fragen der Bedingungen und Grenzen gewaltfreier Aktionen an, wie sie sich in Europa und der außereuropäischen Welt stellen. Schließlich greift Helmut Rumpier mit seiner historisch-politischen Studie über Abrüstung, Friedenssicherung und Rüstungswettlauf im Bezug auf die Vereinten Nationen eines der bedrängendsten Probleme der Weltgeschichte nach 1945 auf. Er beschreibt das „Dilemma" der U N O zwischen Streitschlichtungskonzeption und Rüstungsbegrenzung, kommt aber zu dem eindeutigen Schluß, die gegenwärtige und zukünftige Rolle der U N O als einziger Instanz einer »institutionalisierten Weltmeinung« unersetzlich zu finden und gestärkt zu wünschen. So begegnet der Leser hier einer Fülle wissenschaftlicher Analysen, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart und zum Teil in die Zukunft weisen. Die Autoren, denen die Herausgeber für das Zustandekommen des vorliegenden Bandes herzlich zu danken haben, gehören diesmal in der Mehrzahl nicht der Geschichtswissenschaft an. Wir wünschen gerade diesem Band aufmerksame Leser und ein lebhaftes Echo. Wien, im April 1977

Die

Herausgeber

THEORETISCHE KLÄRUNGEN UND ERKLÄRUNGEN

PHILOSOPHISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUR LEGITIMATIONSFÄHIGKEIT OPPOSITIONELLER GEWALT V o n HERTA NAGL-DOCEKAL

Gewaltanwendung, die im Zeichen der Veränderung von (gesellschaftlichen und staatlichen) Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens erfolgt, ist gegenwärtig weltweit, wenn auch in verschiedener Akzentuierung, so sehr in den Vordergrund der aktuellen Probleme gerückt, daß ihre wissenschaftliche Reflexion keiner näheren Rechtfertigung bedarf. Seit den späten sechziger Jahren ist die Zahl der einschlägigen Publikationen enorm angestiegen, wobei sich gezeigt hat, daß die verschiedenen Wissenschaftstypen entsprechend verschiedene Ansatzmöglidikeiten bieten. S o übernehmen in zunehmendem Maße empirisch orientierte Disziplinen die Untersuchung oppositioneller Gewaltanwendung. Es gibt einerseits psychologische Analysen, etwa behavioristischer, instinkt- oder aggressionstheoretisdier Art, andererseits genetische Theorien, die sidi um historische Längsschnittmodelle bemühen, und nicht zuletzt soziologische, vor allem systemtheoretische, und politökonomische Untersuchungen sowohl marxistischer als auch nichtmarxistischer Provenienz 1 . Diese Theorien müssen aber, gerade wegen der empirischen Ausrichtung ihrer Forschung, die eigentlich praktische Seite des Problems ausklammern. Sie können mit Bezug auf die Praxis höchstens mittels Generalisierungen die Technik des Umgangs mit Gewalt, sei es ihres Einsatzes, sei es ihrer Verhinderung oder Bekämpfung, differenzieren. Die jedem einzelnen gestellte Frage der Entscheidung in der jeweils gegenwärtigen politischen Situation, und damit auch in bezug auf das Problem der oppositionellen Gewaltanwendung, kann nicht im wie immer gearteten Rekurs auf empirisch erhobene Entscheidungen anderer und deren Kontext beantwortet werden. Dieser Frage hat sich die Philosophie in ihrem praktischen Teil anzunehmen. Zwar sind auch davon keine Handlungsanweisungen zu erwarten, die den einzelnen seiner Verantwortung enthöben, aber es ist das traditionelle Dominium praktischer Philosophie, Motivationen und Entscheidungsprinzipien kritisch zu prüfen. Dieses hat sich gegenwärtig gegenüber jenen Positionen zeitgenössischer Philosophie zu behaupten, die die Praxis intuitionistisch oder dezisionistisch auffassen, das heißt, sie der argumentativen Klärung für unzugänglich halten, und die damit die Möglichkeit praktischer Philosophie bestreiten. Gegenüber diesen (szientistisdien) Positionen gilt es, den Begriff des Arguments weiter zu fassen und ihn nicht bloß auf Sätze von empirischer Überprüfbarkeit, sondern auch auf 1

Vgl. Empirische Revolutionsforschung, ed. Klaus von B e y m e (Opladen 1973) bes. 24.

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HERTA NAGL-DOCEKAL

praktische Sätze zu beziehen. Dabei kann an bereits geleistete Differenzierungen praktischer Philosophie, vor allem bei Kant, angeschlossen werden. Im folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, die verschiedenen Argumentationsweisen zur Rechtfertigung oppositioneller Gewaltanwendung auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen. Dafür scheint es sinnvoll, nicht bloß aktuelle Motivationen aufzugreifen, sondern die verschiedenen Argumentationstypen jeweils in ihrer differenziertesten Fassung zu untersuchen. Das wird Rückgriffe auf ältere Argumentationszusammenhänge notwendig machen, vor allem auf die Philosophie der Aufklärung, den Deutschen Idealismus und Marx. Dabei wird auch zu klären sein, welche Relevanz sich für rechts- und geschichtsphilosophische Überlegungen gegenüber der ethischen Problematik ergibt. Der Ausdruck »oppositionelle Gewaltanwendung« bezeichnet den Raum der hier gestellten Problematik insofern exakter als das Wort Revolution, als es für moralphilosophische Überlegungen zunächst nicht nötig ist, auf das Problem der Abgrenzung verschiedener Aktionsformen, etwa von Revolution und terroristischer Einzelaktion einzugehen. Es findet sich allerdings auch das Wort Revolution häufig in dieser umfassenderen Bedeutung, so daß es gerechtfertigt erscheint, es auch im folgenden im allgemeinen Sinn von oppositioneller Gewaltanwendung zu gebrauchen, was andererseits aber auch eine Einschränkung seines Begriffsfeldes bedeutet, weil Revolutionen nicht ausschließlich aus Akten der Gewaltanwendung bestehen. Hier mag sich die Frage ergeben, was eigentlich unter Gewaltanwendung zu verstehen sei. Für den vorliegenden Zusammenhang läßt sie sich damit beantworten, daß sich das Wort Gewalt auf eine Handlungsweise bezieht, welche andere Individuen in der ihnen zustehenden Freizügigkeit willkürlich einschränkt. Das heißt — um an die übliche Unterscheidung etymologischer Wörterbücher anzuknüpfen — das Wort Gewalt entspricht hier dem lateinischen violentia und ist nicht im Sinn des Gesamtraumes seines Begriffsfeldes, der auch die potestas umschließt, aufzufassen. Im Rahmen dieser allgemeinen Bestimmung als violentia ergibt sich eine für die folgende Untersuchung bedeutsame Unterscheidung daraus, ob der (in der Gewaltanwendung mißachtete) Anspruch der Individuen auf Freizügigkeit durch die Legalität oder naturrechtlich (in einem sehr weiten Sinn des Wortes) begründet wird. So bedeutet Gewaltanwendung zunächst die willkürliche Einschränkung der rechtlich zugesicherten Freizügigkeit anderer. (Diese kann sich sowohl als eine Beeinträchtigung anderer in der freien Verfügung über ihr Eigentum als auch als unmittelbare physische Bedrohung äußern. Es erweist sich aber als undurchführbar, »Gewalt gegen Sachen« prinzipiell von »Gewalt gegen Personen« zu unterscheiden, wie dies im Zusammenhang mit studentischen Aktionen an der Wende der sechziger zu den siebziger Jahren versucht wurde. Auch eine Verletzung von Eigentum ist, als Gewalt, gegen Personen gerichtet.) Dabei kann als oppositionelle Gewaltanwendung diejenige bezeichnet werden, die Recht nicht bloß verletzt, sondern die mit der Rechtsverletzung auf die Umstrukturierung beste-

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LEGITIMATIONSFÄHIGKEIT OPPOSITIONELLER GEWALT

hender (sei es rechtlicher, sozialer oder ökonomischer) Verhältnisse abzielt. Sie versteht sich selbst als eine Gegengewalt, das heißt als ein erst sekundäres Reagieren auf bereits vorhandene Gewaltanwendung. Als primäre Gewalt erscheinen dabei die jeweils etablierten Machtverhältnisse,

deren Gewaltförmigkeit

darin

diagnostiziert wird, daß die Freizügigkeit, sei es aller außer einem , (wie in der Diktatur), sei es einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, durch den beziehungsweise die Mäditigen willkürlich eingeschränkt wird. I n dieser Argumentation ist nun ein Begriff von Gewaltanwendung vorausgesetzt, der diese nicht durch die V e r letzung rechtlich zugesicherter Freizügigkeit bestimmt, sondern durch die V e r letzung der Ansprüche auf Zusicherung von Freizügigkeit im Rahmen der gesellschaftlichen und staatlichen Organisation des Zusammenlebens, die sich aus dem Begriff des Menschen als solchen ableiten lassen. Oppositionelle Gewaltanwendung ist also eine Rechtsverletzung, die es sich zur Aufgabe macht, jene andere F o r m der violentia, nämlich die Mißachtung der Menschenrechte in bestimmtem geltendem Recht selbst, zu bekämpfen.

Diese

Bestimmung ist der gemeinsame K e r n der verschiedenen Theorien oppositioneller Gewaltanwendung, wie groß auch ihre Divergenzen, etwa zwischen im engeren Sinn naturrechtlichen und marxistischen Ansätzen (auf die gleich im einzelnen einzugehen sein wird), sein mögen. Die Argumentationen für oppositionelle Gewaltanwendung

lassen sich auch

hinsichtlich der Zielvorstellungen, die sie jeweils im Auge haben, unterscheiden. So kann einmal davon ausgegangen werden, daß Recht als solches gewaltförmig ist, dann versteht sich die Negation dieser Gewalt anarchisch, das heißt sie macht sich nicht ihrerseits die Errichtung eines Staates zum Ziel. Zum anderen kann aber j e bestimmtes Recht als gewaltförmig aufgefaßt werden, dann steht die Revolution im Zeichen der Errichtung eines neuen, gerechten Staates. Diese Unterschiede können aber hier nicht weiter verfolgt werden, denn es muß zuerst auf das beiden Ansätzen gemeinsame Motiv der Oppositionalität näher eingegangen werden. D e r weitere Rahmen für diese Problemstellung ist darin zu sehen, daß in der Gegenwart die Frage der Rechtfertigung von Gewalt eingeschränkt ist auf die Frage der Rechtfertigung von Gegengewalt. D a m i t ist nicht gesagt, daß das P r o blem der Gegengewalt als solches neu ist, neu ist vielmehr, daß sich die Frage der Legitimation von Gewalt darauf zugespitzt hat. Die neuzeitliche Entwicklung des Freiheitsbegriffs und die damit im Zusammenhang erfolgten Differenzierungen der Moralphilosophie haben jede andere (primäre) Form von Gewalt soweit diskreditiert, daß die Frage ihrer Legitimation nicht mehr gestellt werden kann, ohne bereits Erreichtes zu unterbieten. Das gilt auch und gerade gegenüber jenen anthropologisch-lebensphilosophischen Theorien, die eine positive Bestimmung von (primärer) Gewaltanwendung zu leisten versuchen, wie etwa diejenigen Nietzsches und Sorels 2 . !

G. S o r e 1, Über die Gewalt (Frankfurt a. M. 1969).

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HERTA NAGL-DOCEKAL

D a m i t stellt sich übrigens auch das Problem der Legitimation der Staatsgewalt neu. Die Situation ist hier allerdings komplexer, weil das Wort Gewalt dabei im weiten Sinn (nämlich auch in der Bedeutung von potestas) zu verstehen ist. Hier führt die Legitimationsproblematik von Gewalt in die allgemeine Frage nach der gerechten Organisation menschlichen Zusammenlebens. Aber gerade an dieser zeigt sich eine bedeutende Konsequenz aus der eben skizzierten Einschränkung des Gewaltproblems: Es ist gegenwärtig nicht mehr möglich, das Prinzip für die Organisation menschlichen Zusammenlebens in der violentia im Sinn herrscherlicher Willkür zu suchen, ohne entscheidende Differenzierungen der politischen Theorie der Neuzeit zu unterbieten. Auch in diesem Kontext ist die Frage der Legitimierbarkeit von Gewalt auf das Problem der Gegengewalt eingeschränkt, dann nämlich, wenn Maßnahmen zum Schutz sowohl des Gemeinwesens als auch der Individuen vor Übergriffen erwogen werden. Diese Fragen führen ins Zentrum gegenwärtiger Demokratietheorien, auf die aber im Zusammenhang der hier interessierenden Thematik nicht näher eingegangen werden kann. A n dieser Stelle sollte nur deutlich werden, innerhalb welcher Bezüge das Legitimationsproblem oppositioneller Gewalt zu sehen ist. Jeder Versuch, Gewaltanwendung zu rechtfertigen, muß also gegenwärtig davon ausgehen, sie als Gegengewalt darzustellen. Die Erfüllung dieser Anforderung darf jedoch nicht schon für die Legitimation als solche genommen werden. D a s Aufzeigen von vorhandener Gewalt rechtfertigt zunächst nicht mehr als die Fragestellung, ob Gegengewalt legitim ist. So ist im folgenden erst zu überlegen, ob die Diagnostizierung gewaltförmiger Verhältnisse ein hinlängliches Kriterium für die Rechtfertigung oppositioneller Gewaltanwendung bedeuten kann. Diese Überlegungen werden auf die klassischen Naturrechtsargumentationen zurückverwiesen, wonach jedes Individuum ein natürliches Recht auf Leben und Freiheit besitzt und damit auch auf deren Verteidigung. Die geringsten Probleme ergeben sich dabei in bezug auf die unmittelbare physische Bedrohung, so daß die Legitimierung von Gegengewalt als Notwehr sich für alle Zeiten belegen läßt. In diesem Sinn argumentierte schon Cicero: »quid enim est quod contra vim sine vi fieri possit?« 3 Komplexer wird die Fragestellung aber, wenn es um die Interpretation von Freiheit als der über das physische Überleben hinausgehenden Möglichkeit von Freizügigkeit innerhalb der menschlichen Gemeinschaft geht, beziehungsweise wenn umgekehrt geklärt werden soll, ob von Gewalt im pejorativen Sinn gesprochen werden kann, wenn die Ordnung einer Gemeinschaft dieser Freizügigkeit (sei es aller außer einem, wie in der Tyrannei, sei es einer bestimmten Gruppe oder einzelner) widerspricht. Es geht dabei um die Frage, ob Gewalt als Gegengewalt legitimiert werden kann, auch wenn keine (zumindest keine direkte) physische Bedrohung gegeben ist. Es ist diese spezielle Form der N a t u r rechtsproblematik, auf die die hier zur Debatte stehende Fragestellung verweist. Dabei werden vor allem jene Theorien der Neuzeit relevant, in denen aus 3

C i c e r o , Ep. ad familiares XII, 3.

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dem Naturrecht bestimmte Rechtsforderungen abgeleitet und dem positiven Recht gegenübergestellt werden. Diese Theorien hatten zur Voraussetzung, daß die vorhandene Rechtsordnung beziehungsweise der mittels oder kraft ihrer regierende Herrscher nicht mehr auf göttliche Einsetzung zurückgeführt wurde, sondern auf einen Vertrag zwischen Menschen. Erst dadurch war ein Auseinandertreten von natürlichem und positivem Recht möglich geworden. Im Hinblick auf diese Konsequenz ergibt sich übrigens kein Unterschied daraus, ob der Vertrag als historisches oder als fiktives rechtskonstitutives Ereignis bestimmt wurde. Als Vertragspartner kamen dabei entweder Volk und Herrscher (Locke) in Betracht oder alle einzelnen Mitglieder des Volkes, die die Regierung delegieren (Hobbes, Rousseau). Diese Differenz braucht aber hier .nicht weiterverfolgt zu werden, entscheidend sind vielmehr die Konsequenzen aus dem Vertragskonzept im allgemeinen. Als Zweck des Vertrages erscheint häufig die protectio omnium contra omnes, das heißt der Schutz der Individuen, der in dem dem Rechtszustand vorangehenden (beziehungsweise im Gedankenexperiment gegenübergestellten) Naturzustand nur je und je durch die individuelle Gewaltanwendung im Kampf aller gegen alle erreicht werden kann. Jedes Individuum verzichtet auf seine natürliche Gewaltsamkeit, um vor derjenigen der anderen geschützt zu sein. Alle Gewalt fällt damit der Obrigkeit zu, die den Rechtszustand aufrechtzuerhalten und den Schutz der Individuen zu gewährleisten hat. Bei Hobbes erstreckt sich dieser Schutz zunächst nur auf das Leben selbst, das heißt das Recht ist gerechtfertigt, solange das Überleben der Staatsbürger gewährleistet ist. Die Organisation des Gemeinwesens entspricht dem Prinzip »que veut le roi, ce veut la loi«, und es gibt zunächst keine legitime Möglichkeit des Widerstandes gegen die Gesetze. Der casus resistendi tritt nur ein, wenn das Leben der Untertanen bedroht ist: »The Obligation of Subjects to the Sovereign is understood to last as long, and no longer, than the power lasteth, by which he is able to protect them.« 4 Die Untertanen sind dann zum Widerstand gegen den Herrscher berechtigt, wenn ihnen die Aufgabe, ihr Leben zu verteidigen, wieder selbst zufällt. Das gilt sowohl für den Fall, daß der Herrscher sie nicht gegen äußere Feinde zu schützen vermag als auch für den, daß er selbst ihr Leben bedroht. Im Leviathan heißt es: »A man cannot lay down the right of resisting them, that assault him by force, to take away his life.« 5 Im selben Werk finden sich auch erweiterte Formulierungen wie die: »No man can transfere, or lay down his Right to save himself from Death, Wounds, and Imprisonment.« 6 Das natürliche Recht der Menschen, das Widerstand zu legitimieren vermag, bleibt damit auf die physischen Lebensbedingungen beschränkt.

4

T. H o b b e s , Leviathan or The Matter, Form and Power of a Commonwealth, Ecclesiastical and Civil (London 1959) 116. 5 Ebd. 68. • Ebd. 72.

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Das legt die Interpretation nahe, daß bei Hobbes die Gegengewalt der Untertanen nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn sie dem Prinzip der Notwehr entspricht. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß entscheidende Fragen, wie die nach der Mittelwahl und nach der Möglichkeit kollektiver und präventiver Selbstverteidigung durch die angegebenen Argumentationen nicht präjudiziert sind. Die neuere Diskussion hat gezeigt, daß damit eine sehr weitgehende Interpretation des Widerstandsrechts bei Hobbes ermöglicht ist, welche »politischen Mord, Bürgerkrieg und gewaltsamen Umsturz« umfaßt 7 . Doch unabhängig davon, wie diese Diskussion im einzelnen entschieden wird, ist für die hier interessierende Problematik wichtig, daß bei Hobbes das, wenn auch nur durch leibliche Sicherheit bestimmte Naturrecht einen Widerstand gegen das positive Recht zu legitimieren erlaubt. Hobbes stimmt in dieser Frage mit den anderen Vertragstheoretikern überein, die damit entscheidend über die älteren Vertreter eines Widerstandsrechts hinausgehen. Bei diesen bleibt der legitime Widerstand auf die Verteidigung des positiven Rechts gegen eine rechtsbrüchig gewordene Regierung beschränkt. Das Widerstandsrecht ist in diesem Sinne ein konservatives und nicht im Naturredit begründet. Das gilt vor allem für das frühe Mittelalter, zum Teil noch bei den Monarchomachen, aber ebensowohl für die in gegenwärtig gültigen Verfassungen festgelegten Widerstandsbestimmungen 8 . Hier ist zu ergänzen, daß ein institutionalisiertes Widerstandsrecht grundsätzlich nur konservativ sein kann. Der Versuch, ein ius contra legem zu positivieren, würde in eine Aporie führen. »Ein solches exzeptionelles Recht, das gegenüber der gesetzten Rechtsordnung einen höheren Geltungsgrund beansprucht, kann schwerlich zugleich ihr Bestandteil sein, weil keine Rechtsordnung ihre eigene Rechtswidrigkeit behaupten kann, ohne sich begrifflich selbst aufzuheben.« 8 Schon bei Kant findet sich der Hinweis darauf, daß es keine gesetzliche Regelung der Ungesetzlichkeit geben kann. »Wer soll entscheiden, auf wessen Seite das Recht sei? . . . Also müßte es noch ein Oberhaupt über dem Oberhaupte geben, welches zwischen diesem und dem Volk entschiede: welches sich widerspricht.« 10 Die hier interessierende Frage nach der Berechtigung von Widerstand gegen ungerechte Gesetze kann also grundsätzlich nicht nach den Kriterien der Legalität entschieden werden, sondern ausschließlich in der hier versuchten Weise, auf der Basis moralischer Legitimationsprinzipien. Die Vertreter der Vertragstheorie beschränken, wie gesagt, ihre Argumente

C. M a y e r - T a s c h , Thomas Hobbes und das Widerstandsredit (Tübingen 1965) 101. In diesem Buch finden sich zahlreiche Literaturhinweise zur Hobbes-Diskussion. 8 Vgl. Widerstandsredit, ed. A. K a u f m a n n (Darmstadt 1972). • K . K r ö g e r , Widerstandsrecht und demokratische Verfassung. In: Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 3 9 9 (Tübingen 1971) 5 ; vgl. auch K. D u e h r i n g , Der Staat (1969) 429 ff. 1 0 I. K a n t , Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Kant. Gentz. Rehberg, Über Theorie und Praxis (Frankfurt a. M. 1967) 71. 7

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für rechtmäßige oppositionelle Gewalt nicht generell auf die Sicherung des Physischen, wie Hobbes es getan hatte. Bei Locke etwa gehört das Recht auf Eigentum neben dem Selbsterhaltungsredit zu den wesentlichen natürlichen Grundrechten des Menschen. Der Vertrag, bei ihm ungenauer als bei Hobbes als ein Vertrauensverhältnis (trust) gefaßt, hat damit den Zweck, nicht nur dem Leben, sondern auch dem Eigentum der Bürger jenen Schutz angedeihen zu lassen, der im Naturzustand nicht gewährleistet ist. »Der Zweck der Regierung ist das Wohl der Menschheit. Was ist aber nun a m besten für die Menschheit: daß das Volk immer dem schrankenlosen Willen der Tyrannei preisgegeben ist, oder daß die Herrscher zuweilen mit Widerstand rechnen müssen, wenn sie im Gebrauch ihrer Gewalt maßlos werden und sie zum Verderben, nicht aber zur Erhaltung des Eigentums ihres Volkes anwenden?« 1 1 D a s Volk hat also bei Locke ein naturrechtlich begründetes Recht auf Gewaltanwendung, wenn der Vertragszweck »durch eine lange Folge von Mißbräuchen, Unredlichkeiten und Ränken« unerfüllt bleibt 1 2 , wobei der casus resistendi audi im Falle entscheidender Angriffe auf das Eigentum eintritt. Locke macht deutlich, daß die Gewaltsamkeit dabei nicht primär vom Volk ausgeht, sondern von denen, die »dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandeln« 1 3 und damit ihrerseits den ursprünglichen Kriegszustand wiederherstellen: »Denn wenn die Menschen mit ihrem Eintritt in die Gesellschaft und der Begründung staatlicher Regierung Gewalt ausgeschlossen und zur Erhaltung des Eigentums, des Friedens und der Einheit Gesetze unter sich eingeführt haben, so handelt es sich bei denjenigen, die im Gegensatz zu den Gesetzen wieder die Gewalt aufrichten, um rebellare, das heißt sie stellen den Kriegszustand wieder her und sind damit im eigentlichen Sinne Rebellen.« 1 4 Anders als Hobbes geht Locke auch auf die zerstörerische Wirkung der Gegengewalt ein und legitimiert sie implizit, indem er sie der Verantwortung derer zuordnet, die die primäre Rebellion setzen: »Tritt in solchen Fällen ein Unheil ein, so darf es nicht demjenigen zur Last gelegt werden, der sein eigenes Recht verteidigt, sondern dem, der in das Recht seines Nachbarn eingreift. Wenn der unschuldige, ehrliche Mensdi alles, was er hat, um des Friedens willen schweigend demjenigen überlassen muß, der gewaltsam H a n d darauf legt, dann bitte ich zu bedenken, was für eine Art von Frieden in der Welt sein wird, der nur aus Gewalttat und R a u b besteht und nur zum Vorteil von Räubern und Unterdrückern bewahrt werden soll.« 1 5 Rousseaus Staatstheorie setzte insofern neue Akzente, als sie das bei Locke bereits vorhandene Gleichheitsprinzip zur wesentlichen Bestimmung des Gesellschaftsvertrages erhob. Eine auf der volonté générale beruhende Gesetzgebung soll J. L o c k e , Zwei Abhandlungen über die Regierung (Frankfurt a. M.-Wien 1967) 355. Ebd. 352. 1 J Ebd. 301. " Ebd. 353. 15 Ebd. 354. 11

1!

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garantieren, daß die Gesetze allgemeine Interessen vertreten. »Der Souverain hat dergestalt niemals das Recht, einen Untertan mehr als einen anderen zu belasten, weil dann die Angelegenheit eine besondere wird und daher seine Macht nicht mehr zuständig ist.« 18 Rousseau leitete daraus für den Fall einer Verletzung des Allgemeinheitsprinzips nicht unmittelbar ein Recht auf Revolution ab, aber seine Theorie wurde doch f ü r das Selbstverständnis der Träger der Französischen Revolution von zentraler Bedeutung. »Seine Lehre war nicht revolutionär, sie mußte erst revolutionär interpretiert werden.« 17 Vor allem der von Mirabeau vertretene Deklarationsentwurf des Fünferkomitees schließt in wesentlichen Partien unmittelbar an Rousseausche Formulierungen an, etwa mit den Bestimmungen des Unterwerfungsvertrages in Artikel 2 oder in Artikel 6: »Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens.« 18 (Diese neuzeitliche Entwicklung der Rechtsphilosophie konstituierte übrigens erst den Revolutionsbegriff in seiner heutigen Form. Ursprünglich hatte das Wort Revolution einen gesetzmäßigen Kreislauf bezeichnet und wurde primär auf den Umlauf der Gestirne bezogen. Aber auch in der Übertragung auf den politischen Bereich bedeutete es einen Ablauf, der sich über die Köpfe der Betroffenen hinweg vollzieht, etwa die Abfolge der verschiedenen Verfassungstypen und Verfallsformen. Erst eine Theorie, die das Volk als Subjekt der Souveränität auszeichnet, ließ die Machbarkeit politischer und sozialer Umwälzungen von Seiten der Betroffenen als möglich erscheinen, die heute die wesentliche Bestimmung des Revolutionsbegriffs ausmacht. Das Wort findet sich daher in dieser Bedeutung zuerst im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und wurde erst rückwirkend auf frühere Ereignisse, wie die amerikanischen, angewendet 19 .) Ihre Verknüpfung mit der Französischen Revolution sowohl wie auch ihre einzelnen Inhalte als solche haben bekanntlich dazu geführt, daß die Naturrechtslehre der Aufklärung mit dem Hinweis darauf kritisiert wurde, daß sie in Wahrheit nicht die Grundrechte des Menschen, sondern die konkreten Interessen des Bürgertums formuliert habe. Vor allem an der zentralen Rolle des Eigentums und ihrer Begründung aus der physiokratischen Ökonomie ließ sich aufzeigen, daß das, was als ein aus der N a t u r des Menschen ableitbarer Rechtsanspruch vorgestellt wurde, eigentlich dem Machtanspruch eines Teils der Bürger, nämlich der Bourgeoisie, entsprach. Diese Zusammenhänge hat vor allem Marx untersucht, für den die Naturrechtslehre die Emanzipation der Bürger, aber nicht die der Men-

14 17

18

19

J. J. R o u s s e a u , Contrat Social II, 4. J. H a b e r m a s , Theorie und Praxis (Neuwied-Berlin 1963) 75. Vgl. I. F e t s c h e r , Rousseaus politische Philosophie (Frankfurt a. M. 1975). B. S c h i e c k h a r d t , Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den Debatten der Nationalversammlung (Berlin 1931) 45. Vgl. E. R o s e n s t o c k , Revolution als politischer Begriff der Neuzeit. In: Festschrift für F. Heilborn (Breslau 1931); K. G r i e w a n k , Der neuzeitliche Revolutionsbegriff (Weimar 1955); R. K o s e i l e c k , Der neuzeitliche Revolutionsbegriff als geschichtliche Kategorie. In: Studium Generale (August 1969) 825.

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sehen als solcher vorbereitet hat 20 . Er sieht damit auch Freiheit und Gleichheit lediglich als ideologische Rechtfertigungsbestimmungen des bürgerlichen Staates. In einem anderen Argumentationszusammenhang weist auch Hegel den Anspruch der Naturrechtslehren auf überzeitliche Geltung zurück. Es ist aber zu fragen, ob damit der Gedanke des Naturrechts als solcher bereits widerlegt ist. Setzt nicht auch Marx in seiner Kritik der Entfremdung den Gedanken einer allen Menschen gemeinsamen Natur voraus? Audi wenn kritisiert wird, daß die Forderung nach Freiheit und Gleichheit vom bürgerlichen Staat nicht eingelöst wird, wird die Forderung selbst doch ernstgenommen. Es wäre also zu fragen, ob die Marxsche Theorie ohne naturrechtliche Implikationen, die allerdings inhaltlich anders gefaßt wären, auskommen kann, aber diese Frage kann hier nicht weiterverfolgt werden. Grundsätzlich ist festzuhalten, daß der Gedanke eines allen Menschen gleichermaßen zukommenden Rechtsanspruchs auch heute nichts an Aktualität verloren hat. Er ist einerseits die Voraussetzung dafür, daß bestehende Gesetze als repressiv kritisierbar werden und bildet andererseits das Prinzip für die Theorie der Gerechtigkeit des Rechts. Dabei wird der Naturrechtsgedanke aber nicht nur formaliter weitergeführt, sondern auch in manchen seiner Bestimmungen, wie Autonomie und Gleichheit. So schließt die Demokratietheorie an wesentliche Motive der Vertragslehre an 21 . Für das hier diskutierte Problem ist aber eine andere Frage wichtig, nämlich die, ob eine naturrechtlich fundierte Kritik am bestimmten Staat die Legitimation revolutionärer Gewaltanwendung tatsächlich ermöglicht. Diese Frage stellt sich vor allem gegenüber Legitimationsversuchen, die über das reine Notwehrprinzip hinausgehen und auch emanzipative Motive als hinreichend anerkennen. Kritik an solchen Versuchen ist bekanntlich schon von Zeitgenossen Lockes und Rousseaus, insbesondere aber im Anschluß an die Französische Revolution vielfach laut geworden. Die aktuelle politische Stellungnahme bildete dabei häufig den Ausgangspunkt, wie etwa im Fall Burkes22. Dagegen ist bei Kant das Problem in einer Form differenziert, die die gegenwärtige Fragestellung in vielem vorweggenommen hat. Kant geht von der Überlegung aus, daß der Rechtszustand als solcher gegenüber einem durch allseitige Gewaltförmigkeit bestimmten Naturzustand einen entscheidenden Fortschritt in der Organisation des menschlichen Zusammenlebens bedeutet. Der Staat dürfe daher auch dann nicht in seiner Existenz bedroht werden, wenn seine Gesetze im einzelnen ungerecht sind. Revolutionäre Gewaltanwendung führt in den Naturzustand zurück und unterbietet damit selbst das Niveau minimaler Gerechtigkeit, das unter repressiven Gesetzen noch gegeben ist. Dies darf nicht im Sinne eines an Zynismus grenzenden Rechtspositivismus miß10 81 22

K. M a r x - F. E n g e l s , Werke (Berlin 1958) 1, 369 (im folgenden zit. mit MEW). Vgl. J. R a w l s , Eine Theorie der Gerechtigkeit (Frankfurt a. M. 1975). E. B u r k e, Betrachtungen über die Französische Revolution (Frankfurt a. M. 1967).

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verstanden werden. Kant wollte die Notwendigkeit einer Aufhebung ungerechter Gesetze nicht leugnen — es ging ihm im Gegenteil um die Erörterung der Bedingungen, die eine solche Aufhebung erst ermöglichen. Sein zentrales Argument ist dabei, daß die Erstellung legitimationsfähiger Gesetze erst innerhalb des Reditszustandes geleistet werden kann. Er fundiert dieses Argument dadurch, daß er, verglichen mit den anderen Rechtsphilosophen der Aufklärung, die Einsicht konsequenter interpretiert, daß der ursprüngliche Vertrag nicht als historisches Ereignis denkbar ist. Er betont, daß die Entstehung des Rechtszustandes als solchen nur mittels Gewalt erfolgen kann. Das Recht, das aus dem Naturzustand hervorgeht, kann zunächst nur das Recht des Stärkeren sein, weil eine Konsensbildung aller im Vertrag ihre gegenseitige Anerkennung, die erst durch das Recht ermöglicht werden soll, bereits voraussetzen würde. Daher ist es nach Kant auch unschlüssig, den Gedanken einer Einigung aller zum Kriterium der Legitimität des Staates zu machen. Die Etablierung gerechter Gesetze als solcher, die dem Willen des gesamten Volkes entspredien, kann erst innerhalb des Rechtszustandes geleistet werden. Der ursprüngliche Kontrakt erhält damit bei Kant eine wesentlich andere Bedeutung. Er ist »eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammengestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie zum Beispiel, daß eine gewisse Klasse von Untertanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollte), so ist es nicht gerecht.«23 Damit ist es für Kant unmöglich, aus der Vertragstheorie ein Recht auf Revolution abzuleiten. Wenn sich die Gesetze eines bestehenden Staates an diesem »Probierstein« als ungerecht erweisen, kann nur die Vernichtung der Gesetze durch den Staat, aber nicht die Vernichtung des Staates selbst gefordert werden. Dies würde nicht nur den Träger der Ungerechtigkeit, sondern auch die notwendige Bedingung der Gerechtigkeit zerstören. Das folgende Zitat faßt diese Uberlegungen zusammen: »[Aller innere Widerstand geschieht] einer Maxime gemäß . . . , die, allgemein gemacht, alle bürgerliche Verfassung zernichten und den Zustand, worin allein Menschen im Besitz der Rechte überhaupt sein können, vertilgen würde. Hieraus folgt: daß alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrethen im gemeinen Wesen ist: weil es dessen Grundfeste zerstört. Und dieses Verbot ist unbedingt, so daß, es mag auch jene Macht oder ihr Agent, das Staatsoberhaupt, sogar den ursprünglichen Vertrag verletzt und sich dadurch M

K a n t , Gemeinsprudi 67 f.

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des Rechts, Gesetzgeber zu sein, nach dem Begriff des Untertans verlustig gemacht haben, indem sie die Regierung bevollmächtigt, durchaus gewalttätig (tyrannisch) zu verfahren, dennoch dem Untertan kein Widerstand als Gegengewalt erlaubt bleibt. Der Grund davon ist: weil bei einer schon subsistierenden bürgerlichen Verfassung das Volk kein zu Recht beständiges Urteil mehr hat, zu bestimmen: wie jene solle verwaltet werden. Denn man setze: es habe ein solches, und zwar dem Urteile des wirklichen Staatsoberhaupts zuwider; wer soll entscheiden, auf wessen Seite das Recht sei? Keiner von beiden kann es als Richter in seiner eigenen Sadie tun. Also müßte es noch ein Oberhaupt über dem Oberhaupte geben, welches zwischen diesem und dem Volk entschiede: welches sich widerspricht.« 24 Für die gegenwärtige Diskussion des Revolutionsproblems ist vor allem interessant, in welcher Weise Kant diese rechtsphilosophischen Überlegungen in seiner Ethik begründet. Der Vorrang des Reditszustandes gegenüber dem Naturzustand liegt bei ihm darin, daß es eine moralische Verpflichtung zur Legalität gibt. Dabei ist in Erinnerung zu rufen, daß nach Kant ein Grundgebot der Moral darin liegt, die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen zu achten. »Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet w e r d e n . . . Der praktische Imperativ wird also folgendermaßen sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« 25 Aus diesem praktischen Imperativ' folgt nun die moralische Verpflichtung, die äußere Freizügigkeit jedes Menschen zu respektieren, soweit sie mit der der anderen vereinbar ist. D a f ü r ist der Rechtsstaat erforderlich, denn das Recht ist »die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist«28. Die Rechte sind damit umgekehrt »(moralische) Vermögen, andere zu verbinden« 27 . Von derselben Überlegung ist auch Kants Naturrechtslehre bestimmt. Das Naturrecht ist für ihn das ursprüngliche Recht des Menschen auf Recht und entspricht insofern dem Anspruch jeder Person, als Selbstzweck geachtet zu werden. »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.«28 Auf Grund dieser Überlegungen gibt es für Kant eine mora" Ebd. 70 f. 25 K a n t , Die Metaphysik der Sitten. In: Sämtliche Werke, ed. K. V o r l ä n d e r zig 1913) III, 52 ff. M K a n t , Gemeinsprudi 59. 27 K a n t , Metaphysik der Sitten 43. " Ebd. 43 f.

(Leip-

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lisdie Verpfliclitung zur Legalität. (Den Naturzustand als die Gewalttätigkeit aller gegen alle kennzeichnet ein Verhalten, das andere nicht als Selbstzweck, sondern bloß als Mittel betrachtet.) Von hier aus erscheint es Kant moralisch geboten, jeweils geltende Gesetze sowohl zu respektieren, als auch nach dem Prinzip der (vertragstheoretisch formulierten) Idee des gerechten Rechts zu verändern. Daraus wird die moralphilosophische Begründung seines Revolutionsverdikts ersichtlich. Dieses steht nicht im Widerspruch zur moralischen Verpflichtung, rechtmäßiges Recht zu etablieren, sondern es resultiert vielmehr aus der selben ethischen Überlegung. Kant argumentiert dabei geradezu konträr zu der ihm vorliegenden Naturrechtslehre: Es gibt für ihn kein naturrechtlich begründetes Recht auf Revolution, sondern es ist im Gegenteil gerade »das ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht«, aus dem seine moralisch begründete Ablehnung oppositioneller Gewaltanwendung resultiert. In der Anstrengung zur Institutionalisierung von Gerechtigkeit darf also niemand bloß als Mittel behandelt werden. Die richtige Staatsverfassung ist »immer nur eine Idee, deren Ausführung auf die Bedingung der Zusammenstimmung ihrer Mittel mit der Moralität eingeschränkt ist, welche das Volk nicht überschreiten darf; welches nicht durch Revolution, die jederzeit ungerecht ist, geschehen darf« 29 . Es ist ganz besonders dieser Gedankengang Kants, an dem seine Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion deutlich wird: Auch jetzt stellt das Problem der Revolution vor die Frage, ob das Desiderat gerechter Institutionen alle Mittel zu seiner Erreichung rechtfertigt — worauf noch zurückzukommen sein wird. Hier ist zunächst darauf einzugehen, welcher Weg in Kants Theorie offen bleibt für die (moralisch gebotene) Uberwindung ungerechter Verhältnisse. Es ist der der Reform, die aus der Aufklärung der Öffentlichkeit entspringt. »Aus dem Willen des Souveräns selbst muß die Reform hervorgehen. Dieser ist aber in facto nicht der vereinigte Volkswille, sondern dieser soll allmählich herauskommen. Schriften müssen das Oberhaupt wie das Volk instand setzen, das Ungerechte einzusehen.«30 Kant nimmt damit in bezug auf das Verhalten der Bürger gegenüber den jeweils geltenden Gesetzen eine wesentliche Differenzierung vor: Die Gesetze sind einerseits (aus den angegebenen Gründen) strikt zu befolgen, aber andererseits steht es »jedem der Bürger« zu, »in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen so weit gekommen und bewähret worden, daß sie durch Vereinigung ihrer Stimmen (wenn gleich nicht aller) einen

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* K a n t , Der Streit der Fakultäten. In: Werke in sechs Bänden, ed. W. W e i s c h e d e l (Frankfurt a. M. 1964) VI, 360. 30 K a n t , Bruchstücke aus dem Nachlaß. In: Sämtliche Werke, ed. V o r l ä n d e r , VIII, 291.

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Vorschlag vor den Thron bringen könnte« 81 . Diese Möglichkeit, von »seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«32, die die wesentliche Bedingung der Aufklärung ausmacht, ist für Kant ein unverzichtbares Recht des Bürgers, das sich aus dem Recht »der Menschheit in seiner Person« ebenso ableiten läßt wie die Pflicht, die Gesetze einzuhalten. Damit tritt bei ihm an die Stelle des Widerstandsrechts das Recht »der Gegenvorstellungen und Bekanntmachung der Ideen des Besseren«33 — was sich bereits in seiner spezifischen Fassung der Vertragstheorie angekündigt hat. Das bedeutet umgekehrt, daß der bestehende Staat nur dann seiner eigentlichen Bestimmung (das Zunehmen der Gerechtigkeit in den Institutionen zu ermöglichen) entspricht, wenn er dieses Recht respektiert. Eine Verleugnung desselben »wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten in der Aufklärung besteht« 34 . Auch eine freiwillige Veräußerung dieses Rechts, etwa in Form eines Herrschaftsvertrags, wäre nicht zu rechtfertigen: »Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstäge und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein.«36 Diese Überlegungen Kants nehmen wesentliche Motive der gegenwärtigen Diskussion vorweg, sowohl in bezug auf die Kritik totalitärer Staaten als auch auf die nähere Bestimmung von Demokratie. Andererseits kann aber ihnen gegenüber mit gewissem Recht die Frage aufgeworfen werden, ob ein Staat, in dem die Freiheit der Kritik nicht gegeben ist, gewaltförmigen Widerstand nicht doch legitimiere. Diese Frage richtet sich genauer darauf, ob Kant eine Herrschaftsweise, in der Kritik gänzlich unterdrückt wird, als Staat (in seinem Sinn) bezeichnen würde, oder ob er sie nicht vielmehr noch dem Naturzustand zurechnen müßte. In diesem Fall würde gewaltförmiger Widerstand nicht dem Revolutionsverdikt unterliegen. Diese speziell auf Kant gerichtete Frage kann aber in dem hier zur Debatte stehenden allgemeineren Rahmen nicht näher untersucht werden36. Was immer aber die Einzelinterpretation von Kants Texten ergeben würde: es bleibt das grundsätzliche Problem, ob das moralische Gebot, die Menschheit in der Einzelperson zu achten, nicht auch die Verpflichtung impliziert, unter bestimmten, repressiven Umständen das Menschenrecht zu verteidigen, auch wenn dabei die Grenzen des Staatsrechts überschritten werden müssen. Henrich meint dazu: »Keine Theorie K a n t , Was ist Aufklärung. In: Werke in sedis Bänden, ed. W e i s c h e d e l VI, 58. " Ebd. 55. 33 K a n t , Bruchstücke 291. 34 K a n t , Aufklärung 58. 3 5 Ebd. 57. 3(1 Vgl. D. H e n r i c h , Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat. Einleitung zu: Kant. Gentz. Rehberg, Ober Theorie und Praxis, und R. S p a e m a n n , Moral und Gewalt. In: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, ed. M. R i e d e l (Freiburg 1972) 1, 215. 31

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kann befriedigen, die nidit wenigstens dies zugesteht. Kants Theorie ist dazu nicht schlechthin außerstande. Aber Kant selbst hat anders gedacht.« 37 Von seinem Widerstandsverdikt her mag es nun überraschen, wie Kant sich zur Französischen Revolution äußerte — ist doch überliefert, daß er sie geradezu enthusiastisch begrüßte und stets begierig war, Nachrichten über ihren Verlauf zu erhalten. Auch daß er sie noch zu einem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit verteidigte, als dies bereits höchst inopportun geworden war 8 8 . So könnte sich die Vermutung nahelegen, Kant habe es nicht recht vermocht, »seinen Kopf mit seinem Herz zu vereinigen« 39 . Bei näherer Untersuchung zeigt sich aber, daß Kant auch in bezug auf die Ereignisse in Frankreich revolutionäre Gewalt nicht für moralisdi gerechtfertigt hielt und daß seine positiven Äußerungen aus dem Zusammenhang seiner Geschichtsphilosophie zu verstehen sind. Nun ist hier nicht der Ort, Kants Geschichtsphilosophie in allen ihren Bezügen, etwa zu seinen Überlegungen zur Teleologie der Natur, genau zu entwickeln. Einige Hinweise müssen genügen. So ist festzuhalten, daß der Geschichtsprozeß als ein Fortschritt gedacht ist: »Die Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist unaufhörliches Fortschreiten.« 40 Dieses steht im Zeichen einer »Vollendung«, die näher als »die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« 41 bezeichnet wird. »So muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die hödiste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein; weil die Natur, nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben, ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann.« 4 2 Von hier aus erhält nun die Französische Revolution ihre Bedeutung, insofern die Revolutionierenden »das Recht des Volkes, wozu sie gehören, ins Auge gefaßt hatten, und sich als Beschützer desselben dachten« 43 . Aber es ist nicht »das Phänomen der Revolution« als solcher, das dabei wichtig ist — Kant distanziert sich auch in diesem Zusammenhang von »Elend und Greueltaten« 44 —, sondern das »der Evolution einer naturreditlichen Verfassung« 44 . Zwar konnte Kant noch nicht absehen, ob es in Frankreich glücken würde, die Intentionen der Revolution in dauerhaften Institutionen zu verwirklichen, aber diese Frage war für ihn ohnehin 57 ,e

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H e n r i c h , Über den Sinn 32 f. K. V o r l ä n d e r , Kants Stellung zur Französischen Revolution. In: Philosophische Abhandlungen, Hermann Cohen zum 70. Geburtstag (Berlin 1912) 2 4 7 ; K. B o r r i e s, Kant als Politiker (Leipzig 1928) 169. H e n r i c h , Über den Sinn 32. K a n t . In : Sämtliche Werke, ed. V o r 1 ä n d e r VI, 46. K a n t , Idee zu einer allgemeinen Geschichte in -weltbürgerlicher Absicht. In: Werke in sechs Bänden, ed. W e i s c h e d e l VI, 39. Ebd. K a n t , Streit der Fakultäten 359. Ebd. Ebd. 360.

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von sekundärem Interesse. Seinem Begriff von Fortschritt entsprachen schon die Intentionen selbst — und darüber hinaus deren Entsprechung auf Seiten der »Zuschauer«. »Diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nadi, die nahe an Enthusiasm grenzt.« 4 6 K a n t nennt die Französische Revolution, insbesondere in ihrer Wirkung auf die »Zuschauer«, ein »Geschichtszeichen« 47 , weil sich an ihr der philosophische Begriff der Geschichte (daß dieselbe ein »Fortschreiten zum Besseren« sei) bestätige. Sie wird damit eine wesentliche Voraussetzung für seine »wahrsagende Geschichte der Menschheit« 48 . K a n t argumentiert dabei so: Wenn es sich an einer historischen Begebenheit aufzeigen läßt, daß »das menschliche Geschlecht im Ganzen seiner Vereinigung (non singulorum sed universorum)« 4 ' fortschreitet in Richtung auf eine naturrechtliche Verfassung, dann läßt sich auch vorhersagen, daß es diesen Zweck erreichen werde (wenngleich diese Vorhersage, »was die Zeit betrifft, nur . . . unbestimmt« formuliert werden kann) 5 0 . »Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einflüsse nach, auf die Welt in allen Teilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte.« 5 1 Dieses »Vorhersagen« der Zukunft als ein Bezug auf noch ausstehendes H a n deln macht nun aber die Frage unausweichlich, welche Relation zwischen Geschichtsphilosophie und Praxis besteht. Ein Hinweis dazu findet sich in Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, wo es heißt: »Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich, und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden.« 5 4 Für das spezielle Thema dieser Untersuchung ergibt sich damit die Frage, ob aus der Geschichtsphilosophie eine Basis für die Rechtfertigung oppositioneller Gewaltanwendung gewonnen werden kann. Diese Frage führt zunächst über K a n t hinaus und muß anhand jener geschichtsphilosophischen Theorien überlegt werden, in denen der revolutionären Gewaltanwendung als solcher ihre Berechtigung zugesprochen wird, und nicht bloß ihren Wirkungen oder Intentionen. Es sind also jene Positionen heranzuziehen, welche oppositionelle Gewaltanwendung im allgemeinen, beziehungsweise bestimmte historische Revolutionen als sinnvoll oder sogar als notwendig für den teleologisch aufgefaßten Zusammenhang der Weltgeschichte auszuweisen suchen. Dabei müssen « Ebd. 358. " Ebd. 357. 48 Ebd. 360. " Ebd. M Ebd. 361. » Ebd. " K a n t , Idee 47.

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zunächst die jeweiligen Argumente untersucht werden, die diese geschichtsphilosophische Rechtfertigung leisten sollen. In einem zweiten Schritt ist dann zu überlegen, ob dieselben Argumente auch zur praktischen Legitimation oppositioneller Gewaltanwendung herangezogen werden können. Hinter dieser Frage verbirgt sich die andere, ob die Berufung auf die Geschichtsphilosophie eine Überwindung der Moralität gestatte, das heißt ob Moralität in dem hier an Kant explizierten Sinn die ausschließliche Basis für die Rechtfertigung praktischer Entscheidungen sei, oder ob nicht vielmehr aus der gesdiichtsphilosophischen Einsicht in den Entwicklungszusammenhang der Weltgeschichte bestimmte Handlungen als notwendig abzuleiten, und damit zu rechtfertigen, seien, auch wenn sie den Prinzipien der Moralität widersprechen. Es geht damit um die Frage, ob die Weltgeschichte gegenüber der Praxis ein höheres Recht beanspruchen könne als die Moralität, so daß auch Handlungen, die moralisch nicht legitimierbar sind, zur Pflicht werden können. Im Zusammenhang dieses Fragenkomplexes gerät also das Legitimationsproblem oppositioneller Gewaltanwendung in eine Analogie zu dem der Staatsräson. An dieser Stelle wird man vor allem auf Hegel und Marx zurückverwiesen sowie auf die Tradition des Marxismus. Bei Hegel stellt sich das Problem der Revolution im Zusammenhang mit der Bestimmung der Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Seine »philosophische Geschichte« betrachtet »den allgemeinen Weltgeist, wie er in einem inneren Zusammenhange durch die Geschichte der getrennt erscheinenden Nationen und ihre Schicksale die verschiedenen Stufen seiner Bildung durchlaufen hat« 5 3 . Das Ziel dieser Bewegung des Geistes, »der Endzweck der Welt«, ist »das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit, und ebendamit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt« 5 4 . Im Gang der Geschichte ist die Freiheit jeweils noch unbestimmt, das heißt, es besteht ein Unterschied »zwischen dem Prinzip, zwischen dem, was nur erst an sich, und zwischen dem, was wirklich ist« 5 5 . Die Weltgeschichte stellt damit »den Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist, dar« 5 8 , sie ist »nichts anderes als die Entwicklung des Begriffs der Freiheit« 57 . Die Freiheit bestimmt Hegel dabei als »dies, in seinem Andern bei sich selbst zu sein, von sich abzuhängen, das Bestimmende seiner selbst zu s e i n . . . Freiheit ist nur da, wo kein anderes für mich ist, das ich nicht selbst bin« 5 8 . Und er erklärt näher: »Die Idee der Freiheit ist wahrhaft nur als der Staat.« 5 9 Im Hinblick auf das hier interessierende Problem ist darauf aufmerksam zu machen, daß bei Hegel das Wort »welthistorisch« damit einen spezifischen Sinn G. W. F. H e g e 1, Sämtliche Werke, ed. H. G1 o c k n e r (Stuttgart-Bad Cannstadt 1964 ff.) 3, 223. 54 Ebd. 11,46. 55 Ebd. 47. 5 ' Ebd. 92. « Ebd. 568 f. 59 Ebd. 8, 87. Ebd. 7, 112. 55

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gewinnt. Es bezieht sich nicht auf die Universalität geschichtlicher Entwicklung, sondern auf jene Reiche, Ereignisse und Individuen, die als »Werkzeug« 80 dieser Bewegung des Weltgeistes zu sich selbst verstanden werden müssen. Welthistorisch ist somit »dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist«81. In diesem Sinn können auch Revolutionen welthistorische Bedeutung erlangen. »Alle Revolutionen, in den Wissenschaften nicht weniger als in der Weltgeschichte, kommen nur daher, daß der Geist jetzt zum Verstehen und Vernehmen seiner, um sich zu besitzen, seine Kategorien geändert hat, sich wahrhafter, tiefer, sidi inniger und einiger mit sich erfassend.« 82 Auch Revolutionen können also für Hegel ein »Werkzeug« der Weltgeschichte sein. »Ist ihm das Ansich nicht mehr wahr, was ihm seine Konstitution noch als das Wahre ausspricht, — sein Bewußtsein oder Begriff und seine Realität verschieden: so ist der Volksgeist ein zerrissenes, geteiltes Wesen. Es treten zwei Fälle ein. Das Volk zerschlägt durch einen inneren gewaltsamen Ausbruch dies Recht, das noch gelten soll, oder ändert auch ruhiger und langsamer dasjenige, was noch als Recht gilt, das Gesetz, das nicht mehr wahre Sitte ist, worüber der Geist hinaus ist.«88 Die Revolution ist für Hegel also nicht das einzige Fortschrittsmodell. Es lassen sich insgesamt deren drei in seinen Schriften unterscheiden, worauf aber hier nicht näher eingegangen werden kann 84 . Für den vorliegenden Zusammenhang ist dagegen interessant, daß und wie die Revolution bei Hegel aus der Dialektik des Geistes begriffen wird. In seiner Charakterisierung der Revolution finden sidi die wesentlichen Momente der Bewegung des Geistes. Damit wird bei Hegel an der Struktur der Revolution das Prinzip der Weltgeschichte selbst deutlich — daß nämlich »der Geist, indem er sich objektiviert und dieses sein Sein denkt, einerseits die Bestimmtheit seines Seins zerstört, andererseits das Allgemeine desselben erfaßt und dadurch seinem Prinzip eine neue Bestimmung gibt« 85 . Angesichts dieser Bindung der Revolution an den Geistbegriff gelangt Ritter zu seinem oft zitierten Urteil, es gebe »keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels«88. Daß die Revolution von Hegel aus der Dialektik des Geistes begriffen wird, bedeutet umgekehrt, daß für ihn Revolutionen nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie sich als fortschrittlich ausweisen können. Das, was sie vernichten, muß ein schon in sich Zerstörtes sein, insofern die alten Institutionen dem neuen Bewußtsein der Freiheit nicht mehr zu entsprechen vermögen. Und die Vernichtung der alten muß auf neue Institutionen abzielen, die mit diesem Bewußtsein übereinstimmen. Hegels 80

Ebd. 448. Ebd. " Ebd. 9, 45. 6S Ebd. 18, 276 f. 64 Vgl. M. R i e d e l , Fortschritt und Dialektik in Hegels Geschichtsphilosophie. In: ders., System und Geschichte (Frankfurt a. M. 1973) 60 f. 85 H e g e l . In: Sämtliche Werke, ed. G1 o c k n e r 11, 118 f. " J. R i t t e r , Hegel und die Französische Revolution (Frankfurt a. M. 1965) 18. 81

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Kriterien für die geschichtsphilosophische Rechtfertigung von Revolutionen kommen damit dem nahe, was auf Seiten der Marxisten als progressive

Gewalt

bezeichnet wird 6 7 . Besonders klar wird Hegels Argumentation an seinen zahlreichen Stellungnahmen zur Französischen Revolution, die er explizit als »ihrem Gehalte nach

...

welthistorisch« bezeichnet 6 8 . D i e neue »Kategorie des Geistes«, das »Unerhörte dieser Revolution«, liegt für Hegel darin, daß sie die Freiheit in den »droits de l'homme et du citoyen« als »natürliches Recht« verkündet und zum »Gedankenprinzip des Staates« erhoben hat 6 9 . D a m i t werde erstmals gefordert, den Staat auf den Menschen als solchen zu gründen — »weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist« 7 0 . »Die ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit erhebt sich auf den Thron der Welt, ohne daß irgendeine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte.« 7 1 Die welthistorische Bedeutung der Französischen Revolution bei Hegel läßt sich also mit J . R i t t e r in deren Anspruch erkennen, »die Rechtsform der Freiheit zu finden und das heißt eine Rechtsordnung auszubilden, die der Freiheit des Selbstseins angemessen ist und ihr gerecht wird« 7 4 . Mit den Idealen der Französischen Revolution war für Hegel also das als Forderung in der Geschichte aufgetreten, worin er selbst im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie das Ziel der Weltgeschichte erblickte. U n d

so scheint

die

Überlieferung plausibel, derzufolge er alljährlich am Jahrestag des Bastillesturmes mit erhobenem Glas der Revolution gedacht haben soll 7 3 . Das bedeutet aber nicht, daß Hegel

der

Französischen

Revolution

kritiklos

gegenübergestanden

wäre.

E r beschönigte den Terror keineswegs. I n seiner »Phänomenologie des Geistes« widmete er diesem Problem ein eigenes K a p i t e l : »Die absolute Freiheit und der Schrecken«. D o r t finden sich eindringliche Formulierungen, wie die, daß das Werk der Revolution »der T o d « sei, »und zwar ein Tod, der keinen innern U m f a n g und Erfüllung hat, . . . also der kälteste platteste T o d , ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers« 7 4 . Dieser T o d ist für Hegel »der reine Schrecken des Negativen, das nichts Positives, nichts Erfüllendes in ihm hat« 7 5 . Hegel bezieht sich dabei aber nicht auf Revolution im allgemeinen, sondern auf den besonderen Charakter der Französischen Revolution. D e r bedeutungslose S. P a p c k e, Progressive Gewalt. Studien zum sozialen Widerstandsredit (Frankfurt a. M. 1973) 24. 8 8 H e g e l . In: Sämtliche Werke, ed. G l o c k n e r 11, 563. 68 Ebd. 557. 70 H e g e l , Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed. J. H o f f m e i s t e r (Hamburg 4 1955) 180. 71 H e g e l , Phänomenologie des Geistes, ed. J. H o f f m e i s t e r (Hamburg '1952) 415. " J. R i t t e r , Hegel 27. 7S Ebd. 23. 74 H e g e l , Phänomenologie 418 f. 75 Ebd. 421. 67

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Tod ist für ihn ein notwendiges Produkt der Abstraktheit der allgemeinen Freiheit: »Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.«76 Wo die abstrakte Allgemeinheit zum Prinzip des Handelns gemacht wird, bedeutet sie zunächst die Negation des bestimmten Einzelnen und kann nicht unmittelbar in Positivität übergehen. »Sie haben nur allgemeine Gedanken haben können, eine abstrakte Idee, Gedanken dessen, wie es sein soll, — nicht die Weise der Ausführung angeben können.« 77 Im Rahmen dieser Kategorialität versucht Hegel auch, der spezifischen Ausprägung der Gewalt im Jakobinismus gerecht zu werden. »Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken«78, schreibt er und daß in dieser » T y r a n n e i . . . der Verdacht eine fürchterliche Gewalt« erhalten habe 79 . Hegel sieht den Jakobinischen Terror übrigens in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Kantischen Moralphilosophie, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden kann 80 . Für das hier interessierende Problem ist wesentlich, daß bei Hegel die aus dem Prinzip der absoluten Freiheit resultierende Negation des bestimmten Einzelnen nicht bloß unter dem Gesichtspunkt des Schreckens, sondern auch als notwendiges Moment in der Verwirklichung dieses Prinzips relevant wird. »Der bedeutungslose Tod, die unerfüllte Negativität des Selbsts, schlägt im innern Begriffe zur absoluten Positivität um.« 81 Damit gewinnt für Hegel nun der Schrecken des sinnlosen Todes geschichtliche Berechtigung, und so versucht er, selbst den Terror als geschichtlich notwendig nachzuweisen. Er geht darin wesentlich über Kant hinaus, der in seiner Geschichtsphilosophie das »Phänomen der Revolution« nicht als solches positiv interpretierte, sondern nur im Hinblick auf seine Bedeutung für die »Evolution einer naturrechtlichen Verfassung«. Es ist für Hegel nicht nötig, die Gewaltanwendung aus der geschichtsphilosophischen Rechtfertigung von Revolution auszuklammern, denn »das Recht des Weltgeistes geht über alle besonderen Berechtigungen«82. »Die Befreiung des Geistes, in der er zu sich selbst zu kommen und seine Wahrheit zu verwirklichen geht, und das Geschäft desselben ist das höchste und absolute Recht.«83 Dieses höchste Recht kann auch mit moralischen Argumenten nicht widerlegt werden, »denn die Weltgeschichte bewegt sich auf einem höheren Boden, als der ist, auf dem die Moralität ihre eigentliche Stätte hat« 84 .

' • H e g e l . In: Sämtliche Werke, ed. G l o c k n e r 2, 453. 77 Ebd. 19, 516. 78 Ebd. 11, 561. '» Ebd. 80 A. W i 1 d t, Hegels Kritik des Jakobinismus. In: Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, ed. O. N e g t (Frankfurt a. M. 1970) 265. 81 H e g e l , Phänomenologie 421. 81 H e g e l . In: Sämtliche Werke, ed. G l o c k n e r 11,69. 83 Ebd. 10, 432. 84 Ebd. 11, 105.

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Hier ist nun an Hegel die Frage zu richten, ob sich aus Äußerungen wie diesen Konsequenzen für die Praxis ergeben. Läßt sich aus der Geschiditsphilosophie für die Praxis eine Position gewinnen, in welcher die Moralität als Entscheidungsdimension überwunden ist? Das würde bedeuten, daß sich oppositionelle Gewaltanwendung nicht mehr nach moralischen Prinzipien zu verantworten hätte, sondern nach dem Prinzip des weltgeschichtlichen Fortschritts. Die Bewegung des Weltgeistes zu einer neuen Stufe seines Zu-sich-selbst-Kommens zu befördern, wäre damit nicht bloß das Kriterium für die geschichtsphilosophische Rechtfertigung revolutionärer Gewaltanwendung, sondern auch für deren praktische Legitimation. Eine solche Identifizierung geschichtsphilosophischer und praktischer Argumente entspricht aber durchaus nicht der Hegeischen Intention. Äußerungen wie die letztzitierte sollten gerade nicht der Praxis eine neue, weltgeschichtliche Orientierungsbasis eröffnen, sondern sollten vielmehr umgekehrt deutlich machen, daß die Handelnden nicht das Subjekt der Weltgeschichte sind. Die handelnden Subjekte sind bei Hegel eingebunden in den Sinn der Geschichte, der sich nicht in ihren Intentionen herstellt. Die Bewegung des Weltgeistes ist als List der Vernunft zu begreifen. Daher ist es nicht möglich, sich im Handeln gewissermaßen auf den Standpunkt des Weltgeistes zu stellen — diesem wird im Gegenteil die Tugend der einzelnen auf der Schlachtbank der Geschichte zum Opfer gebracht. Das bedeutet andererseits, daß der geschichtsphilosophische Versuch, der Bewegung des Weltgeistes in ihren notwendigen Momenten nachzugehen, nichts zur Lösung moralisch-praktischer Probleme beitragen kann. Hegel hat ausdrücklich die Ableitung eines Sollens aus der Philosophie zurückgewiesen, und zwar generell, nicht nur im Hinblick auf die Geschichtsphilosophie. So heißt es in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie: »Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat.« 85 In diesem Zusammenhang fällt der berühmte Ausdruck von der »Eule der Minerva«. Damit ist allerdings die sehr komplexe Problematik des Verhältnisses von Theorie und Praxis bei Hegel nicht erschöpft. Für den vorliegenden Zusammenhang ist aber interessant, daß dieser Punkt der Hegeischen Argumentation für Marx zum Ansatzpunkt seiner Philosophiekritik wurde, wie sie in der Elften Feuerbachthese zum Ausdruck kommt. Auch Habermas setzt mit seiner Hegelkritik hier ein, insbesondere mit seiner Kritik an Hegels Verhältnis zur Revolution: »Hegel will die Revolutionierung der Wirklichkeit ohne Revolutionäre... Erst nachdem der Geist die Wirklichkeit praktisch revolutioniert, die Vernunft wirklich gemacht hat, kann Philosophie zum Bewußtsein der revolutionierten, der vernünftig gewordenen Welt kommen. Eine Kommunikation zwischen dem Philosophen, der 85

H e g e l , Phänomenologie 17.

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die Vernunft in der Gesdiidite und den Stand ihrer Verwirklichung erkennt, einerseits und den politisch handelnden Subjekten auf der anderen Seite kann es schlechterdings nicht geben. Hegel macht die Revolution zum Herzstück seiner Philosophie, um die Philosophie davor zu bewahren, zum Zuhälter der Revolution zu werden.« 86 Ohne den kritischen Impetus von Habermas zu teilen, urteilt auch Spaemann, daß die Geschichtsphilosophie Hegels, und nicht nur Hegels, als rein theoretisch aufzufassen sei, weil sie die historischen Begebenheiten jeweils nur post festum interpretieren könne. Er schreibt in seiner Untersuchung über »Moral und Gewalt«: »Kant und Hegel waren aber mit der gesamten christlichen Tradition der Überzeugung, daß die Lehre von der Vorsehung, beziehungsweise die Geschichtsphilosophie nicht als Handlungsorientierung dienen könne, weil sie wesentlich retrospektiv ist.«87 Für Spaemann ist daher auch »die teleologische Geschichtsbetrachtung . . . theoretischer, nicht praktischer Natur« 8 8 . Dagegen erhebt sich aber die Frage, ob die Auseinandersetzung mit Handlungen beziehungsweise Handlungskomplexen, auch wenn diese bereits vergangen sind, eine bloß theoretische sein kann. Es läßt sich doch zeigen, daß jeder Bezug auf die Geschichte, sei es ihm Rahmen der historischen Wissenschaft, sei es im Rahmen der geschichtsphilosophischen Fragestellung, auch wenn es nicht explizit geschieht, seinen Ausgangspunkt bei dem Problem der Praxis nimmt, sich in der jeweils gegenwärtigen Situation (als einer geschichtlichen) zurechtfinden zu müssen. In theoretischer Intention läßt sich Handeln als solches, und damit auch vergangenes Handeln, gar nicht erfassen. A. Danto erläutert dies sehr einsichtig an der Fiktion des letzten Historikers, womit ein Historiker am Ende der Geschichte, genauer: nach abgeschlossener Geschichte, gemeint ist. Da dieser selbst in keiner praktischen Situation mehr steht (sonst wäre die Geschichte ja noch nicht abgeschlossen), kann er auch mit vergangenen praktischen Situationen keinen Sinn mehr verbinden. Sowohl Kant als auch Hegel wiesen darauf hin, daß ein rein theoretischer Bezug auf Handlungen, und damit auf Geschichte, nicht möglich ist. In diesem Sinne äußerte Kant, wie bereits zitiert wurde, daß die Geschichtsphilosophie selbst Wirkungen auf die Geschichte haben könne: »Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur . . . zu bearbeiten, muß als möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden.«811 Mit der Zurückweisung der These, daß die Geschichtsphilosophie theoretische Erkenntnis anbiete, ist aber noch keine Aussage darüber gemacht, auf welche Weise sie mit Praxis verbunden ist. Und damit stellt sich erneut die Frage, ob Geschichtsphilosophie handlungsanleitend sein könne, beziehungsweise für den vorliegenden Zusammenhang, ob sich revolutionäre Gegengewalt geschichtsphilosophisch legi-

80

H a b e r m a s , Theorie und Praxis 106. S p a e m a n n , Moral und Gewalt 231. 88 Ebd. 230. " • K a n t , Idee 47. 87

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timieren läßt. Diese Frage führt unmittelbar in die Diskussion des Marxismus als einer klaren Absage gegenüber einer Trennung von Geschichtsphilosophie und Praxis. Es ist aber hier nicht nötig, auf die im einzelnen mitunter recht beträchtlichen Differenzen zwischen den verschiedenen Vertretern des Marxismus in bezug auf das Gewaltproblem einzugehen 90 . Wichtig sind vielmehr die grundlegenden, bei allen Differenzen gemeinsamen Überlegungen. Der Begriff der Freiheit steht auch bei Marx im Zentrum der Geschichtsphilosophie. Das Ziel der Weltgeschichte ist »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«®1. Die Verwirklichung einer solchen Assoziation ist als die Emanzipation der Gattung gedacht, die im Lauf der Geschichte durch die jeweils neue Auflehnung der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker erbracht werden muß. Dieser Befreiungskampf ist bekanntlich ein Klassenkampf, weil er an ökonomische Bedingungen geknüpft ist. Die zentrale These der Marxschen Geschichtsphilosophie ist die, daß die jeweilige Auseinandersetzung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen den Fortschritt konstituiert. Eine vorangetriebene Entfaltung der Produktivkräfte läßt einerseits bisherige Institutionalisierungen als für ihre weitere Entwicklung hemmend erscheinen und macht andererseits die Neuorganisation der Produktionsverhältnisse möglich. Die entfalteten Produktivkräfte übernehmen also in der Marxschen Geschichtsphilosophie die Funktion, die bei Hegel den »geänderten Kategorien«, in denen der Geist sich »wahrhafter« und »tiefer« zu erfassen vermag, zukam. Sie sind die (ökonomische) Bedingung für eine neue Phase der Emanzipation, denn sie ermöglichen den Kampf gegen jene Klasse, deren Herrschaft auf den etablierten (und nunmehr überholten) Produktionsverhältnissen basiert. D a der Fortschritt in der Geschichte bei Marx durch den Klassenkampf vermittelt ist, kommt auch der Gewaltanwendung eine eminente Bedeutung für diesen Fortschritt zu. Der Klassenkampf impliziert in den meisten Fällen Gewalt, weil die jeweils herrschende Klasse ihre Macht nicht freiwillig aufgibt. Marx und Engels konzedieren noch die prinzipielle Möglichkeit einer Veränderung der Herrschaftsverhältnisse durch Wahlen 92 . Lenin hält dagegen Gewaltanwendung für ein unausweichliches Mittel des Klassenkampfes 9 3 . Doch auch für Marx ist die Gewalt »der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht« 8 4 . Oppositionelle Gewaltanwendung ist damit ein entscheidender, wenn nicht notwendiger, Träger des geschichtlichen Fortschritts. Sie ist so für die marxistische Geschichtsphilosophie vielleicht noch eindeutiger als für Hegel geschichtlich »notwendig und gerecht«. 80

01 82 88 84

Vgl. K . R ö t t g e r s , Andeutungen zu einer Geschichte des Redens über die Gewalt. In : Gewaltverhältnisse und die Ohnmadit der Kritik, ed. O. R a m m s t e d t (Frankfurt a. M. 1974) 157. M a r x - E n g e l s , Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW 4, 482. MEW 22, 234; 18, 160; 34, 498. W. I. L e n i n , Sämtliche Werke (Berlin 1955 ff.) 31, 344. MEW 23, 797.

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Diese gesdiichtsphilosophischen Überlegungen stehen nun bei Marx in unmittelbarem Bezug zur Praxis. So werden zunächst die Kategorien der Geschichtsphilosophie zur Analyse der Gegenwart herangezogen: »Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur noch die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind.«95 Damit erweist sich die Klassenherrschaft der Bourgeoisie als überlebt und die ökonomische Voraussetzung der Emanzipation als gegeben. Die Konsequenz sind bestimmte Forderungen an die Praxis: »Die Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei« 98 , mit dem Ziel, die bürgerliche Gesellschaft im Klassenkampf zu zerschlagen. An diesem Punkt geht die Marxsche Geschichtsphilosophie unmittelbar in praxisbezogene Überlegungen über. Angesichts der »Geschichte aller bisherigen Gesellschaft« erweist sich die Organisation der Proletarier zum Kampf als notwendig und legitim. Das läßt sich zum Beispiel am Argumentationsgang des Kommunistischen Manifests belegen. Das Recht auf Revolution ist »das einzige wirklich >historische RechtGewalt< schlechthin reden, ohne die Bedingungen zu analysieren, die die reaktionäre von der revolutionären Gewalt unterscheiden, heißt ein Spießbürger sein, der sich von der Revolution lossagt.« 1 0 4 Dieser Überlegung entsprach schon bei M a r x die Metapher von der Gewalt als •• MEW 4, 337. " » L e n i n , Sämtliche Werke 25, 412. 101 Kollektiv Rote Armee Fraktion, Uber den bewaffneten Kampf in Westeuropa (Berlin o. J.). 108 1. F e t s c h e r , Zum Problem der Ethik im Lichte der Marxschen Geschichtstheorie. In: Probleme der Ethik, ed. G. G. G r a u (Freiburg-München 1972) 15. 105 L e n i n, Sämtliche Werke 31, 281. 104 Ebd. 28, 285.

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»Geburtshelfer«, und auch für Engels ist es »klar, daß die Gewalt nur das Mittel, der ökonomische Vorteil dagegen der Zweck ist« 1 0 5 . A u d i f ü r Lukács ist die Gewaltanwendung der proletarischen Klasse darin legitimiert, daß sie »im Dienste des Menschen und seiner Entfaltung als Menschen« steht 106 . D e m entspricht in der gegenwärtigen Diskussion der Begriff der »instrumenteilen« Gewalt. So fragt Papcke, »ob nidit Gewalt als Werkzeug des Sozialwandels eine eigenständige Vernünftigkeit besitzt« 1 0 7 . Die Legitimation von Gewalt aus der Geschichtsphilosophie erfolgt also nach dem Schema vom Zweck, der das Mittel »heiligt«. Demgegenüber ist aber zu bedenken, daß das Mittel, das hier in Frage steht, eben nicht bloß ein Instrument ist, das höchstens auf seine technische Adäquatheit hin zu überprüfen wäre. Es ist selbst Handlung und damit legitimationsbedürftig. Darin gerade liegt die Pointe des Legitimationsbegriffs: daß jede Handlung für sich zu reditfertigen ist. Alle Versuche, die Legitimation über die Geschichtsphilosophie zu leisten, beziehen sich aber auf Handlungen gewissermaßen von außen, nicht um ihrer selbst willen. D a s heißt, daß diese Versuche schon im Ansatz die Aufgabe der Legitimation verfehlen. Eine Rechtfertigung des Handelns kann nicht teleologisch sein — »auch und gerade dann nicht, wenn die Zielsetzung eine moralische ist« 1 0 8 . Die Auseinandersetzung mit Handlungen um ihrer selbst willen ist nun die genuine A u f g a b e moralischer Reflexion. D a s heißt, die Moralität ist die eigentliche und einzige Basis zur Legitimation praktischer Entscheidungen. Es kann daher für diese Legitimation kein der Moral übergeordneter Standpunkt eingenommen werden. D a s bedeutet philosophiegeschichtlich, daß durch den Marxschen Versuch, die Legitimationsbasis für Handlungen aus der Geschichtsphilosophie zu gewinnen, Kants moralphilosophische Reflexionen zum Beurteilungsprinzip von Handlungen nicht überholt sind. So kann auch die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Legitimationsfragen nicht an den Differenzierungen K a n t s vorbeigehen. Die zeitgenössische Diskussion der praktischen Philosophie ist durch eine Wiederaufnahme und Weiterführung Kantischer Motive gekennzeichnet 10 ', und auch für das besondere hier thematisierte Problem ergeben sich im Rückgriff auf K a n t wesentliche Unterscheidungen. D a s heißt nun aber nicht, daß die Relevanz der Geschichtsphilosophie für die Praxis neuerlich in Abrede gestellt werden soll. Die Geschichtsphilosophie kann nur nicht unmittelbar, unter Umgehung der moralischen Problematik, Praxis legitimieMEGA 1,163. 'G. L u k a c s, Geschichte und Klassenbewußtsein (Amsterdam 1967) 248. " " P a p c k e , Progressive Gewalt 14. 108 S p a e m a n n, Moral und Gewalt 232. io« Vgl K. O. A p e 1, Das Apriori der Kommunikationsgemeinsdiaft und die Grundlagen der Ethik. In: ders., Transformation der Philosophie 2 (Frankfurt a. M. 1973), 358 ff.; H a b e r m a s , Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (Frankfurt a. M. 1973), darin besonders die Kapitel »Die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen« 140 ff. und »Das Modell der Unterdrückung verallgemeinerungsfähiger Interessen« 153 ff.

105 10

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ren. Sie kann aber andererseits der Verständigung über das in dieser Gesollte dienen. Ein auf dem Fortschrittsprinzip beruhendes Konzept der Weltgeschichte ist damit in seiner Funktion für die Praxis dem naturrechtlich verstandenen Begriff des Menschen analog. Es unterscheidet sich von diesem nur darin, daß es den Zielbegriff nicht ungeschichtlich, das heißt unabhängig von seinen Realisationsbedingungen, faßt. Diese Überlegung ist auch auf den Marxismus und trotz dessen Kritik am klassischen Naturrecht anwendbar, weil auch dem Historischen Materialismus ein Begriff des Menschen, wie er sein soll, zugrundeliegt, dessen Verwirklichung sich in der Gattungsgeschichte je und je, entsprechend den ökonomischen Voraussetzungen, vollzieht. Dies alles kann hier nur angedeutet werden. Für den gegebenen Zusammenhang ist wesentlich, daß der geschichtsphilosophische Begriff des Gesollten »immer nur eine Idee« sein kann, »deren Ausführung auf die Bedingung der Zusammenstimmung ihrer Mittel mit der Moralität eingeschränkt ist«110. 110

K a n t, Streit der Fakultäten 360.

DAS P R O B L E M D E R G E W A L T B E I K A R L U N D IM

MARX

MARXISMUS*

V o n DOMENICO SETTEMBRINI

I. Das Problem, wie man es erreichen könne, daß für immer die Anwendung von Gewalt und Macht aus den zwischenmenschlichen Beziehungen verbannt werde, nimmt im Denken von Marx und Engels, mithin im Marxismus, einen zentralen Platz ein. Diesbezüglich kann man sogar sagen, daß der Marxismus von seinen allerersten Anfängen an eine enge Verwandtschaft mit dem Anarchismus aufweist, insofern es das letzte Ziel beider Bewegungen ist, jeglicher Form der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen ein Ende zu setzen, indem man eine Gemeinschaft errichtet, in der sidi die Ziele der Allgemeinheit und des Individuums, a l l e r Individuen, so sehr gleichen, daß eine spontane Harmonie entsteht. Bei der Ermittlung der natürlichen und geschichtlichen Ursachen für die Entfesselung der Gewalt zwischen den Individuen und für die Entstehung der Staatsgewalt — ein Problem, das zuerst zu lösen ist, um dann bewußt die Folgen durch die Beseitigung ihrer Ursachen bekämpfen zu können — unterscheiden sich allerdings die marxistische und die anarchistische Lehre grundlegend, trotz der gegenseitigen Beeinflussung, die sie im Lauf der Zeit erfuhren. Dieser Unterschied, aus dem logischerweise eine entgegengesetzte Meinung darüber folgt, wie man konkret das gemeinsame Ziel erreichen kann — ob durch eine Revolution, und durch was für eine; ob durch eine Organisation, und durch was für eine; ob und durch was für einen Staatstyp in der Zeit zwischen dem Sieg über den gemeinsamen Gegner und der Fülle der Zeiten — , dieser Unterschied hat auf die Geschichte der beiden Bewegungen, die gekennzeichnet ist durch eine unaufhebbare Feindseligkeit, welche sich nur in dem Augenblick mildert, da der kapitalistischen und liberaldemokratischen Gesellschaftsordnung der Gnadenstoß gegeben werden soll, weit stärker gewirkt als die letztgenannte Gemeinsamkeit. Der Unterschied liegt, auf das Wesentliche reduziert, darin, wie das Verhältnis von Trennung in Klassen zu Gewalt und Macht gesehen wird. Marxismus und Anarchismus wollen beide sowohl die Klassen als auch Gewalt und Macht abschaffen. Der Marxismus aber, der zuerst die Klassentrennung abschaffen will, weil aus ihr Gewalt und Macht entspringen, verlangt, daß sich der Hauptangriff gegen * Übersetzung aus dem Italienischen von Stefan Malier.

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die kapitalistische Bourgeoisie richten muß, und zögert nicht, zu diesem Zwecke die revolutionäre Bewegung zuerst als Gegengewalt zu gründen und sie dann, während einer ganzen geschichtlichen Phase, die notwendig ist, um die Bourgeoisie zu enteignen und die Reste ihrer Herrschaft aus dem Bewußtsein der Menschen zu tilgen, als richtiggehende Staatsgewalt einzusetzen: als Diktatur des Proletariats. Der Anarchismus stimmt zwar zu, daß die Trennung in Klassen, wenn sie einmal eingetreten ist, sich verewige, indem die herrschende Klasse das Monopol der Staatsgewalt besitze — daher auch die volle Übereinstimmung mit dem Marxismus über die Notwendigkeit der Anwendung revolutionärer Gewalt zur Beseitigung der herrschenden Klasse —, er ist aber der Meinung, daß der Ursprung des Privatbesitzes in der Stärke liege, und nicht die Stärke eine Folge des Privatbesitzes sei, insofern es Stärke braucht, wenn man etwas, das allen gehört, in Eigenbesitz überführen, und noch mehr, wenn man das, was anderen gehört, ihnen wegnehmen will, während der Besitz allein der Stärke gegenüber machtlos ist. Beweis dafür sei, daß auch der Marxismus glaubt, zur Enteignung der Kapitalisten genüge es, ihnen die Kraft zu nehmen, mit der sie die Früchte ihres usurpierten Besitzes verteidigen. Ohne jene Kraft werde es ihnen unmöglich sein, ihr Eigentum zu behalten, welches also etwas von der Stärke Verschiedenes, ja von ihr Abhängiges ist. Doch muß die enteignende Kraft, so meinen die Anarchisten weiter, die anonyme und spontane Gewalt der sich erhebenden Massen sein und sich nach Erfüllung ihrer Aufgabe unverzüglich auflösen. Sonst würde man sich in einem Teufelskreis bewegen: Die Umsetzung der revolutionären Energien in eine organisierte Kraft und dann in eine Staatsgewalt mit dem Ziel der Expropriation der Expropriateure und der Beseitigung der Gewalt des Menschen über den Menschen würde in eine neue Macht münden, die viel größer wäre, weil sie außer einer politischen auch eine ökonomische sein würde, und viel schrecklicher, weil durch ihre revolutionäre Rechtfertigung grenzenlos, und der Besitz der Macht würde die revolutionären Führer zu einer neuen Klasse von Besitzenden machen, die viel schlimmer wäre als die alte, weil sie alles, auch Leib und Seele der Untergebenen, besitzen würde. In dieser Lehre, so anziehend und bestätigt durch die folgenden geschichtlichen Ereignisse sie auch sein mag, fehlt aber eine Erklärung der menschlichen Aggressivität und daher auch ein überzeugender Grund für ihr vorausgesehenes und angekündigtes Verschwinden. Mehr noch. Entweder erklärt sie das erste Auftreten der Gewalt durch die Absicht, sich Besitz zu verschaffen; dann scheint sie nichts mehr vom Marxismus zu unterscheiden. Oder sie versteht die Aggressivität als eine ganz unabhängige Größe; dann löst sich die den Anarchisten und Marxisten gemeinsame Hoffnung auf eine künftige vollkommene Harmonie unter den Menschen auf. In der Tat, wenn es die menschliche Aggressivität immer geben wird, weil sie natürlichen und nicht gesellschaftlichen Ursprungs ist, dann wird es auch immer Fälle von Unterdrückung des Menschen durch den Menschen geben, und immer wird eine organisierte Gewalt notwendig sein, wenn auch eine den Gesetzen unterworfene und demokratisch kontrollierte ( = Macht des Rechtsstaates), um die

DAS PROBLEM DER G E V A L T BEI MARX U N D IM MARXISMUS

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einzelnen vor der möglichen Gewalt und Unterdrückung durch ihresgleichen zu schützen. Es geschieht also in der Absicht, der allgemeinen Hoffnung auf eine zukünftige in Frieden und Zusammenarbeit lebende Menschheit einen »wissenschaftlichen« Grund zu geben, daß der Marxismus für den Einbruch der Aggressivität eine historische und damit abwendbare Ursache sucht, womit er sich aber in eine dem Anarchismus, von dem er gleichwohl herkommt, entgegengesetzte Lehre verwandelt. II. Die Frage nach dem Ursprung der Gewalt des Menschen über den Menschen, die sich damit für den Marxismus stellt, ist schließlich nichts anderes als die Frage nach dem Ursprung des Bösen. Hier gab es in der abendländischen Tradition zwei Antworten — und auf theoretischem Wege gibt es wahrscheinlich nicht mehr —: die christliche und die naturwissenschaftliche. Die christliche Erklärung des Ursprungs der Gewalt, und mithin der Notwendigkeit der Macht, bietet die Lehre von der Erbsünde. Logisch gesehen ist sie eine petitio principii, die auf einen Zirkelschluß hinausläuft. Auf emotionaler und folglich auch auf ideologischer Ebene hat sie aber den Vorzug, daß sie offen ist für die Hoffnung oder Gewißheit einer vollkommenen Erlösung, sei es auch erst in einer überweltlichen Wirklichkeit. Die Wissenschaft, die das Böse, das der Mensch dem Menschen zufügt, aus der menschlichen Natur selbst und aus ihrer tierischen Herkunft erklärt, schließt zwar nicht aus, daß man der anarchischen, leidenschaftlichen Gewalt der Individuen durch konkrete Aktionen schon jetzt eine Grenze setzen könne, sie schließt auch nicht den Erfolg dieser Aktionen aus, sie bestreitet aber, daß man durch die vorsichtige Gewalt des Staates jemals die Wurzel selbst ausreißen könne, aus der die Gewalt entspringt. Dadurch wird die Staatsgewalt zu einer dauernden Bedingung für ein geselliges Leben der Menschen. Obwohl Marx eine Art Galilei der Wissenschaft von der Moral zu sein behauptet, steht er in Wirklichkeit dem ersten Gedankengang, dem christlichen, viel näher als dem der Wissenschaft, insofern er eine totale Ausrottung des Bösen erstrebt. Er denkt hier übrigens ähnlich wie die Anarchisten. Diese Position wird nur durch die Polemik gegen das Christentum überdeckt, das er als »Opium für das Volk« definiert, weil es die Menschen über das Böse und die Unterdrückung mit der Hoffnung auf ein jenseitiges Leben hinwegtröstet und sie dadurch verleitet, das Böse auf der Welt resignierend zu ertragen, während es nach Marx gerade und nur auf dieser Welt mittels der Wissenschaft überwunden werden könnte. Nun ist es freilich klar, daß es sich hier um völlig verschiedenartige »Übel« handelt. Die Wissenschaft befreit den Menschen immer nur von einigen Übeln, nie von dem Bösen. Und sie erzeugt selber neue Übel, die manchmal unvergleichlich kleiner sind, so daß es sich doch auszahlt, manchmal aber auch eindeutig größer sind. Daraus folgt ein ständiger Kampf, eine dauernde Gefahr, sich ins Schach

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zu begeben. Wollte man also verlangen, die Medizin sollte imstande sein, den Menschen so vollkommen von den Krankheiten zu befreien, daß er gar nicht mehr die Tröstung des Priesters angesichts des geheimnisvollen und unabwendbaren Ereignisses des Todes braucht, so würde man die Medizin zu einer noch wundertätigeren Religion als das Christentum machen, weil, was dieses für das Jenseits verspricht, die Wissenschaft auf dieser Welt leisten müßte. Gegenüber der wissenschaftlichen Tradition, wie sie vor allem Machiavelli und Hobbes vertreten, die die Grundlagen der christlichen Gesellschaftslehre untergraben und an ihre Stelle eine Gesellschaftsphysik gestellt hatten, befindet sich Marx allerdings in einer vorteilhaften Lage, weil er als Revolutionär ausdrücklich die radikal pessimistischen Schlußfolgerungen dieser wissenschaftlichen Tradition ablehnt. Zur Zeit Machiavellis und Hobbes' ließen nämlich die Naturwissenschaft und die Organisation der Wirtschaft noch keine klare Voraussicht zu, daß es möglich sein werde, die geradezu tierische Armut zu überwinden, in der die übergroße Mehrheit der Menschen zu leben gezwungen war — man vergesse allerdings nicht Bacons Nova Atlantis, die eine Vorwegnahme, wenn nicht gerade des wissenschaftlichen Kommunismus, so doch der wissenschaftlich-technokratischen Gesellschaft ist. In der Armut, die für das Christentum eine Folge der Erbsünde war — »Im Schweiße deines Angesichtes wirst du dein Brot essen« —, hatten Machiavelli und Hobbes zwar nicht die einzige, auch nicht die grundlegende, aber doch eine der unaufhebbaren Ursachen dafür gesehen, daß anarchische Gewalt zwischen den Individuen herrsche, wo es keinen Staat gibt, und zwischen den Staaten auf dem internationalen Kampfplatz. Zur Zeit der ersten industriellen Revolution lassen Wissenschaft und Wirtschaft die Überwindung der Armut voraussehen, wenigstens in ihren abstoßendsten und unmenschlichsten Formen. Das erlaubt es Marx, indem er die Armut als die einzig veränderbare Größe im Prozeß der Entfesselung der Gewalt zwischen den Menschen hinstellt und die Hoffnung auf ihre Überwindung weit über jedes vernünftige Maß ausdehnt, den Sozialismus, also die Hoffnung auf das Paradies auf Erden, aus einer Utopie, einem religiösen Traum, in eine Wissenschaft zu verwandeln, ihm also eine empirisch-rationale Gewißheit zu verleihen. Ein erstaunliches und, wenn man es in seiner Gesamtheit betrachtet, illusorisches Unterfangen — dennoch wissenschaftlich, und konkret realisierbar, ja weitgehend realisiert durch den Kapitalismus, wenn man einschränkend nur den einen Aspekt sieht, nämlich das Versprechen eines leichteren Lebens in mehr Wohlstand für die breiten Massen. III. Die ganze Marxsche Lehre von der Gewalt und Macht kreist also um die Armut, ihren Ursprung und ihre Überwindung. Um aber zu glauben, durch die Überwindung der Armut werde automatisch die Aggressivität in den zwischenmenschlichen Beziehungen verschwinden, muß man die Armut von der menschlichen

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Natur, ja in einem gewissen Sinne von der Natur überhaupt ablösen, muß man ihr den Charakter eines Strukturelements der Beziehung Mensch—Natur abstreiten und sie zu einem einfachen historischen Zwischenfall im Verlauf dieser Beziehung reduzieren, der nur eine Zeitlang dauert und wegen seiner Folgen sogar willkommen ist. Man muß, mit anderen Worten, entweder ausschließen, daß die Bedürfnisse des Mensdien von Natur aus unbestimmt und daher unbegrenzt sind, indem man sich vorstellt, daß man die ungestüme Mitgift der Natur verwandeln und ein für allemal eine Reihe spezifischer Bedürfnisse, sei es auch auf höchstem Niveau, festsetzen könne; oder ausschließen, daß die Natur selbst eine Grenze ihrer Fruchtbarmachung hat, jenseits welcher ihr Gleichgewicht beeinträchtigt und zerstört würde. Der Mangel, die Armut entsteht nach Marx aus der Weigerung der Natur, die Bedürfnisse des Mensdien zu befriedigen, sobald sie über das einfache animalische Überleben hinausgehen. Solange die Menschen mit dem Überleben zufrieden sind, zeigt die Natur keinen Mangel, und die vollkommene Gesellschaft, das ist der primitive Kommunismus, beruhend auf der völligen Gleichsetzung des Individuums mit der Gemeinschaft, könnte, so gesehen, ewig andauern; so wie das Paradies, wenn der Mensch nicht gesündigt hätte. Es wäre ein Zustand des Friedens und der Harmonie, wie er der tiefsten Natur des Menschen entspricht, dessen >Gattungswesen< für Marx gerade in der Geselligkeit besteht. Und wäre dennoch ein Zustand, in dem, würde er unverändert fortdauern, die eigentlich menschlichen Möglichkeiten des Tieres Mensch als Keim unentfaltet liegen bleiben würden; so wie, hätte sich der Mensch mit dem Paradies zufriedengegeben, wo es keine Not und keinen Schmerz gab, die Möglichkeit des Menschen, Gott gleich zu sein, keinen Ausdruck gefunden hätte, jene Freiheit der Entscheidung, um deretwillen er das Ebenbild und Gleichnis des Schöpfers war und die er nur verwirklichen konnte, indem er tatsächlich vom Baum der Erkenntnis aß. Und wie aus der Sünde die Not entsteht, aus der N o t die Mühsal, die Arbeit, der Kampf ums Überleben und um die Überwindung der Not in einem Prozeß von Strafe und Erlösung, so hat nach Marx der Wunsch, sich von der N o t zu befreien, der in einigen entsteht, das zweifache Ergebnis, daß einerseits die ursprüngliche Solidarität zerbricht, sich der Egoismus entfesselt — das ist die Vertreibung aus dem Paradies — und andererseits der Wille zum Kampf gegen die N o t sich erhebt, auf dem Weg über den Privatbesitz und die gewinnbringende Produktion , — das ist Strafe und gleichzeitig Anfang und Unterpfand der Erlösung. Angesichts der ursprünglichen, vollkommen solidarischen und von Egoismus freien menschlichen Natur erscheint so der Wunsch, sich aus der Armut zu erheben, wie die Preisgabe jener Unschuld, so wie verglichen damit der Wunsch Adams nach Freiheit und Erkenntnis als Auflehnung gegen Gott erscheint. Denn zu einer Zeit, da es eine Produktion praktisch noch nicht gibt oder sie sich nur auf das Sammeln der fürs Überleben gerade ausreichenden Früchte der Natur beschränkt, da ist es, um aufzusteigen, erforderlich, daß einige die gesellschaftliche Solidarität durchbrechen, sich möglichst viel aneignen, um, zunächst auf Kosten der anderen,

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ein Minimum an Muße zu erlangen, die notwendig ist, um nachzudenken, Erfindungen zu machen und so fortschreiten zu können. Daher die Aufspaltung der Gemeinschaft in eine Minderheit von Besitzenden und eine Mehrheit von Nichtbesitzern. Daher der Egoismus, der, entfesselt durch den Gegensatz der Klassen, auch die Beziehungen der Menschen innerhalb der Klassen durchdringt. Daher der Mord, weil die ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem individuellen und kollektiven Wollen, zwischen dem Willen des Menschen und der Natur verlorengegangen ist, so wie der Fall Kains auf die zerstörte Ubereinstimmung zwischen dem Willen des Menschen und dem Willen Gottes folgt. Daher kurzum die Verderbtheit des Menschen, der aus einem »guten« und »geselligen« zu einem scheinbar von Natur aus »bösen« und »asozialen« Wesen wird. Allerdings handelt es sich dabei, auch hier vollkommen parallel zur christlichen Deutung der Anfänge der Gesellschaft, um eine zweite Natur — die sündhafte, lüsterne, raffgierige Natur —, die die erste überlagert, ohne sie auszulöschen, ja ohne sie zu beflecken und nur verhindert, daß sie in Erscheinung tritt während einer ganzen Geschichtsepoche, welche der Erlösung oder der Revolution vorausgeht; die dann fortfährt, sie zu hemmen — nach der Erlösung bis ans Ende dieser Welt oder nach der Revolution bis zum Ende der Übergangszeit —, um schließlich in Nichts aufgelöst zu werden, wenn die erste Natur siegreich strahlend wiederkehren wird: im Reich der Heiligen, das eine Wiederherstellung und Vervollkommnung des irdischen Paradieses ist, oder im reifen Kommunismus, der eine Wiederherstellung und Vervollkommnung des primitiven Kommunismus ist. In beiden Fällen bleibt der vorübergehende Charakter des Egoismus und der Bosheit ein Geheimnis des Glaubens. Denn entweder gehören Egoismus und Bosheit substantiell zur menschlichen Natur, dann können sie sich zwar in ihren Äußerungen verändern, indem einige Äußerungen sich mildern und verschwinden und andersgeartete auftauchen, aber sie können nie ausgelösdit werden. Gehören sie nicht substantiell zur menschlichen Natur, dann versteht man nicht, woher und warum sie gekommen sind. Auch beim Problem der Macht, zu dem wir nun kommen, kann man den Parallelismus weiterverfolgen, wenn man eine Phasenverschiebung berücksichtigt und die Haltung des Marxismus zur Macht in der kapitalistischen Epodie mit jener des Christentums zu der Zeit vergleicht, als das römische Reich der neuen Religion noch radikal feindselig gegenüberstand, beziehungsweise den Marxismus während der Diktatur des Proletariats mit dem Christentum nach Konstantin. Daraus folgt, daß der reife Kommunismus keiner der irdischen Phasen im Christentum entspricht, vielmehr dem Jenseits oder Paradies, deren sämtliche Merkmale er aufweist, von der absoluten Vollkommenheit bis zur vollkommenen Unwahrscheinlichkeit; ist er doch eine Projektion des ununterdrückbaren menschlichen Ruhebedürfnisses und gleichzeitig ideologische Mystifikation mit dem Ziel, massive und recht irdische Interessen, oder Klasseninteressen, zuzudecken. Der Macht als organisierter Gewalt zur Kontrolle der Egoismen der Einzelnen scheint also jedenfalls, von Marxisten wie Christen, eine positive Funktion zuer-

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kannt zu werden. Denn sie ist in beiden Theophanien, wie man nicht vergessen darf, nicht die Ursache der entfesselten Egoismen, sondern die Folge und gleichzeitig der Versuch, dem Egoismus eine Grenze zu setzen. Aber die aus dieser Situation entstandene Macht, ob es sich nun um das heidnische [römische] Reich oder um den Kapitalismus handelt, neigt dazu, sidi mit dieser Situation gleichzusetzen und sie zu verewigen. Die heidnische Macht verfolgt und leugnet die Religion der Bruderliebe und des Heils, die kapitalistische Macht wird sogar zum Instrument der ausbeuterischen Minderheit gegen die Mehrheit der Ausgebeuteten. Eine so beschaffene Macht muß bekämpft werden, weil sie ein Hindernis auf dem Weg zur Befreiung ist — angefangen vom Heidentum bis zu der auf dem freien Markt und der Konkurrenz der einzelnen Egoismen aufgebauten Gesellschaft. Hier aber tritt nun ein klarer Unterschied zwischen den beiden Heilslehren zutage, der erste und wichtigste. Denn wo das Christentum das Kommen des Reiches dem wunderbaren Eingriff Gottes überläßt und seine Gläubigen verpflichtet, die Verfolgungen zu ertragen, der Gewalt die Gewaltlosigkeit entgegenzusetzen und sogar die andere Wange hinzuhalten, da ruft der Marxismus aufgrund seiner Wissenschaftlichkeit und radikalen Diesseitigkeit das Proletariat auf, die Stadt der Zukunft selber zu bauen, ohne auf die Hilfe übernatürlicher Verbündeter zu warten, die es gar nicht gibt, und das kapitalistische System, das sich zwischen die Wünsche des Proletariats und das irdische Neue Jerusalem schiebt, mit Gewalt zu stürzen. In der Praxis freilich, wenn man die Dinge aus der Nähe betrachtet, verschwindet die Differenz zwar nicht, wird aber doch viel kleiner. Die Gewaltlosigkeit, die die Christen mit der Ablehnung des Militärdienstes ausübten, erwies sich angesichts des Druckes der Barbaren auf die Grenzen als eine aktive, für das Reich verderbliche Einmischung, weit ausschlaggebender sogar als die Haltung der klassischen Sozialdemokratien, die für die Vitalität des Kapitalismus ein Vorteil war, weil sie die Überwindung von Schwierigkeiten im Innern des Systems förderte. Diese verwirrende Tatsache, die den Protagonisten nicht völlig entgehen konnte, wurde mit dem Glauben an den Untergang des Kapitalismus abgetan. Was letztlich nichts anderes ist als die Zuflucht der Christen zur göttlichen Vorsehung, indem die Gesetze der Wirtschaft, aus denen der Zusammenbruch des Kapitalismus unfehlbar abgeleitet wurde, für den Menschen noch unantastbarer und unabänderlicher sind als der Wille Gottes. Und was geschieht nach dem Untergang des Reiches beziehungsweise nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus? In der Voraussage für diese Phase betritt der Marxismus entschlossen und bewußt den Boden des Christentums oder besser der katholischen Kirche — wie übrigens die Anarchisten, die das Erbe der Urchristen für sich in Anspruch nehmen, dem Marxismus vorwerfen. Nach dem Fall des Reiches, das bis dahin mit der Welt gleichgesetzt worden war, bemerkte man, daß diese Welt weiterbestand, und mit ihr die Armut, die Aggressivität der Menschen untereinander, die Begierde, kurz, das unauslöschliche Erbe Adams. Es bedarf daher auch weiterhin einer Macht, einer Autorität, und man muß sie wieder errichten, nachdem sie zusammengebrochen ist. Es genügt, daß sie christlich wird,

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also ihren Namen ändert, daß sie das Heidentum und jede andere Religion und jedes andere Glaubensbekenntnis verbannt und daß sie die Kirche nicht nur duldet, sondern sich ihr unterordnet. Sonst bleibt alles beim alten. Es gibt wieder einen Henker, es gibt wieder die moralische Pflicht, auf Befehl des Staates zu töten. Mehr noch, wenn es einen Unterschied gibt, dann liegt er darin, daß man der neuen Macht, weil sie zweimal von Gott kommt, nämlich insofern >omnis potestas a Deo ¡ n denen die Arbeiterklasse dieses Ziel mit friedlichen Mitteln erreichen kann«.

VI. Zusammenfassend kann man sagen, es gibt im Marxismus in bezug auf das Problem des Ursprungs und der Uberwindung von Gewalt und Macht zwei verschiedene Ansichten — jene liberalsozialistische, auf die wir schon hingewiesen haben, kann man nicht marxistisch nennen. Nach der ersten und wichtigeren Ansicht erscheint die Überwindung der Gewalt und Madit als das Hauptziel des Marxismus, sowohl theoretisch als praktisch. Dennoch, und gerade weil das Problem hier absolut gesetzt wird — nicht um die Begrenzung oder Verhütung der bösen Folgen der Gewalt und Macht geht es, sondern um ihre totale und definitive Überwindung —, leistet der Marxismus in dieser Version keinen erkenntnistheoretischen Beitrag zu den konkreten Problemen, mit denen sich die Politikwissenschaft als eine profane und nicht sakrale Wissenschaft beschäftigt. Man hat daher auch gesagt, und zu Recht, daß es strenggenommen weder eine marxistische Politikwissenschaft noch eine marxistische Lehre vom Staat gibt, obwohl auch für den Marxismus der Staat der hauptsächliche Träger der Macht des Menschen über den Menschen ist. So wie man, wenn man ganz auf das ewige Leben ausgerichtet ist, nicht in der besten Verfassung ist, um es milde auszudrücken, den Anstoß für eine medizinische Wissenschaft zu geben, die ja bestenfalls das irdische Leben geringfügig verlängern kann, aber doch die Seele von der Meditation und Vorbereitung auf die Ewigkeit abhält; so will man sich, wenn man auf die Abschaffung des Staates, der Macht und der Gewalt zielt und sich noch dazu im Besitz des unfehlbaren Mittels dazu wähnt, auch nicht damit aufhalten, die bestehenden Staatsformen zu prüfen, und noch weniger die möglichen, zwar unvollkommenen, aber doch vorstellbaren und vielleicht wünschenswerten Staatsformen. H a t diese Version des Marxismus schon der Politikwissenschaft nichts eingebracht, ja weniger als nichts, weil sie sie verachtet und sogar aufgehalten hat, indem sie nur falsche Probleme stellte, so ist ihr Beitrag für die Praxis geradezu verheerend. Die Errichtung und ideologische Rechtfertigung eines totalitären Staates, der auf der systematischen Verneinung der Menschen- und Bürgerrechte beruht, ist nämlich auch eine logische Folge davon, daß man das Problem der Emanzipation des Menschen als ein der absoluten Vollkommenheit zugängliches formulierte. Es geht ja nicht um die Befreiung eines Menschen, einer Klasse, eines Volkes von einem bestimmten Übel, sondern um die Befreiung aller Menschen von allen Übeln. Mit welchem Recht wird dann ein Staat, der in vollkommen gutem Glauben ein solches Werk unternimmt, seine Macht selbst beschränken oder akzeptie-

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ren, daß sie von anderen beschränkt wird? In der Krasnyj Mec, dem Organ der Ceka, stand daher am 18. August 1919 folgerichtig zu lesen: »Wir haben einen neuen Moralkodex. Unsere Menschlichkeit ist vollkommen, weil sie sich auf das glorreiche Ideal der Abschaffung der Tyrannei und Unterdrückung gründet. Alles ist uns erlaubt, weil wir die ersten sind auf dieser Welt, die das Schwert nicht ergreifen, um zu versklaven oder zu unterdrücken, sondern um zu befreien und emanzipieren.« Und auch hier kann man zutreffend die Parallele zum Christentum ziehen, von dem der Marxismus herkommt. Mit welcher Rechtfertigung sollte die katholische Kirche, die die heilbringende Wahrheit besitzt, ihre Macht selbst beschränken, mit der sie den Irrtum unterdrücken und seine Ausbreitung verhindern kann? Und in der T a t braucht es Kräfte von außen, die sie in diesem Sinn beschränken, sonst wäre auch heute der Drang, ihre Grenzen zu überschreiten, unwiderstehlich. Ebenso sind es nur die Niederlagen durch die objektive Wirklichkeit und der Widerstand jener Menschen, die um keinen Preis auf die Freiheit verzichten wollen, die diesen T y p von Marxismus veranlassen können, das Problem der Grenzen der Macht wiederzuentdecken, und damit auch die unersetzbare Funktion einer von der Metaphysik der Vollkommenheit freien Wissenschaft von der Politik. Die andere Version des Marxismus, die in die historische Praxis der klassischen Sozialdemokratien eingeflossen ist, ist dagegen viel weniger virulent. Sie verzichtet nicht auf die Wiederkehr eines idealen Zustandes, aber sie erwartet sich von der objektiven Dynamik der wirtschaftlichen Gesetze mehr als vom gewaltsamen Eingriff des Menschen. Sie belebt eine Partei, die sich zwar revolutionär nennt, aber doch präzisiert, daß nicht die Partei »die Revolutionen macht« (Kautsky). Gerade durch diesen Aspekt unterscheidet sie sich von der ersten Version durch eine unwiderstehliche Abneigung gegen die Anwendung von Gewalt. Diese Abneigung steht zwar im Widerspruch zur Theoretisierung der Gewalt, weldie nicht ganz aufgegeben wird, ist aber deshalb um nichts weniger real und wirksam. Wir finden sie daher in der Praxis immer auf der richtigen Seite der Barrikaden in den Kämpfen, die die neueste Geschichte erfüllt haben und in denen die schrecklichsten Tyranneien der Geschichte entstanden sind. In der Theorie aber hat der radikale und vereinfachende Optimismus, der sie nicht nur von der optimistisch-katastrophischen Version des Marxismus unterscheidet, sondern auch von dem viel konkreteren und realistischeren Liberalsozialismus, verhindert, daß sie dem Problem der Gewalt und der Macht ihre Aufmerksamkeit geschenkt hat, zu dessen Erhellung sie deswegen keinen nennenswerten Beitrag geleistet hat.

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Literaturhinveise

Im folgenden werden nur die im Text zitierten Quellen in alphabetischer Reihenfolge angegeben. Bezüglich bibliographischer Angaben beschränke idi mich auf ganz wenige Titel. Weiterführende Angaben finden sich in den Anmerkungen zu meinen beiden Büchern und im Anhang der Bücher von Pellicani. Norberto B o b b i o , Esiste una dottrina marxista dello Stato? In: Mondo Operaio (September 1975). D e r s., Quali alternative alla democrazia rappresentativa? In: Mondo Operaio (Oktober 1975). Umberto C e r r o n i , Esiste una scienza politica marxista? In: Rinascita (21. November 1975). Lucio C o l l e t t i , Intervista politico filosofica (Bari 1974). Friedrich E n g e l s , Grundsätze des Kommunismus (1847, Berlin î 1955). François G u i z o t, Histoire de la civilisation en Europe (1828, Wien 1911). Karl K a u t s k y, Der Weg zur Macht, ed. G. F ü 1 b e r t h (1909, Frankfurt a. M. 1972). Rosa L u x e m b u r g , Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (1913, Leipzig 1921). D i e s . , Einführung in die Nationalökonomie, ed. K. H e l d (1925, Reinbek 1972). Karl M a r x , Rede auf der Jahresfeier des »People's Paper« am 14. April 1856 in London. In: K. M a r x - F. E n g e l s , Werke 12 (Berlin 1963) 3—4. D e r s . , Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58, Frankfurt a. M. 1953). D e r s . , Rede über den Haager Kongreß. In: M a r x - E n g e l s , Werke 18 (Berlin 1964) 159—161. Luciano P e l l i c a n i , Dinamica delle Rivoluzioni (Milano 1974). D e r s . , I rivoluzionari di professione (Firenze 1975). Jean Jacques R o u s s e a u , Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes (französisch und deutsch in Hamburg 1955). Rudolf S c h l e s i n g e r , Marx his Time and ours (London 1950). Domenico S e t t e m b r i n i , Due ipotesi per il socialismo in Marx ed Engels (Bari 1974). D e r s . , Socialismo e rivoluzione dopo Marx (Napoli 1975). D. Bertram W o l f e , Marxism, 100 years in the life of a doctrine (London 1967).

GEWALT, AUTORITÄT, D E M O K R A T I E U N D DAS I D E A L D E R G E W A L T L O S I G K E I T V o n WALTER B . SIMON »Doch ein Begriff muß bei dem Wort audi sein.« »Wo die Begriffe fehlen, da stellt das Wort zur rechten Zeit sich ein.« Dialog aus Goethes Faust. »Die Frage ist«, sagte Alice, »ob wir Worten so viele verschiedene Bedeutungen geben können.« »Die Frage ist«, sagte Humpty Dumpty, »wer hier Meister ist. Das ist alles.« Lewis Carroll »Einerseits sind Worte unsere Meister, sonst gäbe es keine Kommunikation. Andererseits können wir bestimmen, was Worte bedeuten, sonst gäbe es keine Dichtkunst.«

Roger W. Holmes

Spezielle Definitionen sind nötig, wenn wir die Begriffe »Gewalt«, »Autorität« und »Demokratie« in einen sinnvollen Zusammenhang bringen wollen. In alltäglichen informellen Gesprächen ist es meist nicht nötig, Begriffe zu definieren, da sich ihr Sinn meistens aus dem Zusammenhang ergibt. In wissenschaftlichen Analysen erfordert die Terminologie ein hohes Maß von Präzision. Diese kann durch die Prägung spezieller Termen erreicht werden. Bei der Einführung spezieller neuer Termen ist jedoch Vorsicht geboten, da diese oft von Kritikern als Jargon abgewertet werden können. Dabei haben die Kritiker häufig recht, denn ein Überfluß von speziellen Termen, seien diese noch so sorgfältig definiert, hemmt die Kommunikation nicht weniger als Termen, deren Bedeutung nicht genügend scharf umrissen ist 1 . Hier sind einige Worte über entscheidende Unterschiede zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften am Platz. Ohne die Einführung einer präzis definierten Symbolik wäre die Entwicklung der Naturwissenschaften unmöglich gewesen. In der Mathematik, der Chemie und der Physik besteht diese Symbolik aus einfachen Zeichen oder Buchstaben, während der Zoologie und der Botanik eine universell akzeptierte lateinische Nomenklatur dient. 1

Eine zusammenfassende Kritik der Soziologie findet man bei A. W. G o u 1 d n e r, Die westliche Soziologie in der Krise (Hamburg 1974), und bei C. W. M i l l s , Die soziologische Denkweise (Neuwied 1963). Beide konzentrieren ihre Kritik auf Talcott Parsons, der allgemein als der prominenteste amerikanische Soziologe der Gegenwart anerkannt wird. Parsons hat zahlreiche neue Termen geprägt. Daher spricht Gouldner über Parsons' »phantastischen Begriff-Überbau« und Mills von seinem »Begriffsfetischismus«.

DEMOKRATIE UND GEHALTLOSIGKEIT

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Den Sozialwissenschaften steht keine derartige Symbolik zur Verfügung. D a die Anwendung wissenschaftlicher Forschungsmethoden zum Studium gesellschaftlicher Probleme erst lange nach analogen Entwicklungen in den Naturwissenschaften begonnen hat, wird vielfach behauptet, daß die Entwicklung der Sozialwissenschaften auch die Entwicklung eines präzisen Begriffsschemas und einer umfassenden Symbolik bringen würde. Bisher sind jedodi alle Versuche in dieser Richtung jämmerlich fehlgeschlagen 2 . Die meisten Sozialwissenschaftler akzeptieren derzeit, daß es im Wesen der Sozialwissenschaften und nicht an deren mangelhafter »Reife« liegt, daß in ihren Wissensgebieten weder Begriffsschema noch eine Symbolik entwickelt worden sind, die mit analogen Entwicklungen bei den Naturwissenschaften auch nur annähernd vergleichbar wären. Es ist kaum zu erwarten, daß in den Sozialwissenschaften je eine Symbolik ausgearbeitet werden könnte, die in ihrer Brauchbarkeit mit der der Naturwissenschaften überhaupt vergleichbar sein könnte. D a s ist vor allem darauf zurückzuführen, daß gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen eben nicht naturgegeben sind, sondern aus komplexen Entwicklungen resultieren, auf die technischer Fortschritt einerseits und gesellschaftliche Bewußtseinsformierung andererseits in unvorhersehbaren Kombinationen einwirken. D a z u kommt, daß es im Bereich der Sozialwissenschaften weder möglidi ist noch wünschenswert wäre, Kriterien für fachmännische Qualifikationen zu konzipieren, wie sie in den Naturwissenschaften etabliert sind und allgemein akzeptiert werden. In den Gesellschaftswissenschaften sind Kriterien zur Unterscheidung zwischen Laien und Fachleuten ziemlich unscharf. Daher stehen alle Versuche, fachmännische sozialwissenschaftliche Begriffsschemata mit eigenen speziellen Symbolen zu konzipieren, im Verdacht, durch Schaffung eines Jargons für Eingeweihte elitäre Expertenansprüche zu fundieren. Tatsächlich sollten die Gesellschaftswissenschaften soweit als möglich mit Termen aus der Alltagssprache auskommen, um die gesellschaftswissenschaftlichen Einsichten denen möglichst zugänglich zu machen, die sie angehen — das sind nämlich alle. Natürlich müssen die gesellschaftswissenschaftlich gebrauchten Termen soweit definiert werden, als deren unmißverständlicher Gebrauch dies erfordert. Ehe wir die Begriffe Autorität, Gewalt und Demokratie in ihren vielschichtigen Dreiecksbeziehungen betrachten, müssen wir die Bedeutungen dieser Begriffe abgrenzen und feststellen, in welchem Sinn wir sie hier gebrauchen. Zu diesem Zweck wollen wir diese Begriffe in ihrer Beziehung zum Schlüsselbegriff der Legitimität betrachten. 1

Der amerikanische Soziologe Stuart Carter Dodd hat in den vierziger Jahren eine umfassende soziologische Symbolik entwickelt, die alle gesellschaftlichen und geselligen Beziehungen in ihren Entwicklungen erfassen sollte. Dazu dienten die Naturwissenschaften ausdrücklich als Modell, und Dodd wurde von seinem Bewunderer George A. Lundberg als der »Faraday der Sozialwissensdiaften« gepriesen. Heute sind diese Bemühungen Dodds fast völlig in Vergessenheit geraten. Für eine Kritik siehe M i l l s , Die soziologische Denkweise.

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WALTER B. SIMON

LEGITIMITÄT Legitimität

bezieht

sich auf

die Rechtmäßigkeit

von

Institutionen,

Bezie-

hungen und Aufträgen. Daher sprechen wir von der Legitimität einer Staatsgewalt, eines Besitzes, eines Anspruchs oder Befehls oder von der Legitimität einer Beziehung. Menschliches Verhalten wird von Einstellungen beeinflußt, die in Werten verankert sind, die Recht und Unrecht unterscheiden. Recht und Unrecht in der Anwendung von Gewalt, der Ausübung von Autorität und in der Praxis der Demokratie werden in erster Linie je nach deren Legitimität beurteilt.

Diese

Beurteilung erfolgt aus Synthesen der pragmatischen Einschätzung der Realität mit Emotionen, die in Sentimenten verankert sind. So führt in der ganzen Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die überaus hohe Bewertung des Begriffs der Demokratie zu einer allgemeinen Legitimierung jeglicher Praxis, die mit dem Attribut »demokratisch« versehen werden kann. Dabei wurzelt der Respekt vor dem abstrakten Begriff »Demokratie« vor allem in dem Nimbus, der die U S A nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges umgeben hat, während die Inhalte, die in diesen Begriff hineinprojiziert worden sind, von den verschiedensten

tradi-

tionsgebundenen Sentimenten bestimmt worden sind 3 . D e r Begriff der »Autorität« wird in vielen Wörterbüchern von

vornherein

durch das Attribut »legitim« definiert, während ein absoluter und prinzipieller Anarchismus jede Form von Regierungsautorität als illegitim ablehnt. I m gleichen Sinn lehnt ein bedingungsloser Pazifismus jede Form von Gewaltanwendung als verwerflich ab. Unsere Untersuchung wird jedoch nicht von

sentimentaler

Wortmagie bestimmt, die j a ihrerseits ein O b j e k t unserer Untersuchung darstellt. W i r wollen hier vor allem die Legitimität von Gewaltanwendung,

Autoritäts-

ausübung und demokratischer Praxis in ihren Zusammenhängen prüfen.

DIE LEGITIMITÄT DER GEWALT »Man kann das Lied der Freiheit nicht auf dem Instrument der Gewalt spielen.« Stanislaw Jerzy Lee »Mit der Gewalt der Idee gegen die Idee der Gewalt.« Motto der deutschen Sozialdemokratie im Abwehrkampf gegen Nationalsozialismus und Kommunismus. »Alle politischen Gebilde sind Gewaltgebilde.«

Max

Weber

D e r Begriff der »Gewalt« nimmt in verschiedenen Zusammenhängen überaus unterschiedliche Bedeutungen an. W i r sprechen ganz allgemein von Gewalt, wenn durch 5

Einsatz

psychischer

oder

physischer

Druckmittel

konformes

Handeln

Eine bemerkenswerte Rechtfertigung diktatorischer Regierung unter Anwendung des Begriffs der Demokratie resultierte in dem bemerkenswerten synthetischen Konzept »guided demoeraey« oder geleitete Demokratie, welches von diktatorischen Regierungen einiger Entwicklungsländer beansprucht wurde.

DEMOKRATIE UND GEHALTLOSIGKEIT

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oder Denken veranlaßt werden soll. In ihrer harmlosesten Form erscheinen diese Druckmittel als Argumente, die an die Vernunft oder an die Moral appellieren. Diese Argumente wirken mit der Gewalt von Ideen. Wenn wir von Gewalt sprechen, denken wir jedoch meistens an Druckmittel, die entweder unter Begleitung von zugefügten materiellen, psychischen oder physischen Schäden oder deren Androhung erwünschtes Verhalten durchsetzen sollen. Grob und bündig formuliert heißt dies: »Entweder Du fügst Dich oder Du wirst Deinen Ungehorsam bereuen.« Es gibt eine ethische Auffassung, die jegliche Anwendung von Gewalt in der Form von strafenden Sanktionen als illegitim betrachtet. Wir wollen jedoch vorerst fragen, inwieweit und unter welchen Umständen die Anwendung von Gewalt legitim sein könnte. Gewaltanwendung erscheint als legitimes Mittel zur sanktionierten Durchsetzung von kodifiziertem Verhalten im Sinne von Regeln, Normen und Gesetzen, die Art und Ausmaß der Gewaltanwendung regulieren und die vor allem bestimmen, welche Institutionen befugt sind, welche Art von Gewalt in welcher Form durch Beauftragung bestimmter verantwortlicher Personen auszuüben. In diesem Sinn ist Gewaltanwendung durch Privatpersonen nur in der Form berechtigter Notwehr, das heißt, der Abwehr illegitimer Gewalt, legitim. Es ist ja bekannt, daß » . . . selbst der Frömmste nicht im Frieden lebt, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt«. Von berechtigter Notwehr abgesehen, ist die Anwendung von Gewalt ein Herrschaftsmonopol 4 . Demgemäß definieren Politologen häufig den Staat als Monopol legitimer Gewaltanwendung. Der Übergang von Stammesgesellschaft und von feudaler Gesellschaft zum modernen Staat vollzieht sich ganz allgemein im Zug der zunehmenden Konzentration der Gewalt in den Händen der Organe des Staates 5 . Verhaltensmaßregeln, seien diese nun informelle Normen und Sitten oder formal kodifizierte Gesetze, bestimmen Verhalten teils aufgrund deren Anerkennung in der Form verinnerlichter moralischer Grundsätze, teils aus Furcht vor strafenden Sanktionen, das heißt, aus Furcht vor Gewalt. Dabei besteht kein Zweifel, daß Befolgung von Normen, Sitten und Gesetzen aufgrund verinnerlichter moralischer Grundsätze überaus wünschenswert ist, während Furcht vor Strafe bestenfalls eine oberflächliche und daher unverläßliche Konformität motiviert. Vorschriften, 4

5

M. W e b e r erklärt in etlichen seiner Abhandlungen über Politik, Gewalt und Staat, daß Staaten vor allem als Monopol von Gewaltmitteln und Gewaltanwendung zu verstehen sind. Siehe: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, Politische Gemeinschaften und Wirtschaft, Der Beruf zur Politik und andere Abhandlungen, die in verschiedenen Sammelbänden erschienen sind. Etliche Afrikaforsdier behandeln den Übergang von Stammesgesellsdiaften in moderne Staatswesen. Siehe M. G l u c k m a n , Politics, Law and Ritual in Tribal Society (Chicago 1965), und L. M a i r, Primitive Government (A Pelican Book, 1965). Der Obergang von Stammesgesellschaft in ein geordnetes Staatswesen in Montenegro wird geschildert im Rahmen einer Biographie des Staatsgründers, M. D j i 1 a s, Njegoi ( N e w York 1966).

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WALTER B. SIMON

Gesetze und Normen, die nur aus Angst vor Strafe befolgt werden, provozieren meistens eine ablehnende Einstellung, die zum Durchbrach kommt, sobald aus irgendwelchen Gründen die Angst vor Strafe wegfällt. Letzten Endes ist nur auf Verhaltensweisen, die auf innerer Überzeugung beruhen, Verlaß. Ein gesellschaftlicher Zustand, in dem Menschen ohne äußeren Zwang miteinander leben, ist schon immer als wünschenswerter Idealzustand betrachtet worden. So schrieb Ovid über das goldene Zeitalter, daß es dort weder Furcht noch Strafe gab und alle Menschen ohne Gesetze und Richter glücklich waren. Dieser harmonische Idealzustand wird in jedes verlorene Paradies hineinprojiziert, dessen Verlust beklagt wird, und kennzeichnet die konfliktlosen idealen Utopien, die sich Philosophen ausdenken, die von einer perfekten Zukunftsgesellschaft träumen 6 . In diesem Sinn postulierte Rousseau, daß der Mensch von Natur aus gut sei und bloß der Zwang der Gesetze den Menschen schlecht mache. Rousseaus Ansichten über die Entbehrlichkeit gesetzlichen Zwanges beruhten jedodi auf irrtümlichen Interpretationen von oberflächlichen Beobachtungen der Sitten und Gebräuche von Südseeinsulanern, die angeblich dank ihrer natürlichen Lebensweise ohne Gesetze irgendwelcher Art miteinander auskamen. Die Legenden über »die glücklichen Wilden«, die ohne Gesetze auskamen, weil sie so nah der Natur lebten, wurden revidiert, aber nicht aus der Welt geschafft, als spätere Beobachter bemerkten, daß die Südseeinsulaner unter einem besonders strengen Sittenkodex lebten. Diesen späteren Berichten zufolge waren diese »Wilden« gleichfalls glücklich, denn sie lebten in voller Harmonie miteinander unter naturgemäßen Normen, sogenannten Tabus, die dem menschlichen Wesen so angepaßt waren, daß sie nie verletzt wurden. Seither bezeichnet das Wort »Tabu« in allen westlichen Sprachen unverletzbare Normen. Erst Bronislaw Malinowski, einer der Gründerväter der modernen Anthropologie, stellte aufgrund eingehender Beobachtungen von Südseeinsulanern fest, daß deren Verhalten genauso wie unseres von Normen geregelt wird, deren Befolgung teils durch Verinnerlichung und teils durch Strafandrohung erreicht wird. Auch bei den Südseeinsulanern werden Normen des öfteren umgangen und verletzt 7 . Seitdem sind Malinowskis Beobachtungen von zahlreichen Anthropologen in verschiedenen Teilen der Welt unter unterschiedlichen Umständen bestätigt worden. Man kann daher annehmen, daß menschliches Verhalten ganz allgemein von sanktionierten Normen bestimmt wird, deren Wirksamkeit zum Teil auf verinnerlichten Werten und zum Teil auf Angst vor strafender Gewalt beruht. Wenn auch der Idealzustand einer menschlichen Gemeinschaft ohne jeglichen äußeren Zwang offensichtlich unerreichbar ist, nimmt das Streben danach trotzdem kein Ende. Dieses Streben führt des öfteren zu einer höheren Form menschlichen Zusammenlebens, in dem Furcht vor dem strafenden Gesetz und der starken Hand der staatlichen Gewalt tatsächlich von geringer Bedeutung sind. Ein • W. B. S i m o n , Utopien. In: Treffpunkte (Wien, September 1975). 7 B. M a l i n o w s k i , Crime and Custom in Savage Society (Paterson 1964).

DEMOKRATIE UND GEHALTLOSIGKEIT

63

Abbau der staatlichen Gewalt ist jedoch nur unter Bedingungen ratsam, die nicht das Einreißen anarchischer Zustände fördert. Bereits Aristoteles hat bemerkt, daß ein Überhandnehmen von gesetzloser Gewalt unerträglich ist und Sehnsucht nach starker Führung und strengen Gesetzen weckt. Folglich führt gesetzlose Anarchie zu drakonischer Tyrannei. Niccolò Machiavelli bemerkt in seinen »Discorsi«, daß Republiken immer gut beraten waren, wenn sie ihre Regierungen je nach Dringlichkeit mit Vollmachten zur Ausübung von Regierungsgewalten ausgestattet haben, über deren Gebrauch Rechenschaft abgegeben werden mußte 8 . Mangelhafte Delegation von Vollmachten zur Ausübung von Regierungsgewalt in Krisenzeiten hat, so Machiavelli, des öfteren zum Zusammenbruch von demokratischen Staatsformen geführt. Entweder konnten die bedrohten demokratischen Regierungen die Krisen aufgrund unzureichender Vollmachten nicht bewältigen, oder illegitim usurpierte Vollmachten wurden nach Bewältigung von Krisen nicht mehr aufgegeben. Dagegen ist die Berechtigung zur Durchführung von Notstandsmaßnahmen laut Machiavelli nie mißbraucht worden, sondern gemäß den Gesetzen wieder aufgegeben worden. Machiavelli belegt seine These über das Problem der Delegation von Vollmachten zur Anwendung von Regierungsmaßnahmen in Krisensituationen aus der Geschichte der Antike. Wir finden in der jüngsten Zeitgeschichte weitere Belege für Machiavellis These über die Notwendigkeit, demokratische Regierungen zu befähigen, außerordentliche Regierungsgewalt legitim auszuüben. Die Geschichte der deutschen Republik von Weimar einerseits und die politische Geschichte von Großbritannien während und nach dem Zweiten Weltkrieg andererseits belegen die Thesen von Machiavelli. Es hat in der Weltgeschichte kaum ein Regime gegeben, das sowohl in der Innenpolitik wie auch in der Außenpolitik so zurückhaltend im Gebrauch von verfügbarem Machtpotential gewesen ist, wie die unglückselige deutsche Weimarer Republik. Hier ist nicht der Platz zu debattieren, welche Rolle prinzipielle Gewaltablehnung führender demokratischer Politiker bei dem widerstandslosen Zusammenbruch der deutschen Demokratie in den Zwischenkriegsjahren gespielt hat. Für unser Thema genügt der Hinweis, daß die heute am ehesten akzeptable historische Behandlung dieses Zusammenbruchs bereits im Titel von einem Machtzerfall spricht 9 . Demnach hat Hitlers nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei nicht die Macht erobert, sondern ein vorhandenes Machtvakuum ausgefüllt. Natürlich läßt sich der Machtzerfall in der Weimarer Republik nicht bloß aus der Aversion führender Politiker gegen Gewaltanwendung erklären. Man kann jedoch aus etlichen historischen Quellen schließen, daß prinzipielle Ablehnung von Gewaltanwendung in der deutschen Politik eine Rolle gespielt hat. N. M a c h i a v e l l i , Abhandlungen über die erste Dekade des Titus Livius. ' K. D. B r a c h e r , Die Auflösung der Weimarer Republik (Stuttgart 1957).

8

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WALTER B. SIMON

So findet es Max Weber der Mühe wert, sich in seiner klassischen Abhandlung »Der Beruf zur Politik« mit der prinzipiellen Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung auseinanderzusetzen, die damals in den Jahren 1919 und 1920 von Friedrich Wilhelm Foerster und anderen deutschen Pazifisten vertreten wurde. Max Weber respektiert die Ethik der Bergpredigt, auf der ein solcher absoluter prinzipieller Pazifismus beruht. Er kennzeichnet diese Ethik als >GesinnungsethikEthik der VerantwortungB a r k e n i n g s , Friede als Aufgabe 504 f. 140 Vgl. J. B o p p , Unterwegs zur Weltgesellsdiaft. Die Ökumene zwischen westlichem Führungsanspruch und universaler Verantwortung (Stuttgart 1971) 95—105; T ö d t , Friedensforschung als Problem 51. 141 Vgl. Atomzeitalter, Krieg und Frieden, ed. H o w e 134—138. 142 Neu Delhi-Dokumente. Berichte und Reden auf der Wehkirdienkonferenz in Neu Delhi, ed. F. L ü p s e n (Witten ! 1962) 215.

139

DIE CHRISTEN UND DIE PROBLEMATIK DES GERECHTEN KRIEGES

kritisierte auch die Folgen begrenzter Kriege 1 4 3 und sdilug erste Schritte zur Entspannung und Abrüstung wie Atomteststop und Neutralisierung begrenzter Bereiche vor 1 4 4 . Eine grundsätzliche Wendung deutete sich in der Verurteilung jeder Form des Rassismus, die frühere Stellungnahmen wesentlich verschärfte, und in den Stellungnahmen zu Problemen der Entwicklungsländer, wo man die Forderungen nach gerecht geordneten Handelsbeziehungen

mit den

Industrie-

ländern forderte, an 1 4 5 . D i e Probleme der Entwicklungsländer rückten auf der »Genfer Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft« im J u l i 1966 in den Mittelpunkt des Interesses und lösten die Konzentration auf Vermeidung des Atomkrieges in der Friedensdiskussion weitgehend ab. Das Unvermögen der bisherigen Entwicklungsbemühungen, die internationale Kluft zwischen armen und reichen Völkern zu mildern und die soziale und politische Situation in vielen Entwicklungsländern — besonders in Lateinamerika — führten zur Forderung nach Revision der bisherigen Ablehnung der revolutionären Gewaltanwendung. So formulierte die mit Strukturen

internationaler Zusammenarbeit

befaßte

Sektion folgendermaßen: »Wo immer auch kleine Elitegruppen die Macht auf Kosten der Wohlfahrt der Mehrheit ausüben, sollte eine politische Veränderung mit dem Ziel einer gerechteren Ordnung von den Christen so schnell wie möglich tatkräftig gefördert und unterstützt werden. Zum anderen kann in den Fällen, in denen solche Veränderungen notwendig sind, die Anwendung revolutionärer Methoden durch die Christen — worunter der gewaltsame Sturz einer politischen Ordnung verstanden wird — nicht a priori

ausgeschlossen werden. Denn in derarti-

gen Fällen kann es sich sehr wohl darum handeln, daß die Anwendung von Gewaltmaßnahmen der einzige Ausweg für diejenigen ist, die eine Fortdauer der ungeheuer großen verschleierten Gewaltanwendung vermeiden wollen, die in der bestehenden Ordnung beschlossen liegt!« 1 4 ' Hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Staaten forderte die Sektion die Verhinderung des Atomkrieges als des größten Übels, sprach sich aber auch für das Ziel der Verwerfung militärischer Betätigung souveräner Staaten überhaupt aus und erteilte somit den Überlegungen zum begrenzten Krieg eine Absage. Dabei wurde

besonders

die Beseitigung

ungerechter

politischer

und

wirtschaftlicher

Strukturen der internationalen Gesellschaft, aus denen Kriege resultierten, gefordert 1 4 7 . Schließlich verurteilte die Konferenz in einer etwas gewundenen E r klärung die amerikanische Kriegsführung in Vietnam 1 4 8 . Ebd. 216. B a r k e n i n g s, Friede als Aufgabe 509 f. 145 Dokumentarbericht über die dritte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen, ed. W . A . V i s s e r ' t H o o f t (Stuttgart 1962) 114 f. Neu Delhi-Dokumente, ed. L ü p s e n 226—228. "'Appell an die Kirchen der Welt. Dokumente der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft, ed. ökumenischer Rat der Kirchen (Berlin >1968) 193—196, Zitat 196. 147 Ebd. 176—183, 198—205. 148 Ebd. 201. 14,

144

140

MICHAEL WEINZIERL

Nachdem bereits auf der Genfer Konferenz die Vertreter einer »Theologie der Revolution« erstmals ihre Thesen vor einem so großen Forum entwickelt hatten, forderte ein Ausschuß der Christlichen Friedenskonferenz 149 auf ihrer Tagung in Sofia 1966 die Anwendung der Kriterien der bellum-iustum-Lehre auf »gerechte Revolutionen« 150 . Wie ja auch schon die Genfer Studienkonferenz andeutete, verlagerte sich auch für den Protestantismus das Problem vom bellum iustum zur revolutio iusta. Allerdings diskutieren nur wenige Theologen, wie etwa Gollwitzer, revolutionäre Gewaltanwendung mit den Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg 151 . Im April 1968 kam es auf den Grundlagen der Ergebnisse der Genfer Konferenz und der Aussagen der Enzyklika »Populorum Progressio« zu einer gemeinsamen Arbeitskonferenz von Experten der katholisdien Kirche und des Weltkirchenrates in Beirut, auf der ein gemeinsames Programm für weltweite Entwicklung152 konzipiert wurde. Die vierte Vollversammlung des ökumenischen Rates in Uppsala 1968 bestätigte noch einmal die Verwerfung des Atomkrieges, legte jedoch das Hauptgewicht auf die Verwirklichung weltweiter wirtschaftlicher Gerechtigkeit durch eine auf sie ausgerichtete Wirtschaftspolitik 153 . Bezüglich der Menschenrechte betonte man vor allem den Kampf gegen die Rassendiskriminierung und forderte konkrete Aktionen des Weltkirchenrates selbst. Dies war dann der Ausgangspunkt für das spätere Anti-Rassismusprogramm des ökumenischen Rates 154 . Bezüglich des Vietnamkonfliktes forderte die Vollversammlung eine sofortige Einstellung der Bombardierungen Nordvietnams durch die USA und eine politische Lösung. Der Vietnamkrieg wurde als Symbol für das Elend eines Entwicklungslandes, das in einen Weltkonflikt verwickelt ist, angesehen155. Ferner wurde der Gedanke der Genfer Konferenz, die in den Ländern der Dritten Welt latente Gewalt konstatierte, die als Zwang in den ökonomischen und politischen Strukturen wirksam sei, übernommen und präzisiert 158 . In den nächsten Jahren lösten diese Denk- und Handlungsanstöße des ö k u menischen Rates heftige Diskussionen aus, die sich insbesondere am Sonderfond des Anti-Rassismus-Programms entzündeten. Dennoch setzte sich diese neue Sicht

149

Die Christliche Friedenskonferenz besteht vor allem aus Christen aus kommunistischen Staaten. 150 Vgl Diskussion zur »Theologie der Revolution«, ed. F e i 1 - W e t h 297—301. 151 Vgl. H . G o l l w i t z e r , Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft. In: Ebd. 40—64, hier bes. 62—64. 152 Vgl. T ö d t, Friedensforschung als Problem 54 f. 15S Bericht aus Uppsala 1968. Offizieller Bericht über die Vierte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen Uppsala 4. bis 20. Juli 1968, ed. N . G o o d a 11, deutsch von W. M ü 11 e r - R o m h e 1 d (Genf 1968) 64 f., 70—72. 154 Ebd. 69. 155 Ebd. 177—179. im Vgl. T ö d t, Friedensforschung als Problem 55 f.

DIE CHRISTEN UND DIE PROBLEMATIK DES GERECHTEN KRIEGES

141

des Friedensproblems in der Mehrheit der Mitgliedskirchen durch, wenn auch in letzter Zeit konservativere Stimmen wieder an Gewicht gewannen 147 .

IV.

KONKLUSIONEN

Insgesamt läßt sich in unseren Fragestellungen seit der Mitte der sechziger Jahre eine weitgehende Konvergenz der Diskussionen in Katholizismus und in den Mitgliedskirchen des Weltkirchenrates feststellen. Angesichts atomarer Massenvernichtungsmittel kamen immer größere Gruppen zur Ansicht, daß die bellum-iustumLehre unter diesen Bedingungen nicht mehr anwendbar sei. Von dieser Position aus erschien rückblickend die Doktrin des »gerechten Krieges« oft immer schon auch als ideologisches Instrument der Kriegsrechtfertigung 158 . Allmählich löste man sich von der Konzentration auf die Gefahr einer atomaren Katastrophe im Rahmen des Ost-West-Konfliktes und entwickelte eine Friedenskonzeption, die unlösbar mit dem Prozeß globaler Entwicklung verbunden ist. Die Frage der Anwendung von Gewalt verschob sich gleichzeitig von der Problematik des gerechten Krieges zur möglichen Rechtfertigbarkeit gewaltsamer Revolutionen in den Ländern der Dritten Welt, die zunehmend vorsiditig bejaht wird. Dieser Wandel der Fragestellung ist sicherlich eine berechtigte Konsequenz aus der veränderten Konstellation der internationalen Beziehungen. Allerdings kann dabei die Gefahr des Ausweichens vor den politisch-militärischen Aspekten der Friedensfrage bestehen. So fanden und finden etwa, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die gigantischen Tauschgeschäfte von Waffen gegen Erdöl zwischen den Industrieländern und den Staaten des Nahen Ostens, die langfristig zu unabsehbaren Konsequenzen führen können, in der Friedensdiskussion der Kirchen viel zu wenig Beachtung. Während sich die skizzierten Akzentveränderungen innerhalb des Weltkirchenrates etwas allmählicher und aufgrund gründlicher Analysen anbahnten, erfolgten sie im Katholizismus im Rahmen des Aufbruchs der Jahre Johannes' X X I I I . , des Konzils und der ersten Pontifikatsjahre Pauls V I . sehr rasch und manchmal mit einem Enthusiasmus, der die rationale Diskussion etwas zu kurz kommen läßt und daher vielleicht in Gefahr laufen könnte, bei Enttäuschungen wieder zu überwunden geglaubten Denkmodellen zurückzukehren. D a ß schließlich die Konsequenzen aus der Unanwendbarkeit der Lehre vom gerechten Krieg für die Kirchen in einer Gesellschaft, die an einer Abschreckungspolitik und damit oft auch zögernd an der bellum-iustum-Konzeption festEs war für diese Arbeit leider nicht mehr möglich, den Bericht über die sammlung des ökumenischen Rates in Nairobi 1975 zu konsultieren. Vgl. Konferenz Informationsdienst der »Salzburger Gruppex-Aktionsgemeinschaft und Gesellschaft N r . 1, 2 (1976). 1 S 8 Vgl. W . D i r k s , Abschied vom »gerechten Krieg«. In: Frankfurter Hefte 4 8 9 — 4 9 6 , hier bes. 490. 157

5. Vollverüber diese für Kirdie 22 (1967)

142

MICHAEL WEINZIERL

hält 1 8 8 , unklar und uneinheitlich waren, zeigte sich etwa im Verhalten der westeuropäischen und amerikanischen Christen zum Vietnamkrieg, die sich in ihrer Mehrheit nicht zu einer konsequenten Ablehnung dieses Krieges

bereitfanden.

Ferner mündet die Ablehnung der Lehre vom gerechten Krieg manchmal in einen naiven Pazifismus, der wohl kaum zur Lösung von Konflikten beitragen kann 1 6 0 . Abschließend erscheint mir der in den sechziger Jahren auch von den Kirchen entwickelte »strukturelle« GewaltbegrifF ein geeigneter Anknüpfungspunkt

für

eine Friedensstrategie der Christen zu sein. Denn die Kirchen könnten — wie Galtung modellhaft gezeigt hat — durch Abbau latenter »struktureller Gewalt« in ihrer Organisation und in der Gesellschaft in stärkerem Ausmaß Vorkämpfer des Friedens werden 1 6 1 . Zu diesem Problemkreis vgl. R . W . T u c k e r , The Just War. A Study in Contemporary American Doctrine (Baltimore 1960). Der Theologe Paul Ramsey versuchte in seinen Werken, an der bellum-iustum-Konzeption strikt festzuhalten und suchte mit ihr die Intervention der Amerikaner in Vietnam zu rechtfertigen. Vgl. P. R a m s e y , War and the Christian Conscience (Durham, N. C. 1961), und P. R a m s e y , The Just War. Force and Political Responsibility (New York 1968). 1 . 0 Vgl. hierzu die oben, S. 134 f., skizzierte Position Karl Barths. 1 . 1 Vgl. J . G a 11 u n g, Christentum und der Kampf für den Frieden. In: J. G a 11 u n g, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung (Reinbek 1975) 70—91. Idi gebe hier das Schema auf S. 89 f. gekürzt wieder: Notwendige organisatorische Veränderungen der christlichen Religion A. Im Innern der Kirche: Abbau struktureller Gewalt in den eigenen Reihen 1. Dialog als normale Form des Gottesdienstes. 2. Turnusmäßige Ausübung der Priestertätigkeit. 3. Entprofessionalisierung, d. h. Abschaffung des Priesteramtes als Beruf. 4. Eine größtmögliche Horizontalisierung der Glaubensorganisation. B. Im Außenverhältnis: Die Freiheit gewähren, die Gewalt anderer nicht zu unterstützen. 1. Organisatorische Lösung der Bindungen an die Regierungen. — Freiheit gewähren, ihrer Maditausübung im Innern entgegenzuwirken. — Die Freiheit gewähren, ihrer Außenpolitik entgegenzuwirken. — Die Freiheit gewähren, sie als eine von vielen gesellschaftlichen Gruppen zu betrachten. 2. Lösung der Verbindung zu gewalttätigen Organisationen im allgemeinen. — Kritische Haltung und Handlung im Hinblick auf die Organisation des Militärs. — Kritische Haltung und Handlung im Hinblick auf die Organisation der Wirtschaft. — Beim Einsatz für nicht-militärische Verteidigung in der vordersten Reihe stehen. — Beim Einsatz für gewaltlose Revolution in der vordersten Reihe stehen.

159

GEWALT UND GEWALTLOSIGKEIT ALS P R O B L E M L I T E R A R I S C H E R V E R F A H R E N S W E I S E N V o n FRIEDBERT ASPETSBERGER

1 . D E R PROBLEMHORIZONT UND DIE LITERARISCHE T R A D I T I O N

»Ich schreibe über Gewalt ebenso selbstverständlich, wie Jane Austen über Sitten geschrieben hat. Unsere Gesellschaft ist von Gewalt besessen und geformt, und wenn wir nicht aufhören, gewalttätig zu sein, haben wir keine Zukunft. Menschen, die dagegen sind, daß Schriftsteller über Gewalt schreiben, wollen sie daran hindern, über uns und unsere Zeit zu schreiben.« Diese Worte Edward B o n d s 1 lassen sich auf die Auffassung und die Arbeiten einer großen Zahl von Gegenwartsautoren übertragen. Politisch profilierte jüngere Schriftsteller wie H o c h h u t h , W e i s s , W a l l r a f f , D e l i u s , B r i n k m a n n , S c h a r a n g u. a. sehen zum guten Teil noch direkter und krasser ihr Schreiben von der Gewalt in unserer Wirklichkeit her notwendig. Bö 11, C a n e t t i , Dürrenmatt, F r i s c h u. a. erweitern die Reihe auch für die traditionsbestimmtere Bildungsliteratur in unseren Tagen. Das macht deutlich, daß Ästhetisches im traditionellen Sinn des »Schönen« dem Thema der politischen und menschlidien Unterdrückung weitgehend gewichen ist und Literatur neue Formen zur Erfassung der gewaltsamen Realität sucht. Gewalt wird als Grundzug unseres Daseins und ihre Aufhebung als wesentliche Aufgabe der Literatur in der Gesellschaft gesehen, wobei die Einschätzung der literarischen Möglichkeiten sehr verschieden ist. Freilich ist es eine Verkürzung, das Thema auf die Gegenwartsliteratur zu verengen. Die Fülle der psychologischen, geistes-, bildungs- und ideologiegeschichtlichen, gesellschaftlichen, staatspolitischen Perspektiven der Gewalt und der entsprechenden theoretischen, form-, gattungs- und wirkungsgeschichtlichen literarischen Fragen zeigt, daß ein guter, wenn nicht der beste Teil der bildungsgeschichtlich kanonisierten wie der abseitigen und der massenhaft verbreiteten Literatur in wesentlichen Zügen vom Fragenkomplex der Gewalt und Gewaltfreiheit zu behandeln ist; auch »Sachgebiete«, wie etwa die Kriegsliteratur, Bücherverbrennungen, Autorenvertreibungen und ähnliches, böten sich als Einzelaspekte an 2 . 1 8

Lear, dt. v. Christian E n z e n s b e r g e r (Frankfurt a. M. 1972) 125. Die literaturwissenschaftlichen Bibliographien führen unter den möglichen »Sachgebieten« im Gegensatz zur Theologie, Soziologie u. a., die eine Fülle von Neuerscheinungen audi zur Gewalt im gesellschaftlichen Alltag vorlegten, vor allem Kriegsliteratur, be-

144

FRIEDBERT ASPETSBERGER

Die Auswahlmöglichkeit schon macht deutlich, daß die nähere Bestimmung des Themas inhaltlich und literaturtheoretisch zugleich eine Frage der Position des Interpreten ist. Es soll im folgenden ein repräsentatives Beispiel aus unserem Jahrhundert herausgehoben werden, die Frage der literarischen Verfahrensweise in ihrem Verhältnis zur politisch-gesellschaftlichen Gewalt unseres Jahrhunderts, wobei in groben Zügen dieses Verhältnis als eine Verschiebung von der »Bildungsliteratur« zu einer gesellschaftsbezogen-realistischen, die als Verfahrensweise auf ihr traditionelles Bildungsprivileg verzichtet, gesehen wird. Dieser Aspekt läßt sich freilich nicht ganz ohne einige allgemeinere und historische Überlegungen abhandeln, die zunächst vorangestellt werden sollen. *

Gewalt ist — wie jeder Begriff für Formen sozialen Verhaltens — in seiner gehaltlichen Bestimmung in besonderem Maße geschichtlich. Die Fülle heute synonym oder im Umkreis des Begriffs gebrauchter Schlagworte wie Aggression, Unterdrückung, Diktatur, Imperialismus, Ausbeutung, Angst und andere, macht deutlich, daß sich am Phänomen der Gewalt die theoretische wie die praktische Beschäftigung mit dem zwischenmenschlichen Verhalten einen Begriff von der Wirklichkeit machen. Als Gegenbegriff zu den humanen gesellschaftlichen Zielen hat Gewalt eine umfassende Dimension, wobei natürlich Humanität ebenso wie Gewalt eine Frage ihrer jeweiligen Definition unter bestimmten historischen Bedingungen und damit unter bestimmter Vergangenheit auf eine zu bestimmende Zukunft hin ist. Die Literatur war an dieser Definition immer beteiligt. Die europäische Tradition beruft sich, positiv oder negativ, nicht erst in der Neuzeit auf sie als eine wesentliche Form, in der der Mensch, die Menschheit als geschichtliche Gattung, ein Volk, ein Staat, Staaten ihr historisches Selbstverständnis definieren. Es genügt hier, darauf hinzuweisen, daß für unser Jahrhundert die tragenden Grundlagen in der bürgerlichen Entwicklung besonders im 18. und 19. Jahrhundert gelegt wurden; seit dieser Zeit besteht eine vielfach gebrochene, aber nicht zerbrochene Bildungstradition gerade im Hinblick auf die frühbürgerlichen Ideale des 18. Jahrhunderts 3 , und dies, obwohl die geschichtlichen Ereignisse sonders zum Ersten Weltkrieg an. Als spezifisch formbezogene Arbeiten seien genannt: I. H i e b e 1, Krieg und Frieden. Über die Auseinandersetzung der sozialistischen Schriftsteller und ihrer Verbündeten mit einer Grundfrage unserer Epoche. In: Weimarer Beiträge 21 (1975) H. 5, 10—44. — Frieden, Krieg, Militarismus im kritischen und sozialistischen Realismus ( = Germanistische Studien, ed. H . K a u f m a n n und H.-G. T h a l h e i m , Berlin 1961). — Breiter fassen das Thema: E. K e l l e r , Nationalismus und Literatur (Bern 1970). — Der Friede und die Unruhestifter. Herausforderungen deutscher Schriftsteller im 20. Jahrhundert, ed. H. J. S c h u l t z (Frankfurt a. M. 1973); H. M a y e r , Außenseiter (Frankfurt a. M. 1975). Eine Reihe von Spezialuntersuchungen reicht vom Volksstück bis zum »radical chic«. 5

Die Welle der äußerst kritischen Distanz zur Tradition: E. S c h m a l z r i e d t, Die inhumane Klassik. Vorlesung wider ein Bildungsklisdiee (München 1971). — D i e Klassik-Legende, ed. R. G r i m m und J. H e r m a n d (Bad Homburg 1971) ist abgeflaut, was besonders aus der Klassiker-Rezeption auf der Bühne zu belegen ist. Ganz

GEWALT UND GESTALTLOSIGKEIT IN DER LITERATUR

145

häufig als Gegensatz zu dieser Tradition beschrieben werden. Die Kriege unseres Jahrhunderts, die politischen Verfolgungen, die Vergeblichkeit, Individualität und Gesellschaft im Staate in befriedigende Übereinstimmung zu bringen, die damit zusammenhängende Kritik der Arbeitsbedingungen u. a. sind die geschichtlichen Tatsachen, von denen her der humanen und humanistischen Tradition als Gegenwart und Zukunft ihr Begriff der Gewalt (oder der Herrschaftsfreiheit) definiert wird. Gewalt bezeichnet in diesem Sinn, wie Edward Bond meint, unsere Wirklichkeit repräsentativ, so zwar, daß sie in Gefahr sei, sich als menschliche aufzuheben. Von solcher Erfahrung her gesehen, scheinen die Möglichkeiten der Kunst, eingreifend wirksam zu werden, gering. Und man hat sie, gerade aus der erfahrenen Gewalt unseres Jahrhunderts, auch zur Kapitulation aufgefordert, wenn sie sich ernst nimmt: nach Auschwitz sei kein Gedicht mehr möglich 4 . Gewalt und Kunst stehen nach diesem — provokativen und wieder zurückgenommenen — Wort, nach dem die Wirklichkeit den Bereich überschreitet, den die gleichzeitig zur Verfügung stehenden Mittel ihrer Bewältigung in der Kunst umfassen (und das heißt auf einem bestimmten geschichtlichen Stand befindliche umfassen), in keinem Verhältnis mehr zueinander, Kunst sagt also nichts Verpflichtendes über die Wirklichkeit aus. Sie selber steht also von der Gewalt her in Frage 5 . Die Literatur unserer Tage versucht, ob als Anarchie der Unmittelbarkeit, als »Dokumentation« der Gewalt, als Mittel politischer Bildung oder im traditionelleren Rahmen, sich in dieser Situation sinnvoll zu behaupten. Ihre Daseinsberechtigung ist dabei allerdings nicht davon abhängig, daß sie sich auf einen bestimmten Katalog extremer Gewalttaten konzentrierte; auch im aller unmittelbaren Gewalt bloßen Sujet bringt sie und brachte sie Gewalt, Aggression, Unterdrückung, Resignation, Angst u. a. als strukturelle und oft ihre Form konstituierende zur Anschauung. Dabei ist aber ein für ihre Stellung bezeichnender Zug zu vermerken: daß nämlich das Literaturpublikum — durch alle Schichten vergleichbar — sich weigert, die als Gewalt erfaßte Wirklichkeit als die seine zu akzeptieren und die entsprechende Literatur als repräsentatives menschliches Selbstverständnis zu neh-

4 5

bewußt schließt hingegen die marxistische Position an das »Erbe« an: U . W e r t h e i m , Die marxistische Rezeption des klassischen Erbes. In: Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der D D R , ed. W. M i t t e n z w e i (Leipzig 1969). — H. K a u f m a n n , Zehn Anmerkungen über das Erbe, die Kunst und die Kunst des Erbens. In: Positionen der DDR-Literaturwissenschaft, ed. H . K a u f m a n n (Kronberg/T. 1974) 251—270. Th. W. A d o r n o , Kulturkritik und Gesellschaft (München 1963) 26. Die Frage der »physischen« Auslöschung von Literatur durch Indices librorum prohibitorum, Bücherverbrennungen, Berufsverbot für Autoren, Schriftstellervertreibungen etc., ist nur bedingt für die Literatur spezifisch und wird daher gegenüber dem Problem der Literatur, als Verfahren von Gewalt betroffen zu sein, zurückgestellt. Vgl. aber: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation, ed. J . W u l f (Gütersloh 1963). H.-A. W a l t e r , Deutsche Exilliteratur 1933—1950, 7 Bde. (Darmstadt und Neuwied 1972 ff.).

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men, wie es der emanzipatorischen Funktion der Kunst seit der bürgerlichen Frühzeit entspräche. Diese traditionalistische Haltung hebt den Sinn realitätsbezogener Kunst auf. Nicht nur vom Maß der Gewalt in der Gesellschaft (Auschwitz), sondern auch davon, daß diese die Gewalt in der Kunst zu verdrängen sucht — und darauf bezieht sich auch B o n d — wird sie zum Schweigen verurteilt, wird zum Abseitigen, wird »bloß Kunst« im herkömmlichen Verständnis und verfällt so erst recht dem Verdikt, das oben zitiert wurde: der Wirklichkeit gegenüber eben nichts Verpflichtendes zu äußern. Ihr Versuch, in der Wirklichkeit funktionell zu werden, führt — aus dem Bildungsbewußtsein, für das sie traditionell mitkonstitutiv ist — zur Desintegration. Diese Frage soll noch in wenigen Grundzügen angerissen werden. Gewaltfreiheit (das »Schöne«) oder Gewalt zu behandeln, hat in unserer literarischen Tradition nicht von vornherein einen Rang. Selbst Bertha von S u t t n e r s mit dem Friedenspreis der Nobelstiftung ausgezeichneter Roman »Die Waffen nieder« — der zudem hohe Auflagen erlebte — spielt in der literarischen Wertung keine besondere Rolle 6 . Literatur kann also einem bestimmten Wertbereich geschichtliche Bedeutung geben, aber sie erhält sie nicht unbedingt von ihm. (Geschichtliche Bedingungen spielen dabei eine Rolle: Gegenwart behandelnde Literatur wird vielfach nur mit inhaltlichen Bekenntnissen gewertet). Generell zusammengefaßt liegt der Grund darin, daß Literatur als Verfahren, Wirklichkeit in der Sprache zur Anschauung zu bringen, also als Gestaltungsleistung, als Formtradition, gesehen wird. Freilich ergibt sich daraus kein eindeutiger Kanon, vielmehr laufen, begründet von vorliterarischen und literarischen Wertbereichen, mehrere Kanones nebeneinander und besetzen oppositionell die Vermittlungsinstitutionen, etwa die Literaturförderung, den schulischen Unterricht, das Verlagswesen, die Forschung. Man hat es also immer mit bestimmten Wertvorstellungen von Literatur zu tun, ihre Leistung kommt als je andere zur Anschauung, je nachdem vorliterarische geschichtliche Auffassungen sie ins Auge fassen. Literarische Form, oft als »Wesen« der Dichtung gesehen, ist als operatives Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit also selber wieder geschichtlich und nicht die neutrale Instanz, an der sich der Wert der Literatur eindeutig festmachen ließe. Das gilt auch innerhalb nur einer Tradition. Die Funktion der Fachgutachten bei politischen oder Pornographie-Literaturprozessen zeigen ebenso die Polivalenz im Formbegriff 7 . So kann in der bürgerlichen Wissenschaft Literatur nicht unmittelbar unter dem Begriff der politischen Gewalt abgehandelt werden, ohne daß man Gefahr läuft, ' Erwähnungen finden sich im wesentlichen nur im Rahmen der Frauenliteratur, auch in den marxistischen Literaturgeschichten; im umfänglichen 9. Band der Geschichte der deutschen Literatur eines Autorenkollektivs unter der Leitung von H. K a u f m a n n (Berlin 1974) kommt Suttner nur in einer Fußnote im größeren Zusammenhang (539) vor. 7 Die einseitige Betonung der literarischen Form ist ein Moment der Desintegration von Kunst und Leben, wie sie sich im 19. Jahrhundert im Rahmen der Bildungstradition ausformt. In diesem Sinn wurde die traditionelle Klassikerpflege angegriffen; anderseits steht im gleichen Zusammenhang, daß Flaubert im Prozeß um den Roman

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im sogenannten Bloß-Stofflichen oder dem abgewerteten Bereich der Tendenzliteratur als einer im unmittelbaren geschichtlichen Leben aufgehenden und in ihm zum Ende kommenden Literatur stecken zu bleiben. Demgegenüber hat Walter B e n j a m i n ausdrücklich politische Tendenz von der Literatur verlangt und ihre Qualität davon abhängig gemacht. Freilich versteht auch er unter Tendenz keineswegs nur etwas Inhaltliches (auch in der bürgerlichen Tradition dient der Vorwurf der Tendenz häufig nur als Vorwand für die Abwertung einer politischen Intention), sondern eben die Organisation des Stoffes von einem Standpunkt, der sich historisch rechtfertigen muß; von der Geschichte her bekommt ein ästhetisches Werk Qualität; in dem Sinn schreibt Benjamin, daß »Dichtung politisch nur stimmen kann, wenn sie auch literarisch stimmt« 8 . Die »Tatsache« Gewalt wird also sowohl in der bürgerlichen wie in der marxistischen Tradition relativiert, nidit aber Gewalt als strukturelles Moment und damit als Frage nach der literarischen Organisation der »Tatsachen«. Der Unterschied liegt schon vor diesem Leistungsbegriff für Literatur im Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit in der Einordnung der literarischen Leistung. Gewalt ist in diesem Sinn eine ideologisch-geschichtliche, aber damit auch eine kunsttheoretische Frage. Wenn man die Fragestellung vergröbert, so liegt dort und da die Auffassung zugrunde, daß Geschichte unzureichend sei gegenüber dem Bewußtsein besserer, richtiger Menschlichkeit, deren sich die Literatur annehme. Ihre humane Zeugenschaft in der Geschichte kann in vielerlei Form erscheinen; sie erscheint im Aufzeigen, zum Teil auch im Nachvollzug der Deformationen, ebenso wie in der emanzipatorischen Utopie der besseren Menschheit der »schönen« Literatur. Während unsere Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts die meisten Zeugnisse der ersten Möglichkeit zuordnen läßt, versuchte die Klassik, die die repräsentative Funktion der Literatur als Bildungsgut durchsetzte, die zweite Möglichkeit wahr zu machen. S c h i l l e r hat den »schönen Schein«, das heißt das Zur-ErsdieinungBringen des vollendeten Menschen, als geschichtliche Funktion der Literatur in seinen theoretischen Schriften am einläßlichsten formuliert; es ging ihm keineswegs darum, geschichtliche Defizienzen, zum Beispiel den »Gewaltstaat«, über dem »ästhetischen Menschen« zu vergessen, wie es dann in seiner Nachfolge die klassizistische und triviale Epigonenliteratur zu einem Teil tat. Schönheit ist eine Seinsweise, die sich im »Vernunftstaat«, dem Staat der geschichtlichen Gewaltfreiheit, verwirklichen soll. D a ß in der weiteren literarischen Entwicklung der in diesem

8

»Madame Bovary« — wie auch Schnitzler im »Reigen«-Prozeß — mit Argumenten zur Form der Darstellung der inkriminierten Sachverhalte freigesprochen wurde. Zahlreicher sind freilich — besonders im Bereich des Politischen — die Verurteilungen. Wird die Form unbeachtlidi, so verliert sich meist auch das Unterscheidungsgefühl zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit, wie die Verfolgungen, besonders im Dritten Reich, zeigen. W . B e n j a m i n , Der Autor als Produzent. In: Versuche über Brecht, ed. R. T i e d em a n n (Frankfurt a. M. 1960) 9 5 — 1 1 6 .

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Sinne schöne Mensdi kaum mehr beschrieben wird, ja daß er schon bei Schiller selber gegenüber dem Historischen zurücktritt, ist symptomatisch für das Verhältnis der »besseren« Menschheit zur Geschichte; Einschränkung, Resignation, Kompensation in Bildung, werden im 19. Jahrhundert bestimmend (kaum aber, wie etwa in der Hohenzollerndramatik, plane Übereinstimmung mit der Geschichte, durch welche die klassische Oppositionsfunktion der Literatur verraten wird); gerade die im bürgerlichen Bildungskanon versammelten Werke lassen das einsichtig werden. Und je stärker sie es tun, desto stärker wird von der Werksstruktur wie von der wissenschaftlichen Rezeption her die Form beachtet, die diese Negativität vermitteln soll, indem sie das Dargestellte eben als »Kunst« aufhebt. So hat sie in der Form gutzumachen, was sie in Inhalt und Tendenz an Aktualität provoziert. J e realitätsbezogener und je gegenwärtiger im Gegensatz dazu Literatur ist, um so schärfer wird — und nicht nur an H e i n e , N e s t r o y , Tucholsky, K ä s t n e r , K a f k a u. a. — die Frage nach dem Positiven gestellt. Literatur aber, in ihrer realpolitischen Machtlosigkeit, blieb als »negative« der Wirklichkeit als Gewalt, Unterdrückung usw. treu und leistet diese Opposition gleichermaßen in der Gegenwart. Die marxistische Tradition, die in ganz anderem Ausmaß und mit anderem Anspruch den Realitätsbezug zum Kriterium ihrer Beurteilung macht, verwirklicht viel stärker als die bürgerliche — zum Teil im staatlich sanktionierten Programm und damit in Übereinstimmung mit der Macht oder Gewalt der Gesellschaftsverwaltung — die »schöne« Literatur, das Vorbildlich-Emanzipatorische, wie es in ihrem Rahmen der besseren Menschheit entspricht. Wird der bürgerlichen Literatur der Vorwurf des Negativen, der Realitätsblindheit und des Formalismus gemacht, so wirtschaftet sich die marxistische den Vorwurf der fehlenden Wahrheit im Bezug auf die »ganze« Wirklichkeit, der Schönfärberei oder der falschen Idylle ein. Schaut man auf den gemeinsamen Ausgangspunkt, die deutsche Klassik, zurück, so bilden die beiden Auffassungen im Verständnis der literarischen Tradition und in der Wertung der gegenwärtigen Funktion der Literatur einen merkwürdigen Chiasmus. Politisch gewiß nicht zu vermitteln, stimmen sie in der Kunsttheorie zumindest in der Künstlichkeit der Literatur, das heißt der Auffassung der Literatur als einer Verfahrensweise, überein, ob sich das als autonome literarische Kunstform oder als instrumentale Form im Verhältnis zur Wirklichkeit und zur künstlich darzustellenden emanzipatorischen besseren Menschheit — und damit sehr unterschieden — formuliert. Das zeigt, daß der Wert der Literatur und ihre Möglichkeiten bei der Erfassung von Gewalt nach der vorliterarischen politischen Entscheidung in ihrer Verfahrensweise, die sie ja im Verhältnis zur Wirklichkeit konstituiert, liegt. Es soll im folgenden kurz die Hilflosigkeit von bestimmten Verfahrensweisen gegenüber den Problemen der Realität und dann die bewußte Auseinandersetzung der Schriftsteller mit dieser Hilflosigkeit beziehungsweise mit der möglichen Mächtigkeit von Literatur in unserem Jahrhundert an einigen Beispielreihen bis in die unmittelbare Gegenwart herauf umrissen werden.

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2. FUTURISMUS UND EXPRESSIONISMUS: BEISPIELE LITERARISCHER VERGEBLICHKEIT GEGENÜBER GESELLSCHAFTLICHER GEWALT D a ß Kunst zugleich mit stärkerem direkten Zeitbezug immer den Angriff auf andere Kunst beziehungsweise auf die Tradition verbindet, weist darauf hin, daß das Verhältnis zur Realität sie in ihrem Begriff trifft». H e i n e s

Stellung zur

»Kunstperiode« der Goethezeit ist ein typisches Beispiel des 19. Jahrhunderts, in dem — bis in die Theorien und Äußerungen zum Bürgerlichen Realismus herauf — der Grundrahmen einer individualistisch-humanistischen Kultur trotz der raschen gesellschaftlichen Entwicklung zum Massenzeitalter bestimmend blieb 10 . Kunst setzt sich zwar mit einer zunehmend als Gewalt empfundenen Wirklichkeit auseinander, findet aber immer noch ihren O r t und erhält sich darin — mit Ausnahmen 11



als traditionelle. Das entscheidende Bewußtsein, sie von einer als totale Gewalt empfundenen Wirklichkeit her als Gegengewalt, vergleichbare, gleiche oder angeglichene Gewalt bestimmen zu müssen, setzte die deutliche Erkennbarkeit der Wirkungen des wirtschaftlich kapitalistisch organisierten industriellen Massenzeitalters auch als eine starke Gefährdung oder Aufhebung der Konstituenten klassischer Humanität, etwa der »Individualität«,

in der gesellschaftlichen

Realität

voraus. Dieses Bewußtsein kam — immer auf älteren Grundlagen — zu Beginn unseres Jahrhunderts zum Tragen. Als beispielhaft können zwei Reaktionsformen gelten: die Aktionskunst als die Identifizierung von Kunst und Realität, und die Transzendierung der human immer disparateren Realität, indem ihre Wider* In jedem der Angriffe auf die Tradition begreift sidi Kunst als historische. Die heftigen Fehden der fast gleichzeitigen -Ismen der Jahrhundertwende sind Zeichen dafür, daß im Späthistorismus geschichtliche Unsicherheiten herrschen, die das Verhältnis zwischen Kunst und Realität zum »Stil« reduzieren. Vgl. zum Zusammenhang Historismus und Literatur R. H a m a n n - J . H e r m a n d , Stilkunst um 1900 ( = Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart 4, München 1973). L. K ö h n , Die Überwindung des Historismus. Zu Problemen einer Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1918 und 1933. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974) 704—766 und 49 (1975) 94—165. F. A s p e t s b e r g e r , Hofmannsthal und D'Annunzio. Späte Formen des Historismus. In: Studi germanici n. s. 10 (1972) 425—500. 10 Die an Heine beobachtbare Änderung vom rational-kohärenten Begriffssystem der Klassik bzw. der stimmungsmäßigen Kohärenz der Romantik zu einer nur mehr in der subjektiven Perspektive kohärenten Schreibweise, in der poetische Imagination und ideologisch zeitgeschichtliche Funktion der Kunst in ein bedingendes Verhältnis treten, öffnet sich der gesellschaftlichen Realität, aber immer in der Berufung auf die Kunst als das Darüberstehende. Vgl. W. P r e i s e n d a n z, Der Funktionsübergang von Dichtung zu Publizistik bei Heine. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Aesthetisdien, ed. H. R. J a u s s (München 1968) 343—374. 11 Die Kunst Büchners etwa läßt sich kaum fugenlos in diese Tradition einordnen. Die Traditionsbestimmtheit der Kunst des 19. Jahrhunderts ergibt sich nur im Rahmen des Kanons der Bildungsliteratur, zerfällt aber, wenn man sie von anderen Wertbereichen her faßt. Die Hochschätzung Georg Weerths in der DDR-Literaturwissensdiaft, die Beachtung der Arbeiterliteratur u. ä. kommen zu einem ganz anderen System der literarischen Leistung. Meine Darstellung ist der Bildungstradition verpflichtet.

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Sprüche im Sinn einer Gesamtverantwortung der Kunst von deren sprachlichen Möglichkeiten visionär-metaphorisch vermittelt werden. Diese gegensätzlichen, aber im gleichen historischen Kontext stehenden Formen zeigen sich in wesentlichen Zügen etwa im Futurismus und im Expressionismus. Der Futurismus gibt die traditionelle Funktion der Kunst als humanes Regulativ gegenüber einer schlechteren Wirklichkeit auf, identifiziert sich unmittelbar mit den geschichtlichen Erscheinungen und bricht in diesem Sinn bewußt und total mit der Vergangenheit 12 . Er erhebt zugleich auf eine andere als die Öffentlichkeit der Literatur Anspruch, zielt auf Gesetzesänderung für die Kunst im Sinn des Strafrechts 13 und identifiziert sich darin aggressiv mit den Gewalten der Realität: »Aber in barbarischen Ländern sind Faustschlag und Revolverschuß Argumente. Man lasse uns also so argumentieren.« 14 Der Krieg wird zur »einzigen Hygiene der Welt« und soll neben dem Militarismus, dem Patriotismus, der Vernichtungstat des Anarchisten u. ä. verherrlicht werden 15 . Entscheidend dabei ist, daß diese Begriffe nicht, wie es bei einem jungen Nationalstaat wie Italien nahe läge18, ideologisch traditionell gedeckt werden, sondern daß sie ihren Anspruch im Rahmen wirtschaftlich-politischer Gegebenheiten der Gegenwart verwirklichen wollen. So ist der Patriotismus als »heroische Idealisierung der wirtschaftlichen, industriellen und künstlerischen Solidarität eines Volkes« definiert; gleichermaßen geht es um »Leidenschaft, Kunst und Idealismus des Geschäftslebens. Neue finanzielle Sensibilität.« 17 Zu der Idealisierung und Heroisierung dieser Züge der modernen Welt gibt Kunst die traditionelle ästhetische Opposition auf (und damit ihre bisherigen Formen: »Man muß das >Ich< in der Literatur zerstören [ . . . ] Der [ . . . ] Mensch ist ganz und gar ohne Interesse. Wir müssen ihn also in der Literatur abschaffen [ . . . ] Man muß die Syntax [...] zerstören [...] Man muß das Verb im Infinitiv gebrauchen [ . . ,]« 18 . Sie totalisiert historische Tendenzen als Unmittelbarkeit, als Aktion, und erklärt sich damit zur Realität. Das nun idente Verhältnis kehrt sich aber als willkürliches um; von der — immer größeren — geschichtlichen Realität her erweist sidi diese Kunst als das, was sie ist: als Anar1!

13

14 15 ,e 17 18

In oft fast sadomasochistischer Art wird alle institutionalisierte Kultur, aber auch die Natur, der Willkür und Zerstörung zugewiesen. Vgl. das erste Manifest des Futurismus 1909: »Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! . . . Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! . . . Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt zu sehen! . . . » Zitiert nadi: U. A p o l l o n i o, Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909—1918, dt. v. Ch. Baumgart und H. Hohenemser (Köln 1972) 35. Corradini und Settimelli fordern in ihrem Manifest »Gewichte, Maße und Preise des künstlerischen Genies« 1914 die Schaffung eines Gesetzes, das den Handel der Genialität regelt. »Da wir völlig sicher sind, daß die Gesetze, die wir fordern, in Kürze erlassen werden [ . . . ] « . In: A p o 11 o n i o, Futurismus 209. Ebd. 209. Ebd. 34. Vgl. C. S a l i n a r i , Miti e coscienza del decadentismo italiano (Milano 1960). A p o 11 o n i o, Futurismus 122. Ebd. 77, 74.

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chie, wie sie die Verwaltung der Massengesellschaft — und dazu gehört Kunst, nicht nur, aber zumindest dem Anspruch nach — nicht mehr erlaubt. Diese Konsequenz teilt der Futurismus, der auf alle europäischen Kunstbewegungen der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts, besonders auch durch das »Technische Manifest der futuristischen Literatur« von 1912 gewirkt hat 19 , mit anderen Bewegungen, vom Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus bis zu rechtsradikalen und linkskommunistischen Versuchen20; an ihr wird — im Verhältnis zur geschichtlichen Realität — die Hilflosigkeit, das »bloß Künstlerische«, gerade am gegenteiligen Anspruch deutlich. Die Kurzlebigkeit und das Scheitern dieser Bewegungen rührt wohl audi daher, daß im Anarchismus, oft mit militant politischen Zügen, Kunst und Politik als Elemente der gesellschaftlichen Verwaltung nidit ausreichend und verantwortlich reflektiert, sondern als Anachronismus erscheinen. Die Selbstgewißheit der eigenen Position, die die Künstler der Vergangenheit als bloße »Ästheten«, »Wachsplatten«, »Deskribiermaschinen« abtut, teilt der Expressionismus mit dem Futurismus, formuliert sich aber nicht auf die Aktionskunst hin 21 , sondern will im »Neuen Menschen« die Erlösung der Zeit aus ihren Zwängen leisten. Er ist darin, was die begriffliche Erfassung der Wirklichkeit in ihren repräsentativen Zügen anlangt, etwa in der Haltung zum Krieg, zum Wirtschaftsleben usw., dem Futurismus völlig entgegengesetzt. Jacob van H o dd i s* »Weltuntergang« und Georg H e y m s »Krieg« sind nicht nur typische, sondern auch Leitgedichte der expressionistischen Bewegung. Das »Ganze« der Welt, die Verantwortung für sie, steht im Vordergrund: »Die Tatsachen haben Bedeutung nur soweit, als, durch sie hindurchgreifend, die Hand des Künstlers nach dem faßt, das hinter ihnen steht. Er sieht das Menschliche in den Huren, das Göttliche in den Fabriken. Er wirkt die einzelne Erscheinung in das Große ein, das die Welt ausmacht.«22 Das Hindurchgreifen durch die Tatsachen zielt auf die bestehenden " Vgl. H . R i c h t e r , D i e Auswirkungen des Futurismus. In: A p o l l o n i o , Futurismus 24—29. — A. A r n o l d , Die Literatur des Expressionismus. Sprachliche und thematische Quellen (Sprache und Literatur 35, Stuttgart 1966). 20 Neben einsichtigen Parallelen im Dadaismus sind vergleichbare Züge des Surrealismus zu erwähnen, die freilich anders fundiert waren und in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus verändert worden sind. Der anarchistische Grundzug läßt sich aber auch bei linksgerichteten Bewegungen feststellen. Vgl. W. F ä h n d e r s - M . R e c t o r , Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik 1 (Reinbek bei Hamburg 1974). — K. H. B o h r e r , Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror (Reihe Hanser 40, München 1970). 81 Die Sätze »Wir jungen und starken Futuristen/« und »Wir sind Expressionisten«, »heiß und wild voll Zukunft«, zeigen diese Selbstgewißheit deutlich. Vgl. A r n o l d , Expressionismus 13, und A p o l l o n i o , Futurismus 35. — Expressionismus. A u f zeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen, ed. P. R a a b e (Ölten und Freiburg 1965) 19. — Bezeichnenderweise nicht von einer wirklichen Aktion, sondern vom »Revolutionsball« der »Aktion«, schreibt H. Jakob als vom schönsten Daseinsgefühl der Expressionisten. Vgl. Expressionismus, ed. R a a b e 19. 22 K. E d s c h m i d , Expressionismus in der Dichtung, zit. Expressionismus, ed. R a a b e 17.

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gesellschaftlichen Normen und Unterscheidungen, die in der Vision einer neuen Welt überwunden werden. Es liegt nahe, daß die Überwindung der Tatsachen diese als gesellschaftliche Gewalt verliert, daß die Widersprüche nur ästhetisch zur Einheit verschmolzen werden. Die visionäre Welteinheit wird in die Metapher der Dichtersprache zurückgenommen und damit in der traditionellen Position der Kunst isoliert. So reagierte zumindest die unmittelbar realitätsbezogene Literatur, die darin den seine eigene Hilflosigkeit demonstrierenden Fehlansatz des Expressionismus sah.

Brecht

kritisierte die visionäre Schau ganz aus den realgeschichtlichen

Zusammenhängen; er sieht sie als »peinliche, beunruhigende Unfälle, wo einer >außer sich gerätJasager< [ . . . ] geschrieben; Diskussionen mit Schülern veranlaßten ihn dazu, das Stück abzuändern, ja einen Gegenentwurf, den >Neinsager99 %>Elend< im Titel meint das moralische Elend, das zusammen mit der Furcht die faschistische Herrschaft ermöglicht« 35 ; wenn man also diese als Druckmittel einsehen lernt, so kann der Kampf sogar mit lachender Überlegenheit aufgenommen werden 88 . Es ist Brechts künstlerische Leistung, Gewalt, Macht und Unterdrückung der Literatur in einer Weise zugänglich gemacht zu haben, daß sie ein aktives Verhältnis zur Wirklichkeit eingeht, Eingriff in diese sein kann. E r hat im Epischen Theater eine literarische Form geschaffen, die es ermöglicht, falsche Wirklichkeit, die dargestellt wird, von der Darstellung selber schon aufzuheben, indem diese ein Bewußtsein schafft, das die Gewalt als bestimmte gesellschaftliche und daher aufhebbare erkennen kann. Die starke Betonung dieser Leistung ist gerechtfertigt, da sich ein wesentlicher Teil der neueren Literatur, der Fragen der Gewalt thematisiert, und zwar sowohl der traditionsbezogenen (etwa Frisch, Dürrenmatt) wie der politischen Avantgardeliteratur,• auf ihn beruft. Brecht definiert in seinen Werken Literatur als einen Lernprozeß an der politisch-gesellschaftlichen Realität, der in deren Steuerung eingreifen kann. Nicht Gewalt und Macht als solche, sondern wie sie ausgeübt werden, macht ihm den Begriff der Realität aus. Brecht überwindet damit die Tradition individueller Bewältigung der Wirklichkeit, wie sie für die Literatur maßgeblich war und wie sie im vorliegenden Zusammenhang in der Kriegsliteratur, etwa bei Ernst Jünger, ihren heroisch-anachronistischen Höhepunkt fand. Martin Kämpchen hat in seiner grundlegenden Arbeit »Die Darstellungsweisen der Unmenschlichkeit und Grausamkeit in der Literatur zum ersten und zweiten Weltkrieg« 3 7 J ü n g e r s Ansatz und den B r e c h t s mit der Formulierung »Schweigen-Müssen und Reden-Müssen« gegenübergestellt. Angesichts der U n menschlichkeit im modernen Krieg habe der Schriftsteller bei Jünger zu schweigen, für Brecht hingegen müsse er angesichts der Unmenschlichkeit reden. »Brecht tritt dem Verschweigen und Totschweigen entgegen; seine Haltung ist missionarisch: E r will den Menschen das Bewußtsein von den Untaten einprägen, um JS 30

57

A u t o r e n k o l l e k t i v 10, 638. Brecht läßt im »Messingkauf« den Dramaturgen dieses Lachen folgend charakterisieren: »So mag ein Erfinder lachen, wenn er nach langer Bemühung eine Lösung gefunden hat: So einfadi war es, und er sah es so lange nicht.« M. K ä m p c h e n, Die Darstellungsweisen der Unmenschlichkeit und Grausamkeit in der Literatur zum Ersten und Zweiten Weltkrieg (Diss. Wien 1973 masdi.).

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neue zu verhindern.« Er versäume es aber, meint Kämpchen, anzugeben, wie man über die Untaten des Krieges sprechen oder schreiben könne 38 . Dem ist entgegenzuhalten, daß Breclits systematischer Aspekt, der Verzicht auf Menschlichkeit im bürgerlich wertenden Sinn zugunsten der Betonung politischer Strukturen, als deren Kompensationsform die traditionelle Menschlichkeit (ob als Individualität oder Tragik) erscheint, einen Weg angibt. Diese Reduktion der humanistischen Tradition ist nicht, wie schon bei den Lehrstücken intendiert, menschliche Verarmung, sondern Kunstgesetz, mit Hilfe dessen Literatur in die Realität eingreifen kann. Brechts Weg ist der der politischen Aktivierung, er richtet sich gegen den kontemplativen Kunstgenuß als Genuß einer schon in der Kunst ausreichend bewältigten Wirklichkeit. Seine Lösung — darauf hat Adorno am Beispiel K a f k a s hingewiesen — ist freilich nicht die einzige 39 . Die vor der Wirklichkeit resignierende Haltung (nach Auschwitz sei kein Gedicht mehr möglich) ist schon bei Brecht durch eine Haltung überwunden, die auch von der Kunst fordert, daß Auschwitz nicht mehr möglich ist. Wenn Brecht auf das spontane, individuelle Menschliche verzichtet, so deshalb, weil im Verzicht als Kunstform die Möglichkeit liegt, die Wirklichkeit, die im industriellen Zeitalter nicht mehr in den Kategorien etwa des Individuellen vorhanden ist, sondern im Gegenteil sich Formen der Gewalt bedient, die individuell nicht mehr zu kompensieren sind, zu fassen. D a s ist zugleich keineswegs eine literaturtheoretische Überheblichkeit über die Wirklichkeit des Leids, die die Betroffenen mißachtet. Kämpdien betont mit Wirth anläßlich von Tadeusz B o r o w s k i s »Bitte, die Herrschaften zum Gas!« und »Bei uns in Auschwitz«, daß auch für Borowski als Häftling die Gewalt nicht mehr als Tragik im herkömmlichen Sinn erfaßbar sei. »Borowski schildert seine Erlebnisse nicht pathetisch oder hymnisch, er beschreibt nicht in der Gebärde des Schmerzes und trauernden Mitgefühls — im Gegenteil. Er ist abgestumpft von dem Übermaß des Alltäglich-Schrecklichen, routiniert [ . . . ] mitleidslos, beinahe zynisch gegenüber den Mithäftlingen [ . . . ] Sein Ich dominiert nicht, wie das Wiecherts [im >Totenwaldmenschlich< zu verhalten: >In einer unmenschlichen Situation ist kein Platz für menschliche Reaktionen: auf die einfachste Formel gebracht — Mitgefühl wäre eine Zustimmung zum Mord — eine mörderische Gestepolyphon< schreiben, wenn so etwas möglidi wäre.« 7 Entsprechend schwierig wird sich dieser Versuch gestalten, Gandhis historisch größte Leistung, seine auf die politische Aktion angewandte Lehre von der Gewaltfreiheit aus seinem überaus komplexen Ideengebäude und dem damit fest verbundenen historischen, religiösen und politischen Hintergrund herauszuschälen. Zunächst: Welche Einflüsse verschmolzen in der auf sein politisches Handeln zentral wirkenden religiösen W e l t Gandhis, welche »Glaubenswurzeln«

treten

zutage? T r o t z der tiefen Spuren, die Jainismus und Buddhismus sowie auch das Neue Testament in Gandhis Denken und Handeln eingegraben hatten, war Gandhi zeit seines Lebens gläubiger Hindu. Unter den vielfältigen

Religionsgemeinschaften

Indiens — Hindu, J a i n a , Mohammedaner, Sikh, Parsi, Buddhisten, Christen und Juden — repräsentieren die H i n d u die größte Gruppe, aufgespalten in zahllose Untergruppen, Kasten und Sekten. Was der Westen »Hinduismus« nennt, ist nur ein Sammelbegriff für an sich sehr verschiedene religiöse Doktrinen. Eigentlich handelt es sich beim Hinduismus um keine Religionsgemeinschaft, um

eine

Gesellschaftsordnung

auf

religiöser

Grundlage,

der

sondern

Kastenordnung,

D. K a n t o w s k y , Gandhi und Indiens Entwicklung heute. In: D. K a n t o w s k y , Indien — Gesellschaftsstruktur und Politik (Frankfurt a. M. 1972) 128. T. A l i , Pakistan and Bangladesh: Results and Prospects. In: Explosion in a Subcontinent, ed. R. B l a c k b u r n (Harmondsworth 1975) 307—314. ' »Es war Gandhis historische Leistung, als erster die Theorie des prinzipiell gewaltlosen Aufstandes entwickelt zu haben«, schreibt Th. E b e r t, Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg (Freiburg im Breisgau 1968) 33. Vgl. auch E b e r t, Gewaltfreiheit: Doktrin oder Kampftechnik? Ein Abriß der Wirkungsgeschidite Gandhis außerhalb Indiens von 1923 bis 1964. In: Werkhefte X I X / 2 (1965) 39—48. Der von Theoretikern der gewaltfreien Politik bevorzugte Begriff der Gewaltfreiheit (im Gegensatz zum negativ bestimmten Begriff der Gewalt/oi/gfceif) wurde in diesem Aufsatz weitgehend übernommen, sofern nicht direkt oder indirekt zitiert werden mußte. * W. E. M ü h 1 m a n n, Mahatma Gandhi. Der Mann, sein Werk und seine Wirkung (Tübingen 1950) VII.

5

GANDHI ODER MÖGLICHKEITEN U N D GRENZEN DER GEW ALTFREIHEIT

239

in die der Mensch hineingeboren wird und in der er zu verbleiben hat. Die sozialen Kontakte zwischen den einzelnen Kasten sind durdi detaillierte Spielregeln exakt bestimmt; Verstöße werden von der Kaste mit sozialem Boykott und Exkommunikation geahndet. Nach wie vor wird Indiens Leben durdi das in sich geschlossene Kastensystem mit seinen rituell sanktionierten" Ungleichheiten und Privilegien, denen sich auch der Nichthindu kaum entziehen kann, geprägt 8 . Gandhi, der dem Hinduismus — von seinen orgiastisch-ekstatischen Richtungen abgesehen — loyal ergeben war, lehnte sich nicht gegen das Kastensystem an sich, wohl aber gegen die »Unberührbarkeit« auf. In seinem jahrzehntelangem Kampf gegen die unerbittliche soziale Segregation von Millionen Indern manifestierte sich der Einfluß der westlichen ratio: Er erklärte das Festhalten an der »Unberührbarkeit« als Verstoß gegen die menschliche Vernunft. Gandhis Auslegung des Hinduismus betont die grundsätzliche Toleranz gegenüber anderen Glaubensbekenntnissen (eine Auffassung, die dem Buddhismus entstammt); religiöse Exklusivität lehnte er ab. Aber nach orthodox-hinduistischer Auffassung ist Exklusivität ein wesentliches Strukturelement des Hinduismus, das nicht nur nach außen hin, sondern auch innerhalb der Religionsgemeinschaft streng endogam wirkt. Gandhis Appelle an die eigene Vernunft und Überzeugung, sein Standpunkt, »die Göttlichkeit der ältesten Shastras (heiligen Schriften) zu verwerfen, wenn sie mich in meiner Vernunft nicht zu überzeugen vermögen« 9 , mußten auf die orthodoxen Hindu ebenso häretisch wirken wie die sozial-reformerischen und politischen Forderungen, die sich aus dieser Deutung des Hinduismus ableiteten. Gandhi verfügte ebensowenig über ein religiöses »System« wie über ein politisches. Sein politisches wie religiöses Handeln dreht sich um drei zentrale Begriffe: satyagraha (Festhalten an der Wahrheit); ahimsa (Nichttöten, im weiteren Sinne Gewaltlosigkeit); und brahmadiarya (Enthaltsamkeit). Das Prinzip satyagraha — Gandhi prägte seinen Namen zu einer Zeit, als er in Südafrika einen Terminus für gewaltfreien Widerstand suchte10 — wurzelt im uralten Sanskrit-Wort sat (das Seiende, das Wahre, für Gandhi gleichbedeutend mit Gott) und in agraha (das feste, unabänderliche Festhalten an etwas). Satyagraha bedeutet demnach das Festhalten an der Wahrheit, in der Konsequenz des Handelns das Eintreten für das als Recht Erkannte. Der satyagrahi hält als wahrhaftiger Mensch unverrückbar an der Wahrheit fest, auch und gerade weil er diese Wahrheit niemals an sich festhalten, haben, sondern immer nur suchen kann 11 . Zugleidi bezeichnet satyagraha Gandhis strategisches Konzept des gewaltfreien Einsatzes für die Wahrheit. 8

Vgl. K a n t o w s k y , Aspekte sozialer Mobilität in Indien. In: K a n t o w s k y , Indien 169—180. • M ü h l m a n n , Mahatma Gandhi 96. Vgl. audi G a n d h i , Freiheit ohne Gewalt 108. 10 Gandhi, Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit (FreiburgMünchen 1960) 283—284. 11 M ü h 1 m a n n, Mahatma Gandhi 98—99; G a n d h i , Freiheit ohne Gewalt 79—82; E. H. E r i k s o n, Gandhi's Truth. On the Origins of Militant Nonviolence (New York 1969) 411—415.

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Nachdem Wahrheit nicht ein äußerer Bezugspunkt, sondern ein Erlebnis ist, das durch ununterbrochenes Experimentieren auf die Probe gestellt werden muß, nannte Gandhi seine Autobiographie »Experimente mit der Wahrheit«. Seine von ihm genau beschriebenen Experimente betrafen nicht nur religiös-ethische Einsichten und großangelegte politische Aktionen, sondern auch die Belange des alltäglichen Lebens — Experimente mit der Ernährung, Krankenbehandlung, Hygiene, denen er ebenso breiten Raum in seiner Selbstdarstellung gewährte. »Gandhi erlebt an sich selbst die Formbarkeit der menschlichen Existenz«, schreibt Dietmar Rothermund. »Indem er sich zum Experiment bekennt, betont er zugleich den Willen, diese Formung selbst zu übernehmen und nicht zum Spielball äußerer Einflüsse zu werden. Doch soll dieser Wille zur Selbstbestimmung nicht zum Eigensinn werden. Die Wahrheit ist allgemeinverbindlich, und so muß die eigene, erprobte Wahrheit auch die Wahrheit des anderen sein. Aber das ist für Gandhi nicht ein Postulat, sondern eine Hypothese, die er zu beweisen versucht.«12 Ist die Wahrheit allgemeinverbindlich, so müssen alle Experimente mit ihr nachvollziehbar sein. »Es ist falsch, midi einen Asketen zu nennen«, schrieb Gandhi einmal. »Die Ideale, die mein Leben regeln, sollen die ganze Menschheit verpflichten. Ich erreichte sie durch stufenweise Entwicklung. Sowohl meine Enthaltsamkeit wie die Gewaltlosigkeit sind aus persönlicher Erfahrung abgeleitet und erwiesen sich als notwendig, wenn ich den Aufgaben meiner öffentlichen Pflichten genügen wollte. [ . . . ] Ich zweifle nicht im mindesten, daß jeder Mann oder jede Frau erreichen kann, was ich erreiche, wenn er oder sie sich in gleicher Weise bemüht und von der gleichen Hoffnung und gleichem Glauben erfüllt ist.«13 Konsequenterweise war Gandhi stets zur Revision bereit, und er hat seine politischen Fehler, soweit sie ihm bewußt waren, offen eingestanden. Die aktive Handhabung von satyagraha gestattet nicht die Anwendung von Gewalt. Irrtum ist möglich, die Wahrheit, die man zu erkennen glaubt, bleibt anfechtbar. Dem Gegner darf daher nicht mit Gewalt begegnet werden, sondern nur mit Geduld und Liebe. Da man trotz der Überzeugung von der Wahrhaftigkeit seines Tuns irren kann, ist es besser, selbst zu leiden, als dem Gegner Leid zuzufügen. Wir werden Gandhis »Gesetz des Leidens«, das der indischen Leidensphilosophie entstammt, noch mehrere Male begegnen14. Hier, im Zentrum von Gandhis Lehre, treffen sich eine Reihe von religiösen Einflüssen. Gandhi war, vor allem von seiner Mutter her, jainistisdi beeinflußt; seine tief religiöse Familie, die der Sekte der vaishnava (Vishnu-Verehrer) angehörte, pflegte Kontakte mit Jaina-Mönchen15. In keiner Religion spielt die »Ehr15

13 14 15

D. R o t h e r m u n d , Mohandas Karamchand Gandhi. In: Politik ohne Gewalt? Beispiele von Gandhi bis Cämara, ed. H . J . S c h u l t z (Frankfurt a. M. 1976) 8. Young India, 16. Februar 1922. In: D e s a i, Begegnung mit Gandhi 3 6 — 3 7 . E b e r t, Gewaltfreier Aufstand 3 4 ; M ü h l m a n n , Mahatma Gandhi 101. M ü h 1 m a n n, Mahatma Gandhi 115; E r i k s o n, Gandhi's Truth 1 6 2 — 1 6 3 ; G. A s h e , Gandhi. A Study in Revolution (London 1968) 13; O. W o l f f , Mahatma Gandhi. Politik und Gewaltlosigkeit (Göttingen 1963) 14.

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GANDHI ODER MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER GEWALTFREIHEIT

furcht v o r d e m L e b e n « eine derartige R o l l e : d a s G e b o t des Nichttötens, ahimsa,

um-

f a ß t nicht nur die Tier-, sondern auch die Pflanzenwelt. A u d i d a s strikte V e r b o t der U n W a h r h a f t i g k e i t

(asatya

tyaga),

Keuschheit, Selbstzucht, u n d des aparigraha stammen

dem Jainismus16.

die F o r d e r u n g vrata,

der

brahmacharya,

der

des Verzichtes a u f Besitz, ent-

Diese asketischen G r u n d z ü g e bestimmten

Gandhis

Leben in u m so stärkerem M a ß e , je älter er w u r d e . Jainistisch u n d buddhistisch ist die grundsätzliche Ü b e r z e u g u n g v o n der L e i d h a f t i g k e i t u n d Vergeblichkeit des menschlichen D a s e i n s . G a n d h i teilte den b u d d h i stischen S t a n d p u n k t v o n der F o r d e r u n g nach universalem Mitleiden

(karuna),

die a u f die g e s a m t e belebte Welt ausgedehnt w i r d . W i e der B u d d h i s t erklärt auch G a n d h i : » I c h will nicht wiedergeboren w e r d e n . « (Zugleich setzt er jedoch h i n z u : » A b e r w e n n ich wiedergeboren w e r d e n muß, d a n n nur als U n b e r ü h r b a r e r , u m die Sorgen, d a s L e i d u n d die Beleidigungen z u teilen, denen sie ausgesetzt sind, d a m i t in mir d a s Bemühen wach w i r d , mich u n d sie aus der furchtbaren L a g e z u befreien.«17) D a der B u d d h i s m u s ahimsa

z u m unbedingten G e b o t erhob, k o n n t e der H i n d u i s -

mus d a v o n nicht unbeeinflußt bleiben. D e r B u d d h i s m u s geht soweit, d a ß er N i c h t G e w a l t u n d unbedingte W a h r h a f t i g k e i t nicht nur als äußerliche V e r h a l t e n s f o r m , sondern als G e s i n n u n g f o r d e r t , die d a s R e d e n u n d D e n k e n ebenso u m f a s s e n soll wie d a s T u n . V o n der Willensfreiheit des Menschen, v o n der F o r m b a r k e i t seines C h a r a k t e r s u n d Geistes überzeugt, v e r l a n g t der B u d d h i s m u s die Fähigkeit z u gewaltloser Resistenz, die K r a f t , N e i n z u sagen. » D i e buddhistische Mission ruht auf der Ü b e r z e u g u n g , d a ß d a s innere Sein bestimmend ist in der Welt. D i e E r m a h n u n g z u r Liebe (metta) u n d Wahrheit (sacca) ist nicht einfach eine F o r d e rung, freundschaftliche G e f ü h l e f ü r die M i t w e l t z u hegen u n d L ü g e zu meiden, sie ist vielmehr ein w i r k s a m e s inneres Geschehen, d a s die Welt v o n innen her umgestalten k a n n . Buddhistische Mönche gingen in entlegene L ä n d e r z u b a r b a rischen S t ä m m e n , w o viele v o n ihnen u m k a m e n . Sie starben mit d e m Lächeln der Weltüberlegenheit. D a s heroisch-gewaltlose E r d u l d e n v o n V e r f o l g u n g , Leiden u n d T o d h a t viel z u m Sieg des frühen B u d d h i s m u s in Indien u n d a n d e r w ä r t s beigetragen. D i e inneren Beziehungen z u G a n d h i s S a t y a g r a h a - B e w e g u n g sind hier mit H ä n den z u g r e i f e n . « 1 8 G a n d h i s H i n d u i s m u s w a r v o r allem durch sein Verhältnis z u r d e m wichtigsten D e n k m a l »GitaIhn< nicht getrennt vom Rest der Menschheit finden. Meine Landsleute sind meine nächsten Nachbarn. Sie sind derart hilflos, bar jeder Mittel und Initiative, daß ich mich bemühen muß, ihnen zu helfen. Wenn ich allerdings davon überzeugt wäre, >Ihn< in einer Höhle des H i m a l a y a zu finden, würde ich mich sofort auf den Weg dorthin machen. Doch weiß ich, daß ich >Ihn< nicht getrennt von den anderen Menschen finden kann.« 2 5 Gandhi löste damit das Problem des Hinduismus, wie sich der einzelne zwischen Selbstverwirklichung und Gesellschaft verhalten sollte, indem er alle seine Aktivitäten als Wege zur Wahrheit, zu G o t t auffaßte. D a alle Lebewesen eins waren und die eigene Selbstverwirklichung von der aller anderen abhing, mußte er sein Leben im Dienste der anderen führen, wollte er zur eigenen Selbstverwirklichung gelangen. Streben nach Selbstverwirklichung und ein Leben im Dienst für andere schlössen einander nicht mehr aus, sondern bedingten einander. »Nicht auf Gandhi berufen konnte sich künftig, wer, im safrangelben Gewand

des

>samnyasa< gekleidet, die Welt und ihre Geschäftigkeit floh, um sich selbst besser erkennen zu können. In Isolierung von der Gesellschaft und ihren Aufgaben und Versuchungen errungene Selbstkontrolle und Selbstverwirklichung ist nach Gandhis Ansicht ein wertloser Irrweg.« 2 ® Für Indien war diese Verbindung von Mystik und Politik neu; Gandhis Lehre klang vertraut und wiederum revolutionär. Doch nur vor dem Hintergrund Asiens M ü h l m a n n , Mahatma Gandhi 147. K a n t o w s k y, Gandhi 129. " Ebd. 125—136. 24

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konnte er das kontemplative Nichttun und Nichtwollen des Ostens mit »westlichem« Tun in eine dialektische Beziehung setzen. Im Westen wurde er — trotz individueller Bewunderung — kaum jemals richtig verstanden. Europa nannte ihn mit Churchill den »nackten Fakir«, und im feuchtkalten London setzte der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung nicht nur seine Anhänger, sondern auch seine Karikaturisten in Bewegung 27 .

II. Als nach dem Ersten Weltkrieg die britischen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die entgleitende Kolonie mit den Bewegungen der Non-Cooperation (NichtZusammenarbeit) und der Civil Disobedience (bürgerlicher oder ziviler Ungehorsam) beantwortet wurden, verlangte dies nach umfangreicher Organisation und politischer Erziehung der Massen. Gandhi hatte bereits Erfahrung darin: Als die südafrikanische Regierung in den neunziger Jahren begonnen hatte, die indischen Einwanderer durch erniedrigende Restriktionsmaßnahmen unter Druck zu setzen, hatte Gandhi zum ersten Mal die gewaltfreien Waffen des zivilen Ungehorsams eingesetzt28. Auch in Indien begannen sehr bald die Kampagnen der Nicht-Zusammenarbeit und des zivilen Ungehorsams ihre Wirkung zu zeigen: Tausende Studenten verließen die britischen Schulen und Universitäten, die Bauern hörten auf, Steuern zu zahlen, die »ausländischen« Kleider wurden verbrannt, während Gandhi begann, das für jeden Inder obligate Spinnen und Weben seiner Kleidung zu propagieren 29 . Der soziale Boykott ist uralte indische Tradition und spielt im Volksleben eine beträchtliche Rolle. Die Institution des dharna ermöglicht dem Opponenten oder dem ihn vertretenden Brahmanen, den Gegner durch Fasten vor dessen Haustür mit der Schuld an seinem Hungertod zu bedrohen. Dieses Verfahren wird etwa von Gläubigern angewendet, um Schulden einzutreiben, oder von Jugendlichen, um Widerstand gegen unliebsame Verhaltenserwartungen der Großfamilie zu leisten. Manchmal übten ganze Gemeinden kollektiven dharna gegen ihren Fürsten, um ihn durch Lahmlegung der gesamten Wirtschaft zum Nachgeben zu zwingen. 1824 kam es in der Gegend von Benares zu kollektivem dharna gegen den britischen Generalgouverneur, der zur Rücknahme von Steuererhöhungen führte 30 . " Vgl. die Lebenserinnerungen Charlie Chaplins, der Gandhi 1931 in London kennenlernte und mit ihm ein Gespräch über Gandhis Haltung zur Maschine und über den indischen Unabhängigkeitskampf führte. Chaplin, der von Gandhi sehr beeindruckt war, hielt dessen Besuch in London für einen Fehler, da sich hier das Legendäre an ihm verflüchtigte und sein Auftritt deplaciert wirkte. Ch. C h a p l i n , Die Geschichte meines Lebens (o. O. 1%4) 344—346. 28 F i s c h e r , Mahatma Gandhi 81—102. 10 Ebd. 194—207. 30 Kantowsky, Gandhi 142—143; M ü h l m a n n , Mahatma Gandhi 160—161; A s h e, Gandhi 100.

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Die Wirksamkeit von dharna liegt darin, daß die Drohung, zu sterben, falls der Gegner nicht nachgibt, ernst gemeint ist, und zu einem moralischen Druckmittel ersten Ranges wird. Dharna, das nichts anderes ist als bewußtes Selbstleiden, wurde von Gandhi wiederholt geübt, um den Kämpfen zwischen Moslems und Hindus ein Ende zu bereiten oder die Kastenschranken gegenüber den »Unberührbaren« zu brechen31. Islamische Vorformen der Nicht-Zusammenarbeit und des sozialen Boykott sind die hidschra, der zeitweilige Exodus der Bevölkerung unter Protest (die bekannteste hidschra war jene Mohammeds und seiner Schar), sowie der hartal, ein Fastentag mit Gebet und allgemeinem Stillstand — eine Tradition, auf die Gandhi ebenfalls wiederholt zurückgriff 32 . Gandhis Leistung besteht darin, diese überlieferten Widerstandsformen aufgegriffen und mit neuen Inhalten versehen zu haben. Er verschmolz sie mit satyagraha und entkleidete sie ihrer Straffunktion: Nicht-Zusammenarbeit und ziviler Ungehorsam sollten nicht moralisch erpressen — das wäre unverzeihliche Gewaltanwendung —, sondern moralischen Druck ausüben. Worin liegt die Grenze? Wenn Gandhi immer wieder drohte, »bis zum Tode« zu fasten, so unterschied er sich formal nicht vom Gläubiger, der durdi dharna den säumigen Schuldner erpressen will. Tatsächlich wurden die einsamen Fastenaktionen des alten Mannes von seiner Umwelt häufig nicht mehr als Selbstopfer, sondern als skrupellose Erpressung angesehen33. Dieses Fasten entsprach auch nicht mehr dem Prinzip der Nachvollziehbarkeit von gewaltlosen Widerstandsaktionen, denn Gandhi warf eine Autorität in die Waagschale, über die eben nur er verfügte. Er kämpfte mit seinem Prestige, und wurde nachgegeben, dann eben ihm als Person und nicht seinem Anliegen an sich. Gandhi hat sich immer wieder genötigt gesehen, den Grundsatz der Gewaltlosigkeit neu auszulegen. Er sah sich zu einer eigenartigen Dialektik gezwungen, wenn er zugeben mußte, daß es eine relative Rechtfertigung des gewaltsamen Widerstandes geben kann: Kämpft ein Mann — oder ein Volk — gegen eine bewaffnete Ubermacht, so ist das »fast non-violent« 34 . Entscheidend ist jedoch, daß »Gewaltlosigkeit der Gewalt unvergleichlich überlegen ist«35. Gewaltlosigkeit bedeutet nicht Schwäche; sie soll der überlegenen Seelenstärke dessen entspringen, der wohl Gewalt anwenden könnte, aber auf die äußeren Waffen verzichtet und nur durch Reden oder gewaltfreies Tun den Gegner zu beeinflussen sucht. Richtig verstanden und angewandt ist Gewaltlosigkeit eine ungemein aktive Kraft; wird sie in einem durchdachten und gesteuerten Experiment eingesetzt, so kann sie revolutionäre Energien auffangen und, ohne ihre zerstörerischen Potenzen zur Geltung kommen zu lassen, nutzbar machen. Daher liebte Gandhi auch nicht den 51 3!

33 14 85

F i s c h e r , Mahatma Gandhi 232—236, 320—336, 514—523. M ü h l m a n n , Mahatma Gandhi 163; A s h e , Gandhi 187—188, 190—192, 200, 225, 290, 294. G a n d h i , Freiheit ohne Gewalt 72; R o t h e r m u n d , Gandhi 14. M ü h 1 m a n n, Mahatma Gandhi 204—205. Young India, 11. August 1920. In: D e s a i, Begegnung mit Gandhi 56.

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Ausdruck »passiver Widerstand« 3 6 . Voraussetzung f ü r jede gewaltfreie A k t i o n ist der M u t , dem Gegner waffenlos gegenüberzutreten; n u r w e r Angst vor dem Gegner hat, greift zur G e w a l t . Feigheit ist f ü r G a n d h i n o d i schlimmer als G e w a l t anwendung, u n d v o r die W a h l zwischen beiden gestellt, entscheidet er sich f ü r zweiteres. Nicht die K r a f t zu töten sei wesentlich, sondern die K r a f t zu sterben®7. Nach Meinung v o n K a n t o w s k y bestand G a n d h i s größte Leistung darin, den K o m plex der indischen Inferiorität gegenüber den Briten in ein G e f ü h l geistig-sittlicher Überlegenheit umgekehrt zu haben, indem er dem westlichen Männlichkeitsideal einen neuen, hinduistisch geprägten Begriff v o n M u t gegenüberstellte 3 8 . G a n d h i s satyagraha verlangt neben Gewaltfreiheit u n d Wahrheit nach vorbehaltloser Offenheit. List u n d Geheimhaltung sind Kennzeichen u n d Voraussetzung v o n gewaltsamen Aktionen, w ä h r e n d der E r f o l g der gewaltfreien Aktion gerade von der allgemeinen Kenntnis der Dinge, u m die es geht, a b h ä n g t . Politische Aktionen u n d K a m p a g n e n w u r d e n stets im voraus in allen Details angekündigt, auch u n d gerade dann, w e n n sie b e w u ß t e Gesetzesübertretungen beinhalteten. Das Ablehnen jeglicher Konspiration charakterisierte nicht nur die von G a n d h i geführten Bewegungen, sondern ebenso die von K w a m e N k r u m a h , M a r t i n Luther King, D a n i l o Dolci oder Bertrand Russell in aller Offenheit organisierten Widerstandskampagnen. Die Überzeugung, f ü r eine w a h r h a f t e Sache einzustehen, schafft bei den Aufständischen die psychologischen Vorbedingungen f ü r den E r f o l g einer K a m p a g n e ; sie erzeugt jene moralische Stärke u n d Überlegenheit, die es ermöglicht, Furcht zu überwinden u n d Sanktionen des Gegners ohne Gegenwehr zu ertragen. »Die Offenlegung der gewaltfreien Strategie bedeutet, d a ß m a n nicht unter dem Gesetz des Gegners antritt, sondern ihn in das Gesetz des eigenen H a n d e l n s einbezieht.« 3 * Für G a n d h i ging es nicht darum, den Gegner zu vernichten, sondern seine Gegnerschaft innerlich zu überwinden, ihn zu sich herüberzuziehen. O p f e r wille u n d geduldig ertragene Leiden sollen die Kooperationsbereitschaft des Gegners wecken u n d dadurch einen Konsens vorbereiten. Die langwierigen V e r h a n d lungen, die G a n d h i vor jeder seiner Aktionen mit der britischen Kolonialmacht führte, seine Kompromißbereitschaft, die sich auch mit der E r f ü l l u n g v o n Minimalforderungen zufriedengab, sein G r u n d s a t z , zuerst alle anderen Mittel zu ersdiöpfen, bevor gewaltfreier Widerstand organisiert w e r d e — eine Vorgangsweise, die auch f ü r M a r t i n Luther King charakteristisch w a r — stießen in Indien immer wieder auf Kritik, da die D y n a m i k der Massen d a d u r d i erlahmte 4 0 . N i d i t eine systematisch angeheizte Atmosphäre, sondern die Überzeugung, keine andere W a h l mehr zu haben, sollte das entscheidende Moment f ü r den Beginn der Aktion bilden: Der endliche Entschluß z u m gewaltfreien K a m p f m u ß auf echte Gewissensnot zurück-

" Harijan, 20. März 1937. In: D e s a i, Begegnung mit Gandhi 50. Young India, 23. Januar 1930. In: D e s a i, Begegnung mit Gandhi 58. 38 K a n t o w s k y , Gandhi 142. 39 R o t h e r m u n d , Gandhi 10. 40 G. D h a w a n, The Political Philosophy of Mahatma Gandhi (Ahmedabad 31957) 137.

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gehen41. »Da Satyagraha eine der wirksamsten Methoden direkten Handelns ist, versucht ein Satyagrahi erst alle anderen Mittel, bevor er zu Satyagraha greift. Er wird sich daher stetig und unaufhörlich an die verfassungsmäßige Autorität wenden, an die öffentliche Meinung. Er wird diese erziehen und jedem, der ihm zuhören will, sein Anliegen ruhig und kühl darlegen, und nur wenn alle diese Wege erschöpft sind, nimmt er zu Satyagraha seine Zuflucht. Wenn er aber den zwingenden Ruf der inneren Stimme in sich vernommen hat und sidi zu Satyagraha entschließt, verbrennt er alle seine Schiffe hinter sich, und es gibt für ihn kein Zurück.« 42 Innerhalb der gewaltfreien Bewegungen sind eine Reihe von unterschiedlichen Aktionsformen entwickelt worden, deren höchste Eskalationsstufe jener des gewaltsamen Widerstandes als gleichwertig erachtet wird. Gandhi selbst bezeichnete den zivilen Ungehorsam, die höchste Eskalationsstufe des gewaltfreien Widerstandes, als vollwertigen Ersatz für den bewaffneten Aufstand 43 . Gewaltfreie Aktionen dürfen nicht mit subversivem Widerstand verwechselt werden; sie müssen neben ihrem unmittelbaren Ziel zugleich auch das gewandelte soziale System, das die bisherigen Herrschaftsstrukturen ersetzen soll, vorbereiten und am Schluß der Kampagne bereits geschaffen haben. Sie erhalten dadurch eine doppelte Funktion. Ohne konstruktiven Einsatz für ein neues, funktionierendes Sozialsystem, meint Gandhi, sei ziviler Ungehorsam bloßes Abenteurertum 44 . Er selbst gab das Beispiel: Seine jahrzehntelange Propagierung des Spinnrades zur Erzeugung von Homespun verstand Gandhi nicht nur als Wirtschaftsboykott den Engländern gegenüber; er lehnte indische Fabriksware ebenso ab. Sein Ziel war nicht eine kapitalistische Entwicklung Indiens: Eine am Profitstreben orientierte Wirtschaft sei auf Ausbeutung aufgebaut und damit auf Gewalt 45 . Gandhis Alternative war ein Wiederaufleben der ursprünglichen Wirtschaftsstruktur Indiens mit neuen sozialen Vorzeichen. Die Zerstörung jener Produktionsweise, die von Marx und Engels als »asiatisch« bezeichnet wurde und auf Gemeineigentum an Grund und Boden, kollektiver Bearbeitung und Bewässerung und die ökonomisch weitgehend autarke Dorfgemeinsthaft aufgebaut war, war weitgehend den britischen Kolonialherren zuzuschreiben, was Gandhi ihnen immer wieder schwer anlastete 46 . Gandhis »Maschinenstürmerei« bekämpfte die Industrialisierung an sich und bezweckte nicht eine Neuverfügung über die industriellen Produktionsmittel; durch die Revitalisierung und Weiterentwicklung der alten Wirtschaftsstruktur sollte eine dezentralisierte Dorfwirtschaft beziehungsweise Dorfdemokratie aufgebaut werden, die sich an den primären Bedürfnissen des ein41

E b e r t, Gewaltfreier Aufstand 136. Young India, 20. Oktober 1927. In: D e s a i, Begegnung mit Gandhi 74—75. 43 E b e r t, Gewaltfreier Aufstand 33. 44 Vgl. E b e r t , 230—235. 45 Vgl. Gandhis »gewaltlosen Sozialismus« und seine Alternative zur industriellen Entwicklung Indiens. In: G a n d h i , Towards Non-Violent Socialism (Ahmedabad 1951). 4 ' F i s c h e r , Mahatma Gandhi 278—280. 41

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zelnen zu orientieren hätte 47 . Was Gandhi nicht bewußt zu sein schien, war, daß kein Land von der Entwicklung der Produktivkräfte isoliert werden kann — zumal Indien schon sehr früh in den kapitalistischen Weltmarkt integriert wurde —, sondern daß die notwendige industrielle Entwicklung in ein alternatives Gesellschaftskonzept hätte einbezogen werden müssen. Daran änderte auch nichts, daß es gelang, Gandhis persönliche Umwelt als »Gegengesellschaft« im Mikrokosmos aufrechtzuerhalten: Gandhi gründete bereits in Südafrika zwei ökonomisch und sozial nahezu autarke »Dörfer« und lebte später in Indien bei Ahmedabad, einem alten Zentrum der Handweberei, im legendären »Ashram«•, der ebenfalls eigenen sozialen Gesetzen unterlag 48 . Derartige Vorwegnahmen von Elementen der angestrebten Sozialstruktur sollten helfen, in Verbindung und als Teilfaktor von Nicht-Zusammenarbeit und zivilem Ungehorsam Indien für das spätere Sozialsystem vorzubereiten. Mißachtung der staatlichen Autorität, Steuerverweigerung, Blockade des Verkehrs, Generalstreik und Aufforderung des Heeres und der Polizei zur Meuterei paralysierten nicht nur das bisherige Herrschaftssystem, sondern sollten es politisch wie ökonomisch für die künftige Umformung aufweichen. Das zukünftige soziale System kann aber nicht nur durch zielsichere Aktionen erschüttert, sondern bereits teilweise im Rahmen des Bestehenden errichtet werden. Mit Hilfe von »ziviler Usurpation« handeln die Aufständischen so, als ob das neue Sozialsystem bereits bestehen würde, übernehmen ohne Rücksicht auf die bislang Herrschenden die entsprechenden Rollen. Das bedeutet, »daß auf der Spitze der Eskalation in der Vorstellung der Kontrahenten des Konflikts zwei soziale Systeme nebeneinander bestehen, das System der Herrschenden und das System der Aufständischen« 48 . Es hat den Anschein, als träfen sich hier Elemente der Strategie des gewaltfreien Aufstandes mit jener der revolutionären Arbeiterbewegung: Audi die Bolschewiki praktizierten die systematische Zersetzung des bestehenden Herrschaftssystems und errichteten über die Sowjets in den Monaten vor der Oktoberrevolution eine »Doppelherrschaft«, in der sich die politisdien Repräsentanten sowohl der bürgerlichen als auch der aufständischen Seite die Macht teilten. Wenn auch Theoretiker der gewaltfreien Aktion die schrittweise Übernahme der staatlichen Institutionen und Administration durch gewaltfreie Usurpation für möglich halten, so verblieben in der Realität alle derartigen Versuche 47

»Meiner Ansicht nach sollte die wirtschaftliche Verfassung Asiens und auch der Welt derart beschaffen sein, daß es keinem an Nahrung und Kleidung gebricht. Mit anderen Worten, es sollte jeder genug Arbeit haben, um sein Auskommen zu finden. Dieses Ideal kann allgemein nur verwirklicht werden, wenn sich die Erzeugungsmittel für die grundlegenden Lebensgüter in der Kontrolle der Massen befinden. Die Güter sollen alle frei zur Verfügung stehen, wie es Gottes Luft und Wasser sind oder sein sollten. Sie dürfen nidit als Handelsobjekt zur Ausbeutung anderer dienen.« Young India, 15. November 1928. In: D e s a i, Begegnung mit Gandhi 94—95. Vgl. auch F i s c h e r , Mahatma Gandhi 340—343; K a n t o w s k y , Gandhi 143—145. 48 G a n d h i , Freiheit ohne Gewalt 151—159, 177—185. " E b e r t, Gewaltfreier Aufstand 41; vgl. auch 55.

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im Rahmen des bestehenden Systems50. Die Hoffnung, daß ein planmäßig von unten nach oben aufgebautes revolutionäres Usurpationssystem seinen Anpassungszwang auf die Herrschenden derart ausüben könnte, »daß diese sich schließlich nicht länger der Besetzung der organisatorischen Spitzen des Systems der Aufständischen widersetzen« 51 und eine derartige gewaltfreie Machtergreifung erfolgreich abgeschlossen werden könnte, blieb bisher unerfüllt.

III. Unter welchen Bedingungen ist nun gewaltfreier Widerstand möglich und erfolgreich? Natürlich spielen die Größenverhältnisse der Bewegung eine wichtige Rolle; als Ideal wird die Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung angesehen. Je breiter die Basis, desto schwieriger ist es aber, die mobilisierten Massen, die ihren eigenen dynamischen Gesetzen und konjunkturellen Schwankungen unterliegen, zu kontrollieren. Gandhi mußte immer wieder die Erfahrung machen, daß die von ihm in Bewegung gesetzten Kampagnen sich seinem Einfluß zu entziehen begannen, sidi verselbständigten und in Gewalttätigkeit umschlugen. Dies trat vor allem dann ein, wenn er sich für längere Zeit von der Tagespolitik zurückzog oder inhaftiert war. Während seiner gesamten Wirkungszeit in Indien kam allein die Unabhängigkeitskampagne von 1930/31 dem Ideal einer Bewegung des zivilen Ungehorsams nahe, da sie neben Steuerverweigerung und Generalstreik auch die offene Gehorsamsverweigerung von Verwaltungsbeamten, Polizei und Heer aufwies 52 . Gandhi mußte immer wieder Kampagnen abbrechen, weil die Massen nicht über längere Zeit zu disziplinieren waren; er versäumte es, neue und die Kombattivität der Bevölkerung nicht zu sehr zermürbende Aktionsformen zu entwickeln. Nicht-Zusammenarbeit und ziviler Ungehorsam in der von ihm bevorzugten Form ließen sich immer nur beschränkte Zeit aufrechterhalten. In seinen späteren Jahren ging Gandhi den Problemen der Massenbewegung dadurch aus dem Weg, daß er sich auf die Ein-Mann-Kampagne des persönlichen Fastens beschränkte, einsame Unternehmen, die ihn von den Massen trennten und, wie gesagt, auf geteilte Meinung stießen. M

Ebd. 41—43. Als klassisches Beispiel gilt der Salzmarsch Gandhis im Jahre 1930, als er unter Mißachtung der britischen Salzsteuer an der Küste von Dandi symbolisch einige Salzkörner aufhob und damit eine Massenbewegung der autarken Salzgewinnung in Indien einleitete. Vgl. F i s c h e r , Mahatma Gandhi 276—288. Neuere Spielarten sind etwa die Sit-ins der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder der englischen Atomwaffengegner, die versuchten, Raketenbasen zu besetzen und zu blockieren. In abgewandelter Form sind diese Taktiken von der Studentenbewegung, aber auch von den in den letzten Jahren sidi immer weiter ausbreitenden Bürgerinitiativen übernommen worden. 51 E b e r t, Gewaltfreier Aufstand 42—43. " F i s c h e r , Mahatma Gandhi 290—292; E b e r t , Gewaltfreier Aufstand 218, 227.

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Die indische Unabhängigkeitsbewegung gilt allgemein als Paradebeispiel des erfolgreichen gewaltfreien Widerstandes. Aber ein entscheidender Verbündeter Indiens war der Faktor Zeit: Dem britischen Löwen begannen bereits zu Beginn der Bewegung die Zähne auszufallen. Nur fünfzig Jahre früher hätte Großbritannien trotz aller demokratischen Traditionen den Widerstand Indiens mit Gewalt gebrochen ¡nach dem Ersten Weltkrieg konnten die Briten ihrer Kronkolonie nur mehr Rückzugsgefechte liefern. (Ähnliches gilt für die »Positive Aktion«, die ghanesische Unabhängigkeitsbewegung unter Nkrumah, die nach nur sieben Jahren abgeschlossen werden konnte.) Die amerikanische Rassenintegrationsbewegung hatte ebenfalls die Zeichen der Zeit — oder, wenn man will, die historische Entwicklung — hinter sich: im Zeitalter der zunehmenden Emanzipationsbestrebungen der ehemaligen Kolonialländer und heutigen Dritten — farbigen! — Welt konnte die politische Diskriminierung der farbigen Amerikaner in ihrem bisherigen Umfang nicht länger fortgesetzt werden, ohne gefährliche Aufstände zu provozieren. Die ökonomische und soziale Integration hingegen konnte bisher noch kaum Fortschritte verzeichnen. Die Bewegung der Atomwaffengegner in Westeuropa, in Kanada und in den USA, die bereits Anfang der fünfziger Jahre entstand, gewann erst in der Phase der Annäherung und Koexistenzpolitik der Großmächte an Breite und Einfluß; ihr zweifellos wichtigster Erfolg, das Schaffen einer Öffentlichkeit durch intensive Aufklärungskampagnen über die Gefahren des Atomkriegs und der Aufrüstung, wurde durch eine günstige außenpolitische Konstellation erleichtert. Doch die Abrüstungskonferenzen mit den relevanten Resultaten — wie etwa der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen 1968 und das Abkommen über die Begrenzung der strategischen Rüstungen (SALT) 1972 — gingen unbeeinflußt von der zu dieser Zeit sich bereits in Auflösung befindenden Bewegung über die Bühne. Das definitive Ziel der Atomwaffengegner, die Abschaffung aller nuklearen Waffen, ist heute weiter entfernt als je. Einen klaren Erfolg schließlich konnte die amerikanische Anti-VietnamkriegBewegung für sich buchen, die in ihrer Endphase Hunderttausende mobilisierte und die bisher wohl größte Kriegsdienstverweigererkampagne durchführen konnte. Audi diese Bewegung war von außenliegenden Geschehnissen, das heißt von den Ereignissen in Vietnam, abhängig, doch war sie indirekt in steigendem Maß an deren Entwicklung beteiligt. Zusammen mit der weltweiten, bisher ungekannte Dimensionen erreichenden Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, vermochten die amerikanischen Vietnamkriegs-Gegner die US-Soldaten (aber im umgekehrten Sinn auch Nordvietnam und den Vietcong!) moralisch zu beeinflussen und einen bedeutenden Teil der amerikanischen Öffentlichkeit für ihre Ziele zu gewinnen. Je aussichtsloser die amerikanische Intervention sich gestaltete, desto einflußreicher wurde das »AntiWar-Movement«, und zum außenpolitischen Drude auf die Regierung gesellte sich nachdrücklich der innenpolitische. Alle diese Erfahrungen lehren, daß gewaltfreie Bewegungen, sollen sie Erfolg haben, neben günstigen politischen Ausgangsbedingungen auf allgemein demo-

GANDHI ODER MÖGLICHKEITEN U N D GRENZEN DER GEW ALTFREIHEIT

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kratische Verhältnisse angewiesen sind; sie müssen in einem Rahmen stattfinden können, der einer Opposition Chancen zur Propagierung, Organisation und Durchführung ihrer Anliegen gewährt. Unter einem repressiven Regime ist diese Chance kaum gegeben: Nicht nur, daß der gesamte Kommunikations- und Propagandaapparat der staatlichen Kontrolle unterliegt und die rein technischen Voraussetzungen sehr problematisch sind; oppositionelle Bewegungen — gleich, ob gewaltfrei oder gewaltsam — werden scharfen Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt und in die Illegalität gedrängt, ein Zustand, den die Strategie der gewaltfreien Aktion, wie wir bereits wissen, prinzipiell ablehnt. Die unter demokratischen, zumindest liberalisierten Bedingungen mögliche Taktik, den Gegner moralisch zu zermürben, indem man ihm Zusammenarbeit und Bürgergehorsam verweigert, findet keinen Boden: Die von Gandhi und seinen Schülern geforderte Zivilcourage, standhaft »der Gefahr und dem Tode zu trotzen« 53 , kann ein zu allem entschlossenes Unterdrückungsregime nicht beeindrucken. Die Tatsache, daß die gewaltfreie Theorie und Praxis unter »Gewalt« nur physische Gewalt versteht und die verschiedenen Erscheinungsformen von struktureller Gewalt vernachlässigt, läßt ihre Waffen um so wirkungsloser werden, je stärker die strukturelle Gewalt eines Systems ausgeprägt ist und zur Anwendung gelangt 54 . So war denn auch dem gewaltfreien Widerstand der farbigen Südafrikaner gegen die Apartheid-Politik letzten Endes kein Erfolg beschieden. Mit Ausnahme von zwei ökonomischen Boykotts — dem Bus-Boykott von 1957 und dem Kartoffel-Boykott von 1959 — konnten keine anderen wirksamen Aktionsformen gefunden werden, ohne daß die Regierung sofort zugeschlagen hätte. Als Antwort hat das südafrikanische Regime die Apartheid noch verstärkt. Mit Recht fragt sich Hansjörg Schultz in seinem Aufsatz über Albert Luthuli, ob Gandhis Satz, daß gewaltfreie Aktionen der Gewalt unendlich überlegen seien, auf Südafrika angewendet werden könne 55 . Gandhi selbst hat stets die Meinung vertreten, daß auch der härteste Gegner der Macht der Gewaltlosigkeit weichen müsse, sofern sie nur richtig angewendet werde. Er konnte sich auch angesichts der Judenverfolgungen des NS-Regimes zu keiner anderen Stellungnahme verstehen als jener, die er Ende November 1938 in einem Brief an Martin Buber unter dem Eindruck der Ereignisse der Kristallnacht abgab: »Wenn ich ein Jude wäre, der in Deutschland geboren ist und dort seinen Lebensunterhalt verdient, würde ich Deutschland als meine Heimat beanspruchen geradeso wie der höchst nichtjüdische Deutsche, und ich würde ihn herausfordern, mich zu erschießen oder in den Kerker zu werfen; ich würde mich weigern, vertrieben ä

* Harijan, 1. September 1940. In: D e s a i, Begegnung mit Gandhi 55. Vgl. zur Begriffsdefinition von direkter, »personeller« und indirekter, »struktureller« Gewalt, die in das jeweilige gesellschaftliche System bereits eingebaut ist: Gerhard B o t z, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1934 (München 1976) 16—18. 55 H. N. S c h u l t z , Albert John Luthuli. In: Politik ohne Gewalt? 83. 54

252

HELENE MAIMANN

zu werden oder mich einer diskriminierenden Behandlung unterwerfen. Und ich würde nicht damit warten, bis meine Glaubensbrüder sich meinem bürgerlich-rechtlichen Widerstand anschließen, sondern darauf vertrauen, daß die übrigen schließlich unfehlbar meinem Beispiel folgen würden. Wenn ein Jude oder alle Juden diesen Vorschlag annehmen sollten, könnten er oder sie nicht schlechter daran sein als sie es jetzt sind. Und das freiwillig erduldete Leiden wird ihnen eine innere Stärke und Freude geben [ . . . ] Die berechnete Gewalttätigkeit Hitlers könnte sogar zu einem allgemeinen Blutbad unter den Juden [ . . . ] führen. Aber wenn die Juden auf freiwillige Leiden vorbereitet werden könnten, könnte selbst das Blutbad, das ich für möglich halte, zu einem Tag des Dankes und der Freude werden, dafür daß Jehova die Hinopferung der Rasse, sei es auch durch die Hände des Tyrannen, beschlossen hat. Für den, der Gott fürchtet, hätte der Tod keine Schrecken. [ . . . ] Die Juden in Deutschland können Satyagraha unter sicherlich besseren Voraussetzungen als die Inder in Südafrika bieten. Die Juden sind eine geschlossene, homogene Gemeinschaft in Deutschland. Sie haben die organisierte Weltmeinung hinter sich. Ich bin überzeugt davon, daß der Winter ihrer Verzweiflung in einem Augenblick zu einem Sommer der Hoffnung werden kann, wenn jemand mit Mut und Weitsicht unter ihnen aufstehen kann, um sie zu einer gewaltlosen Aktion zu führen. Und was heute eine entwürdigende Menschenjagd geworden ist, kann zu einem ruhigen und entschlossenen Widerstand werden, der von unbewaffneten Männern und Frauen geleistet wird, welche die Stärke des Leidens besitzen, die ihnen von Jehova gegeben wurde. Dann wird ein wahrhaft religiöser Widerstand geleistet werden gegen die gottlose Raserei eines entmenschten Mannes. Die deutschen Juden werden einen bleibenden Sieg über die deutschen Nichtjuden dadurch davontragen, als sie diese zu einer Wertschätzung der Menschenwürde bekehren werden.«56 Hat Gandhi am Vorabend des Zweiten Weltkrieges die deutsche und europäische Situation tatsächlich nicht verstanden? Er kann kaum Ahnung von den politischen Realitäten im nationalsozialistischen Deutschland gehabt haben, sonst hätte er nicht annehmen können, die deutschen Juden könnten Widerstandskampagnen, gewaltfrei wie auch immer, organisieren, könnten durch einen kollektiven Opfergang ihre nichtjüdischen Mitbürger aufrütteln. (Abgesehen davon, daß die »Weltmeinung« die schrittweise Ausdehnung der antijüdischen Maßnahmen in Deutschland durch Jahre hindurch ziemlich gelassen hingenommen hatte.) Von den verfolgten Juden zu verlangen, das Blutbad freiwillig, ja sogar dankbar zu erdulden, um daraus Stärke und Freude zu ziehen, ist wohl zu asiatisch gedacht. "

G a n d h i - M . B u b e r , Juden, Palästina und Araber (Mündien 1961) 7 — 9 . Die spradilidi bedenkliche Obersetzung stimmt inhaltlich mit dem weit besser übersetzten Auszug aus dem Briefwechsel überein, der in der deutschen Ausgabe von Gandhis Autobiographie im Anhang aufscheint. Die Kenntnis des Ausmaßes und der »Endlösung« der Judenverfolgungen änderten Gandhis Meinung nicht, wie ein Gespräch mit Louis Fischer im Jahre 1946 belegt ( F i s c h e r , Mahatma Gandhi 363).

GANDHI ODER MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER GEWALTFREIHEIT

253

Sicher, die Lehre vom freiwilligen Leiden und daraus erwachsender Stärke entspricht völlig satyagraha; dodi den in Deutschland gebliebenen Schicksalsgenossen von Martin Buber müssen Gandhis Worte zynisch in den Ohren geklungen haben, hätten sie sie hören können. »Man kann einsichtslosen Menschenseelen gegenüber eine wirksame Haltung der Gewaltlosigkeit einnehmen, aufgrund der Möglichkeit, ihnen dadurch allmählich Einsicht beizubringen«, schrieb Buber in seinem Antwortbrief, »aber einer dämonischen Universalwalze kann man so nicht begegnen. Es gibt eine Situation, in der aus der satyagraha der Seelenstärke keine satyagraha der Wahrheitskraft werden kann.«

DIE UNO

IM SPANNUNGSFELD

FRIEDENSSICHERUNG

UND

ZWISCHEN

RÜSTUNGSWETTLAUF

Zur Geschichte des Abrüstungsproblems unter besonderer Rolle der Vereinten Nationen

Berücksichtigung

der

V o n HELMUT RUMPLER

Anläßlich des 2 5 - J a h r e - J u b i l ä u m s der U N O 1970 fällte ein Mitglied der N e w Y o r k e r Staatenversammlung, der Botschafter Finnlands, M a x Jacobsen, ein Urteil über die Weltorganisation, das in seinem negativen Akzent der weitverbreiteten skeptischen Grundeinstellung gegenüber der Funktionsfähigkeit und Wirkungsmöglichkeit des Instituts am East R i v e r angemessenen Ausdruck verleiht: Jacobsen geht davon aus, daß die Vereinten Nationen gegründet wurden, »um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten und zu diesem Zweck Bedrohungen des Friedens vorzubeugen beziehungsweise sie abzuwenden sowie Angriff shandlungen und andere Friedensbrüche zu verhindern«. E r konzediert, daß es seit Bestehen der Vereinten Nationen keinen Weltkrieg gegeben hat, kann aber darauf verweisen, daß es auch zu keinem Weltfrieden gekommen ist. E r weiß auch, daß es auf Grund der organisatorischen Struktur der U N O gar nicht in deren Kompetenz liegt, Frieden zu erhalten oder Krieg zu verhindern, weil sie nur ein Werkzeug in den Händen ihrer voll souveränen Mitgliedstaaten ist. Aber Jacobsen stellt eben aufgrund dieser Einschränkungen die sachlich richtige Frage: »Haben die Mitgliedstaaten die Vereinten Nationen wirkungsvoll für den Zweck eingesetzt, für den sie gegründet wurden?« U n d die vergleichsweise maßvoll

formulierte,

aber im Grunde vernichtende A n t w o r t lautet: »Obwohl man sich hin und wieder der Vereinten Nationen zur Friedenssicherung bedient hat, sind sie in den letzten 25 J a h r e n bei Krisen oder Konflikten, die den Weltfrieden bedrohten, in den meisten Fällen zu fruchtlosen Debatten verurteilt gewesen, oder die Ereignisse sind völlig über sie hinweggegangen. Immer wieder ist die Entscheidung über die lebenswichtigen Fragen von Krieg und Frieden anderswo gefallen, während die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat sich damit begnügen mußten, sich mit zweitrangigen Fragen oder gar mit den Nichtigkeiten des internationalen

Zu-

sammenlebens zu beschäftigen.« 1

1

M. J a c o b s e n , Die künftige Rolle der Vereinten Nationen ( = Vortrag an der Princeton University am 15. April 1971). In: Europa-Archiv 26 / Beiträge und Berichte (1971) 589.

DIE UNO ZWISCHEN FRIEDENSSICHERUNG UND RÜSTUNGSWETTLAUF

255

Diesem Urteil direkt zu widersprechen, ist angesichts der tatsächlichen Machtlosigkeit der U N O in konkreten Konfliktsfällen der internationalen Politik nicht gut möglich. Eine Analyse der Rolle der U N O als friedenssichernder Instanz wird allerdings weniger die Problematik der konkreten Befriedungsaktionen in verschiedenen Krisengebieten der Weltpolitik zu berücksichtigen haben als vielmehr die grundsätzlichere Frage der Koordinierungsfunktion im Rahmen eines nach dem 1945 proklamierten Prinzip der kollektiven Sicherheit neu zu gestaltenden Systems der internationalen Beziehungen2. Es muß einfach danach gefragt werden, was die U N O aufgrund ihrer organisatorischen Struktur leisten kann und nicht danach, was sie im Interesse einer vermeintlich sichereren Garantie des Weltfriedens leisten sollte und könnte. Es ist sogar politisch-psychologisch gefährlich, oder zumindest desorientierend, aufgrund falscher Voraussetzungen unrealistische Hoffnungen beziehungsweise Unzufriedenheit zu nähren. Die U N O ist keine Weltregierung, nicht einmal ein Weltparlament, und alle diesbezüglichen Attitüden haben lediglich zur Untergrabung ihrer Autorität, die nur eine moralische sein kann, geführt. Nur die relativ unverbindliche Gestaltung ihrer Entscheidungsgewalt ermöglichte das Zustandekommen der U N O und garantiert ihr eben relativ wirksames Fortbestehen. Diese Unverbindlidikeit ermöglicht es, daß die wirklichen weltpolitischen Entscheidungen zwar außerhalb ihrer Kompetenz und Verantwortung, nicht aber außerhalb ihres Aktionsrahmens gefällt werden. Das gilt auch für den Fragenbereich von Friedenssicherung, Abrüstung, Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle. Es handelt sich nicht um ein Verschulden oder Versagen, sondern es war im Grunde unvermeidlich, daß die U N O dabei in ein Dilemma geriet: Sie war grundsätzlich daraufhin konzipiert worden, den Krieg als Mittel der internationalen Politik durch ein Streitschlichtungsverfahren zu ersetzen, das künftige Antagonismen lösen oder ersticken sollte, noch bevor sie in bewaffnete Konflikte regionalen oder weltweiten Charakters ausarteten. Sie mußte sich aber sehr bald damit begnügen, wenigstens anregend für die Begrenzung des schon 1945 einsetzenden Rüstungswettlaufes wirken zu können. Von den ersten Absichtserklärungen Roosevelts und Stalins 1941 über die juri-

* Die auch im Vergleich zu neueren Darstellungen wie H. G. N i c h o 1 a s, The United Nations as a Political Institution (London-Oxford-New York 4 1971), und S. H a zz a r d, Defeat of an Ideal (London 1973), noch immer beste Analyse der U N O Grundkonzeption ist M. H a g e m a n n, Der provisorische Frieden. Die Bauprinzipien der internationalen Ordnung seit 1945 (Erlenbach-Zürich 1964). Zur allgemeinen Entwicklung, besonders im Hinblick auf das internationale Sicherheitsproblem, H . W . S c h l ü t e r , Diplomatie der Versöhnung. Die Vereinten Nationen und die Wahrung des Weltfriedens (Stuttgart 1966), und K. H ü f n e r - J . N a u m a n n , Das System der Vereinten Nationen ( = Studienbücher zur auswärtigen und internationalen Politik 9, Düsseldorf 1974). Als für die vorliegende allgemeine Fragestellung ausreichende Quellengrundlage dienen im folgenden: Dokumentation zur Abrüstung und Sicherheit Bd. 1—11: 1943 bis 1973, ed. H . S i e g 1 e r (Bonn-Wien-Zürich 1960—1974) und Berichte, Dokumente und Zeittafel des E u r o p a - A r c h i v s .

256

HELMUT RUMPLER

stischen und politischen Planungsgremien in den USA bis hin zur Erklärung der Moskauer Außenministerkonferenz vom 30. Oktober 1943 und der UNO-Charta vom 26. Juni 1945 bildete das Ziel der Errichtung »of a wider and permanent system of general security« das Kernstück des neu zu organisierenden internationalen Ordnungssystems 3 . In den amerikanischen Ausgangskonzepten »legalistisdier« wie »realistischer« Provenienz sind jene Postulate konzipiert, die aus der Erfahrung mit dem Völkerbund sowie aus dem inneramerikanischen Demokratieverständnis sehr wohl und einsichtig erklärbar sind, die aber die Organisation der Vereinten Nationen mit Erwartungen und zum Teil mit Ansprüchen belasteten, die vom Ansatz her unrealisierbar waren: Gewaltanwendung, das heißt der Krieg, in der internationalen Politik wird schlechthin verboten, und zwar nicht nur in der Form des Angriffskrieges, sondern auch als Mittel zur Durchsetzung berechtigter Ansprüche4. Man legte daher zum Beispiel die Frage, was Aggression sei, von vornherein ad acta 5 , das Problem der Abrüstung wurde als Selbstverständlichkeit aus den Überlegungen mehr oder weniger ausgespart, und für das Problem bloßer Rüstungsbeschränkung bot die UNO-Idee zunächst gar keinen Raum. Mit den Fragen der Konkretisierung des allgemein anerkannten Ordnungsprinzips der Gewaltlosigkeit in der internationalen Politik, also mit den Fragen der Schaffung einer funktionsfähigen Friedensordnung, zeigten sich aber sehr rasch und immer schärfer die Grenzen, die der wirksamen Institutionalisierung des Prinzips der kollektiven Sicherheit auf der Basis des Rechtsvergleiches entgegenstanden. Die Neuordnung von 1945 erfolgte im positiven Rückgriff auf die Ideen Wilsons von 1918/19. Wieder wurde nicht nur der Machtpolitik als solcher, sondern auch dem Prinzip des Mächtegleichgewichtes als einer Möglichkeit, den Frieden zu erhalten, eine Absage erteilt. Dabei sollten jene Fehler vermieden werden, welche den Völkerbund zur Wirkungslosigkeit verurteilt hatten. Statt nun aber einen Schritt weiter zu gehen, ging man einen zurück, indem man die Völkerbundsidee nicht weiterentwickelte, sondern sie mit dem Gleichgewichtsprinzip kombinierte. Nicht wie es unter anderem etwa Hans Kelsen vorgeschlagen hatte, »to unite all individual states . . . into a world State, to concentrate all their means of power, their armed forces, and put them at the disposes of a world government under laws created by a world parliament« 6 , also nicht auf der Basis der Delegation von Macht und Souveränität an das neue Zentrum der Friedenssicherung wurden s

Vgl. die Formulierungen der Atlantik-Charta vom 14. August 1941, insbesondere Art. 8, H. A. J a c o b s e n, Der Zweite Weltkrieg. Grundzüge der Politik und Strategie in Dokumenten ( = Fischer Bücherei, Bücher des Wissens 654/646, Frankfurt a.M. 1965,132), und UNO-Charta Art. 1,1 und Art. 2,3, Die Charta der Vereinten Nationen mit Völkerbundsatzung, IGH-Statut und drei UNO-Resolutionen (=Beck'sche T e x t a u s g a b e n , München 6 1973) 20. * H a g e m a n n , Der provisorische Frieden 646 ff., zitiert einige Vertreter des Programmes der »Ächtung der Gewaltanwendung«. 6 Vgl. ebd. 29. • H. K e 1 s e n, Peace through Law (Chapel Hill, N . C. 1944) 4.

DIE U N O ZWISCHEN FRIEDENSSICHERUNG U N D RÜSTUNGSWETTLAUF

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die Vereinten Nationen begründet, sondern auf dem Grundsatz der »gleichen Souveränität aller friedliebenden Staaten« 7 . Und aus der Geschichte des Völkerbundes und der Appeasementpolitik der dreißiger Jahre leitete man die Konsequenz ab, daß der Friede »nur gewahrt werden kann, wenn er gestützt wird durch die Macht«, weil »Gewalt nur durch Gewalt überwunden werden kann« 8 . Das neue System der kollektiven Sicherheit war eines, das erklärtermaßen auf militärischer Stärke beruhen sollte9. N u r konnte diese Stärke aufgrund des konsequent erhaltenen Souveränitätsprinzips nur mittelbar über die Mitglieder der U N O wirksam werden. Die Erhaltung der Machtbereitschaft der Mitgliedstaaten war jedenfalls ein zentrales Element der Friedensordnung von 1945. Der Friede zwischen den machtpolitisch, das heißt selbstverständlich auch militärisch wohl gerüsteten Staaten beruhte im Grunde nur auf dem Bestehen beziehungsweise der Erhaltung des friedlichen Einvernehmens dieser Staaten, auf der Fortsetzung dessen, was Churchill die »Große Allianz« genannt hatte. Nachdem sich eine effektive Absicherung der Idee der kollektiven Sicherheit in Form eines institutionalisierten »world government« offensichtlich schon im Ansatz als unmöglich erwies, fiel man auf ein System zurück, das am ehesten dem aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts bekannten Prinzip des »Konzerts der Großmächte« entsprach 10 . Vergleichbar mit der Praxis der Kongreßdiplomatie des 19. Jahrhunderts und über diese in der Institutionalisierung eines dauernden Verhandlungszentrums hinausgehend, bot sich die U N O lediglich als Instrument dar, das friedlidie Einvernehmen jeweils herzustellen. Selbstverständlich war im Rahmen dieses Systems für den Gedanken der Abrüstung zunächst kaum oder nur verbal Platz. Wilson hatte seinerzeit den Versuch gemacht, konsequent zu sein und in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Friedenssicherung auf dem Rechtswege vorgeschlagen, die militärische Rüstung der Staaten auf die Erfordernisse der »domestic safety« zu beschränken11. In der Völkerbundsatzung wurde das Recht zur Rüstung auf jenes gefährlidie »Mindestmaß« erweitert, das für die »nationale Sicherheit« als erforderlich eraditet wurde 12 . 7

Erklärung der Moskauer Außenministerkonferenz vom 30. Oktober 1943, S i e g 1 e r 1,1; abgeschwächt UNO-Charta Art. 2,1: »Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder« ( B e c k ' s c h e T e x t a u s g a b e

20). 8

H a g e m a n n , Der provisorische Frieden 35. • Ebd. 205. 10 In Ergänzung zu H a g e m a n n betont dies richtig N i c h o l a s , The United Nations 18 ff. 11 Punkt 4 der 14 Punkte vom 8. Januar 1918: »Adequate guarantees given and taken that national armaments will be reduced to the lowest point consistent with domestic safety« ( F o r e i g n R e l a t i o n s o f t h e U n i t e d S t a t e s 1918. Suppl. 1, 15). 12 Art. 8 der Satzung des Völkerbundes: »Die Bundesmitglieder bekennen sidi zu dem Grundsatz, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstung auf das Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sidierheit und mit der Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinsames Vorgehen vereinbar ist« ( B e c k ' s c h e T e x t a u s g a b e 9 f.).

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H E L M U T RUMPLER

Obwohl Roosevelt noch 1941 die »weltweite Reduzierung der Rüstungen« 13 proklamiert hatte, verzichtete die U N O - C h a r t a auf vergleichbare Begrenzungen, und da sie der Generalversammlung lediglich erlaubte, sich in empfehlender Form mit der Abrüstungsfrage zu befassen 14 , war diese sowie die gesamte politische Wirksamkeit der U N O der im Sicherheitsrat institutionalisierten Oligarchie der Großmächte zur Entscheidung anheimgegeben. Der Sicherheitsrat aber hatte sich gar nicht mit der Abrüstung, sondern lediglidi mit einem »System der Rüstungsregelung« zu befassen 15 , und das selbstverständlich nur unter jenen Bedingungen, unter denen der Sicherheitsrat überhaupt wirksam werden konnte, also unter der Voraussetzung der Einstimmigkeit seiner fünf ständigen Mitglieder. Für die Praxis der internationalen Politik nach 1945 war damit das Problem der Rüstungsbeschränkung dem souveränen Gutdünken der Staaten überlassen, wobei, anders als nach 1918, nicht einmal den Verliererstaaten des Weltkrieges wirklich einschneidende Beschränkungen auferlegt waren. Ein gerade in der weltpolitischen Situation von 1945 zentrales Element der Friedenssicherung war damit der Einflußnahme der U N O im Grunde entzogen. Denn auf dem bereits erreichten Höhepunkt des Kalten Krieges war das die UNO-Ordnung tragende Prinzip des friedlichen Einvernehmens nicht mehr und noch nicht wieder wirksam, die Möglichkeiten für politische Kompromisse daher gering, und die Gefahr des Einsatzes eines bereitstehenden Rüstungspotentials entsprechend groß. Immerhin waren es zunächst noch einmal die Vereinten Nationen, die wenigstens den Gedanken der Abrüstung in der Debatte hielten und den organisatorischen Rahmen für Gespräche schufen. Am 24. Januar 1946 beschloß die Generalversammlung der U N O die Einrichtung der Atomic-Energy-Commission (AEC), am 13. Februar 1947 wurde letztere durch die Commission for Conventional Arma-

13

14

15

Punkt 4 in Roosevelts Vier-Freiheiten-Erklärung vom 6. Januar 1941 über »die Freiheit von Furcht, was eine weltweite Reduzierung der Rüstungen bedeutet, die so gründlich und so weitgehend durchgeführt werden muß, daß keine Nation mehr in der Lage sein wird, eine Aggression gegen irgendeinen Nachbarn irgendwo in der Welt durchzuführen«, zit. G. S c h l o t t , Wettrüsten und Abrüstung im Atomzeitalter (Opladen l 1 9 6 8 ) 47. Art 11, 1: »Die Generalversammlung kann sich mit den allgemeinen Grundsätzen der Zusammenarbeit zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit einschließlich der Grundsätze für die Abrüstung und Rüstungsregelung befassen und in bezug auf diese Grundsätze Empfehlungen an die Mitglieder oder den Sicherheitsrat oder an beide richten« ( B e c k ' s c h e T e x t a u s g a b e 22). Art. 2 6 : » U m die Herstellung und Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit so zu fördern, daß von den menschlichen und wirtschaftlichen Hilfsquellen der Welt möglichst wenig für Rüstungszwecke abgezweigt wird, ist der Sicherheitsrat beauftragt, mit Unterstützung des in Art. 47 vorgesehenen Generalstabsaussdiusses Pläne auszuarbeiten, die den Mitgliedern der Vereinten Nationen zwecks Errichtung eines Systems der Rüstungsregelung vorzulegen sind« ( B e c k ' s c h e T e x t a u s g a b e 26).

DIE U N O ZWISCHEN FRIEDENSSICHERUNG UND RÜSTUNGSWETTLAUF

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ments (CCA) ergänzt 16 . Die Idee der Atomrüstungskontrolle stammte von den damaligen Atommächten USA, Großbritannien und Kanada selbst17, und mit dem Vorschlag der Kontrolle der konventionellen Rüstung hatte die Sowjetunion, die auf diesem Sektor überlegen war, nachgezogen. Allerdings bedeutete das nicht die Bereitschaft der Großmächte so abzurüsten, daß die Kriegsgefahr beziehungsweise die Kriegsbereitschaft dadurch ernstlich vermindert worden wäre. Kaum humanitär-ökologische, damals nur zum Teil finanzielle, sondern vorwiegend propagandistische Motive standen hinter den verschiedenen Vorschlägen zur Beschränkung vor allem der atomaren Rüstung — das gilt für den amerikanischen Barudi-Plan sowie für die Gegenvorschläge des sowjetischen UNO-Delegierten Gromyko 18 . Auch waren diese Vorschläge von der Sache her so gefaßt, daß sie auf Zustimmung beider Verhandlungspartner nicht rechnen konnten, und vor allem die bestehende Konstruktion der U N O machte ihre Verwirklichung unmöglich. Der Westen verlangte die Einsetzung einer wirksamen Kontrollinstanz vor der Durchführung der Abrüstung, die Sowjetunion verlangte das Verbot der Atomwaffen vor der Schaffung von Kontrollmöglichkeiten. Beide Forderungen waren billig: Die Sowjetunion konnte einem Forschungsstop nicht zustimmen, er hätte den damaligen amerikanischen Rüstungsvorsprung auf Dauer rechtlich fixiert. Umgekehrt war es für den Westen unzumutbar, sich auf eine Abrüstung ohne eine effektive Kontrolle einzulassen. Die Schwierigkeit, aus diesem Dilemma herauszukommen, führte wieder auf die ungelöst gebliebene Frage der Institutionalisierung einer über den nationalen Interessen stehenden Instanz zurück, und es wurde klarer als in der Zeit der Gründungseuphorie und noch vor den ersten vor die U N O gebrachten weltpolitischen Konflikten (Palästina, Indonesien, Korea) ausgesprochen, daß die Vereinten Nationen diese Instanz eben nicht waren. Der harte Kern des Baruch-Planes war nämlich die Forderung, die Fragen der Atomkontrolle unter Aufhebung des dem UNO-Sicherheitsrat zugrunde liegenden Prinzips der Einstimmigkeit beziehungsweise des Vetorechtes der Großmächte zu entscheiden. Und Gromykos Ablehnung konzentrierte sich letztlich genau auf diesen Punkt, er erinnerte daran, daß die U N O nur bestehen könne, wenn sie die ihr gesetzten Grenzen gerade in der Frage der Rüstungskontrolle respektiere: »Jede Verletzung dieses Grundsatzes (der Souveränität der Mitgliedstaaten) würde weitreichende negative Konsequenzen nicht nur für die Wirksamkeit, sondern sogar für die Existenz der Vereinten Nationen haben.« 19 Damit war der letzte

" Quellenbelege dazu bei J. H . I w a n , Die Abrüstung. Die Bemühungen um Friedenssicherung durch Rüstungsbeschränkung und -kontrolle ( = Münchner Studien zur Politik 4, München 1965) 44, Anm. 10, und 47, Anm. 1. 17 Dreimächteerklärung Truman-Attlee-King vom 15. November 1945; ihr schloß sich die Moskauer Außenministerkonferenz (Molotow-Byrnes-Bevin) vom 16. bis 26. Dezember 1945 an; dann erst erfolgte der UNO-Beschluß zur Gründung der AEC; siehe S i e g l e r 1, 2 ff. 18 Texte S i e g 1 e r 1, 5—12. 10 Ebd. 12.

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HELMUT KUMPLEK

Versuch, die UNO wenigstens in der Frage der Abrüstung mit einer effektiv wirksamen Exekutivgewalt auszustatten, im Ansatz erstickt. Daß die Sowjetunion gegen den Revisionsversuch opponieren würde, war so klar vorauszukalkulieren, daß man sich fragen muß, wieso er überhaupt unternommen worden ist. Hatte sich doch Rußland nur unter der Bedingung an der UNO-Gründung beteiligt, daß es seine nationale und internationale Handlungsfreiheit voll bewahre. Dasselbe gilt aber mutatis mutandis auch für die USA. Und gerade die Lahmlegung der UNO durch das Souveränitätsprinzip ermöglichte es den eigentlichen Siegermächten von 1945, ihre weltpolitische Vormachtstellung weiter zu halten beziehungsweise auszubauen. Dies konnte auch im Rahmen der UNO geschehen, aber nur insofern, als das direkte Einvernehmen der Großmächte schon hergestellt war. Die positive Funktion der U N O bestand darin, daß sie existierte und auch wirkte, wenn dieses Einvernehmen nicht oder noch nicht hergestellt war. Das gilt auch für die Frage der Abrüstung, die seit 1946 im Mittelpunkt der allgemeinen Friedenssicherungsproblematik stand. Die UNO-Generalversammlung begann mit der Verabschiedung jener Unzahl von Resolutionen über die allgemeine Regelung und Reduktion der Rüstungen einschließlich des Atomwaffenverbotes20, deren moralisch-psychologische Wirkung wohl nicht unterschätzt werden sollte, die aber niemanden verpflichteten, an die sich audi niemand hielt, weder die großen nodi die kleinen Mächte. Die Entscheidungen aber mußten in zwischenstaatlichen Verhandlungen gefunden werden. Quantitativ, das heißt an der Zahl insbesondere der sowjetisch-amerikanischen Rüstungsabkommen gemessen, scheint dieser Weg ein durchaus erfolgreicher gewesen zu sein. Eine realistische Analyse der Ergebnisse dieser oft spektakulär in Szene gesetzten Abkommen zeigt allerdings, daß sie jenes friedenspolitische Defizit, das aus dem mißglückten beziehungsweise sidi als undurchführbar darstellenden Neuordnungsansatz von 1945 geblieben ist, nicht auszugleichen vermochten. So wie der wirkliche Wert dieser Abkommen für die Erhaltung des Weltfriedens, so dürfte aber auch umgekehrt die Bedeutungslosigkeit der U N O dafür nur relativ und scheinbar sein. Zunächst allerdings hat die U N O wie in den politischen Konflikten so auch in der Abrüstungsfrage eine durchaus untergeordnete Rolle gespielt. AEC und CCA führten ein Schattendasein, auch nachdem sie am 30. Januar 1952 zum Zwecke besserer Koordinierung zu einer allgemeinen Disarmament Commission (DC) zusammengelegt worden waren 21 . Weitgehend unbeachtet, aber doch nahezu sensationell war der Umstand, daß die Sowjetunion zwar alle Sachvorschläge ablehnte, sich aber trotzdem an der neuen Kommission beteiligte — und dies noch während des Koreakrieges, wenn audi schon nach dessen Höhepunkt 22 . Obwohl in

10 81 12

Die erste am 14. Dezember 1946; S i e g 1 e r 1, 15 ff. Beschluß des Sicherheitsrates vom 11. Januar 1952, S i e g 1 e r 1, 57. Die Waffenstillstandsverhandlungen dauerten sdion seit dem 10. Juli 1951; der Absdiluß des Waffenstillstandes erfolgte am 27. Juli 1953; die Genfer Korea-Konferenz fand vom 26. April bis 15. Juni 1954 statt.

DIE UNO ZWISCHEN FRIEDENSSICHERUNG UND RÜSTUNGSWETTLAUF

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der UNO-Abrüstungskommission sachlich keinerlei Verhandlungsfortschritte erzielt werden konnten, wirkte sie einfach aufgrund ihrer Existenz in einem sehr elementaren Sinn friedenserhaltend. Sie war jener neutrale Boden, auf dem sich die weltpolitischen Streitparteien wieder finden konnten, wenn sie in einer politischen Frage schon an den Rand des Krieges geraten waren. Über diese grundsätzliche Bedeutung hinausgehend wurden im Rahmen der UNO-Abrüstungsgespräche in Vorschlägen und Gegenvorschlägen fast alle Detailprobleme aufgeworfen, die als schwer zu lösende Sadifragen zunächst einer Einigung im Wege standen, die aber später auf einer anderen Verhandlungsebene zu Teillösungen geführt werden konnten. Und wenngleich sich der institutionelle Rahmen wiederholt änderte, so war in der Krisenzeit des Kalten Krieges die U N O vorerst das Zentrum der Abrüstungsgespräche. Seit 1954 verlagerte sich allerdings das Hauptgewicht der Gespräche von der nach der Zusammensetzung des Sicherheitsrates gebildeten Abrüstungskommission in ein Fünf-Mädite-Subkomitee (Frankreich, Großbritannien, Kanada, USA und Sowjetunion). Umgekehrt wurde die Abrüstungskommission selbst 1958 aufgrund eines sowjetischen Vorschlages23 auf alle UNO-Mitglieder erweitert 24 . Damit wurde sie aber praktisch verhandlungsunfähig. Die Folge davon war, daß die Abrüstungsverhandlungen zunehmend außerhalb der U N O geführt wurden. Begünstigt durch die allgemeine internationale Entwicklung bedeuteten die Jahre 1962/63 auch für die Geschichte der Abrüstungsbemühungen einen Wendepunkt. Inhalt und Form der Verhandlungen haben sich im Vergleich zur unmittelbaren Nachkriegszeit stark geändert. Es ging nicht mehr um Gewaltverzicht und friedliche Beilegung internationaler Konflikte im allgemeinen; audi schon nicht mehr um die Frage einer umfassenden Abrüstung, sondern nur mehr um eventuelle Teilabkommen, insbesondere um die Möglichkeit, die weitere Herstellung von Atomwaffen zu stoppen. Verhandlungspartner waren in zunehmendem Maße nur mehr die USA und die UdSSR. Die schließlich doch zu einem ersten Erfolg führende Entwicklung nahm ihren Ausgang 1958 von der Genfer »Expertenkonferenz über die Kontrolle einer Suspendierung der Kernwaffenversuche«. Es waren die Sowjets, die — seit August 1949 ebenfalls im Besitz der Atombombe — erstmals gegen Ende des Jahres 1955 offiziell das Gespräch auf die isolierte Einstellung der Kernwaffenversuche gebracht hatten 25 , und sie errangen damit einen großen Propagandaerfolg. Die USA unter Präsident Eisenhower und Außenminister Dulles beharrten weiterhin auf einer vorhergehenden positiven Lösung des Kontrollproblems. Von amerikaM

24

25

Sowjetmemorandum an die UNO-Generalversammlung vom 16. September 1958, S i e gl e r 1, 338 IT.; die bestehenden Abrüstungsgremien DC und Subkomitee hatte die Sowjetunion wegen der für sie nachteiligen Zusammensetzung boykottiert. Resolution 1252 D (XIII) der Generalversammlung vom 4. November 1958, S i e g 1 e r 1, 349 f.; die Kommission trat am 10. August 1958 erstmals zusammen. Sowjetischer Vorschlag auf dem Genfer Außenministertreffen vom 27. Oktober bis 4. November, 8. bis 16. November 1955, zit. I w a n , Die Abrüstung 58, Anm. 2.

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nischer Seite stand in diesem Zusammenhang der »Open-Sky-Plan« Eisenhowers26 zur Debatte. Vor allem waren die USA — und das aus guten Gründen — nicht bereit, die konventionelle Rüstung aus den Verhandlungen auszuklammern. Die Vorschläge Molotows und Bulganins liefen letztlich ja doch nur darauf hinaus, den Vorsprung der USA in der Atomforschung aufzuholen und dabei die eigene Überlegenheit in der konventionellen Rüstung zu erhalten. Auch die Londoner Abrüstungskonferenzen des UNO-Subkomitees (19. März bis 15. Mai 1956 und 18. März bis 6. September 1957) konnten diesen toten Punkt nicht überwinden. Aber am 31. März 1958 verkündete die Sowjetunion die einseitige Einstellung der Kernwaffenversuche, und am 4. April 1958 forderte Chruschtschow, mittlerweile Nachfolger Bulganins geworden, Eisenhower auf, die Versuche seitens der USA ebenfalls einzustellen27. Eisenhower blieb weiterhin bei seiner Forderung nach einem allgemeinen Abrüstungsabkommen, erklärte sich aber zur Beteiligung an einer Expertenkonferenz bereit. Diese tagte dann in Genf vom 1. Juli bis 21. August 1958 und beschäftigte sich nur mit der Prüfung von Methoden zur Feststellung von Kernexplosionen. Sie erarbeitete aber die Grundlage für den nun möglichen Beschluß, über die Einstellung der Atomversuche an sich zu verhandeln. Jetzt erklärten die beiden westlichen Atommächte USA und Großbritannien ein auf ein Jahr befristetes Versuchsmoratorium (22. August 1958) und schlugen eine Konferenz der Atommächte über die Suspendierung der Kernwaffenversuche vor. Am 31. Oktober 1958 wurde diese Konferenz in Genf unter Beteiligung eines Vertreters der U N O eröffnet. Es ging nur um die »Nichtfortsetzung der Kernwaffenversuche« — das war die offizielle Bezeichnung —, also nicht um die dauernde Einstellung — darauf bestanden die Westmächte. Rußland wiederum begann sofort nach Beginn der Konferenz (am 1. und 3. November 1958) wieder mit Versuchsexplosionen. Nichts deutete also auf einen Erfolg hin. Eine parallel arbeitende Kommission zur Verhinderung von Überraschungsangriffen ging wie viele Vorgängerinnen ohne Ergebnis auseinander. Ein von den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion im Anschluß an die Genfer Außenministerkonferenz am 3. September 1959 gegründeter und am 13. März 1960 zusammengetretener neuer Zehn-Mächte-Abrüstungsausschuß 28 , der später um adit blockfreie Staaten auf eine 18-Mädite-Abrüstungskonferenz erweitert wurde, schlug sich mit denselben Problemen herum, die schon bisher ungelöst geblieben waren: Die USA vertraten die Konzeption einer multilateralen Rüstungskontrolle und des peaceful change in politischen Fragen, die Sowjetunion diejenige der allgemeinen Abrüstung unter Selbstkontrolle der Hauptmächte 29 . 26

Auf der Genfer Gipfelkonferenz (18. bis 23. Juli 1955) am 21. Juli 1955 vorgelegt, 17 ebd. 60, Anm. 11. S i e g 1 e r 1, 302 ff. K Dazu die Dokumentation: Die Genfer Abrüstungskonferenz von 1960. Ausgewählte Dokumente zu den Verhandlungen der Zehn-Mächte-Abriistungskommission in Genf, ed. H. V o l l e - H . H a f t e n d o r n (Frankfurt a. M.-Berlin 1961). ** Als Analyse der Verhandlungsrunde 1961/62 der 18-Mädite-Konferenz vgl. H. H a f t e n d o r n, Die amerikanischen und die sowjetischen Vorschläge auf der Genfer 18-Mädite-Abrüstungskonferenz von 1962. In: Europa-Archiv 17/B. (1962) 429—442.

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Aber am Ende des wechselvollen Ringens stand dann doch das erste, wenn auch bescheidene, so doch greifbare Ergebnis: Der zwischen den USA, Großbritannien und der Sowjetunion abgeschlossene Moskauer Vertrag vom 5. August 1963 über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser30. Der Vertrag hatte von der Sache her gravierende Mängel: Ein Atomrüstungsstop war damit nicht erreicht, weil unterirdische Kernversuche nicht unter das Verbot fielen; die USA beharrten in dieser Frage nach wie vor auf einer Kontrolle an Ort und Stelle, die Sowjets lehnten diese Kontrolle weiterhin als Spionage des Westens ab. Eine Reihe von Staaten, unter ihnen die Volksrepublik China, Frankreich, Kuba und Südafrika sind dem Vertrag nicht beigetreten. Der Vertrag konnte von den Partnern auch einfach und jederzeit gekündigt werden. Einer der besten Kenner der Materie, das langjährige Mitglied der amerikanischen Verhandlungsdelegation in Genf, David E. Mark, hat in Erwiderung auf die besonders in Europa heftig geübte Kritik an dem Vertrag überzeugend darauf hingewiesen, daß der Vertrag mit anderen Kriterien zu beurteilen, dann allerdings als sehr entscheidender Erfolg zu bewerten sei31. Der Vertrag war nicht nur ein Ergebnis, sondern selbst ein sehr bedeutsamer Teil jener weltpolitischen Entspannung, die sich zwischen 1959 und 1962 als neue Linie insbesondere in den Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR abzuzeichnen begann. Die Kuba-Krise von September/Oktober 1962 bildete den Erfahrungshintergrund, vor dem sich die Großmächte entschlossen, ihre bisherige Politik auf der Basis des Gleichgewichtes des Schreckens, die John Foster Dulles als »Kunst, bis an den Rand des Abgrundes zu gehen«, gekennzeichnet hatte 32 , zu revidieren. Die massive Demonstration potentieller Kriegsauslösung ließ die den Politikern der Nachkriegszeit gestellte Aufgabe, den Frieden zu erhalten, in neuer Eindringlichkeit erscheinen. Und die Abrüstungsfrage war der Testfall, ob man zwischen Ost und West über die Beilegung aktueller Krisen hinausgehend, zu weiterführenden allgemeinen Vereinbarungen kommen könne. David E. Mark beschrieb das als Zeuge einfach aber treffend: »Während der Verhandlungen wurde häufig erklärt, das Versuchsverbot sei der Schlüssel für Fortschritte auf dem verwandten, aber weiteren Gebiet der Rüstungsbeschränkung und Abrüstung. Dabei wurde von der Annahme ausgegangen, daß es völlig unrealistisch sei, weitergehende Abrüstungsverpflichtungen beider Seiten zu erwarten, wenn es nicht einmal gelänge, diese relativ einfache Vereinbarung abzuschließen.«33 Der neue US-Präsident John F. Kennedy, für den die Abrüstungsverhandlungen »ein Brückenkopf der Zu-

M 51

ss

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Text S i e g 1 e r 2, 360 ff. D. E. M a r k, Die weltpolitischen Auswirkungen des Moskauer Vertrages vom 5. August 1963. In: Europa-Archiv 18/B. (1963) 747—762. Nach W. C o r n i d e s, Die Probleme der Rüstungsbeschränkung und -kontrolle nach der Kuba-Krise. In: Europa-Archiv 18/B. (1963) 51. M a r k , Weltpolitische Auswirkungen 755.

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sammenarbeit« waren, um »den Dschungel des Mißtrauens zurückzudrängen« 34 , hatte während der Verhandlungen in demselben realistischen Sinne erklärt, daß die USA die Versudie in der Atmosphäre als Demonstration des guten Willens einstellen würden, und er fügte hinzu: »Eine solche Erklärung ist kein Ersatz für Abrüstung, aber ich hoffe, sie wird uns helfen, die Abrüstung zu erleichtern.«35 Der Moskauer Vertrag war trotz seiner sachlichen Begrenztheit eines der sichtbarsten Zeichen für den Wandel vom Kalten Krieg zur Periode der Détente, in der der Weltfriede zwar nicht gesichert, aber doch weniger gefährdet war als in der Krisenzeit nach 1945. Aber auch in anderer Hinsicht brachte dieser Vertrag einen Wendepunkt. Er bedeutete den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte des internationalen Systems, einer Epoche, in der die praktisch schon gegebene Dominanz der beiden Supermächte auch in der Diplomatie zum vorherrschenden Grundsatz wurde. Die USA und die Sowjetunion suchten in verstärktem Maße alle weltpolitischen Grundsatzfragen in bilateralen Verhandlungen zu lösen. Das war eine Rückkehr zu dem, was im Grunde schon Roosevelt und noch mehr Stalin kurz praktiziert hatten, was aber im großen Stil infolge der sich steigernden politischen Gegensätze zwischen Ost und West nach 1945 nicht verwirklicht werden konnte. Statt dessen wurde mit der U N O ein zumindest im Ansatz multilaterales System zur Regelung internationaler Probleme installiert — und diesem System wurde mit dem Moskauer Vertrag von 1963 ein erster empfindlicher Schlag versetzt. Darin und weniger in den inhaltlichen Bestimmungen lag jene Bedeutung, die die anderen Mächte in eine begründete Unruhe versetzte. Der tote Punkt der Verhandlungen war ja in direkten Kontakten zuerst zwischen dem amerikanischen Botschafter Arthur H. Dean und dem stellvertretenden sowjetischen Außenminister Wassilij W. Kusnetzow und dann zwischen Chruschtsdiow und Kennedy überwunden worden. Und der Abschluß kam zustande, obwohl man sich in der Kontrollfrage nicht geeinigt hatte 36 , letztlich nur, um Initiativen vor allem der »Blockfreien« zu unterlaufen 37 . Eines der unausgesprochenen Hauptziele des Vertrages war denn auch die Begrenzung des »Atom-Klubs«. Das Abkommen war — und darin liegt eben seine eigentliche Bedeutung — ein erster Schritt für Ost-West-Vereinbarungen, ausgehandelt und abgeschlossen nicht auf der offenen Bühne der internationalen Politik, sondern direkt und ausschließlich zwischen der westlichen beziehungsweise östlichen Hegemonialmacht. Die U N O spielte seit dieser diplomatischen Wende insbesondere in der Abrüstungs- und Friedensfrage nicht mehr jene Rolle, die ihr mit der Gründung zu34

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State of the Union Message vom 30. Januar 1966. In: Europa-Archiv 16/Dokumente (1961) 101 ff. Sogenannte »Friedensrede« Kennedys vor der University of Washington D. C. vom 10. Juni 1963, zit. I w a n , Die Abrüstung 141. Chruschtschow bot als Konzession zuletzt doch jährlich 3 Ortsinspektionen in der Sowjetunion, die U S A verlangten aber zumindest 7—8; im Vertrag klammerte man dann die Kontrollfrage überhaupt aus. Vgl. M a r k , Weltpolitisdie Auswirkungen 749.

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gewiesen war und die sie fast zwei Jahrzehnte doch mit beträchtlichem Einsatz gespielt hatte. Das stand im Zusammenhang mit einem allgemeinen Wandel und mit Strukturproblemen innerhalb der U N O selbst: Sie war aufgrund ihres Mitgliederstandes seit etwa 1960 nicht mehr das Forum, vor dem der Gegensatz zwischen Ost und West, sondern der zwischen Entwicklungs- und Industriestaaten ausgetragen wurde. Im Anschluß an die Intervention im Kongo vom 14. Juli 1960 geriet die U N O in ihre erste akute Finanzkrise 38 , die bis heute nidit behoben wurde, und zwar einfach deshalb, weil vor allem die Großmächte an einer finanziellen Sanierung und damit Stärkung der U N O kein besonders starkes Interesse haben. Im selben zeitlichen, und zum Teil sachlichen Zusammenhang, verschärft durch den Geschäftsstil der für die Verwaltung der U N O doch zu starken Persönlichkeit des Generalsekretärs Dag Hammarskjöld, wurde das Führungs- und Kompetenzproblem der U N O zum Gegenstand ausgedehnter Diskussionen. Chruschtschow machte in diesem Zusammenhang seinen deutlich auf eine Schwächung der Aktionsfähigkeit der Generalversammlung und der administrativen Organe der U N O gerichteten Troika-Vorschlag 39 . All das war Ausdruck genau derselben Tendenz, die die U N O auch in der Abrüstungsfrage an den Rand der Bedeutungslosigkeit drängte. Selbstverständlich war man sich in der U N O selbst der Bedeutung des zwischen 1959 und 1963 vollzogenen Wandels bewußt. Als die auf alle UNO-Mitglieder erweiterte UNO-Abrüstungskommission am 10. September 1959 zum ersten Mal zusammentrat, hatte sie im Grunde keine Funktion. Es blieb ihr auch gar nichts anderes übrig, als die von den Großmächten eingesetzte Zehn-MächteKommission zu begrüßen, weil dort und nur dort wenigstens der Streit um den institutionellen Rahmen der Verhandlungen, der zwei Jahre lang die Abrüstungsdiskussion der Vollversammlung überschattet hatte, überwunden werden konnte. Trotzdem wagte man einen bescheidenen, aber als solchen doch deutlich erkennbaren Protest: Ohne eigentliche Abstimmung — eine solche hätte die Großmächte zu einer nach Lage der Dinge ablehnenden Stellungnahme veranlaßt — faßte man eine Resolution, in welcher die letzte Verantwortung der UNO-Abrüstungskommission betont wurde und der unabhängige Abrüstungsausschuß der Großmächte ersucht wurde, die U N O über den Fortgang ihrer Verhandlungen auf dem laufenden zu halten. Nahezu demütigend war das Ersuchen, die UNO-Abrüstungskommission im Bedarfsfall wieder einzuberufen 40 . Dieser Wunsch blieb aber bis 1965

88

Dazu allgemein J. D. S i n g e r , Financing International Organisation. The United Nations Budget Process (The Hague 1961), und W. Z e m a n e k, Die Finanzkrise der UNO. In: Europa-Archiv 28/B. (1973) 555—563; speziell zum Zusammenhang mit der Kongo-Aktion W. K o s c h o r r e k , Die Finanzkrise der Vereinten Nationen. Probleme der Finanzierung der Friedenssidierung im ägyptisch-israelischen Grenzgebiet und im Kongo durdi die Vereinten Nationen. In: Europa-Archiv 18/B. (1963) 381—391. " Vgl. S.D. B a i l e y , The Troika and the Future of the UN. In: International Conciliation 538 (Mai 1962) 3—64. » Siehe S i e g l e r 1,431.

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unerfüllt. Erst als die Verhandlungsmöglidikeiten zwischen den U S A und der Sowjetunion mit dem Abschluß des Moskauer Vertrages von 1963 erschöpft waren und die Genfer 18-Mächte-Konferenz sich wieder einmal nach zahlreichen Sitzungen ohne Ergebnis vertagte, bot sich wieder für die U N O die Möglichkeit, aktiv in die Abriistungsgespräche einzugreifen. Weiterhin fehlte es nicht an beruhigenden Gesten der Atommädite — auch der Moskauer Vertrag war eine soldie. 1964 verkündeten Johnson, Chruschtschow und Douglas-Home eine Produktionsdrosselung spaltbaren Materials für militärische Zwecke 41 . Auch die Verhandlungen in Genf selbst waren insofern nicht erfolglos, als sie immer konkreter bestimmte Sachfragen nahezu entscheidungsreif bearbeiteten 42 . Während das Thema der allgemeinen und vollständigen Abrüstung weiterhin nur als Mittel der Propaganda benutzt wurde, gelangte man bei der Behandlung der Rüstungskontrollmaßnahmen zu beachtlichen Vorschlägen: Die zentrale Frage des »Einfrierens« der Anzahl und Typen der Kernwaffenträger, mit dem Ziel der Stabilisierung des strategischen Gleichgewichts wurde zum ersten Mal konkret aufgegriffen. Aber der sowjetische Delegierte Zarapkin wies alle Vorschläge mit der Begründung ab, daß jede Art von kontrollierbarer Beschränkung auch nur der Produktion auf der Basis der Rüstungsparität die Offenlegung des gesamten Rüstungspotentials zur Voraussetzung habe, und dazu könne sich die Sowjetunion im Interesse ihrer Sicherheit nicht bereiterklären. So vertagte man sich in Genf und erklärte, die angekündigte Abrüstungsdebatte der 19. Vollversammlung der U N O abwarten zu wollen. Diese kam aber infolge des ungelösten Konfliktes über die Frage der Beitragsrückstände und des damit zusammenhängenden Problems des Stimmrechtes gar nicht zustande, und es stellte sidi sogar die Frage, ob die Genfer Konferenz überhaupt noch einmal zusammentreten werde, nadidem sie sich selbst auf das von der U N O geforderte Kooperationsverhältnis mit der Generalversammlung eingelassen hatte. In dieser Situation griff Generalsekretär U Thant einen sowjetischen Vorschlag auf und berief die UNO-Abrüstungskommission ein, die unter dem Vorsitz des UNO-Delegierten der Vereinigten Arabischen Republik, Mohammed A w a d elK o n y , vom 21. April bis 16. Juni 1965 eine breit angelegte Abrüstungsdebatte führte 4 8 . Schon war man in N e w Y o r k daran, die Diskussion über die Abrüstungsfragen durdi die Einberufung einer Weltabrüstungskonferenz ganz in die eigene H a n d zu nehmen. D a s klare Ziel dieses Planes, wie überhaupt der Tenor der Debatten, war es, seitens einer breiten Weltöffentlichkeit einen gewissen moralischen Druck auf die Großmächte auszuüben. Denn in den Genfer Verhandlungen zeichnete sidi immer deutlicher eine Abrüstungskonzeption ab, der man z w a r nicht absprechen konnte, daß sie geeignet war, die Kriegsgefahr einzudämmen, die aber 41 48

48

Die drei Erklärungen in: Europa-Ardhiv 19/D. (1964) 417 ff. Eine gute Zusammenfassung der Verhandlungen gibt L. L a h n , Die Genfer Abrüstungsverhandlungen im ersten Halbjahr 1964. In: Europa-Archiv 19/B. (1964) 643—654. Vgl. d e r s., Die Tagung der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen April-Juni 1965. In: Europa-Archiv 18/B. (1963) 579—587.

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mit dem Gedanken der allgemeinen und totalen Abrüstung und der ausschließlich friedlichen Beilegung von internationalen Konflikten nichts mehr zu tun hatte. Verhandlungsziel war nämlich längst nicht mehr die Abrüstung im Sinne einer Verminderung der militärischen Potenz, sondern nur mehr die Stabilisierung der bestehenden Rüstungssituation. Damit war der Abrüstungsgedanke zwar als Fernziel nicht aufgegeben, aber zugunsten des erreichbar scheinenden Zieles der Eindämmung des Rüstungswettlaufes zurückgestellt. Die unausgesprochene, aber präsente Angst und Kritik der Mehrheit der UNO-Mitglieder wandte sich gegen diese Entwicklung, weil sie zu einer dauernden Vorherrschaft der großen über die kleineren Mächte führen mußte. Frankreich und die Volksrepublik China lehnten aus diesem Grund die Mitwirkung bei den Genfer Beratungen ab. Trotzdem wußte man in New York doch nichts Besseres, als den Genfer Ausschuß mit der Fortführung der Verhandlungen zu beauftragen, und es war an sich schon ein Erfolg, daß die Großmächte, von denen insbesondere die Sowjetunion das Interesse an den Genfer Gesprächen bereits verloren hatte, weil sie dort immer mehr unter den Druck von Sachargumenten von Seiten der neutralen Vertreter geriet, gar nichts anderes tun konnten, als die Verhandlungen weiterzuführen. Es waren Verhandlungen, die f ü r die beiden Hauptkontrahenten USA und Sowjetunion immer unangenehmer wurden, weil es ihnen immer schwerer fiel, den Eindruck zu wahren, als käme es ihnen wirklich noch auf einen allgemeinen Abbau ihres Rüstungspotentials an. Insbesondere nachdem es der U N O gelungen war, das Genfer Komitee um acht weitere Mitglieder auf 26 zu erweitern 44 , hatten audi dort, so wie in der U N O , die blockfreien Staaten ein zumindest moralisches Übergewicht. Die nun auch neu benannte »Conference of the Committee on Disarmament« (CCD) war zwar nicht de jure, aber in der Praxis ihrer Tätigkeit eine U N O Kommission, wohl aber gerade deshalb zur Erfolglosigkeit in dem Sinn verurteilt, daß verbindliche Abkommen in ihrem Rahmen nicht abgeschlossen werden konnten. So wie die beiden Supermächte gegenüber der U N O selbst keinen noch so kleinen Teil ihrer Souveränität preiszugeben bereit waren, so ließen sie sich auch die Rüstungsfrage nicht durch ein international besetztes und tatsächlich von übernationalen Interessen geleitetes Gremium aus der H a n d nehmen. Wohl erzielte die U N O mit dem sogenannten Vertrag von 1967 über das Stationierungsverbot von Atom- und Massenvernichtungswaffen auf Himmelskörpern, dem Vertrag von Tlatelolco von 1968 über eine kernwaffenfreie Zone Lateinamerika, dem Atomwaffensperrvertrag von 1968 46 , dem Meeresbodenvertrag über das Stationierungsverbot von Massenvernichtungswaffen auf dem Meeresboden von 1971 und dem 44

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Resolution 2602 B der Vollversammlung vom 16. Dezember 1969, S i e g 1 e r 7, 449; zu den bis dahin vertretenen 18 Staaten Brasilien, Bulgarien, Burma, Kanada, CSSR, Äthiopien, Frankreich, Indien, Italien, Mexiko, Nigeria, Polen, Rumänien, Schweden, UdSSR, VAR, Großbritannien und USA kamen als acht weitere Mitglieder: nach Japan und der Mongolei Argentinien, Jugoslawien, Marokko, Niederlande, Pakistan und Ungarn. Es dauerte allerdings bis 1970, bis er wenigstens von 40 Staaten ratifiziert war und damit in Kraft trat.

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Übereinkommen über ein Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer Waffen und von Toxinwaffen von 1972 eine Reihe nicht unbeachtlicher Verhandlungserfolge. Daß die Großmächte diesen Aktivitäten überhaupt zustimmten — der Atomwaffensperrvertrag wurde sogar von ihnen selbst eingebracht —, zeigte zwar, daß sie sich dem zunehmenden politischen Druck einer Weltmeinung, der die fortschreitende radioaktive Verseuchung der Atmosphäre immer unerträglicher erschien, nicht ganz zu entziehen vermochten. Aber unabhängig davon, daß diese Verträge auf jede Art von internationaler Kontrolle, auf Schiedsinstanzen und Sanktionen verzichteten, waren sie auf die tatsächliche Fortsetzung des Rüstungswettlaufes ohne Einfluß. Während die U N O die siebziger Jahre feierlich zur »Abrüstungsdekade« erklärte 46 , wurde die waffentechnische Entwicklung von den Supermächten mit der Einrichtung und Erweiterung von Antiraketensystemen (ABM = Anti Ballistic Missile, Raketenabwehrrakete) und der »Mirvisierung«, das heißt Bestückung mit Mehrfachsprengköpfen (MIRV = Multiple Independently Reentry Targetable Vehicle, Raketen mit mehreren, einzeln lenkbaren Nuklearsprengköpfen), ihres Raketenarsenals auf einen neuen Höhepunkt geführt 47 . Außer einer noch weitergehenden Solidarisierung der Niditkernwaffenstaaten, von denen 96 schon 1968 in Genf zu einer eigenen Konferenz (United Nations Conference of Non-Nuclear Weapen States) zusammengetreten waren, konnte im Rahmen der Vereinten Nationen mit Ausnahme einer Einigung über die seit langem umstrittene Aggressionsformel 48 nichts Konkretes mehr erreicht werden. Der Durchbruch zu neuen Vertragsbeschlüssen erfolgte zuletzt wieder außerhalb des Verantwortungs- und Wirkungsbereiches der U N O . Schon am 20. Januar 1969 hatte sich die Sowjetunion bei einer Moskauer Pressekonferenz bereit erklärt, auf Gespräche über die Begrenzung der strategischen Rüstung (SALT = Strategie Arms Limitation Talks) einzugehen 49 . Seit 17. November 1969 wurden diese Gespräche in Helsinki und Wien als Geheimverhandlungen zwisdien den USA und der UdSSR geführt. Am 26. Mai 1972 wurde zwischen Richard Nixon und Leonid Breschnew in Moskau ein erstes Abkommen über die Begrenzung von Systemen zur Abwehr ballistischer Raketen (ABM-Systeme) und ein Interimsabkommen über bestimmte Maßnahmen hinsichtlich der Begrenzung von strategischen Offensivwaffen (ICBM = Intercontinental Ballistic 4e

Vgl. G. P f e i f f e r , Der Stand der internationalen Abrüstungsdiskussion nadi der 24. UNO-Vollversammlung. In: Europa-Ardiiv 25/B. (1970) 205—212. 47 Zur riistungspolitisdien Situation zu Beginn der siebziger Jahre K. M a y e r , Veränderungen des Rüstungsgleidigewidites zwisdien den USA und der Sowjetunion. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 22 (1972) B 5, 20—46, und G. B o r s t - F. W a l t e r , Langfristige Tendenzen im Rüstungswettlauf USA-UdSSR. In: Osteuropa 23 (1973) 81 bis 104. 48 Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung vom 14. Dezember 1974; dazu A. R a n d e l z h o f e r, Die Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen. In: EuropaArchiv 30/B. (1975) 621—632. 4 » S i e g 1 e r 7, 6.

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Missiles, landgestützte Interkontinentalraketen, und SLBM = Sea-launched Ballistic Missiles, seegestützte Raketen von getauchten oder aufgetauchten U-Booten) unterzeichnet 50 . Am 22. Juni 1973 folgten anläßlich des Besuches Breschnews in den Vereinigten Staaten im wesentlichen als ein Ergebnis der Bemühung des amerikanischen Präsidentenberaters Henry A. Kissinger zwei weitere Abkommen über die Verhütung von nuklearen Kriegen beziehungsweise über Grundprinzipien für Verhandlungen über eine weitere Begrenzung der strategischen Offensivwaffen 51 , und am 3. Juli 1974 in Moskau ein Vertrag über einen Schwellen-Teststop52. Am 31. Januar 1973 begannen in Wien die Vorgespräche über eine »beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderung« in Mitteleuropa (MBFR = Mutual and Balanced Force Reduction). Es handelt sich dabei im wesentlichen um Gespräche zwischen N A T O und Warschauer Pakt, die allerdings von Kissinger in Moskau mehr oder weniger erzwungen wurden, indem er die Zustimmung der USA zu der von den Sowjets gewünschten »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) vom Zustandekommen der Wiener Gespräche abhängig machte. Zumindest die KSZE konnte mittlerweile nach einigen Vorgesprächsrunden am 1. August 1975 in Helsinki mit einer von 35 Staaten unterzeichneten »Schlußakte« zu einem Abschluß gebracht werden 58 . Der Realwert all dieser Abkommen ist gering und dementsprechend umstritten. Tatsächlich ist nur die in beiden Lagern längst über das Sicherheitsbedürfnis hinausgewachsene Rüstungsexplosion aus ökonomischen Sparsamkeitserwägungen, die für beide Seiten aktuell geworden sind, unter Kontrolle genommen worden, ohne daß damit das rüstungspolitische »Gleichgewicht des Schreckens« nur im mindesten gestört worden wäre. Mit Recht wurde die kritische Frage gestellt, ob es sich bei den diversen Abrüstungsabkommen nicht mehr um Maßnahmen zur Rüstungsverminderung, sondern im Gegenteil um »Aufrüstung durch Rüstungskontrolle« handelt 54 . Statt einer echten Rüstungsbe50

Zur Bewertung vgl. W. E. G r i f f i t h, Das Konfliktverhältnis zwischen Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. In: Europa-Archiv 26/B. (1971) 195—204, und A. J. P i e r r e , Das SALT-Abkommen und seine Auswirkungen auf Europa, ebd. 27/B. (1972) 431—440. 51 Texte S i e g l e r 11, 357 ff. « Text Europa-Archiv 29/D. (1974) 364—367. 5 ® Text Europa-Archiv 30/D. (1975) 437—484; zur Vorgeschichte vgl.: Sicherheitskonferenz in Europa. Dokumentation 1954—1972. Die Bemühungen um Entspannung und Annäherung im politischen, militärischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technologischen und kulturellen Bereich, ed. F. K. S c h r a m m - W . G. R i g g e r t - A . F r i e d e l (Frankfurt a. M. 1972); als Analyse vgl. C. C. P f u e 1, Das Abkommen von Helsinki. Chancen und Gefahren einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Mainz 1973). 54 Dazu zuletzt D. S e n g h a a s - V . R i t t b e r g e r - B . L u b e r , MBFR.: Aufrüstung durch Rüstungskontrolle. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 23 (1973) B 13, 26—52 (zum ersten Mal präsentierte S e n g h a a s diese Auffassung in: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt a. M. 1969). Kritik an dieser These im Sinne einer begrenzten Rechtfertigung der »Abschreckungspolitik« übt E. F o r n d r a n , Abrüstung und Friedensforschung ( = Konzepte Sozialwissenschaft 2, Düsseldorf 1971).

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schränkung erfolgten tatsächlich nur Arrangements zur Umrüstung. Ihr politischer Wert ist jedoch nicht zu unterschätzen. Sie bilden doch den ersten Abschluß der Periode zumindest einer psychologischen Detente zwischen Ost und West. Die Vereinten Nationen haben in dem immer dichter werdenden Prozeß der Abrüstungsdiplomatie keine wie auch immer geartete aktive Rolle mehr gespielt, und es gibt Autoren, die darin gar keinen Nachteil für die Erhaltung des Friedens sehen, weil sie auf das Gleichgewicht der Stärke als Stabilisierungsfaktor mehr vertrauen als auf eine letztlich doch nur auf Treu und Glauben aufgebaute Friedensinstitution 54 . Die unübersehbare Tatsache, daß sich gerade im Rahmen der Abrüstungsproblematik immer deutlicher die Konturen einer russisch-amerikanischen Gipfeldiplomatie abzeichneten, führt zu der berechtigten Frage, ob die Weltorganisation überhaupt noch Einfluß und Initiative zurückgewinnen kann. Bemühen müßte sie sich darum. Denn die bisherige Geschichte der Abrüstungsverhandlungen zeigt nur zu deutlich, daß die U N O die einzige Institution ist, die das Problem wirklich aus den macht- oder auch nur sicherheitspolitischen Überlegungen einzelstaatlicher Interessen herauslösen und auf das universale Bedürfnis der Friedenssicherung ausrichten kann. Die U N O ist nacii wie vor das zentrale Forum internationaler Diskussion und Meinungsbildung, als solches aber ein Ort permanenter und nicht nur gelegentlicher Kommunikation 5 8 . Ihre tatsächliche Exekutivgewalt ist zwar geringer denn je. Der von ihr dauernd bewußt gehaltene Zwang zum internationalen Konsens weniger in politischen als vielmehr in Wirtschafts- und Umweltfragen ist aber eine heute bereits über bloßen moralischen Appell hinauswirkende politische Kraft. Und die bisherige Geschidite der Abrüstungsverhandlungen deutet darauf hin, daß sich die Großmächte dieser von der eben in der U N O institutionalisierten Weltmeinung letztlich doch nicht auf Dauer werden entziehen können. Unsere Welt befindet sich nach wie vor in dem »Zustand, in dem der Friede zu den Überlebensbedingungen der Gesamtheit gehört« 57 , und die U N O erfüllt als Friedenssicherungsinstitut in ihr gerade deshalb eine positive Rolle, auch wenn die Generalversammlung und ihr Generalsekretär nichts anderes tun können, als ihre tiefe »Enttäuschung« zu bekunden, »über die mageren Ergebnisse der ersten Hälfte des Abrüstungsjahrzehnts der Vereinten Nationen« 5 8 . 55

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Dazu neuerdings die Sammlung der Aufsätze von J. H . H e r z , Staatenwelt und Weltpolitik. Aufsätze zur übernationalen Politik im Nuklearzeitalter (Hamburg 1974). Zur aktuellen Problematik vgl. W . G o r e n f l o s , Die V N . in der internationalen Politik. In: Außenpolitik 27 (1976) 179—189. W . von S i m s o n , Die Verteidigung des Friedens. Beiträge zu einer Theorie der Staatengemeinschaft ( = Beds'sche Schwarze Reihe 133, München 1975) 13. Botschaft des Generalsekretärs Kurt Waldheim vom 17. Februar 1976 an die Genfer Abrüstungskonferenz, zit. nach Europa-Archiv 31/Zeittafel (1976) 58.

MITARBEITER geb. 1 9 3 9 in Rottenmann, Steiermark, o. Professor an der Universität Klagenfurt, Leiter der »Arbeitsstelle Robert-Musil-Nadilaß« Wien. Publikationen über Hölderlin ( 1 9 7 1 ) , zur Literatur des 1 9 . Jahrhunderts und insbesondere zum literarischen Historismus der Jahrhundertwende (Hofmannsthal, Sdinitzler, Rilke u. a.), zur Kulturgeschichte und zur bildenden Kunst.

FRIEDBERT ASPETSBERGER,

M. BECKER, geb. 1918 in Waidhofen/Thaya, Dozent am Institut für Tiefenpsychologie und Psychotherapie. Lehranalytiker, vorübergehend Vorsitzender der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Publikationen zum Gebiet der Psychotherapie sowie der Psychoanalyse, mit besonderer Berücksichtigung lerntheoretisdier und ethologischer Gesichtspunkte.

ALOIS

IRING FETSCHER, geb. 1922 in Marbach am Neckar. Studium in Tübingen, Paris und Frankfurt. Promotion 1950 mit einer Arbeit über »Hegels Lehre vom Menschen« (bei Eduard Spranger). Habilitation 1959 mit der Schrift »Rousseaus politische Philosophie«, 1963 o. Professor der Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt. Gastprofessor in Tel Aviv, an der Graduate Faculty der New School for Social Research, New York und an der Katholischen Universität Nijmegen. Research Fellow des Netherlands Institute for Advanced Studies, Wassenaar (1972/73) und am Institute for advanced Studies der Australian National University in Canberra (1976). Wichtigste Publikationen: Von Marx zur Sowjetideologie (1956), Rousseaus politische Philosophie (1960), Karl Marx und der Marxismus (1967), Hegels Lehre vom Menschen (1970), Herrschaft und Emanzipation, zur Philosophie des Bürgertums (1976), Überlebensbedingungen der Menschheit (1976). geb. 1947 in Wien, Dr. phil. Wiss. Sekretär des »Projektteams Geschichte der Arbeiterbewegung« in Wien. Publikationen: Politik im Wartesaal, österreichische Exilpolitik in Großbritannien 1938—1945 (Wien-Köln-Graz 1975); Bearbeitung der Protokolle des Exilsymposions in Wien 1975 (im Druck). Derzeitige Arbeitsvorhaben: Mitarbeit im Rahmen des Projekts des Instituts für Höhere Studien, Wien, über »Soziale Ungleichheit in Österreich«; Exil als Lebensform — sozialhistorische und -psychologische Studien; methodische Probleme der Historiographie der Arbeiterbewegung.

HELENE MAIMANN,

geb. 1 9 2 0 in München, studierte in München, lehrte in München und Bamberg, als Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität des Saarlandes, seit 1975 an der Universität Salzburg. Publikationen zur darstellen-

WILHELM MESSERER,

272

MITARBEITER

den Kunst besonders des 8.—12. Jahrhunderts, zu Fragen von Form und Inhalt und zur Epochenstruktur auch in der neueren und modernen Kunst. HERTA NAGL-DOCEKAL, geb. 1944 in Wels, Oberösterreich, Assistentin am I. Philosophischen Institut der Universität Wien. »Ernst von Lasaulx. Ein Beitrag zur Kritik des organischen Geschiehtsbegriffs«, Münster 1970. Diverse Aufsätze und Rezensionen auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie und der Theorie der Geschichtswissenschaft. HELMUT RUMPLER, geb. 1935 in Wien, seit 1975 Professor für Neuere und österreichische Geschichte an der Universität Klagenfurt. Publikationen zur deutschen und österreichischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Theorie der Geschichtswissenschaft und Geschichte der internationalen Beziehungen. DOMENICO SETTEMBRINI, geb. 1929 in Cupramontana (Ancona), Professor an der

Universität Pisa. Publikationen zur marxistischen Theorie: Due ipotesi per il socialismo in Marx ed Engels (Bari 1974), Socialismo e rivoluzione dopo Marx (Napoli 1975). WALTER B.SIMON, geb. 1918 in Wien, Professor für Soziologie an nordamerikanischen Universitäten, seit 1962 Fellow of the American Sociological Association, seit 1975 Honorarprofessor der Universität Wien. Publikationen in Nordamerika und Europa vor allem in politischer Soziologie und über Bildungsprobleme mit Schwerpunkt auf vergleichender Kulturkonfliktforsdiung. Derzeitiges Forschungsprojekt: Sprachenpolitik in Österreich - Ungarn: Berufsstruktur, politische Ideologien und Sprachenkonflikte. HANS STROTZKA, geb. 1917 in Wien, seit 1971 Vorstand des von ihm gegründeten Institutes für Tiefenpsychologie und Psychotherapie an der Universität Wien. Lehranalytiker der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Zahlreiche Publikationen aus dem Gebiet der Sozialpsychiatrie, Epidemiologie und Psychotherapie. KLAUS TENFELDE, geb. 1944 in Erkelenz. Bergmännische Lehre, Zweiter Bildungsweg. Studium von Geschichte, Soziologie, Germanistik und Philosophie an der Universität Münster und in den Vereinigten Staaten. Staatsexamen 1973, Promotion 1975. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Forschungsprojekt zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der Universität München. Untersuchungen zur allgemeinen Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, zur Geschichte der Arbeiterbewegung und des Ruhrgebietes während der Industrialisierung (Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert [1815 bis 1889], Bonn-Bad Godesberg 1977). MICHAEL WEINZIERL, geb. 1950 in Wien, Assistent am Historischen Institut der Universität Wien. Veröffentlichungen: Aufsätze zur Geschichte Großbritanniens.

CONTENTS PREFACE

THEORY: DEFINITIONS

AND

EXPLANATIONS

HERTA NAGL-DOCEKAL

PHILOSOPHICAL REFLEXIONS ON THE LEGITIMATION VIOLENT OPPOSITION

OF

Revolution as a theme of practical philosophy -The natural rights' argumentation: Hobbes, Locke, Rousseau - The categorical imperative as a practical principle of legitimation and the idea of justice: Kant being relevant today Critique of legitimation attempts made in the philosophy of history: Hegel and Marx. DOMENICO SETTEMBRINI

THE PROBLEM OF VIOLENCE IN THE WRITINGS OF KARL MARX AND MARXISM Marxism and anarchism - The limits of progress - The »religiosity« of Marxism - Marxist orthodoxy and science - The two faces of Marxism Marxist Socialism and Liberal-socialism. WALTER B. SIMON

VIOLENCE, AUTHORITY, DEMOCRACY AND THE IDEAL OF THE NON-VIOLENCE Definitions - Connections between holding authority and the use of violence - The narrow function of democracy - Smoothing, but not excluding conflicts. IRING FETCHER

STRUCTURAL VIOLENCE. Origin, meaning and function of a social science slogan The meaning of »structural violence« - The relation of structural and open violence - Consciousness and structural violence.

274

CONTENTS

A N I N C O M P L E T E CATALOGUE: P S Y C H O L O G Y , C H U R C H , ART

A . M . BECKER A N D H . STROTZKA

CRITIQUE O F THEORIES OF AGGRESSION

94

Problems of the implicetely polemical use of the term »aggression« - Exposition of the theoretical approaches in psycho-analysis, theory of learning and ethology and problems arising thereof - Disadvantages arising from a confrontation of genetically programmed activity dispositions on the one and simply environmental control of stimuli on the other hand - Dangers inherent in »autistic animosity«.

M I C H A E L WEINZIERL

CHRISTIANS A N D T H E PROBLEM OF JUST WAR I N T H E ATOM AGE

114

The Problem until World War I - Positions in the Catholic Churdi: The discussion about nuclear weapons among West German Catholics 1958 - The Catholic Churdi since John X X I I I - Moving from »just war« to new ideas of peace - The discussions in the German Protestant Churdi and in the World Council of Churches: the issue of atomic weapons - Change of emphasis in the peace ideas of the World Council of Churches - Conclusions.

FRIEDBERT ASPETSBERGER

VIOLENCE A N D N O N - V I O L E N C E AS A PROBLEM OF LITERARY DEVICES

143

The problem and the literary tradition - Futurism and expressionism: examples of literature being futile in cases of social violence - Abandoning a cultural tradition: literature as a device against social realities from Brecht to Sdiarang - The biographical model: the value concept of »individuality« in the context of the problem »literature and violence«.

WILHELM MESSERER

BRUTALITY I N M O D E R N ART The subject-matter: brutal art object, not the brutal - Violence and brutality - Some criteria, their definitions - Brutality and weakness: some examples - Objects: emotions and sensations - The appropriate relevance Questions: the artistic transformation of the brutal - Prospects: a pictorial formula for grogress.

174

275

CONTENTS

CASE S T U D I E S : GERMANY, INDIA, U N I T E D

NATIONS

KLAUS TENFELDE VIOLENCE AND THE CONTROL OF CONFLICTS D I S P U T E S O F T H E R U H R M I N E R S B E F O R E 1918

IN

LABOR 185

Changing motives, forms and results of labor disputes: spontaneity, violence and the menace of violence; petitions, grievances, resolutions; defensive and offensive strikes; mass strikes - Since 1889 changes in conflict attitudes under conditions of developed union politics - Rationalization of conflict strategies through adaption and organisation - Causes and forms of violence in labor disputes.

HELENE MAIMANN

G A N D H I OR VIOLENCE

THE

POSSIBILITIES

AND

LIMITS

OF

NON237

Gandhi's religious and social background - Non-violence and its use in political action - Forms of non-violent resistance - Non-violent action joined to alternative concepts of society - Conditions and problems of success with non-violent mass-actions: India and some other contemporary examples - Limits to non-violence.

HELMUT RUMPLER

T H E U N C O N F R O N T I N G T H E QUEST FOR PEACE A N D T H E ARMAMENTS' RACE. The history of the disarmament problem with special regard to the role of the United Nations

254

U N , modelled after the League of Nations, institutionalizes the principle of collective security - Exclusion of armaments' limitations on principle The Baruch Plan as basis of disarmaments talks - The test ban treaty of Moscow 1963 - Stabilizing the armaments' balance instead of disarmament: SALT, MBFR, KSZE - The U N as a forum of world opinion serving the disarmaments' discussion. LIST OF CONTRIBUTORS

271

WIENER BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER NEUZEIT Herausgegeben von Friedrich Engel-Janosi, Grete Klingenstein, Heinrich Lutz

Band 1

Denken über Geschichte Aufsätze zur heutigen Situation des geschichtlichen Bewußtseins und der Geschichtswissenschaft 1974. 257 Seiten

Band 2

Fürst, Bürger, Mensch Untersuchungen zu politischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen im vorrevolutionären Europa 1975. 242 Seiten

Band 3

Formen der europäischen Aufklärung Untersuchungen zur Situation von Christentum, Bildung und Wissenschaft im 18. Jahrhundert 1976. 274 Seiten