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German Pages 223 Year 1990
Gutachten für das Bayerische Staatsministerium des Innern
Gewalt
in unserer Gesellschaft Gutachten für das Bayerische Staatsministerium des Ionern
herausgegeben von
Klaus Rolinski und Irenäus Eibi-Eibesfeldt
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gewalt in unserer Gesellschaft: Gutachten für das Bayerische Staatsministerium des lnnem I hrsg. von Klaus Rolinski und Irenäus Eibl-Eibesfeldt.- Berlin: Duncker und Humblot, 1990 ISBN 3-428-07050-X NE: Rolinski, Klaus [Hrsg.]
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedomsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-07050-X
Inhalt Vorwort des Bayerischen Staatsministeriums des Innem
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Einführung der Herausgeber
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Politische Gewalt und Grundbedürfnisse Von Prof. Dr. jur. Klaus Rolinski, Universität Regensburg
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Gewalt in der Gesellschaft Von Prof. Dr. jur. Horst Schüler-8pringorum, Universität München
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Gewaltbereitschaft aus ethologischer Sicht Von Prof. Dr. phil. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Max-Planck-Institut für Humanethologie, Andechs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . .
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Konstitutionelle Grundlagen von Aggressivität und Destruktivität. Psychobio· logische und psychopathologische Aspekte zur Gewaltbereitschaft Von Prof. Dr. med. Hanns Hippius und Prof. Dr. med. Henning Saß, Universität München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft Von Prof. Dr. jur. Peter Waldmann, Universität Augsburg
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Aggressivität und Kriminalität bei Kindem und Jugendlichen durch Einwirkungen von Mediengewalt Von Prof. Dr. phil. Werner Glogauer, Universität Augsburg
. . . . . . . . . . . . . . . . 123
"Gewalt in der Schule" aus der Sicht der Lehrer Von Prof. Dr. phil. Helmut Zöpfl, Universität München
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Gewalt und Politik Von Prof. Dr. phil. Heinrich Oberreuter, Universität Passau . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Private Gewalt im Volkswillensbildungsprozeß Von Prof. Dr. jur. Walter Schmitt Glaeser, Universität Bayreuth Beschluß des Bayerischen Landtages vom 11. 11. 1987 Beschluß des Bayerischen Senats vom 21.7.1988
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 222
Vorwort Vor dem Hintergrund einer hohen Welle politisch motivierter Gewaltakte, die unser Land in den Jahren 1986 und 1987 getroffen hat, haben der Bayerische Landtag und der Bayerische Senat die Bayerische Staatsregierung aufgefordert, auf eine umfassende Erforschung der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft hinzuwirken und dabei insbesondere die Unverzichtbarkeit des staatlichen Gewaltmonopols wieder mehr als bisher in das allgemeine Bewußtsein zu rücken. Die Staatsregierung hat neun Professoren unterschiedlicher Fachrichtungen an den bayerischen Hochschulen gebeten, schriftliche Gutachten zu diesem Fragenkreis zu erstatten. Sie sind am 11. Mai dieses Jahres von den Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung unter Beteiligung von Mitgliedern des Landtags und des Senats erläutert worden. Wir begrüßen es außerordentlich, daß diese schriftlichen Gutachten der Sachverständigen durch die vorliegende Broschüre einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich gemacht werden. Die innere Sicherheit ist Voraussetzung für den inneren Frieden und die Stabilität unserer Gesellschaft. Leider sieht das nicht jeder so. Sonst gäbe es nicht die unheilvolle Differenzierung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen. Gerade deshalb kommt den Gutachten besondere Bedeutung zu. Unser aufrichtiger Dank gilt den Sachverständigen, die sich für diese Aufgabe zur Verfügung gestellt haben, sowie dem Verlag, der dem allgemeinen Interesse an der Publizierung dieser Gutachten Rechnung getragen hat. München, im August 1990 Bayerisches Staatsministerium des Ionern
Dr. Edmund Stoiber Staatsminister
Dr. Günther Reckstein Staatssekretär
Einführung Als der Bayerische Landtag am 11. 11. 1987 beschloß, die "zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft" untersuchen zu lassen, stand er sicherlich unter dem Eindruck des unerwarteten Widerstandes der Bevölkerung in der Oberpfalz gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Gleichwohl ist das Ersuchen umfassend formuliert. Die Bayerische Staatsregierung wurde nämlich gebeten, "auf eine umfassende Erforschung der zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft hinzuwirken. Dabei sollen die Ursachen geklärt und Möglichkeiten zur Abhilfe erörtert werden. Die Untersuchung soll möglichst breit angelegt werden und auch die Bereiche Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Medizin, Recht und Kriminologie einbeziehen." Allerdings kam eine "Bayerische Gewaltkommission" nicht zustande, sondern der Bayerische Staatsminister des Innern, Herr Dr. Edmund Stoiber, beauftragte im Februar 1989 Gutachter, um die Frage von unterschiedlichen Aspekten verschiedener Wissenschaften beantworten zu lassen. Dieses Vorgehen hatte den Vorteil, eine breite Fächerung der Standpunkte und der methodischen Ansätze zu gewinnen. Auch wurden keine Gutachten oder Zwischengutachten wie bei der Gewaltkommission der Bundesregierung "zur Abstimmung" gebracht und vor allem keine Aspekte aus rechtspolitischen oder ideologischen Gründen aus der Untersuchung ausgeblendet. Im Gegensatz zur Gewaltkommission der Bundesregierung ist daher die sozialstruktureile Variable der strukturellen Gewalt von einigen Gutachtern aufgegriffen worden. Ein gewisser Nachteil könnte darin gesehen werden, daß die Gutachten nun nur durch den gemeinsamen Forschungsgegenstand verbunden, im übrigen aber unverbunden und teilweise widersprüchlich nebeneinander stehen. Dennoch lassen sich die Gutachten in drei Gruppen einteilen. Die erste umfaßt die Beiträge von Rolinski und Schüler-Springorum. Sie werden an den Anfang gestellt, weil sie "Gewalt" und "gewalttätiges Verhalten" als gesellschaftliches Phänomen eher im Überblick darstellen. Das zugrundegelegte Handlungsmodell, wonach Variable der Person, der Sozialstruktur, der aktuellen Situation und die Rückwirkungen des eigenen Verhaltens in einem multivariaten Prozeß von Interaktionen zustandekommt, erlaubt es, die nachfolgenden Einzeluntersuchungen in einen größeren Zusammenhang von Ursachen für die Entstehung gewalttätigen Verhaltens einzuordnen. Als zweite Gruppe lassen sich die Arbeiten von Eibl-Eibesfeldt, Hippius I Saß, Waldmann, Glogauer und Zöpfl zusammenfassen, weil sie einzelne Aspekte des Phänomens
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Einführung
Gewalt herausheben und behandeln. Den ethologischen Aspekt, einschließlich der Bedeutung von Gemeinschaften für den einzelnen, und den der Aggression bringt Eibl-Eibesfeldt ein. Hippius und Saß betonen die konstitutionellen Grundlagen der Aggressivität, d. h. sie behandeln die Konzepte über Aggression, die den körperlichen Merkmalen einen hohen Stellenwert für die Entstehung von Aggressivität einräumen, allerdings unter Berücksichtigung ihrer psychodynamischen Einbindung. Den soziologischen Aspekt unter besonderer Berücksichtigung der Anomietheorie diskutiert Waldmann, wobei er die besonderen Probleme der Jugendlichen in einer anomischen Situation und den Aspekt der politischen Gewalt herausstreicht. Glogauer stellt die Massenmedien als Einflußfaktor für die Entstehung von Aggressivität und Kriminalität auf der Grundlage empirischer Forschung dar. Schließlich behandelt Zöpfl ebenfalls einen spezifischen Bereich gewalttätigen Verhaltens, nämlich den der Schüler in den Schulen. Er kann auf eine eigene empirische Untersuchung zurückgreifen. Die dritte Gruppe der Gutachten bringt einen gänzlich neuen Aspekt zur Geltung. Sowohl Obereeuter als auch Schmitt Glaeser diskutieren nicht auf der Ebene der Erfahrungswissenschaften, sondern auf der der rechtlichen und rechtspolitischen Wertung. Im Zentrum ihrer Erörterungen steht das staatliche GewaltmonopoL Beide Beiträge wurden an den Schluß gesetzt. Diese Reihung soll den Prozeß des Denkens widerspiegeln: Zunächst müssen die Fakten gesichert feststehen. Erst dann darf gewertet werden. Zu danken ist vielen, insbesondere den Mitarbeitern, die die formal unterschiedlich verfaßten Gutachten für den Druck vereinheitlicht haben. Dann aber auch dem Auftraggeber, der um Aufklärung bemüht ist. Schließlich gilt unser Dank dem Verlag Duncker & Humblot für seine verständnisvolle Betreuung während der Herausgabe. Regensburg und Andechs, im September 1990
Die Herausgeber
Politische Gewalt und Grundbedürfnisse Von Klaus Rolinski
A. Einleitung Als der Bayerische Landtag beschloß, die Gewalt in unserer Gesellschaft auf breiter Basis untersuchen zu lassen, formulierte er, die Bayerische Staatsregierung solle "auf eine umfassende Erforschung der zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft" hinwirken. Zwar enthält diese Formulierung Annahmen, die möglicherweise unbewußt politisch bedingte Erwartungshaltungen widerspiegeln, doch ist sie andererseits so umfassend abgefaßt, daß sie weitergehende Hypothesen zuläßt. Unterstellt wird nämlich, daß die Bereitschaft der Bevölkerung tatsächlich gestiegen ist, Gewalt zur Lösung sozialer Konflikte einzusetzen, und zum anderen wird vermutet, daß die Ursachen für eine solche Zunahme der Gewaltbereitschaft bei denen zu suchen ist, die diese "Bereitschaft" zur Gewalt aufweisen, nämlich bei der Gesellschaft, und damit dürfte wohl die Bevölkerung und nicht der Staat gemeint sein. Um nicht schon durch die Fragestellung die Weichen für die Antwort - falsch - zu stellen, müssen wir auch die Hypothese berücksichtigen, wonach die Gewaltbereitschaft gar nicht gestiegen ist. Und um nicht vorzeitig weiterreichende U rsachenzusammenhänge auszublenden, müssen wir sogar die Hypothese untersuchen, wonach die Ursachen für einen eventuell vorhandenen häufigeren Einsatz von Gewalt nicht bei der Bevölkerung liegen, sondern beim Staat. Es könnte z. B. sein, daß die auch gewalttätige Abwehr von Projekten der Wirtschaft und des Staates notwendig geworden ist. Bildhaft gesprochen: Es kann auch sein, daß dem Bürger das Wasser am Halse steht und ihm nur noch das Mittel der Gewalt zur Wahrung seines Lebensraumes bleibt.
B. Umfang und Formen der Gewalt: Bestandsaufnahme und Begriffsklärung Die - auch kulturelle - Geschichte des Menschen zeigt eine exzessive Anwendung von Gewalt durch den Menschen. Mord und Totschlag untereinander und Kriege zwischen den Nationen sind sozusagen Konfliktlösungsmuster mit Tradition. Aber auch bei kleineren Konflikten, z. B. bei Erziehungsfragen zwischen Eltern und Kindern, wird Gewalt als letztes Mittel eingesetzt, um den Streit zu beenden. Schwer ist es deshalb, ein derart ubiquitäres Handlungsmuster begrifflich zu fassen und auf spezifische Ursachen zurückzuführen.
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Erschwert wird eine Bestandsaufnahme zusätzlich dadurch, daß zwischen "unerlaubter" und "gerechtfertigter" Gewalt unterschieden wird. Es ist daher notwendig, für die folgende Stellungnahme zu sagen, von welchen Voraussetzungen ausgegangen wird. Dabei werden die Aspekte betont, die vom Standpunkt der Kriminologie besonders wichtig erscheinen. I. Begriffsklärung
1. Vorweg ist deutlich zu machen, daß nur nach den Ursachen oder Bedingungen für gewalttätiges Verhalten gefragt wird, d. h. daß die Erörterungen auf der Ebene der Faktizität erfolgen. Ob die eine oder andere Gewalthandlung - oder Gegengewalt - "gerechtfertigt" ist oder "unerlaubt" und "verboten", wird nicht diskutiert. Daher wird das "Gewaltmonopol des Staates" 1 auch nicht in Frage gestellt, vielmehr wird im Grundsatz von seiner Berechtigung ausgegangen. Andererseits besteht auch keine Berührungsangst mit dem Begriff der "strukturellen Gewalt". Auch sie wird in den Kreis der möglichen Einflußfaktoren für gewalttätiges Verhalten einbezogen, was die Gewaltkommission der Bundesregierung leider nicht gewagt hat. Der Auftraggeber des Gutachtens geht von der "Bereitschaft" zur Gewalt aus. Darunter ist einrelativ in der Zeit überdauerndes Verhaltenskonstrukt, also eine Einstellung, zu verstehen, gewalttätige Handlungsmuster bevorzugt als Konfliktlösungsmuster einzusetzen. Der Begriff "Gewaltbereitschaft" deckt sich daher zumindest zum Teil mit den Begriffen Aggressivität und Aggression. Insbesondere nach der Frustrations-Aggressions-Theorie von Dollard u. a. ist Aggression ein (gelerntes) Antwortverhalten des Individuums, das in spezifischen Situationen zur Lösung von Konflikten immer wieder auftritt. Gleichwohl können wir zur Lösung unserer Frage nicht auf die umfangreiche Literatur zur Aggression und Aggressivität zurückgreifen. Erklärt werden sollen letztlich nämlich nicht "Bereitschaften", sondern (gewalttätiges) "Verhalten", das Bürger in spezifischen Situationen zeigen. Zwar würden Testverfahren zur Verfügung stehen, um auch eine Aggressionsbereitschaft zu messen. Es ist methodisch aber nicht zulässig, von der Einstellung auf das tatsächliche Handeln zu schließen. 2 Das Verhalten selbst hängt von weiteren Variablen ab, nicht nur von der Einstellung. Auch könnten wir keine "Zunahme" der Gewaltbereitschaft messen, da Längsschnittuntersuchungen nicht existieren. Über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein aggressiver Einstellungen bei den Bürgern in zurückliegender Zeit könnten wir also keine Aussagen machen. Im folgenden wird daher nicht von einer "Gewaltbereitschaft" (Einstellung), sondern von "gewalttätigen Handlungen" (Verhalten) ausgegangen. 1 Siehe hierzu die Beiträge von Oberreuterund Schmitt Glaeser in diesem Band. Ferner kritisch: Lüderssen, Klaus: Die Krise des öffentlichen Strafanspruchs, Frankfurt 1989, S. 24ff., S. 50ff. 2 Allport, Gordon W.: Attitudes, in: Murchison, Carl (Ed.): Handbook of Social Psychology, WorchesterjMass. 1935 (Clark University Press), S. 798-844.
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2. Wenn nach der "Zunahme" gewalttätiger Handlungen in "unserer Gesellschaft'' gefragt ist, so ist ein Vergleich des gegenwärtigen Zustandes mit zurückliegenden Zeitabschnitten gefordert. Unter "unserer Gesellschaft" wird die Bundesrepublik verstanden, so daß Vergleiche mit der Weimarer Republik oder dem Kaiserreich ausgeschlossen, die Studentenunruhen der 60er und 70er Jahre aber eingeschlossen sind. Allerdings geht damit die nicht uninteressante historische Dimension verloren.
li. Gewalt 1. Größere definitorische Schwierigkeiten macht der Begriff der "Gewalt" und der der "gewalttätigen Handlungen". Zunächst ist jede einzelne Gewalthandlung bestimmt durch Einflußfaktoren einer konkreten Person, d. h. jede gewalttätige Handlung ist in ihrem Bedingungszusammenhang unverwechselbar individualisiert und Ausdruck eben dieses einzelnen Menschen. In diesem Gutachten geht es aber nicht um Hilfen für die Einzelperson, sondern um allgemeine Einflußfaktoren, die auf viele Menschen in ähnlicher Weise wirken und deren Feststellung allgemeine Handlungsanweisungen zulassen. Aber auch für die grobe Kategorisierung sind zumindest vier Aspekte zu berücksichtigen. Einmal die Dimension der "Intensität" der Gewalt. Die Pole reichen von geringfügiger Gewalt, z. B. einer leichten Ohrfeige, bis zu schwerer Gewalt, z. B. der tödliche Stich mit dem Messer. Im Bereich der "politischen Gewalt" erstreckt sich diese Dimension vom bloßen Sitzen auf Zufahrtswegen (Blockieren) bis zum geziehen Pistolenschuß auf Polizisten. Als zweite Dimension ist die der Motivation der Täter zu berücksichtigen, eine komplexe und praktisch nicht erfaßbare Variable. Daher soll lediglich eine Gegenüberstellung zwischen "politisch" und "nicht politisch" motivierter Gewalt vorgenommen werden, wobei die schwierige Diskussion der Abgrenzungskriterien hier nicht geführt werden kann. 3 Die dritte Dimension erfaßt die soziale Integration und damit den Sozialisationsaspekt der gewaltausübenden Personen mit schweren Sozialisationsdefiziten (Randgruppen) bis zu sozial integrierten, "unauffälligen" Bürgern. Schließlich kommt es ganz maßgeblich darauf an, ob Gewalt "instrumentell" als Mittel zur Duchsetzung von Zielvorstellungen, wie z. B. die Gewalthandlungen der Terroristen, eingesetzt wird, oder ob die gewalttätige Handlung nur Ausdruck einer aggressiven Emotionalität ist, für die der Gegenstand, gegen den sich die Gewalt richtet, gleichgültig ist, wie z. B. Umstürzen von Autos, die zufällig am Straßenrand stehen, anläßlich einer Demonstration (Waldmann). Auch hier gibt es fließende Übergänge von einem Pol zum anderen. Da die zahlreichen Kategorien, die sich aus diesen Dimensionen ergeben, hier nicht diskutiert werden können, müssen wir im folgenden einschränken. 3 Schwind, Hans-Dieter/Baumann, JürgenjSchneider, Ursula/Winter, Manfred: Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Endgutachten der unabhängigen Regierungskommission zu Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, Bochum 1989, S. 44.
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2. Gewaltdelikte im engeren Sinne, also Mord, Totschlag, Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung sind seit Gründung der Bundesrepublik ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik kontinuierlich gestiegen, weisen aber seit den letzten drei Jahren eine rückläufige Tendenz auf. 4 Diese Kategorie enthält undifferenziert nach dem äußeren Erscheinungsbild -Dimension Intensitätalle gewalttätigen Handlungen, die nach den Vorschriften des Strafgesetzbuches verboten sind. Sie erfaßt mithin insbesondere die sogenannten "normalen Straftäter". Da diese Gruppe im Verhältnis zu den politisch motivierten Gewalttätern sehr groß ist, kennzeichnet diese Kategorie Struktur und Bewegung der normalen Gewaltkrimtnalität. Sie wird aus Gründen der GutachtenÖkonomie im folgenden ausgeklammert. 3. Maßgeblich für unsere Fragestellung sind vielmehr - so jedenfalls verstehe ich den Gutachtenauftrag-die politisch motivierten gewalttätigen Handlungen im Regelfall sozial integrierter Demonstranten, die Gewalt zwar instrumentell, aber unspezifisch gegen bestimmte Objekte einsetzen und die nicht nur aggressive Emotionen ausleben. Es geht also um die unspezifischen Gewalthandlungen in Form des Einsatzes physischer Kraft gegen Großprojekte, wie gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf, gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens oder gegen sichtbare Lagerstätten militärischer Aufrüstung, wie z. B. die Stationierungspläne der Pershing II im Hunsrück. Die zu untersuchenden "gewalttätigen Handlungen" reichen vom passiven Sitzen auf der Straße über die Sachbeschädigung (Einreißen des Bauzaunes oder Abknicken von Strommasten) bis hin zu gefährlicher Körperverletzung (Schießen auf Polizisten mit Stahlkugeln; Schlagen mit dem Gummiknüppel aufungeschützte Bürger; Einsatz von Reizgiften in Wasserwerfern) und sogar bis zum Mord (vgl. Polizistenmord an der Startbahn West). 4. Die Dimension der Sozialisation der Täter macht deutlich, daß für jede der beteiligten Gruppen unterschiedliche Einflußfaktoren als Bedingungen für die Gewalthandlungen anzunehmen sind. So ist hinreichend sicher zu vermuten, daß die Polizisten in Frankfurt nicht von "sozial integrierten" Bürgern erschossen worden sind. Andererseits setzen sich die beteiligten Täter aus der großen Zahl der "demonstrierenden Bürger" zusammen, die im übrigen sozial integriert und völlig straffrei leben, und aus kleineren, gleichartigen Gruppen, die mit gewalttätigem Verhalten besonders häufig in Erscheinung treten. Sie nennen sich "Autonome" und werden als "Chaoten" bezeichnet. Entscheidend dürfte sein, daß zumindest der Kern dieser Gruppe sich aus randständigen Personen rekrutiert. Obwohl die schwereren Gewalthandlungen wohl von den beteiligten Randgruppen begangen werden, wird hier in erster Linie der Frage nachgegangen, warum auch sozial integrierte "Normalbürger" während des Demonstrierens sich gewalttätig verhalten. Bildhaft ausgedrückt geht es um die 4
Bundeskriminalamt (Hrg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1988, Wiesbaden 1988,
s. 79.
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"Wackersdorfer Oma", die Steine rafft, damit die Autonomen sie gegen Polizisten werfen können, und die ihren Gehorsam gegenüber der Regierung in München aufgekündigt hat. 5. Über den Umfang der politisch motivierten Gewalthandlungen sozial integrierter Bürger lassen sich keine zuverlässigen Aussagen machen. Immerhin hat die Gewaltkommission der Bundesregierung festgestellt, daß die Anzahl der "unfriedlich" verlaufeneo Demonstrationen im Zeitraum 1980-1988 im Verhältnis zum Zeitraum 1970-1979 von 1635 auf 2123 angestiegen ist. 5 Und die Anzahl der bei Demonstrationen verletzten Beamten stieg von 1985-1986 von 237 auf818 an, sank dann aber 1989 wieder auf293 (zusätzlich zwei Tötungen) und 1988 auf 147 ab. Man muß also konstatieren, daß die Anzahl der politisch motivierten Gewalthandlungen in den letzten 20 Jahren zugenommen hat. Ihre Zu- und Abnahme läuft aber, verstehbarerweise, parallel mit den Versuchen, umstrittene Großprojekte, wie Startbahn West, Aufstellung der Pershing II, Bau der WAA in Wackersdorf u. ä. durchzusetzen. 6. Einzubeziehen, aber schwerer zu fassen, ist die Kategorie der strukturellen Gewalt. Der Begriff stammt aus der Friedensforschung6 und meint letztlich die Ungleichheit der sozialen Chancen, mit der die Mitglieder einer Sozialstruktur konfrontiert sind. Direkter formuliert handelt es sich um die Einflußnahme wirtschaftlich und politisch mächtiger Interessentengruppen innerhalb einer Gesellschaft mit dem Ziel, die eigenen Vorteile zu sichern und zu vergrößern. Da auch innerhalb einer pluralistischen Demokratie soziale Chancen nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen, muß jeder Zuwachs an Macht und Einfluß der einen zu Lasten anderer Mitglieder dieser Gesellschaft gehen. Strukturelle Gewalt kann durch folgende Merkmale gekennzeichnet werden: "Sie wird von Institutionen sozialer Kontrolle ausgeübt, ist regelmäßig nicht sichtbar, sondern latent vorhanden und wirkt indirekt." 7
C. Das erweiterte multivariate Handlungsmodell zur Erklärung gewalttätigen Verhaltens Will man menschliches Verhalten erklären, muß man notwendigerweise von einem bestimmten Handlungsmodell ausgehen. In der Psychologie wurden Theorien über menschliches Verhalten entwickelt, die vom streng konstitutionsbiologischen Ansatz - Verhalten als Entfaltung von Erbanlagen - bis hin zu rein lerntheoretischen Annahmen reichen, nach denen Verhalten nur als ein Ergebnis von Lernprozessen angesehen wird, die wiederum nur von Außenreizen gesteuert werden: der Mensch als Lernmarionette (Behaviorismus). Heute s Schwind/Baumann, 1989, S. 55. Gattung, Johan: Strukturelle Gewalt, Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975. 7 Rolinski, Klaus: Strukturelle Gewalt, in: Gewalt als Phänomen in der modernen Gesellschaft. Ein Symposiumsbericht, Düsseldorf 1988, S. 51. 6
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wird in den Sozialwissenschaften übereinstimmend angenommen, daß auch gewalttätiges Verhalten wie sozialadäquates gelernt werde, und zwar in einem Interaktions- und Sozialisationsprozeß, in den Variablen der Person, der Sozialstruktur, der aktuellen Situation und Rückwirkungen des eigenen Verhaltens eingehen. 8 Wir sprechen von einem multivariaten Ursachen-, besser Bedingungszusammenhang. Mit gewalttätigen Handlungen versucht der einzelne eine Situation zu bewältigen, die er als Konflikt erlebt. Es hängt nun stark vom politischen Standpunkt ab, welche Einflußfaktoren man erforscht oder gar unerforscht als "wesentliche" Ursache wertet. Betrachten wir als Beispiel den Verlauf einer Demonstration, wie er vor wenigen Jahren sich am Bauzaun der WAA in Wackersdorf abgespielt hat: Zauneinreißen, Wasserwerfereinsatz, Stahlkugeln, Reizgas und Gumrniknüppeleinsatz. Man kann nun sagen, ein paar Chaoten, Berufsdemonstranten, hätten für Randale gesorgt. Ursache der gewalttätigen Handlungen wären dann lediglich Persönlichkeitsvariablen dieser Demonstranten. Die Gegenposition lautet: Die Polizisten haben den Einsatz benutzt, um auf Bürger einmal richtig einschlagen zu können. Die Ursachen lägen dann bei den Polizisten (Variable der Persönlichkeit). Man kann aber auch behaupten, daß Polizisten den Kopf für politische Fehlentscheidungen haben hinhalten müssen. Danach würden die Ursachen in sozialstruktureilen Zusammenhängen zu suchen sein, denn niemand wird behaupten wollen, daß politische Entscheidungsträger derartige Gewaltszenen gewünscht und absichtlich herbeigeführt hätten. Um solche ideologisch bedingten Selektionen zu vermeiden, müssen wir den Bereich der möglichen Variablen sehr weit ziehen. Das erlaubt das Modell der multivariaten Verursachung. Es erfaßt die schon genannten Bereiche: Person (P), Sozialstruktur (Ss), aktuelle Situation (U) und Verhalten (V). Dabei ist davon auszugehen, daß sich die Variablen dieser Bereiche wechselseitig beeinflussen, das resultierende Verhalten also Folge von Interaktionen ist. Keine Aussage macht dieses Modell über die Gewichtung einzelner Einflußfaktoren der verschiedenen Bereiche. Zwar sind statistische Verfahren entwickelt worden, mit denen man die Einflußgröße einer Variable im Verhältnis zu anderen messen kann (Regressionsanalyse), doch sind solche Verfahren m. W. auf die zu untersuchenden komplexen Zusammenhänge noch nicht angewendet worden. Um zu möglichst umfangreichen Aussagen kommen zu können, wird im folgenden der methodische Anspruch bewußt niedrig gehalten. Die noch aufzuweisenden Einflußfaktoren können daher nur "schätzungsweise" in eine Rangreihe nach der Größe ihres Einflusses gebracht werden. Dies gilt für den Einflußumfang sowohl der persönlichkeitsspezifischen wie der sozialstruktureilen Variablen. Ob ein solches Schätzverfahren durch die phänomenologische Methode von Husserl schon abgedeckt wird, kann hier dahingestellt bleiben. 8 Vgl. Hilgard, Emest R./Bower, Gordon H.: Theories of Leaming, 4. Aufl., Englewood Cliffs, New Jersey 1975 (Prentice-Hall, Inc.).
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Aus methodischen Gründen können aber meine Aussagen nur in Form von Hypothesen erfolgen. Dies gilt selbst, wie bereits erwähnt, für Variablen der Persönlichkeit. In der Literatur wurden bisher lediglich im Rahmen der Sozialisation eines konkreten Menschen dessen angeborene Behinderungen (Persönlichkeitsvarable) betont. Die neueren empirischen Ergebnisse über Motivation und Verhalten rechtfertigen es m. E., menschliches Verhalten mit einem Handlungsmodell zu erklären, das von Grundbedürfnissen ausgeht, die in einer konkreten Sozialstruktur sich zu verwirklichen suchen und deren Verwirklichungsmodalitäten den Gesetzen des Lernens unterliegen, 9 und zwar im Rahmen des beschriebenen multivariaten, interaktionistischen Handlungsmodells. Für die vorgegebene Fragestellung ist es allerdings nicht notwendig, ein geschlossenes Bedürfnismodell zu diskutieren. 10 Wichtig ist vielmehr, solche Grundbedürfnisse herauszugreifen, die empirisch nachgewiesen sind und deren Befriedigung durch die Bedingungen der gegenwärtigen Sozialstruktur gefährdet oder gar schon gestört sind. Denn unsere zentrale Hypothese lautet: Gestörte Grundbedürfnisse werden vom einzelnen als Konfliktsituation erlebt, die er - im Regelfall mit inadäquaten Mitteln - lösen will. Ein solches Mittel ist auch gewalttätiges Verhalten. Ich habe den Ausdruck Grundbedürfnisse gewählt, um die umweltstabile, also umweltunabhängige Qualität einiger Bedürfnisse zu bezeichnen. Es ist nämlich davon auszugehen, daß einige Bedürfnisse auf einem genetischen Potential beruhen, das unter dem Einfluß von Umweltbedingungen im Rahmen des genetisch Vorgegebenen Handlungssysteme entfaltet. Man kann auch sagen: Handlungssysteme werden in konkreten Umwelten (Sozialstrukturen) erworben, d. h. gelernt. Sie basieren aber auf einer genetischen Information, sind also nicht beliebig formbar. Eibl-Eibesfeldt versteht unter "angeboren" eine "stammesgeschichtliche Anpassung".U Ähnliches ist auch hier gemeint, freilich bezogen auf das menschliche, d. h. komplexe und kulturell überformte Verhalten. So besteht offenbar eine genetische Bereitschaft für emotionale Zuwendung. Bereits ab dem 3. Lebensmonat beginnt, beobachtbar, sich ein Handlungssystem zwischen Beziehungspersonen (im Regelfall die Mutter) und dem Neugeborenen zu entwickeln, das in seiner inhaltlichen Ausformung sehr stark vom Verhalten der Beziehungsperson, also für das Neugeborene von äußeren Bedingungen, beeinflußt wird. Immer muß es aber die Funktion des Grundbedürfnisses erfüllen, d. h. hier, emotionale Zuwendung gewähren. Insoweit ist es nicht in beliebiger Form aufbaubar, sondern nur im Rahmen der genetisch Bandura, Albert: Sozial-kognitive Lerntheorie, Stuttgart 1977. Maslow, Abraham H.: Motivation and Personality, 2. Aufl., New York 1970. 11 Eibi-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, München 1984, S. 36. 9
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vorgegebenen Potenz. Man spricht auch von genetischer Information, die offene Verhaltensprogramme ermöglichen. 12 I. Grundbedürfnisse Im folgenden soll versucht werden, dieses Konzept der Grundbedürfnisse, das bisher nur zur Erklärung dissozialen Verhaltens einer konkreten Einzelperson herangezogen wurde, auf kollektive Phänomene, wie auf gewalttätige Demonstrationen, anzuwenden. Dann rückt aber die Sozialstruktur einer konkreten Gesellschaft in den Mittelpunkt der Betrachtung, hier: diejenige unserer Bundesrepublik, weil sie die Umwelt für die Ausbildung von Verhaltenssystemen darstellt. Wir haben zu fragen, wie letztlich solche Verhaltenssysteme inhaltlich gestaltet sind und ob sie noch die Funktion des ursprünglichen genetischen Potentials erfüllen, anders ausgedrückt: Ob Grundbedürfnisse sich gestört oder ungestört verwirklichen, hängt von den Bedingungen unserer Sozialstruktur ab. Daher kann auch nicht auf die Variable "strukturelle Gewalt" verzichtet werden. 1. Das bestuntersuchte Grundbedürfnis ist das nach emotionaler Zuwendung. 13 In zahlreichen Untersuchungen ist festgestellt worden, daß strafbares, insbesondere gewalttätiges Verhalten, von Personen vorgenommen wird, deren Mutter-Kind-Beziehung in frühester Kindheit gestört worden war. Nur 5% der Insassen deutscher Strafanstalten waren mit einer festen Bezugsperson aufgewachsen. 14 Da die Befriedigung dieses Grundbedürfnisses vom Verhalten der Bezugspersonen, insbesondere der Eltern, unmittelbar abhängig ist, die Bedingungen der Sozialstruktur aber nur mittelbar, nämlich als Einflußfaktoren auf die Bezugspersonen und die weitere Familie wirken, wird dieses Grundbedürfnis aus der zentralen Fragestellung zunächst ausgeblendet. Es ist nicht davon auszugehen, daß die gewalttätig werdenden sozial integrierten Bürger in diesem Bedürfnis gestört worden sind. Bei der Erklärung des gewalttätigen Verhaltens von Randgruppenmitgliedern dürfte diesem Aspekt aber besondere Bedeutung zukommen. Leider fehlen uns zu dieser Frage empirisch gesicherte Befunde.
2. Empirisch nachgewiesen und unmittelbar einsichtig sind die biologischen Grundbedürfnisse, wie die nach Nahrungsaufnahme, Trinken, Atmen und Schlafen. Es erscheint zunächst absurd, die Möglichkeit der fehlenden BefriediBowlby, John: Bindung, München 1975, S. 173. Bowlby, 1975; ders.: Mütterliche Zuwendung und geistige Gesundheit, München 1973; Grossmann, Klaus E.l August, PetraiFremmer-Bombik, Elisabethi Friedl, Anton I Grossmann, Karin I Scheurer-Englisch, Herrmann I Spangier, Gottfried I Stephan, Christine I Suess, Gerhard: Die Bindungstheorie: Modell und entwicklungspsychologische Forschung, in: Keller, Heidi (Hg.): Handbuch der Kleinkindforschung, Berlin 1989, s. 31-55. 14 Kaiser, Günther: Diskussionsbemerkung, in: Nitsch, Kurt (Hg.): Was wird aus unseren Kindern?, Heidelberg 1978, S. 34-45. 12
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gung gerade dieser Bedürfnisse in einer Überflußgesellschaft ins Auge zu fassen. Aufnehmen müssen wir diesen Aspekt, weil die bisherige Umweltzerstörung derartige Ausmaße angenommen hat- die Realressourcen wie Wasser, Boden und Luft sind bereits partiell schwer geschädigt-, daß die Erzeugung ungiftiger Lebensmittel nicht mehr möglich ist. Diskutiert wird ja nicht mehr die Frage, ob Lebensmittel Gift enthalten dürfen oder nicht, ob z. B. Milch mit Cadmium versetzt sein darf oder nicht, gestritten wird vielmehr nur noch darüber, wieviel Gifte Lebensmittel enthalten dürfen (Grenzwertproblematik). 3. Bedeutsam für die Fragestellung dürfte ferner das ebenfalls empirisch nachgewiesene Grundbedürfnis nach "Erregung und Aktivität" sein. Versuche wie der von Ross haben gezeigt, daß schon sehr junge Kinder im Alter von weniger als einem Jahr gezielt solche Situationen aufsuchen, die für sie neu sind und in denen sie bisher unbekannten Stimulierungen (z. B. neuer Raum, neues Spielzeug) ausgesetzt sind. 15 Dieses "diversive Neugierverhalten" ist von Bexton u. a. schon 1954 im Experiment nachgewiesen worden. College-Studenten erhielten pro Tag 20 Dollar dafür, gefesselt und mit einer Schutzbrille versehen in einem geräusch-abgeschirmten Raum zu verbringen. Nach einer Schlafperiode wurde das Bedürfnis nach sensorischer Stimulation und Information so groß, daß sich sogar kognitive Störungen einstellten. Kaum einer hat das Experiment drei Tage lang durchgestanden. 16 Sicher müssen wir gerade bei diesem Grundbedürfnis nach Erregung und Aktivität davon ausgehen, daß zwar ein Potential zum Aufbau von Handlungssystemen erbmäßig vorgegeben ist, daß aber die Ausbildung der einzelnen Verhaltenssysteme selbst in besonders starkem Maße von den Faktoren der Umwelt, d. h. von der konkreten Sozialstruktur, abhängig ist. Dennoch bedarf die Befriedigung auch dieses Grundbedürfnisses bestimmter sozialstruktureHer Bedingungen und kann, wenn diese nicht gegeben sind, in der Befriedigung gestört werden. 4. Bedeutsam, aber empirisch weniger gut belegt, ist das Grundbedürfnis nach Rang/Einfluß und Kontrolle. Immerhin hat die Ethologie durch empirische Einzeluntersuchungen sichere Beweise dafür geliefert, daß auch Primaten sich nach dem Prinzip der Rangordnung organisieren, wobei als Aufstiegskriterium nicht nur das der physischen Stärke gilt. So berichtet Lawick-Goodall über den Aufstieg eines Schimpansen (Mike), der sich aus ihrem Zelt zwei leere Kerosinkanister geholt hatte und mit diesen klappernd durch die Herde raste. Aufgrund dieses Verhaltens stieg er von einem der letzten auf den höchsten Rangplatz auf. 17 15 Ross, Hildy 1Rheingold, Harriet/ Eckermann, Carol 0 .: Approach and Exploration of a Novel Alternative by 12-month-old Infants, in: Journal of Experimental Child Psychology 1972 (13), S. 85-93, zitiert nach Schneider/ Schmalt, 1981; Schneider, Klaus/Schmalt, Heinz-Dieter: Motivation, Stuttgart 1981, S. 103. 16 Bexton, W. M./Heron, W./Scott, T. H.: Effects of Decreased Variation in the Sensory Environment, in: Canadian Journal of Psychology 1954 (8), S. 70-76, zitiert nach Schneider/Schmalt, 1981 , S. 112.
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Nun ist es gefährlich, Ergebnisse der Ethologie auf menschliches Verhalten zu übertragen. Andererseits liegen hinreichend viele Beobachtungen vor, die es rechtfertigen anzunehmen, daß auch menschliche Gemeinschaften sich nach dem Prinzip der Rangordnung organisieren. 18 Zunächst: Es ist m. W. keine einzige menschliche Gemeinschaft- auch keine sozialistische- aufweisbar, die nicht hierarchisch nach einer Rangordnung strukturiert wäre! Und dies, obwohl der Gleichheitsgrundsatz im vorigen Jahr in Europa seinen 200. Geburtstag feiern konnte. Sodann lassen sich schon bei Kindern im Kindergarten Rangordnungen beobachten. 19 Auch Jugendgruppen und Jugendbanden bilden schon im Prozeß ihres Entstehens Rangordnungen und entwickeln Kriterien für den Auf- bzw. Abstieg. 20 Dieses Phänomen konnte von Mustapher Sherif in einem Ferienlager in mehrmals neu zusammengesetzten Gruppen experimentell nachgewiesen werden. 21 Berücksichtigt man ferner die Nähe des Primaten zum Menschen und die Beobachtungen, die Packard über den Aufstieg von Managern im nordamerikanischen Wirtschaftsleben gemacht hat, 22 dürfte die Zusammenfassung von Schneider und Schmalt, daß zwar "von den verschiedenen Autoren eine Reihe von motivationalen Subkomponenten auf theoretischem und operationalem Niveau differenziert werden, die jedoch bislang nicht die Konturen eines einheitlichen Machtmotivs erkennen lassen", 23 als zu kritisch und zu stark auf psychologische Experimente bezogen anzusehen sein. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß sich auch menschliche Gesellschaften hierarchisch nach Rängen organisieren, daß auch der Mensch danach strebt, einen möglichst hohen Rangplatz einzunehmen (Machtstreben), und daß beidem ein genetisch vorgegebenes Potential zugrundeliegt Allerdings ist hinzuzufügen, daß menschliche Rangordnungen kulturell überformt, mithin komplex und vielschichtig gestaltet sind und daß die Kriterien für den Auf- bzw. Abstieg von den Gesellschaften mehr oder weniger frei definiert werden können. Festzuhalten ist aber auch, daß die Bindung des Verhaltens an ein genetisches Potential ein großes Ausmaß an Reflexion über diese "biologische" Gebundenheit erfordert, um mit ihr umgehen zu können. Diese Distanz, zu der der Mensch für fähig gehalten wird, fehlt heute noch weitgehend. Wir haben zwar die Ergebnisse von Darwin zur Kenntnis genommen, aber nicht verarbeitet. Und noch ein zweiter Punkt ist festzuhalten: Das Machtstreben des Menschen nach oben ist unbegrenzt. 24 17 Lawick-Goodall, Jane van: ln the Shadow of Man, Boston 1971, S. 113ff. (Houghton Miffiin Company). 18 Eibl-Eibesfeldt, 1984, S. 385ff. 19 Hold, Barbara: Rangordnungsverhalten bei Vorschulkindern, in: Homo, Zeitschrift für die vergleichende Forschung am Menschen 1974, Bd. 25, S. 252-267, S. 263. 2° Cohen, Albert K.: Kriminelle Jugend. Zur Soziologie des jugendlichen Bandenwesens, Reinbek 1961. 21 Hofstätter, Peter R.: Einführung in die Sozialpsychologie, 4. Aufl., Stattgart 1966, S. 309ff. 22 Packard, Vance: Die Pyramidenkletterer, Düsseldorf 1963. 23 Schneider/ Schmalt, 1981, S. 187.
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Die Funktionen dieses Organiationsprinzips sind unter zwei Aspekten zu sehen, dem soziologischen und dem individualpsychologischen. Für die Gemeinschaft bedeutet das Prinzip der Rangordnung die Strukturierung einer Summe von Einzelpersonen zu einer neuen Einheit, nämlich der Gruppe oder Nation, die sich nach außen abgrenzt, die nach innen Stabilität erreicht und durch die die Mitglieder Handlungsfähigkeit als Ganzes erreichen. Die Abgrenzung nach außen hat positive Wirkungen, allerdings nur für primitive Gesellschaften in früherer Zeit entfaltet. Heute, in der Zeit globalen Aneinanderrückens von Nationen, führt dieses Prinzip zur Ablehnung anderer Gemeinschaften statt zur notwendigen Annäherung. Der einzelne gewinnt durch seinen Rangplatz seine soziale Integration. Rangplatz, insbesondere auch im mittleren und im unteren Bereich der Hierarchie, bedeutet nicht nur Ansehen, sondern vor allem Verhaltensstabilität. Die Einordnung in einen Rangplatz der sozialen Ordnung gibt dem einzelnen Vertrauen und damit Sicherheit für sein Verhalten und vor allem für seine Erwartungen an die Zukunft. Der Rangplatz definiert seine soziale Rolle 25 , und durch Übernahme dieser sozialen Rolle, sozusagen seiner sozialen Nische, gewinnt er sozialen Lebensraum durch Kommunikation und durch soziale Anerkennung, die er erhält und die er gewährt. II. Die Bedeutung der Sozialstruktur Es kann nicht Aufgabe des Kriminologen sein, die gegenwärtige Sozialstruktur zu beschreiben und ihre Entwicklung bis zurück zum Jahre 1945 detailliert zu verfolgen. Andererseits bleiben unsere Aussagen unverstehbar, wenn wir die Bedingungen der gegenwärtigen Sozialstruktur ausblenden. Dies deshalb, weil das zugrundegelegte Handlungsmodell persönlichkeitsspezifische und sozialstrukturelle Variablen als Bedingungen für menschliches Verhalten einbezieht. Wie oben festgestellt, hängt die Frage, ob Grundbedürfnisse sich verwirklichen können und wie sich genetisch vorgegebene Handlungspotenzen in Verhalten umsetzen, wesentlich von den konkreten Bedingungen einer Sozialstruktur, in unserem Falle der bundesrepublikanischen, ab. Die Bundesrepublik ist eine wisenschaftliche, kapitalistisch organisierte Industriegesellschaft auf der staatsrechtlichen Grundlage einer Mehrparteiendemokratie. Zwar ist eine solche Aussage so allgemein, daß sie nutzlos erscheint, doch steckt sie den äußersten Rahmen ab, in dem sich Individuen und sozialstruktureHe Kräfte entfalten. Auch die Makrostruktur einer Gesellschaft beeinflußt Entstehung undFormen von Kriminalität und von Bürgerprotest So sind für eine Planwirtschaft auf der Grundlage einer Einparteiendiktatur die Eibl-Eibesfeldt, 1984, S. 407. Popitz, Heinrich: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967 (Recht und Staat, Heft 331). 24
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heimliche Weitergabe verbotener, sogenannter "staatsfeindlicher", Literatur oder das Verschieben von Produktionsgütern auf dem schwarzen Markt kennzeichnend, nicht aber für die freie Bundesrepublik. Es gilt also immer noch der Satz von Lacassagne: "Jede Gesellschaft hat die Straftäter, die sie verdient" 26 oder in leichter Abwandlung: Jede Gesellschaft hat die Gewalt, die sie verdient! Einzelne Kennzeichen der bundesrepublikanischen Sozialstruktur und ihre Veränderungen in den letzten 40 Jahren werden im folgenden nicht zusammenfassend dargestellt, sondern unter Punkt D in die Diskussion der gestörten Grundbedürfnisse einbezogen. Ihre Bedeutung als Einflußfaktor auf inadäquates und sozial unerwüschtes Konfliktlösungsverhalten dürfte dann deutlicher in Erscheinung treten.
D. Einzelne Einflußfaktoren für gewalttätige Handlungen I. Grundbedürfnisse und Störungen ihrer Befriedigung 1. Grundbedürfnisse und Sozialstruktur stehen in einem Wechselverhältnis. Gleichwohl müssen wir, wie oben ausgeführt, von einer grundsätzlichen Konstanz, d. h. von einer Umweltunabhängigkeit der Grundbedürfnisse ausgehen, da sie auf einem genetischen Potential beruhen und da daher nur die zwischen Individuum und Sozialstruktur sich entwickelnden Verhaltenssysteme von den konkreten Bedingungen der jeweiligen Sozialstruktur mit beeinflußt werden. Die Existenz von Grundbedürfnissen ist also vorgegeben; sie werden von der Sozialstruktur nicht erzeugt. Soweit gesellschaftliche Bedingungen Bedürfnisse "wecken", sprechen wir von Quasi-Bedürfnissen, die im Einzelfall zwar einen Bezug zu Grundbedürfnissen haben können, die aber auch völlig artifiziell, z. B. von der Werbung, erzeugt werden können. Wenn aber Grundbedürfnisse umweltstabil sind, kann nur gefragt werden, ob die sozialstruktureilen Bedingungen -und das heißt die gegenwärtigen unserer Bundesrepublik- zu ihrer Befriedigung geeignet oder ungeeignet sind. Eventuell notwendige Korrekturen können nur an ihnen, niemals an den Grundbedürfnissen vorgenommen werden. Denn die Fähigkeit des Menschen zur Anpassung berührt nur die Verhaltenssysteme, nicht aber das genetische Potential der Grundbedürfnisse selbst. Betrachtet man unter dieser Voraussetzung die Verwirklichungschancen der Grundbedürfnisse in unserer Sozialstruktur, so ergibt sich folgendes: 2. Für die Erklärung der Zunahme gewalttätiger Handlungen beim Widerstand gegen technologische Großprojekte scheint mir das vierte Grundbedürfnis, das nach Rang/Einfluß und Kontrolle, besonders wichtig zu sein. Wir haben 26 Lacassagne, Alexandre J., zitiert nach Hering, Karl-Heinz: Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft, Harnburg 1966, S. 99.
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zwei Aspekte zu unterscheiden: Einmal den quasi-objektiven, also die tatsächliche Art und Ausformung der hierarchischen Ordnung unserer Gesellschaft, und zum zweiten die Funktion, die der eingenommene Rangplatz für den einzelnen hat (vgl. oben C.l.4.). Dessen Bedeutung hängt darüber hinaus wesentlich von der subjektiven Einstellung des einzelnen zu seinem Rangplatz und zu der hierarchischen Ordnung insgesamt ab. Unter soziologischem Aspekt geht es um die Summe der Erwartungen, die die Bürger an diese Gesellschaft stellen. Wir dürfen daher die im folgenden für die Darstellung aus der Sozialstruktur herausgehobenen Einflußfaktoren nicht als isolierte Bedingungen ansehen, sondern immer nur als Größen, die in einem Interaktionszusammenhang mit den Reaktionen der Bürger stehen. So mögen z. B. Korruption und Bevorzugung einer kleinen Schicht durch die Staatsverwaltung dann als Einflußfaktoren für gewalttätiges Handeln ausscheiden, wenn die Bürger diesen Zustand -aus welchen Gründen auch immer - für richtig halten und akzeptieren. a) Die Darstellung der objektiv-vorfindbaren sozialstruktureilen Gegebenheiten kann ftir unseren Zusammenhang- wie bereits betont - nur partiell und grob schraffiert erfolgen. Daß dabei notwendige Differenzierungen eingeebnet werden, ist schmerzlich, aber unvermeidbar. Insbesondere bleiben die positiven Seiten unerwähnt, weil sie sozial erwünschtes Verhalten fördern. Nur dissoziales Verhalten ist aber Gegenstand unserer Untersuchung. aa) Ein bedeutsamer Faktor im Bedingungszusammenhang für das Entstehen gewalttätiger Handlungen ist m. E. die inhomogene Verteilung von Einkommen und Vermögen und die Regulierungssysteme für ihr Zustandekommen. Zwar bestand auch in der sogenannten Stunde Null-1948- keine Gleichheit, aber es gab nur wenige, die sehr reich waren, dagegen viele, die erst eine neue Existenzgrundlage aufbauen mußten. Getragen wurde diese objektiv desolate Situation mit einem weit verbreiteten Optimismus und einem festen Glauben an eine erfolgreiche Zukunft. Diese relative Gleichheit im Einkommen änderte sich in der Zeit des berühmten Wirtschaftswunders. Zwar partizipierten alle am wirtschaftlichen Aufschwung, einige aber mehr als andere. Maßgeblich für die zunehmend größer werdenden Abstände der Einkommen und damit der Vermögensbildung war sicherlich die Tüchtigkeit des einzelnen; entscheidender aber die allgemeine Hinwendung zu einem liberal-kapitalistischen System USamerikanischer Prägung. Ob das Wertevakuum, entstanden durch die Ablehnung der nationalsozialistischen Vergangenheit aus schlechtem Gewissen, oder der Einfluß der Westmächte oder eine zwar verdeckte, aber ungebrochene, deutsche Tradition, insbesondere die der christlichen Leistungsethik oder alle oder andere Gründe dafür verantwortlich zu machen sind, kann hier dahingestellt bleiben. Entscheidend ist lediglich die tatsächlich eingetretene Werthaltung und die unterschiedliche Partizipation am Aufschwung. Sicher gibt es in einer freien und pluralistischen Gesellschaft keinen "gerechten Preis". Die Regulierungsmaßnahmen aber, die letztlich den heutigen Zustand herbeiführten, sind Folge dieser liberal-kapitalistischen Geisteshaltung. Paradigmatisch möchte ich
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aufzwei hinweisen. Nach Art. 14 Abs. I Satz 1 GG, wurde die Eigentumsgarantie mit einem geradezu heiligen Fanatismus betont, die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. I Satz 2 und Abs. II GG) aber schamhaft verschwiegen. Die Folge war z. B. eine ungehemmte Grundstücksspekulation, die wenige ohne Verdienst und Leistung reich machte und macht und die auch heute noch täglich von Millionen bezahlt wird, nämlich insbesondere von den Mietern in den Ballungsgebieten. In Zahlen: 1989 zahlten die Mieter 192 Milliarden DM an die Vermieter; mehr als sie für ihre Nahrungsmittel aufbringen mußten (119 Milliarden). 27 Die Chance, wenigstens den nicht vermehrbaren Grund und Boden dem Interesse des Gemeinwohls zu unterstellen, wurde aus ideologisch verbrämten Profitinteressen schlicht verhindert. Es galt vielmehr als .,tüchtig", vom Kapital oder von den Leistungen der Gemeinschaft zu profitieren. Korrekturen an Kapitalakkumulationen wurden und werden nicht einmal als Frage empfunden. Anders als bei den !Kung-Buschleuten und den Maori, bei denen Mechanismen zum Ausgleich von Unterschieden im Besitzstand auftreten, 28 verläuft die Entwicklung in westlichen Industriegesellschaften progressiv in Richtung Verschärfung der Inhomogenität. 29 Als zweites Beispiel mag die"Sleuergesetzgebung dienen. Sie hat von Anfang an der Förderung der Wirtschaft Vorrang vor dem Versuch, Steuergerechtigkeit herzustellen, eingeräumt. Die Steuerprivilegien kamen und kommen daher fast ausschließlich den höheren Einkommen zugute. Die sogenannte .,PuddingFlotte" (Oetker) oder das negative Kapitalkonto-dasEhepaar Vormbrock, damals Vorstandsmitglied der Neuen Heimat, hatte 1978 Jahreseinkünfte in Höhe von DM 404057,00, machte Verluste insbesondere aus Immobilien geltend und zahlte DM 4 712,00 (in Worten: Viertausendsiebenhundert und zwölf[!]) Einkommensteuern 30 - mögen zur Illustration ausreichen. Das liberal-kapitalistische System baute allerdings wegen des Sozialstaatsprinzips die sozialen Absieherungen ständig aus. Bezeichnenderweise führten solche "Korrekturen" aber nicht zu mehr Ausgleich von systembedingten Akkumulationen, sondern per Gesetz wurden ganze Berufsstände begünstigt. So führte die sukzessive Anhebung des Beitragssatzes der gesetzlichen Krankenversicherung von 6% des Lohnes (1949) auf 12,9% (1988) dazu, daß die gesetzlich eingezogenen und weitergeleiteten Milliarden zwar die deutschen Ärzte neben denen der USA zu den bestverdienenden in der Welt machten, die Krankenschwestern und Krankenpfleger aber unterbezahlt blieben, bis der Krankennotstand ausgerufen wurde. Ähnliches gilt für die direkten und 27 Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik 1989, Wiesbaden 1989, S. 211; Süddeutsche Zeitung vom 3. 7. 1990 (Nr. 150), S. 23. 28 Eibl-Eibesfeldt, 1984, S. 398. 29 Vgl. auch Balsen, WemerfNakielski, Hans/Rössel, Karl/Winkel, Rolf: Die neue Armut, Köln 1984, S. 34f., S. 41, S. 70f.; Roth, Jürgen: Zeitbombe Armut. Soziale Wirklichkeit in der Bundesrepublik, Harnburg 1985, S. 193 ff. 30 Der Spiegel vom 8. 2. 1982 (36. Jahrgang), S. 98.
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indirekten Subventionen. Dabei wurde der Regelungsumfang für den Gesetzgeber immer größer, und die Inhomogenitäten (Bevorzugungen und Benachteiligungen) nahmen zu. bb) Der zweite sozialstruktureHe Faktor im Bedingungszusammenhang für das Entstehen gewalttätiger Handlungen sind die Handlungsstile der für die Gesetzgebung zuständigen Entscheidungsträger, also der Vertreter der politischen Parteien, und ihre Abhängigkeit von den Partikularinteressen. Zunächst haben sie ihr Recht, "bei der Willensbildung des Volkes mitzuwirken" (Art. 21 Abs. I GG), zu einer nahezu unumschränkten Parteienherrschaft ausgebaut. Praktisch alle "Institutionen gesellschaftlich relevanter Kräfte", wie z. B. Fernsehaufsichtsräte, sind von ihnen unterwandert und nach Proporzgesichtspunkten mit ihren Vertretern besetzt. Wer "beim Staat" etwas werden will, bedarf eines Parteibuches. Nur wenige Enklaven sind davon ausgenommen. Die Machtfülle ist aber nicht darauf ausgerichtet, dem Gemeinwohl zu dienen. Parteivertreter fühlen sich vielmehr einzelnen Partikularinteressen verpflichtet und fällen auch ihre Entscheidungen - falls durchsetzbar - zu deren Gunsten. 31 Zu diesem Handlungsstil g~hören z. B. auch die Wahlgeschenke der jeweiligen Regierungspartei, mit denen sie versucht, Mehrheiten hinter sich zu bringen, um an der Macht zu bleiben. Genutzt wird die Machtfülle, um die eigene Position zu stabilisieren, auszubauen und finanziell abzusichern. Hohe Diäten, WahlkampfKostenerstattungen u. ä. belegen dieses Verhalten. Die Verpflichtung des Parteivertreters den Partikularinteressen gegenüber bedeutet nicht nur eine Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit, sondern auch ein Verlust an Unabhängigkeit. Am stärksten sollen die Parteien von "der Wirtschaft" abhängig sein, 32 so daß Politiker nur auf der "Vorderbühne" operieren, während auf der "Hinterbühne" die wichtigsten, unsere Sozialstruktur gestaltenden, Entscheidungen getroffen werden. 33 Die ParteispendenafTäre, das Unterlassen von wirksamen Umweltschutzgesetzen, die Hilflosigkeit der Bundesregierung beim Baustopp der WAA in Wackersdorf durch die VEBA u. ä. dürften diesen Zusammenhang belegen. cc) Die Entscheidungsträger sind ferner in ihrem Handeln durch methodische Hilflosigkeit gekennzeichnet. Da sie ursprünglich von der Ideologie der sozialen Marktwirtschaft ausgegangen sind, empfanden sie Steuerungen für die Sozialstruktur und ihre Zukunft als systemwidrig. Der Markt reguliert sich selbst! Der Staat darf nur Rahmenrichtlinien zur Verhinderung von Auswüchsen schaffen. Tatsächlich zeigte sich, daß ein liberal-kapitalistisches Wirtschafts31 Die Gewaltkommission der Bundesregierung benutzt die aufschlußreiche Formulierung, daß Parteien unter dem Zwang stünden, "Gruppeninteressen vertreten zu müssen und sich gleichzeitig als Anwalt eines Gesamtinteresses möglichst glaubhaft zu machen" (Hervorhebungen vom Verf.). Schwind / Baumann, 1989, S. 133, Rdnr. 285. 32 Jaenicke, Martin: Die Ohnmacht der Politik in der lndustriegesellschaft, München 1986. 33 Goffmann, Erving: Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag, 4. Aufl., München 1983.
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system als Ganzes ziellos und selbstzerstörerisch arbeitet. Vernünftige, auf das Gemeinwohl bezogene Entscheidungen haben in ihm keinen Platz. Die Entscheidungsträger kamen daher bald in Zugzwang: Sie mußten öffentlich unübersehbare Friktionen und Mißstände korrigieren; sie nagelten gleichsam Flicken auf Flicken und behielten dieses Verfahren bei, obwohl sie erkannten oder erkennen mußten, daß wissenschaftliche Industrienationen der Zielsetzung und der Steuerung bedürfen. Obwohl sie heute in großem Umfang regulierend in den Markt eingreifen, haben sie die anspruchsvolle Aufgabe, Kriterien zu entwickeln, nach denen auch in einem demokratischen Prozeß Zielsetzung und Steuerung für die zukünftige Entwicklung gewonnen werden können, noch nicht einmal begonnen, sie möglicherweise noch nicht einmal erkannt, obwohl die Studentenproteste der 60er und 70er Jahre deutlich genug darauf hingewiesen haben. Politische Entscheidungen wurden und werden daher nicht am Gemeinwohl ausgerichtet und nach Kriterien sozialer Gerechtigkeit gefällt, sondern nach Billigkeit und Opportunität. Daß man ein Meer, wie die Nordsee, zur Müllkippe machen oder daß man einem einfachen Arbeiter Steuern vom Lohn abverlangen kann, um sie in Form von Subventionen einem Millionär, wie Herrn Heeremann, zuzuschieben, läßt sich mit Rechtsgrundsätzen nicht rechtfertigen. Die Zunahme von Inhomogenitäten im Großen wie im Einzelfall erscheint danach systemimmanent. Unglücklicherweise hat insbesondere in der Bundesrepublik der Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR zu einer blindmachenden Bekräftigung unseres Systems geführt. Der Versuch, beim Aufbau der Bundesrepublik gemachte Fehler aufzulisten, um sie im vereinigten Deutschland nicht zu wiederholen, wird gar nicht gemacht. Die Euphorie des Sieges hat vielmehr die beginnende Selbstkritik hinweggeschwemmt. Daher ist die Situation, in der die Bürger außerhalb der demokratischen Institutionen den Entscheidungsträgern vernünftiges und gemeinwohlorientiertes Handeln abtrotzen müssen und werden, heute schon vorprogrammiert. dd) Aus diesem "Vor-Sich-Hinwirtschaften" und aus der Abhängigkeit der politischen Entscheidungsträger von den Vertretern der Wirtschaft entwickelten sich insbesondere zwei bedeutsame sozialstruktureHe Zustände: Einmal blieben Technologie und Wirtschaft ungesteuert und breiteten sich in einem derart großen Umfang aus, daß sie eine neue Qualität erhielten: Technologie und Wirtschaft wurden zur Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten. Wirtschaftliche Nutzung der Atomkraft, zunehmende Zerstörung der Realressourcen, Klimakatastrophe und Gentechnologie kennzeichnen diesen Prozeß. Zum anderen haben insbesondere die bisherigen Bundesregierungen sich durch eine erhebliche Verschuldung handlungsunfähig gemacht (1987 = 440 Milliarden, ohne die notwendigen Folgekosten des bisherigen Raubbaus [z. B. Problem Altlasten], zusammen mit den Ländern und Gemeinden = 868 Milliarden), 34 und dies mit steigender Tendenz: Im April1990 erhöhten sich die Gesamtschulden auf 917,9 Milliarden DM. 35 Selbst wenn die Entscheidungs34
Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik 1988, Wiesbaden 1988, S. 437.
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kriterien der Billigkeit und Opportunität aufgegeben würden, wäre für eine rationale, gemeinwohlorientierte Rechts- und Wirtschaftspolitik kein Handlungsspielraum gegeben, weil das Geld fehlt und auch keines zu beschaffen ist, da die Besteuerungs-Opfer-Grenze bereits überschritten sein dürfte. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß die Entscheidungsträger unfähig sind, die notwendigen, zukunftssichernden Entscheidungen zu treffen. Diese Feststellung dürfte leider für alle westlichen Industrienationen gelten. b) Der subjektive Aspekt des Grundbedürfnisses nach Rang/Einfluß und Kontrolle weist verschiedene Ausformungen auf. Wie oben ausgeführt, strebt der einzelne danach, einen möglichst angesehenen, hohen Rangplatz in der Hierarchie der gesellschaftlichen Ordnung einzunehmen. Dieser Aufstieg hängt wesentlich von den Kriterien ab, die eine Sozialstruktur hierfür definieren. In westlich orientierten Industriegesellschaften dürften zwar Bildung und berufliche Fähigkeit zu den Aufstiegskriterien zählen, 36 doch haben Einkommen und Vermögen eine ungleich größere Bedeutung erlangt. Abgestellt wird dabei auf das bloße Vorhandensein, d.h. "ob vorhanden"; nicht gefragt wird nach dem "wie erworben". Dadurch ist eine Verarmung in der Anzahl der Aufstiegskriterien eingetreten, insbesondere sind Kriterien wie nicht-berufsbezogene Bildung oder Einsatz für Gemeinschaftswerte als Kennzeichen für höhere Rangplätze zurückgetreten. Ferner führt die Einstufung nach Einkommen und Vermögen dazu, auch Personen mit nur durchschnittlichen oder gar unterdurchschnittlichen Fähigkeiten und vorkonventionellen moralischen Haltungen 37 in der Rangordnung hoch zu plazieren. Die den Rangordnungen der Tiere inhärente Funktion, nämlich den "Besten" an die Spitze der Gemeinschaft zu stellen, erfüllt das Organisationsprinzip der Rangordnung bei menschlichen Gemeinschaften, auch in einer pluralistischen Demokratie, nicht. Andererseits würde die Einschränkung der Aufstiegskriterien-im wesentlichen- auf Einkommen und Vermögen die Chancengleichheit fördern, wenn nicht die objektiven, sozialstruktureBen Bedingungen Privilegierungen und Benachteiligungen schaffen würden (vgl. D.l. 2. a)). In der Vergangenheit, insbesondere in den 50er und 60er Jahren, dürfte aber das subjektive Gefühl, in der sozialen Leiter aufsteigen zu können, weitgehend ungebrochen gewesen sein. Für die Entstehung gewalttätiger Handlungen, insbesondere für die der sozial integrierten Bürger, ist eine andere subjektive Ausformung des Grundbedürfnisses nach Rang I Einfluß und Kontrolle m. E. von entscheidender Bedeutung. Hat der einzelne seinen Rangplatz eingenommen, findeter - wie oben dargelegtim Regelfall in ihm Status I Anerkennung und subjektiv Befriedigung. Er Süddeutsche Zeitung vom 17. 7. 1990 (Nr. 162), S. 21. Vgl. Kriterien der sozialen Schichtung nach Kleining, Gerhard/Moore, Harriett: Soziale Selbsteinstufung (SSE). Ein Instrument zur Messung sozialer Schichten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) 1968 (20), S. 502-552. 37 Kohlberg, Lorence: The Meaning and Measurement of Moral Development, Worchester j Mass., 1979 (Clark University Press). 35
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identifiziert sich mit seiner sozialen Rolle, gliedert sich sozusagen in seine "Nische" ein, erkennt die "oberen Ränge" an und gewinnt dadurch Verhaltenssicherheit. Er schöpft einen Teil seiner persönlichen Stabilität auch für seine Zukunft aus seiner Integration in einen Rangplatz der sozialen Hierarchie. Verbunden mit diesem Einverständnis zu seinem Rangplatz hat der gutgläubige Bürger- und das dürfte bisher die Mehrheit gewesen sein- die Erwartung, daß Rangplätze "korrekt" vergeben werden. In, negativ ausgedrückt, naiver Haltung glaubt er an einen objektiven Gesetzgeber, der die Verhältnisse so regelt, daß er selbst nicht benachteiligt wird. Nun haben wir oben aufgewiesen, daß die Sozialstruktur der Bundesrepublik seit 1948 immer schärfere Inhomogenitäten entwickelt hat. Die ersten, die diesen Prozeß erkannten und kritisierten, waren die Studenten der 60er und 70er Jahre, also die Intellektuellen. Ein Dialog kam damals nicht zustande, auch deshalb nicht, weil die ideologische Position der späteren Studentenbewegung unannehmbar geworden war. Die immer sichtbarer werdenden Friktionen und der Verteilungskampf, der mit Abflachung der Zuwachsraten zunehmend härter wurde, ließen dann auch den sogenannten einfachen Bürger "hellhörig" werden. Als bisheriges Ergebnis haben wir mithin festzuhalten, daß die Sozialstrukturellen Bedingungen sich auch in der Bundesrepublik in Richtung auf die ZweiDrittel-Gesellschaft US-amerikanischer Prägung, allerdings begleitet von einem stark ausgebauten Netz sozialer Hilfen, zubewegt haben und daß in der Wahrnehmung sozialer Chancen zunehmend mehr Bürger durch strukturelle Inhomogenitäten benachteiligt werden. In der Sprache Galtungs: Die strukturelle Gewalt ist größer geworden! c) Nach unserem Handlungsmodell entspricht es normalem Verhalten, wenn Bürger auf die Veränderung- genauer: Verschlechterung- sozialstruktureUer Zustände reagieren. M. E. haben Impulse insbesondere aus drei Bereichen zu einer Bewußtseins- und Einstellungsänderung geführt, die aber ebenfalls nicht isoliert, sondern im Netz interagierender Bedingungen gesehen werden müssen. aa) Als erster Bereich ist wieder der der Umweltzerstörung zu nennen. Viele Jahre lang hat der Bürger z. B. den Versicherungen von Politikern und Wirtschaftsvertretern geglaubt, daß die sogenannten Grenzwertbestimmungen für Kontaminationen zu seinem Schutz festgelegt werden. Spätestens seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl ist ihm die Erkenntnis aufgezwungen worden, daß Grenzwerte eher die Verkaufbarkeil von Produkten sichern als die Gesundheit schützen. Das folgt daraus, daß immer die Werte als gesundheitsunschädlich erklärt werden, die von der Industrie eingehalten werden können. Mit fortschreitender Technologie wurden sie dann von Jahr zu Jahr strenger, jedenfalls dann, wenn die hohen Grenzwerte als gesundheitsschädlich - im Regelfall nicht von staatlichen Stellen- nachgewiesen wurden. Solche Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
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bb) Der zweite Bereich ist der der wirtschaftlichen Nutzung der Atomkraft. Noch heute ist ihr Für und Wider umstritten. Blickt man aber auf die Entwicklung des Baus von Atomkraftwerken zurück, sind die zwei Ausgangszusicherungen - Atomkraft ist billig und sicher - zunächst im Grundsatz widerlegt. Die vielen durch Gerichtsentscheidungen erzwungenen Nachhesserungen des Sicherheitsstandards und die zunächst verschwiegenen Unfälle und Fast-Unfälle in Betrieben und Atomkraftwerken haben das ursprüngliche Vertrauen in die Solvenz der Industrie und in die Überwachung durch staatliche Behörden erschüttert. Es dürfte bei vielen in Mißtrauen umgeschlagen haben, das selbst vor dem Abgott der letzten 150 Jahre nicht haltmacht: Die Technologie erscheint - jedenfalls durch die heutigen Vertreter - als nicht beherrschbar. cc) Den Rest, sozusagen, gaben die Entscheidungsträger, insbesondere aus der Politik, durch ihr eigenes Verhalten. 38 Zu der oben aufgewiesenen Unfähigkeit, gemeinwohlorientierte Entscheidungen zu treffen, und zu ihrer Abhängigkeit von Partikularinteressen, insbesondere der Wirtschaft, kam der - pauschal sicherlich ungerechtfertigte - Vorwurf der Unehrlichkeit. Mit Staunen mußte der- oben genannte - naive Bürger feststellen, daß Politiker Personen sind, die - plastisch ausgedrückt - mit dem Messer um die Macht kämpfen (Fall Barsche!); die abwiegeln, wenn Vorwürfe erhoben werden (Fall Nukem); die selbst die Steuer hinterziehen (Parteispendenaffäre) und die sehr darauf achten, finanziell selbst nicht zu kurz zu kommen (Pensionsberechtigung in Höhe von 25% der Bezüge schon nach 6 Jahren Abgeordnetenmandat, Wahlkampfkostenerstattung, lukrative Posten für verdiente Parteifunktionäre u. ä.). Plötzlich gewannen Informationen, wonach Vertreter der Politik im Aufsichtsrat von großen Firmen, z. B. Minister in Versorgungsunternehmen, sitzen, einen neuen Stellenwert. Eine große Anzahl von Bürgern sah die in den letzten 40 Jahren entstandenen Inhomogenitäten. Das Wahrnehmen dieses Zustandes bedeutet für sie viel. Wenn die Annahme, die politische Führung sorge für eine gerechte Verteilung sozialer Chancen, nicht zutrifft, kann sich das Grundbedürfnis nach Rang/Einfluß und Kontrolle in der Ausformung der sozialen Integration nicht verwirklichen. Der einzelne fühlt sich vielmehr benachteiligt, rückschauend "verschaukelt". Bedeutsame Folgen sind der Verlust an Verhaltenssicherheit und das Bestreben, die Situation, mit der er konfrontiert ist, zu ändern. d) Der Verlust an Verhaltenssicherheit bezieht sich in erster Linie auf die Zukunft. Staatliches Handeln wird nicht mehr als Schutz, sondern als Bedrohung empfunden. Der einzelne ist sich sozusagen nicht mehr sicher, weil der bisherige Garant weggefallen ist. In der Alltagssprache kommt dieser Prozeß in unspezifischen Begriffen wie "Staatsverdrossenheit" zum Ausdruck. Tatsächlich zeigen vergleichende Befragungen, daß die "Zufriedenheit mit dem politischen System" abgenommen hat. Nach einer vom Spiegel veranlaßten 38
Vgl. auch Schwind(Baumann, 1989, S. 133, Rdnr. 286.
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Befragung des Emnid-Instituts, gaben 1980 noch 72% der Befragten an, mit dem politischen System "sehr zufrieden" oder "zufrieden" zu sein, 28% waren "weniger zufrieden" oder "unzufrieden". 1989 betrugen diese Prozentsätze 67% (zufrieden) und 33% (unzufrieden). 39 Diese Differenz von 5% scheint vernachlässigungsfähig gering. Berechnet man aber die Echtheit der Abweichung, muß man feststellen, daß der Unterschied hoch signifikant ist. Und in absoluten Zahlen ausgedrückt, ist die Anzahl der unzufriedenen Bürger im Alter von 16 Jahren und älter um 6,3 Millionen größer geworden. Wenn von denen nur 10% in Wackersdorf demonstrieren, sind es bereits 630000. Wir müssen also ferner feststellen, daß der Prozeß der vitalen Verunsicherung fortgeschritten ist. Gleichwohl vertraut die große Mehrheit der Bevölkerung der politischen Führung. Insofern besteht noch kein Anlaß, die "zunehmende Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung" zu dramatisieren. Die Anzahl der Enttäuschten wird aber weiter wachsen, falls die sozialstruktureilen Zustände in gleicher Weise bestehen bleiben oder sich gar noch verschärfen. e) Das Änderungsverhalten kann allerdings unterschiedliche Formen annehmen: Es kann zu einer Ablehnung nicht nur der gegenwärtigen politischen Führung, sondern des ganzen Staates kommen. Der bewaffnete Kampf der RAF hat sicher hier eine Wurzel. Eine zweite Möglichkeit ist der Rückzug in sich selbst. Zwei weitere Handlungsalternativen scheinen mir besonders unter dem Gesichtspunkt der Häufigkeit bedeutsam zu sein: Einmal kann sich der einzelne an die Regulierungsmechanismen anpassen und auf seine Weise das System ausnutzen. Er kann z. B. schwarzarbeiten und gleichzeitig Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe beziehen. Diese Fallgruppe scheidet hier aus. Er kann aber auchunser Fall- sich mit Gleichgesinnten verbünden und dort Widerstand leisten, wo sich die Bedrohung seiner Zukunft aktualisiert. Das sind aber Brennpunkte wie WAA in Wackersdorf, Startbahn West, Raketenstartplätze im Runsrück u. ä. Die scheinbar unterschiedlichen Inhalte der jeweiligen Vorhaben erhalten dadurch ihre Gemeinsamkeit, daß sie in vergleichbarer Weise die eigene Verhaltensstabilität berühren und daß sie durch dieselbe politische Führung veranlaßt und geschützt werden. Und gerade diese politische Führung ist unglaubwürdig gewo.rden. Ob diese Betroffenheit durch Angst um die eigene Existenz noch verstärkt wird, weil Technologie allgemein als Bedrohung empfunden wird, möchte ich hier dahingestellt sein lassen. Bedeutsam erscheint mir aber, daß hinter diesen Symptomen eine Störung von Grundbedürfnissen liegt, die wegen deren genetischer Verankerung den Bürger besonders nachhaltig verunsichert, ihn in seiner Existenz trifft. Daraus dürften auch die Vehemenz und die Kompromißlosigkeit seines Widerstandes gegen staatliches Handeln resultieren. Es ist sozusagen normal, wenn ein Bürger zur Sicherung der Verwirklichung seiner Grundbedürfnisse auch gewalttätig handelt. Meine Hypothese lautet daher: 39
Der Spiegel vom 2. 6. 1980 (Nr. 23) und vom 23. 5. 1989 (Nr. 21).
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Die gestörte Verwirklichungsmöglichkeit des Grundbedürfnisses nach Rang/Einfluß und Kontrolle in der Ausformung nach sozialer Rangplatzintegration und Suche nach Schutz für die Zukunft ist ein Einflußfaktor für den vermehrten Einsatz physischer Gewalt sozial integrierter Bürger. 3. Auf die biologischen Grundbedürfnisse braucht nur kurz eingegangen zu werden. Sie werden m. E. in der Bundesrepublik- noch- durchweg befriedigt. Eine besondere Rolle dürfte allerdings das Grundbedürfnis nach Nahrungsaufnahme spielen. Die zunehmende Umweltzerstörung mit den massiven Eingriffen in die Kreisläufe der Natur haben dazu geführt, daß Lebensmittel mit einer Vielzahl von Giften, von Schwermetallen über Salze bis hin zu giftigen Pestiziden, zunehmend kontaminiert werden. Die Akzeptanz des Lebensmittelangebotes stand sogar kurz nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl auf der Kippe. Weite Teile der Bevölkerung, jedenfalls in den besonders vom radioaktiven Fallout betroffenen Gebieten wie Bayern, änderten ihre Eßgewohnheiten und versuchten, auf radioaktiv nicht oder nur gering verseuchte Lebensmittel auszuweichen. Erst nach Wochen und Monaten zwangen sich die Bürger aus Gründen des Selbstschutzes zur Normalität. Der damals geäußerte und die Situation kennzeichnende Satz lautete: "Ich halte es nicht mehr aus; ich esse jetzt wieder alles!" M. E. tickt für die zukünftige Befriedigung der biologischen Grundbedürfnisse, insbesondere für das nach Nahrungsaufnahme, eine Zeitbombe. Wenn inzwischen Muttermilch giftiger ist als künstliche Babynahrung und wenn das Grundwasser so hoch mit Nitriten verseucht ist, daß es als Grundstoff für Babynahrung zu giftig ist und wenn und wenn und wenn . .. , dann muß eines Tages das notwendige Vertrauen in die Güte der Lebensmittel in Mißtrauen umkippen. Die Bedrohung der eigenen Gesundheit wird dann auch zum vermehrten Auftreten von Aggressionen führen, die sich nicht nur nach innen, sondern auch nach außen richten werden. Bereits heute dürfte aber ein aus Selbstschutz verdrängtes Mißtrauen latent den Einsatz von gewalttätigen Handlungen fördern. Zwar läßt sich diese Frage eindeutig nicht ohne empirische Untersuchungen beantworten, und solche Untersuchungen sind m. W. bisher nicht gemacht worden. Der Umfang aber der Belastung von Lebensmitteln mit Giftstoffen, das zunehmende Umweltbewußtsein, die Angst vor weiterer Lebensmittelvergiftung und die Gefühlsqualitäten des Abgenötigten und Ohnmächtigen bei der Hinwendung zur Normalität aus Selbstschutz, wie es in der oben wiedergegebenen Äußerung zum Ausdruck kommt, sprechen für diese Annahme. Meine Vermutung lautet daher in Hypothesenform: Die unmittelbare und erlebte Bedrohung der Verwirklichung des biologischen Grundbedürfnisses nach Nahrungsaufnahme ist ein latenter Einflußfaktor auf die Entstehung gewalttätigen Verhaltens. 4. Bei der Störung der Verwirklichung des Grundbedürfnisses nach Erregung und Aktivität durch sozialstruktureile Bedingungen handelt es sich um einen
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komplexen und wenig untersuchten Vorgang. Zwar ist das Bedürfnis als solches empirisch gut nachgewiesen, 40 nicht aber die Folgen seiner fehlenden Befriedigung. Zu unterscheiden sind zwei Aspekte. Sozusagen als Langzeitwirkung hat dieses Grundbedürfnis die Funktion, das Individuum in seiner Entwicklung dahin zu bringen, Erfahrungen zu sammeln und damit aktive Verhaltensmuster auszubilden. Wenn also Kinder ihrer Neugier nachgehen können, werden bei ihnen Aktivität, Kreativität, Aufgaben-Motivation, Interesse und ähnliche Vermögen zur Ausbildung angeregt. Zum anderen wirkt dieses Grundbedürfnis wegen seiner physiologischen Fundierung in jeder aktuellen Situation, und zwar in der Weise, daß der einzelne eine mittlere Stimulierung durch Außenreize sucht. Aus der Gesamtheit der möglichen sozialstruktureilen Bedingungen, die die Ausprägung von Aktivität und Kreativität behindert, möchte ich schlagwortartig zwei Bereiche herausheben. Einmal die gebaute Umwelt in Ballungsgebieten und zum anderen die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen und das Videofilm-Angebot. Die Behinderung durch die gebaute Umwelt soll ein Beispiel deutlich machen: Wenn ein etwa dreijähriges Kind im 12. Stock eines Hochhauses lebt, hat es seine Welt, die Wohnung, aktiv erforscht, kann aber keine weiteren Erfahrungen machen, da es die zwölf Stockwerke allein nicht überwinden kann. Im späteren Alter, wenn es den Aufzug benutzen kann, fehlen ilun die Erfahrungsräume, weil die Bauordnung nur Spielplätze für kleine Kinder vorsieht, der Rasen nicht betreten werden darf und alles übrige zubetoniert ist. 41 Die Ausprägung von Aktivität und Kreativität wird dadurch behindert. Die zweite sozialstruktureHe Bedingung, das Massenmedium Fernsehen und das Videofilm-Angebot, bieten sich optimal als Ersatz für die vorenthaltene Wirklichkeit an. Sie sind quasi in jedem Wohnzimmer verfügbar, befriedigen das aktuelle Bedürfnis nach Erregung und Aktivität, verhindern aber die Ausprägung von Eigenaktivität und Kreativität. Der Konsum von Fernsehen und Videofilmen ab einem bestimmten Umfang führt nämlich zu einer passiven Grundhaltung, die sich sogar auf das Freizeitverhalten erstreckt. Folge ist eine geringere oder gar fehlende Integration in soziale Bezüge und eine Ziel- und Richtungslosigkeit für das eigene Verhalten. Auf der permanenten Suche nach Stimuli, die dieses aktuelle Bedürfnis nach Erregung befriedigen, sind auch Straftaten eine willkommene Abwechslung. Es ist daher kein Zufall, daß passives Freizeitverhalten und Straffälligkeit hoch korrelieren. 4 2 Man wird aber einschränkend annehmen müssen, daß die Gruppe der sozial integrierten Bürger entweder in der Verwirklichung dieses Grundbedürfnisses nicht gestört sind Schneider/ Schmalt, 1981, S. 99ff. Christiaue F .: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, 15. Aufl., Harnburg 1980, S. 23, 25, 27, 28, 32. 42 Rolinski, Klaus/Kraus, Ludwig: Evaluierung sozialer Trainingskurse, Zwischenbericht vom 15. 11. 1988 (unveröffentlicht). 40
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oder Störungen kompensiert haben. Die Aussage trifft daher vornehmlich für die an Demonstrationen beteiligten Randgruppenmitglieder zu und wohl auch für Phänomene der Verwüstung anläßlich von Demonstrationen - Fall Kreuzberg - und der Ausschreitungen in Fußballstadien. Meine Hypothese lautet daher: Sozialstrukturelle Bedingungen, wie die gebaute Umwelt in den Ballungsgebieten und das Massenmedium Fernsehen/Videofilm-Angebot, behindern die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Aktivität und Erregung mit der Folge, daß Eigenaktivität und Kreativität nicht oder nur wenig ausgeprägt werden. Eine passive Grundhaltung führt zur permanenten Suche nach Außenreizen, die Abwechslung gewähren. Dazu gehören auch gewalttätige Handlungen anläßlich politisch motivierter Demonstrationen. II. Situative Einflußfaktoren
Die sozialstruktureilen Bedingungen, die die Verwirklichung von Grundbedürfnissen behindern, sind deshalb getrennt und besonders herausgehoben worden, weil ihnen als Einflußfaktor für gewalttätiges Handeln m. E. ein besonders hoher Stellenwert zukommt. Sie stehen gleichsam am Anfang einer komplexen Handlungskette, die vom Individuum nicht oder nur in geringem Umfang steuerbar ist, weil genetische Potentiale und die Ausbildung lebenserhaltender Verhaltenssysteme betroffen sind. Der gewalttätige Widerstand des sozial integrierten Bürgers erhält damit die Qualität der Sicherung eigener Existenz und wird zum zwar aufgezwungenen, aber notwendigen Handeln. In einem multivariaten Zusammenhang, von dem wir ausgehen müssen, bewirkt aber, wie oben dargelegt, niemals nur ein Einflußfaktor oder wenige, sondern eine Reihe von Einflußfaktoren allein oder gemeinsam das abhängige Verhalten. Gerade in offenen, wenig strukturierten Situationen, wie es Demonstrationen sind, können zufällig in der konkreten Situation auftretende Variablen das gewalttätige Verhalten mit bedingen. Vier solcher situativen Variablengruppen möchte ich herausheben. 1. Für den sozial integrierten Bürger dürfte die erste Konfrontation mit einer - plakativ ausgedrückt - prügelnden Staatsgewalt stimulierend in Richtung Einsatz eigener Gewalt gewesen sein. Immer wieder haben Demonstranten in Wackersdorf berichtet, daß sie als betont gewaltfreie Demonstranten zum Bauzaun gegangen und verbittert, ohnmächtig, wütend und zu gewalttätigen Handlungen bereit zurückgekommen seien, einfach deshalb, weil sie unnötig von Polizisten geschlagen worden waren, mit Reizgas besprüht oder auch nur deshalb, weil sie solche konkreten Gewaltanwendungen in unmittelbarer Nähe erlebt hatten. Wem von einem Polizisten grundlos mit der Flüstertüte auf den Kopf geschlagen wird (Platzwunde), der wandelt sich von einem Paulus in einen SauJus (eigene Beobachtung). 3 Bayer. Gewaltgutachten
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2. Wenig erforscht ist der Einfluß auf die Entstehung gewalttätiger Handlungen durch die Übernahme einer durch die Situation definierten Rolle. 43 Wenn ältere Bürger aus dem Gefühl der Bedrohung und aus rationalen Erwägungen an einer Demonstration teilnehmen, stellen sie sich notwendigerweise auf die Seite der Demonstranten. Eskaliert dann eine Demonstration so, daß Demonstranten und Polizei sich wie feindliche Heere gegenüberstehen, definiert die Situation die Übernahme der "Krieger-Rolle". Das Verlassen der Demonstration wäre Niederlage ohne Kampf, eine, insbesondere für Deutsche, schwer realisierbare Vorstellung. Weiterhin zur eigenen Gruppe stehen, bedeutet dann aber auch, physische Gewalt einzusetzen. Die schon genannte Wackersdorfer "Oma", die die Steine rafft und den Autonomen zum Werfen reicht, dürfte diese Rolle, definiert durch die konkrete Situation, übernommen haben. 3. Jüngere sozial integrierte Bürger dürften ferner durch jugendtypische Motivationen stimuliert werden, an gewalttätigen Handlungen teilzunehmen. Hierzu gehören Risiko-Freude, Spaß an der Aktion (vgl. Grundbedürfnis nach Aktivität und Erregung), Abenteuerlust und das Gruppenerlebnis. Solche entwicklungsbedingten Motivationen bedürfen zu ihrer Aktualisierung der geeigneten Situation. Demonstrationen dürften für junge Personen ein solches Erlebnisfeld darstellen. Im Verhältnis zu den oben diskutierten Einflußfaktoren dürfte die jugendtypische Risiko-Motivation aber von untergeordneter Bedeutung sein. 4. Ein nicht unerheblicher Stellenwert im multivariaten Bedingungszusammenhang für die Entstehung gewalttätigen Verhaltens dürfte bei den sogenannten Autonomen - neben der antistaatlichen Haltung - der Zugehörigkeit zur Gruppe zukommen. Wenn- was empirischeUntersuchungenerst noch belegen müssen - Autonome sich zum überwiegenden Teil aus Randgruppenmitgliedern, gekennzeichnet durch soziale Defizite, zusammensetzen, finden die Erklärungsmodelle, die in der Kriminologie für das Verhalten von Jugendlichen in Gangs ausgearbeitet worden sind, auch auf sie Anwendung. 44 Vereinfacht ausgedrückt gewährt die Gruppe ihren Mitgliedern Status, Anerkennung und Halt und trennt sie mit ihrer gemeinsamen negativen Werthaltung von anderen sozialen Bezügen. In der Gruppe gewinnt aber derjenige hohes Prestige, der im Sinne der negativen Gruppenmoral sich besonders hervortut, d. h. derjenige, der auch besonders gewalttätig auftritt. Da viele nach Prestige in der Gruppe streben, findet ein Aufschaukelungsprozeß statt, der äußerlich als Eskalation von Gewalt zu beobachten ist. Allerdings darf dieser Prozeß nicht nur gruppenintern gesehen werden. Da die Gruppe insgesamt einen "Gegner" hat, nämlich den Staat und seine Vertreter, wird der Aufschaukelungsprozeß der Gewaltanwendung auch von dessen Aktionen und Reaktionen mitbedingt. Die Eskalation der Gewalt in Wackersdorf vom Hüttendorf (friedlich) über die Zerstörung von Bauzaun und Baumaschinen bis zu Stahlkugeln gegen Polizisten 43
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Popitz, 1967. Cohen, 1961.
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und Strommastanschlägen dürfte durch die Variable der Gruppenzugehörigkeit miterklärt werden. 111. Das Fehlen von hemmenden Rechtfertigungsmechanismen
In der bisherigen Diskussion sind Faktoren herausgearbeitet worden, die das Entstehen von gewalttätigen Handlungen beeinflussen, und zwar im Sinne einer Bedingung. Wenn sie vorliegen, folgt mit einer im Augenblick noch nicht abschätzbaren Wahrscheinlichkeit der Einsatz auch physischer Gewalt. Handlungen werden aber nicht nur angeregt, sondern können auch gehemmt werden. Ein wesentlicher Hemmungsfaktor ist die Notwendigkeit zur normativen Rechtfertigung. In der Kriminologie tritt sie zwar nur zur Hemmung von normgemäßem Verhalten und damit zur Förderung von Straftaten auf, sogenannte Neutralisierungstechniken, 45 im Prinzip können sie aber auch ungerechte sozialstruktureile Zustände legitimieren und dadurch Widerstand von vornherein gar nicht aufkommen lassen. Die extremen Inhomogenitäten der OS-amerikanischen Gesellschaft treten deshalb nicht als Faktoren auf, die einen- auch gewalttätigen- Widerstand bedingen, weil Rechtfertigungsmechanismen sie neutralisieren. Die traditionell fest verankerten volkstümlichen Vorstellungen -jeder Amerikaner hat die gleiche Chance und jeder Amerikaner ist allein für sich selbst verantwortlich, und wenn er nicht erfolgreich in seinem Leben war, dann hat er sich nicht angestrengt oder Pech gehabt - verhindern schon jede Wahrnehmung von Bevorzugungen und Benachteiligungen. Die Bundesrepublik hat eine andere Geschichte. Der Marxismus und die übrige Kritik an denAuswüchsen des Kapitalismus im vorigen Jahrhundert hat derart naive Neutralisierungstechniken, wie sie in den USA insbesondere beim "kleinen Mann" verankert sind, nicht aufkommen lassen. Der Bürger der Bundesrepublik verfügt vielmehr über eine deutlich ausgeprägte Sensibilität für soziale Ungerechtigkeit. Insoweit kommen unseren Entscheidungsträgern volkstümliche Neutralisierungstechniken nicht entgegen.
E. Folgerungen zur Reduzierung gewalttätigen Verhaltens Vorschläge zur Reduzierung gewalttätigen Verhaltens ergeben sich unmittelbar aus den hier diskutierten Ursachen. Damit geraten wir aber in einen nahezu unlösbaren Widerspruch. Gefordert ist nämlich die Gestaltung und Steuerung von Sozialstrukturen, und zwar von denjenigen, die diese Sozialstruktur konstituieren, also von allen Mitgliedern unserer Gesellschaft. Andererseits wird man sagen müssen, daß die Schaffung optimaler Bedingungen der Sozialstruktur zu den vornehmstenAufgaben der politischen Entscheidungsträ45
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Matza, David: Abweichendes Verhalten, Heidelberg 1973; Bandura, 1977, S. 159.
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ger gehört. Diese aber unterliegen ebenfalls demselben Organisationsprinzip, klappern also- bildlich gesprochen- selbst auch mit dem Kerosinkanister, haben selbst auch noch nicht die Ergebnisse von Darwin und die der Ethologen verarbeitet und in Handlung umgesetzt. Wichtigste Aufgabe ist es m. E., unsere Eingebundenheit in das genetisch fundierte Organisationsprinzip der Rangordnung zu reflektieren und die Kriterien, nach denen Auf- und Abstieg erfolgen sollen, zu definieren: utopische und doch notwendige Forderungen. Denn ohne Anerkennung der genetisch bedingten Einbindungen und ohne Ausschöpfung des dem Menschen als kulturellem Wesen gegebenen Steuerungsspielraums seiner Verhaltenssysteme wird sich das- transnationale - Problem der Gewalt in unserer Gesellschaft nicht lösen lassen. Gewalttätiges Verhalten wird vielmehr zunehmen als eine "normale" Reaktion auf staatlich nicht verhinderte sozialstrukturell bedingte Konfliktsituationen. Diese vermutete Entwicklung dürfte aber nicht biologisch determiniert sein. Dem Menschen als kulturellem Wesen wird unbestritten die schon erwähnte relative Steuerungsfähigkeit seiner eigenen Lebensbedingungen zuerkannt. Zuständig sind in erster Linie die politischen Entscheidungsträger. Allerdings gibt es gute Gründe anzunehmen, daß sie ohne Hilfe von außen grundsätzlich nicht zur Veränderung ihres Verhaltens fähig sind. 46 Doch wer, wenn nicht sie, sind gefordert, sich aus dem Kreis wechselseitiger Abhängigkeit Sozialstruktureller und menschenspezifischer Faktoren herauszuwinden. Immerhin sind sie zur Reflexion fähig und rechtlich unabhängig. Im einzelnen ergeben sich folgende "Handlungsanweisungen". 1. Politische Entscheidungsträger sollten stärker als bisher die konkrete Sozialstruktur als bedeutsame Variablengruppe für das Auftreten von gewalttätigen Handlungen anerkennen. Die Alltagstheorie, wonach die Ursachen gewalttätigen Verhaltens ausschließlich oder nahezu ausschließlich beim einzelnen Täter liegen, ist widerlegt und sollte endlich ganz aufgegeben werden. Die Frage der normativen Zurechnung einer konkreten Handlung zu einem konkreten Täter als "verantwortlich für" hat damit nichts zu tun. 2. Die politischen Entscheidungsträger sollten den Mut zu "vernünftigen" Entscheidungen aufbringen, vernünftig für die Sozialstruktur. Nicht kurzfristig und parteipolitisch erwünschten Zielen, sondern langfristigen Zielen des Gemeinwohls ist Priorität einzuräumen. Das freilich erfordert politische Reife: Ein Politikfunktionär, der zwischen einer Entscheidung für die Partei und einer zugunsten der Sozialstruktur (Gemeinwohl) abzuwägen hätte, müßte sich für das Gemeinwohl und gegen eigene und Partikularinteressen entscheiden, konkret: Er müßte eine eventuelle Wahlniederlage riskieren und akzeptieren. 46 Rolinski, Klaus: Zur Moral von Entscheidungsträgem, in: Jung, Heike ( MüllerDietz, Heinz( Neumann, Ulfried (Hg.): Recht und Moral, Baden-Baden, voraussichtlich
1991.
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3. Politische Entscheidungsträger sollten Entscheidungen stärker als bisher nach Kriterien der auf dem Boden unserer Kultur empfundenen Gerechtigkeit und nicht nach Billigkeit und Opportunität treffen. Dazu gehört auch, das Rechtsgefühl der Bevölkerung für die Verteilung von Rangplätzen ernst zu nehmen, weil dahinter der Verteilungskampf steht. Allgemein formuliert: Strukturelle Gewalt sollte abgebaut werden. Die Schaffung weiterer "Pressestellen" mit der Aufgabe, die Politik der Entscheidungsträger dem Bürger in einem möglichst günstigen Licht darzustellen, genügt nicht. Wer so taktiert, übersieht die eingetretenen Zustände und unterschätzt die Sensibilität der Bürger für Inhomogenitäten. Literaturverzeichnis Al/port, Gorden W.: Attitudes, in: Murchison, Carl (Ed.): Handbook ofSocial Psychology, Worchesteri Mass. 1935, S. 798-844 (Clark University Press). Ba/sen, Werner I Nakie/ski, Hans I Rössel, Kar!/ Winkel, Rolf: Die neue Armut, Köln 1984. Bandura, Albert: Sozial-kognitive Lerntheorie, Stuttgart 1977. Bexton, W. M. l Heran, W./ Scott, T. H.: Effects of Decreased Variation in the Sensory Environment, in: Canadian Journal of Psychology 1954 (8), S. 70-76. Bowlby, John: Bindung, München 1975.
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Prof. Dr. jur. Klaus Rolinski: 1932 in Cranz/Ostpr. geboren. Studium der Psychologie in Mainz: 1958 Hauptdiplom für Psychologen. Studium der Rechtswissenschaft: 1966 Zweites Juristisches Staatsexamen. Wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Peter Noll (Kriminologie, Strafrecht und Gesetzgebungslehre): 1968 Promotion zum Dr. jur. ("Die Prägnanztendenz im Strafurteil"). Wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Ernst-Walter Hanack: 1973 Habilitation. 1972 Ernennung zum Assistenzprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Mainz, 1973 Übernahme des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg. Mitarbeiter des Alternativentwurf-Kreises. Veröffentlichungen: Die Prägnanztendenz im Strafurteil, Harnburg 1969; Wohnhausarchitektur und Kriminalität, Wiesbaden 1980. - Beiträge in Fachzeitschriften u.a.: Stellungnahme zum Entwurf eines 5. StrRG und zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des§ 218 StG B (Fristenlösung) im Rahmen der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen durch den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform vom 10. bis 12. 4. 1972, in: Protokolle des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform. VI. Wahlperiode, 74., 75. und 76. Sitzung, S. 2218-2221; Diskussionsanmerkungen S. 2221-2226; Zur unterschiedlichen Auswirkung von Verstärkungsbedingungen bei Straffälligen und Nicht-Straffälligen im Lernexperiment, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1978, S. 139 -148; Ersetzt Common Law partiell kodifiziertes Recht?, in: Festschrift für Ulrich Klug (Hg.): Kohlmann, Günter, Köln 1983, S. 143 -155; Fear of Victimization: An Empirical Investigation of Its Particular Criminal Extent in Connection with a One- and Multi-Dimensional Analysis of Its Influential Sociological and Differential-Psychological Factors, in: Victimology in Comparative Perspective, Papers given at the "Fourth International Symposium on Victimology" 1982 in Tokyo-Kyoto, Miyazawa, Koichi / Ohya, Minoru (Eds.), Tokyo 1986, s. 294-301.
Gewalt in der Gesellschaft Von Horst Schüler-Springorum I. Ausgangspunkte
Die Stellungnahme wurde im Januar 1990 formuliert. Zu diesem Zeitpunkt kann sie nicht mehr so ausfallen, wie wenn sie ein halbes Jahr oder auch nur ein Vierteljahr früher erstellt worden wäre. Stichworte wie die politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa, aber etwa auch der Mord am Vorstandssprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen oder das "Aus" für die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf im Juni 1989 geben den Grund dafür an. Die Wurzeln gesellschaftlicher Selbstverständnisse tangierende (und in diesem Sinn radikale) Veränderungen dieser Art müssen auch das Thema "Gewalt in der Gesellschaft" beeinflussen. Die vorliegende Stellungnahme versucht, aus der Not der Verspätung eine Tugend zu machen, indem sie jüngste Entwicklungen der genannten Art mitberücksichtigt. Da diese noch durchaus im Fluß sind, kann das natürlich nicht von der Warte einer einigermaßen abgehobenen Evaluation, sondern eher nur illustrierend geschehen. Die einzelnen Überlegungen werden daher, soweit versucht wird, aus neuen Lagen Einsichten abzuleiten, von einem hypothetischpragmatischen Zuschnitt sein. Das geht zwangsläufig zu Lasten des berechtigten Interesses an abgesicherten, aus längerfristiger Perspektive gewonnenen "harten" Aussagen zum Thema, wie andere Gutachter sie beigesteuert haben. Der hypothetisch-pragmatische Zuschnitt erscheint aber verantwortbar vor dem Hintergrund eines neuen politischen Entwicklungstempos, welches bis vor kurzem noch gesichert erscheinende Erkenntnisstände in Frage stellen könnte, und zwar zumindest bis eine abermals größere Distanz sie zu bestätigen oder zu verwerfen erlaubt. Dies gilt erst recht für das im Gutachtenthema mitschwingende Interesse an Fragen der politisch motivierten Gewalt. Der nachfolgende Aufbau folgt dem Beschluß des Bayerischen Landtags vorn 11 . 11. 1987, "auf eine umfassende Erforschung der zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft hinzuwirken", wobei "die Ursachen geklärt und Möglichkeiten zur Abhilfe erörtert werden" sollen.
II. "Zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft" Dieser Topos erscheint in doppelter Hinsicht diskussionswürdig: insoweit von einer "Zunahme" die Rede ist und in bezugauf die Vorstellung einer "Bereitschaft" zur Gewalt.
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1. Zunahme
Daß die Gewaltkriminalität in der Bundesrepublik ständig zunehme, gehört fast zum Standardwissen des Bundesbürgers. Vermittelt wird es durch die Presse- und Medienberichterstattung, 1 durch Fernsehappelle zur Mithilfe an Aufklärung ("XY ungelöst" u. a.), nicht zuletzt wohl auch durch die naheliegende Thematik der "Krimi"-Spielfilme. Aber auch die offiziellen Daten scheinen jene Annahme auf den ersten Blick zu stützen: Nimmt man die letzten ein bis zwei Jahrzehnte, so nähert der Anstieg sich einer Verdoppelung. 2 Jedoch sind einige Relativierungen geboten: Die offiziellen Daten sind in aller Regel die der polizeilichen Kriminalstatistik, die de facto eine Statistik der polizeilichen Erfassung von Straftaten-Anzeigen ist. 3 Über die Mechanismen, die ein Delikt aus dem Dunkelfeld heraustreten und zur Anzeige gelangen lassen, ist bisher nicht allzuviel bekannt. Zwar ist die Existenz einer - generell unbestritten hohen - Dunkelziffer auch bei Gewaltdelikten nicht eben beruhigend, weshalb die Polizei, wenn ihr ein Gewaltdelikt bekannt wird, die Aufklärungsbemühungen in aller Regel besonders intensiviert. Gleichwohl steht den polizeilicherfaßten Delikten der gesamte weitere Ausfilterungs- und Erhärtungsprozeß durch das nun anstehende strafjustizielle Verfahren erst noch bevor. Die Daten der justiziellen Strafverfolgungsstatistik sprechen eine andere Sprache als die der polizeilichen Erfassungsstatistik. Schon die Staatsanwaltschaften machen - und zwar in jüngerer Zeit in steigendem Maße - von den Möglichkeiten einer Verfahrenseinstellung Gebrauch, was nach geltendem Recht teils mit, teils ohne richterliche Zustimmung möglich ist, jedenfalls aber eine große Menge von Gewaltdelikten nur geringeren Gewichts wo nicht gar bagatellarischen Charakters indiziert. Die Konsequenz dessen ist, daß die Justizstatistik die These von der zunehmenden Gewaltkriminalität sozusagen nicht mitmacht. In ihrer - der justiziellen Verarbeitungsstatistik - Realität sind vielmehr "gravierende Fälle von Gewaltkriminalität im Laufe der letzten zehn Jahre nicht oder nur geringfügig angestiegen"; 4 eine Aussage, die sich nota bene auf die (relativen) Kriminalitätsbelastungszahlen (="Ziffern") bezieht, während bei den absoluten Zahlen die bekannte demographische Entwicklung sogar für einen Abschwung der Gewaltkriminalität gesorgt hat und sorgen wird. 5 1 Lamnek, Siegfried: Kriminalitätsberichterstattung in den Medien als Problem, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1990 (73), S. 163ff. 2 Statement von Staatsminister Dr. Edmund Stoiber vom 21. 9. 1989 zum vorliegenden Gutachtenauftrag. 3 Savelsberg, Joachim: Ein Begriffführt in die Irre- Die Kriminalitätsbelastungszahl sollte durch die Anzeigenbelastungszahl ersetzt werden, in: Kriminalistik 1987 (41), S. 578f. 4 Pfeiffer, Christian(Schöckel, Birgit: Gewaltkriminalität und Strafverfolgung, Masch.-Ms. der Gewaltkommission, Hannover 1989, S. 80ff., mit insgesamt zahlreichen weiteren Nachweisen.
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Einzelanalysen (die hier nicht geleistet werden können) hätten das Gesamtbild in bezugauf einzelne Delikte und Deliktsgruppen (vorsätzliche Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, Vergewaltigung, Raub und Erpressung, Menschenraub und Geiselnahme usw.), auf die jeweiligen Schweregrade hin oder nach dem Alter der Täter zu differenzieren. Schon die angedeuteten "Gegeninterpretationen" der statistischen Daten machenjedoch deutlich, in welch hohem Maße statistische Zahlen interessengelenkter Präsentation zugänglich sind.6 Das sensible Thema der Gewalt bietet sich hierfür im besonderen an. Daß jedes einzelne Gewaltdelikt, jede Tötung gar, besser verhindert worden oder unterblieben wäre, steht ja außer Frage. Daß aber z. B. allein in der nordamerikanischen Stadt Detroit jährlich ebenso viele Menschen - nämlich rund 800 einem Mord oder Totschlag zum Opfer fallen wie in einem Jahr in der ganzen Bundesrepublik, 7 zeigt die Schwierigkeit auf, mit bloßen Zahlen Realitäten wiederzugeben. Aus der Perspektive des Empfängers einer Nachricht über Gewaltkriminalität vermag ein Mordopfer (Beispiel Herrhausen) ggf. mehr Wirkung zu zeitigen als z. B. die 280 weiblichen Mordopfer des Jahres 1988.8 Kann nach alledem von einer "Zunahme" der Gewaltkriminalität bei uns nicht-jedenfalls nicht so pauschal- die Rede sein, so ist damit natürlich nicht zwingend vorprogrammiert, daß es dabei sein Bewenden haben wird. Zwar erscheint die Vermehrung der Wohnbevölkerung durch Aus- und Übersiedler selbst um sechsstellige Zahlen die Auswirkungen des Geburtenrückgangs noch bei weitem nicht wettzumachen; 9 jedoch kommen Imponderabilien ins Kalkül, wenn man bedenkt, daß die nähere Zukunft uns möglicherweise auch siebenstellige Zahlen von Neubürgern bescheren könnte (DDR, Rumänien): Ein solcher Zuwachs von Wohnbevölkerung, im Best-Alter auch der Kriminalität, in einem für die Bundesrepublik noch nie dagewesenen Tempo könnte zu bei uns bis dato auch noch unbekannten gesellschaftlichen Konflikten mit entsprechenden Auswirkungen führen. Schließlich: In einem Jahr konzentrierter Wahlkämpfe wie 1990 wird es nicht nur verstärkt Versuche geben, das Thema Kriminalität parteipolitisch zu besetzen, mag die (Erzeugung und Ausnutzung von) Angst auch ein noch so "schlechter Nährboden für eine liberale Demokratie" sein. 10 Vielmehr ist nicht auszuschließen, daß der Wahlkampf selbst Straftaten generiert. Alledem und 5 Pfeiffer/Schöckel, 1989, S. 82: "Zwischen 1982 und 1987 ist die Zahl der polizeilich registrierten Fälle von Gewaltkriminalität um 6,7% gesunken." Vgl. auch S. 35 f. und zum Pillenknick - S. 89f.: "Um das .. . Defizit von 5 Millionen 14- bis 30jähriger auszugleichen, müßte die Zahl der bis zum Jahr 2000 faktisch einwandernden Personen . . . insgesamt ca. 12 bis 15 Millionen betragen." 6 Albrecht, Peter-AlexisfLamnek, Siegfried: Jugendkriminalität im Zerrbild der Statistik, München 1979. 7 Mitteilung im "Rundbrief Soziale Arbeit und Strafrecht", 1989 (4), S. 22. 8 Bundeskriminalamt (Hg.): Polizeiliche Kriminalstatistik, Wiesbaden 1988, S. 32. 9 PfeifferfSchöckel, 1989, S. 89f. 10 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Gutachten in diesem Band.
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weiteren U nvorhersehbarkeiten gegenüber ging es hier nur darum herauszustellen, daß die verfügbaren Erkenntnisse die Annahme einer langfristig-kontinuierlich angelegten Zunahme von Gewalt in unserer Gesellschaft nicht stützen; eher das Gegenteil ist der Fall. 2. Gewaltbereitschaft
Im Landtagsbeschluß ist nicht von Gewaltkriminalität die Rede, sondern von Gewaltbereitschaft, was ihn insoweit aus den Überlegungen zu 1. heraushält. Daß Gewaltbereitschaft und Gewalt sich zueinander verhalten wie Aggressivität und Aggression, wie das Potential zu dessen Einsatz, wie die Gefahr zum Schaden, braucht nicht näher erläutert zu werden. Der Terminus Gewaltbereitschaft verdient aber aus einem anderen Grunde Interesse: Warum wurde ersicher bewußt - ins Zentrum des Beschlußauftrages gerückt? Eine genaue Benennung der Motive dürfte kaum mehr möglich sein. Jedoch läßt das Datum (November 1987) immerhin Rückschlüsse zu. In jenem Jahr war, aktualisiert durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Frühjahr 1986, die Auseinandersetzung um die Energiegewinnung aus Kernkraft und insbesondere um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf in vollem Gange. Bei einer Demonstration an der Frankfurter Startbahn West waren überdies am 2. 11. 1987 zwei Polizisten erschossen worden. So wie der damalige Bundesinnenminister daraufhin die Gewaltkommission des Bundes initiierte, dürfte auch der bayerische Landtagsbeschluß unter den unmittelbaren Eindrücken seiner Zeit zustandegekommen sein: den Eindrücken von Bereitschaft zu Gewalt, teils aktualisiert wie in den genannten und vielen weiteren Demonstrationen, gezielte tödliche Gewaltanwendung wie in Frankfurt eingeschlossen. In dem Maße, in dem diese Deutung zutrifft, spielt die politisch motivierte Gewalt für die Themenstellung eine besondere Rolle. Die vermuteten lmplikationen dieses Zusammenhangs sind klar: Demonstrationen enthalten Gewaltpotential, Demonstranten sind potentielle Gewaltkriminelle - eine gedachte Linie, die bekanntlich häufig gezogen und bis hin zur Rekrutierung von RAPTerroristen ausgemalt wurde. Empirisch haltbar ist sie (bislang) nicht (s. u.). Sie erklärt aber die Rede im Landtagsbeschluß von der "zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft". Demgegenüber müßten schon die polizeilichen Erkenntnisse Zweifel an jener Annahme aufkommen lassen. Die weitaus meisten Demonstrationen verlaufen nicht unfriedlich, sondern friedlich; das gilt, was ihre Anzahl betrifft, und erst recht, was die Zahl ihrer Teilnehmer betrifft. Wenn man vor diesem Hintergrund erfahrt, daß die bei Demonstrationen tatsächlich aktualisierte Gewalt vorwiegend jeweils von einigen "harten Kernen" ausgeht, "schwarzen Blocks", "Autonomen" oder Gruppen von "Chaoten", die überdies von Ereignis zu Ereignis zu eben diesem Zweck "spontan" anreisen (reisende Gewalttäter), dann spricht das eher für eine Konstanz als für eine Expansion des Problems.
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Die Frage nach der Genese von Gewaltbereitschaft im Sinne des Landtagsbeschlusses wie darüber hinaus- bleibt davon freilich unberührt. Bei ihr, kriminologisch zentral wie sie ist, kommen Anthropologie und (Sozial-)Psychologie, Biologie und Pädagogik ins Spiel. 11 So wenig eine monokausale Erklärung mit genereller Erklärungskraft je auffindbar sein dürfte, 12 spricht m. E. doch vieles für die besondere Valenz eines biographisch-lerntheoretischen Ansatzes. Das heißt, Gewaltbereitschaft wäre eine weitgehend gelernte Disposition, Gewaltanwendung ein weitgehend gelerntes, wenngleich auslöserbedingtes Verhalten. Der kriminologisch vielfach erhärtete Hinweis auf die Belastung von Unterschichtangehörigen (auch) mit Gewaltdelikten sowie auf einen dort vorherrschenden eher averbalen Sozialisationsstil weist in diese Richtung ebenso wie der Befund, daß gerade "notorische" Gewaltdelinquenten zwar in der Regel erheblicher vorbelastet sind, sich aber in einem vergleichsweise (nämlich im Vergleich etwa zu Eigentumsdelinquenten) späteren Lebensalter als solche manifestieren. 13 Der Einfluß externer Faktoren wie (vor allem) massenmedialer Gewaltdarstellung 14 ist dabei nicht ausgeschlossen, sondern gehörtebenso wie Gewalt-Videos, Gewaltdenken trainierendes Kinderspielzeug usw. -mit zum Lernprozeß. Eine makabre Bestätigung dieser Interpretation lieferte jüngstens die nach der Revolution in Rumänien vom Dezember 1989 bekanntgewordene "Sozialisation" der Securitate-Kämpfer: Als Kleinkinder aus ihren Familien genommen und auf die Anwendung von Gewalt, um ihrem "Vater" Ceau~escu zu dienen, dressiert, kannten sie offenbar weder Hemmungen noch Furcht, wenn es darum ging, auf Kinder und Frauen zu schießen, in Krankenhäusern zu wüten und wehrlose Patienten zu töten, Blutbanken zu sprengen, Trinkwasser zu verseuchen u. ä. Wie wenig es bedarf, um Menschen dazu zu bewegen, in einem Bezugsgeflecht von "Autorität", Gehorsam und Gewalt andere zu foltern, hatte freilich schon 1974 das berühmte "MilgramExperiment" bekanntgemacht 15 Spätestens an diesem Punkt wird klar, daß die (bloße) Gewaltbereitschaft in einer und für eine Gesellschaft nicht verläßlich erhoben werden kann; sozialwissenschaftliche Erhebungsmaßstäbe sind nur schwer konstruierbar, Vergleichsmaßstäbe fehlen weitgehend. Und für die Zunahme von Gewaltbereitschaft gilt das erst recht; ist doch nicht einmal die aktualisierte Gewalt und deren statistische oder sonstwie tatsächliche Fixierung ein tauglicher Indikator, der es zuließe, etwa einen Anstieg registrierter Gewaltkriminalität auf ein entsprechend gewachsenes Gewaltpotential zurückzuführen. Denn das Potential, wenn es überhaupt einen entsprechenden Maßstab hergäbe, könnte ja gleich groß geblieben oder gar geschwunden sein, nur daß eben bestimmte Auslöser zu 11 12 13 14 15
Kaiser, Günther: Kriminologie, 2. Aufl., Heidelberg-Karlsruhe 1988, S. 609ff. Zöpfl, Helmut: Gutachten in diesem Band. PfeifferfSchöckel, 1989, S. 80f. Glogauer, Wemer: Gutachten in diesem Band. Schneider, Hans Joachim: Kriminologie, Berlin 1987, S. 524ff.
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dessen vermehrter Aktualisierung führten. Bildlich gesagt: Wenn ein Gewässer über die Ufer tritt, weiß ich zwar, daß die Uferbefestigungen nicht genügten, nicht aber, wie tief das Wasser selbst ist. Das Problem der zu verwendenden Maßstäbe kann man sich gut bewußt machen, indem man einfach einen Perspektivenwechsel vornimmt und nicht nach der Zunahme von Gewaltbereitschaft fragt, sondern danach, warum eigentlich so viel und nicht viel mehr Gewaltbereitschaft "überläuft", als tatsächlich der Fall ist. Das heißt, ebenso wie nach den Anlässen für aktualisierte Gewalt könnte man danach fragen, ob es nicht (individuelle und gesellschaftliche) Anlässe in Mengen gibt, die zu Gewalt führen könnten, dies aber nicht tun. Die vielgerühmte Friedlichkeil der Revolutionen in der Tschechoslowakei und der DDR ließe sich hier ins Spiel bringen. Die Massendemonstrationen, von denen sie ausgingen, bargen vermutlich ein mehr oder weniger großes Gewaltpotential; da dies sich aber (mangels die individuelle und kollektive Selbstkontrolle sprengender Auslöser) nicht aktualisierte, blieben die Dimensionen und die Stärke des Potentials selber "erst recht" unbekannt. Das Beispiel wird nur erwähnt, um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, sich den Zusammenhängen zwischen Gewaltbereitschaft und Gewalt methodisch zu nähern. 111. "Dabei soßen die Ursachen geklärt werden ... "
"Die Ursache für ... Gewaltkriminalität empirisch gesichert anzugeben, ist nicht möglich," 16 und warum dem so ist, war soeben schon angeklungen. Gewalt ist (primär) menschliches Verhalten, und die Ursache für ein solches kann es gar nicht geben. Indessen hat Rolinski in seinem Gutachten zum selben Thema einen Erklärungsansatz entwickelt, der - sich auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen stützend - teils empirisch abgesichert 17 erscheint, teils eine hohe Plausibilität beanspruchen kann. Das besondere Interesse, das sein Ansatz verdient, liegt m. E. darin begründet, daß er sozialstrukturell durchaus variabel und dennoch "umweltstabil" 18 ist; genauer: "umweltstabil" sind die von ihm dargetanen "Grundbedürfnisse" des Menschen, deren ausbleibende Befriedigung (Störung, Blockade) bestimmte Antworten auf die Gutachtenfrage ermöglicht. Die Positionen von Rolinski darf ich mir grundsätzlich mit zu eigen machen 19 ; drei Kommentare seien angefügt.
16 Kürzinger, Josef: Gewaltkriminalität, in: Kaiser, Günther/ Kerner, HansJürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 2. Aufl., Heidelberg 1985, S. t45ff., S. 150. 17 Rolinski, Klaus: Gutachten in diesem Band; zum dort angeführten Grundbedürfnis nach Rang usw. vgl. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, Gutachten in diesem Band. 18 Rolinski, Gutachten in diesem Band. 19 Rolinski und ich hatten ursprünglich eine gemeinsame Stellungnahme geplant, deren Inhalte aus zeitlichen Gründen aber nur "andiskutiert" werden konnten.
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1. Das Grundbedürfnis nach Rang/ Einfluß und Kontrolle
Diesem Grundbedürfnis und seinen aktuellen Beeinträchtigungen kommt nach Rolinski besondere Erklärungsqualität zu. Das gilt, meine ich, namentlich für die nachwachsende Generation. Jugendkonflikte und Jugendproteste haben auch früher schon sinnverwandte Interpretationen gefunden. 20 Inzwischen zeichnet sich jedoch ab, daß die Deutung solcher Phänomene als Generationenkonflikt, verstanden als in der zeitlichen Abfolge von einer Generation auf die andere sich regelmäßig wiederholende Zuspitzung, immer mehr an Konturen verliert. Erschien bis vor nicht allzu langer Zeit eine "Generation" noch je für sich faßbar und definierbar (klassisch: H. Schelsky, Die skeptische Generation, 1957), so scheinen heute die Generationen mehr und mehr ineinander zu verschwimmen. Die Zeit, daß eine erste Nachkriegsgeneration die Generation ihrer Eltern nach der Hitleezeit fragte, ist längst vorüber, und die Zeit, daß die Generation des Wirtschaftswunders sich vorhalten lassen mußte, was alles an Umweltbeeinträchtigungen sie irreversibel eingeleitet habe, inzwischen ebenso. Aus heutiger Perspektive drängt sich eher der Eindruck auf, daß sich längst eine dritte oder vierte, jedenfalls eine ein wenig jüngere Generation nach der anderen desselben wirtschaftlichen Spiels bemächtigt hat und es unverdrossen und von irgendwelchen Alarmsignalen mehr oder weniger unbeeindruckt fortsetzt. In dieser Sicht wird vielleicht verständlich, warum seit einiger Zeit gerade die jeweils junge Generation (von Jugendlichen und Heranwachsenden) neben den Themen Frieden, Dritte Welt usw. vor allem das Umweltthema immer wieder anmahnt, - oder zumindest diejenigen Angehörigen der jeweils jüngeren Generation dies sozusagen "pausenlos" tun, die von einer absehbaren Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Rang und Einfluß, wie das Mitspielen im wirtschaftlichen Spiel sie vermittelt, ausgeschlossen sind. In krasser Zuspitzung: Dieselbe Generation von jeweils Älteren, die sich um der eigenen Altersversorgung willen auf einen angeblichen "Generationenvertrag" mit der jüngeren beruft, begeht an eben dieser eine Art Generationenbetrug, indem sie ihr die Zukunft verdirbt. Für das Thema Gewalt liefert diese Situation eine naheliegende Hypothese, was die Schwelle von der Gewaltbereitschaft zur Gewaltanwendung betrifft: Je mehr Zukunft in je subjektiver Perspektive bereits verloren ist oder verloren scheint, desto weniger droht im Falle von Gewalt ein wesentlicher Zusatzverlust; die Schichtspezifizität dieser Annahme ist unverkennbar. Wieder ist es die jüngste Entwicklung, die den Ausgangspunkt von Rolinski farbig untermalt: Die Massenflucht aus der DDR im September / Oktober 1989 verlief noch so gut wie gewaltfrei, und faszinierend gewaltfrei der anschließende politische Umsturz dortselbst. Als aber mehr und mehr ruchbar wurde, in welchem Umfang die herrschende Nomenklatura sich an der Misere des "real existierenden Sozialismus" selbst bereichert hatte, desto mehr trat offene Aggression im eigenen Lande zutage. Das heißt, erst die Wahrheit über das 20 So z. B. durch die Enquete-Kornmission des 9. Deutschen Bundestages über den "Jugendprotest im demokratischen Staat" (Schlußbericht 1983).
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Ausmaß, in dem die "breite" Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg nicht nur von Rang und Einfluß, sondern de facto auch von jeder wirksamen Kontrolle ausgeschlossen worden war, hob den Pegel der Gewaltbereitschaft auf den Stand des Umschlags in die Tat. Gegen die obige Interpretation der bundesrepublikanischen Lage liegt einzuwenden nahe, daß Hunderttausende von DDR-Bürgern sich ja gerade deshalb nach hier abgesetzt hätten, weil sie die Perspektivenlosigkeit daheim mit dem Perspektivenreichtum des "Westens" vertauschen wollten. Die entsprechende Entwicklung bleibt abzuwarten, insbesondere, ob und in welchem Maße die Neubürger, die durch den hiesigen "Pillenknick" ausgelösten (Jugend-) Arbeitsmarktprobleme werden abmildern können. 2 1 Andererseits stellen Ausund Übersiedler seit geraumer Zeit einen gruppenspezifisch erhöhten Anteil an unserer Population von sozial Randständigen (Nichtintegrierten, Nichtseßhaften, Süchtigen pp.) und bergen sie, insgesamt gesehen, überdies ein nicht zu unterschätzendes Potential für politischen (im Zweifel: Rechts-)Radikalismus. 22 2. Das biologische Grundbedürfnis
Das Grundbedürfnis "nach Nahrungsaufnahme, Trinken, Atmen und Schlafen" wird nach Rolinski "in der Bundesrepublik - noch - durchweg befriedigt". 23 Soweit es gefährdet erscheint (zunehmende Grund- und Trinkwasserverunreinigung, Lebensmittelbelastungen durch die Nahrungskette usw.), hat dies vor allem mit Störungen des Grundbedürfnisses nach Rang / Einfluß und Kontrolle zu tun. Das heißt, alles zu letzterem zu Sagende wird hier nur mehr akzentuiert. Denn mit dem biologischen Grundbedürfnis sind so zentrale (eben biologische) Existenzgrundlagen benannt, daß jede Gefährdung im Wortsinn vitale Interessen berührt. Geht eine solche Gefährdung mit dem Erleben der so gut wie völligen Ohnmacht einher, durch Einfluß und Kontrolle den Lauf der Dinge zu wenden -die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf wurde ja nicht aus einer durch Bürgerinitiativen und Demonstrationen vermittelten Einsicht, sondern allein aus großindustriellem Kalkül heraus aufgegeben - , so wird der Schritt von der Potentialität zur Aktualität von Protestgewalt (sachlich und zeitlich) kürzer. 3. Die emotionalen Grundbedürfnisse
Die beiden anderen Grundbedürfnisse nach Rolinski haben emotionale Qualität. Das im engeren Sinne emotionale Grundbedürfnis zielt auf emotionale Zuwendung. Seine Vernachlässigung spielt für die biographisch-lerntheoretiVgl. Pfeiffer/Schöckel, 1989. Kossolapow: Line: Aussiedlerjugendliche. Ein Beitrag zur Integration Deutscher aus dem Osten, Weinheim 1987; vgl. die Rezension durch Schüler-Springorum, Stefanie, in: MschrKrim 1988 (71), S. 425f. 23 Rolinski, Gutachten in diesem Band. 21
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sehe Deutung von Gewaltverhalten eine Rolle (oben II 2). Das Grundbedürfnis nach Erregung und Aktivität hingegen beschreibt ein eher entwicklungspsychologisches Phänomen, das indessen nicht auf die Phasen von Kindheit und Jugend beschränkt ist, sondern auf die Bedeutung der emotionalen Komponente für das Glücken einer aktiven Lebensbewältigung überhaupt verweist. Im Gutachten von Waldmann findet sich der dementsprechende Zusammenhang zwischen Gewalt und Lust ausführlich dargestellt. 24 Zu ergänzen wäre, daß gerade dort, wo ausagierte Gewalt der Absättigung emotionaler Bedürfnisse dient, dem im Zweifel eine starke Eigendynamik innewohnt. Denn emotionale Bedürfnisse verschaffen sich Geltung eben nicht auf rationalen, sondern auf emotionalen Bahnen. Doch schließt das nicht aus, daß diese Suche nach emotionaler Befriedigung sich ihre pseudorationalen Anlässe schafft, m. a. W. Aggressionsziele selbst produziert. Für das Verhalten von Gruppen junger Leute, die "Streit suchen", ist das eine wohlbekannte Erfahrung, ebenso etwa für das Verhalten von alkoholbedingt Hemmungsgeminderten. Für die obenerwähnten, in Großdemonstrationen agierenden "harten Kerne" mit ihrem Wechsel von Provokation und Gegenprovokation dürfte ganz Ähnliches gelten; mitunter genügt schon die Präsenz eines Fernseh-Teams, um- anders als noch Minuten zuvor- ein polizeilich geschütztes Objekt oder die Polizisten persönlich als Aggressionsreiz wahrzunehmen und selbst zur Aggression überzugehen. Hier tritt dann deutlich zutage, daß "Gewalt" mit davon abhängt, wer was wann als Gewalt definiert. Diese Tatsache ist nicht nur dem Juristen (z. B. "Anwendung" der vielfach abgestuften strafgesetzliehen Gewaltbegriffe) oder Kriminologen (sog. Definitionsansatz), sondern jedermann vertraut; definieren wir doch z. B. auch den Waffenhandel im Zweifel nicht als eine Form der Teilnahme am Töten, sondern als das Geschäft, an dem sonst andere verdienten. IV. Das Definitionsproblem
"Obwohl Gewalt ... zu einem immer beherrschenderen Phänomen westlicher Gesellschaften wird, ist es bisher nicht gelungen, sowohl den Begriff der Gewalt als auch den der Gewaltkriminalität eindeutig festzulegen." 25 Im reichhaltigen Angebot 26 finden wir Naheliegendes wie physische vs. psychische Gewalt, Gewalt gegen Personen und gegen Sachen, individuelle oder kollektive vs. strukturelle Gewalt pp. und auch Anspruchsvolleres wie z. B. die "expressive" gegenüber der "instrumentellen" Gewalt. Waldmann, Peter: Gutachten in diesem Band. Kürzinger, 1985, S. 145. 26 Neidhardt, Friedhelm: Gewalt Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs, in: Bundeskriminalamt (Hg.), Was ist Gewalt?, Wiesbaden 1986, S. 109ff. 24 25
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Der letzteren Unterscheidung hat sich Fritz Sack in einer Kontroverse mit Alfred Stümper bedient, wobei die expressive Gewalt "einen gefühlsmäßigen Zustand des Zorns, der Wut, der Ungerechtigkeit, der Verletzung, Kränkung usw. symbolisiert", während die instrumentelle Gewalt als zielgerichtetes, kontrolliertes und grundsätzlich beherrschbares Mittel zum Zweck 27 dient. Gewaltanwendung durch Staats-Organe müßte hiernach stets instrumentelle Gewalt sein, wie denn auch Sack hierfür sogleich den Krieg zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln als Beispiel nennt. Doch drängt sich der Gedanke auf, daß auch die gezielte und individualisierte terroristische Gewalt (Beispiel RAF) sich je länger je mehr zur instrumentellen Variante perfektioniert. Der Mord an Alfred Herrhausen und schon an den Opfern vor ihm hat mit Expressivität in diesem Sinne nichts mehr zu tun; wohl aber illustriert er, und zwar zerrbildhaft, die Nähe jeder terroristischen Organisation zu eben jenen Organisationsstrukturen, die zu bekämpfen sie vorgibt. 28
Das Dilemma einer allgemeingültigen Definition von Gewalt als Phänomen wird durch den Befund, daß erst die jeweilige Definition bestimmt oder mitbestimmt, was im Ernstfall nun Gewalt ist und was nicht, noch verschärft. Eben dies aber hat auch sein Gutes, wie die nachfolgenden zwei Punkte veranschaulichen mögen. 1. Sender- und Empfänger-Definitionen
In welchem Maße die Wahrnehmung von Gewalt durch deren Definition konstituiert wird, ist vielfältig belegt. Das gilt sowohl für den Gewalt Übenden (vgl. obiges Beispiel der Provokation, um die eigene Gewalt zu legitimieren) als auch für den Gewalt Erleidenden, sowohl für die individuelle wie für die kollektive Anwendung von Gewalt, sowohl für die kriminelle als auch für die legale Gewalt. Ein klassisches Beispiel ist ein solches aus dem individuell-viktimisierenden Bereich: die Vergewaltigung (und sexuelle Nötigung, §§ 177, 178 StGB). Fast jedes Strafverfahren über einen solchen Tatvorwurf setzt dem Gewalterleben des Opfers eine zumindest abgemilderte Gewaltdefinition des Täters entgegen. Das geschieht natürlich, jedoch nicht ausschließlich aus Verteidigungsgründen. Denn das dem Delikt vorausgehende Geschehen läßt oft genug Spielräume für aneinander vorbeigehende Verhaltensdefinitionen: Eine ganz normale Gangart des Opfers wird vom Täter als "aufreizend" erlebt, eine mühsam beherrschte Tonart des Täters vom Opfer als "harmlos" fehlinterpretiert, Blicke hin und her können als aggressiv oder werbend oder ängstlich oder vernichtend gelten, usw. Aber auch unserem Thema näher stehende Gewaltphänomene sind eminent definitionsabhängig. So ist es eine Definitionsfrage, ob z. B. der Song, den eine Gruppe von Fußball-Fans anstimmt, eine "öffentliche Aufforderung zu Straftaten" enthält(§ 111 StGB) oder nur die rituelle Abreaktion eigener emotionaler 27 Sack, Fritz: Kontrovers: Polizei und Gewalt, in: Bundeskriminalamt (Hg.), Gewalt und Kriminalität, Wiesbaden 1986, S. 230fT. 28 Näheres vgl. Schüler-Springorum, Horst: Kriminalpolitik, Masch.-Ms. 1990, Kap. V2.
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Aufladungen. Es ist eine Definitionsfrage, ob das Gehabe und Gerede von Skinheads einen kalt läßt oder ob man sich - und wer - dadurch beleidigt und möglicherweise wunschgemäß provoziert fühlt. Es ist eine Definitionsfrage, ob die Angst des jungen Bereitschaftspolizisten die Wahrnehmung von Demonstrantengewalt vorverlagert oder die auf Erfahrung und Routine beruhende "Kaltblütigkeit" seines älteren Kollegen jenen Zeitpunkt hinausschiebt. Es ist eine Definitionsfrage, ob der Inhalt eines Kassibers von RAF-Gefangenen Straftatbestände "verwirklicht" oder nur den gruppen-intern eingeschliffenen Jargon widerspiegelt (oder ggf. beides zugleich tut), usw. usw. Die von im Untergrund operierenden terroristischen Organisationen ausgehende Gewalt dürfte wohl die allgemein am negativsten definierte sein. Das hat seine Berechtigung im Hinblick auf deren erklärtes Angriffsziel, nämlich die Staatsgewalt selber. In welchem Maße aber selbst hier die Definition zugleich Zuschreibung ist, läßt sich daran erkennen, daß die Bewertung sich in solchen Ländern, die ständig mit viel mehr Terrorismus konfrontiert sind als wir (Italien, Nordirland, Spanien pp.), allmählich abschleift und damit abschwächt. In der Bundesrepublik können wir es uns sozusagen noch leisten, auf die zum Glück relativ seltenen terroristischen Gewalttatenjeweils mit Akten massivster Betroffenheit zu reagieren. In Kolumbien, wo zwischen 1982 und 1988 unter 9000 Opfern des Drogenkrieges 3 500 Beamte, 1 500 Polizisten, 160 Richter und 110 Politiker waren (SZ vom 15. 9. 1989), wird das Definitionsschwert stumpf. Dabei lehrt gerade die Geschichte unseres RAP-Terrorismus, daß Vertreter von Staat und Gesellschaft einerseits und die Terroristen andererseits oft und massiv aneinander vorbeigeredet, einander danebendefiniert haben, etwa indem man symbolisch Gemeintes für bare Münze nahm. 29 Dieser mutatis mutandis in vielen Gewaltereignissen implizierte Sachverhalt verweist freilich, über das bloße Definieren hinaus, auf ein Kommunikationsproblem. 2. Zur Kommunikation über Gewalt
Selbstverständlich gibt es Gewalt ohne jegliche Kommunikation. Wer unversehens einem heimtückischen Raubmord durch einen Unbekannten anheimfällt, hat ebensowenig Chancen, durch Kommunikation noch etwas zu retten, wie die Zufallsopfer eines Amokläufers. Doch sind dies quantitativ gesehen nur die wenigsten aller Fälle von aktualisierter Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft. In der großen Masse der Fälle von wie immer definierter Gewalt spielen über die Sender- und Empfängerperspektiven auch Kommunikationen eine Rolle, wenngleich - wie das Ergebnis zeigt - mißlingende Kommunikationen. Dabei dürfte das Mißlingen von Kommunikation nicht selten auf ein situatives Machtgefälle zwischen Täter(n) und Opfer(n) zurückführbar sein. 29 Zahlreiche Belege in dem Bericht von Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, Harnburg 1985.
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Ist Gewalt erst einmal auf dem Plan, kommt Kommunikation also zu spät: nicht zwingend zwar (man denke an die Ratschläge für Frauen in Vergewaltigungssituationen), aber wohl doch in aller Regel. Um so bedeutsamer wird die Frage der Kommunikation für den gesamten Vorfeldbereich der Gewaltbereitschaft. Das Gesprächsangebot der Geschwister von Braunmühl an die Mörder ihres Bruders hat dies blitzartig erhellt: Es wurde nach der Mordtat verlautbart -um der Verhinderung künftiger Mordtaten willen. Daß es ohne Echo blieb, mag für diesen Sektor der Gewaltkriminalität nicht allzu überraschend sein. Es bleibt aber beispielhaft für andere Bereiche. V. "Möglichkeiten zur Abhilfe"
Dieser Teil des Landtagsbeschlusses steht hier logisch am Ende. Unsere Schlußüberlegungen gelten eher noch verstärkt den Phänomenen der (i. w. S.) politisch motivierten Gewalt. Damit wird eine große Zahl vorkommender Verhaltensweisen ausgeklammert: Gewalt an Frauen und Kindesmißhandlung, klassische Individualdelikte (obwohl sie, soweit als mißlungene Konfliktlösungen interpretierbar, unter dem Kommunikationsgesichtspunkt besonders ergiebig wären), gewalttätige Formen der organisierten Bereicherungskriminalität, von Ausländern begangene Gewalttaten 30 (nicht aber die ggf. politisch, nämlich rechtsradikal motivierte Gewalt an Ausländern) sowie die Auto-Aggression. 31
Was übrig bleibt, sei nach bewährter Aufteilung unter den Stichworten Prävention und Repression diskutiert. 1. Prävention
Prävention von Kriminalität gehört zu den klassischen Aufgaben der Polizei. Dabei dürfte, wie abermals betont sei, der organisierte Terrorismus von links oder rechts unmittelbar polizeilichen Präventionsbemühungen am schwersten zugänglich sein. Da eine individuelle Prognose von terroristischen Karrieren trotz aller Forschung32 ausscheidet, 33 bleibt Prävention in diesem Bereich die große Verlegenheit der Gesellschaftspolitik. Als ein spannendes Präventionsthema verbleiben aber sicher die Polizeieinsätze bei Großdemonstrationen; spannend deshalb, weil alles darauf ankommt, den Polizeieinsatz möglichst präventiv sein und bleiben, d. h. nicht in Repression umschlagen zu lassen. Die vorigen Ausführungen (IV) dienten schon ersichtlich PfeifferfSchöckel, 1989, S. 83fT. -und damit auch die rd. 1 000 Drogentoten des Jahres 1989; zu überprüfen wäre die Hypothese, daß der rasante Anstieg der Zahlen sich aus einer entsprechenden Zahl echter Suizide durch HIV-Infizierte erklären könnte. 32 Kaiser, 1988, S. 659fT. 33 Jäger, Herbert/Schmidtchen, Gerhard/Süllwold, Lieselotte: Lebenslaufanalysen, Opladen 1981. 30 31
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dazu, im Präventionsinteresse die "Kommunikation" zur Diskussion zu stellen. Doch ist dies alles andere als eine leicht zu handhabende Rezeptur. Drei Erschwernisse stehen ihr (mindestens) entgegen: Eine präventionswirksame Verständigung wird allemal erschwert, wenn sich Kollektive gegenüberstehen, die zugleich ihrer je eigenen Kollektivemotionalität und Kollektivpsychologie ausgesetzt sind. Das uniforme Erscheinungsbild der Polizei läßt den Menschen hinter der Uniform verschwinden, was Kommunikation erschwert; die (inzwischen im Versammlungsgesetz strafbewehrte) Vermummung eines Demonstranten 34 macht sie vollends unmöglich. Je "kritischer" eine Demonstration sich -lokal oder generell- entwickelt, desto geringer werden die Aussichten, durch Kommunikation zwischen den einander Gegenüberstehenden (oder auch nur gruppen-intern!) noch präventiv zu wirken. Gerade die Demonstrationsgeschehnisse haben ferner gelehrt, daß Polizisten auch ("nur") Menschen sind, und zwar Menschen, die es schwer haben. Sie sind zwar auf eine gewisse Dickhäutigkeit hin getrimmt, um sie davor zu bewahren, jeder beliebigen "Anmache" zu erliegen. Sie sind aber auch Menschen, die sich eingestandenermaßen vor dem Einsatz häufig fürchten. Da Jungsein mit einer im Zweifel erhöhten Emotionalität und Spontaneität einhergeht, artete manche gewalttätig verlaufende Demonstration zur ominösen Räuber- und GendarmJagd aus, bei der die Angehörigen derselben Generation 35 auf ihre jeweiligen Kosten kamen. Zusätzlich haben Polizisten sich immer wieder der Frustration ausgesetzt erlebt, soziale Konflikte durchstehen zu müssen, deren Lösung primär den Politikern abgelegen hätte; auch ich wüßte nicht, wie mir als bei einem Wackersdorfer Einsatz verletzten Ordnungshüter heute zumute wäre, nachdem die "Ordnung", die es so lange unbedingt zu hüten galt, aus puren Renditegründen ins benachbarte Ausland verlagert wurde. Schließlich ist das Selbstbild des Polizisten als des Hüters von Recht und Ordnung, wo nicht auf den "Verbrecher", so doch zumindest auf den "Störer" hin programmiert. Der Polizist definiert sich über den für ihn erst als "Störer" interessant werdenden Bürger ähnlich wie die Berufsfeuerwehr durch den Brand, der Arzt durch den Kranken, der Soldat durch den Feind, der Kriminologe durch das crimen. Das schließt zwar nicht aus, daß auch Polizisten eine Mittler-Rolle übernehmen, so wie sie bei vielen Konflikten zwischen Individuen denn auch tatsächlich ausgeübt wird. Politisch motivierte Gewaltbereitschaft macht ihnen solches aber ungleich schwerer, weil das politische Motiv, soweit klar genug verlautbart, im Zweifel ja ein solches ist, welches Strukturen 34 "Wer zu einer Demonstration politisch mißliebiger Meinungen geht, hat Anlaß, sich über nachteilige Folgen Gedanken zu machen- nicht erst, aber besonders seitdem solche Aktivitäten systematisch beobachtet, gefilmt und registriert werden; es muß also ,Vermummung' keineswegs als Zeichen von Gewaltbereitschaft gewertet werden- auch wenn es das sein kann", Dencker, Friedrich: Gefährlichkeitsvermutung statt Tatschuld?, in: Der Strafverteidiger (SV) 1988 (8), S. 262fT., S. 264. 35 Willems, Helmut(Eckert, Roland/Goldbach, Harald / Loosen, Toni: Demonstranten und Polizisten- Motive, Erfahrungen und Eskalationsbedingungen, München 1988.
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der zu wahrenden Ordnung prinzipiell negiert. Es käme also darauf an, zur Entlastung der Polizei nach zusätzlichen Partnern präventiver Kommunikation Ausschau zu halten. Ob und inwieweit wer solche Hilfe leisten könnte (Polizeipsychologen, Politiker, Journalisten o. ä.), kann hier nicht vertieft werden. Sicher scheint nur, daß sie alle das Gegenteil von dem zu sein hätten, was man "Scharfmacher" nennt. Auch für die anläßlich von Protestaktionen und Demonstrationen sich zu aktualisieren drohende Gewalt sei mithin auf Prävention durch Kommunikation gesetzt, so lange letztere noch möglich ist. 36 Für eine derartige Strategie bieten die polizeibekannten örtlichen Zentren und Schwerpunkte kollektiver Gewaltpotentiale immer noch ein hinreichend breites und auch erfolgversprechendes Feld, 37 ehe es zum nächsten Schritt der Ausübung hoheitlicher Gewalt - etwa in Gestalt eines (noch präventiven? doch wohl schon repressiven!) "Unterbindungsgewahrsams"- kommt. 2. Exkurs: Gewaltmonopol Das staatliche Gewaltmonopol als "auf der einen Seite das Gewaltverbot für Privatleute und auf der anderen Seite ... die ausschließliche Trägerschaft des Staates an der physischen Gewalt" 38 gilt allgemein als eine Errungenschaft des modernen Rechtsstaats. Es verhindert, daß einzelne Mitglieder der Gesellschaft das, was ihre Interessen ihnen als Recht erscheinen lassen, notfalls gewaltsam selbst durchsetzen, und es verschafft dem staatlichen Recht die nötige Durchsetzungsmacht. Dem Grundkonsens über das Gewaltmonopol entspricht "ein außerordentlich breiter Konsens über die Verwerflichkeit von Gewalt," 39 ausgeübt durch Private. 40 Das Gewaltmonopol des Staates - so seine Mindestleistung - wahrt die Asymmetrie41 zwischen rechtsdurchsetzender Staatsgewalt und jeglicher privater Gewaltausübung; letzterer haftet eben die Vermutung der Verwerflichkeit an (ausräumbar etwa durch eine Notwehrsituation nach§ 32 StGB), ersterer die Vermutung der Legitimität. 42 Es ist eben dieser Zusammenhang, der die Gewaltausübung durch pseudostaatliche Organe wie z. B. "schwarze Sheriffs" um so vieles unerträglicher macht als die in der kriminalpolitischen Diskussion neuerdings favorisierten Bürgerinitiativen mit (kollektiven, aber mit der Polizei kooperierenden) Selbstschutztendenzen ("community policing"). Ähnlich Zöpfl, Helmut, Gutachten in diesem Band. Ähnlich Waldmann, Peter, Gutachten in diesem Band. 38 Herzog, Roman: Das staatliche Gewaltmonopol und seine Grenzen, in: Bundeskriminalamt (Hg.): Gewalt und Kriminalität, Wiesbaden 1986, S. 13fT., S. 17. 39 Neidhardt, 1986, S. 139. 40 Stümper, Alfred: Kontrovers: Polizei und Gewalt, in: Bundeskriminalamt (Hg.): Gewalt und Kriminalität, Wiesbaden 1986, S. 228. 41 Neidhardt, 1986, S. 135. 42 Schmitt-Glaeser, Walter: Gutachten in diesem Band. 36 37
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Nun hat die moderne Rechtsentwicklung allerdings auch immer mehr Kehrseiten dieser Medaille hervorgebracht. Da z. B. allein der Staat Strafgesetze schaffen und kraft seines Gewaltmonopols auch durchsetzen kann, hängt es logischerweise vom jeweiligen Umfang eines staatlichen Strafrechts ab, wieviel Spielraum für strafdrohungsfreies Verhalten bleibt. Doch ist der Zusammenhang ja nicht auf das Strafrecht beschränkt. Die Stichworte (die hier nicht ausgebreitet werden können) lauten ganz allgemein Verrechtlichung und Bürokratisierung. Das Problem besteht darin, daß der Bürger sich längst einer Masse von (vor allem im weitesten Sinne "öffentlichem") Recht gegenübersieht, der es immer mehr an Überschaubarkeit, Transparenz und Stimmigkeit gebricht. All dies Recht verschiedener Ordnungen (vom Bundesgesetz bis zur Verwaltungsverordnung) verlangt Bürgergehorsam und partizipiert natürlich am Gewaltmonopol: Es wird notfalls gewaltsam durchgesetzt, wobei auch die schlichte Verweigerung subjektiver Rechte dem einzelnen wie eine solche Durchsetzung erscheinen kann; der Bürger zum Beispiel, der auf dem Sozial-, Arbeits- oder Wohnungsamt, weil zum hundertsten Mal von Pontius zu Pilatus geschickt, schließlich mit der Faust auf den Tisch schlägt (oder gar mit dem Traktor ins Behördenhaus hineinfährt), übt ohnmächtig-rechtswidrige Gewalt gegen die monopolisierte, der er sich ausgesetzt fühlt. Tatsächlich finden sich gerade ökonomisch oder sozial Unterprivilegierte der Staatsgewalt stärker ausgeliefert als andere Gesellschaftsangehörige, wohingegen doch (einem bekannten Ausspruch zufolge) derjenige, der wenig im Leben hat, eigentlich besonders viel "im Recht" haben müßte. Statt dessen trägt die- prinzipiell zu Recht gepriesene- staatliche Gewaltenteilung oft noch dazu bei, den durch die Masse an Recht de facto eintretenden Verlust an (subjektiven) Rechten eher zu vergrößern: divide et impera! 3. Repression
Wo Prävention versagt, bleibt die Repression. Und wieder ist es von den drei Gewalten zwangsläufig die Exekutive, namentlich die Polizei, der diese Aufgabe zufällt. Jedenfalls erscheint die "vollziehende" Gewalt auf den ersten Blick der Repression so am nächsten, wie der Gesetzgeber ihr am entferntesten. Gerade dem Gesetzgeber aber, berufen, durch seine Akte die Akte der Verwaltung (auch der gewaltanwendenden) zu gesetzmäßigen zu machen, drohen neuerdings die Grenzen zwischen Prävention und Repression zu verschwimmenY Was die Repression von "Gewalt in unserer Gesellschaft" - so wie hier schwerpunktmäßig verstanden - sozusagen vor Ort anlangt, kann abermals 43 So im 1988er Entwurf eines Änderungs- und Ergänzungsgesetzes zur Strafprozeßordnung, der- ganz der Prävention organisierter, vor allem terroristischer Kriminalität verschrieben - ebenjene durch repressive Eingriffe (wie Lauschangriffe, Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung u.a.) effektuieren will; vgl. Dencker, 1988, sowie Wolter, Jürgen: Freiheitlicher Strafprozeß, vorbeugende Straftatenbekämpfung und Verfassungsschutz, in: Der Strafverteidiger (SV) 1989 (9), S. 358ff.
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auf die Gutachten von Rolinski und Waldmann verwiesen werden. In Übereinstimmung mit ihnen folgt aus allem Vorigen eine Devise, die gegenüber staatlicher Aktivität im kriminalpolitischen Bereich überhaupt angeraten erscheint: im Zweifel weniger! Die oben beschriebenen Gegebenheiten von Definition und Gegendefinition dessen, was Gewalt ist, von selektiver Wahrnehmung und mißlingender Kommunikation, sprechen sämtlich dafür, daß staatliche Zurückhaltung nicht mehr, sondern im Zweifel weniger (dann zu "bekämpfende") Gewalt produzieren wird. Denn eine solche Zurückhaltung würdeneben anderen gewaltmindernden Effekten wie etwa der Förderung rationaldiskursiver Auseinandersetzurig-vor allem die vorgegebene Asymmetrie, d. h. das Gefälle zwischen der Legitimität repressiver Gewalt und der Verwerflichkeit von Bürgergewalt abmildern. Solches zu bewirken ist zwar beileibe nicht nuroder auch nur primär- die Aufgabe der für Repression zuständigen Exekutive; aber einer muß ja wenigstens den Anfang machen.
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Prof. Dr. jur. Horst Schü/er-Springorum: Geboren 15. 10. 1928 in Teheran, aufgewachsen in Berlin. Juristisches Studium in Frankfurt f M und Marburg/ L 1948-1953, dazwischen 1950-1951 Studium der Politikwissenschaft in Baltirnore, USA. Promotion Marburg 1956, Assessorexamen Frankfurt 1958. Nach Tätigkeiten im Wirtschaftsrecht 1958-1960 (Assistent an der Universität Bonn, Bundesministerium für Wirtschaft): 1961-1967 wissenschaftlicher Assistent in Harnburg. Dortselbst 1967 strafrechtlich-kriminologische Habilitation. Einschlägige Lehrstühle in Göttingen (1967-1972), Harnburg (1972-1975) und seit 1975 in München. Langjährige Mitarbeit in der Strafvollzugskornrnission, in der Deutschen Jugendgerichtsvereinigung (darunter als deren Vorsitzender 1968-1986), in der Internationalen Jugendrichtervereinigung (darunter als deren Präsident 1978-1982) und im kriminologisch-wissenschaftlichen Beirat des Buroparats (1971-1981). Verheiratet seit 1961, drei Kinder.
Gewaltbereitschaft aus ethologischer Sicht Von lrenäus Eibl-Eibesfeldt
Einleitung Zwingt eine Person oder eine Personengruppe anderen gegen deren Widerstand ihren Willen auf, so übt sie damit Gewalt aus. Es handelt sich um eine Form der Aggression, über die Dominanz errungen wird. Wir stehen der Gewalt ambivalent gegenüber. Wir finden es zwar richtig, daß staatlich autorisierte Gewalt gegen Kriminelle eingesetzt wird, sehen aber darin doch eher ein notwendiges Übel. Wir streben nach sozialer Harmonie innerhalb und zwischen den verschiedenen Menschengruppen, und uns stört die auf allen Ebenen zunehmende Gewalt: Die Zunahme individuellen und organisierten Verbrechens, des Terrorismus, der gewalttätigen Demonstrationen, des Vandalismus, der Bürgerkriege und der kriegerischen Auseinandersetzungen. Wollen wir eine friedliche Welt, dann ist es sicher vernünftig, bei uns selbst anzufangen und den inneren Frieden zu fördern. Dazu ist es wichtig, die Ursachen der Gewaltbereitschaft zu erkennen. Uns interessiert in diesem Zusammenhang nur die innerartliehe Aggression. Näheres zur Abgrenzung von den zwischenartliehen Aggressionen bei Eibl-Eibesfeldt. 1 Mein Beitragerörtert in geraffter Form, in welcher Weise stammesgeschichtliche Anpassungen zwischenmenschliches aggressives Verhalten und insbesondere den Einsatz von Gewalt mitbestimmen, welche Situationen es aktivieren und welche Umwelteinflüsse es modifizieren. Ich gehe dabei von der Annahme aus, daß sich aggressives Verhalten zunächst als Anpassung zur Durchsetzung der Interessen von Einzelpersonen und von Gruppen im Dienste des Überlebens entwickelte, wobei Überleben stets Überleben in eigenen Nachkommen bedeutet. Wer das nicht schafft, steigt aus der Evolution aus. 2 Ich vertrete ferner die These, daß sich viele der uns angeborenen, verhaltenssteuernden Programme in der langen Zeit unseres steinzeitliehen Jäger- und Sammlerdaseins entwickelten und daß wir uns in den letzten zehntausend Jahren biologisch kaum geändert haben. Wohl aber schufen wir uns kulturell eine Umwelt, an die wir uns biologisch als nur unvollkommen angepaßt erweisen. Daraus erwachsen uns Probleme. 1 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung, München 1975; Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Grundriß der Humanethologie, München 1986. 2 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Der Mensch das riskierte Wesen, München 1988.
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Als Menschen mit steinzeitlicher Emotionalität müssen wir mit den Problemen der technischen Zivilisation fertig werden und als Kleingruppenwesen das Leben in der anonymen Massengesellschaft meistern. Wir müssen uns kulturell an diese selbstgeschaffene Umwelt anpassen. Dazu ist es notwendig, die in unseren Vorprogrammierungen verborgenen Fallstricke zu erkennen. So ist zum Beispiel wahrzunehmen, daß dem Rangstreben keine im Organismus begründeten Grenzen gesetzt sind- es ist unersättlich; ferner, daß in der anonymen Gesellschaft die befriedende Wirkung persönlicher Bekanntheit wegfällt oder daß frühkindliche soziale Deprivationen verschiedener Art bei vielen zu einem Mangel an sozialer Kompetenz führen. Ich werde mich dazu ausführlich äußern.
A. Zur Genese aggressiven Verhaltens I. Definition Der Begriff Aggression leitet sich vom lateinischen aggredi = herangehen ab. Es wird im Sinne von Angreifen ebenso wie als "sich einer Herausforderung stellen" verstanden. Und wir nehmen im übertragenen Sinne auch Probleme in Angriff, und wir verbeißen uns in Aufgaben. Eine Terminologie, die bereits ausdrückt, daß es sich um ein Durchsetzen von Wünschen gegen Widerstände handelt, und zwar im Falle der Aggression durch eine gewaltsame Überwindung des Widerstands etwa im Kampf oder durch Drohverhalten. Der Gegner kann im Verlauf dieser Interaktion getötet, vertrieben, unterworfen oder umgestimmt werden. In allen Fällen erwirkt der Sieger Dominanz über den Besiegten. Als Aggressivität bezeichnet man die Bereitschaft zu aggressivem Handeln. Sie wird sowohl durch äußere als auch durch im Organismus selbst ablaufende Prozesse bewirkt. Bei der Besprechung der Aggression müssen wir innerartliehe von zwischenartliehen Aggressionen unterscheiden. Uns interessiert hier nur die innerartliehe -zwischenmenschliche Aggression. Psychologen definieren ein Verhalten dann als aggressiv, wenn einem anderen oder einer Sache, die einem anderen gehört, absichtlich Schaden zugefügt wird. Die Absicht als Handlungsintention können wir in der Tat beim Menschen oft erfragen, meist müssen wir sie jedoch aus den Beobachtungen schließen. Allerdings ist das Merkmal "Intention oder Absicht" nur beschränkt anwendbar. Es gibt auch Aggressionen, denen eine wohlmeinende Intention zugrunde liegt. Man denke etwa an die erzieherische Aggression, die in vielen Kulturen praktiziert wird. Es gibt ferner eine "explorative" Aggression, deren Intention es ist, den sozialen Handlungsspielraum auszuloten (siehe unten). Gewalt wird instrumental in sehr verschiedenen Funktionszusammenhängen eingesetzt, so um den Zutritt zu knappen Ressourcen zu erzwingen, Rivalen abzuschlagen, beim Wettstreit um Rangpositionen und in vielen anderen
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Situationen. Stets geht es um die Erzwingung einer Dominanzsituation. Stellen sich einem zielstrebigen Handeln Hindernisse entgegen, dann aktiviert das Aggressionen, um diese Hindernisse zu beseitigen. Den aggressiven Verhaltensweisen sind jene der Defensive, Unterwerfung und Flucht zugeordnet. Sie bilden mit diesen ein funktionell zusammengehöriges System. Die folgende Übersicht erläutert die Beziehungen. Agonales Verhalten ( Feindverhalten) Kampfsystem
1. Verhaltensweisen der Aggression Drohen Kämpfen 2. Verhaltensweisen der Verteidigung Drohen Kämpfen Fluchtsystem
3. Verhaltensweisen der Submission 4. Fluchtverhalten II. Aggressionstheorien
1. Zur Aggressionsgenese wurden eine Reihe von Theorien entwickelt, die alle auf richtigen Beobachtungen oder Experimenten basieren. Allerdings erheben einige gelegentlich den Anspruch auf ausschließliche Gültigkeit. Damit gehen sie sicher zu weit. Das lernpsychologische Modell geht davon aus, daß aggressive Verhaltensweisen gelernt werden. Bereits in früher Kindheit führen aggressive Forderungen zum Erfolg, der dieses Verhalten dann bekräftigt. So lernen Kinder, aggressive Verhaltensmuster instrumental einzusetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Kinder lernen ferner am sozialen Vorbild. 3 Das hat man u. a. experimentell untersucht, indem man Kinder zusehen ließ, wie Erwachsene eine Gummipuppe mißhandelten, während eine andere Kindergruppe keinerlei aggressive Handlungen vorgeführt bekam. Die Kinder, die aggressive Modelle sahen, spielten später in expertimentell herbeigeführten, frustrierenden Situationen aggressiver mit ihren Puppen als jene ohne solche Erfahrungen. Im normalen Alltag identifiziert sich das Kind mit dem Vorbild der Eltern, sei es nun kriegerisch oder friedlich, vorausgesetzt, daß eine gute Elternbindung besteht. 3 Bandura, Albert: Aggression: A Social Learning Analysis, Englewood Cliffs, N. J., 1973.
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2. Nach dem Frustrations-Aggressions-Modell wird aggressives Verhalten durch frühkindliche Entbehrungserlebnisse wachgerufen. 4 Jede Behinderung zielstrebigen Verhaltens (Frustration) ruft Aggressionen wach, die das Hindernis überwinden helfen. Das aggressive Verhalten steht in diesem Fall im Dienste anderer Motivationen. Ein eigener Aggressionstrieb wird nicht angenommen. Das Verhalten ist nach dem Begründer dieser Hypothese (J. Dollard) reaktiv. Es entwickelt sich allerdings zwangsläufig, da das Muster, auf Frustrationen mit Aggressionen zu reagieren, angeboren ist und Frustrationen nie ganz ausbleiben. Allerdings kann man sie auf ein Mindestmaß in der Entwicklung beschränken und damit, so meinte man, würde man friedfertige Menschen heranziehen. Daß Frustrationen unmittelbar zu Aggressionen führen können, hat man experimentell nachgewiesen. Ob jedoch frühkindliche Entbehrungserlebnisse mit Verzögerung im späteren Alter zu gesteigerter Aggressivität führen, bleibt umstritten. Man machte alles Mögliche für aggressive Einstellungen verantwortlich: das Trauma der Geburt, das Abstillen, die Reinlichkeitserziehung oder die angebliche Unterdrückung der kindlichen Sexualität. Es handelt sich dabei um unbewiesene Annahmen und dementsprechend sind die sich darauf begründenden Erziehungsvorschläge spekulativ. 3. Siegmund Freud nahm an, daß dem aggressiven Verhalten ein destruktiver Antrieb zugrunde liege, ein mystischer Todestrieb, der den Menschen zu aggressivem Handeln treibe. 4. Dieses Konzept ist heute durch die biologische Trieb-Theorie der Aggression abgelöst. Beobachtungen an Tieren belegen Fluktuationen in der aggressiven Handlungsbereitschaft, die nicht auf entsprechende Änderungen in der Außenwelt zurückgeführt werden können. Bei einigen Wirbeltieren bewirken die endogenen, motivierenden Mechanismen Aggressionsappetenz. Androgene erhöhen die aggressive Reaktionsbereitschaft (s. S. 48 j 49). Phänomene aggressiven Erregungsstaus und seiner Abreaktion wurden wiederholt experimentell untersucht. Es gibt neuronale Strukturen, die der Aggression zugrunde liegen. Bei Fällen von Schläfenlappen-Epilepsie hat man oft spontane Wutanfälle beobachtet. Die Patienten vermochten sie nicht zu beherrschen. 5 5. Die ethologische Aggressionstheorie geht davon aus, daß sich aggressives Verhalten im Dienste verschiedener eignungsfördernder Funktionen entwickelte und dementsprechend durch von Art zu Art wechselnde, stammesgeschichtliche Anpassungen in definierbaren Bereichen vorprogrammiert ist. So gibt es spezifische auslösende Reizsituationen für agonalesVerhalten (Flucht, Angriff, Unterwerfung), ferner die Kampfbereitschaft hemmend oder fördernd beeinflussende inkretorische und neuronale Organsysteme. Diese inneren, die Kampfbereitschaft aufbauenden Faktoren sind es, die man auch als die Triebkomponente des agonalen Systems anzusprechen pflegt. Ferner gibt es die 4 Dollard,John/Doob,J./Miller, N. E.fMowrer, 0 . H./ Sears, R. R.: Frustrationand Aggression, New Haven 1939. 5 Moyer, Kenneth E.: The Physiology of Hostility, Chicago 1971.
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Aggressionsbereitschaft fördernde tonisierende Reizsituationen. Anhaltende Frustrationen würden in diese Kategorie fallen, und schließlich gibt es angeborene Lerndispositionen. Das für uns Menschen so ausgeprägte In- und Outgruppendenken und -handeln und die damit im Zusammenhang entwickelte leichte Indoktrinierbarkeit mit Gruppenwerten basiert auf ihnen. 6 lU. Vorprogrammierungen im Dienst aggressiven Verhaltens
Alle Leistungen des Verhaltens basieren auf Nervenzellen, die in bestimmter Weise untereinander sowie mit Sinnesorganen und Erfolgsorganen (Muskeln, Drüsen) verbunden sind. Diese Verbindungen wachsen zum Teil in einem Prozeß der Selbstdifferenzierung aufgrund der im Erbgut festgelegten Entwicklungsanweisungen heran, oft bis zur völligen Funktionsreife, ohne daß es dazu eines Lernens bedürfte, ähnlich wie sich auch andere Organsysteme in einem Prozeß der Selbstdifferenzierung bis zur Funktionsreife entwickeln. In solchen Fällen sprechen wir von angeborenen Leistungen oder von ihnen zugrunde liegenden stammesgeschichtlichen Anpassungen. Im Bereich des Verhaltens wird oft dazugelernt, wobei das Lernen seinerseits wieder durch vorgegebene Programmierungen so gelenkt wird, daß Tiere wie Menschen ihr Verhalten im allgemeinen adaptiv modifizieren. Zur Theorie des Angeborenen siehe K. Lorenz 7 und I. Eibl-Eibesfeldt 8 Im Rahmen der Aggressionsdiskussion wird oft die Frage gestellt, ob "die Aggression" dem Menschen angeboren sei. Eine derart simplizistische Frage wird ein Biologe kaum je stellen, denn er weiß, daß komplexe Verhaltenssysteme dieser Art bei Säugern kaum zur Gänze stammesgeschichtlich vorprogrammiert sind. Man muß differenzierter nach dem Anteil des Angeborenen in den motivierenden Systemen, den auslösenden Reizsituationen (Auslöser, angeborene Auslösemechanismen), den motorischen Abläufen (Erbkoordinationen) und schließlich den angeborenen Lerndispositionen fragen. Wir wissen heute, daß stammesgeschichtliche Anpassungen in allen diesen Bereichen auch bei uns Menschen eine entscheidende Rolle spielen. Ebenso gewiß ist jedoch, daß eine Vielfalt von Erfahrungen das aggressive Verhalten des einzelnen, ebenso wie der Menschen in Gruppen, ganz entscheidend beeinflussen. Es gibt Kulturen, die kriegerische Tugenden pflegen und die zur Gewalttätigkeit neigen, und andere, die man eher als friedlich bezeichnen würde. In allen Fällen spielt unter anderem das soziale Vorbild für das heranwachsende Kind eine entscheidende Rolle.
6 Eibl-Eibesfeldt, lrenäus: Warfare, Man's Indoctrinability and Group Selection, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 1982 (60), 5.177-198. 7 Lorenz, Konrad: Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikationen des Verhaltens, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 1961 (18), S.139-187. 8 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, 1986; Eibl-Eibesfeldt, lrenä us: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, München 1987.
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IV. Die Angst des Menschen vor den Mitmenschen 1. Im Alter von sechs bis acht Monaten beginnen Säuglinge, zwischen ihnen bekannten und fremden Personen zu unterscheiden. Während sie bis dahin jedermann, der sich ihnen freundlich zuwendete, anlächelten, zeigen sie nunmehr ihnen fremden Personen gegenüber ein deutlich ambivalentes Verhalten. Im typischen Falle lächeln sie den fremden Mitmenschen an, dann allerdings scheint es, als würde Angst in ihnen aufquellen, sie wenden sich wie schutzsuchend der Mutter zu, um sich nach einer kurzen Pause wieder freundlich dem Fremden zuzukehren. So pendeln sie zwischen Reaktionen der Zuwendung und Ablehnung hin und her. Bleibt der Fremde auf Distanz, dann befreundet sich das Kind mit seiner Gegenwart und faßt Zutrauen. Nähert sich jedoch der Fremde, ohne dem Kind Zeit zu lassen, sich an ihn zu gewöhnen, dann zeigt der Säugling oft panikartige Angstreaktionen und Abwehr. Diese Reaktion zeigen Kinder in allen bisher von uns untersuchten Kulturen. Es handelt sich um eine anthropologische Konstante. 9 Das Verhalten beruht nicht auf schlechten Erfahrungen mit Fremden. Auch Kinder, denen nie Böses von Fremden widerfuhr, zeigen diese Fremdenscheu. Sie reagieren gewissermaßen nach der Hypothese: "Fremde sind potentiell gefährlich", eine Annahme, die sich in der Phylogenese bewährte. Offenbar reagieren wir ab einem bestimmten Alter aufgrund von Reifungsprozessen auf bestimmte Signale des Mitmenschen angeborenermaßen mit Angst, während andere Signale freundliche Zuwendung auslösen. 2. Welche Signale beim Menschen im einzelnen Angst auslösen, bedarf noch der Untersuchung. Sicher ist, daß die Augen mit Ambivalenz wahrgenommen werden. Wollen wir mit einem Mitmenschen kommunizieren, dann müssen wir ihn zwar ansehen und damit signalisieren, daß die Kanäle für den Kontakt offen sind. Man muß allerdings darauf achten, daß dieser Blickkontakt nicht zu lange dauert und damit ins Starren eskaliert, denn das wird als bedrohlich empfunden. Wir nehmen darauf im Gespräch insofern Rücksicht, als Sprechende den Blickkontakt mit dem Partner immer wieder unterbrechen. Nur der Zuhörende darf dauernd schauen, denn er muß ja auch auf jene Signale achten, die ihm mitteilen, daß ihm nunmehr die Rede übergeben wird. Blickkontakt kann also auch bedrohlich einschüchternd wirken. Das gilt auch für andere Muster visueller Zurschaustellung, die oft kulturell unterstrichen werden. Beim Manne wird z. B. häufig die Schulter modisch betont, bei Naturvölkern z. B. durch das Aufbinden von Federn, auch die Körpergröße übertreibt man durch Federkronen und andere auffällige Kopfbedeckungen. Es gibt ferner eine hochdifferenzierte Drohmimik, die, soweit bekannt, zu den Universalien gehört. Zu den abweisenden Signalen gehören auch solche geruchlieber Art. Das männliche Pheromon Androstenol wirkt auf Männer abstoßend.
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3. Wir Menschen sind allerdings so konstruiert, daß die abstoßend und aggressionsauslösend wirkenden mitmenschlichen Signale vor allem dann wirken, wenn wir sie an einem Fremden wahrnehmen, wobei die Fremdenscheu um so stärker ist, je unähnlicher der Fremde den eigenen Gruppenmitgliedern ist. 10 Kennen Personen einander und sind sie einander überdies ähnlich, dann ist die Wirkung der agonalen Signale stark abgeschwächt und das Verhalten dem Mitmenschen gegenüber in Richtung auf Vertrauen verschoben. Diese Eigentümlichkeit unseres Verhaltens kam stammesgeschichtlich mit der Entwicklung der Familialität in die Welt. Sie bildet die Basis für dieUnterscheidungzwischen Gruppenmitgliedern ("Angehörigen") und Fremden. Diese Neigung zur Abgrenzung in Gruppen förderte die Entwicklung kultureller Vielfalt - Erikson 11 sprach recht treffend von "kultureller Pseudospeziation".
B. Die Stadtumwelt und ihre Auswirkungen I. Auswirkungen der urbanen Großgemeinschaft auf das Verhalten des einzelnen
1. Der Mensch lebte die längste Zeit seiner Geschichte in Kleinverbänden, in denenjeder jeden kannte, und in der daher das Verhalten dem Mitmenschen und Gruppenmitglied gegenüber durch ein grundsätzliches Vertrauen gekennzeichnet war. Erst in geschichtlich neuerer Zeit leben wir in anonymen Großgesellschaften, in denen wir es im Alltag vor allem mit Menschen zu tun haben, die wir nicht kennen. Das aktiviert unterschwellige Ängste, die sich im Verhalten spiegeln. Bornstein u. a. 12 hat die Gehgeschwindigkeit von Menschen in verschieden großen Städten gemessen und gefunden, daß sie mit der Größe der Städte und der Dichte ihrer Bewohner zunimmt. Menschen vermeiden ferner in der anonymen Gesellschaft den Blickkontakt. Ein Verhalten, von dem sichjeder überzeugen kann, der einen Hotelaufzug in einer Großstadt benützt. 13 Schließlich maskieren Menschen in der anonymen Gesellschaft ihren Ausdruck, denn wer durch sein Mienenspiel seine Stimmung verrät, lädt auch zur Kommunikation ein und macht sich verletzlich. Dieses Maskieren des Ausdrucks kann allerdings zu einer so festgefrorenen Haltung werden, daß Menschen zuletzt nicht einmal in ihrem Familienverband in der Lage sind, die Maske abzulegen, und dann der Kommunikationstherapie bedürfen. 1° Feinman, Sau!: Infant Response to Race, Size, Proximity and Movement of Strangers, in: Infant Behaviour and Development, 1980 (3), S. 187-204. 11 Erikson, Erik H.: Ontogeny of Ritualization in Man, in: Philosophical Trans. Roy. Soc. London B 1966 (251), S. 337-349. 12 Bornstein, Mare H. I Bomstein, HelenG .: The Pace of Life, in: Nature 1976, 14 (259), s. 557-558. 13 Goffman, Erving: Behaviour in Public Places: Notes on the Social Organisation of Gatherings, New York 1963 (Free Press Macmillan Pub!. Co.).
5 Bayer. Gewaltgutachten
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2. In der anonymen Gesellschaft wird der Mitmensch zum Stressor. Er aktiviert das agonale System und über dieses die beschriebenen Verhaltensweisen der Meidung. Menschen neigen in dieser Situation ferner dazu, im Umgang mit ihnen Unbekannten rücksichtsloser aufzutreten. Ihre agonalen Neigungen werden ja nicht durch Bekanntheit gebremst. Diese Situation wird von vielen Bewohnern der großen Städte als unbefriedigend erlebt. Sie beklagen sich über ein Zuviel an Kontakten mit ihnen Unbekannten, zugleich aber über die Einsamkeit in der Masse, denn ihnen fehlt die Einbindung in eine Gemeinschaft von Personen, mit denen sie dauerhaft verbunden sind. Infolge der Mobilität des modernen Städters wird der Freundeskreis durch Übersiedlung immer wieder zerrissen, und es dauert oft Jahre, bis ein neues soziales Netz engerer Beziehungen geknüpft ist. Der Mangel an Geborgenheit und die durch die Fremdkontakte aktivierte unterschwellige Angst schaffen eine Bereitschaft, sich Sicherheit bietenden Ideologien anzuschließen. Demagogen haben zu allen Zeiten verstanden, die Bindung über die Angst zu nutzen. Menschen, die ängstlich sind, reagieren durch Regression auf kindliche Verhaltensmuster. So wie das Kind bei Gefahr bei den Eltern Zuflucht sucht, so suchen ängstliche Erwachsene Schutz bei Persönlichkeiten, die Sicherheit versprechen. Für den Fortbestand einer liberalen Demokratie ist dies nicht gerade förderlich. Aber nicht nur die Meide- und Fluchttendenzen des agonalen Systems werden aktiviert. Es besteht auch eine größere Aggressionsbereitschaft wegen des Wegfalls der befriedenden Wirkung persönlicher Bekanntheit; ferner weil die soziale Situation als unbefriedigend und damit als frustrierend erlebt wird. Und Frustration fördert bekanntlich aggressives Verhalten. 3. Manche werden einwenden, daß die Anonymität ja auch Vorteile biete, schließlich könne man sich in der Großgesellschaft dem oft intoleranten Konformitätsdruck der Kleingesellschaft entziehen. Das stimmt und betrifft vor allem Menschen mit Sonderbegabungen, die in der Kleingesellschaft meist allein sind, da sie wenig Menschen finden, die ihre besonderen Interessen teilen. In der Stadt finden sie Partner und damit auch ihre Gemeinde. Wissenschaftler und Künstler haben es in dieser Beziehung sogar relativ leicht. Die meisten Menschen brauchenjedoch Nachbarschaft, mit denen sie nach Wunsch Kontakt herstellen können. Aus der Einbettung in eine solche Gemeinde gewinnen sie die Sicherheit, die es ihnen ermöglicht, auch fremden Mitmenschen freundlich und vertrauensvoll zu begegnen. II. Weitere Auswirkungen des urbanen Milieus 1. Zu den sozialen Frustrationen kommen weitere aus der nichtsozialen Umwelt. Hier wird vor allem die Naturferne beklagt. Die Stadtumwelt zeichnet sich durch eine Prädominanz toter Strukturen (Straßen, Gebäude) aus, dazu kommen als weitere Noxen der Verkehrslärm, die Luftverschmutzung und die
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Einengung der persönlichen Bewegungsfreiheit durch den Verkehr. Bei dem Bedürfnis nach Naturnähe handelt es sich um ein Primärbedürfnis, das sich aus einer phylogenetischen Prägung auf einen bestimmten, durch Pflanzenwuchs charakterisierten Lebensraum ergibt. Das belegt unter anderem unsere ausgesprochene Phytophilie 14, die uns dazu bringt, Ersatznatur in Form von Topfpflanzen in die Stadtwohnung zu tragen und die uns Parkanlagen mit offenen Wiesenflächen und eingestreuten Baum- und Buschgruppen gestalten läßt, gewissermaßen als Ersatzhabitat. 15 2. Durch den Straßenverkehr sind die Straßen ihrer ursprünglichen Funktion als Stätten sozialer Kommunikation entzogen. Das wirkt sich insbesondere auf die Kinder aus, deren Spieltätigkeit auf wenige dafür vorgesehene Orte beschränkt wird. In traditionellen Gesellschaften haben die Kinder ziemlich freien Auslauf und dabei auch noch große Freiheit in der Wahl ihrer Spielpartner. Kinder beiderlei Geschlechts und verschiedenen Alters bilden eine Gemeinschaft, und im Umgang mit anderen erwerben Kinder detailliertes Wissen über die Reaktionen ihrer Mitmenschen und so soziale Kompetenz. Unseren Kindern stehen meist nur noch Kinder etwa gleicher Altersstufe in Kindergarten und Schule als soziales Experimentierfeld (s. S. 49) zur Verfügung, ferner die Geschwister, falls vorhanden. 40 Prozent der Kinder unserer Gesellschaft sind heute Einzelkinder. Es mangelt daher vielen an sozialer Kompetenz. Beim Konfliktmanagement muß insbesondere Selbstbeherrschung und die Fähigkeit, den Partner zu beruhigen, gelernt werden. Da viele unserer Kinder wenig Geschick im Abwiegeln erwarben, eskalieren Streitigkeiten leicht. Dazu kommt das enge Zusammenleben in der Kleinfamilie ohne die Möglichkeit der Aussprache mit Dritten, was zu Spannungen führen kann. 3. Die Bereitschaft, eine Familie zu gründen und Kinder aufzuziehen, nimmt unter diesen Bedingungen zunehmend ab. Wir leben in der Stadt in einer kinderarmen Gesellschaft. Das ist einerseits demographisch bedenklich, da ja heute der größte Teil der Bevölkerung Deutschlands in einer städtischen Umwelt lebt. Außerdem wird eine kinderarme Gesellschaft zu einer lieblosen Gesellschaft. Kinder erwecken in uns die affiliativen, freundlichen Anlagen. Sie erziehen uns zu Rücksicht, Anteilnahme und zum Hintanstellen von Eigeninteressen. Daß wir zunehmend eine Gesellschaft selbstbezogener Rüpel werden, trägt sicher nicht zur Harmonisierung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens bei.
Eibl-Eibesfeldt, 1986. Orian, Gordon H.: Habitat Selection: General Theory and Applications to Human Behavior, in: Lockard, Joan S. (Ed.): The Evolution to Human Social Behavior, New York 1980, S. 49-66. 14 15
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111. Vorschläge zur Humanisierung der städtischen Umwelt
Die Ausführungen der vorangegangenen Abschnitte sollten nicht dazu verleiten, die urbane Umwelt pauschal negativ zu bewerten. Sie bietet auch ungeheure Vorteile. In der Kleingesellschaft steht der einzelne unter einem sehr starken Konformitätsdruck, unter dem außergewöhnliche Begabungen unter Umständen leiden. In der anonymen Gesellschaft kann sich der einzelne diesem Konformitätsdruck leichter entziehen. Außerdem findet er Partner, mit denen er künstlerische oder andere Interessen teilen kann, und zudem einen Markt für seine Produkte. Die kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Höchstleistungen unserer Zivilisation wären ohne die anonyme Großgesellschaft gar nicht möglich. Die Stadtumwelt bietet so viele Möglichkeiten beruflicher und kultureller Art, daß die Zuwanderung durchaus die Abwanderung überwiegt. Nur an den Wochenenden flüchten die Bewohner ins Grüne und nehmen dabei Stauungen und Unfälle in Kauf. Da die Stadt so viele Vorteile bietet, wäre es verfehlt, eine ländliche Idylle als Alternative anzubieten, ganz abgesehen davon, daß wir dazu schon zu viele sind. Wir müssen uns vielmehr Gedanken über Möglichkeiten der Humanisierung der Stadtumwelt machen. Die nach dem Kriege bis in die siebziger Jahre hochgezogenen Wohnblöcke erfüllen die Wohnzufriedenheit der Bewohner oft nur mangelhaft. Die Familien sind in den "Wohnsilos" wirksam voneinander isoliert, und sie empfinden außer ihrer sozialen Isolation auch die Naturferne als Entbehrung. Aggressionen richten sich gegen kommunale Einrichtungen wie Telephone, Aufzüge; die grauen Betonwände werden besprüht. Neuere Experimente haben gezeigt, daß man sowohl die sozialen Bedürfnisse als auch die nach Naturnähe im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus befriedigen kann. Auf den Plätzen der Wohnumgebung schaffen die Architekten Bühnen der Begegnung. Diese müssen so beschaffen sein, daß sie zum Verweilen einladen und so zwanglos Begegnungen herbeiführen. In Wien haben sich ferner Schwimmbäder auf den sozialen Wohnbauten als sozialintegrative Strukturen bewährt (Architekt Harry Glück: Alt-Erlaa, Wien-Meidling). Naturnähe kann man bei Terrassenhochbauweise durch begrünte Balkone und Grünanlagen in der Wohnumgebung erreichen. 16 In diesen Wohnanlagen haben sich in relativ kurzer Zeit Gemeinden gebildet. In Alt-Erlaa, einem für 6000 Menschen errichteten Siedlungsprojekt, bildeten sich in kurzer Zeit über zwanzig Vereine. Es bildete sich eine Gemeinde mit einer eigenen Gemeindezeitung. Vandalismus, der oft ein Problem darstellt, spielt hier eine geringe Rolle. Über die Einbettung in eine Gemeinde gewinnen Menschen an innerer Sicherheit, und das erlaubt es ihnen, auch fremden Menschen im Getriebe des Alltags vertrauensvoller und damit freundlicher zu begegnen. 16 Glück, Harry: Stadt und Lebensqualität, in: Eibl-Eibesfeldt, Irenäus j Hass, HansjFreisitzer, Kurt/Gehmacher, Ernst/Glück, Harry (Eds.): Stadt und Lebensqualität, Stuttgart 1985, S. 85-162.
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Im Rahmen des Wiener Modells des Bürgermeisters Helmut Zilk laufen verschiedene Projekte zum "Vollwertigen Wohnen". Die zum Teil bereits im Bau befindlichen Projekte werden von einer Projektbegleitgruppe beraten, und in Nachfolgeuntersuchungen soll durch ein Team von Umfrageforschem, Soziologen und Ethologen am Verhalten und subjektiven Befinden der Bewohner die Wohnqualität objektiv festgestellt und weitere Verbesserungsvorschläge erarbeitet werden. Stadtethologische Bemühungen dieser Art sind heute von größter Bedeutung. Wir wissen sehr wenig Konkretes über das Verhalten des Menschen in der städtischen Umwelt. Wir wissen nur eines mit Gewißheit: Es handelt sich um eine Umwelt, in der sich der Mitteleuropäer nicht mehr in genügendem Ausmaße fortpflanzt, und da heute die Mehrzahl der Menschen in Städten lebt, hat das bekanntlich bedenkliche demographische Folgen. Die städtische Umwelt muß eine familien- und kinderfreundliche Umwelt werden und darf nicht bloß verkehrsgerecht sein.
C. Das Bedürfnis nach Einbettung und Abgrenzung I. Die Bedeutung der familialen Einbettung
Rene Spitz 17 betonte in vielen Schriften, daß für das seelische und körperliche Gedeihen eines Kindes eine verläßliche Bezugsperson vorhanden sein muß. John Bowlby 18 hat dies in seiner biologischen attachment theory weiter belegt und begründet, und zahlreiche Untersuchungen haben das immer wieder bestätigt. In Gerichtsverhandlungen über Gewaltverbrecher können die Verteidiger immer wieder auf die lieblose Kindheit ihrer Klienten verweisen. Eine Erhebung von Kaiser 19 ergab, daß nur 5 % der Insassen der von ihm untersuchten deutschen Haftanstalten mit einer festen Bezugsperson aufgewachsen waren. 50% der Straffälligen hatten bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr einen mehr als fünfmaligen Wechsel der Bezugspersonen erlebt. Frühkindliche soziale Entbehrungen führen zu einem Sozialisationsdefizit, das sich unter anderem in Bindungslosigkeit und in einem Mangel an Vertrauen äußert und für die kriminelle Laufbahn anfällig macht. Die Bedeutung einer verläßlichen Bezugsperson für die Entwicklung des Kindes, vor allem in den ersten Lebensjahren, kann nicht oft genug betont werden. Es gibt dazu mittlerweile eine reiche Literatur, weshalb ich mir ein 17 Spitz, Rene: The First Year ofLife, New York 1965; Spitz, Rene: Die anaklitische Depression, in: Bittner, Günther / Schmid-Cords, Edda (Hg.): Erziehung in früher Kindheit, München 1968. 18 Bowlby, John: Attachment and Loss, in: Masud, M. / Khan, R. (Eds.): Separation and Anger, London, in: The International Psycho-Analytical Library 1973 (79). 19 Kaiser, Günther: Diskussionsbemerkung, in: Nitsch, Kurt (Hg.): Was wird aus unseren Kindern?, Heidelberg 1978, S. 34-45.
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näheres Eingehen auf die biologische Bindungstheorie erspare. Als ausgezeichneten Diskussionsbeitrag zu diesem Thema empfehle ich Hassenstein. 20 II. Die Einbettung in die größere Gemeinschaft: Nationalstaat oder multikultureUe GeseUschaft? 1. Für ein harmonisches Zusammenleben in einem Staat ist eine gewisse Verbundenheit der Bürger Voraussetzung. Das kann über eine gemeinsame Symbolfigur durch die Person eines Herrschers geschehen, wie das früher die Regel war, aber auch durch nationale Ideologien. Die europäischen Nationalstaaten wuchsen aus dem oft gewaltsamen Zusammenschluß näher verwandter Bevölkerungsgruppen, die sich durch das Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte und durch eine gemeinsame Sprache von anderen abgrenzten. Mitglieder eines solchen Staatsgebildes zeigen abgestufte Loyalität: Eine biologisch begründete, primäre Loyalität der Familie und individualisierten Kleingruppe gegenüber und die Loyalität dem größeren Stamm und Staatsverband gegenüber, der einer zusätzlichen ideologischen Bekräftigung bedarf. Das Idealbild des Helden, der sich ohne Rücksicht auf seine Familie für seinen Fürsten als den Vertreter der größeren Gemeinschaft aufopfert, ist ein oft wiederholtes Vorbild der Geschichte bis in die Gegenwart. In Maos China z. B. wurden Kinder gelobt, die ihre Eltern als Verräter denunzierten.
Die Identifikation mit der größeren Gemeinschaft geschieht um so leichter, je ähnlicher die im Staat miteinander Verbundenen sind, was auch soziobiologisch verständlich ist, gilt doch Ähnlichkeit als Zeichen biologischer Verwandschaft, und Überleben bedeutet nun einmal genetisches Überleben, d. h. in eigenen Nachkommen bzw. in Nachkommen naher Verwandter. Das Gruppenethos ist im Grunde ein erweitertes Familienethos. Bürger einer historisch gewachsenen Gemeinschaft identifizieren sich mit ihresgleichen aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache, des gemeinsamen Brauchtums und auch wegen ihrer biologischanthropologischen Ähnlichkeit mühelos. 2. In Kontrastbetonung zu anderen Ethnien führt diese Identifizierung oft zu einem Ethnozentrismus, der aggressive Züge tragen kann. Unsere eigene Geschichte ist dafür ein LehrbeispieL In einer gutgemeinten Reaktion darauf meint man nun, in unserem Lande einem neuerlichen Entgleisen in einen Nationalismus am besten zu begegnen, indem man den Nationalstaat überhaupt als überholt ablehnt, ja einige treten sogar für den Aufbau einer multiethnischen Gesellschaft in Mitteleuropa ein. Die traditionellen Nationalstaaten Eurpas sollten sich dazu für Immigranten öffnen und diese nicht zur Assimilation ermuntern. Assimilation, völkisch-kulturelle Integration werden weitgehend der Vergangenheit angehören- schreibt Heiner Geißler im Hinblick auf Deutschland. "Türken und Jugoslawen, Italiener und Spanier, Marokkaner und 20
Hassenstein, Bernhard: Verhaltensbiologie des Kindes, München 1973.
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Japaner, Tamilen und Inder, Iraner und Libanesen kann man nicht zu Germanen machen" (Spiegel13 / 1990, S.170). Mit dem Aufbau einer solchen multikulturellen Gesellschaft erwartet man dem Nationalismus endgültig den Stachel zu ziehen. Ist das aus ethologischer Sicht zu erwarten? - Gibt es vernünftige Gründe für die Annahme, daß eine multi-ethnische Gesellschaft zur Harmonisierung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens in Europa beiträgt? a) Meine Antwort darauf ist ein klares Nein! Menschen sind, wie sehr viele höhere Lebewesen, bestrebt, ihre Identität auf Individual- und Gruppenebene zu bewahren. Wir sprachen ja bereits von der Fremdenscheu als einer anthropologischen Konstanten. Bekanntheit baut sie ab, aber um so schwerer, je unähnlicher der Fremde der eigenen Gemeinschaft ist. Und es ist eigentlich nicht sonderlich schwer einzusehen, weshalb sich das in der Selektion bewährte. Überdies zählt der Mensch zu den territorialen Arten. 21 b) Abgrenzung und damit Bewahrung der Identität ist ein Grundverhalten organischen Lebens, ebenso wie es auf der anderen Seite die Kommunikation mit der Umwelt und damit eine gewisse Offenheit ist. Beides muß in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Nun lehrt die Geschichte der europäischen Binnenwanderung, daß Einwanderer sich in der Regel schnell in ihre neue Gemeinschaft integrieren. Die Hugenotten, die nach Deutschland einwanderten, wurden Deutsche, ebenso die Polen. Anthropologische Gleichheit und wohl auch eine basale kulturelle Verbundenheit erleichtern dies. Bei Einwanderern jedoch, die aus kulturell nicht dem "Abendland" zuzuschreibenden Ländern stammen, ist dies dagegen nicht zu erwarten. Hier wird es voraussichtlich zu einer Abgrenzung von beiden Seiten kommen, wobei die autochthone Bevölkerung die Einwanderer als Eindringlinge und - kommen sie in großer Zahl - auch als bedrohlich wahrnehmen wird. Unübersehbare Anzeichen dafür gibt es in allen europäischen Staaten. Die nach Frankreich eingewanderten Nordafrikaner bilden bereits einen sich vom Wirtsvolk abkapselnden Bevölkerungsblock. Selbst wenn diese Menschen französisch sprechen, werden sie keine Franzosen. Sie grenzen sich als Moslems und Nordafrikaner (Marokkaner, Algerier etc.) ab und können sich gar nicht mit der gallisch-romanisch-fränkischen Geschichte ihrerneuen Heimat identifizieren. Ihre Grundhaltung dem Staat gegenüber ist weniger von Loyalität gekennzeichnet denn von eigennützigen Erwägungen. Das ist ihnen gar nicht vorzuwerfen. Wir würden in einer vergleichbaren Situation ähnlich handeln, allen freundlichen Appellen zum Trotz. c) Da die Fortpflanzungsraten verschiedener Menschengruppen unterschiedlich sind und die Kinderzahl der Einwanderer aus den nicht-europäischen Ländern im allgemeinen höher ist als die der angestammten Bevölkerung, kommt'es zur Verschärfung der zwischenethnischen Konkurrenz. Die eingeses21
Eibl-Eibesfeldt, 1986; Eibl-Eibesfeldt, 1975.
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sene Bevölkerung muß daher befürchten, auf die Dauer bevölkerungsmäßig bedrängt zu werden, wobei sich die Konkurrenz um karge Ressourcen verschärft. Das muß nicht so sein, aber es gibt genügend Beispiele dafür aus anderen Teilen der Welt. Daher darf eine verantwortliche Regierung sich auf derartige bevölkerungspolitische Experimente gar nicht erst einlassen. Wer diese Entwicklungsmöglichkeiten gar nicht in Erwägung zieht, handelt unverantwortlich und trägt sicher nicht zum inneren Frieden bei. Ich habe die Problematik kürzlich an anderer Stelle erörtert, was mir Schelte eintrug, aber ich kann nicht anders, als ausdrücklich auf diese Gefahren hinzuweisen. d) Gerade wenn man an einem friedlichen Zusammenleben der Völker und dem inneren Frieden interessiert ist, darf man ihn nicht durch unvernünftige Maßnahmen gefährden. Und unvernünftig wäre es, ein Land wie das unsere als Einwanderungsland zu öffnen mit dem Ziel, eine multi-ethnische Gesellschaft aufzubauen. Dagegen sprechen neben den bereits angeführten im menschlichen Sozialverhalten angelegten Dispositionen auch ökologische Gründe- Europa ist schließlich ein übervölkerter Kontinent. Man beklagt die zunehmende Umweltbelastung durch Abwässer, Gifte, die zunehmende Verbauung mit Straßen. Die gegenwärtige Bevölkerung lebt davon, daß wir unsere Industrien mit fossilen Brennstoffen betreiben, unsere Äcker maschinell bearbeiten und künstlich düngen, all dies durch den Einsatz unersetzbarer Ressourcen. Ein gewisses Gesundschrumpfen der Gesamtbevölkerung wäre alsAnpassungsprozeß durchaus zu begrüßen. Statt dessen baut man weiter einen Bevölkerungsüberhang aufund programmiert damit die Katastrophe der Zukunft, denn noch zeichnet sich nicht ab, wie wir nach dem Verbrauch der fossilen Brennstoffe unseren Energiebedarf decken. e) Die Bundesrepublik lebt ferner vom Export. Sich so zu verhalten als würde es nie Wirtschaftskrisen geben, als könnten wir immer aus dem Vollen schöpfen und daher allen Einwanderern in alle Zukunft Sicherheit bieten, ist unverantwortlich, sowohl den Einwanderern als auch dem eigenen Volk gegenüber. Bereitsjetzt gibt die repräsentative Demokratie dem Volke mehr als es abfordert und belastet damit die kommende Generation über Staatsverschuldung. 3. In der Diskussion wird immer vorgebracht, man könne die Notleidenden gar nicht fernhalten und die Grenzen schließen. Haben wir unsere Souveränität eingebüßt? Bestimmt die Dritte Welt unsere Gesetze? Oder meint man das moralisch? Dann wäre darauf zu antworten, daß man moralisch auch seinen Enkeln verpflichtet ist, und daß unsere Politiker schwören, die Interessen des deutsc,hen Volkes zu vertreten. Das tun sie nicht, wenn sie ihr Land an Fremde abtreten. Außerdem hilft man damit nicht der Dritten Welt. Der wäre nur geholfen, wenn Not und Verfolgung in deren eigenen Ländern beseitigt würde. Das würde den Zwang, auszuwandern beseitigen. Im übrigen müssen wir es auch der Eigenverantwortlichkeit der Länder der Dritten Welt überlassen, wie sie ihre Angelegenheiten regeln. Für deren Fortpflanzungsverhalten können wir nicht verantwortlich zeichnen, das wäre eine Anmaßung. Wir können nur beratend und wirtschaftlich helfen.
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Keine Hilfe ist es dagegen, wenn die europäischen Staaten sich zu Einwanderungsländern erklärten. Selbst wenn wir Millionen aufnähmen, was der Selbstzerstörung durch eine selbst herbeigeführte genetische Verdrängung gleichkäme, wäre nicht geholfen, denn in der Dritten Welt leben mittlerweile Hunderte von Millionen in Not oder am Rand des Existenzminimums. Wir liefen nur Gefahr, selbst in den Sog der Verarmung zu geraten, und würden uns damit jede Möglichkeit nehmen, anderen zu helfen. Spricht man das aus, dann wird man heute gern als "Ausländerfeind" verteufelt. Das ist reine Demagogie. Ich bin für einen ethnischen Pluralismus, aber bei territorialer Trennung. Als Biologe liebe ich die Vielfalt, mit der sich das Leben absichert, und die wird am besten erhalten, wenn jedes Volk sich um die Erhaltung seiner Kultur bemüht. Das muß nicht in einem Gegeneinander der Ethnien erfolgen. Wir sind durchaus in der Lage, eine kooperative Weltgemeinschaft der Völker zu bilden. Klare territoriale Abgrenzung ist dafür der beste Garant. Bei der Diskussion der Problematik ist auch zu bedenken, daß unsere Art demokratischer Regierung mit einer gewählten Mehrheit nur in Nationalstaaten problemlos funktioniert. In multi-ethnischen Staaten zementiert man nach diesem Prinzip leicht Fremdherrschaft, da die ethnischen Minoritäten in diesem Fall immer auf den guten Willen der ethnischen Mehrheit angewiesen sind. Selbst freundliche Dominanz wird jedoch auf die Dauer unerträglich.
D. Zur Eskalation neigende agonale Verhaltensmuster I. Zur Problematik des Rangstrebens
1. Bei sehr vielen in Gruppen lebenden Säugern führt die Konkurrenz der Gruppenmitglieder zur Ausbildung von Rangordnungen. Ranghohe haben Vortritt zu gewissen knappen Ressourcen, erfüllen aber auch für die Gemeinschaft wichtige Funktionen. Hat sich in einer Gruppe eine Rangordnung gebildet, dann hören die Rangstreitigkeiten vorübergehend auf, bis neue "Aufsteiger" den Etablierten den Rang streitig machen. Zur Ausbildung einer Rangordnung bedarf es einerseits der Motivation, nach einer höheren Rangposition zu streben, andererseits der Bereitschaft der im Wettstreit Unterlegenen, sich anzupassen, indem sie ihre rangniedere Position vorübergehend akzeptieren und Gefolgsgehorsam zeigen. Beides ist beim Menschen stark ausgeprägt. Der Mensch neigt in ganz besonderem Maße dazu, Schwächen seiner Mitmenschen zu bemerken und, wie Musil es einmal ausdrückt, "über diese herzufallen wie eine Katze über einen krabbelnden Käfer". Das ist wohl auch der Grund, weshalb Menschen so bemüht sind, vor anderen keinerlei Schwächen zu zeigen und stets das Gesicht wahren.
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Ranghohe erkennt man bei den Primaten daran, daß sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Um das objektiv zu bestimmen, braucht man nur auszuzählen, wer von den Mitgliedern einer Gruppe am meisten angesehen wird. 22 Daß Ansehen auch bei uns Menschen ein zentrales Anliegen des einzelnen ist, drückt sich bereits in dem Wort aus. Wir bemühen uns, Ansehen zu erlangen. Ranghohe plazieren sich in der Sitzordnung so, daß sie im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen, und alle unsere sozialen Interaktionsstrategien, auch jene freundlicher Art, sind davon bestimmt, daß wir unser Ansehen wahren. 23 Verlust des Ansehens bedeutet Verlust der Rangstellung und damit auch Einschränkung der Freiheit selbstbestimmenden Handelns. Die von uns so erstrebte Freiheit bedeutet ja immer Freiheit von Dominanz. Wir wollen nach eigenem Entschluß handeln und nicht unter dem Zwang der Fremdbestimmung. Und je höher wir im Rang steigen, desto weniger sind wir eingeschränkt. 2. Das Rangstreben selbst ist uns angeboren. Rangordnungen bilden sich in Kindergruppen verschiedener Kulturen und in Europa in Kindergärten verschiedenen Erziehungsstils. 24 Ranghohe Kinder zeichnen sich dadurch aus, daß sie Spiele organisieren, Initiative zeigen, Streit schlichten, teilen und notfalls ihre Position auch verteidigen können. Sie werden von den Rangniederen gefragt. Ihnen zeigt man Dinge, man bemüht sich um ihre Freundschaft, und sie stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es sind also keineswegs nur agonale Eigenschaften, die eine ranghohe Persönlichkeit auszeichnen. Im Gegenteil, das affiliative Vermögen zählt höher. In diesem Punkt unterscheiden sich die Rangordnungsverhältnisse höherer Primaten deutlich von jenen der niederen Wirbeltiere, die rein agonale Dominanzbeziehungen herstellen. Die "Hackordnung" der Hühner ist das klassische Beispiel dafür. Dominanzbeziehungen dieser Art gibt es bereits bei Reptilien. Wir müssen bei der Diskussion des Phänomens der Rangordnung zwischen Dominanz und Führungspositionen unterscheiden. Dominanz wird durch Gewalt erzwungen. Zur Führungsposition gehört die Anerkennung durch die Gefährten, um deren Gunst die Führung werben muß. Man muß vor der Führungspersönlichkeit allerdings auch Respekt haben. Der Begriff "Ehrfurcht" drückt dies recht treffend aus. 3. Gelegentlich hört man von egalitären Gesellschaften, und mancher wird glauben, daß es sich hier vielleicht um Gesellschaften ohne Führung handelt. Das ist nicht der Fall. Im egalitären Rotchina herrschte einst Mao mit einer Führungselite. Egalität ist oft ein Mittel der Herrschaft! Dadurch, daß man 22 Chance, Michael R. A.: Attention Structures as the Basis of Primate Rank Orders, in: Man 1967 (2), S. 503-518. 23 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1984. 24 Hold, Barbara: Rangordnungsverhalten bei Vorschulkindern, in: Homo 1974 (25), S. 252-267; Hold, Barbara: Attention Structure and Rank Specific Behavior in Pr~ School Children, in: Chance, Michael R. A./Larsen, Ray R. (Eds.): The Social Structure of Attention, London 1976, S. 177-201.
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gewaltsam die Ausbildung konkurrierender Rangpyramiden verhindert, sichern sich die herrschenden Eliten ihre Führungspositionen. Dafür gibt es noch andere Beispiele. Bei den Maoris Neuseelands herrschte der Brauch, Personen, die Besitz ansammelten, unter irgendeinem Vorwand zu plündern. Nur die Häuptlinge waren davon ausgeschlossen. 4. Das menschliche Rangstreben zeigt deutliche Beziehungen zum Hormonspiegel. Androgene wirken fördernd auf die aggressive Handlungsbereitschaft. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß bei Tennisspielern nach einem Sieg der Blut-Testosteron-Spiegel ansteigt, bei Niederlage dagegen signifikant absinkt. Das gilt auch für Gewinn und Niederlage im geistigen Bereich. Bei Medizinstudenten, die ihre Prüfung erfolgreich bestanden, stieg der BlutTestosteron-Spiegel an, und er sank bei jenen, die durchgefallen waren. 25 Das menschliche Rangstreben ist somit durch eine Reihe von stammesgeschichtlichen Anpassungen vorprogrammiert. Während jedoch die meisten Antriebe durch eine abschaltende Endsituation (Sättigung) zu einem Ende kommen - man denke an Hunger und Durst - ist eine solche Absicherung beim Rangstreben nicht gegeben. Es bestand offenbar in der steinzeitliehen Kleingesellschaft kein entsprechender Selektionsdruck, der für eine Absicherung des Machtstrebens gesorgt hätte. Zunächst wohl, weil das Rangstreben in kleinen Verbänden, in denen jeder jeden kennt, ebenso wie andere Formen der Aggression gemildert ist. Außerdem war das Machtpotential, das eine Person an sich raffen konnte, begrenzt. Die Offenheit des Machtstrebens schadete in den archaischen Gesellschaften der Kleinverbände, in denen die Menschen bis vor kurzem lebten, nicht. Heute jedoch steht den nach Macht Strebenden ein ungeheures Potential an Menschen und Technik zur Verfügung, und nach Hitler ist der Gedanke, ein Verrückter könnte versuchen, die Weltmacht an sich zu reißen, wohl keineswegs absurd. Dazu kommt verschärfend, daß der Mensch in der anonymen Gesellschaft ja, wie bereits ausgeführt, grundsätzlich rücksichtsloser auftritt. In der Kleingesellschaft könnte der Einzelne die Führungseigenschaften eines Gruppenmitgliedes überdies ziemlich verläßlich einschätzen. Man kannte einander ja durch viele Jahre des Zusammenlebens. In der anonymen Gesellschaft läuft der Wähler Gefahr, auf Blender hereinzufallen. Ein Grund sich Gedanken über einen besseren Kompetenznachweis von Führungspersönlichkeiten zu machen. Wahlreden allein dürften in Zukunft dazu kaum ausreichen. Auch das Gegenstück zum Rangstreben, die Bereitschaft zum Gefolgsgehorsam, hat ihre Schattenseiten. Stanley Milgram 26 zeigte in seinen Experimenten in erschreckender Weise, daß Gehorsam oft stärker ist als das Mitleid.
25 Mazur, Alan/Lamb, Theodore A.: Testosterone, Status and Mood in Human Males, in: Hormonesand Behavior 1980 (14), S. 236-246. 26 Milgram, Stanley: Obedience to Authority: An Experimental View, New York 1974.
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II. Die explorative Aggression Aggression ist in allen Lebensphasen auch ein Mittel aktiven Erkundens. Kleine Kinder stellen durch aggressive Akte Fragen an ihre soziale Umwelt: Wie weit kann ich gehen, was ist erlaubt, wo sind die Grenzen? Ältere stellen die gleiche Frage und prüfen überdies so die Festigkeit hierarchischer Führungsstrukturen. Kleine Kinder provozieren Konflikte, indem sie z. B. anderen Objekte wegnehmen, Aufforderungen nicht beachten, andere necken, gegen Regeln verstoßen. Sie beobachten das Verhalten der Partner. Unterbleibt auf diese Anfrage eine Antwort, dann liegt es im Wesen der aggressiven Exploration, daß sie eskaliert. Das Kind geht dann von der Annahme aus, daß sein Verhalten akzeptiert wurde, und versucht nun, durch ein weiteres Stecken der Grenzen seinen sozialen Handlungsspielraum auszuloten. Es war u. a. der Irrtum der permissiven Erziehung, daß sie annahm, jedes Verbot würde als Frustration die Aggression fördern, und daß sie dementsprechend Verbote in der Erziehung vermied. Das führte nicht dazu, daß besonders friedfertige Menschen heranwuchsen, vielmehr erwiesen sich die so erzogenen Kinder in ihren Aggressionen als ungezügelt und unbeherrscht. 27 Die Strategie der explorativen Aggression beschränkt sich nicht nur auf das Kindesalter. Jugendliche, aber auch die Herrscher junger Staaten und Angehörige von Subkulturen wenden sich so an ihre Umwelt. Wann immer eine Person oder eine Gruppe in eine neue Phase ihrer Entwicklung eintritt, tastet sie ihren neuen sozialen Handlungsspielraum ab, und auch hier gilt, daß die Verweigerung einer Antwort zur Eskalation der Anfrage führt. Während am Anfang ein klärendes Gespräch, ein deutliches, aber freundliches "Nein" den Konflikt bereinigen kann, bedarf es bei der Eskalation in der Regel zunehmend repressiver Maßnahmen, um der eskalierenden Aggression Einhalt zu gebieten. Die Eskalation vom Verbrennen der amerikanischen Fahnen zur Geiselnahme im Iran ist noch in frischer Erinnerung. Es wäre jedoch falsch, die explorative Aggression wegen ihrer Gefahr der Eskalation negativ zu bewerten. Sie lehrt, daß ein Kind eben nicht bloß passiver Empfanger von Unterweisungen ist, sondern sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzt und den Partner zum Dialog herausfordert. Die Bereitschaft zu lernen besteht, und Eskalationen sind nur dann zu befürchten, wenn die Anfrage ohne Antwort bleibt. 111. Normerhaltende Aggression, Außenseiterreaktion In Menschengruppen herrscht ein starker Normierungsdruck. In der Kleingruppe war es sicher vorteilhaft, wenn Menschen sich an die für die Gruppe üblichen Umgangsformen hielten. Abweichungen von der Norm machten das Verhalten für die übrigen Gruppenmitglieder unvoraussagbar. Damit wurde der 27 Rothchild, JohnfWolf, Susan B.: The Children ofthe Counterculture, Garden City, N. Y., 1976.
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sich abweichend Verhaltende auch potentiell gefährlich. Dies war wohl einer der entscheidenden Selektionsdrucke, die eine normerhaltende Aggression bewirkten. Sie äußert sich beim Menschen darin, daß sich abweichend Verhaltende zunächst Zielscheibe des Spottes werden. Man lacht sie aus, hänselt sie, indem man durch Nachahmen das Verhalten, an dem man Anstoß nimmt, herausstellt und den Außenseitern mit Spottgebärden gegenübertritt. Die Verhaltensmuster der normerhaltenden Aggression gehören zu den Universalien. Durch sie wird ein Druck auf den Außenseiter ausgeübt, der ihn zwingt, sich anzupassen. Gelingt dies nicht, kann Ausstoßreaktion die Folge sein. Diese Reaktion gehört zu den phylogenetischen Belastungen, denn wie wir alle wissen, sind in unserer pluralistischen Gesellschaft Außenseiter oft Menschen mit besonderen, etwa künstlerischen oder wissenschaftlichen Begabungen. Wir erziehen daher gegen das Auslachen und Spotten; es bedarf aber eines starken erzieherischen Druckes, um der Neigung entgegenzuwirken, der bereits Kindergartenkinder folgen. Die Neigung zum Auslachen ist lustvoll, wie die Witzseiten in Zeitschriften lehren. In der anonymen Gesellschaft ist es für den einzelnen leichter, dem Norrnierungsdruck zu entgehen, vor allem, wenn er sich äußerlich angleicht, wie wir das in der Alltagskleidung auch zu tun pflegen. Sich auffällig anders Verhaltende sind jedoch auch hier Zielscheibe des Spottes und anderer normierender Aggressionen bis hin zur Ausstoßreaktion. Mit der Ausstoßreaktion schlägt das Verhalten um. Das Gruppenmitglied wird nicht mehr als solches angenommen, sondern zum Fremden erklärt. Xenophobe Reaktionen setzen ein. Normerhaltende Aggressionen und Ausstoßreaktionen finden wir bereits bei unseren nächsten Verwandten. Jane Goodall beschrieb sehr eindrucksvoll, wie freilebende Schimpansen aufGruppenmitglieder, die durch Kinderlähmung ein verändertes Verhalten zeigten, mit heftigen Aggressionen reagierten. Dabei handelte es sich bei den Erkrankten um Gruppenmitglieder, die zuvor voll integriert waren und die keineswegs einen niedrigen Rang innehatten.
E. Natürliche Gegenspieler der Aggression 1. Ein Tier, das so kämpft, daß es seine artgleichen Feinde verletzt und tunliehst vernichtet, verfolgt eine Strategie hohen Risikos. Soziobiologische Modellrechnungen haben gezeigt, daß es sich daher aus dem jeweiligen genetischen Eigeninteresse und nicht aus Gründen der Rücksichtnahme auf andere Artmitglieder "lohnt", Verhaltensweisen zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Rivalen unblutig aneinander messen können. Bereits Fische entwickelten dazu Tumierkämpfe, die nach festen Regeln ablaufen und die der Verlierer mit einer Verhaltensweise der Unterwerfung beenden kann. Solche Demutsgebärden hemmen weitere Aggressionen des Siegers, oder sie schalten sie auch ab. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn durch Demutsgebärden aggressionsauslösende Signale abgeschaltet oder sonstwie neutralisiert und damit unwirksam gemacht
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werden, etwa indem sich der Verlierer gemäß dem von Darwin beschriebenen Prinzip der Antithese kleiner macht, was ja genau das Gegenteil zum Drohimponieren ist. Turnierkämpfe kennt man von den Reptilien bis hinauf zu den Säugern. Zwischen Reptilien einerseits und den Vögeln und Säugetieren andererseits besteht jedoch ein entscheidender Unterschied. Reptilien kennen nur ein Sozialverhalten, das auf Dominanz und Submission aufgebaut ist. Verhaltensweisen der Zuneigung sind ihnen fremd. Selbst ihr Paarungsverhalten zeigt keinerlei Anzeichen von "Freundlichkeit". Die Männchen drohimponieren, paarungsbereite Weibchen unterwerfen sich. 28 Vögel und Säuger werben dagegen, indem sie einander "Freundlichkeiten" erweisen. Sie bieten einander Nahrung an, füttern einander, kämmen einander Fell oder Federn in sozialer Körperpflege durch, lecken einander ab, kurz sie setzen Verhaltensweisen ein, die man als abgeleitete Brutpflegehandlungen erkennen kann. Dazu paßt, daß sie beim Werben auch von kindlichen Appellen abgeleitete Verhaltensweisen einsetzen. So folgt ein werbender Hamster seinem Weibchen, indem er wie ein Jungtier fiept, das aus dem Nest fiel. 29 Mit der Brutpflege kam gewissermaßen das Instrumentarium zum Freundlichsein in die Welt in Form von Brutpflegehandlungen und den sie auslösenden infantilen Appellen. Beide erwiesen sich als Voranpassungen, die beim Werben und dauernden Zusammenleben zur Bandstiftung und Bandbekräftigung eingesetzt werden konnten. Sie erfuhren im Dienste dieser neuen Funktion mancherlei Abänderung. So wurde das Brutpflegefüttern bei verschiedenen Finkenvögeln zum "Schnäbeln" ritualisiert, eine Symbolhandlung ohne Futterübertragung. Der Mongozmaki verwendet eine ritualisierte Fellkämmhandlung als GrußrituaL Er macht mit demUnterkieferdie Fellkämmbewegung in die Luft. Aber nicht nur das Verhaltensrepertoire, auch die Motivation zu betreuen ebenso wie die Betreuung zu suchen kam mit der Brutpflege. So besteht bei vielen Säugern ein Bedürfnis nach den Streicheleinheiten der sozialen Hautpflege. Junge isoliert gehaltene Ratten gedeihen besser, wenn man sie täglich nach einer bestimmten Routine mit einem Pinsel streichelt, als Kontrolltiere ohne eine solche Behandlung. Darüber hinaus kam mit der Brutpflege die Fähigkeit in die Welt, individualisierte ("persönliche") Bindungen mit anderen einzugehen. Bei vielen Arten, die längerer Brutpflege bedürfen, war es ja notwendig, daß Mutter und Kind einander nicht verloren. Um das zu gewährleisten, entwickelten Mutter und Kind die Fähigkeit, einander zu erkennen. Affiliativ-fürsorgliches Verhalten beschränkte sich auf die eigenen Jungtiere. Diese wiederum fordern bevorzugt die eigene Mutter zur Brutpflege auf. Eibl-Eibesfeldt, 1986. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Zur Ethologie des Hamsters (Cricetus cricetus L.), in: Zeitschrift für Tierpsychologie 1953 (10), S. 204- 254. 28
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Man kann das Auftreten der Brutpflege bei den Wirbeltieren als Sternstunde in deren Verhaltensevolution bezeichnen. 30 Mit ihr kam die Fähigkeit zu affiliativem Verhalten in die Welt. Die alten Dominanz-Submissions-Mechanismen blieben erhalten, sie kamen aber für bestimmte Kategorien von Artmitgliedern unter affiliative Kontrolle. Zunächst waren das die Mitglieder der unmittelbaren Familie. Bei paarbildenden Arten sind die Eltern affiliativ verbunden, ferner die Eltern mit ihren Kindern und diese- zumindest während der Phase ihres Beisammenseins - untereinander. Die affiliativ bindenden Signale wirken in erster Linie auf die miteinander familial Verbundenen. Familienfremden gegenüber gewinnen agonale Verhaltenstendenzen die Oberhand, wie bereits in einem der vorhergehenden Abschnitte ausgeführt wurde. Kindchensignale hemmen Aggressionen und sie lösen Beistand aus. Sie werden daher oft zur Bechwichtigung eines Angreifers eingesetzt. Im Rangkampfunterlegene Wölfe werfen sich vor dem Sieger auf den Rücken. Sie bieten sich in dieser Stellung wie ein Welpe der Mutter zur Säuberung dar. Das stimmt den Angreifer häufig um, und was als Rauferei begann, kann in einem Spiel enden. Allerdings gilt dies nur zwischen Gruppenmitgliedern. Manche dieser Appelle sind aber so stark, daß sie auch auf fremde Artgenossen wirken. So beschrieb Lorenz, daß bei einigen Entenarten fremde Enten auf denNotrufeines Kükens herbeieilen und das Junge retten, dann allerdings töten, wenn sie es als ein Fremdes erkannten. Tinbergen beschreibt, daß die Weibchen der Lachmöve bei der Paarbildung durch infantiles Futterbetteln die Angriffe der Männchen beschwichtigen. So können auch Fremde einander näherkommen. * Mit der Entwicklung der Brutpflege kamen demnach Verhaltensweisen in die Welt, die Bindung und quasifamiliale Öffnung auch fremden Artgenossen gegenüber gestatteten. Und es scheint sich in der Selektion bewährt zu haben, wenn in Kleingruppen auch nicht unmittelbar Blutsverwandte - aber sicher genetisch nah Verwandte - miteinander quasifamilial verbunden waren, so daß sie als geschlossene Gruppen Einheiten in Konkurrenz mit anderen darstellten, an denen die Selektion ansetzte.31 Bei den Säugetieren ist die Fähigkeit, sich mit anderen zu größeren geschlossenen Verbänden zusammenzuschließen, begrenzt. Wo individuelle Bekanntheit Voraussetzung ist, setzt die Fähigkeit, einander persönlich wiederzuerkennen, der Gruppengröße eine Grenze, sieht man von ökologischen Faktoren, wie der Fähigkeit eines Gebietes, die in ihm ansässige Population zu ernähren, einmal ab. Es gibt Nager, die über einen gemeinsamen Gruppenduft zusammenhalten, ohne einander einzeln zu kennen. Aber auch hier sind 30 Eibl-Eibesfeldt, 1986; Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, München 1970. * Bei den Lachmöven haben beide Geschlechter eine schwarze Gesichtsmaske. Da dies ein aggressionsauslösendes Signal ist, haben auch die Vögel verschiedenen Geschlechts Schwierigkeiten, einander nahe zu kommen. 31 Eibl-Eibesfeldt, 1982.
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Grenzen gesetzt. Bei der Wanderratte müssen die Tiere einander markieren, um diesen Gruppenduft zu erhalten, und das wird ebenfalls ab einer gewissen Individuenzahl unmöglich. 2. Erst dem Menschen erwuchs die Begabung, sich zu Millionenverbänden zusammenzuschließen. Auch er bildet dazu Merkmale der Gemeinsamkeit die gemeinsame Sprache, gemeinsame Bekenntnisse, gemeinsames Brauchtum, Symbole, Tracht und dergleichen mehr. Es handelt sich um kulturelle Merkmale, die eine Identifikation mit dem anderen ermöglichen. In den Nationalstaaten fassen sie auch durch gemeinsame Abstammung näher Verwandte und daher auch eine biologisch-anthropologisch ähnliche Bevölkerung zusammen. Bei gegenseitigem Beistand fördern die Mitglieder solcher Nationen daher in der Regel auch genetisch Verwandte, auch dann, wenn es sich nicht um unmittelbare Blutsverwandte handelt. Die Loyalitäten innerhalb der Gruppe sind abgestuft. Blutsverwandte halten enger zusammen als Nicht-Verwandte, und Loyalität gegenüber den unbekannten Mitgliedern einer Nation muß ideologisch immer von neuem bekräftigt werden.** Sie übersteigt gewissermaßen das, was die natürliche uns angeborene Neigung vorgibt. Hier werden wir erst über unsere zweite Natur, die Kultur, gebunden. Unsere Indoktrinierbarkeit mit Gruppenwerten bildet allerdings dafür die angeborene Grundlage. Eine weitere Grundlage bildet unsere Fähigkeit zur Mitempfindung und Sympathie sowie die Tatsache, daß wir Menschen über ein gemeinsames, uns allen eigenes Repertoire uns angeborener Ausdrucksbewegungen verfügen. 32 Die Wirksamkeit der Mitgefühl erweckenden Signale wird zwar wie erwähnt durch Fremdheit abgeschwächt, aber nie ganz ausgeschaltet. Mitmenschlichkeit wächst ferner aus dem Wissen um die kulturellen Leistungen der anderen. Aufgeklärte Menschen wissen, was sie anderen Kulturen verdanken, und daraus wächst zusätzlich ein Gefühl der Verpflichtung. All dies leitet seit etwa zwei Jahrtausenden eine humanitäre Entwicklung ein, die zu einem Menschheitsbewußtsein führte. Die Entwicklung wurde in diesem Jahrhundert durch die neuen Kommunikationstechniken gefördert. Das Fernsehen bringt uns heute Menschen auch ferner Länder nahe. Entscheidend für die weitere Entwicklung ist unsere Zielsetzung. Wir sind die ersten Wesen auf dieser Erde, die zu einer solchen befähigt sind. Es dürfte heute grundsätzliche Übereinstimmung herrschen, daß wir ein harmonisches Zusammenleben der verschiedenen Völker dieser Erde in Frieden erstreben sollten. Über die Wege dahin und die damit anzustrebenden Zwischenziele gehen die Meinungen allerdings auseinander. Hier sollten wir uns von Einsicht ebenso wie von Liebe leiten lassen, aber nicht mit einseitiger Betonung des Einen oder Anderen, dennjede Übertreibung macht selbst aus einer Tugend eine Untugend. Eine rein rational am eigenen genetischen Überleben orientierte Überlebensstra-
** So wird in Liedertexten die Loyalität zur Gruppe als höherer Wert hingestellt als die Loyalität zur Familie. 32 Eibl-Eibesfeldt, 1986.
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tegie könnte mit kaltem Kalkül nach unserem Dafürhalten und Empfinden inhumane Vorgehensweisen propagieren. Die Natur kann hier für uns kein Vorbild sein, denn sie zeichnet sich in weiten Bereichen durch Rücksichtslosigkeit aus. Wir Menschen haben aber eine neue Bewußtseinsstufe erreicht, in der wir die Einmaligkeit allen Lebens erkennen. Daraus erwächst uns ein neues Verantwortungsgefühl gegenüber Mitmenschen, aber auch gegenüber Lebewesen anderer Art. Eine einseitig an der Liebe und am Mitgefühl ausgerichtete Ideologie könnte ebenfalls in die Irre führen, dann nämlich, wenn man darüber das legitime genetische Eigeninteresse so weit vergißt, daß man darüber Gefahr läuft, selbst aus der Evolution mangels Nachkommen auszusteigen. Wir gingen ja darauf bereits ein. Liebe muß sich mit Vernunft verbinden und auch mit der Bereitschaft zur Fehlerkorrektur, sollte sich einer der eingeschlagenen Wege zu dem erstrebten Fernziel als Irrweg erweisen.
Zusammenfassung und Diskussion Aggressives Verhalten manifestiert sich in verschiedenen Erscheinungsformen, vom Einsatz physischer Gewalt bis zur ritualisierten Auseinandersetzung durch Drohen und turnierhartes Kämpfen, beim Menschen auch im verbalisierten Streit. Es erfüllt verschiedene Funktionen und dient ganz allgemein dazu, Widerstände auf dem Weg zu einem Ziel zu überwinden und Dominanz über Mitmenschen und damit freien Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen zu sichern. Zu den wichtigsten Erscheinungsformen gehören territoriale Abgrenzung, Verteidigung und Eroberung, Rangstreben, verschiedene Formen erzieherischer und normerhaltender Aggression, und schließlich der instrumentale Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung der verschiedensten Individual- und Gruppeninteressen. Über den Einsatz aggressiven Verhaltens lernen wir viel von sozialen Modellen, aber eine gewisse Grundausstattung ist uns angeboren. Die unser aggressives Verhalten mitbestimmenden Anpassungen im Bereich der Wahrnehmung, der Motorik, der Antriebe und Lerndispositionen passen auf die Kleingesellschaft, in der Menschen über die längste Zeit ihrer Geschichte lebten. Wir haben uns biologisch in den letzten zehntausend Jahren in bezugauf unsere verhaltenssteuernde Ausrüstung nicht geändert, wohl aber schufen wir uns kulturell eine Umwelt, für die wir biologisch ungenügend gerüstet sind. Insbesondere die Neuanpassung an die urbane Umwelt und an die anonyme Großgesellschaft bereitet uns Schwierigkeiten. Der ständige Kontakt mit unbekannten Menschen wird als Belastung empfunden und aktiviert Verhaltenstendenzen der Ablehnung und der Abschottung gegenüber Mitmenschen. Die dem zugrunde liegende Fremdenscheu ist uns angeboren. Sie reift beim Kinde, ohne daß es dazu schlechter Erfahrungen mit Fremden bedarf. In der anonymen Großgesellschaft wächst Mißtrauen und Angst, und beides bildet einen schlechten Nährboden für die liberale Demokratie, da unter anderem 6 Bayer. Gewallgutachten
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Verhaltenstendenzen der Gefolgsbereitschaft aktiviert werden, die den Menschen für Sicherheit versprechende Ideologien in besonderer Weise anfallig macht. Die Stadtumwelt belastet außerdem durch ihre Naturferne. Sie bietet zwar viele Möglichkeiten beruflichen Aufstieges sowie der Zerstreuung, an Wochenenden entleert sie sichjedoch in einer Art Fluchtbewegung auf das Land, und die niedrige Vermehrungsquote der Statdbevölkerung zeigt, daß die Stadtumwelt für viele Familiengründung und Kinderaufzucht erschwert. In einer kinderfeindlichen Umwelt verkümmern aber unsere freundlich-affiliativen Anlagen. Es besteht die Gefahr, daß wir zunehmend eine Gesellschaft rücksichtsarmer Egozentriker werden. Durch entsprechende Sanierungsmaßnahmen städtebaulicher Art kann auch die urbane Umwelt menschengerecht gemacht werden. Sowohl der Abbau des Stressors Naturferne als auch die Einbettung in eine Gemeinschaft, aus der man sich nach Wunsch auch in die Anonymität begeben kann, können viel zum Abbau der Aggressionsbereitschaft beitragen. Da Menschen des weiteren nicht durch Kompetenz legitimierte Herrschaft ablehnen, ist es sicher im Interesse des inneren Friedens, wenn mehr als bisher auch auf die fachliche Kompetenz von Führungspersönlichkeiten zumindest ab einer gewissen Ranghöhe geachtet wird. Menschen sind bereit, Führungspersönlichkeiten anzuerkennen, vorausgesetzt sie weisen sich als solche aus. Vor Probleme anderer Art stellt uns die explorative Aggression, mit der Kinder, aber auch Jugendliche und Erwachsene immer dann, wenn sie in eine neue Gemeinschaft eintreten, anfragen, welche Handlungsfreiheiten ihnen gewährt werden. Es handelt sich um Anfragen, auf die Antworten erwartet werden. Unterbleiben sie, dann nimmt der Fragende an, daß sein Verhalten akzeptabel ist, und steckt seine Grenzen weiter. Es liegt im Wesen der explorativen Aggression, daß sie zur Eskalation neigt, wenn Antworten ausbleiben. Das Zusammenleben mit Minoritäten in einem Nationalstaat ist dann unproblematisch, wenn es sich um autochthone, territorial verwurzelte Gruppen handelt. Es liegt dann an der Majorität, ihnen die Selbstverwaltung einzuräumen und sie damit vor Dominanz durch eine andere Ethnie zu bewahren. Höchst problematisch ist es dagegen, wenn ein Nationalstaat den Aufbau von nicht assimilierbereiten Minoritäten durch Einwanderung gestattet. Es läßt sich kaum vermeiden, daß die Immigranten in diesem Falle als Eindringlinge und Konkurrenten aufgefaßt werden und Abwehr auslösen. Hier läuft kurzsichtige Nächstenliebe Gefahr, in West- und Mitteleuropa soziale Zeitbomben zu pflanzen. Wer Bevölkerungspolitik betreibt, muß in Jahrhunderten denken. Vielen Politikern ist diese Notwendigkeit offensichtlich nicht bewußt. Eine zukunftsorientierte generationsübergreifende Überlebensethik, die auf Vernunft und Liebe basiert, ist gefordert.
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Irenäus Eibl-Eibesfeldt:
Prof. Dr. phil. Irenäus Eibi-Eibesfeldt wurde 1928 in Wien geboren. Als Schüler der Professoren Konrad Lorenz und Wilhelm von Marinelli studierte er Biologie und war von 1946 bis 1949 Mitarbeiter an der Biologischen Station Wilhelminenberg bei Wien. Ab 1949 war er Mitarbeiter des Instituts für vergleichende Verhaltensforschung, das 1951 nach Deutschland übersiedelte und als Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie neu gegründet wurde. Die ersten 20 Jahre seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmete Eibi-Eibesfeldt als Tierethologe der experimentellen Erforschung der Verhaltensentwicklung und der Kommunikationsforschung. Aufzwei Reisen, 1953 / 54 und 1957/58, begleitete er Hans Hass auf der Xarifa in das Karibische Meer, zu den Galapagos-Inseln und in den Indischen Ozean. Weitere Forschungsreisen führten ihn nach Südamerika und wiederholt zu den Galapagos Inseln, einmal als Leiter einer Unesco-Mission, später als wissenschaftlicher Berater von Heinz Sielmann bei den Arbeiten für den vielfach prämierten Kulturfilm: "Galapagos - Landung auf Eden". 1967 legte er mit dem "Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung" das erste umfassende Lehrbuch der Ethologie vor (7. Auflage 1987, übersetzt ins Englische, Französische, Italienische, Spanische undJapanische). In den letzten 20 Jahren hat sich EiblEibesfeldt zunehmend auf die Erforschung menschlichen Verhaltens konzentriert. Im Rahmen eines noch laufenden kulturenvergleichenden Dokumentationsprogramms führten ihn viele Forschungsreisen nach Afrika, Japan,
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Neuguinea, Polynesien, Indonesien und Südamerika. Er hielt zwei Semester Gastvorlesungen in den Vereinigten Staaten. Seit 1963 unterrichtet er an der Universität München, der er als apl. Professor angehört. 1970 wurde er mit der Leitung einer Arbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft betraut, welche die von ihm begründete Humanethologie fördert. 1975 wurde diese Arbeitsgruppe zur selbständigen Forschungsstelle für Humanethologie am Max-Planck-lnstitut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen erhoben. 1988 übersiedelte die Forschungsstelle in ein eigenes Gebäude nach Andechs. Eibl-Eibesfeldt hat 13 Bücher, mehrere Handbuchartikel und über 300 Artikel in Fachzeitschriften veröffentlicht. Die Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Zwei von ihnen ("Liebe und Haß", 1970; "Der vorprogrammierte Mensch", 1973) liefen als Bestseller. "Die Biologie des menschlichen Verhaltens- Grundriß der Humanethologie" stellte zum ersten Mal die von ihm begründete Teildisziplin Humanethologie vor.
1971 erhielt Eibl-Eibesfeldt für seine Verdienste um die Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die Goldene Bölsche Medaille der KosmosGesellschaft, 1981 den Burda-Preis für Kommunikationsforschung, 1988 den Philip Morris Forschungspreis für die Projektentwicklung des neuen Fachgebietes "Humanethologie". 1989 nahm er die Ehrenmedaille in Gold der Stadt Wien entgegen. Seit 1963 ist er korrespondierendes Mitglied der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, seit 1977 der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. 1985 wurde er zum Präsidenten der International Society for Human Ethology gewählt, 1987 zum Fellow ofthe American Association for the Advancement of Seiences ernannt. Er ist auch Mitglied zahlreicher anderer wissenschaftlicher Organisationen.
Konstitutionelle Grundlagen von Aggressivität und Destruktivität Psychobiologische und psychopathologische Aspekte zur Gewaltbereitschaft
Von Hanns Hippius und Henning Saß
A. Einleitung Das Problem einer zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft berührt Wissenschaftsbereiche aus Recht und Kriminologie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Verhaltensforschung. Aus medizinischer Sicht erscheinen neben psychodynamischen und psychotherapeutischen Aspekten vor allem einige konstitutionelle Grundlagen aggressiven Verhaltens von Bedeutung. Dabei geht es um biologische Kenntnisse über die Aggressivität etwa aus der Genetik, der Neuroanatomie, Neurochemie und Neuropsychiatrie. Die folgenden Ausführungen stützen sich bei Berücksichtigung der neurobiologischen Literatur auf den Erfahrungshintergrund der klinischen wie auch der forensischen Psychiatrie, die immer wieder mit den Problemen einer mißlungenen Integration aggressiver Impulse in soziales Handeln konfrontiert ist. Andere, sich mit dem Arbeitsgebiet unseres Faches überschneidende Betrachtungsweisen etwa sozialpsychologischer, psychoanalytischer und ethologischer Art können trotz ihres Gewichtes im multikonditionalen Bedingungsgefüge aggressiver Phänomene hier nur am Rande gestreift werden.
B. Begriffliche Vorklärungen Aus medizinischer Perspektive spannt sich das Thema der zu sozialen Konflikten führenden Gewaltbereitschaft vorwiegend zwischen den drei Komponenten der Konstitution, der Aggression und der Destruktion aus. Zunächst zur Aggression. Sicherlich handelt es sich bei Aggression und Aggressivität um sehr komplexe Begriffe, denen eine Interaktion zwischen einerseits individual- und andererseits situationstypischen Auslösefaktoren aus Biologie, soziokulturellem Hintergrund und psychosozialen Bedingungen zugrunde liegt. Nach einer weiten Definition umschließt aggressives Verhalten alle Handlungen, die andere schädigen oder verletzen. Aus psychiatrischer Sicht wird Aggression verstanden als jegliches Angriffsverhalten hinsichtlich der
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dabei auftretenden Gedanken, Gefühle und Handlungen. Wahrscheinlich als Trieb angelegt, wird sie mobilisiert durch die Frustation von Wünschen oder Bedürfnissen und die Senkung von Hemmschwellen. Aggressivität läßt sich definieren als Angriffslust, als Ausmaß einer Neigung zur Entäußerung von Aggressionen. Aggressivität bezeichnet ein Charaktermerkmal, eine Disposition oder Bereitschaft. Die etymologische Wurzel der Begriffsfelder um Aggression und Aggressivität stammt vom lateinischen "aggredior", also jemanden angreifen, etwas in Angriff nehmen, auf jemanden oder etwas zugehen. Unter solchen Gesichtspunkten beinhaltet Aggressivität auch eine adaptative Leistung, eine zweckgerichtete Antwort auf eine bestimmte menschliche Situation. Es gibt durchaus sozial positive und gebilligte, der notwendigen Durchsetzung von Zielen dienr:nde Aggressivität, definiert als ein Verhalten unter sthenischen Affekten gcge~1über Mitmenschen als Adressaten. So kommen wir zur komplexen Definition von Aggressivität als einem aktiven, stimulusgebundenen oder zielgerichteten, adaptativen Verhalten zur Befriedigung vitaler Bedürfnisse oder zur Bewältigung bzw. zum Vermeiden von Bedrohungen der körperlichen und psychischen Integrität. Somit steht Aggressivität letzten Endes im Dienste des Überlebens der Art, dies allerdings um den Preis aller Gefahren, die mit einer steigenden Gewaltbereitschaft verbunden sind, sei diese nun durch individuelle oder gesellschaftliche Faktoren bedingt. Will man Aggressivität auf der einen Seite sowie Gewalt und Destruktivität auf der anderen Seite differenzieren, so fehlen der Destruktivität und der Gewalt die adaptative Funktion der Aggression. Destruktivität meint vornehmlich eine Tendenz zu Zerstörerischen Gewalthandlungen. Insofern bedeutet Destruktivität eine Degeneration, eine Ablösung der Aggressivität von ihrer im Dienste der Lebensbewältigung stehenden Funktion. Hat die Aggressivität im zwischenmenschlichen Verhalten und im Zusammenleben der Tiere durchaus eine ordnende, regulierende Bedeutung, so erscheint die bloße gewaltsame Destruktivität als Folge pathologischer Deformierungen, etwa bei einer organischen Störung der Hirnfunktionen, bei psychosozialen Defiziten, manchmal aber auch als Ergebnis intentional gelenkter Handlungen. Die destruktive Gewalttätigkeit, der die adaptative Funktion der Aggressivität verlorengegangen ist, kann sich in mehreren unterscheidbaren Typen äußern, etwa in der von Wut getriebenen Destruktivität eines Leidenschaftsdeliktes, bei den destruktiven Handlungen im Dienste eines Gruppengefühls bzw. bei Jugendgangs, schließlich in der zielgerichteten Destruktivität zum Erreichen bestimmter Zwecke, beispielsweise im Rahmen revolutionärer Akte. Es gibt enge Beziehungen zwischen Aggressivität und Destruktivität. Letztere erscheint häufig als mißlungene, auf Abwege geratene Erscheinungsweise aggressiver Bereitschaften. Der Übergang von Aggressionsimpulsen in manifeste Aggressionshandlungen oder gar in Destruktivität kann umso länger gehemmt werden, je differenzierter die Persönlichkeit ist und umso mehr ihr Abwehr- und Sublimierungsformen zur Verfügung stehen, etwa im Zynismus, in
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der Ironie und in der Kritik, aber auch in der Hemmung von Aggressionsimpulsen durch Verkehrung ins Gegenteil als Altruismus und Mitleid oder in der Wendung gegen die eigene Person in Autoaggressionsformen bis hin zur Suizidalität. Neben Aggressivität und Destruktivität betrifft der dritte für das Thema der Gewaltbereitschaft relevante Begriff die Konstitution. Sie läßt sich definieren als das Gesamt körperlicher und psychischer Eigenschaften eines Menschen. Spricht man von Konstitution, so wird vor allem an solche ererbten oder erworbenen Eigenschaften gedacht, die dauerhaft erscheinen und darum besonders zur Charakterisierung eines Individuums oder einer Gruppe geeignet sind. So unterscheidet die Psychiatrie etwa eine depressive, eine emotive, eine epileptische, eine explosive, eine neuropathische und andere Konstitutionen. In einer engen Fassung meinte der Begriff lediglich den Körperbau. Als seelische Konstitution bezeichnet Jaspers1 das in unlösbarer Einheit mit dem Leib erfahrbare Ganze. In den unterschiedlichen, auch mit Aussagen zur Aggressivität verbundenen Konstitutionslehren, etwa von Kretschme~ und Sheldon3 , wird auf die Bezüge zwischen Körperbau, Temperament und Charakter einerseits sowie zwischen Körperbau und bestimmten Formen von Psychosen andererseits hingewiesen. Allerdings sind die psychomorphologischen Zusammenhänge nach neueren Erkenntnissen geringer, als es die Konstitutionsforscher früher angenommen haben. Eine wichtige, häufig zu Mißverständnissen und gegenseitigen Vorwürfen führende Kontroverse liegt in der Frage des Anteils von Ererbtem und Erworbenem im Hinblick auf die Konstitution. Frühe psychiatrische Konstitutionslehren betonten ganz den Aspekt der Unveränderlichkeit einer durch genetische oder auch durch degenerative Einflüsse entstandenen Konstitution. Am deutlichsten wurde dies in pejorativen Definitionen der Psychopathie als "konstitutionelle Minderwertigkeit" 4 am Ende des vorigen Jahrhunderts. Auf der anderen Seite sind die psychodynamischen und psychoanalytischen Auffassungen dieses Jahrhunderts geprägt von der großen Bedeutung, die dem Entwicklungsaspekt zukommt, also der Biographie mit zwischenmenschlichen, insbesondere frühkindlichen Beziehungen, mit maßgebend für die Ausbildung von Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften eines Menschen seien. Eine integrierende Auffassung von Konstitution wird sowohl die angelegten und biologisch präformierten Komponenten berücksichtigen als auch das, was in frühen Perioden des Lebens durch Prägungen, Erfahrungen, Traumatisierungen, Habituierungen und Lernvorgänge zu den überdauernden Dispositionen der Persönlichkeit geführt hat. In dieser weit verstandenen Konstitution finden Jaspers, Kar!: Allgemeine Psychopathologie, 7. Aufl., Berlin 1959. Kretschmer, Ernst: Körperbau und Charakter, Berlin 1921. 3 Sheldon, William H ./Stevens, Stanley S.: The Varieties of Temperament: A Psychology of Constitutional Differences, New York 1942. 4 Vgl. Saß, Henning: Psychopathie Soziopathie - Dissozialität, Berlin 1987. 1
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wir die Verbindung von Ererbtem und Entwickeltem, so wie der Mensch in der frühen Kindheit unter dem Einfluß seiner biologischen Vorbedingungen, seiner prägenden Milieueinflüsse und seiner zwischenmenschlichen Erfahrungen geworden ist. Nimmt man die bisherigen Ausführungen zu den drei Bausteinen unseres Themas- Aggressivität, Destruktivität und konstitutionelle Bereitschaftzusammen, so bedeutet die Aggressivität die in der Konstitution des Menschen aus Angelegtem und Erworbenem entstandene Disposition zu aggressivem Verhalten mit adaptativer Funktion; Destruktivität dagegen ist die Neigung zu einer Gewalttätigkeit, die von den biologischen und sozial ordnenden Funktionen der Aggression abgekoppelt wurde und zu reiner Zerstörung verkommen ist.
C. Allgemeine Konzepte über die Ursachen von Aggressivität I. Das psychodynamische Konzept der Psychoanalyse
In der Trieblehre von Sigmund Freud wurden zwei Grundtriebarten des menschlichen Seelenlebens unterschieden, die Libido als dynamische Äußerung des Sexualtriebes, dem ab 1920 der mit einem angenommenen Todestrieb verknüpfte Aggressionstrieb gegenübergestellt wurde.5 Nach den Überlegungen Freuds kann die Abfuhr von Aggressionen lustvoll wirken, wenn sie mit Libido vermischt und erotisiert ist. Spätere psychoanalytische Autoren haben sich kritisch zur Frage des Todestriebes geäußert, während die Verknüpfung libidinöser Strebungen mit einem Aggressionstrieb weiterhin Anerkennung fand und etwa bei den Deutungsversuchen für sexualpathologische Entwicklungen große Bedeutung gewann.6 Nach Adler, der den Begriff des Aggressionstriebes ursprünglich geprägt hatte, dient dessen aktive Form zur Erkämpfung einer Befriedigung, während das reaktive Moment darin liegt, eine Frustation abzuwehren.7 II. Neurobiologische Konzepte
Hier lassen sich drei große Gruppen von Ursachentheorien über menschliche Aggression unterscheiden, eine endogene, eine exogene und eine interaktionistische Auffassung. 5 Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips, Gesammelte Werke (GW) XIII, Frankfurt a. M. 1920. 6 Vgl. Ehlhardt, Helmut: Aggression als Krankheitsfaktor, 1974, Schorsch, Eberhard/Becker, Nikolaus: Angst, Lust, Zerstörung, Harnburg 1977. 7 Adler, Alfred: Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose, in: Fortschritte der Medizin (Fortschr. Med.) 1908.
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1. Die endogenen Aggressionstheorien stützen sich vor allem auf die experimentelle und vergleichende Physiologie, auf die Ethologie und auf die Psychoanalyse.8 Physiologische Forschungen etwa von Hess beschäftigen sich mit der cerebralen Topographie und Zuordnung aggressiver Funktionen zu bestimmten Hirnsystemen, beispielsweise der Erzeugung von Pseudowut durch Reizung des Nucleus amygdalae im Tierversuch.9 Neuere Untersuchungen bringen Störungen in der Regulation von Aggressivität mit Stoffwechselanomalien im zentralen Nervensystem in Verbindung; auch gibt es hormonelle Einflüsse auf aggressive Muster. Die endogenen Aggressionstheorien erhalten eine Stütze durch die Verhaltensforschung. Vor allem Konrad Lorenz10 führte die Aggression auf einen ursprünglichen, der Arterhaltung dienenden Kampftrieb von Mensch und Tier zurück, eine später von Hacker11 modifizie~te Auffassung. Nach Lorenz liegt der Vorteil des tierischen Instinktverhaltens in der Ritualisierung und hierarchischen Kanalisierung der Aggressivität. Demgegenüber wird beim Homo sapiens das Fehlen einer instinktmäßigen Ritualisierung für das Abgleiten der angelegten Aggressivität in sozial schädliche Destruktivität verantwortlich gemacht. Zu den endogenen Aggressionstheorien gehören auch die erwähnten psychoanalytischen Auffassungen über die Verankerung der Aggressivität in der Triebstruktur. In ihrer populärwissenschaftlichen Verflachung haben endogene Aggressionstheorien zu einem "psychohydraulischen Instinktmodell" des Aggressionstriebes geführt, so als ob sich aggressive Energie in einem Reservoir ansammle und periodisch zur Entladung dränge, was gegebenenfalls in Übersprunghandlungen oder an Ersatzobjekten geschehen könne. In dieser Vereinfachung ist das Modell eines biogenen Triebes für die Aggressivität analog Grundbedürfnissen wie Hunger, Durst und Sexualität nicht haltbar. Dennoch sind endogene Grundlagen aggressiven Verhaltens in der Tierwelt, bei den Primaten und auch beim Menschen nicht zu bezweifeln.
2. In der Gruppe der exogenen Aggressionstheorien wird aufgrund von Ergebnissen der Frustationsforschung Aggression als eine Reaktion auf Frustration angesehen, wie dies insbesondere von Dollard herausgearbeitet wurde.l2 Hier bestehen ebenfalls enge Beziehungen zu psychoanalytischen Auffassungen. Die Frustrationstheorie dürfte vor allem für kurzzeitige aggressive Verläufe eine Rolle spielen. Ebenfalls zu den exogenen Aggressionstheorien gehören die Streß- und Überforderungsforschung. Aggressivität wird als eine Durchgangsphase und als Resultat einer psychischen Überlastung interpretiert. Exogener Art sind auch die lerntheoretischen Modelle von Bandura13 mit den 8 Ploog, Detlev: Biologische Grundlagen aggressiven Verhaltens, in: Ehlhardt, H. (Hg.): Aggressivität- Dissozialität- Psychohygiene, Bern 1975. 9 Hess, Walter R.: Das Zwischenhirn, Stuttgart 1949. 10 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1966. 11 Hacker, Friedrich: Aggression. Die Brutalisierung der modernen Welt, Reinbek 1973. 12 Dollard, John: Frustration and Aggression, New Haven 1939.
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Studien zum Modellernen und zum operanten Konditionieren. Danach kann aggressives Verhalten erlernt und in seiner Häufigkeit vermehrt werden, wenn aggressive Vorbilder existieren, deren Verhaltensstile übernommen werden. Aggressionsfördernd wirken positive Verstärker mit Belohnung des aggressiven Verhaltens und die Selbstbekräftigung, womit eine Selbstbestätigung im Bewußtsein der Übereinstimmung der Norm gemeint ist. Die lerntheoretischen Aspekte der Aggressionsförderung hat Bandura vor allem am Beispiel aggressiver Darstellungen in den Medien untersucht. Ähnlich informativ war das Milgram-Experiment1\ bei dem ein grausam-quälendes Verhalten zum Zwecke der Leistungssteigerung eingesetzt wird und im Bewußtsein der Probanden mit der Überzeugung gerechtfertigt wird, in Übereinstimmung mit ethisch hochstehenden Zielen zu handeln. 3. Die interaktionistischen Aggressionstheorien verstehen Aggressivität als Ergebnis eines Zusammenwirkens von in der Konstitution festgelegten dispositioneilen Faktoren einerseits und von auslösenden und aggressionsstiftenden Faktoren andererseits. Danach ist Aggressivität kein rein endogenes Phänomen, das nach einem hydraulischen Triebmodell zu verstehen wäre, aber auch kein rein exogenes Phänomen i. S. der Reaktion auf äußere Reize und Einflüsse oder auch auf psychodynamisch ableitbare innere Prozesse. Eine Stütze erhält der interaktionistische Ansatz durch die genetischen Untersuchungen.15 Bei Menschen hat man die Frage erblicher Dispositionen zur Aggressivität meist in Zusammenhang mit antisozialem Verhalten und Kriminalität untersucht.16 Ein natürliches Experiment, das zumindest eine tendenzielle Abschätzung des genetischen Einflusses erlaubt, stellen die Zwillingsuntersuchungen dar. In Studien von Lange17 fand sich hinsichtlich Kriminalität eine Konkordanz bei 10 von 13 eineiigen Zwillingspaaren, jedoch nur bei 2 von 17 zweieiigen Paaren. Spätere differenziertere Studien erbrachten zusammengefaßt bei eineiigen Zwillingen eine Konkordanz in der Größenordnung von 75% gegenüber einer Konkordanz von 13% bei zweieiigen Paaren. 18 Aufwendige statistische Analysen bei der Untersuchung einerseits altruistischer und andererseits aggressiver Verhaltenstendenzen an Zwillingspaaren ergaben, daß etwa 50% der Varianz auf der genetischen Ausstattung beruhen und die restlichen 50% auf der Bandura, Albert: Aggression: A Social Learning Analysis, Englewood Cliffs 1973. Milgram, Stanley: Obedience to Authority: An Experimental View, New York 1974, in deutscher Übersetzung: Das Milgram Experiment, Harnburg 1974. 15 Propping, Peter: Psychiatrische Genetik: Befunde und Konzepte, Heidelberg 1989, s. 352f. 16 Schulsinger, Fini: Psychopathy, Heredity and Environment, in: International Journal of Mental Health (Int. J. Mental Health) 1972, S. 190-206. 17 Lange, Johannes: Verbrechen als Schicksal: Studien an kriminellen Zwillingen, Leipzig 1929. 18 Eysenck, Hans J./Eysenck, Sybil B. G.: Psychopathy, Personality and Genetics, in: Hare, Robert D./Schalling, Daisy (Eds.): Psychopathie Behavior: Approaches to Research, Chichester 1978, S. 193-223 (Wiley). 13
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spezifischen Umgebung der Zwillinge. 19 Ein interessantes Nebenergebnis dieser Studie von Rushton und Mitarbeitern war die Zunahme des Altruismus mit steigendem Lebensalter, während die Aggressivität abnahm. Auch hatten die Frauen in jeder Altersgruppe höhere Werte für Altruismus und niedrigere für Aggressivität als die Männer. Natürlich stellt sich bei der Untersuchung von Aggressivität in besonderem Maße das Problem der Differenzierung von angelegten Bedingungen einerseits sowie durch Biographie und Sozialisation erworbenen Dispositionen andererseits. Erwünscht sind Versuchsanordnungen und Modelle, mit denen sich der Faktor der genetischen Ausstattung vom Faktor der Umgebungseinflüsse trennen läßt. Die Studien an adoptierten Kindern besitzen gegenüber den Zwillingsuntersuchungen den Vorteil einer besseren Kontrolle des Faktors "Umgebungseinfluß". In den skandinavischen Adoptionsuntersuchungen, die sich auf genaue Melderegister stützen, konnte ein Eindruck von den genetischen Einflüssen auf die Manifestierung aggressiven und kriminellen Verhaltens gewonnen werden.20 Es fand sich eine positive Korrelation zwischen der Verurteilung wegen krimineller Delikte bei den biologischen Eltern und ihren wegadoptierten Nachkommen, ohne daß allerdings ein Zusammenhang in der Art der Kriminalität bei Eltern und Kindern bestand. Vererbt wurde offenbar ein Faktor, der die Wahrscheinlichkeit für die Verurteilung wegen Delinquenz erhöhte, nicht aber eine Disposition zu bestimmtem Verhalten. In weiteren Adoptionsstudien in Dänemark wurden männliche Kriminelle und eine Gruppe von Kontrollpersonen verglichen, die sämtlich kurz nach der Geburt adoptiert worden waren. Dabei lag die Kriminalitätsrate bei den biologischen Vätern der kriminell gewordenen Adoptierten am höchsten. Andererseits stieg die Delinquenzrate bei den Adoptierten noch einmal an, wenn zusätzlich zum biologischen Vater auch -der Adaptivvater delinquent geworden war. Hier dürfte sich also ein Umgebungs- und sozialisationsbedingter aggressionsfördernder Faktor manifestieren. Insgesamt haben die Adoptions- und Zwillingsstudien mit großer Deutlichkeit ergeben, daß beim Menschen für manifestes Aggressionsverhalten und Delinquenz eine genetische Disposition nachweisbar ist, daß aber andererseits die umweltbedingten Einflüsse etwa gleich großes Gewicht besitzen. Die durch 19 Rushton, J. PhilippejFulker, David W./Neale, Michael C./Nias, David K. B./Eysenck, Hans J.: Altruism and Aggression: The Heretability oflndividual Differences, in: Journal of Personality and Social Psychology, 1986 (50), S. 1192-1198. 20 Hutchings, Barry j Mednick, Samoff A.: Registered Criminality in the Adoptive and Biological Parents of Registered Male Adoptees, in: Mednick, Samoff A. (Ed.): Genetic Environment and Psychopathology, Amsterdam 1974, S. 215-227, Mednick, Samoff A. / Gabrielli, William F. I H utchings, Barry: Genetic Influences in Criminal Convictions: Evidence from an Adoption Cohort, in: Science 1984 (224), S. 891-894, Mednick, Samoff A. 1Gabrielli, William F. 1Hutchings, Barry: Genetic Factors on the Ethiology of Criminal Behavior, in: Mednick, Samoff A. / Moffet, Terrie E. /Stack, Susan A. (Eds.): The Causes of Crime, Cambridge 1987.
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diese Befunde gestützten interaktionistischen Aggressionstheorien wirken sowohl der Furcht vor einem biologischen Determinismus wie auch vor einem sozialen Darwinismus entgegen, die häufig einer vorurteilsfreien Betrachtung der konstitutionellen Grundlagen menschlichen Verhaltens einschließlich Aggressivität und Destruktivität entgegenstehen.
D. Somatische Einflußfaktoren auf Aggressivität Wie alle Verhaltensweisen läßt sich auch Aggression als ein Ergebnis von Hirnfunktionen auffassen, das auf einer ganzen Reihe neuroanatomischer und neurophysiologischer Determinanten beruht. Änderungen im cerebralen Substrat beeinflussen in unterschiedlichem Ausmaß auch das aggressive Verhalten, wie sich am deutlichsten bei pathologischen Formen der Aggressivität nachweisen läßt. Physiologische und pathophysiologische Untersuchungen haben als neurales Substrat aggressiven Verhaltens verschiedene Regionen des Zentralnervensystems ergeben, die in komplexer Weise miteinander vernetzt sind. Tierversuche haben gezeigt, daß aggressive Handlungen durch experimentelle Hirneingriffe erleichtert, vermindert oder ganz unterdrückt werden können. Versuche an Primaten von Delgado 21 zeigten die Provozierbarkeit aggressiven Verhaltens bei elektrischer Reizung bestimmter Hirnregionen im limbisehen System und im Hypothalamus, wobei sich auch eine Interaktion mit sozialen Bedingungen studieren ließ. Moyer 22 hat anband von Tierversuchen unterschiedliche Formen von Aggressionshandlungen differenziert, die auch in definierten anatomischen Regionen ihr Substrat haben. Durch Stimulationsversuche in bestimmten Hirnkernen konnte gezeigt werden, daß bei unterschiedlichen Aggressionsformen unterschiedliche Muskelgruppen innerviert und ganz spezifische Verhaltensweisen aktiviert werden, etwa daß der Hirsch im Brunftkampf sein Geweih senkt, während er im Verteidigungskampf mit den Hufen schlägt. Neben diesen neuroanatomischen und neurophysiologischen Befunden spielen seit 20 Jahren auch neurochemische Aspekte bei der Untersuchung der Regulation von Aggressivität eine wichtige Rolle.23 Ergebnisse der Hirnforschung haben zu der Auffassung geführt, daß unterschiedliche Verhaltensweisen an ganz bestimmte neurochemische Transmitterfunktionen gekoppelt sind. Dies stellt sicher eine zu große Vereinfachung dar, bei der die vielfältige Vernetzung und die unterschiedlichen Funktionsmöglichkeiten der Transmittersysteme vernachlässigt werden. Dennoch gibt es zahlreiche übereinstimmende Ergebnisse, die auf eine besondere Bedeutung der Serotonergen Projektionssysteme für 21 Delgado, Jose U. R.: Inhibitory Systemsand Emotions, in: Levi, Lennart (Ed.): Emotions. Their Parameters and Measurements, New York 1975, S. 183-205 (Raven Press). 22 Moyer, Kenneth E.: The Psychobiology of Aggression, New York 1976. 23 Valzelli, Luigi: Reflections on Experimentaland Human Pathology of Aggression, in: Neuro-Pharmacology and Psychiatry 1984 (8), S. 311-325.
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die Regulierung von Emotionalität und Aggressivität hindeuten. Dabei liegt die Funktion der serotonergen Neuronenverbände innerhalb des Gehirns meist in einer inhibitorischen Kontrolle der Aktivität. Wie die Untersuchungen schwedischer und US-amerikanischer Forschergruppen am National Institute of Mental Health zeigen, kommt es nach Störungen dieser serotonergen Hemmung -neben anderen Effekten- zu einer Enthemmung mit Steigerung bestimmter Verhaltensweisen, etwa der Sexualität, des Alkoholkonsums, der nach außen gerichteten Aggressivität und auch der pathologischen suizidalen Aggressivität.24 Eine Herabsetzung des serotonergen Aktivitätstonus im Gehirn gilt als spezifischer Vulnerabilitätsfaktor für aggressives und für gewalttätig suizidales Verhalten.25 Das bedeutet natürlich nicht, daß Serotonin der einzige für Aggressivität bedeutsame Neurotransmitter ist, weil eine ganze Reihe anderer Transmittersysteme ebenfalls an der Modulierung aggressiven Verhaltens beteiligt sind, etwa die Katechotamine oder das Azetylcholin. Die biologischen Untersuchungen über die Grundlagen der Aggressivität haben zahlreiche Zusammenhänge zwischen Hormonen und der vorwiegend maskulinen Aggressivität ergeben. Zum einen wird die Aggressionsbereitschaft durch die Hypophysen-Gonaden-Achse geregelt, also durch Hormone wie Testosteron, Östrogen und das luteinisierende Hormon. Experimentell konnten Tiere durch Injektion von männlichem Gonaden-Hormon zu aggressiven Höchstleistungen angetrieben werden, zu denen sie sonst nicht fähig waren, etwa bei Rangordnungskämpfen. Die neuroendokrinen Einflüsse auf die Aggressivität beginnen aber schon während der intrauterinen Entwicklung des Zentralnervensystems. Bei verschiedenen Säugetierarten ließ sich zeigen, wie die Exposition gegenüber den Sexualhormonen einen organisierenden Effekt auf die Ausbildung des Gehirns und auf das spätere Verhalten ausübt. Insbesondere das Testosteron hat auch beim Menschen organisierende und aktivierende Auswirkungen auf aggressives Verhalten.26 In der Wirkung auf das Gehirn trägt es bei zu höherem Selbstvertrauen und stärkerer außengerichteter Aktivität von Knaben und Männern im Vergleich zu Mädchen und Frauen. Von besonderem Interesse ist die Frage, ob innerhalb der männlichen Individuen die unterschiedlichen Testosteron-Spiegel im Gehirn interindividuelle Unterschiede im aggressiven Verhalten bedingen. Trotz methodischer Schwierigkeiten sind einige Zusammenhänge zwischen der Testosteron-Konzentration im Organismus und aggressiven Verhaltensbereitschaften plausibel gemacht worden. Bei hinsichtlich der Aggressivität unauffälligen Männern besteht keine konsistente Beziehung zwischen der mit verschiedenen Methoden gemessenen Aggressivität Fritze, Jürgen: Einführung in die biologische Psychiatrie, Stuttgart 1989. zs Mühlbauer, H. D.: Human Aggression and the RoJe of Central Serotonin, in: Pharmacopsychiatr. (18), Stuttgart 1985, S. 218-221. 26 Schalling, Daisy: Personality correlates of Plasma Testosterone Levels in YoungDelinquents ~ An Example of Person-Situation Interaction, in: Mednick, Samoff A./Moffet, Terrie E./Stack, Susan A. / Rubin, Robert T.: The Neuroendocrinology and Neurochemistry of Antisocial Behaviour, in: Mednick, Samoff A., 1987. 24
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einerseits und dem zirkulierenden Testosteron andererseits. Dagegen haben die Testosteron-Spiegel-Untersuchungen bei aggressiven und gewalttätigen Häftlingen ergeben, daß eine positive Korrelation zwischen aggressivem Verhalten und erhöhtem Testosteron besteht. Dies betrifft das Vorkommen körperlicher Gewalt, die sexuelle Aktivität und die allgemeine Dominanz. Führt man durch bestimmte Eingriffe, etwa eine Antiandrogen-Medikation, eine erhebliche Reduktion des zirkulierenden Testosterons herbei, so ändert sich eine ganze Reihe der mit Testosteron verknüpften Verhaltensmerkmale, vor allem die sexuelle Appetenz und die Aggressivität. Ergänzend zu diesen aus der Grundlagenforschung stammenden Hinweisen für die konstitutionelle Verankerung der Aggressivität gibt es eine Reihe gleichsinniger klinisch-psychiatrischer Beobachtungen über die biologischen Einflüsse auf aggressives Verhalten. So kennen wir pharmakologische Therapien, die zu einer Dämpfung aggressiver Reaktionsbereitschaften führen, etwa mit Neuroleptika und BenzodiazepinenP Andere Substanzen führen zu einer gesteigerten Aggressivität, etwa bei Gabe von Amphetaminen oder Testosteron, die eine Antriebssteigerung und eine Vermehrung von Aggressivität sowie sexueller Potenz mit sich bringen. Besonders interessant und praktisch wichtig ist die Rolle des Alkohols als externer biologischer Faktor für menschliche Aggressivität und Destruktivität. Wegen seiner großen Verbreitung bedeutet er den wichtigsten biochemischen Faktor in diesem Zusammenhang, der allerdings eng mit den psychosozialen Faktoren verschränkt ist.
E. Psychiatrische Aspekte der Aggressivität Bei zahlreichen körperlich begründbaren psychischen Störungen kann es zu Veränderungen im biologischen Substrat der Aggressivität kommen. Tumoren, Blutungen und andere Läsionen insbesondere im Gebiet des limbisehen Systemes und des Hypothalamus können ganz befremdliche, massive Gewalthandlungen auslösen, ebenso morphologische und hirnelektrische Störungen in den Temporallappen des Gehirnes. Wurden früher nur massivere Schädigungen der Gehirnsubstanz erkannt und mit solchen aggressiven Verhaltensstörungen korreliert, so gibt es heute mit den verfeinerten diagnostischen Verfahren, etwa der Computertomographie, der PET (Positron-Emissions-Tomographie), der SPECT (Single-Positron-Emissions-Computertomographie) und der NMR ("nuclear magnetic resonance"-Tomographie), Möglichkeiten, um auch kleinere biomorphologische und biophysiologische Anomalien zu erfassen.28 So 27 Sheard, M. H.: Psychopharmacology of Aggression, in: Hippius, Hanns/ Winokur, G. (Eds.): Clinical Psychopharmacology, Amsterdam 1983 (Exerpta Med.); Cloninger, Robert R.: Drug Therapy of Antisocial Behaviour, in: HippiusjWinokur, I%3: Eichelmann, Burr: Neurochemical and Psychopharmacological Aspects of Aggressive Behaviour, in: Melter, Herbert Y. (Ed.): Psychopharmacology: The Third Generation of Progress, New York 1987 (Raven Press).
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entstehen Möglichkeiten, nicht nur das körperliche Substrat neu aufgetretener pathologischer Aggressivität bei organischer Hirnerkrankung nachzuweisen, sondern auch diskrete substanzielle oder funktionelle Abweichungen im Gehirn, die mit überdauernden aggressiven Bereitschaften zusammenhängen. Damit könnte sich manches, was heute als erworbene Eigenschaft und als biographisch entstandenes Element der Persönlichkeitsstruktur angesehen wird, künftig als eine biologisch fundierte konstitutionelle Störung herausstellen. Vermehrte Aggressivität kennen wir in der klinischen Psychiatrie auch bei solchen Krankheitsbildern, für die eine organische Ursache nicht bewiesen ist. Verstimmungen, vermehrte Reizbarkeit, Aggressivität bis hin zu gewalttätigen Erregungsstürmen und Explosivreaktionen gibt es im Rahmen der Epilepsie und der mit ihr verbundenen Wesensänderungen. Eine pathologisch motivierte Aggressivität und Destruktivität kommt in Psychosen vor, etwa beim erregten Stupor des katatonen Schizophrenen, in der gereizten Form der Manie oder als Autoaggressivität in der endogenen Depression mit tragischen Fällen von Suizid und erweitertem Suizid. Zustände pathologisch gesteigerter Aggressivität können eingebettet sein in dysphorische affektive Auslenkungen, sie kommen aber auch als reaktive Folge wahnharter Realitätsverkennung vor. Schließlich kann es im Rahmen von Fehlentwicklungen der Persönlichkeit, bei neurotischen Störungen und akuten Erlebnisreaktionen zur symptomatischen Verstärkung aggressiver Verhaltenstendenzen kommen. Zusammenfassend aber gilt für die psychisch Kranken immer noch die von Böker und Häfner29 getroffene Feststellung, daß sich im Vergleich zur gesunden Durchschnittsbevölkerung bei psychisch Kranken keine deutlich erhöhte Gefahr für Gewalthandlungen finden läßt. Die vergleichsweise kleine Gruppe der Kranken, die aufgrund ihres psychischen Zustandes ein erhöhtes Risiko für die Gesellschaft darstellen, können aufgrund der bestehenden gesetzlichen Regelungen so lange untergebracht und behandelt werden, wie es zum Schutze der Allgemeinheit erforderlich ist.
F. Drogenabhängigkeit und Gewaltbereitschaft Zu den zahlreichen medizinischen und sozialen Problemen durch den zunehmenden Mißbrauch von psychotrop wirksamen Substanzen aller Art gehört auch, daß die Bereitschaft zu delinquenten und gewalttätigen Verhaltensweisen bei einem Teil der Konsumenten wächst. Durch die berauschenden Wirkungen des Alkohols kommt es im Frühstadium zu einer Stimulierung aggressiver und sexuell getönter Impulse bei gleichzeitigem Zurücktreten hemmender Gegenvorstellungen. Menschen mit einem spannungsvollen Per28 Tancredi, LaurencejVolkow, Nora: Neural Substrates of Violent Behaviour: Implications for Law and Public Policy, in: International Journal of Law and Psychiatry 1988 (11), s. 13-49. 29 Böker, Wolfgang/Häfner, Heinz: Gewalttaten Geistesgestörter, Berlin 1973.
7 Bayer. Gewaltgutachten
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sönlichkeitsgefüge, in dem die aggressiven Regungen nur mühsam beherrscht sind, neigen unter den enthemmenden Wirkungen des Alkohols zum Ausagieren der erhöhten Konfliktbereitschaft in verbaler und in körperlicher Aggressivität. Die enge Beziehung zwischen Alkohol und Gewalttätigkeit zeigt sich besonders bei Personen mit antisozialen und soziopathischen Persönlichkeitsstörungen.30 Allerdings gibt es durchaus persönlichkeitsgebundene Unterschiede in der Alkoholwirkung. So macht er sich bei ausgeglichenen, selbstsicheren und eher dominanten Personen vorwiegend sedierend bemerkbar, während er bei aggressiv-gehemmten Trinkern zu einer Mobilisierung sonst unterdrückter aggressiver Handlungsbereitschaften führen kann. Schließlich gehört zu den Folgen eines chronischen massiven Alkoholmißbrauchs neben anderen körperlichen und psychischen Schädigungen eine Depravierung der Persönlichkeit mit Vergröberung und Nivellierung im affektiven wie im charakterlichen Bereich, was erneut die Hemmschwelle für sozial störendes, delinquentes und aggressives Verhalten senken kann. Insofern bedeutet das Anwachsen der Alkoholabhängigkeit in der Bevölkerung sowohl hinsichtlich der aktuellen wie der chronischen Alkoholfolgen durchaus einen spezifischen Faktor für eine gesteigerte Gewaltbereitschaft bei dem davon betroffenen Personenkreis. Die meisten der übrigen Rauschdrogen gehen in der Regel nicht mit einer gesteigerten Aggressivität einher, vielmehr führen die Rauschwirkungen eher zu sozialem Rückzug, zu eigenweltlicher Versenkung in Phantasieerleben und zu allgemeiner Dämpfung der Aktivität. Nur in Ausnahmen kommt es durch die psychotropen Wirkungen der Drogen zu gesteigerter Aggressivität und Destruktivität, beispielsweise bei Amphetaminen, die zu drogeninduzierten psychotischen Zuständen und selten zu Gewalttätigkeit führen können. Eine zunehmende Bedeutung wird in absehbarer Zukunft wahrscheinlich das Kokain erhalten, dessen stimulierende Potenz, wie die bisherigen Erfahrungen in den USA zeigen, zu erhöhter Gewaltbereitschaft und Delinquenz führen kann. Auch andere Psychotomimetika wie LSD und vor allem Phencyclidin können im Drogenrausch desorganisiertes Verhalten und Aggressivität erzeugen. Allerdings sind solche Komplikationen, die im Einzelfall durchaus schwere Zerstörungen und lebensbedrohliche Akte nach sich ziehen können, gemessen an der großen Zahl von Drogenabhängigen bislang eher seltene Ausnahmen. Von großer sozialer wie kriminologischer Bedeutung ist dagegen die Beschaffungskriminalität, die sich im Umfeld jeder Drogenszene rasch ausbreitet und als mittelbare Folge der Drogenabhängigkeit zu einer deutlichen Erhöhung der Gewaltbereitschaft führt. Überwiegend handelt es sich bei den Straftaten, die zur Finanzierung der Drogensucht dienen sollen, um einfache Eigentumsdelikte, aber infolge der durch Mittelkonsum und subkulturelles Milieu eingetretenen Verschiebung der Werthorizonte ist auch die Schwelle zur Anwendung von Gewalt deutlich erniedrigt. Im Umfeld der Drogenszene gehören daher auch Raubdelikte und Straftaten gegen Leib und Leben zunehmend zum Repertoire 3o
Vgl. Saß, 1987.
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einer rücksichtsloser werdenden Beschaffungskriminalität. Angesichts einer geschätzten Zahl von allein 60000 bis 100000 intravenös Drogenabhängigen in der Bundesrepublik besteht hier ein erhebliches GewaltpotentiaL Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist vom psychiatrischen Standpunkt vor allem zu fordern, daß beim Verfolgen des Ziels, ein weiteres Anwachsen der Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft zu verhindern, vor allem der gesamten Suchtproblematik- von allen Teilen unserer Gesellschaft!mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Dabei darf sich die Perspektive aber nicht auf die Rauschdrogen im engeren Sinne (von Heroin über Kokain bis hin zu den neuen Designer-Drogen) einengen- gerade für das Phänomen der Gewaltbereitschaft spielt vor allem der Alkohol in seinen Funktionen vom akzeptierten Genußmittel bis hin zur "Rauschdroge" (also als Suchtmittel) die größte Rolle. Auf diesem Gebiet ergeben sich nun am ehesten Gesichtspunkte zum Handeln, um weiteren ungünstigen Entwicklungen gegenzusteuern. Die Forderung der Psychiatrie zum Handeln auf dem Suchtgebiet sollte nicht mißverstanden werden als ein Ruf lediglich nach staatlichem Handeln. Entscheidend wird sein, wie es in der Zukunft der Gesellschaft in unserem Lande als Gesamtheit gelingen wird, die bestehenden und auf uns zukommenden Suchtprobleme zu bewältigen. Von der Psychiatrie ist es zu begrüßen, daß dies in jüngster Zeit in vielen Teilen der Welt von den politisch Verantwortlichen zunehmend deutlicher erkannt und zum Anlaß genommen wird, nicht nur Einzelaspekte der Drogenproblematik (wie z. B. nur die polizeilichen und rechtlichen Gesichtspunkte oder nur die medizinisch-psychiatrischen Aspekte der Behandlung von Rauschmittel-Abhängigen) aufzugreifen. Beispiele, wie das von der AdministrationBushin Gang gesetzte umfassende Drogenprogramm in den USA oder die jetzt angekündigten Initiativen der Bayerischen Staatsregierung belegen, daß bei den politisch Verantwortlichen zunehmende Bereitschaft besteht, umfassende, alle Aspekte des Suchtproblems umgreifende Aktivitäten zu entwickeln. Wenn das gelingt, wird damit gleichzeitig auch ein besonders wirkungsvoller Schritt zur Eindämmung der Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft getan. Aber das wird nur dann gelingen, wenn die vom Staat hierzu vorgegebenen Rahmenbedingungen von allen Teilen unserer Gesellschaft akzeptiert und aktiv getragen werden.
G. Resümee Unsere Darstellung einiger medizinischer und psychiatrischer Aspekte zu Aggressivität und Destruktivität hat sich weitgehend auf die naturwissenschaftlich faßbare Basis dieser Phänomene beschränkt. Unabhängig davon gilt jedoch, daß Gewaltbereitschaft und Gewalthandlungen überwiegend unter sozialpsychologischen, kriminologischen und soziologischen Gesichtspunkten zu analysieren sind. Dies betrifft gleichermaßen Fragen der Entstehung, der Erschei-
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nungsformen und der möglichen Bewältigungsversuche einer zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft. Nur in Ausnahmefällen und Randbereichen fallen die Phänomene gesteigerter sozialer Konflikthaftigkeit und Aggressivität in medizinische oder nervenärztliche Kompetenz. Als wichtiges Sondergebiet, das psychiatrischer Untersuchung, Erforschung und Behandlung zugänglich ist, gewinnt der Mißbrauch von Alkohol, Medikamenten und Drogen immer mehr Bedeutung. Im Hinblick auf die Gefahr einer zunehmenden Gewaltbereitschaft geht es hier vor allem um den wachsenden Problemkreis der Beschaffungskriminalität, die immer häufiger mit Gewaltanwendung verbunden ist. Beim Versuch, solche Erscheinungen einzudämmen, sind die bewährten Grundsätze medizinischer Diagnostik, Prognostik und Therapie, wie sie auch sonst in der Behandlung von Abhängigkeitskrankheiten gelten, uneingeschränkt gültig. Neben allgemeinen sozialen Unterstützungs- und Rehabilitationsmaßnahmen muß aus psychiatrischer Sicht das Ziel bei der Behandlung Abhängiger weiter in Drogenfreiheit gesehen werden. Aggressives Verhalten läßt sich am besten durch einen integrierenden soziobiologischen Ansatz verstehen, der einerseits die dispositioneilen Aggressionsbereitschaften und somatischen Grundlagen der Aggressionsregulation berücksichtigt, andererseits das Zusammenwirken mit persönlichkeitsgebundenen, biographischen, gesellschaftlichen und situativen Modulatoren. Sozial störende Aggressivität bleibt in erster Linie ein gesellschaftspolitisches Phänomen. Nur in klar definierten Zuständen mit psychopathologisch relevanten Veränderungen des geistig-seelischen Gefüges lassen sich medizinische und psychiatrische Modelle zur Erklärung und Behandlung pathologisch gesteigerter Aggressivität anwenden. Für eine möglicherweise im Steigen begriffene, politisch motivierte Gewaltbereitschaft trifft dies in aller Regel nicht zu. Hier wird die Psychiatrie, gestützt auf Erfahrungen der Vergangenheit und in totalitären Systemen, große Zurückhaltung wahren, um Tendenzen zu begegnen, sie im Rahmen gesellschaftlicher oder politischer Auseinandersetzungen zu instrumentalisieren.
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Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft Von Peter Waldmann I. Allgemeines
Nachdem die Formulierung des Gutachtenauftrags sehr unspezifisch ist (" ... Umfassende Erforschung der zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft ... "), bedarf es einiger Vorbemerkungen zur Interpretation der Themenstellung. Wie auch von anderen Gutachtern (z. B. K. Rolinski und H. Scliüler-Springorum) angemerkt wird und im kürzlich der Öffentlichkeit übergebenen Gutachten der "Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt" nachzulesen ist, kann es nicht als erwiesen gelten, daß die Gewaltkriminalität kontinuierlich zunimmt. Vielmehr ist bei Gewaltdelikten im engeren Sinn wie Mord, Totschlag, Körperverletzungen usf. laut den Kriminalund Justizstatistiken (die indes ihrerseits im Hinblick auf die in ihnen nicht erfaßten Dunkelziffern kritisch hinterfragt werden können) seit einigen Jahren eher eine rückläufige Tendenz zu verzeichnen, im Bereich der politisch motivierten Gewalttaten (Ausschreitungen bei Demonstrationen, Gebäudeund Hausbesetzungen etc.) ist die Entwicklung offen und keineswegs eindeutig. 1 Insofern erscheint es uns sinnvoll, den Auftrag dahingehend zu interpretieren, daß nach Veränderungen und neueren Tendenzen hinsichtlich der Formen und Motivationen von Gewaltanwendung gefragt wird, unabhängig davon, ob diese zu einer effektiven Zunahme von Gewaltdelikten geführt haben oder nicht. Dabei wird man sich primär nach den manifesten Gewalttaten richten müssen, die nur tentative Schlüsse auf die schwer empirisch faßbare Variable "Gewaltbereitschaft" zulassen. Die Themenformulierung legt den Eindruck nahe, ein prinzipiell friedenswilliger Staat sähe sich mit einem wachsenden gesellschaftlichen Gewaltpotential konfrontiert, das zu bändigen ihm zunehmend schwer falle. Diese Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft ist kaum zu halten. Der Staat ist keine feste und konstante Größe, sondern das Produkt bestimmter historischer Entwicklungen und Umstände und als solches ständigen Veränderungen unterworfen. Die vergleichende Terrorismusforschung hat darauf aufmerksam gemacht, von 1 Kurzfassung und Vorschlagskatalog einschließlich des Mitgliederverzeichnisses und der Präambel des Endgutachtens der unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, S. 340f.
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welch entscheidender Bedeutung es für die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt ist, ob es sich um einen unsicheren, schwachen Staat handelt, der seine Souveränität durch harte Maßnahmen unter Beweis stellen zu müssen glaubt, oder um einen selbstsicheren, starken Staat, der sich eine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit politischen Rebellen leisten kann. 2 Die Bundesrepublik Deutschland zählt (im Unterschied etwa zu Frankreich) eher zur ersteren Kategorie. Diese Unterschiede im Umgang mit politischen Dissidenten finden ihren Niederschlag vor allem bei der Polizei, jenem Organ, das im hochsensiblen Bereich der Wahrung öffentlicher Sicherheit und Ordnung sozusagen an der Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft angesiedelt ist. Vom Verhalten der Polizeikräfte bei Demonstrationen, Hausbesetzungen etc. hängt in hohem Maße ab, ob aggressive Dispositionen zum Zuge kommen, eventuelle Gewaltbereitschaft der Teilnehmer in manifeste Gewalt umschlägt. Der deutschen Polizei geht der Ruf voraus, bei Konflikten drastisch durchzugreifen, 3 ein Urteil, das sicherlich der Differenzierung bedarf. Leider besteht ein eklatanter Mangel an Studien über den Einfluß polizeilicher Einstellungen und Reaktionen auf den Verlauf öffentlicher Versammlungen und Protestdemonstrationen;4 auch im Ersuchen des Bayerischen Landtages, das dieser Stellungnahme zugrundeliegt, wird das Thema übergangen. Will man jedoch mit der Erforschung der Gewaltbereitschaft, insbes. der Bereitschaft zu politischer Protestgewalt, ernst machen, so bedarf es eines interaktionistischen Ansatzes, wie ihn H. Eckstein 5 vor nunmehr schon 25 Jahren gefordert hat; d.h. eines Ansatzes, der die jeweilige Handhabung des staatlichen Gewaltmonopols und die Infragestellung eben dieses Monopols aus dem gesellschaftlichen Raum heraus miteinander verknüpft und gemeinsam untersucht. Wie aus den Vorbemerkungen zu ersehen ist, konzentriert sich dieses Gutachten unter den vielfältigen Formen und zahlreichen Orten der Gewaltanwendung- in der Familie, der Schule, im Sport etc. - auf das Phänomen der öffentlichen, kollektiv geübten Gewalt, insbes. der politischen Gewalt, allerdings unter Ausklammerung des Terrorismus. Ausgehend von der Tatsache, daß 2 Vgl. die Beiträge von Sebastian Scheerer 1Henner Hess I Dieter Paas, in: Hess, Henner u.a.: Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, 2 Bde., Frankfurt 1988. 3 Siehe etwa den Bericht über den Polizeieinsatz am 17. Nov. 1989, bei dem eine Studentin tödlich überfahren wurde, in der Berliner taz vom 20. 11. 89, S. 3. Der Bericht enthält auch das Polizeifunkgespräch, das dem Polizeieinsatz unmittelbar vorausgegangen sein soll: ,.Sollen wir sie plattmachen?" ,. Wieso?" - "Sonst gibts Selbstjustiz"-"Wir haben genügend Kräfte". 4 Das Thema findet erst in jüngster Zeit vermehrte Aufmerksamkeit; vgl. Willems, HelmutiEckert, RolandiGoldbach, HaraldiLoosen, Toni: Demonstranten und Polizisten. Motive, Erfahrungen und Eskalationsbedingungen, München 1988. 5 Eckstein, Harry: On the Etiology of Interna! Wars, in: Nadel, George H. (Ed.): History and Theory. Studies in the Philosophy of History, Bd. 4, 1965 (2), S. 133 -162.
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diemeisten Gewalttäter Jugendliche und Jungerwachsene sind, werden zunächst einige generelle Veränderungstendenzen in der Situation der Jugendlichen in unserer Gesellschaft skizziert, und dann, anhand eines Anomiemodells, Gewalt als eine der möglichen Reaktionen auf diese Situation interpretiert. Dabei wird nicht ausdrücklich zwischen den "Gewaltprofis", die organisiert oder netzwerkartig miteinander verbunden sind, und jenen, die sich im Zuge einer Konflikteskalation zu mehr oder weniger spontanen Gewaltakten hinreißen lassen, unterschieden, da die Grenze zwischen ihnen schwer zu ziehen und die Motivationshintergründe m. E. ähnlich sind. II. Orientierungsprobleme Jugendlicher
Da als politische Gewaltakteure vorwiegend Jugendliche und Jungerwachsenein Erscheinung treten 6 , soll zunächst ein Blick auf die junge Generation und ihre Probleme geworfen werden. Wie aus einer Reihe von Untersuchungen hervorgeht, haben sich insoweit, verglichen mit den 50er und 60er Jahren, wichtige Veränderungen vollzogen. 7 Zum ersten ist die Ausbildungsphase, welche den Jugendlichenstatus bestimmt, länger geworden. Die Wissenschaftler haben daraus die Konsequenz gezogen, der eigentlichen Jugendphase eine "Postadoleszenz" anzufügen und beide zusammen vom 14. bis zum 25. Lebensjahr dauern zu lassen. Die zeitliche Streckung hängt zum einen mit der Verlängerung der Hauptschule um weitere zwei Klassen (9. und 10. Klasse), zum anderen damit zusammen, daß immer mehr Jugendliche mittlere und höhere Bildungsgänge bevorzugen. Jugend hat sich damit von einem bloßen Statusübergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter zu einer eigenständigen Lebensphase entwickelt, die eigene kulturelle und Lebensstilmuster, vor allem im Bereich der Freizeit und der partnerschaftliehen Beziehungen, (z. T. auch in der Politik) hervorgebracht hat. Dieser von der Erwachsenenwelt teils geförderten, teils geduldeten Verselbständigung der Jugend steht auf der anderen Seite jedoch deren fortdauernde materielle Abhängigkeit, sei es vom Elternhaus, sei es von staatlichen Bildungszuschüssen, gegenüber ("Halbautonomie"). Hinzu kommt, daß der Ablösungsprozeß vom Elternhaus auch komplizierter geworden ist. War früher die übliche 6 Jugendliche stellen indes nicht nur die meisten Gewalttäter, sondern sind auch eine bevorzugte Zielscheibe von Gewalt. Auf diesen Aspekt hat kürzlich Hurrelmann hingewiesen. Hurrelmann, Klaus: Junge Menschen als Opfer von Gewalt, in: Deutsche Jugend 1989, H. 1, S. 11-18. In dem Aufsatzwird u.a. derenge Zusammenhang zwischen überdurchschnittlicher Aggressivität von Jugendlichen und erhöhtem Risiko, selbst Gewalt zu erleiden, aufgezeigt. 7 Vgl. etwa Fischer, ArthurI Fuchs, Werner /Zinnecker, Jürgen: Jugend und Erwachsene 85. Generationen im Vergleich, 5 Bände, Leverkusen 1985 ("Shell-Studie"); Baacke, Dieter/Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Neue Widersprüche. Jugendliche in den achtziger Jahren, Weinheim und München 1985; Wiebe, Hans-Hermann (Hg.): Jugend in Europa. Situation und Forschungsstand, Opladen 1988.
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zeitliche Reihenfolge: Eintritt ins Berufsleben- Auszug aus dem ElternhausAufnahme geschlechtlicher Beziehungen, so existiert heute keine allgemein akzeptierte Vorstellung hinsichtlich der Sequenz der Ablösungsvorgänge mehr, werden insbes. geschlechtliche Beziehungen meist vor der Erreichung der vollen beruflichen Reife aufgenommen. Ein anderer erschwerender Faktor ist das sog. Qualifikationsparadox: Einerseits wird Bildung für die Heranwachsenden immer wichtiger, müssen sie zur Wahrung ihrer beruflichen Chancen versuchen, einen möglichst hohen und qualifizierten Bildungsabschluß zu erlangen. Andererseits bilden jedoch gute Zeugnisse und die in ihnen verbrieften Kenntnisse keine Garantie dafür, daß der Jugendliche oder junge Erwachsene tatsächlich einen Arbeitsplatz findet. Engpässe auf dem Lehrstellenmarkt und immer noch beträchtliche Arbeitslosenzahlen, auch bei Jugendlichen mit abgeschlossener Berufsausbildung, sprechen insoweit eine deutliche Sprache. Bedenkt man, wie zentral für die Entwicklung von Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen die berufliche Bewährung ist, so ist unschwer nachzuvollziehen, daß sich bei beschäftigungslosen Jugendlichen ein großes Maß an Frustration und Verbitterung anstaut. Mindestens ebenso besorgniserregend sind jedoch die antizipatorischen Effekte, die von der Angst vor möglicher künftiger Arbeitslosigkeit auf die noch in der Ausbildung befindlichen Jugendlichen ausgehen. Diese Angst kann sowohl zu Resignation und zur Zurückweisung des Leistungsprinzips als auch zu einem hektischen Wettbewerb um möglichst hohe Bildungsabschlüsse führen, der niedrigere Bildungsabschlüsse auf dem Arbeitsmarkt ins Hintertreffen geraten läßt. Neben den für das Jugendalter spezifischen Belastungen bleibt die Generation der Heranwachsenden nicht von jenen Fragen verschont, die auch die Erwachsenen zunehmend bedrängen und verunsichern: Fragen der Erhaltung von Umwelt und Frieden, des Sinns und Mißbrauchs von Forschung und Technologie, der Wohlstandskluft zwischen Nord und Süd, d.h. Fragen, welche die Grundlagen des westlichen Zivilisationsmodells berühren und dessen Gültigkeit für die Zukunft in Zweifel ziehen. Erwachsene verfügen über eine mehr oder weniger gefestigte Persönlichkeitsstruktur, einen Fundus von Erfahrungen und Überzeugungen, um Schwierigkeiten zu bewältigen. Der Jugendliche ist nicht in vergleichbarer Weise gewappnet, seine Persönlichkeitsbildung ist noch im Fluß, er ist offen für neue Eindrücke, flexibel in seinen Anschauungen und Orientierungen. Die Jugendphase gilt nach wie vor als der Lebensabschnitt, in dem von dem einzelnen erwartet wird, daß er in Auseinandersetzung mit der Umwelt zu einem Bild von sich selbst und seiner Rolle in der Gesellschaft gelangt, daß er Außen- und Innenwelt koordinieren und autonom handeln lernt, kurzum daß er Identität entwickelt. Bei dieser Aufgabe der Identitätsfindung ist unsere Gesellschaft dem Jugendlichen nicht sehr behilflich. Wie vor allem U. Beck aufgezeigt hat 8 , haben sich in
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den vergangeneo Jahrzehnten traditionelle soziale Milieus wie das Klassenmilieu und berechenbare Familienverhältnisse, die den Menschen früher Halt und Orientierung gaben, teils aufgelöst, teils umstrukturiert. Dadurch ist ein bereits in die Jugendphase hineinreichender individueller Entscheidungsdruck entstanden ("Individualisierungsschub"). Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sieht sich der Jugendliche ohnedies mit einer Vielzahl unterschiedlicher und teils widersprüchlicher Wert- und Sinnangebote konfrontiert. Von der Soziologie wurde dieses Fehlen einer übergreifenden und klaren Werteorientierung in unserer Gesellschaft wiederholt herausgestellt. Bereits D. Bell diagnostizierte ein Auseinanderdriften der axialen Prinzipien von Wirtschaft, Politik und Kultur; R. Inglehart konstatierte, die Dominanz materialistischer Werte werde zunehmend durch postmaterialistische Orientierungen abgelöst. 9 Neuere Untersuchungen lassen auf eine weitere Tendenz zur Erhöhung der Unübersichtlichkeit in der Werteorientierung schließen. M. v. Klipstein / J. B. Strümpel sehen den Menschen auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen der Erfüllung innerhalb der Arbeit und postmateriellen Orientierongen außerhalb der unmittelbaren Arbeitssphäre. 10 Viele Stimmen auf dem 21. Soziologentag definierten die Entwicklungsrichtung als ungleichzeitiges Nebeneinander von traditionellem Arbeits- und Leistungsbewußtsein und von deutlich zurückgenommenen Verwirklichungswünschen in der Arbeit bei zunehmender Freizeitorientierung. 11 Allgemeiner formulierten W. Glatzer I W. Zapf für alle fortgeschrittenen Gesellschaften eine Tendenz zur Pluralisierung der Lebensstile. 12 Vielleicht müssen wir von dem Konzept geschlossener Lebensstile in Zukunft überhaupt Abschied nehmen, wenn der Prozeß ihrer Auflösung zugunsten interessen-, situations-, themen-und phasenspezifischer Verhaltensmuster weiter anhält. Zusammenfassend läßt sich in Hinblick auf die Jugendphase und die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen unserer Gesellschaft ein deutliches Mißverhältnis zwischen Problemen, Belastungen und Entscheidungszwängen 8 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986. 9 Vgl. Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt, Frankfurt 1976; Inglehart, Roland: The Silent Revolution, Princeton 1977. 1° Klipstein, Michael v.jStrümpel, Burkhard (Hg.): Gewandelte Werte- Erstarrte Strukturen. Wie die Bürger Wirtschaft und Arbeit erleben, Bonn 1985. 11 Hradil, Stefan: Entwicklungstendenzen der Schicht- und Klassenstruktur in der Bundesrepublik, in: Matthes, Joachim (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a.M. 1983, S.189205; Kern, HorstjSchuhmann, Michael: Arbeit und Sozialcharakter: alte und neue Konturen, ebd., S. 353-365; Engfer, Uwe/Hinrichs, Karl / Wiesenthal, Helmut: Arbeitswerte im Wandel. Empirische Analysen zum Zusammenhang von unkonventionellen Werten und Arbeitsbeteiligung, ebd., S. 434-454. 12 Glatzer, Wolfgang/Zapf, Wolfgang (Hg.): Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt j New York 1984.
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einerseits, Sinn- und Orientierungshilfen sowie sozialen Stützrnechanismen, die ihnen zur Verfügung stehen, andererseits erkennen. Diese Diskrepanz führt zu Verunsicherung, Ratlosigkeit, Pessimismus und einer Zunahme abweichender Verhaltensweisen; sie erzeugt jene Haltung, für die sich seit E. Durkheim in der Soziologie der Begriff soziale Anomie (d. h. Norm- und Orientierungslosigkeit) eingebürgert hat. 13 Gewaltanwendung, dies ist unsere These, ist eines der Ergebnisse dieser Orientierungsschwierigkeiten bzw. des Versuches, ihnen zu begegnen.
111. Anomiereaktionen, insbesondere Gewalt Daß Anomie, d. h. Gefühle der Hilf- und Ratlosigkeit, der Vereinsamung und Verunsicherung bei Jugendlichen in der Bundesrepublik verbreitet sind, ist u. a. einer Untersuchung von W. Heitmeyer zu entnehmen, bei der 1257 Jungen und Mädchen im Alter von 16-17 Jahren befragt wurden. 14 Von diesen Schülerinnen und Schülern blicken 71 ,3% pessimistisch in die Zukunft, 44,5% ziehen die Vergangenheit der Gegenwart vor,"weiljeder wußte, was er zu tun hatte", 77% sind der Meinung, man müsse "auf alles gefaßt sein", 32,1% haben keinen eigenen "Standort". Typische Äußerungen, die zur Begründung fielen, waren: " ... weil man gar nicht mehr weiß, was man will, jeder redet auf einen ein"; " ... weil ich mich bemühe, das, was so passiert, zu verstehen, aber nicht kann"; " ... weil es nicht mehr ist wie früher. Jeder hat seinen eigenen Weg zu gehen, so daß keiner mehr weiß, wo er dran ist"; " .. . weil die Welt so durcheinander ist. Man kriegt tausend Dinge zu hören und weiß nicht, welches stimmt" . Jugendliche reagieren auf dieses Gefühl des Ausgesetztseins und der Unsicherheit unterschiedlich. Als R. K. Merton sich vor rund 30 Jahren mit Anomieproblemen in den USA befaßte, die er als Spannung zwischen den kulturellen Werten und Zielen einer Gesellschaft und den anerkannten Mitteln und Wegen, um diese Ziele zu erreichen, definierte, gelangte er zu einer Einteilung in fünf Hauptreaktionsformen: 15 Der Konformist, jener Typus, der am meisten verbreitet ist, bejaht sowohl die gesellschaftlichen Leitwerte (etwa Wohlstand und hohes Sozialprestige) als auch die institutionell zugelassenen Formen, ihnen nachzueifern. Der Innovator ("Neuerer") erkennt zwar die Schlüsselwerte und -güter einer Gesellschaft als verbindlich an, sucht aber nach neuen, nicht immer legalen Mitteln, um sie zu erreichen. Obwohl auch in der 13 Vgl. Durkheim, Emile: Le Suicide, Etude de Sociologie, 1. Aufl., Paris 1897; hierzu und allgemein zur weiteren Entwicklung des Anomiebegriffs: Besnard, Philippe: L' Anomie. Ses usages et ses fonctions dans Ia discipline sociologique depuis Durkheim, Paris 1987. 14 Heitmeyer, Wilhelm: Rechtsextremistische Orientierung bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation, 2. Aufl., Weinheim/München 1988, S.116f., 127f. 15 Merton, Robert K.: Sozialstruktur und Anomie, in: Sack, FritzjKönig, Rene (Hg.) Kriminalsoziologie, Frankfurt 1968, S. 283-313.
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Mittel- und Oberschicht anzutreffen (Stichwort: White collar crime), begegnet man diesem Typus doch vor allem in den unteren sozialen Schichten, denen die Sozialstruktur keine angemessene Möglichkeit des sozialen Aufstiegs bietet. Unter Ritualismus versteht Merton die Überbetonung der Mittel aufKosten der höherrangigen Ziele und Werte, denen sie eigentlich dienen sollten (typischer Fall: der bürokratische Beamte). Die verbleibenden zwei Anpassungsformen sind Apathie und Rebellion. Die erste von ihnen meint den inneren und / oder äußeren Rückzug aus einer Gesellschaft, die in ihrer Totalität abgelehnt wird. Zieht sich der Aussteiger aus der Gesellschaft in eine freiwillig gewählte Isolierung zurück, so begehrt der Rebell gegen diese Gesellschaft auf, stellt sie sowohl hinsichtlich ihrer obersten Prinzipien und Werte als auch bezüglich der sozialen Kanäle und Mittel, die deren Realisierung gewährleisten sollen, in Frage. Obwohl das Mertonsche Schema primär für die nordamerikanischen Verhältnisse, die dort ebenso verbreitete wie trügerische Vorstellung der sozialen Chancengleichheit in einer noch jungen Gesellschaft, konzipiert wurde, liefert es zugleich eine brauchbare Einteilung der gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland als Reaktion auf die anomische Situation bei Jugendlichen und Heranwachsenden anzutreffenden Verhaltensformen. Innovative, teils auch ritualistische Züge kommen in der kaum überschaubaren Vielfalt der Kleider-, Haar-, Eß- und Musikmoden zum Tragen, in dem Anklang, den neue Sportarten und ausgefallene Hobbies finden, sowie der Buntheit und dem raschen Wechsel jugendlicher Lebens- und Verhaltensstile. Möglicherweise fallen, in unmittelbarer Anlehnung an Mertons Interpretation, auch die wachsenden Zahlen Krimineller unter diese Kategorie, in jedem Fall ist der erstaunliche Erfindungsreichtum junger Leute in bezug auf bislang unbekannte Berufswege und Ausbildungsmuster- man denke nur an die oft abenteuerlichen Fächerkombinationen, in denen an den Philosophischen Fakultäten der Universitäten der Abschluß eines Magister Artium angestrebt wird - als innovativ einzustufen. Die zunehmende Zahl Drogensüchtiger (samt der kaum geringeren, aber weniger beachteten Gruppe jugendlicher Alkoholiker) steht für die Tendenz zur Flucht aus der Gesellschaft und ihren Zwängen. Diese Flucht endet im Extremfall in Selbstzerstörung- ein beträchtlicher Prozentsatz der Selbstmorde in der BRD (deren Zahl konstant bei 18-20 je 100000 Einwohner pro Jahr liegt) entf