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German Pages 272 [273] Year 2009
Steinmüller Gesundheit – Lernen – Kreativität
Verlag Hans Huber Programmbereich Gesundheit
Bücher aus verwandten Sachgebieten Bernard / Stricker / Steinmüller Ideokinese Ein kreativer Weg zu Bewegung und Körperhaltung 2003. ISBN 978-3-456-83874-8 Höhmann-Kost Bewegung ist Leben Integrative Leib- und Bewegungstherapie – eine Einführung 2002. ISBN 978-3-456-83812-0 Nathan Berührung und Gefühl in der manuellen Therapie 2001. ISBN 978-3-456-83408-5 Rytz Bei sich und in Kontakt Körpertherapeutische Übungen zur Achtsamkeit im Alltag 2. Aufl. 2007. ISBN 978-3-456-84468-8 Todd Der Körper denkt mit Anatomie als Ausdruck dynamischer Kräfte 2. Aufl. 2003. ISBN 978-3-456-83927-1 Willke Tanztherapie: Theoretische Kontexte und Grundlagen der Intervention 2007. ISBN 978-3-456-84423-7
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Wolfgang Steinmüller Karin Schaefer Michael Fortwängler (Herausgeber)
Gesundheit – Lernen – Kreativität Alexander-Technik, Eutonie Gerda Alexander und Feldenkrais als Methoden zur Gestaltung somatopsychischer Lernprozesse Unter Mitarbeit von Ruth Künzler, Gerlinde Lamprecht, Helmut Milz, Hilarion Petzold, Renate Riese und Irene Sieben
2., unveränderte Auflage
Verlag Hans Huber
Lektorat: Klaus Reinhardt Herstellung: Peter E. Wüthrich Titelillustration: Harald Schröder, Wiesbaden Umschlag: Atelier Mühlberg, Basel Druckvorstufe: Hubert & Co., Göttingen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Anregungen und Zuschriften bitte an: Verlag Hans Huber Hogrefe AG Länggass-Strasse 76 CH-3000 Bern 9 Tel: 0041 (0)31 300 45 00 Fax: 0041 (0)31 300 45 93 2., unveränderte Auflage 2009 © 2001/2009 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern ISBN 978-3-456-84727-6
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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die F. M. Alexander-Technik (Michael Fortwängler und Gerlinde Lamprecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Eutonie Gerda Alexander (Karin Schaefer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Feldenkrais-Methode (Wolfgang Steinmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Therapeutische Dimensionen somatopsychischen Lernens (Ruth Künzler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogische Dimensionen somatopsychischen Lernens (Renate Riese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Künstlerische Dimensionen und Anwendungsmöglichkeiten (Irene Sieben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit dem Leib lernen – Gesundheit und Heilung ganzheitlich fördern (Helmut Milz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zu Praxeologien – körper- und bewegungsorientierte Arbeit mit Menschen aus integrativer Perspektive (Hilarion Petzold) . . .
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Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Über die AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
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Einleitung Wissen gilt als hohes Gut. Wir leben in einer so genannten Wissensgesellschaft. Organisationsberater betonen, wie nötig ein Management dieses Wissens sei. Wissen ist eine soziale Größe, meist ist jedoch unklar, von welchem Wissen die Rede ist. Allgemeiner Konsens besteht darin, dass Effizienz und Kreativität im modernen Leben eine große Rolle spielen und hierzu Wissen und dessen Anwendung nötig sind. Lernen und Wissen sind eng miteinander verbunden, und der Lernbegriff wird immer weiter definiert. Man spricht von «lernenden Unternehmen» und «lernenden Systemen». In diesem Buch wird von Menschen die Rede sein, die sich mit ihrem Körper Wissen erarbeitet haben und dieses sinnvoll zu nutzen wussten. Gesundheit gilt ebenfalls als hohes Gut. Sie ist in den Rang einer sozialen Tugend erhoben worden. Wirtschaftstheoretiker gehen davon aus, dass Gesundheit sogar ein Thema des nächsten großen Wirtschaftszyklus sein könnte und die Themen Informationstechnologie und Mobilität der vorangegangenen Zyklen ablöst. Der Begriff Gesundheit lässt sich unter höchst unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachten und spielt in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen eine wichtige Rolle. Die Gesundheitswissenschaft versucht Gesundheit in all ihren Aspekten zu verstehen und bietet einen sinnvollen Rahmen für die Veröffentlichung dieses Buches. Wenn es um den Begriff des menschlichen Körpers geht, verhält es sich ähnlich wie mit dem Begriff Wissen. Jeder weiß, um was es geht, aber niemand kann sich sicher sein, ob alle auch wirklich das Gleiche meinen. In der deutschen Sprache gibt es eine Unterscheidung zwischen «Leib» und «Körper». Mit Leib ist immer der lebendige Körper gemeint, der Begriff Körper hingegen wird sowohl für Belebtes als auch für Unbelebtes verwandt. Eine lebendige Körperlichkeit ermöglicht Menschen, sich als ein sich selbst beobachtendes Wesen wahrzunehmen. Mit dieser Selbstbeobachtung sind unweigerlich Lernprozesse verbunden. Anders ausgedrückt: Menschen lernen mit Leib und Seele. Bei der Suche nach einer eindeutigen Begrifflichkeit für diesen Zusammenhang wurden wir mit den Verständigungsschwierigkeiten zwischen Natur- und Geisteswissenschaft konfrontiert. Wir
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haben uns entschieden, Soma als Synonym von Leib zu verwenden und Psyche als Synonym von Seele. In diesem Buch sprechen wir daher von somatopsychischen Lernprozessen. Die in diesem Buch beschriebenen Methoden entstanden im 20. Jahrhundert zu einer Zeit, in der kritisches Nachdenken über die Trennung von Körper und Geist noch nicht allgemeines Gedankengut war. Von Descartes’ «cogito ergo sum» bis Merleau-Pontys «Phänomenologie der Wahrnehmung» sind mehrere Jahrhunderte vergangen. Merleau-Ponty bevorzugt gegenüber dem klassischen «ich denke» der durch Descartes geprägten neuzeitlichen Philosophie das «ich kann» des leiblichen Verhaltens (Christian Bermes, 1999, S. 15). «Der Gebrauch, den der Mensch von seinem Leibe macht, transzendiert den Körper als bloß biologisch Seiendes.» (Merleau-Ponty, 1966, S. 224) Die Entwickler der hier beschriebenen Methoden beobachteten ihren eigenen Körper – seine Aktionen und Reaktionen – mit großer Aufmerksamkeit und großer Neugier. Bei allen dreien war das Erforschen ihrer körperlichen Möglichkeiten mit einem Problem verbunden, das es zu lösen galt. Ihre Methoden entstanden im Rahmen eines Selbsthilfeprozesses. Auf der Suche nach Selbstverbesserung machten sie nicht Halt, nachdem sich ihr Symptom verändert hatte, sondern entdeckten die Notwendigkeit, weiterzuarbeiten, um ihr Wissen zu vertiefen. Das Besondere an diesem Wissen ist, dass es das vom Körper schon immer «Gewusste» verändert. Gewohnheiten, von denen man weiß, sind nicht mehr die gleichen. Dieses Wissen ist nicht rein theoretisch, sondern entfaltet in der körperlichen Anwendung seine Wirksamkeit. Es kann gesundheitsfördernd, heilend oder lehrreich im weitesten Sinne sein. Die Alexander-Technik, die Eutonie nach Gerda Alexander und die Feldenkrais-Methode werden immer wieder den so genannten Körpertherapien zugeordnet. Den meisten Lesern wird der Begriff «Körpertherapie» vertraut sein. Viele wissen jedoch nicht, dass sich die Entwickler der hier beschriebenen Methoden mit dieser Einordnung, die teilweise erst nach ihrem Tod stattgefunden hat, nicht einverstanden erklärt hätten. Dies liegt unter anderem an den vielfältigen Möglichkeiten, die Begriffe Körper und Therapie zu verstehen. Das griechisch-deutsche Wörterbuch von Gemoll bietet zu dem Verb «therapeuein» mehrere Übersetzungen. Eine lautet: «mit großer Aufmerksamkeit behandeln». Zur Entstehungszeit der Methoden war das allgemeine Verständnis von Therapie ein anderes als heute. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war hierarchischer als heute und die Psychosomatik als medizinische Fachrichtung noch nicht etabliert. Ein Grund für eine gewisse Abgrenzung zum Begriff Therapie waren schlechte oder gar traumatische Erfahrungen der Methodenbegründer mit «Therapeuten». Anstatt mit großer Aufmerksamkeit behandelt zu werden, erlebten sie zu wenig Verständnis für ihre Situation. Dies war für sie Anlass, nach neuen Wegen, jenseits der etablierten Medizin zu suchen. Trotzdem haben sie
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immer wieder den Austausch mit praktizierenden Ärzten und forschenden Wissenschaftlern gesucht, deren Rückmeldungen für die Weiterentwicklung der Methoden eine große Rolle spielten. «Die Gestaltung somatopsychischer Lernprozesse» ist nicht nur der Untertitel dieses Buches, sondern auch der gemeinsame Nenner der drei Methoden, die in diesem Buch exemplarisch dargestellt werden. Obwohl sie noch immer unter dem Begriff «Körpertherapien» eingeordnet werden, besteht bei Praktizierenden der Alexander-Technik, Eutonie und der Feldenkrais-Methode eine berechtigte Unzufriedenheit bezüglich dieser Kategorisierung, da sie nicht genau genug erscheint. Ein erster Versuch der Gründergeneration dieser Methoden, sich untereinander auszutauschen und mit einer gemeinsamen Veröffentlichung nach außen zu wirken, fand 1959 in Kopenhagen statt. Auf Einladung von Gerda Alexander trafen sich im Rahmen des «1. Internationalen Kongresses für Entspannung und natürliche Bewegung» Vertreter verschiedener Methoden. Dem Bemühen, gemeinsame Grundlagen zu beschreiben, war kein Erfolg beschieden. Gerda Alexanders Hoffnung, einen gemeinsamen Überbegriff für die verschiedenen Schulen zu finden, wurde enttäuscht. Die Methoden waren teilweise noch im Entstehen, und die Notwendigkeit, sich voneinander abzugrenzen, war wohl größer als die, sich zu einigen. Damals wie heute ging es um die Abgrenzung zur Physiotherapie und Psychotherapie und um den Umgang mit dem Therapiebegriff. Sich als Pädagogen zu verstehen, erwies sich zu jener Zeit als gangbarer Weg. Es vergingen weitere 35 Jahre, bis es 1994 zu einem Begegnungsseminar zwischen 50 Lehrern der drei Methoden kam, bei dem sich die Herausgeber dieses Buches kennen lernten. Wir blieben seither in Verbindung und erforschten Gemeinsamkeiten und Unterschiede unserer Methoden. Nach einem anregenden Austausch mit theoretisch profilierten Wissenschaftlern, die den Begriff des «somatischen Lernens» in der Pädagogik entwickelt haben, haben wir uns letztlich entschlossen, als Praktiker ein Buch herauszugeben, mit dem wir einen Schritt nach außen wagen. Bei diesem Schritt hatten wir das Glück, in Dr. Klaus Reinhardt, Lektor beim Verlag Hans Huber, einen kompetenten Ratgeber zur Seite zu haben. Dieses Buch ist das Ergebnis eines Dialogs zwischen uns und anderen, die in den Bereichen Medizin, Pädagogik und Kunst Erfahrungen mit den Methoden gesammelt haben. Die drei Begründer hatten intensive Beziehungen zu Pädagogen, Ärzten und Wissenschaftlern, deren Rückmeldungen für die Weiterentwicklung der Methoden eine große Rolle spielten. Das gestalterische Element, das in allen drei Methoden enthalten ist, hat schon sehr früh in der Entwicklung der Methoden auch Künstler veranlasst, sich mit deren Anwendung zu beschäftigen. Es erscheint uns wichtig, die Kreativität als ein wesentliches Element der Methoden zu betonen: Wir drücken dies auch im Titel aus, indem wir Gesundheit, Lernen und Kreativität nebeneinander stellen.
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Im ersten Teil des Buches werden Theorie und Praxis der Methoden ausführlich beschrieben. Im zweiten Teil des Buches werden die pädagogischen, therapeutischen und künstlerischen Dimensionen der Methoden aufgezeigt, und es wird eine gesellschaftliche Standortbestimmung vorgenommen. Die Autoren verweisen auf Anwendungsmöglichkeiten in pädagogischen, therapeutischen und künstlerischen Arbeitsfeldern. Wir Herausgeber hoffen, durch dieses Buch eine kritische Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der beschriebenen Methoden anzuregen. Das Anliegen aller an diesem Buch beteiligten Autoren ist es, einen Beitrag zu einem erweiterten Verständnis von Gesundheit, Kreativität und Lernen zu leisten.
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Die F. M. Alexander-Technik Michael Fortwängler und Gerlinde Lamprecht
Die ersten Unterrichtsstunden Frau Sch. kam zum Unterricht, da sie in einem Buch über die AlexanderTechnik gelesen hatte und ausprobieren wollte, ob die Methode für sie hilfreich sein könnte. Sie hatte häufig Hüftprobleme durch eine Beinlängendifferenz. Zur ersten Stunde brachte sie ihr fünf Monate altes Baby mit. Dies erwies sich im späteren Verlauf als sehr vorteilhaft, da durch das Kind zusätzliche Probleme auftauchten, die im Unterricht zur Sprache kamen. Nach einem ersten orientierenden Gespräch und einer kurzen Einführung in die Arbeitsweise der Alexander-Technik möchte ich in der Regel die Schüler mit den Händen «kennen lernen», d. h. ich erkunde taktil die körperlichen Gegebenheiten und vervollständige so die Eindrücke, die sich mir visuell darbieten. Bei Frau Sch. wurde deutlich, dass sie im Stehen das Becken nach vorne schiebt und dadurch die Spannungsverhältnisse im Körper aus dem Gleichgewicht bringt. Durch den Kontakt meiner Hände ermöglichte ich ihrem Kopf, müheloser auf der Halswirbelsäule zu balancieren, und förderte damit die freie Koordination des übrigen Körpers. Durch die subtile Führung mit meinen Händen machte ich sie darauf aufmerksam, dass es auch möglich ist zu stehen, ohne das Becken nach vorne zu schieben. Dadurch bekam sie ein Gefühl dafür, im Lot zu stehen. Sie konnte dies auch sofort als eine Erleichterung für den Unterleib beschreiben, der durch Schwangerschaft und Geburt stark in Mitleidenschaft gezogen war.
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Die Schülerin konnte ihr Muster, das Becken nach vorne zu schieben, sehr gut wahrnehmen, als sie ihr Kind auf den Arm nahm. Sie konnte eine Veränderung herbeiführen, indem sie meinen Vorschlag aufgriff, mehr die Hinterseite der Beine wahrzunehmen und das Becken in Richtung Körperlot gehen zu lassen. In der ersten Stunde wurde für sie deutlich erfahrbar, wie sich die körperlichen Gegebenheiten beeinflussen lassen, und sie berichtete in der nächsten Unterrichtsstunde, dass diese Veränderungen sehr stark nachgewirkt hätten. «Ich wusste nach der Geburt gar nicht mehr, wie ich stehen sollte, nachdem der Schwangerschaftsbauch weg war.» Auch berichtete sie, dass ihr die erste Begegnung mit der Alexander-Technik «mehr für den Unterleib geholfen hat als die Rückbildungsgymnastik», die sie seit längerem praktizierte. Sie hatte das Gefühl, dass nun die Gebärmutter wieder mehr im Körper verankert sei. Auch ihr psychisches Wohlbefinden hatte sich nach der Stunde deutlich gesteigert. Nachdem ich in der zweiten Unterrichtsstunde mit Frau Sch. im Liegen gearbeitet hatte, um ihren Körper und ihre Bewegungsmuster noch weiter kennen zu lernen, waren in der dritten Stunde auf Wunsch der Schülerin die Schultern das Thema. Durch das Sitzen mit einem ausgeprägten Rundrücken bekam sie immer wieder Schmerzen im Schulterbereich. Wiederum war es hier sehr hilfreich, zunächst dem Kopf ein freieres Balancieren zu ermöglichen. Außerdem war es für Frau Sch. entlastend, sich mit dem Rücken der Stuhllehne anvertrauen zu können. Ganz von selbst verschwand dadurch der Rundrücken und die Schultern konnten in eine natürliche Weite gehen. Frau Sch. konnte erkennen, dass sie bei Armbewegungen die Muskulatur des Schulterbereiches überproportional beanspruchte und dass dies z. B. für das Heben des Armes nicht notwendig ist. Mit diesem Wissen und der gedanklichen Einstellung: «Die Hände führen den Arm nach oben», konnten Veränderungen des bisherigen Bewegungsmusters von Frau Sch. erreicht werden. Wiederum durch die Anwesenheit des Babys konnte sie unmittelbar die Anwendung in einer Alltagssituation üben. Auch wenn Frau Sch. ihren Sohn im Arm hielt, war es ihr möglich, die Weite des Schulterbereiches beizubehalten und nicht in ihr altes Muster des Rundrückens zurückzukehren. Sie erfuhr dadurch eine deutliche Erleichterung für den gesamten Schulterbereich. Um diesen Einsatz ihres Körpers zu stabilisieren, habe ich die Schülerin an dieser Stelle ermuntert, vor dem Beginn einer Tätigkeit im Umgang mit dem Kind (z. B. beim Wickeln auf dem Wickeltisch) einen Moment innezuhalten, d. h. sich einen Moment Zeit für sich zu nehmen. In dieser
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Zeitspanne ist es möglich, sich den körperlichen Gegebenheiten bewusst zuzuwenden und bessere Ausgangsbedingungen für die folgende Anforderung zu schaffen. Nebenbei bemerkt: auch das Baby fühlte sich in den Stunden sichtlich wohl. Die meiste Zeit lag es ruhig und auf einer Decke und vergnügte sich mit einer Reihe mitgebrachter Spielsachen. Die dreizehnjährige Meike kam gemeinsam mit ihrer Mutter zur ersten Alexander-Stunde. Anlass war die Diagnose Morbus Scheuermann, eine Verformung bestimmter Wirbelkörper, was nach Meinung der Mutter eine bereits sichtbare Verformung der gesamten Brustwirbelsäule mit sich brachte. Meike machte einen aufgeweckten und interessierten Eindruck. Wie in jeder ersten Unterrichtsstunde erfolgte eine ausführlichere Unterhaltung, um Informationen über Erwartungen an den Unterricht, Anlass oder Beschwerdebild und einen allgemeinen Eindruck der Person zu erhalten. Meike saß auffallend aufgerichtet da, allerdings durch Unterstützung der Arme und unter sichtlicher Spannung im Rumpfbereich. Auf meine Frage, ob das denn die Art und Weise sei, wie sie üblicherweise sitze, erhielt ich zwei Antworten: Ja, sagte Meike; nein, sagte die Mutter. Mutter und Tochter einigten sich schließlich darauf, dass sie normalerweise tatsächlich eher zusammengesunken sitzt. Meike demonstrierte die übliche Art und Weise ihres Sitzens. Ganz offensichtlich gab es für sie nur zwei Möglichkeiten zu sitzen: zusammengesunken mit deutlicher Spannung der Vorderseite des Rumpfes oder starr aufgerichtet mit übertriebener Anspannung im Rücken und in den Armen. Auf Befragen sagte Meike, dass aufrechtes Sitzen für sie wohl gesünder sei, aber sehr unangenehm, zuweilen sogar schmerzhaft. Sie nahm dennoch ihre starre aufrechte Haltung wieder ein. Nachdem ich Meike den äußeren Ablauf einer Alexander-Stunde erklärt hatte, begann ich, sie mit meinen Händen zu kleinen Bewegungen erst des Kopfes, dann des Rumpfes einzuladen. Die jeweiligen Bewegungen wurden in einer Art Spiel von mir benannt: das ist die Bewegung des Kopfes, die du machst, wenn dich deine Mutter fragt, ob du das Zimmer schon aufgeräumt hast; das ist die Bewegung, die du machst, wenn dich deine Mutter fragt, ob du ein Eis möchtest; das ist die Bewegung, die du machst, wenn du einem Vogel nachblickst usw. Um den jeweiligen Bewegungen folgen zu können, reduzierte Meike nach und nach die Spannung im Hals und im Rumpf. Die Bewegungen ließen sich schließlich ohne nennenswerten Anfangswiderstand auslösen, nur die Vorneigung des ganzen Rumpfes bereitete Schwierigkeiten. Ich nahm das Skelettmodell zu Hilfe, um ihr Struktur und Funktion der Sitzbeinknochen zu erklären. Ich ließ das Skelettmodell auf einem Stuhl sitzen
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und mehrfach eine Neigung nach vorne ausführen. Meike beobachtete dabei die Sitzbeinknochen. Wir besprachen Sinn und Zweck dieser «Kufen», und ich führte sie erneut in diese Bewegung. Schließlich konnte ich sie im Sitzen in sämtliche Bewegungen des Rumpfes und Kopfes führen. Sie saß immer noch aufgerichtet, aber mit deutlich weniger Spannung. Sie konnte das wahrnehmen und dadurch erkennen, dass Aufrichtung nicht anstrengend sein muss. Im weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde behandelten wir als Themen noch das Gehen, Stehen und Liegen. Dabei ging es ebenfalls um die Möglichkeit, etwas ohne Anstrengung zu tun und um die Unterstützung, die uns dabei die Knochen unseres Skelettes geben. In der zweiten Unterrichtsstunde berichtete Meike auf meine Nachfrage, dass sie sich noch einige Zeit nach der ersten Stunde leichter gefühlt habe. Jetzt jedoch saß sie mit der gleichen Anstrengung wie beim ersten Mal, indem sie ihre Arme zu Hilfe nahm um sich aufzurichten. Ich arbeitete mit ihr noch einmal in der gleichen Weise wie in der ersten Stunde. Ich bat sie aufzustehen und leitete mit meinen Händen weiteres Loslassen im Hals an, damit der Kopf freier balancieren konnte. Meike konnte dem gut folgen. Nachdem sie schließlich aufgerichtet, aber mit einer für sie wahrnehmbaren Mühelosigkeit stand, machte sie eine für den Fortgang des Unterrichts wichtige Bemerkung: «Das fühlt sich total anders an, als wie ich normalerweise stehe.» Mit meiner Frage: «Wie stehst du denn normalerweise?», konnte sie nichts anfangen. Darauf bat ich sie: «Kannst du dich einmal so hinstellen, wie du normalerweise stehst?» Nach kurzem Zögern beugte sie sich in der Brustwirbelsäule und zog Becken und Schultern nach vorne. Ich bat sie zu beschreiben, was sie gerade getan hatte. Aufgrund ihrer eigenen zutreffenden Beschreibung konnte ich ihr begreiflich machen, dass sie sich auf eine bestimmte Weise anspannen muss, um so zu stehen, wie sie normalerweise steht und folglich etwas loslassen muss, um so zu stehen, wie sie davor durch meine Anleitung gestanden war. Um ihr zu verdeutlichen, dass ihre Art zu stehen sowie jede andere Aktivität einer Art von Plan folgt und wir daher an der Bewegung erkennen können, welcher Plan der Bewegung oder Körperhaltung zugrunde liegt, stellte ich mich im weiteren Verlauf der Stunde vor einen Stuhl und bat sie, mir Anweisungen für das Hinsetzen zu geben. Sie ordnete das Beugen der Knie an, was ich ausführte; da ich jetzt allerdings sehr schräg stehen musste mit gebeugten Knien, aber nach wie vor gestreckten Hüftgelenken, wurde ihr klar, dass ich mich, um mich hinzusetzen, noch in den Hüftgelenken beugen müsste. Ich fragte, wo genau ich mich beugen solle, wo denn die Hüftgelenke seien? Sie überlegte kurz und zeigte dann auf die Taille – also etwa zehn Zen-
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timeter oberhalb der Hüftgelenke. Ich demonstrierte unter großem Gelächter von Mutter und Tochter, wie jemand sich setzt und dann auch sitzen muss, der sich in Höhe der Taille beugt, statt in den Hüftgelenken. Wir spielten noch etwas mit diesen beiden Bewegungsplänen – Beugen des Rumpfes in den Hüftgelenken, Beugen des Rumpfes in Höhe der Taille. Durch diese Experimente und zusätzliche Erläuterungen am Skelettmodell wurde ihr klar, wie sich sinnvolle Bewegungen aus der Struktur des Körpers ableiten lassen. Darauf aufbauend zeigte ich ihr noch einmal mit den Händen die Aufrichtung im Rumpf, eingeleitet durch ein Loslassen im Hals und die daraus folgende freiere Balance des Kopfes. Bei der anschließenden Bewegung des Gehens verdeutlichte ich ihr die Beugung der Hüftgelenke bei dieser Bewegung. Die Leichtigkeit, die sich beim Gehen durch die Aufrichtung und durch die angemessene Nutzung der Beweglichkeit der Hüftgelenke einstellt, war für sie deutlich wahrnehmbar. Eineinhalb Jahre Alexander-Unterricht – Erfahrungsbericht der 25-jährigen Musikerin Sibylle B. Als ich mit dem Alexander-Unterricht begann, hatte ich ehrlich gesagt keine konkrete Vorstellung von dem, was Alexander-Technik ist. Im Wesentlichen stützte sich mein Wissen auf das, was ich von einem Kommilitonen davon gehört hatte. Konkret versprach ich mir davon einen Nutzen für mein Klavierspiel, genauer gesagt bei der «Koordination von Nervositätserscheinungen» – so würde ich es heute nennen; zum damaligen Zeitpunkt ging es mir einfach darum, meine Vorspielangst mit allem, was dazu gehört, in den Griff zu bekommen. Ich war mir vorher keineswegs sicher, ob mir die AlexanderTechnik dabei helfen würde. In der ersten Stunde sollte ich, nachdem mich mein Alexander-Lehrer über meine Motivation, Alexander-Stunden zu nehmen, und einige andere Dinge befragt hatte, etwas am Klavier vorspielen. Ich habe das Scherzo aus dem Faschingsschwank aus Wien von Schumann gespielt. Ich weiß das heute noch, weil es sehr unangenehm war. Das lag vor allem daran, dass ich dabei die ganze Zeit beobachtet wurde. Ich habe dann noch einmal gespielt, und dabei begann die Arbeit, bei der mich der Alexander-Lehrer durch eine bestimmte Führung seiner Hände in meiner Koordination beim Klavierspielen begleitete. Davon weiß ich noch, dass es mich zwar ablenkte, aber nicht grundsätzlich beim Spielen behinderte. In den nächsten Stunden haben wir zuerst weiter an dem SchumannStück gearbeitet, d. h. wir haben beobachtet, welche Bewegungen ich unter
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Stress mache, welche davon notwendig und welche überflüssig oder sogar hinderlich sind. Als Nächstes habe ich ein Stück mitgebracht, das mir sehr am Herzen liegt: Schubert, aus den Stücken aus dem Nachlass D946, Stück 11. Am Anfang spielte ich nur die Teile des Stückes, die ich gut konnte, weil ich dadurch mehr von meinen Bewegungen und meiner Koordination wahrnehmen konnte. Nach und nach kam ich aber auch zu den «Problemstellen». Ich weiß noch, dass wir herausfanden, dass ich mich bei Stellen, die einen stärkeren emotionalen Gehalt hatten, sehr nach vorne beugte, so dass ich mich selbst behinderte und die linke Hand die Sprünge nicht mehr sicher ausführen konnte. Mein Alexander-Lehrer hat dann meinen Körper komplementär in die Gegenrichtung gezogen, so dass ich wusste, wann ich mich nach vorne beuge, aber auch, was mich sehr erstaunte, mit welchem Kraftaufwand ich das tat. Das erste Mal richtig fasziniert war ich, als ich ziemlich ruhig und vor allem in meiner ganzen Länge ausgerichtet sitzend völlig frei spielen konnte – ein gutes, sicheres Gefühl. Mit der Zeit lösten sich auch die Nackenverspannungen, die sehr lästig waren und wohl dadurch zustande gekommen waren, dass ich ständig den Kopf zurückgezogen hatte. Interessant war für mich, dass ich viele Bewegungen gar nicht brauchte, wobei es einige Zeit dauerte, bis ich mich auf dieses Gefühl verlassen konnte. Ich lerne grundsätzlich eher systematisch und verinnerliche etwas nur, wenn ich es auch verstanden habe. Im Allgemeinen frage ich solange nach, bis dies der Fall ist. Hier musste ich zunächst einmal lernen, wonach ich fragen muss. Aber so weit konnte ich zu diesem Zeitpunkt folgen, dass es in einem ersten Schritt um Aufmerksamkeit und Beobachtung ging und in einem zweiten um die Entscheidung für oder gegen bestimmte Bewegungsmuster. Es zeigten sich nun Resultate, da ich, wie ich fand, zu einem schönen Ton («Wohlfühl-Bauch-Ton») zurückfand. Ich hatte davor Schwierigkeiten wegen einer Blockade in der rechten Hand. Vielleicht habe ich zu dieser Zeit zumindest für mich selbst einen Sprung beim Lernen bemerkt. Nach den Sommerferien begann die Arbeit am Programm für die Abschlussprüfung an der Musikhochschule. Wir begannen mit Grundsätzlichem: an der Arbeit der körperlichen und mentalen Ausrichtung vor dem unmittelbaren Beginn des Spielens. Allmählich gelang es mir, manche im Unterricht erarbeitete Ausrichtungen auch selbständig zu finden, wobei ich aber gerade daran auch viel allein gearbeitet habe. Ich bemerkte beim Spielen eine Besserung, zudem machte es mir einfach viel Spaß, mit den neuen Möglichkeiten zu experimentieren. Mir war das vorher nie so klar, wie elementar die Ausgangsposition beim Spielen ist. Wenn wir die Stücke noch einmal genauer durchgehen würden, würde mir wahrscheinlich noch mehr
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einfallen. Ich erinnere mich z. B. an eine schwierige Zeit mit meiner Professorin, während der eigentlich der Alexander-Technik-Unterricht den Klavierunterricht ersetzte. Ich hatte in Schumanns Fantasiestücken op. 111 im zweiten Stück ein Problem mit dem musikalischen Bogen, den ich deshalb auch nicht in einer Linie auszudrücken vermochte. Zunächst ließ mich der Alexander-Lehrer die Höhepunkte, die ich in den Bögen sah, in den Noten zeigen, dann verglichen wir dies mit dem Bewegungsablauf, den ich mir angewöhnt hatte – natürlich stimmte das nicht überein. Als wir beides aber angeglichen hatten, klang das Stück ganz anders. Was ich immer wieder faszinierend fand, war, dass es allmählich funktionierte, sich auf ein bestimmtes Bewegungskonzept zu verlassen, d. h. es gab Stellen, in denen ich bewusst einer bestimmten Bewegung nicht nachgab, weil ich mittlerweile wusste, dass sie mich behinderte. Zum Beispiel bei Mozarts a-Moll-Sonate haben wir viel im Detail gearbeitet; unter anderem an meinem Einsatz der linken Hand: Wie sehr soll ich bei Begleitfiguren den Ellbogen anheben, was ist angemessen? Oder, als weiteres Beispiel, ich konnte erstmals spüren, dass ich mich schon zwei Takte vor einer schwierigen Passage anspannte, was zur Folge hatte, dass ich die Passage davor auch schon in den Sand setzte. Wenn eine Stelle dann allerdings klappte, war ich rundum zufrieden. Ich fühlte mich sowohl von der Bewegung als auch vom musikalischen Ausdruck her wohl. Beim Vorspielen habe ich all dies immer wieder anzuwenden versucht. Es gab zwar Einbrüche unter Stress, aber es wurde immer besser. Erst jetzt kümmerten wir uns eigentlich wieder um das Nervositätsproblem, indem wir beobachteten, welche Symptome unter Nervosität bei mir auftraten. Dann ging es darum, trotzdem zu spielen, was – und das hätte ich nie geglaubt – erstaunlicherweise ganz gut funktionierte. Ich bin heute immer noch nervös beim Spielen, ich zittere noch und muss aufpassen, dass ich keine kalten Hände bekomme (das heftige Erröten geschieht nur noch selten!), aber das löst keine Blockade mehr aus, da ich damit rechne und besser damit umgehen kann. Manchmal glaubte ich meinem Alexander-Lehrer einfach nicht, dass ich mich beim Klavierspielen bei manchen Passagen nach vorne beugte und anspannte, oder dass ich die Arme geradezu an den Körper presste. Erst durch die körperliche Erfahrung des Loslassens dieser Spannungen konnte ich immer wieder davon überzeugt werden, dass an solchen Stellen meine Wahrnehmung unzuverlässig war. Was sich leichter verändern ließ, war das Hochziehen der Schultern, da es mir bereits bewusst war. Ich bin in die Alexander-Technik ein bisschen reingestolpert und hatte nicht damit gerechnet, dadurch zu einem ganz anders erlebten Spielen zu
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gelangen. Ich hatte keine Idee davon, dass Körper, Musik und Denken so dicht beisammen liegen. Ich denke heute, dass nicht nur die Nervosität den Körper und damit das Spielen negativ beeinflussen kann, sondern dass auch umgekehrt der Körper durch neue Bewegungsmuster die Nervosität positiv beeinflussen kann. Natürlich war ich beim Vorspielen während der Abschlussprüfung nervös, es ist immer wieder ein bisschen wie «ohne Netz auf dem Hochseil», aber die Unsicherheitsfaktoren waren doch erheblich eingeschränkt – entsprechend erfreulich war dann auch das Ergebnis.
Diese drei Beispiele sollen zeigen – soweit das durch das geschriebene Wort überhaupt möglich ist – wie im Alexander-Technik-Unterricht praktisch gearbeitet wird. Diese Arbeitsweise basiert auf den Prinzipien, die F. M. Alexander Ende des 19. Jahrhunderts formuliert hat. Betrachten wir nun, wie er überhaupt dazu kam, diese Prinzipien zu entdecken und zu einer Technik weiterzuentwickeln.
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Die Entwicklung der Alexander-Technik Ein Problem mit der Stimme stand am Anfang Frederick Matthias Alexander wurde am 20. Januar 1869 in Wynyard (Tasmanien) als ältestes von acht Kindern geboren. Er wuchs dort auf einer großen, abgelegenen Farm heran. Seine Schulbildung erhielt er weitgehend durch Privatunterricht, da er wegen häufig auftretenden Atembeschwerden von der Schule genommen worden war. Seine Leidenschaft gehörte dem Theater, insbesondere begeisterte ihn Shakespeare. Nach Musik- und Schauspielunterricht bei den besten Lehrern in Melbourne begann er als professioneller Rezitator und Schauspieler aufzutreten. Es gelang ihm sehr schnell, sich einen Namen zu machen. Der Erfolg wurde jedoch bald getrübt durch eine hartnäckige Neigung zu Heiserkeit und Atembeschwerden während des Rezitierens. Stimmlehrer und Ärzte, die er aufsuchte, rieten ihm zur Schonung der Stimme. Dies hatte jedoch nur solange Erfolg, bis er erneut auf der Bühne stand und seine Stimme belastete. So machte er sich selbst auf die Suche, nach den Gründen zu forschen, die zu dem immer wiederkehrenden Verlust der Stimme führten. Er kam zu dem Schluss, dass die Ursache seines Problems beim Gebrauch seiner Stimme auf der Bühne lag. Es musste einen Unterschied geben zwischen seinem Sprechen im Alltag und während des Rezitierens auf der Bühne: … wenn nicht das normale Sprechen, sondern das öffentliche Rezitieren die Heiserkeit bewirkte, dann musste es einen Unterschied geben zwischen dem, was ich beim Rezitieren tat und dem, was ich beim normalen Sprechen tat. Wenn dies der Fall wäre und ich den Unterschied feststellen könnte, könnte mir dies vielleicht helfen, die Heiserkeit loszuwerden, und zumindest könnte ich keinen Schaden anrichten, indem ich ein Experiment unternahm. (Alexander, 1988/1932, S. 26) Er entdeckte grundlegende Zusammenhänge der Koordination des menschlichen Körpers, die weit über den eigentlichen Anlass seiner Stimmprobleme hinaus reichten. Auf der Grundlage seiner Entdeckungen entwickelte er im Laufe von etwa zehn Jahren seine Arbeitsmethode, die später unter dem Namen AlexanderTechnik bekannt wurde. Alexander unterrichtete zunächst in Melbourne, dann in Sydney. Nachdem er sich als Lehrer etabliert hatte und zwischen 1900 und 1904 Direktor des Opernund Schauspielhauses in Sydney gewesen war, entschloss er sich, nach London überzusiedeln und dort seine Methode zu verbreiten. Er hatte bald großen Erfolg, und viele der damals berühmtesten Schauspieler nahmen bei ihm Unterricht.
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In seinem Buch «The Use of the Self» (Erstveröff. 1932) beschreibt Alexander ausführlich den mühevollen und langwierigen Weg der Entdeckungen und Entwicklungen an sich selbst, die den Ursprung der heutigen F. M. AlexanderTechnik bilden.
Alexanders Vorgehensweise bei der Entwicklung seiner Technik Nikolaas Tinbergen bezeichnete in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Medizin 1973 die Vorgehensweise Alexanders als sehr ähnlich der Methodik moderner wissenschaftlicher Beobachtung. David Mills, ein amerikanischer Alexander-Lehrer, beschreibt diese in einem Aufsatz so (Mills 1995): Newtons Bewegungsgesetze waren mit Sicherheit «wissenschaftliche Grundprinzipien» von größter Bedeutung, aber das Wichtigste an Newtons Arbeiten waren nicht so sehr die Gesetze selbst, sondern die systematischen Methoden, die er entwickelte, um diese Gesetze aufzustellen. Besonders John Dewey war davon überzeugt, dass Alexanders Arbeit ähnlichen Charakter und auch ähnliche Bedeutung besitzt. Ich werde, gestützt auf Deweys Einführungen zu Alexanders Büchern, in diesem kurz gefassten Referat die Ansicht vertreten, dass das Wissenschaftliche und Wichtigste an Alexanders Arbeit gerade ihr «unermüdlicher» experimenteller Charakter ist. Die wissenschaftliche Methode wird in den Naturwissenschaften allgemein so verstanden, dass sie aus einer Reihe von zusammenhängenden Schritten besteht: 1. Beobachtung – wir beobachten interessante Erscheinungen, tragen unsere Beobachtungen zusammen und versuchen, sie zu interpretieren. (Beachten Sie, dass sogar unsere grundlegendsten Beobachtungen von unseren vorherigen Wahrnehmungsgewohnheiten und früheren Theorien abhängig sind.) 2. Aufstellen einer Theorie – wir stellen eine Theorie auf, um die ersichtliche Ordnung in unseren Beobachtungen zu erklären. (Beachten Sie, dass die Art von Theorie, die uns vernünftig erscheint, von unserer früheren Erfahrung und Beobachtung abhängig ist.) 3. Hypothese – wir verwenden unsere Theorie, um Behauptungen über mögliche neue Beobachtungen, d. h. neue Erfahrungen aufzustellen. 4. Experiment – wir ersinnen Experimente und führen sie aus um zu untersuchen, ob unsere Hypothese bestätigt wird. Experimente sind im Wesentlichen Verfahren, die zu dem Zweck entworfen werden, uns neue Erfahrungen über Ereignisse zu geben, die für gewöhnlich nicht geschehen würden.
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5. Beobachtung – unsere Experimente liefern uns neue Beobachtungen, welche unsere Hypothesen unterstützen oder auch nicht, welche mit unserer augenblicklichen Theorie übereinstimmen oder auch nicht. Da in dem Verfahren die Beobachtung sowohl der erste als auch der letzte Schritt ist, ist die wissenschaftliche Methode eher ein endloser Kreislauf der Erforschung als irgendeine Art von fertigem Paket, und der Prozess ergibt nicht etwa einen immer weiter anwachsenden Haufen von Bruchstücken von «Wahrheit», sondern ergibt eher das, was der amerikanische Psychologe George Kelly «konstruktiven Alternativismus» nennt, wobei die Theorien, die wir aufstellen, immer genauere Annäherungen an die Wahrheit darstellen. In der folgenden Beschreibung Alexanders können wir sehen, wie er diese Methode der Beobachtung einsetzte: Zunächst beobachtete er sich geduldig beim Sprechen, dann beim Rezitieren. Hier konnte er drei Feststellungen machen. Er sah, dass er beim Rezitieren dazu neigte, den Kopf zurückzuziehen, den Kehlkopf herunterzudrücken und den Atem so durch den Mund einzuziehen, dass ein keuchendes Geräusch entstand. Beim Sprechen war ihm dies zunächst nicht aufgefallen. Er musste seine Wahrnehmung erst schulen, um zu erkennen, wie er seine Gewohnheiten, vor allem beim Rezitieren an Stellen mit großer Beanspruchung seiner Stimme, verstärkte. Erst dann war sein Beobachtungsvermögen so weit verfeinert, dass er auch beim normalen Sprechen seine Verhaltensgewohnheiten erkennen konnte, die seine Stimmprobleme verursachten. Ich glaubte nun, die Wurzel des Übels gefunden zu haben, denn ich folgerte: wenn die Heiserkeit auf die Art und Weise zurückzuführen war, mit der ich Teile meines Organismus gebrauchte, würde ich nicht weiterkommen, solange ich nicht diesen falschen Gebrauch aufhalten oder ändern konnte. (Alexander, 1988/1932) Bei der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnis machte ihm das Problem zu schaffen, wo er ansetzen sollte, etwas zu verändern. Was war Ursache, was war die Folge? So verbrachte er weitere Monate vor dem Spiegel, mit genauen Beobachtungen seiner Verhaltensmuster. Dabei machte er die Entdeckung, dass es ihm zwar nicht möglich war, das hörbare Einsaugen der Luft und das Drücken auf den Kehlkopf zu verhindern, jedoch konnte er das Nach-Hinten-Ziehen des Kopfes bewusst kontrollieren. Dies war die erste wichtige Etappe der Untersuchungsarbeit. Er hatte herausgefunden, dass eine Steuerung der Kopfhaltung die anderen Angewohnheiten abschwächte. Die Beziehung zwischen der Balance des Kopfes zum Rumpf und die Auswirkungen auf die weiteren Teile des Körpers bezeichnete er demnach als
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primäre Steuerung. Diese Beobachtung wurde bestätigt durch die Tatsache, dass die Heiserkeit abnahm, je mehr es ihm gelang, den ungünstigen Einsatz dieser Körperteile beim Sprechen zu verhindern. Auch seine Ärzte konnten ihm dabei zustimmen: der Befund verbesserte sich. Damit verband sich die zweite wichtige Erkenntnis, dass eine Veränderung in der Balance des Kopfes einen Einfluss auf das Funktionieren der Stimm- und Atemmechanismen hatte. Schließlich fand er die besten Bedingungen für den Kehlkopf und für den Stimmmechanismus, unter denen die geringste Tendenz zur Heiserkeit zu verzeichnen war. Nach seinen Beobachtungen war dies die freie Balance des Kopfes und damit verbunden die Aufrichtung bzw. Länge des Rumpfes, ohne dabei den Brustkorb zu heben. Diese Einzelbeobachtungen versuchte er nun in das Sprechen zu integrieren, die Anwendung schlug jedoch fehl. Als er schließlich wieder die Spiegel zu Hilfe nahm, konnte er mit Bestürzung und Erstaunen feststellen, dass er nur meinte, die neuen, förderlichen Erkenntnisse anzuwenden. Die Kontrolle durch das Spiegelbild zeigte jedoch, dass die alten Muster beim Sprechen wieder aufgetreten waren, ohne dass er sie als solche wahrgenommen hatte. Er erhielt somit einen wichtigen Hinweis auf die Unzuverlässigkeit der eigenen Sinneswahrnehmung. Wo war aber der Punkt, wo das falsche Tun einsetzte? Inzwischen hatten sich seine Beobachtungen längst von den Stimmorganen weg auf den ganzen Körper ausgedehnt, denn er hatte erkannt, dass er die Beobachtung des Vorgangs des Rezitierens ausdehnen musste auf jene Tätigkeiten, die ebenfalls mit dem Rezitieren einhergehen, wie zum Beispiel Stehen, Gehen oder den Gebrauch der Arme oder Hände zur Gestik, Interpretation etc. Das Verhalten beim Sprechen stand also in engem Zusammenhang mit dem Einsatz des ganzen Körpers. Alexander wusste inzwischen, dass eine unausgewogene Balance des Kopfes sich gleichzeitig in Spannungen und unzureichender Koordination überall in seinem Körper auswirkte. So konnte er z. B. auch eine zu hohe Muskelspannung in den Beinen und Füßen beim Sprechen beobachten. Er schlug den Bogen weiter, über den Vorgang des Sprechens hinaus, mit der Erkenntnis, dass er auf jegliche Anforderung mit einem ungünstigen Körpereinsatz reagierte. Alexander nannte dies den «gewohnheitsmäßigen Gebrauch seiner selbst». Diese Art, auf eine Anforderung zu reagieren, kam auch dann immer ins Spiel, wenn er den Versuch unternahm, eine Verbesserung des Körpereinsatzes beim Sprechen herbeizuführen. Dabei versteht Alexander den Begriff «Gebrauch» in einem weiten Sinne. Er bezieht sich damit nicht nur auf den Gebrauch eines einzelnen Körperteiles, sondern er betont das Zusammenspiel des ganzen Organismus. Das Wechselspiel zwischen einem bestimmten Körperteil, wie z. B. einem Arm und dem gesamten Organismus, d. h. die Auswirkungen des Gebrauchs des Gesamtsystems auf die Funktionsweise eines einzelnen Teiles und umgekehrt, ist hier von besonderer Bedeutung.
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Außerdem verstand Alexander, dass die Vorstellung, wie eine Bewegung zu funktionieren hat, in engem Zusammenhang steht mit der Art, wie diese Handlungsabfolge schließlich ausgeführt wird. Dieser Gedanke einer Einheit des Mentalen und des Physischen in der Bewegungsausführung ließ Alexander die Überlegungen anstellen, welche Steuerungsmechanismen im Gehirn einsetzen, wenn eine Bewegung eingeleitet werden soll. Es musste einen Weg geben, an den Ansatzpunkt zu kommen, der vor der Bewegung liegt. Alexander überlegte sich eine genaue Vorgehensweise, um die alte, gewohnheitsmäßige und unüberlegte Steuerung der Bewegung durch eine neue, bewusste und überlegte zu ersetzen. Dazu waren mehrere Schritte notwendig: der Grundbedingungen der gegenwärtigen Bewegungsausführung • Analyse Überlegungen und Auswahl der Mittel, die eine zufriedenstellende Bewegungs• ausführung bewirken können • bewusster Einsatz der gedachten Anweisungen, die diese Mittel ermöglichen. In der Praxis erwiesen sich seine theoretischen Überlegungen jedoch wiederum als problematisch. Es gelang ihm nicht, seine alten Gewohnheiten zu verändern. Immer wieder besiegte die gewohnte Steuerung die neu erarbeitete, so sehr er sich auch bemühte, das Richtige zu tun. Um sich diesem Problem zu nähern, beschloss er, sich zwar für eine Aktivität zu entscheiden, dieser Handlungsabsicht jedoch keine unmittelbare Reaktion folgen zu lassen. Er nannte diesen Vorgang Innehalten. Nur indem er innehielt und nicht sofort reagierte, konnte er den Ablauf der Bewegungssteuerung weiter untersuchen. Wie er bereits herausgefunden hatte, war der Handlungsentwurf entscheidend für die Ausführung der Handlung. Alexander unterschied an dieser Stelle zwischen dem Handlungsziel – z. B. eine bestimmte Bewegung auszuführen – und den Mitteln, durch welche dieses Handlungsziel erreicht wird. Auf dieser Grundlage aufbauend war die nächste Aufgabe, zu überlegen, was die bestmöglichen Schritte wären auf dem Weg zu dem jeweiligen Ziel. Schließlich erkannte er, dass er diese neu erdachten Mittel nur dann als neuen Handlungsentwurf etablieren konnte, wenn er sie im entscheidenden Moment – nämlich dem Moment der Reaktion auf eine gefasste Absicht – auch wirklich einsetzte. Wie also konnte er diese neuen Botschaften des Gehirns, diese bewusst gewählten Direktiven, wie er es nannte, im entscheidenden Moment als neue Handlung umsetzen? An dieser Stelle fügte er in den Ablauf seines Vorgehens einen weiteren Schritt ein: Er ließ es bis zuletzt offen, ob er sein ursprüngliches Ziel, zum Beispiel einen Satz zu sprechen, tatsächlich erreichen wollte, oder ob er etwas ganz anderes oder sogar überhaupt nichts tun wollte. Da er die Verwirklichung des eigentlichen Zieles offen ließ, konnte er ein Abrufen des alten Handlungs- bzw. Bewegungsplanes verhindern und dadurch seinen jeweils neuen Plan verwirklichen.
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Alexander hatte schließlich der Qualität der Ausführung der Bewegung den Vorrang gegeben und das Erreichen des Zieles in den Hintergrund gestellt. So war es ihm möglich gewesen, seine Gewohnheit, sofort zu reagieren, abzulegen und einer neuen, bewussteren Steuerung des Organismus Raum zu geben. Er hatte neue Wahlmöglichkeiten bekommen, auf eine Absicht zu antworten. Um die Grundlagen, die er in seinen Experimenten gefunden hatte, auch anderen Menschen vermitteln zu können, entwickelte er eine Methode des Unterrichts, die es ermöglicht, die Prinzipien unter den Bedingungen des ganz normalen Alltages anzuwenden. Er begann dazu ein subtiles Verfahren zu erarbeiten, das auch manuelle Übermittlung mit einbezieht. Denn Worte allein reichen nicht aus, um neue Erfahrungen einer verbesserten Körperkoordination zu vermitteln. Dieses Verfahren hat er sein Leben lang verfeinert und weiterentwickelt. Es bildet die Grundlage dafür, wie die Alexander-Technik heute gelehrt und unterrichtet wird.
Grundannahmen der Alexander-Technik In der Regel ist die Alexander-Technik wenig institutionalisiert, d. h. der Schüler muss selbst die Initiative ergreifen und sein Interesse an der Arbeit konkret umsetzen. Das bedeutet, sich einen Lehrer zu suchen und sich dafür zu entscheiden, auch in finanzieller Hinsicht für sich Verantwortung zu tragen. Allein die Motivation des Schülers ist ausschlaggebend für die Aufnahme und die Durchführung des Unterrichtes. Auch versteht sich die Alexander-Technik nicht als «Behandlung», die aktive Teilhabe des Schülers ist für eine bleibende Veränderung unerlässlich. Selbstverantwortung ist ein wichtiger Bestandteil in der Arbeit und sollte gleich zu Beginn vermittelt werden. Die aktive Auseinandersetzung des Schülers mit den Prinzipien der AlexanderTechnik bildet schließlich die Grundlage für eine wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe. Es gibt keine Übungen im klassischen Sinne, die trainiert werden müssen, sondern es geht um das Verstehen und Erfahren dieser Prinzipien, die dann in jeder beliebigen Situation anwendbar sind. Die Erfahrung kann der Lehrer vermitteln, die Ausführung kann und muss der Schüler schließlich selbst übernehmen. Dadurch wird es möglich, die ureigenen Befähigungen zu entdecken und zu größerer persönlicher Authentizität zu gelangen. Bei diesem Prozess hat der Schüler jeweils selbst die Verantwortung, inwieweit er auf die Angebote des Lehrers eingehen kann und möchte. Ebenso hat er in jeder Situation außerhalb der Unterrichtsstunde die Freiheit der eigenen Entscheidung, welche Wahl er treffen möchte. Denn die Methode des Innehaltens eröffnet ihm die Möglichkeit, bestehende Muster zu unterbinden und sich für eine im Moment angemessenere Handlung zu entscheiden.
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Der amerikanische Alexander-Technik-Lehrer und Wissenschaftler Prof. Frank Pierce Jones beschreibt seine Erfahrungen mit der Alexander-Technik, die diese Veränderungsprozesse sehr gut zusammenfassen: Die Veränderungen, die ich in mir beobachten konnte, waren oft unerwartet, jedoch niemals von abrupten oder extremen emotionalen Ausbrüchen begleitet und ließen mich nie in einem Gefühl der Hilflosigkeit zurück. Die Alexander Technik stellt das Wissen und die Freiheit für Veränderungen zur Verfügung; dabei handelt es sich um Veränderung in einem Entwicklungskontext. Es gibt kein «müssen». Veränderungen geschehen, wenn wir für sie bereit sind und sie zulassen können. Spannungen, die sich als Gewohnheiten über einen längeren Zeitraum hin aufgebaut haben, behindern die Entwicklung und den freien Ausdruck der Persönlichkeit. Sie dienen jedoch in Situationen als Schutz, in denen sich ein Mensch – zu Recht oder Unrecht – verletzlich oder inkompetent fühlt. Die Alexander Technik beraubt einen nicht seines «charakteristischen Panzers», solange dieser benötigt wird. Unterrichtsstunden in der Technik lösen einen organischen Prozess der Veränderung aus, der allmählich die alten rigiden Gewohnheiten durch neue Gewohnheiten ersetzt, welche flexibel sind und ihrerseits verändert werden können. Der Prozess der Veränderung ist nicht ohne Verstand. Er kann mit Hilfe der Intelligenz in Bahnen gelenkt werden, die zu der bestmöglichen Entwicklung einer individuellen, eigenständigen Persönlichkeit führen. (Jones, 1979, S. 14, Übers. d. Verf.) Eine weitere grundsätzliche Anforderung wird in der Alexander-Technik schließlich an die Aufmerksamkeit für das aktuelle Geschehen gestellt. Für eine teilweise bewusste Steuerung der Bewegungsvorgänge ist es notwendig, die Achtsamkeit für die momentanen Abläufe zu schulen. Dafür unerlässlich ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit für diese Vorgänge fokussieren zu können. Aufmerksamkeit unterscheidet sich wesentlich von dem, was man für gewöhnlich Konzentration nennt. Konzentration wird oft mit einem Zustand übermäßiger Spannung assoziiert, der sich darin äußert, dass man die Stirn in Falten legt und den Atemfluss unterbricht, als versuche man, alles anzuhalten, um sich total auf einen bestimmten Aspekt seiner Umgebung einstellen zu können. Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit im Sinne Alexanders dagegen meint eine ausgewogene Wahrnehmung seiner selbst, wie auch der Umgebung mit einem leichten Akzent auf dem, was im jeweiligen Augenblick besonders wichtig ist. (Gelb, 1989, S. 78)
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Das Ergebnis des Unterrichts in der Alexander-Technik ist unter anderem meist eine sichtbare Aufrichtung des Körpers. Es geht jedoch nicht darum, dem Schüler eine «richtige Körperhaltung» beizubringen. Vielmehr wird dem Körper mehr und mehr Koordination und balancierte Muskelspannung bei frei beweglichen Gelenken ermöglicht. Die Aufgabe bei der Erhaltung des Gleichgewichts ist, dass der Körper einerseits Stabilität und Widerstand gegen die Gravitation bietet, zum anderen dabei jedoch die Beweglichkeit und die Möglichkeit der Bewegung nicht behindert wird. Komplexe physiologische Faktoren tragen dazu bei, dass wir diese Aufgabe angemessen lösen können. Sie werden durch den Unterricht in der Alexander-Technik angesprochen, verfeinert und zum Teil der Wahrnehmung und dem Bewusstsein zugänglich gemacht. Dadurch wird es möglich, dass diese regulierenden körperlichen Prozesse ablaufen können, ohne dass sie durch ungünstige Gewohnheiten eingeschränkt werden. Dr. Wilfried Barlow führte als Grundbedingung für Bewegung den Begriff der Homöostase der Körperhaltung ein, um den Zustand zu beschreiben, in dem sich der Körper im harmonischen Gleichgewichtszustand befindet. Diese Homöostase der Körperhaltung beinhaltet ein kompliziertes und feines Zusammenspiel der Koordination und der Abstimmung der Muskeln im gesamten Körper. Nur wenn Aktivitäten aus diesem harmonischen Ruhezustand heraus beginnen, ist eine Muskelreaktion angemessen und ökonomisch. Es sollte ebenso möglich sein, nach einem aktiven Einsatz mit erhöhter Muskelspannung immer wieder zu diesem harmonischen Ruhezustand zurückzukehren. Diese Grundbedingungen der Balance werden durch die Alexander-Technik gefördert, indem die Schüler die Regulationsprozesse im Körper differenzierter wahrnehmen und erkennen, wo unausgeglichene Spannungsverhältnisse einen Bewegungsablauf stören.
Grundbegriffe der Alexander-Technik Alexander war in der westlichen Welt einer der ersten Methodenbegründer, der den Menschen als Einheit im Sinne einer Ganzheitlichkeit gesehen hat. Alexanders Erklärungsmodell spiegelt in seiner Begrifflichkeit noch ein gewisses mechanistisches Denken wider. In der praktischen Anwendung seiner Methode jedoch erfährt sich der Mensch als Ganzheit mit all seinen Entfaltungsmöglichkeiten. Obwohl Alexander in seinen Büchern eine Fachsprache vermeiden wollte, finden sich dort einige Begriffe, die der Erläuterung bedürfen. Viele Lehrer und Lehrerinnen der Alexander-Technik verwenden diese Ausdrücke in ihrem Unterricht nicht, sondern vermitteln deren Bedeutung in einer erfahrbaren Form.
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Der Gebrauch des Selbst Durch seine Beobachtungen kam Alexander zu der Erkenntnis, dass die Qualität von Koordination und Ausführung einer Bewegung abhängig ist von den zugrundeliegenden mentalen Vorgängen. Das bedeutet, dass eine Bewegungssequenz so ausgeführt wird, wie sie bewusst oder unbewusst geistig repräsentiert ist und wie sie mental vorbereitet und begleitet wird. Durch das Gewahrsein für die physische Ausführung beabsichtigter Handlungen erkannte Alexander, dass er bewusste Wahlmöglichkeiten hat, seinen Körper (sein Selbst) einzusetzen (zu gebrauchen). Dabei sah Alexander den Menschen als Einheit von Körper und Geist und prägte hierfür den Begriff der «psychophysischen» Einheit. Fehlerhafte Sinneswahrnehmung Alexander musste während seiner Studien an sich selbst feststellen, dass er sich auf sein Körpergefühl nicht verlassen konnte. Er meinte etwas zu tun bzw. zu unterlassen, die Kontrolle im Spiegel zeigte jedoch, dass er die sensorischen Rückmeldungen seines Körpers falsch interpretierte. Während seiner Arbeit später mit seinen Schülern konnte er ähnliche Beobachtungen machen: die subjektive Sinneswahrnehmung differierte oft mit der von außen gemachten Beobachtung. Dieses Phänomen erklärt Nikolaas Tinbergen in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises. Das Gehirn überwacht und kontrolliert einzelne Muskelbewegungen bis hin zu komplexen Bewegungsabfolgen durch ein Feedbacksystem. Eine langanhaltende Dysbalance der Muskulatur bewirkt jedoch, dass dieses System nicht mehr richtig funktioniert und keine Regulation mehr in Richtung Ausgleich stattfindet. Die gewohnten Bedingungen werden zum Referenzpunkt für den Standard der Koordination. Durch dieses nicht mehr anders erwartete und wohlbekannte Körpermuster wird z. B. eine zusammengesunkene Haltung als angenehm und «normal» empfunden und nicht mehr in Richtung Aufrichtung verändert. Primäre Steuerung Alexander entdeckte, dass innerhalb der Vielzahl von Reflexmechanismen, die uns ein koordiniertes Bewegen ermöglichen, eine gewisse hierarchische Ordnung besteht. Die Balance des Kopfes im Verhältnis zum Rumpf hat eine übergeordnete Funktion für die Tonusregulierung des restlichen Körpers. Damit kommt ihr eine integrierende Bedeutung für die Gesamtkoordination zu. Die bewusste Steuerung dieser Balance ermöglicht uns einen Zugang zur bewussten Steuerung unseres gesamten Körpers.
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Innehalten Alexander erkannte, dass die menschliche Fähigkeit, bewusst innezuhalten und die Reaktion auf einen Stimulus aufzuschieben, eine wichtige Voraussetzung für jedwede Art der Veränderung darstellt. Um auf eine Anforderung nicht in der gewohnten Art und Weise zu reagieren, ist dieser Moment des Innehaltens erforderlich. Dadurch wird die Vorbereitung der Reaktion einem Gewahrsein zugänglich gemacht. Ein stereotypes Muster kann so unterbunden werden, und es entsteht Raum für andere Möglichkeiten des Reagierens.
Direktiven Der beschriebene Vorgang des Innehaltens wäre unvollständig, wenn sich nicht unmittelbar daran eine neue Möglichkeit der Bewegungsplanung und -ausführung anschließen würde. Um zu einer verbesserten Koordination zu gelangen, ist es notwendig, klare Vorstellungen davon zu haben, wie diese verbesserte Koordination aussehen soll. Dies wird durch gedankliche Anweisungen oder Bilder erreicht, die eine bewusste Veränderung des Selbstgebrauchs geschehen lassen. Zielfixiertheit und die Mittel, wodurch ein Ziel erreicht wird Das direkte Ansteuern eines Zieles orientiert sich nur am Endergebnis und vernachlässigt, auf welchem Weg man dorthin gelangen kann. Die Achtsamkeit für die momentanen Notwendigkeiten geht verloren, und das Erreichen des Ziels kann mit Überbeanspruchung und Überlastung einhergehen. Das Betrachten der Mittel, wodurch ein Ziel erreicht werden kann, erlaubt ein bewussteres Vorgehen. Die Aufmerksamkeit richtet sich dadurch auf die Qualität und Ausführung der einzelnen Schritte. Bestehende Gewohnheiten können so modifiziert werden. Resultate gehen dann mit weniger Erschöpfung, Ermüdung, Stress, Belastung und Verschleiß einher.
Die Gestaltung der Lernprozesse in der Alexander-Technik Innerhalb der pädagogischen Wissenschaften ist Erziehung einer der zentralen Begriffe. Auch F. M. Alexander verwendete den Terminus der «re-education», um die zugrundeliegende ideelle Vorgehensweise der Methode darzustellen, ohne jedoch eine ausdrückliche Begriffsdefinition zu leisten.
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Alexanders Begriff der Erziehung war geprägt durch die Auffassungen der Philosophie des Pragmatismus. Es gibt Hinweise, dass Alexander bereits zu Beginn seiner Experimente durch den Pragmatismus beeinflusst war. Doch spätestens seit 1916, als Alexander erstmals mit John Dewey zusammentraf, der sein lebenslanger Freund wurde und Vorworte zu dreien seiner Bücher geschrieben hat, wird die geistige Nähe zwischen Alexander und dem Pragmatismus offensichtlich. John Dewey gilt als der größte amerikanische Pädagoge, von dem die meisten progressiven wie auch konservativen Strömungen der neuen Pädagogik direkt oder indirekt beeinflusst worden sind. Er verband philosophisches Denken mit naturwissenschaftlichem Vorgehen, indem er Wahrheit als etwas definierte, das immer wieder neu zu erforschen sei. Er verstand jede Deutung der Welt als Hypothese, deren jeweilige Richtigkeit sich nur durch die Übereinstimmung der beobachteten Konsequenzen mit dem vorgegebenen Ausgangspunkt und Ziel zeigen lässt. Sein philosophischer Ansatz hatte Einfluss auf Politik, Pädagogik, Psychologie und andere Bereiche, da er überwiegend auf die anwendungsbezogenen Aspekte von Ideen bedacht war. Er strebte nicht die Entwicklung eines strengen philosophischen Systems an, sondern eine Methode der Bewältigung immer neuer Konfliktsituationen, die entstehen, weil sich Mensch und Welt in stetiger Veränderung befinden. Da der Mensch jedoch dazu tendiert, bewährte Verhaltensformen beizubehalten, befindet er sich immer wieder in Reibung mit der Welt. Erziehung war für ihn daher eine bleibende Aufgabe, die beständige Neugestaltung und unaufhörliche Reorganisation bedeutet. Das Kriterium für den Wert von Erziehung lag für ihn darin, in welchem Ausmaß sie das Verlangen nach dauerndem Wachstum weckt und die Mittel bereitstellt dieses Verlangen zu befriedigen. Ein halbes Jahrhundert nach Deweys Tod sind die Begriffe des menschlichen Wachstums und des permanenten Lernens aktueller denn je. Wachstum und fortwährende Veränderung sind jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, denn Schritte in neues Terrain finden nur dann statt, wenn der Schritt vorwärts als subjektiv erfreulicher und innerlich befriedigender erlebt wird als die bisherige, bekannte Möglichkeit oder wenn dieses zumindest in Aussicht steht. Zusätzlich muss häufig eine mögliche Angst vor dem Neuen und Unbekannten überwunden werden. Daher können wir den Prozess des gesunden Wachstums nach Abraham H. Maslow als eine nie endende Serie von Situationen der freien Wahl betrachten, mit denen jedes Individuum an jedem Punkt seines Lebens konfrontiert wird und in denen es zwischen Sicherheit und Wachstum, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Regression und Fortschritt, Unreife und Reife wählen muss. Es soll jedoch ergänzend betont werden, dass Wachstum Sicherheit voraussetzt. Nur aus der Gewissheit heraus, dass Neuerungen und Weiterentwicklung vom Individuum auch gemeistert werden können, kann Wachstum stattfinden.
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Daraus ergibt sich auch für jedes Individuum ein bestimmtes Tempo des Wachstums. Defensive und regressive Kräfte sind notwendig, damit ein Wachstumsprozess nicht zu einer überwältigenden, bedrohlichen Erfahrung wird. Das bedeutet: Wir können niemanden zwingen zu wachsen, wir können […] ihm eine bessere Möglichkeit bieten, im Vertrauen darauf, dass sein einfaches Erlebnis der neuen Erfahrung ihn veranlassen wird, sie auch vorzuziehen. Nur er kann ihr den Vorzug geben; niemand kann es für ihn tun. Wenn sie ein Teil von ihm selbst werden soll, muss er Freude an ihr haben. Wenn er das nicht tut, müssen wir nachsichtig zugeben, dass sie in diesem Augenblick für ihn nicht geeignet ist. (Maslow, 1973, S. 67) Ein wesentlicher Aspekt des Lernens in der Alexander-Technik ist die Berührung. Der Lehrer spricht nicht nur durch Worte, sondern auch durch die Berührung seiner Hände. Der Schüler wird so in seiner psycho-physischen Ganzheit angesprochen. Gemeinsam machen sich Schüler und Lehrer auf den Weg, um neue Möglichkeiten für den Schüler zu entwickeln. Damit ist die Chance zu einer dauerhaften Veränderung größer, als durch allgemeine Hinweise zu einer Verhaltensmodifikation. Wachstumshilfe und Lernen findet also statt durch Berührtwerden und Bewegtsein – im konkreten wie im übertragenen Sinne. Bei aller Freiheit und Entwicklungsförderung der Selbstentfaltung des Individuums innerhalb jeglicher pädagogischer Arbeit darf jedoch nicht übersehen werden, dass auf das Individuum Einfluss genommen wird. Therapeutische oder pädagogische Formen bilden ein System, in dem der Lernende mit einem Anliegen zu einem Lehrer kommt. Dieser Anordnung liegt implizit ein Wissensgefälle zugrunde. Ein Mensch mit einem «Defizit» kommt zu einem Helfer mit einem speziellen Fachwissen. Zwischen diesen beiden Partnern entsteht eine Beziehung, wobei dieses Gefälle lediglich auf der Ebene dieses spezifischen Inhaltes besteht. Dort wird aber auch Einfluss auf das Hilfe suchende Individuum genommen, um eben diesen Wissensvorsprung zu egalisieren. Entscheidend ist, welche Grundhaltung dieser pädagogischen Beziehung zugrunde liegt und unter welchen Bedingungen das Lernen und die «Wissensvermittlung» stattfinden soll, um Manipulation und Kontrolle auszuschließen. Die Alexander-Technik bietet eine grundlegende Basis für Beeinträchtigungen auf verschiedensten Ebenen und ihre Prinzipien können in vielen Gebieten hilfreich eingesetzt werden. Doch die Grenzen der Alexander-Technik dürfen dabei nicht übersehen werden. Einem Alexander-Technik-Lehrer fehlt in der Regel das notwendige Fachwissen, um in einem eindeutig medizinisch definierten Bereich zu arbeiten. Die Methode der Alexander-Technik ist pädagogisch ausgerichtet, und diese Unterscheidung sollte ein Alexander-Technik-Lehrer genau treffen können, um seinen Kompetenzrahmen zu wahren.
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Deshalb muss die Alexander-Technik im Einzelfall durch andere Maßnahmen ergänzt werden. Das Ineinandergreifen von verschiedenen Fachrichtungen wäre zudem eine große Bereicherung für alle beteiligten Disziplinen.
Die Arbeitsweise im Unterricht Um dem Schüler zu einem besseren Selbstgebrauch zu verhelfen, findet der Alexander-Lehrer heraus, welche Gewohnheiten ein freies Arbeiten des Körpers behindern und gegebenenfalls zu Beschwerden führen. Dazu ist es, wie in jeder therapeutischen oder pädagogischen Arbeit, erforderlich, eine Basis von Einverständnis und Vertrauen zwischen Lehrer und Schüler herzustellen, auf der eine kooperative Arbeit möglich wird. Damit sich wirklich neue Verhaltensweisen einstellen können und die Technik auch unabhängig vom Lehrer angewendet werden kann, ist eine aktive Mitarbeit unabdingbar. Die Einstellung, den Lehrer «machen» zu lassen, führt bestenfalls zu einem relativen Wohlbefinden, jedoch nicht zu einer bewussten Veränderung des Selbstgebrauchs. Ein wesentliches Kennzeichen der praktischen Arbeit ist der Einsatz der Hände des Alexander-Lehrers. Um dem Schüler Reagieren und Handeln auf körperlicher Ebene bewusst zu machen, gebraucht der Lehrer seine Hände, d. h. er spricht den bewegungsempfindenden Sinn des Schülers an. Gleichzeitig hat er damit die Möglichkeit, mit seinen Händen wahrzunehmen, wie sich der Schüler koordiniert. Der Lehrer führt den Schüler mittels seiner Hände zu einer verbesserten Koordination und leitet ihn dann zu einfachen Bewegungen an. Er bemerkt die Verteilung von Spannung im Körper des Schülers und hilft ihm, wahrzunehmen und zu erkennen, auf welche Weise er sein natürliches Funktionieren beeinträchtigt. Durch diese Kombination aus Erfahrung und Erkenntnis, aus taktiler Führung und verbalem Dialog, kann sich die Koordination der gesamten Muskulatur reorganisieren. Der Schüler erfährt dabei nicht nur einen kinästhetischen Eindruck der neuen Bewegungsmöglichkeiten, sondern gewinnt auch Erkenntnisse über die mentalen Aspekte, die zu diesen neuen Bewegungsmöglichkeiten führen. Um dem Schüler über die Hände eine neue Erfahrung vermitteln zu können, ist es ein weiteres Kennzeichen der Alexander-Technik, dass der Lehrer dabei auf seinen eigenen Körpergebrauch im jeweiligen Moment achtet. Nur wenn er selbst in guter Koordination arbeitet und die Prinzipien der Alexander-Technik bei sich selbst anwendet, ist es ihm möglich, die gewünschte Veränderung beim Schüler zu erreichen, d. h. was im Körper des Lehrers geschieht, kann auch beim Schüler geschehen. Die Idee, die Wirkung der Berührungsimpulse sei von der eigenen Organisation des Lehrers abhängig, lässt sich auf keinen physiologischen Mechanismus beziehen, der dieses Phänomen erklären könnte. Die Wirkung der Be-
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rührungsimpulse ist schwerer zu fassen als irgendein anderes Phänomen dieser Methode. So sagte Carl Ginsburg, einer der ersten in den USA von Moshé Feldenkrais qualifizierten Feldenkrais-Lehrer bei der Eröffnungsrede zum europäischen Feldenkrais-Kongress im Juni 1995 über die Feldenkrais-Methode, was auch für die Alexander-Technik gilt: Es gibt da ein paar Beobachtungen aus unserer Arbeit, die für die klassische Wissenschaft verwirrend sind: […] Beim Berühren eines Menschen ist die Wirkung der Berührung abhängig vom Zustand der eigenen Organisation. Doch nicht nur dieser Zusammenhang ist naturwissenschaftlich nicht erklärt, sondern bereits die Wirkung von Berührung schlechthin. Volkmar Glaser, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Wirkungen der Eutonie zu erklären, schrieb dazu: Wir fanden in der uns zugänglichen Literatur nirgends eine Erörterung über die unterbewusste taktil-kinetische Beeinflussung als averbale Direktive, obwohl diese nicht nur dem Reiter gegenüber seinem Pferd und dem Tänzer bei seiner Partnerin geläufig ist, sondern auch im alltäglichen Leben zum Umgang mit dem Nächsten gehört. So blieb auch ungeklärt, woran ein Partner merkt, was eine Berührung ihm bedeuten soll, ob sie aufmunternd oder tröstend ist, ob er überhaupt durch sie «gemeint» ist oder nur wie eine Sache angefasst wird oder gar ob eine leicht berührende Hand den Partner zum Aufstehen, also zu einem recht komplexen Bewegungsvorgang, veranlassen will. (Glaser, 1981, S. 244) Eine schlüssige, naturwissenschaftlich fundierte Erklärung dieser Phänomene ist noch nicht möglich. Es gibt jedoch Erfahrungswerte, die immer wieder das Gleiche zeigen: die ausbalancierte Körperkoordination des Lehrers beeinflusst die taktilen Impulse, die der Alexander-Lehrer seinem Schüler vermittelt, und damit auch indirekt die kinästhetische Wahrnehmung, die für den Schüler möglich wird. Die Aufmerksamkeit des Lehrers teilt sich beim Unterrichten demnach gleichzeitig in zwei Aspekte: sowohl der eigene Körpergebrauch als auch der des Schülers finden Beachtung. Da es um das Gewahrwerden der individuellen körperlichen Bedingungen des Einzelnen geht und darum, dass die betreffende Person eine Erfahrung des für sie besseren Gebrauchs machen kann, wird die Alexander-Technik in der Regel in Einzelstunden unterrichtet. Es gibt jedoch auch Formen des Gruppenunterrichtes, bei denen der Einzelne ebenfalls ausreichend individuelle Arbeit erhält. Im Gruppenunterricht vollzieht sich das Lernen zusätzlich durch die Beobachtung der Prozesse und Erkenntnisse der anderen Teilnehmer.
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Die Vermittlung der Grundprinzipien der Alexander-Technik wird meist zunächst anhand sehr einfacher Alltagsaktivitäten durchgeführt, zum Beispiel dem Hinsetzen auf einen Stuhl. Es handelt sich dabei um ein exemplarisches ReizReaktions-Schema: Wie reagiert der Schüler auf den Reiz, sich hinsetzen zu wollen? Anhand dieses Bewegungsablaufes können die ersten Erfahrungen eines besseren Gebrauchs gemacht und die zugrundeliegenden Gedankenmuster der Alexander-Technik erläutert werden, um sie später auf jede beliebige Situation anwenden zu können. Ein weiteres Element einer Einzelstunde ist die Arbeit mit dem Schüler, während er liegt. Hier fehlt ein direkter Bewegungsreiz, zudem hat der Schüler durch die große Unterstützungsfläche der Unterlage keine Angst zu fallen. Indem der Schüler passiv bewegt wird, lässt sich so bei der Arbeit im Liegen leichter veranschaulichen, welche Möglichkeiten eines gelösten Spannungszustandes vorhanden sind. Neben dem Liegen kann an den grundlegenden alltäglichen Aktivitäten Stehen, Gehen, Sitzen und Aufstehen gearbeitet werden. Je nach den individuellen Bedürfnissen des Schülers sind die Prinzipien und der Körpergebrauch auch in anderen Aktivitäten wie z. B. Laufen, Sprechen, Musizieren, Schreiben usw. Gegenstand des Unterrichts. Dabei gilt es, die individuell bestmöglichen Bedingungen im Körper herauszufinden, die für die jeweilige Situation oder Aufgabe angemessen und förderlich sind. In der Regel beträgt die Dauer einer Unterrichtsstunde 30 bis 45 Minuten. Dies hat sich als die beste Zeit herausgestellt, aufnahmefähig zu sein und zu lernen. Die Anzahl der Stunden, die jemand insgesamt benötigt, um Veränderungen im Körper und im Denken zu etablieren, sind individuell sehr verschieden. Sie variieren in Abhängigkeit von den körperlichen Vorbedingungen, von der Lernfähigkeit und auch davon, welches Ziel erreicht werden soll. Ein wesentliches und zentrales Merkmal der Alexander-Technik ist, dass Beschwerden eines Teils des Körpers immer im Gesamtzusammenhang gesehen werden. Ist die Integrationsfähigkeit in der Ganzheit verbessert, können auch einzelne Probleme besser gelöst werden – wobei die Lösung nicht auf Kosten eines anderen Teiles des Systems erreicht wird. Ein klares Grundkonzept der Alexander-Technik ist demnach, dass der menschliche Organismus immer als Ganzes funktioniert und nur als ein Ganzes geändert werden kann. Mit der Entdeckung einer primären Steuerung hatte Alexander ein Instrument geschaffen, immer wieder auf diesen Gesamtzusammenhang zurückzukommen bzw. ihn nie zu verlieren. Alexander war der Meinung, dass es nicht möglich ist, «seelische» und «körperliche» Vorgänge bei jeglicher Art menschlichen Handelns zu trennen. Durch sein Experimentieren in seiner Arbeit kam er zu der Überzeugung, dass das so genannte Seelische und das Körperliche keine getrennten Existenzen darstellen.
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Aus diesem Grund sollten menschliche Beschwerden und Schwächen nicht als seelisch oder körperlich eingestuft und spezifisch behandelt werden, sondern nur auf der Grundlage einer unteilbaren Einheit des menschlichen Organismus. Die Verbindung vom bewussten Umgang des Selbst auf körperlicher Ebene mit psychischen Prozessen, wie sie die Alexander-Technik lehrt, wird von deren Befürwortern immer wieder aufgegriffen und betont. Auch wenn die direkte Arbeit mit Emotionen nicht im Vordergrund steht, so ist ein Wissen darum notwendig, welche psychischen Prozesse in Gang gesetzt werden können, wenn durch die körperliche Arbeit emotionale Schichten angesprochen werden. Michael Gelb beschreibt sein Erleben dieser Einheit von Körper und Geist: Ich entdeckte, dass das, was ich tat, nicht bloß etwas Physisches war, sondern auch etwas Mentales und Emotionales. Anders gesagt, ich erlebte die Einheit dieser Elemente in Aktion. Meine großartigste Einsicht kam mir nach einer Stunde, in der ich das Gefühl hatte, vollkommen integriert Körper-und-Geist zu sein. Da war einfach ich – da waren keine Einzelteile mehr. Und obwohl der Eindruck sich mit der Zeit verwischte, hatte ich einen Geschmack davon bekommen, was mein volles Potential sein könnte. (Gelb, 1989, S. 48) Der englische Schriftsteller Aldous Huxley war der Meinung: Lehrt man einen Menschen zuerst sich seines eigenen körperlichen Organismus bewusst zu sein und diesen Organismus so zu gebrauchen, wie es vorgesehen ist, so kann man oft seine gesamte Lebenseinstellung ändern … (Maisel, 1985, S. 28) Der amerikanische Sozialwissenschaftler Lewis Mumford unterstützte diese These, indem er schrieb: Alexanders Herangehen an das Selbst beginnt mit dem menschlichen Körper als äußerliche Verkörperung jeder inneren Neigung. […] Da wir ausreichend Beweise dafür haben, dass psychotherapeutische Arbeit in vielen Fällen körperliche Symptome beseitigt hat, besteht kein Grund zu bezweifeln, dass die umgekehrte Methode, nämlich die Psyche durch wohl durchdachte körperliche Neuorientierung zu korrigieren, gleichermaßen wirksam ist. (Maisel, 1985, S. 28) Wer jemals eigene Erfahrungen mit der praktischen Arbeit der Alexander-Technik gemacht hat, bestätigt die Grundthese, dass der Mensch in seinen (Funktions-) Zusammenhängen gesehen wird. Dabei wird klar, dass die Art und Weise des Selbstgebrauchs sich ebenso darauf erstreckt, wie man mit sich selbst auf psychischer Ebene umgeht. Die psychische Verfassung wirkt sich auf den Körpergebrauch aus, und umgekehrt wirkt sich der Körpergebrauch auf die psychische Ver-
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fassung aus. Diese Ansätze sah Alexander bereits, auch wenn ihm durch den erst geringen Forschungsstand seiner Zeit nicht die Möglichkeit gegeben war, diese Verbindungen vermehrt in seine Arbeitsweise aufzunehmen. Die Alexander-Technik sieht sich als pädagogische Methode. Aus den theoretischen Schriften Alexanders wird klar, dass sich sein Prinzip weit reichend auf alle zu lernenden Vorgänge anwenden lässt. Die Herangehensweise an Neues, Unbekanntes wird beleuchtet: Welche Muster tauchen in der Lernsituation auf und wie förderlich oder wie hinderlich sind sie im Hinblick darauf, neue Fertigkeiten oder neues Wissen zu erlangen? Durch Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die Situation kann besonders der Moment des Innehaltens hilfreich sein, um die angemessenen Mittel einsetzen zu können. Damit kann ein freierer Umgang mit der Situation erreicht werden, die letztlich den Lernvorgang effektiver werden lässt. In Anlehnung an Jonathan Drake (englischer Alexander-Technik-Lehrer und Mediziner) sind hier in fünf Punkten Hinweise für das Erlernen von neuen Fertigkeiten auf der Basis der Alexander-Technik dargestellt: 1. Schaffen Sie sich eine klare Vorstellung davon, was Sie erreichen möchten. Nur eine klare Zielvorstellung ermöglicht entsprechend klare Handlungsweisen. Je vager das Ziel ist, desto unbestimmter werden die Wege dorthin sein. Das Prinzip des «Versuch und Irrtums» setzt ein, ohne eine Vorstellung zu haben, in welcher Richtung die Veränderung stattfinden muss, um auf dem Weg zum Ziel zu bleiben. 2. Entwerfen Sie in Gedanken die geeigneten Mittel, mit denen Sie Ihr Ziel erreichen können. Durch das Durchdenken der gewählten Mittel entsteht die Möglichkeit, einzelne Teilschritte zu erkennen und auszuführen. So wird ein komplexer Zusammenhang überschaubarer und leichter in der Ausführung. Daraus kann dann die Integration zum Ganzen entstehen, ohne sich zu überfordern. 3. Seien Sie sich über Ihre Absichten im Klaren, bevor Sie anfangen zu handeln. An dieser Stelle setzt ein bewusstes Denken an die neuen Mittel ein, um dem Körper ein koordiniertes Zusammenspiel zu ermöglichen. Ausgangspunkt ist die bereits erwähnte primäre Steuerung, woran sich die nötigen Anweisungen für die jeweilige Aktivität anschließen können. 4. Führen Sie die Bewegung aus. Auf der Grundlage der Vorbereitungsschritte nimmt die Bewegung ihren bestmöglichen Lauf. 5. Nutzen Sie Ihre Wahrnehmung. Ein kurzer Rückblick auf das, was wir über unsere Bewegung wahrgenommen haben, erlaubt einen Vergleich zwischen Plan und Ausführung und gibt uns Hinweise für die Ausführung der nächsten Bewegung.
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Für Alexander war das eigentliche Ziel von Erziehung ein bewusst handelnder Mensch, der sich in aktiver Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt befindet. Unterstützung und Fürsprache seiner Überzeugung fand er durch den Pädagogen John Dewey. Beide waren davon überzeugt, dass Erziehung in erster Linie der Entwicklung individueller Verantwortlichkeit und der Befreiung von unreflektierten Gewohnheiten zu gelten habe. Beiden war klar, dass Menschen, insbesondere Kinder, die nur über Faktenwissen verfügen, den Anforderungen des modernen Lebens nicht gewachsen sein können. Voraussetzung für die Anwendung von Wissen im jeweiligen Kontext ist die grundlegende Fähigkeit, über sich selbst zu verfügen und selbstverantwortlich zu handeln.
Wie Alexander selbst unterrichtet hat Alexander beschreibt in seinem Buch «The Use of the Self» die Arbeit mit einem seiner Schüler, der wegen seines Stotterns zu ihm geschickt worden war. Es zeigt sich hier anschaulich, wie Alexander selbst seine Methode in der praktischen Arbeit umgesetzt hat. Gleich zu Anfang beobachtete Alexander den Schüler und stellte fest, dass sich seine Schwierigkeiten nicht auf die Sprechorgane beschränkten, sondern der ganze Körper mitbetroffen war: Wie es bei einem neuen Schüler meine Gewohnheit ist, beobachtete ich besonders die Art, wie er in mein Zimmer trat und sich auf einen Stuhl setzte, und es war mir sofort klar, dass der allgemeine Gebrauch seiner selbst außergewöhnlich schlecht war. Wenn er sprach, bemerkte ich auch einen falschen Gebrauch von Zunge und Lippen und bestimmte Fehler im Gebrauch von Kopf und Hals, die ein unangemessenes Herunterdrücken des Kehlkopfes und eine unnötige Verspannung der Gesichts- und Halsmuskulatur hervorriefen. So machte ich ihn darauf aufmerksam, dass sein Stottern nicht ein isoliertes Symptom von schlechtem Gebrauch ist, das sich auf seine Sprechorgane beschränkt, sondern dass sein Stottern mit anderen Symptomen schlechten Gebrauchs und schlechten Funktionierens in anderen Teilen seines Organismus zusammenhängt. (Alexander, 1988/1932, S. 64) Aufgrund dieser Beobachtungen traf er mit seinem Schüler die Vereinbarung, dass er zuerst an der Korrektur der Fehlsteuerung des allgemeinen Gebrauchs des Körpers arbeiten wollte. Dies war für ihn die unbedingte Voraussetzung, um als weiteren Schritt am Stottern selbst zu arbeiten, denn «erst, wenn der neue, bessere Gebrauch in ihm angelegt und ausreichend gefestigt ist, kann er ihn praktisch als Mittel anwenden, um seine speziellen Sprachschwierigkeiten zu überwinden» (Alexander, 1988/1932, S. 65). In dieser grundlegenden Arbeit zeigte sich vor
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allem eine unangemessene Anspannung der Muskeln des gesamten Organismus, wann immer der Schüler zum Sprechen ansetzte. Somit kann dieser übermäßige Muskeltonus als hindernder Faktor für das allgemeine Funktionieren der Körpermechanismen angesehen werden, was auch einen zufrieden stellenden Gebrauch von Zunge und Lippen verhindert. Alexander fiel weiterhin auf, dass der Wille des Schülers, das Stottern zu vermeiden, die Muskelspannung noch erhöhte und so dem eigentlichen Ziel entgegenwirkte. Als Erklärung gibt Alexander an, dass dieses hohe Maß an Spannung dem gewohnten Gebrauch des Schülers entsprach. Diese hohe Spannung war für den Schüler zum Signal geworden, die vermeintlich «richtigen» Voraussetzungen zum Sprechen zu haben. Der weitere Weg musste demnach sein, dem Schüler die neue Erfahrung zu vermitteln, dass er auch mit einem geringeren Maß an Spannung sprechen kann. Das Hauptaugenmerk galt dabei der Wahrnehmung und der Veränderbarkeit von Spannungszuständen im ganzen Körper, um damit auch mehr die Zuverlässigkeit der eigenen Sinneswahrnehmung zu schulen. Erst als eine Basis auf der Ebene der «Grobmotorik» erreicht worden war, begann Alexander mit dem Schüler am Sprechvorgang, der «Feinmotorik», zu arbeiten. Er machte ihm klar, dass er in seinem Sprechen behindert worden war, durch die Gewohnheit, nach dem Ziel zu streben – zu sprechen und dabei nicht zu stottern – und es dabei möglichst «richtig» machen zu wollen. Eine Veränderung des Stotterns konnte aber nur erreicht werden, wenn er die erlernten Mittel auch beim Sprechen anwandte. Es zeigte sich, dass gerade dieser Punkt für den Schüler eine sehr große Hürde darstellte. Der Reiz, sprechen zu wollen, brachte ihn immer wieder in sein altes Muster zurück. Er konnte nicht der Aufforderung Folge leisten, zunächst innezuhalten, den Laut bzw. das Wort nicht auszusprechen, sondern bewusst an ein Loslassen im Hals, die freie Balance des Kopfes, die Aufrichtung und Ausdehnung im Rumpf usw. zu denken. Die Aufforderung zu sprechen war jedes Mal ein zu großer Reiz für den Schüler. Problematisch waren für ihn vor allem die Laute T und D. Besonders bei diesen Konsonanten glaubte er, nicht sprechen zu können, bevor er nicht diesen unangemessenen Grad an Spannung empfand. Daher arbeitete Alexander mit dem Schüler zunächst ganz allgemein daran, auf Reize nicht zu reagieren. Erst als es dem Schüler gelang, nicht unmittelbar in der alten Gewohnheit zu reagieren, war die Voraussetzung für neue Sinneseindrücke geschaffen. So eignete sich der Schüler schrittweise genügend Erfahrung an, um die Steuerung des neuen Gebrauchs selbst in die Hand zu nehmen und sie vor allem beim Aussprechen der Konsonanten anwenden zu können. Alexander betont ausdrücklich, dass der Vorgang, das Stottern zu verändern und zu beheben, hohe Anforderungen an die Zeit, die Geduld und die Geschicklichkeit von Lehrer und Schüler stellt. Der von Alexander beschriebene Schüler konnte schließlich erfolgreich an seinem Stottern arbeiten. Wichtig war dabei vor
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allem der Prozess des Innehaltens und nicht in gewohnter Weise zu reagieren. Dadurch konnte der Schüler übermäßigen Muskelanspannungen vorbeugen, die das Merkmal all seiner Reaktionen auf Reize gewesen waren. Dies hatte ihn nicht nur beim Sprechen, sondern bei all seinen Tätigkeiten behindert. Alexanders Methode hatte Erfolg. Es lassen sich darin Parallelen finden zu heute gebräuchlichen Elementen der Stottertherapie. Vor allem ist auffällig, dass er nicht daran arbeitete, das Stottern zu verhindern. Dies hätte durch die vermehrten Bemühungen und die damit verbundenen Tonuserhöhungen nur den gegenteiligen Effekt gehabt. Das Reagieren und die Spannungsreduktion umfassten bei Alexander nicht nur das Sprechen und die Sprechorgane. Damit schuf er die Voraussetzung für eine ganzheitliche Therapieform, die nicht nur das «Symptom» behandelt, sondern sich mit den Gegebenheiten des ganzen Menschen auseinander setzt. Er arbeitete dabei nach den folgenden Prinzipien: Reaktionen auf den Reiz, sprechen zu wollen. Alexander arbeitete mit • Neue seinem Schüler daran, auf den Reiz hin, sprechen zu wollen, zunächst innezu-
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halten. Mit Hilfe bewusst gedachter Anweisungen wurden anschließend neue Wege gefunden, zu sprechen, ohne dass das Stottern einsetzen musste. Wahrnehmungsschulung. Die Grundlage für jede bewusste Veränderung ist die Wahrnehmung des Geschehens, das verändert werden soll. Nur wenn erfasst werden kann, was geschieht, ist es möglich zu überlegen, ob und in welche Richtung eine Modifikation stattfinden soll. Alexander zeigte, dass sein Schüler sich schon so sehr an die Art der Ausführung seines Stotterns gewöhnt hatte, dass er sie zum Maßstab dafür gemacht hatte, wie Sprechen überhaupt möglich ist. Pausen und gedankliche Vorbereitung. Alexander setzte dann zur Veränderung des Reaktionsmusters seine Prinzipien des Innehaltens und der Direktiven ein. Durch das Innehalten wird es möglich, eine bewusste Phase der Bewegungssteuerung vorwegzunehmen, bzw. die Grundbedingungen zu schaffen, auf der die Sprechbewegung schließlich ablaufen soll. Betonung der Kooperation von Lehrer und Schüler. Alexanders Ausführungen zeigen, wie intensiv diese Arbeit war, die er gemeinsam mit seinem Schüler durchführte. Der Schüler war mit seinem ganzen Willen und seiner ganzen Aufmerksamkeit dabei, um die Prinzipien schließlich erfolgreich auszuführen. Es wird deutlich, dass es sich um einen gemeinsamen Prozess handelte, der den Schüler befähigte, selbständig tätig zu werden, um sein Stottern zu verändern.
In der Beschreibung seines Vorgehens in der Arbeit mit einem Stotterer zeigt sich, wie sehr Alexander Pädagoge war und die Alexander-Technik ein pädagogisches Verfahren ist.
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Die Anwendungsmöglichkeiten der Alexander-Technik Die bisher aufgeführten praktischen Beispiele zeigen, dass aus sehr unterschiedlichen Gründen die Hilfe eines Alexander-Lehrers in Anspruch genommen wird. Diese lassen sich in drei Hauptkategorien zusammenfassen: des Bewegungsapparates und andere körperliche Beeinträchti• Beschwerden gungen. Menschen kommen mit häufig schmerzhaften Beschwerden des
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Bewegungsapparates oder körperlichen Beeinträchtigungen zum Unterricht. Oft konnten dabei die konventionellen Behandlungsmethoden nicht helfen. Da diese Beschwerden häufig auf schlechte Bewegungs- und Haltungsgewohnheiten zurückzuführen sind oder zumindest damit einhergehen, kann die Alexander-Technik sehr hilfreich sein. Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung. Die Schüler machen durch den Unterricht der Alexander-Technik die Erfahrung, dass sie sich dadurch besser fühlen und sie bemerken, dass sie mit den Erfordernissen des täglichen Lebens besser umgehen können. Verbesserung der Koordination als Voraussetzung für effiziente motorische Fertigkeiten. Wie schon zu Alexanders Zeiten wird eine große Gruppe von Alexander-Technik-Schülern von Schauspielern, Sängern, Tänzern und Musikern gestellt. Sie sind darauf angewiesen, regelmäßig komplizierte und subtile Tätigkeiten ausführen zu können. Dabei besteht die Gefahr, dass sich ein schlechter Körpergebrauch dadurch noch verstärkt und zu bleibenden Schäden führt. Umso wichtiger ist es, eine gute Körperkoordination zu erlernen, so dass auch unter Stressbedingungen die Qualität von Gelöstheit in der Aktivität nicht verloren geht.
Die folgenden Beispiele verdeutlichen weitere Anwendungsmöglichkeiten der Alexander-Technik. Sie stammen aus den Aufzeichnungen der amerikanischen Alexander-Lehrerin Cathy Madden, die in den USA unter anderem an der «University of Washington» sowie in Europa und Japan die Alexander-Technik vornehmlich in Gruppen unterrichtet. Ron, ein Student in der Ausbildung zum Schauspieler an der «University of Washington» hatte als Bestandteil seiner Schauspielausbildung bereits seit sechs Wochen Unterricht in Alexander-Technik, ohne dass sich viel verändert hätte. Der Unterricht irritierte ihn sogar zunehmend. Dann fragte ich ihn eines Tages zu Beginn des Unterrichts, während ich ganz leicht die Sei-
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ten seines Halses berührte: «Ron, was würde geschehen, wenn du hier ein kleines bisschen loslassen würdest? Es geht nur um eine kleine Veränderung, keine große.» Ron zögerte etwas und plötzlich, zum ersten Mal in sechs Wochen, war er in der Lage, die Spannung in seinem Hals etwas loszulassen. Einen Moment später schaute er mich an und sagte: «Meine Mutter hat mir als Kind immer gesagt, ich würde meinen Kopf verlieren, wenn ich ihn nicht fest halten würde.» Er sah plötzlich sehr jung aus. Ich sagte: «Das hat sie vermutlich nicht genau so gemeint.» Dann berichtete Ron, dass er durch das erstmals erlebte Loslassen seines Halses erst Angst bekommen habe, sich dann aber an diese längst vergessene Botschaft seiner Mutter erinnerte. Er erlebte eine interessante Woche nach diesem Ereignis – oft nahm er wahr, dass sein Hals angespannt war, und lachend erinnerte er sich dann selbst, dass sein Kopf nicht herunterfallen würde. Eine junge Frau kam zum Unterricht in eine Einführungsklasse der Alexander-Technik. Ihr Kopf war auf eine bestimmte Art zum Rumpf hin gezogen. Als ich ihr mit Worten und mit meinen Händen erklärte, dass sie ihren Hals nicht so sehr anzuspannen brauche, begann sie von einem Unfall zu erzählen, den sie als Teenager erlitten hatte. Beim Sprung in ein Schwimmbecken hatte sie den Kopf am Beckenboden verletzt. Da ich vermutete, dass die Art, wie sie ihren Kopf zum Rumpf hin zog, vielleicht mit diesem Unfall zu tun hatte, sagte ich zu ihr: «Nimmst du wahr, dass da nichts über deinem Kopf ist außer reiner Luft?» Und plötzlich konnte sie den größten Teil der Spannung loslassen. Im Verlaufe des weiteren Unterrichts war sie zunehmend erstaunt über die Freiheit der Bewegungen ihres Halses. Sie erkannte, dass sie ihren Kopf seit dem Unfall auf eine bestimmte Art gehalten hatte, um ihn zu schützen. Ebenfalls bemerkenswert war die Tatsache, wie leicht sie dieses alte Muster aufgeben konnte, um ein neues zu etablieren. Eine Lehrerin kam zu ihrer ersten Unterrichtsstunde. Sie bewegte sich in einer Art und Weise, die ich bis dahin nur bei Menschen gesehen hatte, die schwere (physische oder psychische) Verletzungen erlitten hatten oder schlimme Schmerzen erdulden mussten. Sie hielt Kopf, Hals und Rücken extrem starr – bei keiner Bewegung gab es auch nur die Andeutung einer Rotation ihrer Wirbelsäule. Sie kam zum Unterricht, da bei ihr erstmals leichte Schmerzen im Halsbereich aufgetreten waren. Als ich begann, die Alexander-Technik zu erklären, fragte ich sie nach vergangenen Verletzungen, aber es gab nichts in ihrer Vergangenheit, das hätte erklären können, was ich sah. Sehr behutsam, um nicht mit irgend einem
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vergessenen Trauma zu kollidieren, fragte ich, was wohl geschehen würde, wenn sie sich um etwas mehr Leichtigkeit im Hals bitten würde. Sie begann allmählich ihre Körperhaltung zu verändern, obwohl sie sich noch immer recht starr hielt. Ich bat sie, ihren Kopf zu bewegen, um verschiedene Dinge im Raum zu betrachten. Schließlich bat ich sie, Dinge hinter ihr anzusehen und führte sie mit meinen Händen gleichzeitig in eine Rotationsbewegung der Wirbelsäule. An dieser Stelle begann sie zu erzählen, dass sie zwei Jahre alt gewesen sei, als ihre Mutter sich die Wirbelsäule brach und seither an einen Rollstuhl gefesselt war. Nun verstand ich. Ihr wichtigstes Vorbild für Bewegung war jemand mit einem gebrochenen Rücken gewesen. Das vermutete Trauma war das Trauma ihrer Mutter, nicht ihres. Als ich ihr diesen möglichen Zusammenhang erklärte, stand sie auf und bewegte ihren Rumpf in alle Richtungen und ohne Probleme mit der Rotation der Wirbelsäule. Jegliche Beweglichkeit war vorhanden – sie hatte lediglich ein sehr eingeschränktes Vorbild für Bewegung gehabt. Eine junge Schauspielerin am Beginn einer dreijährigen intensiven Zusatzausbildung wurde für die Rolle einer Krankenschwester in einem Bühnenstück ausgewählt. Als sie zur Alexander-Klasse kam, um an dieser Rolle zu arbeiten, war sie sehr angespannt und befangen. Sie machte sich um jedes Wort und jede Bewegung Sorgen – wie sollte sie dieses Wort sprechen, wie jenes, was meinte der Regisseur wohl mit dieser, was mit jener Anweisung, was sollte sie mit ihren Beinen in diesem, was mit ihren Armen in jenem Moment tun … Jede dieser Sorgen war mit einer charakteristischen körperlichen Anspannung verbunden. Wann immer wir im Unterricht an eine dieser sorgenvollen Stellen kamen, arbeitete ich mit ihr daran, ihren Hals loszulassen, ihren Kopf frei zu balancieren, um im ganzen Körper mehr Leichtigkeit zuzulassen. Wir mussten in den Szenen, die sie probte, wieder und wieder anhalten, um das zu erneuern, was ich «konstruktives Denken» im Bezug auf die Gesamtkoordination nenne. Diese Art der Arbeit setzten wir für viele Wochen fort. In ihrer Rolle als Krankenschwester wurde ihre Arbeit besser, aber sie war immer noch sehr angespannt, und mit Sicherheit hatte sie nicht viel Spaß an der Schauspielerei. Wir arbeiteten während der ganzen drei Jahre ihrer Ausbildung zusammen. Obwohl sie nur sehr langsam Fortschritte machte, veränderte sie doch allmählich ihre Angewohnheit, sich ständig Sorgen darum zu machen, ob sie das Richtige tat oder ob der Regisseur zufrieden mit ihr war. Wir führten keine Diskussionen über ihre Sorgen, wir verbesserten einfach immer wieder
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aufs Neue ihre Koordination. Obwohl die Arbeit mit ihr immer sehr ähnlich schien, lernte sie jedes Mal ein bisschen mehr über ihre gewohnten Muster und übte sich darin, neue Entscheidungen zu treffen. Als ich sie schließlich am Ende ihrer dreijährigen Ausbildung auf der Bühne sah, war von der gehemmten Person, die ich drei Jahre zuvor kennen gelernt hatte, nichts mehr zu sehen. Sie spielte sehr spontan, intensiv und sehr gewandt und schien voller Kraft und Freude zu sein. Ein Student an der Universität kam zu mir zum Unterricht. Er hatte ein sehr auffälliges und starkes Spannungsmuster in seinen Armen und Schultern. Einige Monate des Alexander-Unterrichts hatten zwar etwas allgemeine Veränderung gebracht, aber sein Muster in Armen und Schultern hatte sich kaum verändert. Zur gleichen Zeit kam ein neuer Schüler zu mir in meine private Unterrichtspraxis. Als er meinen Unterrichtsraum betrat, fiel mir auf, dass sein Spannungsmuster in seinen Armen und Beinen dem des Studenten an der Universität glich. Als ich ihn fragte, warum er zu mir zum Unterricht komme, erklärte er mir, dass er wegen des Gehens Hilfe suche. Er erzählte, dass er im Alter von zwölf Jahren an beiden Knien operiert worden sei und für ein Jahr an Krücken gehen musste. Ich beobachtete ihn beim Gehen – es schien, als ginge er immer noch an Krücken. Ich schlug vor, dass er die Krücken ablegen solle, nach einem Moment der Verwirrung ließ der größte Teil der Spannung in seinen Armen und Schultern nach. Als ich das nächste Mal den Studenten an der Universität sah, fragte ich ihn, ob er jemals Krücken benützt hätte. «Ja, etwas mehr als ein Jahr lang im Alter von dreizehn.» «Lege sie ab.» Sein gewohntes Muster verschwand.
Betrachten wir jetzt noch einmal unsere praktischen Beispiele vom Anfang. Frau Sch., Meike und Sibylle B. kamen mit jeweils unterschiedlichen Anliegen. Da es die grundlegende Aufgabe des Alexander-Lehrers ist, dem Schüler zu einem besseren Selbstgebrauch zu verhelfen, ist es in jedem Fall erforderlich herauszufinden, welche Gewohnheiten ein freies Arbeiten des Körpers verhindern. Diese Analyse der Grundbedingungen des gegenwärtigen Gebrauchs eines Schülers geschieht schon in dem Moment, in dem der Schüler den Unterrichtsraum betritt. Die Art und Weise, wie Meike zu Beginn der ersten Stunde auf dem Stuhl saß und der daraus entstehende Dialog, gaben Hinweise auf ihre Idee des Sitzens. Wie wir gesehen haben, kannte sie nur zwei Möglichkeiten: «ungesund» und bequem, «gesund» und angespannt. In ähnlicher Weise gab schon das Stehen von Frau Sch. Aufschluss über die Ursache des Ungleichgewichts an Spannung in ihrem Körper.
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Der Einsatz der Hände des Lehrers dient dabei zum einen einer zusätzlichen Wahrnehmung über den Gebrauch des Schülers, zum anderen dient er dem Schüler zur konkreten körperlichen Wahrnehmung seiner Möglichkeiten. In vielen Fällen wird erst diese Demonstration für den Schüler die bewusste kinästhetische Erfahrung der eigenen Bewegungs- und Koordinationsmuster möglich machen. Und schließlich wird es für den Schüler nur durch diese Erfahrung am eigenen Körper möglich, eine neue Art des Gebrauchs zu integrieren. Wie das Beispiel der Musikstudentin Sibylle B. veranschaulicht, war es ein wechselndes Erfahren der momentanen, gewohnten Muster der Koordination und Bewegung und der neuen effizienteren Lösungen. Eine wirkliche Veränderung, die über die Alexander-Stunde hinaus wirken kann, hat als Voraussetzung diese kinästhetische Erfahrung, aber auch ein intellektuelles Verstehen dieser Erfahrung im Sinne einer wirklichen Erkenntnis. Wie Sibylle eine dieser Erfahrungen, die sie auch in ihrem Bericht schildert, als wirkliche Erkenntnis integrieren konnte, zeigt der kurze Ausschnitt eines Dialogs, der aus den Aufzeichnungen ihres Alexander-Lehrers stammt.
Ich arbeite mit Sibylle B. am Klavier. Sie spielt vor und beugt sich dabei immer wieder sehr weit nach vorne und zieht sich dabei stark zusammen. Ich lasse sie noch einmal spielen und hindere sie daran, sich nach vorne zu beugen. Lehrer: Was haben Sie wahrgenommen? Schülerin: Ich werde zurück gehalten. Lehrer: Was glauben Sie, warum? Schülerin: Vermutlich weil ich nach vorne gehe. Lehrer: Richtig. Habe ich dazu Kraft gebraucht? Schülerin: Ja, sicher. Lehrer: Wie viel Kraft? Schülerin: Das weiß ich nicht. Lehrer: Kennen Sie aus der Physik die Sache mit Actio und Reactio? Schülerin: Ja, kenne ich. … Sie haben wahrscheinlich genau so viel Kraft gebraucht, um mich zurückzuhalten, wie ich aufgewendet habe, um nach vorne zu gehen. Lehrer: Genau; ich schwitze noch immer. (Gelächter) Warum strengen Sie sich so an, um nach vorne zu gehen? Schülerin: Es ist vielleicht Energieverschwendung, aber ich kann sonst nicht spielen. Lehrer: Sie können nicht Klavier spielen, wenn Sie sich nicht immer wieder nach vorne beugen?
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Schülerin: Ich kann doch nicht die ganze Zeit steif dasitzen. Lehrer: Wer sagt, dass Sie steif dasitzen sollen? Schülerin: Hmmmh … Lehrer: Im Ernst, könnten Sie Klavier spielen, ohne dass Sie sich mit so viel Spannung nach vorne beugen? Mir geht es dabei nicht darum, dass Sie das nicht tun sollen, sondern zunächst darum, herauszufinden, welchem Zweck es dient, wenn Sie es tun. Schülerin: Ich denke, ich könnte spielen, ohne mich nach vorne zu beugen, und ich habe auch eine Idee, warum ich es tue.
Wie dieses Beispiel zeigt, geschieht die Vermittlung der Prinzipien der AlexanderTechnik methodisch durch: 1. Analyse der gegebenen Bedingungen des Gebrauchs 2. Demonstration der neuen Möglichkeiten im Vergleich zu den alten Mustern durch taktile Impulse 3. Prozesse der Erkenntnis der neuen und alten Möglichkeiten durch Dialog zwischen Lehrer und Schüler 4. Anleitung zur eigenständigen Anwendung des Erlernten. Dieses eigenständige Anwenden hat, wie wir in vorigen Kapiteln gesehen haben, als Voraussetzung immer das Innehalten, denn nur dadurch wird der Möglichkeit bewusster Entscheidung überhaupt Raum gegeben. Wir können Bewegungen nicht ausschließlich bewusst steuern, dazu sind sie viel zu komplex. Wir können jedoch einen bedingenden Faktor effizienter Bewegung, die von F. M. Alexander entdeckte primäre Steuerung, bewusst beeinflussen. Dadurch haben wir die Möglichkeit, Leichtigkeit und Effizienz in unseren Alltag zu bringen und einen wesentlichen Beitrag zur Vorbeugung vieler Erkrankungen zu leisten.
Das Berufsbild des Alexander-Lehrers Als Alexanders Methode durch die Erfolge, die er zu verzeichnen hatte, immer populärer wurde, fing er an, andere Personen als Lehrer darin auszubilden. So begann er schließlich 1930 in London damit, einen dreijährigen Trainingskurs zu leiten. Diese Tradition der dreijährigen Ausbildung setzt sich bis heute fort. Die Ausbildungsstätten befinden sich in vielen Ländern der Welt: England, Israel, Amerika,
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Kanada, Dänemark, Niederlande, Australien, Italien, Österreich, Frankreich, Japan, Schweiz und Deutschland. Nationale Berufsverbände, die im internationalen Verbund zusammenarbeiten, überwachen die Richtlinien für die Ausbildung der zukünftigen Lehrer und gewährleisten die Qualität der Arbeit. Derzeit gibt es weltweit 3000 Lehrer der Alexander-Technik, die in eigener freier Praxis oder Institutionen wie Musikhochschulen, Schauspielschulen, Arztpraxen, Kliniken etc. arbeiten. Die Ausbildung zum Lehrer/zur Lehrerin der F. M. Alexander-Technik erfolgt an anerkannten Ausbildungsinstituten (Schulen). Die Anerkennung wird nach den Richtlinien der Gesellschaft der LehrerInnen der F. M. Alexander-Technik (G. L. A. T.) bzw. der jeweiligen nationalen Gesellschaft im internationalen Verbund ausgesprochen. Wer mit der Ausbildung beginnen möchte, sollte in der Regel bereits einige Erfahrung mit der Alexander-Technik durch persönlichen Unterricht gemacht haben. Die Ausbildung umfasst 1600 Unterrichtsstunden à 60 Minuten über einen Zeitraum von drei Jahren; in der Regel 15 Unterrichtsstunden wöchentlich während 36 Wochen pro Jahr in praktischer und theoretischer Unterweisung. Informationen zu Einzelunterricht, Kursen und Ausbildung sind bei der Gesellschaft der LehrerInnen der F. M. Alexander-Technik (G. L. A. T.), Postfach 5320, 79098 Freiburg, oder bei den Verfassern dieses Beitrags zu erhalten.
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Die Eutonie Gerda Alexander Karin Schaefer Bewohnt euren Körper, bewohnt euren Raum, seid offen für alles Erstaunliche, fragt ohne Unterlass die Welt, befragt sie mit euren Sinnen. (Leitmotiv der Eutonie Gerda Alexander, Dossier de Présentation 1990)
Bericht einer Kursteilnehmerin Gerda Alexander leitete einen Kurs, der mehr als 50 zum Teil erfahrene, zum Teil ungeübte Teilnehmer/innen zusammenführte. Ich war auf der Suche nach Hilfe für meine Rückenschmerzen gekommen und lag als Eutonie-Neuling zum ersten Mal am Boden. Wir wurden angeleitet, zwei Kastanienschnüre nebeneinander auf unsere Matte zu legen und uns mit dem Rücken so darauf einzurichten, dass die Wirbelsäule mit den Dornfortsätzen dazwischen passte. Die Füße wurden aufgestellt, die Arme neben den Rumpf gelegt. Jahrelange Schmerzen hatten mich gezwungen, meinen Rücken zu schonen. Es war für mich unvorstellbar, auf harten Kastanien zu liegen. Also stemmte ich meine Füße fest gegen den Boden, spannte meine Oberschenkel an und hielt meinen Rücken hoch, um dieser Begegnung auszuweichen. «Lassen Sie sich nieder, spüren Sie die Kastanien» sagte Gerda Alexander. Meinte sie mich? Unmöglich – ich wagte kaum zu atmen aus Angst vor dem Schmerz und war sehr misstrauisch gegenüber der wiederholten Aufforderung, die Kastanien mit dem Rücken zu fühlen. Mein Festhalten wurde anstrengend, die Oberschenkel und der Bauch waren verspannt, der Rücken fühlte sich hart an und tat weh. Ich war hilflos und wurde ärgerlich: von Eutonie, «Wohlspannung», hatte man mir erzählt. «Wie tief wirken die Kastanien durch Ihre Haut nach innen? Fühlen Sie etwas von Ihrer Muskulatur – von Ihrer Wirbelsäule?»
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Ich spürte nur eine unfreundliche Härte und wurde müde von der Arbeit, mich wegzuhalten von den Kastanien und vom Boden. «Lassen Sie los – geben Sie Ihr Gewicht hin zu den Kastanien.» Ich fühlte mich direkt angesprochen, und irgendwann war es passiert: mein Rücken spürte deutlich einige Druckstellen. Es tat nicht wirklich weh. Ich wurde neugierig und wollte genauer spüren, was da war: Kastanien – wo lagen sie? Wie viele waren es? Und warum Kastanien? Plötzlich musste ich seufzen. Ich begann, meine verspannten Füße und Beine ein wenig zu bewegen. Das anstrengende Festhalten löste sich. Die Schultern und Arme bewegten sich, ich spürte den Boden darunter. Dann löste sich auch die Starre im Rücken auf, er legte sich auf die Kastanien. Ich fühlte mich gleichzeitig erschöpft und erleichtert. «Begleiten Sie spürend den Weg Ihres Gewichtes, von Ihrem Rücken durch die Kastanien hindurch in den Boden.» Jetzt konnte ich meinen Widerstand aufgeben, ich konnte der Anweisung getrost folgen und den Weg meines Gewichtes nachvollziehen: Da war unter mir meine Matte und darunter der Holzboden. Plötzlich fühlte ich ein kleines Lachen in mir. Später wurden wir aufgefordert, die Kastanien wegzunehmen und uns im Liegen zu spüren. Ich lag mit ausgestreckten Beinen am Boden – eine Lage, die mir seit Jahren nicht mehr möglich gewesen war.
Die Fixierung auf Rücken und Schmerz hatte das Verhalten der Schülerin so geprägt, dass sie ständig damit beschäftigt war, ihren Rücken zu «schonen». Auf der Suche nach einem Ausweg aus ihrer Sackgasse hatte sie sich zu einem Wochenkurs bei Gerda Alexander angemeldet und machte hier ihre ersten Erfahrungen mit der Eutonie. Später erlebte sie im Laufe einer Serie von Einzelstunden ihre Ängste deutlich. Sie konnte verbal äußern, dass sie Berührung meistens als Aggressivität empfindet und ihre Sexualität gestört und angstbesessen erlebt. Angst, Abwehr und Widerstand zeigten sich als schädigende Verspannungen, die sich in ihrer Haltung und Bewegung äußerten. Sie versuchte, sich abzugrenzen und hatte oft das Bedürfnis, sich rechtfertigen zu müssen. In der von ihr geschilderten ersten Begegnung mit der Eutonie wurde mit Berührung und Kontakt gearbeitet. Die Aufgabe, sich von dem Material berühren zu lassen, wurde durch ruhige Hinweise begleitet, die eine Ordnung und Richtung vorgaben. Die Aufmerksamkeit wurde vom Rücken weg nach außen gelenkt und widmete sich einem Objekt, Kastanien in Stoffschläuchen lenkten ab vom Pro-
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blem «Rücken und Schmerz». Dadurch wurde es möglich, nachzugeben und sich weicher an die Unterlage anzuschmiegen. Die Neugierde wurde zum Motiv, sich dem Objekt anzunähern. Der Widerspruch zwischen Angst (weg vom Objekt) und Neugierde (hin zum Objekt) wurde zusätzlich entschieden von großer Müdigkeit, die aus muskulärer, aber auch psychischer Anstrengung entstand («plötzlich musste ich seufzen»). Die Neugierde wirkte als Intention lösend auf den Tonus. Dadurch war die Möglichkeit gegeben, dem nächsten Hinweis zu folgen: den Weg des eigenen Gewichtes durch das Material zum Boden spürend zu begleiten. Durch den Kontakt zum tragenden Boden wurden Lösung und Öffnung für neue Erfahrungen möglich.
Erinnerung einer Schülerin Unsere Lehrerin hatte vorgeschlagen, dass jede/r Schüler/in eine kleine einfache Bewegungsfolge entwickeln sollte. Die besondere Aufgabe dabei war, zuerst nur eine Hand zu bewegen. Von dieser Hand ausgehend, sollte sich die Bewegung allmählich konsequent weiter ausbreiten durch den Arm, die Schulter, den Rumpf und schließlich durch den ganzen Körper. Nach einer Vorbereitungszeit zeigten wir der Gruppe unsere Bewegungsimprovisation. Als die Reihe an mir war, ging ich herzklopfend, aber gefasst auf die «Bühne». «Nur keine Schwäche zeigen!» versuchte ich mich zu ermuntern. Ganz und gar auf meine Aufgabe konzentriert, blendete ich alles andere aus, nach dem Motto: «Augen zu und durch!» Ich wollte meine Hand heben und wusste nicht, wie mir geschah; alles schien aus dem Ruder zu laufen: Die Beine zitterten, als wollten sie ihren Dienst versagen, die Hand flatterte mir davon. Je mehr ich sie zu bändigen suchte, desto selbständiger machte sie sich. Eine panische Angst ergriff mich. Ich war nur noch ein Bündel von Körperteilen, die etwas ganz anderes taten, als ich ihnen befohlen hatte! In äußerster Not brach ich meinen Versuch ab und rief verzweifelt aus: «Da ist es wieder – das Zittern!» Gleichzeitig spulte ein Film von Bildern in mir ab: unzählige, alltägliche Situationen, in denen meine Hände mir nicht mehr gehorchten; irritierte, mitleidige, zynische Blicke von Mitschülern, von Erwachsenen, die ich zu ignorieren versuchte. Jetzt lag alles offen zutage. Nichts war mehr zu verbergen. Ich sah meine Lehrerin nachdenklich nicken und fühlte, dass sie mich , verstand. Erleichtert folgte ich ihrem Vorschlag: «Probier s noch einmal – und achte auf deine Füße». Die hatte ich ganz vergessen! – Ich spürte den Boden, fest, haltgebend, wagte ein paar Schritte und wurde zunehmend sicherer. Die Angst war wie
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weggeblasen; alles erschien mir leicht. Ich fühlte mich von einer Welle der Sympathie getragen, konnte dastehen und meine Bewegungsfolge zeigen. Es war ein wunderbares Erlebnis!
Als die Schülerin an der Reihe war, wusste ich, dass diese Aufgabe für sie eine besonders starke Herausforderung war. Ich hoffte, sie würde diese Chance nutzen können. Ihre Augen verrieten Angst. Das Zittern in den Händen war nicht zu übersehen. Sie mied den Kontakt zu den Anwesenden und zog sich ganz in sich zurück. Alles entwickelte sich sehr rasch: Sie bemühte sich, ihre Hände zu beherrschen, indem sie ihre Muskulatur, besonders im Nacken- und Schulterbereich, aufs Äußerste anspannte. Es war, als wollte sie die Kraft zur Kontrolle von unten nach oben ziehen, der Schwerkraft widerstrebend. Die Knie zitterten und jede Verbindung zum Boden fehlte. Ich sah ihre Verzweiflung, zögerte noch einzugreifen, da brach sie ab, schaute mich direkt an und rief (fast anklagend): «Da ist es wieder – das Zittern!» Es war eine Erlösung: Sie hatte den Kontakt nach außen aufgenommen! Ich versicherte ihr, dass das Zittern auch seinen Platz hat, und bat sie, noch einmal zu beginnen. Ich forderte sie auf: «Spür deine Füße: Wie stehst du?» Ich sah, dass sie die Verbindung zum Boden wieder fand: Ihre Füße tasteten, zuerst behutsam, dann mit kleinen, kräftigen Impulsen gegen den festen Untergrund. Vom Boden her richtete sie sich zu ihrer ganzen Länge auf. Das stabilisierte sie sichtbar, körperlich und seelisch. In kurzer Zeit verschwanden die Stresssymptome: Ihre Bewegungen wurden freier, ruhig und fließend, die Augen beweglich, die Gesichtszüge gelöst. Die Koordination aller Körperteile gelang mühelos. Sie war da, im Kontakt mit dem Boden, präsent im Raum. Am Ende lächelte sie uns zu. Ich spürte: Es war ein Durchbruch. Im Anschluss an die Eutoniestunde entstand ein reger Austausch: Die SchülerInnen erlebten die Aufgabe, sich vor der Gruppe zu zeigen, zunächst als belastend, zunehmend aber als eine gute Herausforderung; sie fühlten sich von der Gruppe getragen, die gesammelte Atmosphäre verhalf ihnen zu einer größeren Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber. Als Zuschauer empfanden und fühlten sie mit; sie waren tief berührt und dadurch ermutigt, sich auch selbst zu zeigen.
Gerda Alexander und die Entwicklung der Methode Gerda Alexanders wichtigstes Anliegen war die Entwicklung des Menschen zur Beziehungsfähigkeit. Sie war überzeugt davon, dass diese Fähigkeit eng zusammenhängt mit der Beziehung zu sich selbst, zum eigenen leiblichen Dasein. Diese
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Überzeugung prägte ihre Arbeit. Der von ihr aufgezeigte Weg führt zu einer vertieften Sensibilität für die körperliche und seelische Befindlichkeit und für die Prozesse, die sich zwischen der eigenen Innenwelt und der Außenwelt abspielen. Sich selbst zu entdecken und sich selbst zu erkennen macht fähiger, für sich selbst verantwortlich zu sein. Dieses Eigenständig-Sein ist die Grundlage, bereit zu sein für den Weg nach außen, ohne Angst vor Selbstverlust. Gerda Alexander benutzte für diese innere Bereitschaft das Wort «Kontakt». Sie verstand darunter das Empfindungsvermögen für die Dinge, für die Menschen und die Situation des unmittelbaren Lebensbereiches und die Bereitschaft, sich auf sie einzustellen. Kontakt bedeutet für sie außerdem die Fähigkeit, eine soziale Einbindung zu entwickeln und anderen Menschen in ihrem Anders-Sein mit Achtung und Einfühlungsvermögen zu begegnen. Um einen ersten Beweggrund ihrer Motivation verständlich zu machen, erzählte Gerda Alexander gern ein Erlebnis aus ihrer frühen Kindheit, das einen prägenden Eindruck in ihr hinterließ: 1908 in Wuppertal geboren, habe ich als Kind durch den ersten Weltkrieg gelernt, dass «der böse Feind da draußen» ist. Kurz nach dem Krieg, ich war etwa 12 Jahre alt, reisten meine Eltern mit mir in die Schweiz. Auf einer Bergwanderung kam uns ein Mann entgegen: groß und schlank, mit einer herrlichen Uniform und einem wunderbaren Schnurrbart, der an den Enden hoch aufgezwirbelt war. Ich fand ihn wunderschön. Er sprach lebhaft und freundlich mit meinen Eltern in einer Sprache, die ich nicht verstand. Fasziniert stand ich daneben und betrachtete ihn. Nachdem er mir zulachte und sich verabschiedete, fragte ich, wer dieser Herr wohl sei. «Ein Franzose», antworteten die Eltern. Ich war tief erschüttert und verunsichert, denn die Franzosen, waren das nicht unsere Feinde? In mir wuchsen die ersten Zweifel gegenüber vorgegebenen und übernommenen Standpunkten. Gerda Alexander (1908–1994) wurde durch die Liebe ihrer Eltern zur Musik und zur Rhythmik Jaques-Dalcroze früh geprägt. Mein erster Kontakt mit Dalcrozes Arbeit bestand in ein paar Fotos vom ersten Festival in Hellerau 1911. Obwohl ich erst drei Jahre alt war, beeindruckten sie mich tief. Meine Eltern waren schon vor ihrer Heirat so von Dalcrozes neuen Ideen hingerissen, dass sie fanden, ihr Kind solle Dalcroze-Schülerin werden. (Bersin, 1983) Prof. Emile Jaques-Dalcroze (1865–1950), Musikpädagoge am Conservatoire in Genf, hat mit seiner Methode der «Rhythmischen Gymnastik» dem Ausdrucks-
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tanz wichtige Anregungen gegeben. Zwischen 1910–1914 wirkte er an der für ihn gegründeten «Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus» in Hellerau bei Dresden und verbreitete von hier aus seine Methode. Seine Pädagogik gründete sich auf dem Prinzip: «Ich weiß, weil ich fühle und erfahre». Er erkannte, «dass das am stärksten fühlbare und direkt mit dem Leben verbindende Element der Musik der Rhythmus, die Bewegung sei» (Tauscher, 1957). Rhythmik ist vor allem persönliche Erfahrung: die Erfahrung darf nicht durch Worte ersetzt werden … Das Gleichgewicht zwischen Einbildungskraft und der treibenden Macht, zwischen Wille und Gehorsam, Traum und Wirklichkeit soll aber der Erzieher dem Kind vermitteln und ihm Klarheit im eigenen Ich schaffen, ihm seine Selbstäußerungsmöglichkeiten offenbaren. (Jaques-Dalcroze, 1928) Für Jaques-Dalcroze spielten Spannung und Entspannung der Muskulatur, die Angemessenheit von Muskeleinsatz für die aktuelle Aufgabe und die Idee der ökonomischen Bewegung eine große Rolle. Beim Ausbruch des Krieges 1914 unterzeichnete Jaques-Dalcroze in Genf eine Protestaktion. Dadurch wurde sein Verbleib in Deutschland unmöglich. Im Alter von sieben Jahren begann Gerda Alexander mit dem regelmäßigen RhythmikUnterricht bei Otto Blensdorf, einem Schüler von Jaques-Dalcroze und später bei dessen Tochter Charlotte Blensdorf-MacJannet, mit der sie eine lebenslange Freundschaft verband. Ihre Leidenschaft für Musik, Tanz, Theater und das Leben auf der Bühne oder in den Kulissen führte sie aus dem bürgerlichen Familienrahmen hinaus. Nach Schulabschluss 1924 folgte sie nicht dem Wunsch ihrer Eltern, auf eine Frauenschule zu gehen, sondern begann mit der Rhythmik-Ausbildung an der Blensdorf-Schule. Ich sehe … in der körperlichen-musikalischen Erziehung den Kern aller «rhythmischen Erziehung» … nicht nur auf dem Gebiet der Kunsterziehung, sondern auch auf dem der Psychotherapie und auf sozialem Gebiet. (Blensdorf, 1928) In dieser Zeit wurde durch Kontakte der Rhythmik-Schule von Otto Blensdorf mit Peter Petersen, dem Leiter des erziehungswissenschaftlichen Instituts der Universität in Jena und wichtigem Mitgestalter der Reformpädagogik, die BlensdorfSchule für zwei Jahre nach Jena verlegt. Jaques-Dalcroze und Peter Petersen schöpften ihre pädagogischen Ideen aus den gleichen Quellen der Reformbewegung. Während der Rhythmik-Ausbildung war es üblich, dass die Schülerinnen schon früh praktischen Unterricht erteilten. Gerda Alexander arbeitete während ihrer Ausbildung unter der Assistenz von Charlotte Blensdorf-MacJannet u. a. mit straffällig gewordenen Jugendlichen, mit schwer behinderten Kindern und mit Prostituierten, die ungewollt schwanger wurden.
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Sie sagte später über diese Erfahrung: «Ich war damals 16 Jahre alt und kann heute kaum begreifen, wie man sich der dauernd wechselnden Situation anpassen konnte.» (DEGGA-Mitteilungen 38/1996). Charlotte MacJannet ergänzte dazu 70 Jahre später, dass die Entwicklung von Gerda Alexander zu einer außergewöhnlichen Pädagogin in dieser Zeit begann. Die Ideen der Reformpädagogik legten eine Grundlage, die in Gerda Alexanders körperorientierter pädagogischer Arbeit weiter wirkte, ihre eigenen Erfahrungen bestätigte und klärte. Jeweils zwei Zitate von Peter Petersen und Gerda Alexander, die etwa fünfzig Jahre auseinander liegen, machen dies deutlich: Das ist die ungeheure Tragik der Kindheit, dass sie dieser Welt der Erwachsenen ausgeliefert wird, die dasteht als etwas, das über den Erwachsenen zur Herrschaft gelangt ist und von dem aus sie die Kindheit immer noch allzu einseitig und zu sehr in ihre Welt ein- und unterordnet, sie zum Opfer ihrer Welt macht und aus solchen Opfern Herren dieser Welt bilden will. (Petersen, 1931, S. 119 f) Das ist ungefähr das Schlechteste was man machen kann: Macht über einen Menschen gewinnen zu wollen. Man kann jemandem helfen, einen Weg zu entdecken, man kann ihm verschiedene Übungen empfehlen, die ihm dabei helfen können. Aber es ist nicht der richtige Weg, zu sagen, das muss so oder so sein. Dann imitiert der Mensch das nur und hat gar kein wirkliches Erlebnis. (Moscivici, 1989, S. 39) Erziehung ist ein allgemeiner Vorgang der Anpassung, des Hineinlebens, richtiger fast des Hineingelebtwerdens in die Gemeinschaft, ein organisches Werden durch soziale Assimilation, ein Hineinleben nicht nur in die Güter und Formen der Kulturwelt, sondern auch in ihre Werte. In diesem vollen Umfang wächst der Mensch in die Gemeinschaft hinein, und in diesem Sinne ist Erziehung ein Vorgang natürlichen Wachstums am und im Ganzen unter natürlicher Einwirkung der mannigfachen Art. Und «das ganze Leben des Menschen und der Menschheit ist ein Leben der Erziehung» (Friedrich Fröbel). (Petersen, 1924, S. 104 f) Die Wiederherstellung der inneren Ordnung als Abbild der psychophysischen Ganzheit (ist) keinesfalls individueller Luxus. Im Gegenteil: die personhafte Verantwortung für diese Ordnung, in die auch die Verantwortung für das Gedankenleben und das eigene Unbewusste im Sinne Erich Neumanns mit einbezogen ist, ist die Voraussetzung für realisiertes soziales Verhalten. Denn eine gesellschaftliche Neuordnung, wie sie heute angestrebt wird, kann nicht allein durch äußere Reformen erreicht werden, sondern nur, wenn gleichzeitig sich jeder Einzelne seiner Verantwortung für das sichtbare und unsichtbare Ganze bewusst wird und ihr entsprechend in seinem Leben handelt. (Gerda Alexander, 1999, S. 50)
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1929 legte Gerda Alexander das Rhythmikexamen an der Hochschule für Musik in Berlin ab. Sie stellte zusammen mit Charlotte Blensdorf beim New-Education-Fellowship-Kongress in Helsingør/Dänemark die pädagogischen Ideen von Jaques-Dalcroze vor. Dort wurde sie engagiert für den Rhythmik-Unterricht an der Fröbel-Hochschule. Sie entdeckte, dass die Rhythmik-Dalcroze und die Reformpädagogik in Skandinavien bereits sehr bekannt waren und mit großer Offenheit aufgenommen wurden, und fand ein reiches pädagogisches Arbeitsfeld vor. Der andere Pol in Gerda Alexanders Leben war ihr Drang zur Bühne und ihr musikalisches Talent. Einer Bühnenlaufbahn konnte sie aus gesundheitlichen Gründen nicht nachgehen, ihre eigenen Kräfte waren durch eine Konstitutionsschwäche und Krankheit für so ein Leben nicht ausreichend. Aber die Gestaltung in den Kulissen, die Arbeit mit Künstlern, beglückte sie, hier konnte sie ihre künstlerische Kreativität entfalten. Unter Leitung von W. Meyer Radon in Malmö erarbeitete sie Choreographien für Orpheus und Euridike (Gluck), Ja-Sager (Kurt Weill) und Dido und Aeneas (H. Purcell). Der damalige Direktor des Berliner Staatstheaters, Leopold Jessner, lernte diese Arbeiten von Gerda Alexander kennen und engagierte sie für den 1. März 1933 an das Berliner Staatstheater als rhythmische Bewegungslehrerin und Regieassistentin. Ein Traum schien sich zu erfüllen: eine kontinuierliche Arbeit mit Tänzern und Schauspielern am Theater und ein neues Lernen bei einem großen Meister. Politische Gründe vereitelten das Vorhaben. 1933 kam Hitler an die Macht, Jessner als Jude musste Deutschland verlassen. Gerda Alexander sagte später dazu: «Eine Pädagogik, die an die Verantwortung des Individuums appelliert, hat keinen Platz in einem Land, in dem ein Führer alle Verantwortung allein übernimmt.» Die äußere Wende führte zur inneren Wende. Sie verstand, dass es jetzt wichtiger war, für eine neue, internationale Erziehung einzutreten. In Dänemark boten sich ihr viele Aufgaben mit Kindern, Künstlern und Pädagogen, mit gesunden und kranken Menschen. Gerda Alexander blieb in Dänemark und erlebte dort die Kriegsjahre und die Besatzung durch die Deutschen. Von den Dänen und der Besatzungsmacht gleichermaßen argwöhnisch überwacht, engagierte sie sich in dem Solidaritätsnetzwerk, das vielen Menschen zur Flucht vor den Nazis verhalf. Nach dem Krieg wurde ihr die dänische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Für Gerda Alexander war ihr eigener Körper ein strenger Lehrmeister. Ihre schwache Konstitution, zu der eine rheumatische Herzerkrankung kam, führte sie zur Forschung am und im eigenen Organismus. Nach der Herzerkrankung musste sie jede Tätigkeit kräftesparend ausüben. Die Schulung ihres Körpergefühls durch die Rhythmik half ihr, jede Bewegung genau zu erspüren und ihren organischen Ablauf zu analysieren. Jetzt war es keine Frage des Ausdrucks einer Bewegung nach außen, vielmehr ging es um die innere sinnvolle Gestaltung und einen bewussten
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Einsatz von Energie. Ein Hinhorchen auf feinste Reaktionen des Körpers und ein bewusstes Reagieren darauf wurden lebensnotwendig und führten zu einer ganz besonderen Sensibilität für die inneren Funktionen und Strukturen. Gerda Alexander begann, Bewegung innerlich bewusst vorauszuplanen. Sie entdeckte, dass die bewusste Hinwendung zu einem Körperteil und das Einspüren in seine Oberfläche und sein Volumen den Muskeltonus verändert. Die Muskulatur stellt sich optimal auf die zu leistende Arbeit ein, wenn der Bewegung ein fühlendes Denken vorausgeht. Diesen Umgang mit der real ertastbaren Materie des Körpers verfeinerte sie im Laufe der Jahre immer mehr. Sie differenzierte subtile Strukturen und sie erlebte, wie die Qualitäten des Körpers sich durch innere Zuwendung und Wahrnehmung verändern. Ihre Erfahrungen und Entdeckungen probierte sie dann im Unterricht mit ihren Schülern aus und überprüfte sie auf ihre Gesetzmäßigkeit hin. Dabei entwickelte sie auch ihre große Begabung weiter, sich in die Spannung und Stimmung, den Tonus eines Menschen oder einer Gruppe einzufühlen und so deren Schwierigkeiten zu erspüren. Dieses besondere Einfühlungsvermögen, die Tonusadaption, verhalf ihr zu einem tiefen menschlichen Verständnis für andere. Tonusadaption verstand sie umfassend als die Fähigkeit, sich an jede gegebene aktuelle Lebenssituation angemessen anzupassen und individuell zu reagieren. Tonusadaption wurde zur Basis ihrer Methode, die sie ab 1957 «Eutonie» nannte, von griechisch eu = gut, harmonisch, angemessen, tonos = Spannung, Stimmung. Gerda Alexander sah ihre eigenen Erfahrungen durch ihre Vorbilder und Lehrer bestätigt. Darüber hinaus aber fand sie neue Zusammenhänge, die erst Jahrzehnte später durch wissenschaftliche Forschungen bestätigt wurden. Sie ordnete ihre Erkenntnisse ein in psycho-physische und soziale Zusammenhänge. Ihr Glaube an die Fähigkeit des Menschen, für seine Gesundheit und soziale Beziehung Verantwortung zu übernehmen, ihre Überzeugung von der inneren Heilkraft und lebenslangen Entwicklungsmöglichkeit eines jeden waren für ihre Arbeit grundlegend, strahlten von ihr aus und wirkten inspirierend auf diejenigen, die ihr begegneten. Seit 1940 bildete Gerda Alexander Schüler und Schülerinnen an ihrer Schule in Kopenhagen aus. Sie begann, ohne begleitende Musik oder vorgegebenen Rhythmus zu unterrichten, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihren individuellen Rhythmus zu entdecken, der sich z. B im Herzschlag, in der Atmung, im Gehen äußert. Sie gab Gelegenheit, das eigene Zeitmaß für einen Bewegungsablauf, für die Ausführung vorgeschlagener Bewegungsexperimente oder für ein stilles Forschen im Körperinnern zu finden. Gerda Alexanders Arbeit begegnete vielen Vorbehalten und wurde als nichtwissenschaftlich kritisiert. Oft wünschte sie, über mehr theoretische Kenntnisse zu verfügen, um in entsprechende Diskussionen einzutreten. Sie lehnte zwei Einladungen von C. G. Jung ab, weil sie meinte, von ihm nicht genug gelesen und ver-
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standen zu haben. Als eine von ihr ausgebildete Eutonie-Lehrerin einen Kurs bei Moshé Feldenkrais besuchen wollte, sagte sie: «Gehen Sie zu dem alten Moshé und lernen Sie von ihm so viel wie möglich. Wenn ich seinen Kopf hätte, wäre aus uns mehr geworden.» Sie sagte «wäre aus uns mehr geworden» und nicht «aus mir». Gerda Alexanders konsequenter Weg der praktischen Übung machte ihre Arbeit dennoch bekannt und führte zur Anerkennung. Die Erfahrungen, die sie durch ihren Unterricht vermittelte, aber auch die Authentizität ihrer eigenen Persönlichkeit, überzeugten. Sie wurde immer häufiger zu Vorträgen, Kursen und längeren Seminaren ins Ausland eingeladen. Es entstanden Gruppen in Skandinavien, Frankreich, Deutschland, USA, Argentinien, Israel, Belgien und Kanada, die mit großem Interesse an der ständigen Weiterentwicklung der Eutonie teilnahmen. Unter den Kursteilnehmern waren Künstler, Psychologen, Therapeuten und Pädagogen, die bald begannen, Aspekte der Eutonie in ihre Arbeit zu integrieren. Hierbei mag auch Gerda Alexanders künstlerisches Talent geholfen haben. Ihre außergewöhnliche Kreativität zeigte sich im Unterricht: Keine Stunde wiederholte sich, jede war an die augenblickliche Situation einer Gruppe angepasst, sie improvisierte im besten Sinne des Wortes. Oft hörte man einige Teilnehmer selbst aus großen Gruppen sagen, dass sie sich direkt angesprochen fühlten, dass sie den Eindruck hatten, ganz persönlich gemeint zu sein. Gerda Alexanders Auftreten war immer behutsam und bescheiden, allein getragen von ihrem Anliegen, aber der Kontakt, den sie ausstrahlte, erreichte auch die Menschen in der hintersten Ecke eines Übungsraumes. Gerda Alexander setzte um, was sie von der Bühne her kannte: über die Rampe hinaus den einzelnen Menschen zu berühren und zu bewegen. Die mühsamen Reisen und langen Seminare, die sie in dänischer, englischer oder französischer Sprache abhielt, ermüdeten sie nicht, sondern stimulierten sie. Was sie aus ihrer Überzeugung heraus nach außen gab, kam zu ihr zurück. Diese «Bühne» diente ihr zur Verbreitung ihres Wunsches nach Entwicklung des Menschen. In einer kleinen Gruppe in ihrer Kopenhagener Schule sagte sie einmal, dass noch ein Meer nötig sei für die menschliche Entwicklung. Wenn sie durch die Eutonie nur einen Tropfen dazu beitragen könne, sei sie zufrieden. So vereinigten sich verschiedene Strömungen in ihrer Persönlichkeit: Ihre Ausbildung und ihre eigenen Forschungen, ihre Begabungen und ihr geistiger Anspruch. Freie Pädagogik und künstlerische Übermittlungskraft trugen gemeinsam ihre Vision nach außen. Dabei blieb Gerda Alexander immer im Einfachen, im Konkreten, im Tun. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Gerda Alexander war 1988 zum Kongress für Somatotherapie in Paris eingeladen. Sie wurde als Ehrenpräsidentin vorgestellt und gebeten, den Kongressteilnehmern einige Worte zu sagen. Zu der Zeit war sie über 80 Jahre alt und hatte gerade eine schwere Hüftoperation hinter sich. Nach einem kurzen Dank für die Einladung fragte sie die Teilnehmer wie selbstver-
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ständlich, etwa in folgendem Sinne: «Wie sitzen Sie jetzt auf ihren Stühlen …, können Sie die Berührung mit der Sitzfläche spüren …, wie haben Sie Ihre Füße an den Boden gestellt?» Auf diese Weise führte sie mit einer gelassenen und präsenten Stimme fast 300 Menschen im Saal zu ihren körperlichen Empfindungen und zum bewussten Wahrnehmen ihrer Sitz-Situation. Die Kongressteilnehmer waren verblüfft und erstaunt, bis sie sich auf die Aufforderungen einließen und zu einer gesammelten Ruhe fanden. Damit schaffte Gerda Alexander einen guten Beginn für einen somatotherapeutischen Kongress und verwirklichte, was sie als Ziel der Eutonie benannte: Unser Ziel ist es, den Menschen in die Lage zu versetzen, sich auf die Wirklichkeit des Augenblicks einzustellen. 1959 fand in Kopenhagen ein Kongress statt, den Gerda Alexander mit der Unterstützung durch das dänische Gesundheitsministerium plante und organisierte: der «Kongres for Afspænding og Naturlig Bevægelse», «Internationaler Kongress für Entspannung und natürliche Bewegung» oder «First international Congress on Release and Tension and Re-Education of Functional Movement». Hier begegneten sich die Gründer/innen und Vertreter/innen der heute bekannten körperorientierten Methoden und stellten ihre verschiedenen Arbeitsansätze vor. Die M. F. Alexander-Technik z. B. wurde durch Frank P. Jones (Boston) präsentiert, und Moshé Feldenkrais aus Tel Aviv hielt den Einführungsvortrag mit dem Thema: «Body and Mind». Gerda Alexander stellte ihre Arbeit unter der Bezeichnung «Eutonie» vor. Neben den Vorträgen wurden die verschiedenen Vorgehensweisen in Kursen angeboten. Ein Bericht über diesen Kongress wurde unter dem Titel «Eutonie» vom Haag-Verlag herausgegeben (Eutonie 1964). Gerda Alexanders Worte zum Schluss des Kongresses waren: Wenn wir alle, die wir vom selben Feuer ergriffen sind, die selben Grundgedanken haben und die selben Beobachtungen machen, mehr zusammenarbeiten, muss hieraus etwas mehr entstehen können zum Wohle der Menschheit. (Ryssel, 1959) Bis zu ihrem 70. Lebensjahr leitete Gerda Alexander ihre Schule und war aktiv für ihr Anliegen tätig. 1987 zog sie sich von ihrer Arbeit zurück. Bis zu ihrem Tod 1994 lebte sie in der Familie ihres Bruders in ihrer Geburtsstadt Wuppertal. In Gerda Alexanders Leben gab es für ihre eher extrovertierte Persönlichkeit mit der künstlerischen Begabung zur Selbstäußerung zwei bedrohliche Umstände: Ihre sehr labile Gesundheit und die politische Situation in Deutschland. Beide Bedrohungen wurden für sie zur Herausforderung und führten sie weg von der Bühne zu einer Wende nach innen. Aus einem Mangel wuchs in ihr die Schöpfungskraft für eine ganz eigene Methode, die Eutonie. Damit öffnete sich die Tür
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nach außen auf eine neue Weise und gab Gerda Alexander die Gelegenheit, sich selbst zu äußern.
Grundannahmen und Grundbegriffe der Eutonie Was ist Eutonie? Eutonie ist ein westlicher Weg zur Erfahrung der körperlich-geistigen Einheit des Menschen. Nicht durch Versenkung, sondern durch Erweiterung des Bewusstseins werden schöpferische Kräfte entfaltet und zugleich die soziale Kontaktfähigkeit aktiviert – ein Entwicklungsweg, der die Qualität der Persönlichkeit freilegt und ihr die Anpassung an das Leben der Gemeinschaft ohne Verlust der Eigenheit ermöglicht. (Gerda Alexander, 1999, S. 25) Eutonie, die Bezeichnung für die Methode, setzt sich zusammen aus den griechischen Begriffen eu (gut, harmonisch, angemessen) und tonos (Spannung, Stimmung) und zeigt sogleich das Ziel auf: Spannungsregulierung und Spannungsflexibilität des menschlichen Organismus, die dem Menschen die Anpassung an seine Lebenssituation ermöglichen und seine lebendige Schwingungsfähigkeit freilegen. Die Grundannahme von Gerda Alexander war, dass jeder Mensch als individuelle Persönlichkeit die Fähigkeit zu Entwicklung und Wachstum, zu sozialer Beziehung und Verantwortung hat und dass er eine Sehnsucht in sich trägt nach Sinnhaftigkeit, Selbsterfüllung und Ausdruck der eigenen Kreativität. Die Grundthemen der Eutonie entwickelten sich aus der körperorientierten Arbeitsweise von Gerda Alexander. Sie beschreiben Gesetzmäßigkeiten unserer menschlichen Existenz: das «In-der-Welt-Stehen». Der Mensch wird berührt durch die ihn umgebende Welt. Diese • Berührung: Berührung wirkt auf ihn ein und bewirkt Veränderung in ihm. Der Mensch nimmt Beziehung auf zu seiner Umwelt. Er wirkt auf sie • Kontakt: ein und bewirkt Veränderung in ihr. Der Mensch wird aufgerichtet gegen die Schwerkraft durch die • Transport: Kraftübertragung. Dadurch steht er in einer besonderen Beziehung zur Welt. Ihre sinngebende und entwicklungsfördernde Qualität erhalten die Grundthemen im bewussten Erleben und im Durchdringen ihrer seelisch-geistigen Komponente; sie bilden so die Brücke zwischen Grundannahme und Methode. Die Prinzipien als praktische Übungen gründen sich auf die Grundthemen Berührung, Kontakt und Transport. Sie sind die methodischen Mittel der Eutonie; durch sie werden die Grundthemen und damit die Grundannahme praktisch erfahrbar (s. u.). Die Didaktik der Eutonie beinhaltet ein entwickeltes Körperbild,
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die Flexibilität des Tonus und das Verständnis für die Wechselwirkung zwischen Innenwelt und Außenwelt. Mit Präsenz meinte Gerda Alexander das Gegenwärtig-Sein. Sie verstand darunter die gleichzeitige bewusste sinnliche Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Außenwelt im gegenwärtigen Augenblick. In der Präsenz ist das wahrnehmende und beobachtende Subjekt gleichzeitig das wahrgenommene und beobachtete Objekt. Subjekt und Objekt sind eins. Das Selbst wird sich seiner selbst inne. Aus diesem Inne-Sein des Selbst entspringt die Wachheit für den dialogischen Prozess zwischen der eigenen Leiblichkeit und der Außenwelt: Das Ich und das Nicht-Ich sind nicht getrennt voneinander, sondern sie bedingen einander. In der Präsenz offenbart sich die eigene Wirklichkeit. Tonus bedeutet gleichermaßen Spannung und Stimmung und zeigt die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele auf. Die Schwingung zwischen Entspannung und Spannung hat bei einem im Sinne der Eutonie gesunden Menschen viele feine Abstufungen, entsprechend der akuten psycho-physischen Situation. In freudiger Stimmung fühlen wir unseren Körper leicht und beschwingt, in trauriger Stimmung schwer und unbeweglich, eine beschwingte Musik wirkt anders auf unser Körpergefühl und auf unsere Stimmung als ein Trauermarsch. Die Skala zwischen einem hohen und einem tiefen Tonus entspricht der menschlichen Lebendigkeit: «Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt» meint diese Spannbreite einer emotionalen Erlebnisfähigkeit. Der Tonus reagiert auch auf den körperlichen Kraftbedarf: Unsere Spannung stellt sich sinnvoll ein auf die schwere Last, die wir aufheben wollen oder auf ein leichtes Glas, das wir in die Hand nehmen. Diese Einstellung reguliert sich unbewusst: Ein schlafendes Kind wirkt ungleich schwerer, wenn wir es aufnehmen, als ein Kind, das auf uns zustrebt. Oft wird diese Tonusanpassung gestört durch psychische Einflüsse, durch den Psychotonus. Eine Treppe, die wir in freudiger Erwartung leicht hinaufspringen, erfordert in einem depressiven Zustand eine große Anstrengung, da der Körper sich schwer anfühlt. In der Tonuseinstellung zeigt sich die Untrennbarkeit von Körper, Seele und Geist. Den guten Tonus an sich gibt es nicht, sondern er hat immer seinen Wert in Bezug zur aktuellen Situation, im Dialog zwischen Mensch und Umwelt. Der Tonus reguliert sich optimal, wenn die Bereitschaft (Intention) da ist, in eine lebendige Beziehung zur Umgebung einzutreten und sich mit Empathie einzulassen in die Begegnung mit Aufgaben, Dingen und Menschen. Da diese Regulierung abhängig ist von der oft unbewussten inneren Einstellung des Menschen zu seiner Lebenssituation, kann sich im Laufe des Lebens die ursprüngliche, spontane Reaktion und Flexibilität des Organismus einschränken: Angst, Schmerz und Verletzungen auf körperlicher und seelischer Ebene führen zu Tonusstörungen und Tonusfixierungen. Damit wird die Erlebnisfähigkeit und die Lebensäußerung eingeschränkt.
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Die Erscheinungen von Tonusfixierungen sind vielfältig: Sie können sich in Passivität, Schlaffheit, Emotionslosigkeit und Antriebsschwäche äußern (Hypotonie), oder in Überaktivität, Verspannung, cholerischem Temperament und Ruhelosigkeit (Hypertonie). Am unauffälligsten nach außen hin ist die Fixierung in einer Mittellage, die aber den Betroffenen sehr einschränkt in seinem Tun, seinem emotionalen Ausdruck und seiner Erlebnisfähigkeit. Die dazu gehörenden Symptome werden oft mit vegetativer Dystonie bezeichnet. Die Methode der Eutonie hilft, die verloren gegangene Schwingungsfähigkeit wieder herzustellen und dadurch die Beziehung zu sich selbst und zur Mitwelt wieder lebendig werden zu lassen. Der Dialog zwischen dem Ich und dem NichtIch wird neu erfahren im bewussten Berühren und Berührt-Werden, im Greifen, Begreifen und Ergriffen-Werden, im Raum-Nehmen und Raum-Geben, im Wechsel von Nähe und Distanz.
Die Eutonie-Prinzipien als praktische Übungsmittel Die Prinzipien sind die praktischen Mittel der Eutonie. Sie basieren auf den Grundthemen der Eutonie für das «In-der-Welt-Stehen». Ihr Übungsfeld ist die Sensibilität und die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen. Die Prinzipien wenden sich an verschiedene Körperfunktionen und Körperstrukturen und wirken unterschiedlich auf den Tonus ein. Sie sprechen jeweils einen Aspekt des neuro-physiologischen Regelkreises an und wirken ständig mehr oder weniger unbewusst im menschlichen Organismus. Damit durchdringen die Prinzipien sich gegenseitig. Als methodisches Mittel werden sie zunächst einzeln fokussiert, um ihre Auswirkungen fühlbar und bewusst zu machen. Nach der Erfahrung eines einzelnen Prinzips wird dieses mit anderen Prinzipien kombiniert. Die Auswahl der Prinzipien ist situationsbedingt. Die Erfahrungen führen schrittweise zu einem ganzheitlichen Körperbewusstsein. Das Wesentliche im Eutonie-Unterricht ist, die Wirkung der Prinzipien leiblich wahrzunehmen und diese Erfahrung in das Bewusstsein zu integrieren. Durch Bewusstheit oder Präsenz, wie Gerda Alexander es nannte, wird die Wirkung der Prinzipien auf das Nervensystem verstärkt und der körperliche Lernprozess gefördert. Positive Erfahrungen helfen, die Mittel der Eutonie in den Alltag zu integrieren und zu nutzen. Im Folgenden werden wesentliche Prinzipien der Eutonie beschrieben.
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Berührung Berührung mit der Kleidung, mit dem Boden, der Luft erleben wir täglich, ohne uns dessen bewusst zu werden. Erst wenn wir sie als unangenehm empfinden, als zu kalt oder zu heiß, als stechend, drückend, schmerzhaft, störend, werden wir aufmerksam. Oder wir empfinden sie als zärtlich, weich, umhüllend, sodass sie zu einem lustvollen Erlebnis wird. Die bewusste Berührung im Eutonie-Unterricht wird vermittelt durch verschiedene Materialien unterschiedlicher Qualität. Der Berührung mit dem Boden und der Kleidung wird in Ruhe und Bewegung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei wird zugleich an das motorische System appelliert: Die Aufgabe, dass der Körper nach und nach mit allen Teilen seiner Oberfläche den Boden berühren soll, ist eine indirekte Aufforderung, sich zu bewegen. Um die Bewegungsqualität zu variieren, wird vorgeschlagen, sich so zu bewegen, dass die Berührung an der Oberfläche des Körpers eher sanft und weich gefühlt wird, oder dass sie durch mehr Druck und Krafteinsatz gegen den Boden ausgeführt wird, damit das tieferliegende Muskelgewebe und die Knochen zu spüren sind. Es kommt zu ungewohnten Bewegungen und zu ungewohnten sensorischen Wahrnehmungen. Mit weichen und harten Bällen, mit dicken und dünnen Bambusstäben, mit Stoffkissen und Stoffschläuchen, die verschiedene Oberflächen und Inhalte haben, wie z. B. Kastanien, Spreu, Wolle oder Sand, werden die Haut und die darunter liegenden Schichten stimuliert. Die unterschiedlichen Qualitäten sprechen die Sensorik immer neu an. Die subjektive Erfahrung einer Berührung hängt ab von dem aktuellen Spannungszustand desjenigen, der berührt wird. Bei sehr hoher Spannung wird eher Beruhigung und Entspannung erlebt, bei einem sehr tiefen Tonus eher Belebung und Leichtigkeit. Es werden unterschiedliche psychische Empfindungen ausgelöst, die durch Assoziation entstehen, oder sich aus dem Unbewussten melden. Die eigene Reaktion auf den bewusst erlebten Druck gibt Aufschluss über das alltägliche Erleben: Wie reagiere ich auf Druck? Kann ich ihn einwirken lassen, um dann entsprechend zu reagieren oder spanne ich schon dagegen, ohne den Druck real gefühlt zu haben (s. das erste Beispiel S. 47). Nehme ich ein schmerzendes Material rechtzeitig weg oder halte ich mit zusammengebissenen Zähnen aus? Welches Material wirkt wohltuend auf mich? Berührung wird immer ganzheitlich erlebt, ihre Wahrnehmung ist individuell, subjektiv und damit wertfrei. Zusammenfassung: Berührung entwickelt die Oberflächen- und Tiefensensibilität, sie wirkt regulierend auf den Tonus und regt das vegetative Nervensystem an. Berührung macht die äußere, sicht- und fühlbare Körpergrenze bewusst und stärkt das Gefühl für die eigene Identität.
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Innenraum Meldungen aus dem Körperinnenraum gelangen dann in unser Bewusstsein, wenn Störungen vorliegen: Schmerzen, Atemnot, Blähungen oder das Gefühl von Enge, das ausgelöst wird durch Angst. In der Arbeit mit dem Innenraum wird die Dreidimensionalität der Körperräume bewusst gemacht. Sie geht von den Körpererfahrungen aus, die durch das Prinzip Berührung vermittelt wurden. Auch wenn uns das direkte Sensorium für die Räumlichkeit des eigenen Körpers fehlt, entwickelt sich der Sinn dafür. Ein Umherschweifen der Aufmerksamkeit in den Körperräumen ohne Erwartung und Anspruch weckt die Empfindungsfähigkeit für den Leib-Raum. Konkrete Fragen präzisieren das Gefühl für die Dimensionen: Wie weit wird der Abstand von Ohr zu Ohr oder von Sitzbeinhöcker zu Sitzbeinhöcker empfunden, wie weit erscheinen die Abstände zwischen den Handflächen, die einmal auf der Bauchdecke und dem Kreuzbein liegen, dann auf dem rechten und linken Darmbein? Die Aufforderung, den Raum des Beckens in seiner Beziehung zum Boden zu verändern, vertieft den Sinn für die Dreidimensionalität des Beckens. Die Innenraum-Arbeit macht den Körper als Gefäß erlebbar. Zu prüfen, wie weit es gelingt, einzelne Strukturen wie Knochen und Gelenke im Körper einzuordnen und damit dem Gefäß seinen Inhalt zu geben, nannte Gerda Alexander sehr konkret «Inventur machen» und bezeichnete den Unterricht humorvoll als «Heimatkunde». Die Tastarbeit am eigenen Körper wird ergänzt durch Kenntnisse der Strukturen des Innenraums. Sie werden vermittelt durch bildliche Darstellungen der Anatomie des Menschen oder durch ein Skelett, an dem die Knochen mit ihren Gelenken und Anordnungen zueinander angeschaut und getastet, ihre Funktion erklärt und zum Unterrichtsthema in Beziehung gebracht werden. Um eine Brücke zwischen dem Angeschauten und dem Eigenen zu bauen, können diese Strukturen gezeichnet oder in Ton geformt werden. Die Eigenbewegung der inneren Organe wie Atmung, Herzschlag und Peristaltik zu erspüren oder die eigene Stimme inwendig als Schwingung wahrzunehmen, führen weiter zu einem ganzheitlichen Raumgefühl. Der Körperteil, der durch Innenraum-Übungen bewusst gemacht wurde, wird im Vergleich zu anderen Körperteilen meistens mit «leicht, hell, strukturiert, klar» benannt, bei einer sehr hohen Tonuslage zu Beginn der Arbeit auch als «schwer, entspannt, voluminös». Psychische Befindlichkeit kann sich als Körperempfindung äußern: Der Innenraum wird erlebt als weit und offen oder als eng und beklemmend. Dieses Empfinden kann vom Schüler als seine Wahrnehmung mitgeteilt werden. Wenn sich ein Gefühl von Leere oder Haltlosigkeit einstellt, wird der Lehrer andere Prinzipien wie z. B. Berührung oder die Arbeit mit Knochen und Gelenken einbringen (s. Prinzip Transport) und dadurch klare Strukturen anbieten, die für Halt sorgen.
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Zusammenfassung: Innenraum-Übungen wirken befreiend auf die Organe, fördern die Durchblutung und die natürliche Atmung. Sie regulieren den Tonus und bewirken meistens eine Tonuserhöhung und das Gefühl von Leichtigkeit der Bewegungen. Das Ziel ist, den eigenen Innenraum einzunehmen und damit auch den Emotionen mit vorher abgewehrten Inhalten wieder ihren Raum zu geben.
Kontakt Kontakt ist die ursprüngliche Beziehung zwischen Mutter und Kind, zwischen Liebenden, zwischen dem Künstler, seinem Medium und seinem Publikum. Dieser eher unbewusste Kontakt, der von Lustgefühl getragen wird, kann dazu führen, sich selbst nach außen zu verlieren, im Anderen oder im Tun. Die Unterscheidung zwischen Nähe und Distanz geht verloren, und das Gefühl für sich selbst kann verschwinden. Kontakt als Prinzip der Eutonie meint das bewusste Spüren über die eigene, konkret gefühlte Körpergrenze (Berührung, Innenraum) hinaus, ohne das Gefühl für die eigene Leiblichkeit zu verlieren. Kontakt erweitert unser Körperschema um seinen haptischen Raum. Während für die Prinzipien Berührung und Innenraum die Materialien eine Hilfe sind, den eigenen Körper besser zu spüren und unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst zu richten, wenden wir uns im Kontakt ihnen zu: Was ich berühre, berührt auch mich. Unser haptischer Sinn umgreift und begreift das Objekt in seiner Form und Qualität. Wenn wir uns dem Objekt mit Neugierde zuwenden, mit Interesse für seine Beschaffenheit und sein Wesen, wenn wir ihm Empathie entgegen bringen, wird es uns zum Gegenüber. Es entsteht ein Dialog zwischen dem Übenden und dem Übungsmaterial, zwischen Subjekt und Objekt. Der Kontakt zur Dreidimensionalität des Bodens auf dem wir liegen, sitzen oder stehen, wird bewusst hergestellt, er bewirkt eine Regulierung des Vegetativum (Beispiel 2). Kontakt von einem Körperteil zu einem Objekt wird partiell wahrgenommen. Die Schulter, die auf einem Ball ruhend mit diesem in Kontakt ist, erfährt eine Tonusumstellung, die als «erweiternd, lösend» beschrieben wird. Die Regulierung wirkt sich aber ganzheitlich aus (Beispiel 1). Ebenso wird geübt, den Kontakt bewusst wieder aufzulösen, das Objekt wieder zu entlassen, die eigene Grenze klar zu empfinden und zwischen Ich und NichtIch zu unterscheiden. Kontakt ist keine Symbiose, sondern klärt Nähe und Distanz und das eigene Bedürfnis nach Nähe oder Distanz. Mit fortschreitender Erfahrung werden die Schüler angeleitet, durch Material hindurch zu anderen Teilnehmern Kontakt aufzunehmen und im Führen und Geführt-Werden Beziehung zu erleben. Sie werden aufgefordert, sich zu bewegen im Kontakt mit den Dimensionen des Raumes, den eigenen Körperraum im
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umgebenden Raum zu erleben und durch räumliche Distanzen hindurch Kontakt aufzunehmen zu anderen Teilnehmern. Durch diese Arbeit wächst die lebendige Beziehung zu Dingen und Menschen. Sie ist besonders hilfreich für alle, die im Alltag exponiert mit Menschen in Beziehung stehen wie z. B. Lehrer, Künstler, Pfleger oder Therapeuten. Das bewusste grenzüberschreitende Spüren (Transsensus) zur Umwelt basiert auf der Bereitschaft und der Absicht zur Beziehung. Diese Kontaktaufnahme (s. Prinzip Intention) ist eine innere Bewegung auf etwas hin und bewirkt eine Innervation des Tonus. Der Tonus stellt sich antizipatorisch auf die beabsichtigte Bewegung oder Begegnung ein. Diese Tonusadaption ermöglicht die ökonomische Bewegung. Zusammenfassung: Kontakt hat eine regulierende Wirkung auf das Vegetativum und ermöglicht eine situationsgerechte Tonuseinstellung. Kontakt erweitert den Lebensraum und macht fähig zu sozialer Beziehung.
Zeichnen Zeichnen im Eutonie-Unterricht bedeutet, eine Bewegung von einem bestimmten Körperteil einzuleiten und fortzuführen. Diese Art sich zu bewegen erscheint zuerst ungewohnt und fordert zum Entdecken neuer Möglichkeiten heraus. Jeder klar zu ertastende Körperteil kann zum Ansatz einer Bewegung werden: ein Ohr, ein Akromion, ein Ellenbogen, ein Sitzbeinhöcker oder ein Fersenbein. Durch Abtasten, auch mit Hilfe von Material, wird dieser Teil deutlich gemacht und auch in seiner Position zur Gesamtheit des Körpers erforscht. Von diesem Teil setzt eine kleine Bewegung als dreidimensionale Kurve im Raum an, wie ein Stift, der eine Linie in zweidimensionaler Form auf das Papier zeichnet. Die Bewegung wirkt zum nächstliegenden proximalen Gelenk. Von der Beweglichkeit dieses Gelenks ist das Ausmaß der gezeichneten Linie abhängig. Wenn diese Bahn weiträumiger werden soll, überträgt sich die Bewegung über das Gelenk zum nächsten Knochen und wirkt sich, entsprechend der Zeichnung im Raum, immer weiter durch die Knochenstrukturen aus. Die Ausbreitung der Bewegung nach innen folgt konsequent der Skelettstruktur, bis der ganze Körper sich der Leitung des zeichnenden, führenden Körperteils anschließt (Beispiel 2). Das Zusammenspiel der Körperteile und die Funktion des Skeletts klärt sich, der Bezug zum Boden und zur Schwerkraft wird anders als gewohnt erlebt, und das Balance-Gefühl wird geübt. Oft bringt ein Schüler sich selbst durch unübliche Bewegungspassagen und Positionen in Situationen, die ihn sehr direkt herausfordern, neue Bewegungsmöglichkeiten zu entwickeln. Der Bewegungsansatz von der Peripherie oder vom distalen Teil eines Knochens intendiert die Richtung vom Körperzentrum nach außen. Die Muskulatur
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in Agonist und Antagonist reagiert antizipatorisch mit Dehnung. Es stellt sich eine optimale Tonusregulierung der Synergisten ein. Beim Zeichnen mit Verlängerung wird ein Aspekt des Prinzips Kontakt, der Transsensus, mit einbezogen: Im Prinzip Kontakt wird das Bewusstsein auf ein Objekt gerichtet. Seine Form • bestimmt den haptischen Raum. Der Kontakt ist objektbezogen. Im Prinzip Verlängerung folgt das Bewusstsein der Form der eigenen Struktur, • die den haptischen Raum vorgibt. Die Verlängerung ist subjektbezogen. Vom fokussierten, zeichnenden Körperteil aus wird das Bewusstsein über die Körpergrenze nach außen gelenkt und folgt der Richtung, in die der Körperteil zeigt: In welche Richtung zeigt und bewegt sich die äußere Spitze des Ellenbogens, wohin im Raum horcht das Ohr, wohin weist der Finger? Geübt wird zuerst mit Hilfe von kürzeren oder längeren Stäben. Zu diesen Stäben wird Kontakt hergestellt, sodass der Stab in seiner Länge und Ausrichtung an das eigene Körpergefühl angeschlossen ist. Wenn der Stab integriert ist, beginnt das Zeichnen mit dem körperabgewandten, nach außen zeigenden Teil des Stabs. Der Übende zeichnet seine Bahnen von dort in den ihn umgebenden Raum. Begrenzt werden die Bahnen des Zeichnens durch die reale Länge des Stabes und die Anpassungsfähigkeit des angeschlossenen Körpers. Wenn das Raumbewusstsein sich entwickelt hat, wird ohne Material gearbeitet. Die Bahnen im Raum werden begrenzt durch die eigene Kapazität, Raumkontakt herzustellen. Das Maß ist die Fähigkeit, im Kontakt mit sich selbst zu bleiben, sich nicht nach außen zu verlieren. Auch der Übungsraum mit Wänden, Boden und Decke setzt eine Klarheit für Richtung und Ausmaß. Der gerichtete Kontakt nach außen im Zeichnen mit Verlängerung erfordert eine hohe Präsenz. Das während eines Bewegungsablaufs selbst erzeugte Problem durch eigene Kreativität zu lösen, stärkt das Vertrauen zum eigenen Körper, zur eigenen Person. Die Übungen entwickeln den Orientierungssinn und die KörperRaumbeziehung. Das Zeichnen mit Verlängerung bewirkt durch die Ausrichtung in den Außenraum eine Dehnungstendenz. Dadurch stellt sich der Tonus antizipatorisch auf die folgende Bewegung ein. Zusammenfassung: Zeichnen entwickelt den Sinn für eine situationsgerechte Tonusadaption und erschließt neue Bewegungsmöglichkeiten. Zeichnen fördert die Konzentrationsfähigkeit, den Mut zum Experimentieren, die Freude, Alternativen zu entdecken, und führt zur Kreativität.
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Transport Das Eigengewicht folgt der Schwerkraft und wirkt als Druck auf den Boden, auf dem wir stehen, liegen oder sitzen. Ein fester Boden setzt diesem Druck einen Widerstand entgegen, der dem Gesetz der Kraftübertragung entsprechend zurückwirkt auf den Körper. Im Stehen überträgt sich diese Kraft von den Fußknochen, im Sitzen von den Sitzbeinhöckern ausgehend durch die gesamte Skelettstruktur bis zum Scheitelpunkt. Diese Kraftübertragung durch das Skelett bezeichnete Gerda Alexander als Transport, den Weg durch die Knochen und Gelenke als Transportweg. Er bewirkt die Aufrichtung des Körpers entgegen der Schwerkraft und löst die Innervation und Tonisierung der reflektorischen Muskulatur aus, die an der Aufrichtung beteiligt ist. Die Übungen helfen, die Kraft des Widerstandes bewusst zu machen und zu nutzen für die Aufrichtung, Bewegung und Arbeit. In verschiedenen Lagen am Boden, im Sitzen und im Stehen wird von verschiedenen Körperteilen aus dem Boden, der Wand oder einem anderen stabilen Gegenstand ein aktiver Druck entgegengebracht. Wenn das Objekt sich nicht bewegen lässt, wird der Körper bewegt. Vom Widerstand ausgehend wirkt der eingesetzte Druck auf den Körper zurück: Druck erzeugt Gegendruck. Bei optimaler Einstellung der Gelenke und der Muskulatur wird die Wirkung der Kraft erfahren, die sich durch den Transportweg hindurch überträgt. Deutlich wird diese Rückwirkung der eingesetzten Kraft, wenn der Winkel des gegebenen Drucks zum Objekt sich verändert und in verschiedene Richtungen eingesetzt wird. Diese Erfahrung macht fühlbar verständlich, wie Kraft ökonomisch eingesetzt wird. Bei den Übungen wird Bezug genommen zu anderen Prinzipien: Die Berührung mit dem Objekt, das der eingesetzten Kraft den Widerstand ent• gegenbringt, wird sensorisch wahrgenommen. Durch Kontakt zum Objekt gelenkt. • Die VerlängerungwirdausdasderBewusstsein eigenen Knochenstruktur heraus gibt dem Druck und • seiner Auswirkung die Richtung. Zuerst wird viel im Liegen gearbeitet. Dadurch werden unnötige Muskelkontraktionen ausgeschaltet, die wir zu unserer «Haltung» einsetzen und damit die organischen Gesetze stören. Bei zunehmender Erfahrung wird der bewusste Transport auch im Sitzen, Stehen und in der Bewegung geübt. Beim Üben mit instabilen Gegenständen entwickelt sich eine schnelle Reaktionsfähigkeit. Als Partnerarbeit erfordern die Übungen eine große Tonusadaption. Dabei kann z. B. ein Partner seine Körperachse im Stehen aus dem Lot bewegen und der andere Partner dieser Bewegung einen Widerstand entgegensetzen. Ein Gleichgewicht der Kräfte ergibt sich, wenn dieser Widerstand der Wirkung der Schwerkraft entspricht, die sich aus der Körperachse in Beziehung zur Senkrechten
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ergibt. Wenn der für den Transport entsprechende Grundtonus aufrecht erhalten wird, bleibt die Skelettachse stabil und die motorische Muskulatur frei für Bewegung. Dabei hilft die Verlängerung der Achse über die Füße zum Boden und über den Scheitelpunkt in den Raum. Für dieses Gleichgewicht der Kräfte zwischen beiden Partnern ist das Prinzip Kontakt eine Voraussetzung: Wie wirkt der Widerstand meines Partners in meinen Transportweg hinein bis zum Boden, auf dem ich stehe? Wie nehme ich den Widerstand des Bodens als Kraft wahr, die zurückwirkt auf meinen Partner und durch seinen Transportweg hindurch bis zum Boden auf dem er steht? Beide Menschen stehen durch ihr gemeinsames Tun in einem Spannungsbogen, in den Tonus und Kraft, Bewegungsausmaß und Rhythmus einfließen. In der Kontaktarbeit zwischen Partnern wird gleichzeitig an der Beziehungsfähigkeit von Mensch zu Mensch geübt. Körperlich wird erfahren, dass die nach außen eingesetzte Kraft zurückwirkt. Aus geordneten physischen Kräften, die vom Boden her als Widerstand von Partner zu Partner weiterwirken und als Druck und Zug erprobt werden, wächst ein Zusammenspiel von Stützen und Gestützt-Werden. Die Beziehung zwischen den Partnern drückt sich in ihrer gemeinsamen Bewegung aus. Sie wird zur eutonen Bewegung, wenn zwischen beiden der innere Kontakt besteht, der auch die psychische Komponente der Tonusregulierung wirksam werden lässt. Einige Aussagen der Schüler beschreiben ihre Erfahrungen: «Klarheit, Leichtigkeit des Stehens, Stabilität, Selbstvertrauen, selbst-ständig werden, eigenständig und eigenverantwortlich sein, durch Widerstand wieder stehen, Position beziehen können, Widerstand leisten können, sich aufrichten heißt aufrichtig sein». Zusammenfassung: Die Transport-Übungen wirken tonuserhöhend und tonusregulierend. Sie lösen unnötige Muskeltätigkeit und Verspannung auf, führen zur reflektorischen Aufrichtung und zu einem ökonomischen Krafteinsatz. Transport führt zur Erfahrung, getragen zu werden, zur Selbständigkeit und zur Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Intention Alle Prinzipien stehen miteinander in Wechselbeziehung und wirken ständig auf den menschlichen Organismus ein. So, wie andere Prinzipien aus dem organischen Ganzen herausgenommen und fokussiert werden, um sie in Übungen bewusst zu machen, wird auch die Intention als Körperphänomen zum Prinzip der Eutonie. Der Intention kommt eine besondere Rolle zu. Intention ist die innere Bereitschaft und Absicht zur Bewegung, zur Ausrichtung auf etwas hin, für die Öffnung in die Welt. Damit ist sie eine Vorbedingung für die Übereinstimmung zwischen
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dem Menschen, seinem Wollen und seinem Tun und für einen Übungsweg wie den der Eutonie. Intention führt zur psychotonen Einstellung auf das hin, was zu tun ist. Sie wirkt antizipatorisch auf die Körperfunktionen und bereitet damit den Organismus optimal auf seine Aufgabe vor. Im Unterricht werden einfache Bewegungen intendiert, indem sie spürend vorbereitet und in der Vorstellung vollzogen werden. Durch Fragen wird die Aufmerksamkeit geleitet: Aus welcher Lage – in welche Richtung – wie hoch – in welchem Tempo – soll die Hand gehoben werden? Kann der Körper die Bewegung vor-empfinden? Durch Übung wird das sensorische Gedächtnis entwickelt und die intendierten Bewegungen werden dem realen sensorischen und motorischen Prozess präziser entsprechen. Bewusst wird die Intention wieder aufgelöst und damit die antizipatorische Erregung der Muskulatur. Das spürende Vorausdenken oder denkende Vorausspüren einer Tätigkeit wirkt nicht nur auf den Tonus anregend, sondern das ganze Vegetativum mit Durchblutung, Atmung, Stoffwechsel wird aktiviert und stellt sich ein auf die Absicht. Wird diese Energie nicht umgesetzt in Bewegung, kann sie belebend und regenerierend wirken. Eine so intendierte Bewegung wird im weiteren Verlauf der Übungen anschließend real ausgeführt, um das vorgestellte mit dem realen Bewegungserlebnis zu vergleichen. Um die Einwirkung der durch die Intention ausgelösten Antizipation zu erleben, wird die Bewegung des so vorbereiteten Körperteils, z. B. eines Armes, mit der Bewegung des nicht vorbereiteten Armes verglichen. Die unterschiedliche Qualität der Bewegungen kann deutlich erfahren werden. Je mehr die vorbereitete Bewegung als körperlicher Prozess sensorisch empfunden werden kann, anstatt nur bildhafte Vorstellung zu bleiben, umso deutlicher wird der Einfluss der Intention spürbar durch die Qualität der Bewegung, die oft als leicht benannt wird. Intention bewirkt Qualität, die Qualität einer Bewegung, einer Begegnung, eines künstlerischen Ausdrucks. Qualität ist nicht zu messen, wir erkennen sie an ihrer Wirkung, hier zum Beispiel an der Wirkung auf den Tonus. Zusammenfassung: Intention wirkt antizipatorisch auf die Muskulatur und stellt damit den Grundtonus optimal auf Bewegung und Arbeit ein. Sie erleichtert die Adaption an die gegenwärtige Lebenssituation. Die Fähigkeit zur Intention macht es möglich, Ja zu sich selbst und zum Leben zu sagen, und gibt dem Lebensgefühl seine Qualität.
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Die Gestaltung der Lernprozesse in der Eutonie Eine der wichtigsten Aufgaben der Eutonie-Pädagogik besteht darin, den Schüler zu befähigen, unvoreingenommen die Reaktionen zu beobachten, die sich in seinem Organismus abspielen. Er muss z. B. bei der Berührung vor allem unterscheiden lernen zwischen realen und nur vorgestellten Empfindungen, die mit dem tatsächlichen Zustand des Organismus nicht übereinstimmen. Eine solche irreale Vorstellung führt zu Unordnung der Empfindung und zu Unwahrhaftigkeit. (Gerda Alexander, 1999, S. 46) Die Eutonie-Pädagogik geht davon aus, dass der lebendige Körper die Grundlage aller Wahrnehmungen ist und dass Wahrnehmungsfähigkeit die Entwicklung des ganzen Menschen in seiner körperlich-geistigen Einheit fördert. In den Übungen werden die eigenen Empfindungen, der eigene Rhythmus und das Ausmaß von Bewegung, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen entdeckt. Die Wahrnehmungen für die Meldungen des kinästhetischen Systems entwickeln sich und führen zu einem differenzierten Körperbild, das der eigenen Realität immer mehr entspricht. Da diese Realität des Körpers immer anwesend ist, geht es um nicht mehr und nicht weniger, als durch achtsames Wahrnehmen seine An-Wesenheit wirken zu lassen. Wir nehmen die Spur des Körpers auf. Was die Spur ist, kann nur gespürt werden. Gesucht wird eine Praxis, besser eine Poiesis, eine Poesie, die es mit den Abstraktionen der Theorie aufnimmt und sie als Momente einer dramatischen Geschichte darstellt: der Geschichte des verlorenen Paradieses und des verfehlten Heils. Wahrnehmung, d. i. Achtung im doppelten Sinne von Achtung: «Gefahr im Verzug» und Achtung: «Verehrung, Verbeugung, Verneigung». (Kamper, 1999, S. 174, 177 f) Der pädagogische Ansatz der Eutonie fördert, das Zugedeckte zu ent-decken, das Verwickelte zu ent-wickeln, das Wahre wahr-zu-nehmen und das Erkannte zu bekennen: non-direktive Unterricht findet in einem Rahmen statt, der dem Schüler • Der gleichzeitig Schutz und Freiheit für seine Selbsterfahrung gibt. Übungen werden verbal vorgeschlagen, ohne sie vorzumachen. • Die Fragen • Schüler. nach Körperempfindungen unterstützen die Aufmerksamkeit der werden ohne Suggestion oder Vorausnahme eines Ergebnisses ver• Hinweise mittelt.
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wird Zeit gegeben zum eigenen Experimentieren. • EsStimulierung Musik und Rhythmus von außen unterbleibt. • Die Schüler unddurch ihre der Übung werden nicht bewertet. • Durch den Umgang mitAusführung der Realität des greifbaren und fühlbaren Körpers, mit • dem Boden und Material, mit den alltäglichen Situationen wie Gehen, Sitzen und Liegen in Ruhe und Bewegung wird der Bezug zum Alltag hergestellt. Die Neutralität des Lehrers und sein Respekt vor den Schülern ist Voraussetzung für diese pädagogische Haltung. Wenn ein Lehrer, dessen emotionales Spannungsgleichgewicht nicht erreicht wurde, die Abhängigkeit seiner Schüler zur Steigerung seines Selbstgefühls missbraucht und seine persönliche Unsicherheit mit der Rolle des Meisters kompensiert, wird damit dem wesentlichen Ziel der Eutonie, in jedem Schüler den eigenen Meister zu wecken, entgegengearbeitet. (Gerda Alexander, 1999, S. 43) Für Gerda Alexander war es darüber hinaus wichtig, dass Eutonie-Lehrer/innen durch eine bewusste Tonusadaption die Spannungen und Einschränkungen ihrer Schüler/innen körperlich wahrnehmen und daraus ihre Übungsvorschläge entwickeln. Durch immer neue Aufgabenstellungen und variierende Formulierungen wird der Zugang zum somatopsychischen Lernen erleichtert. Mit der Lösung körperlicher Fixierungen lösen sich auch seelische und geistige Fixierungen. Darum wird im Unterricht auch auf psychische Inhalte eingegangen, wenn sich assoziative Bilder, Vorstellungen oder Ängste einstellen. Der Unterricht verläuft also prozessorientiert und gilt dem konkret Fühlbaren, welches das Gefühl mit einschließt und dem konkret Greifbaren, welches das Begreifen einschließt. Er lebt aus dem Dialog zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Lehren und Lernen. Er wird z. B. beeinflusst von der Art, wie die Teilnehmer/innen mit Angeboten und Vorschlägen umgehen und auf Fragen antworten, ob sie Widerstände, starke Emotionen oder kreative Impulse äußern. Das bedeutet jedoch nicht, dass der EutonieUnterricht von Beliebigkeit geprägt wäre. Er wird getragen von der Methode, deren praktische Übungen auf den Eutonie-Prinzipien basieren. Die Entwicklung auf dem Weg der Eutonie hängt von der Motivation des Einzelnen ab. Sie wird gefördert durch die non-direktive, nicht wertende und fragende Grundhaltung des Lehrers. Jeder Teilnehmer eines Kurses oder des individuellen Einzelunterrichtes bestimmt selbst, wie weit, wie tief er sich einlässt. Der Eutonie-Lehrer steht damit immer auch vor einer paradoxen Situation: Er möchte motivieren und gleichzeitig seinen Schülern den Raum freigeben für die eigene Entscheidung zum nächsten Schritt. Mit Sicherheit gibt er die beste Unterstützung durch Vertrauen. Das Vertrauen, das er der Persönlichkeit seines Schülers entgegenbringt, bestärkt diesen, sich selbst zu vertrauen. Die einzelnen Schritte
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sind immer auf das Konkrete, Fassbare hin orientiert und geben damit den Bezug zur Realität des Alltags. Dadurch wird der Schüler allmählich unabhängig vom Lehrer, die Eutonie wird für ihn zu einer Selbsthilfe. Er entwickelt sich zu einem mündigen Menschen. Nicht mehr der Lehrer stellt die Fragen, sondern der Schüler selbst stellt Fragen, sich selbst und der Welt. Dann kann auch mitten in der Hektik des Alltags von innen her die Antwort auf die Frage kommen, die ihm eine Situation stellt.
Der Gruppenunterricht Der Unterricht ist für jeden Menschen geeignet, der etwas für seine Gesundheit tun möchte, der sich selbst besser kennen lernen und weiter entwickeln möchte, oder seine Beziehung zu Mitmenschen und zur Arbeit positiver gestalten möchte. Besondere Voraussetzungen sind nicht nötig. Der Gruppenunterricht findet in einem geschützten Raum statt, in dem unter Anleitung einer/eines Eutonie-Pädagogin/Pädagogen geübt wird. Die gemeinsame Arbeit, die miteinander erlebten Erfahrungen und der verbale Austausch unter kompetenter Leitung fördern die Lernbereitschaft. Am Anfang wird viel im Liegen gearbeitet. So kann die große Auflagefläche des Körpers am Boden erlauben, gewohnte «Haltungen» gegen die Schwerkraft aufzugeben. Die Stimulierung der Haut und der tieferliegenden Körperstrukturen durch den Boden oder Material kann ungestört wahrgenommen werden. Im Rollen, Dehnen, Strecken und Stützen am Boden entwickeln sich neue Möglichkeiten für eine Aufrichtung und für eine ökonomische, eutone Bewegung. Viele Empfindungen und damit verbundene Fragen stellen sich ein, die im Alltag vom geschäftigen und automatischen Handeln übertönt werden: Was bedeutet der Boden für mich, ist er hart, unbequem und störend, wenn ich darauf liege, erlebe ich ihn als stützend und tragend oder versinke ich in ihm? Wie begegne ich dem angebotenen Übungsmaterial, den verschiedenen Qualitäten eines festen oder weichen Balls, eines Holzstabs oder eines mit Kastanien gefüllten Kissens? Gehe ich darauf zu oder halte ich mich zurück, bin ich zögernd oder zupackend, neige ich zu einem hastigen Erfassen oder kann ich das, was mir begegnet, geduldig abtasten und erforschen? So wird langsam geübt, den eigenen Empfindungen und Erfahrungen zu vertrauen. Im verbalen Austausch innerhalb der Gruppe wird erlebt, dass die subjektive Empfindung eine eigene wertvolle Qualität hat, die nicht mit der Empfindung anderer übereinstimmen muss. Die praktischen Erfahrungen mit dem Material und die Einsicht in die eigene Art, ihm zu begegnen, kann sich in der Beziehung zu den Teilnehmer/innen der Gruppe wiederholen: Wie begegne ich den Anderen und ihrem Anders-Sein, welche Empfindungen rufen ihre Mitteilungen in mir
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hervor? Lasse ich mich davon berühren oder erlebe ich sie als störend, wünsche ich mehr Übereinstimmung oder erstaunt mich die Vielfalt der möglichen Wahrnehmungen? Wenn es gelingt, sich selbst in diesen Prozessen bewusst körperlich zu fühlen, ist der erste wichtige Schritt getan: sich selbst spürend zu begegnen und zu erkennen.
Der Einzelunterricht Diese Form des Unterrichts wurde vor allem für Menschen entwickelt, die aus körperlichen, seelischen oder geistigen Gründen nicht zur Teilnahme am Gruppenunterricht fähig sind. Aber auch für Teilnehmer am Gruppenunterricht können Einzelstunden sehr fördernd sein, da hier auf ihre individuelle Situation besonders eingegangen werden kann. Die verbale Anweisung im Gruppenunterricht wird in Einzelstunden durch die kommunizierenden Hände des Lehrers begleitet oder ersetzt. Seine Hände stimulieren durch Berührung die Oberflächen- und Tiefensensibilität und begleiten unterstützend die Bewegungen des Schülers. Wenn der Lehrer z. B. einzelne Körperteile eines passiven Schülers bewegt, können Schüler und Lehrer gemeinsam die Möglichkeiten und Einschränkungen der Bewegungen erforschen. Wie im Gruppenunterricht werden die Prinzipien der Eutonie angewandt und mit ihrer Hilfe der Tonus reguliert. Die Präsenz des Schülers ist dabei ebenso wichtig wie im Gruppenunterricht, um den somatopsychischen Lernprozess zu fördern. Seine wache Mitarbeit kann unterstützt werden durch einen verbalen Austausch: Der Lehrer fragt, wie die Berührung seiner Hände wahrgenommen wird, oder erläutert seine Vorgehensweise, und der Schüler kann Rückmeldung geben über seine Wahrnehmung. Der Einzelunterricht «erfordert vom Lehrer bei aller Zuwendung eine ausgeglichene, neutrale Haltung und den Respekt vor der Persönlichkeit des Schülers … Ein Lehrer, der die Bewunderung und Abhängigkeit der Schüler zu seiner eigenen Bestätigung braucht, ist dafür nicht geeignet.» (Gerda Alexander, 1999, S. 62) Mit Neutralität bezeichnet Gerda Alexander die offene, aufmerksame Anwesenheit des Lehrers, der abwartet, was ihm vom Schüler entgegenkommt. Indem der Lehrer sich selbst rezeptiv dem Schüler gegenüber einstellt, wird er durch bewusste Tonusadaption offen sein für das, was der Schüler signalisiert. Er reagiert entsprechend und realisiert spürend in seinem eigenen Körper die Prinzipien der Eutonie, die er als Mittel für den Schüler einsetzt:
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«Ich berühre dich und nehme dich wahr.» • Berührung: • Innenraum: «Ich bin offen für das, was von dir zu mir kommt.» Durch diese Art der offenen Beziehung wird dem Schüler die Freiheit gegeben, sich auf die Berührung/Begegnung einzulassen, sich seinerseits dem Lehrer zuzuwenden oder sich zurückzuziehen nach innen. Auch wenn diese Reaktion für den Schüler unbewusst geschieht, wird sie deutlich für den Lehrer durch den Tonus des Schülers. Er wird sich bewusst auf die Situation einstellen (Tonusadaption) und entsprechend antworten. Einen hochgespannten oder ängstlichen Schüler wird er nicht noch mehr bedrängen durch eine Kontaktaufnahme in dessen Innenraum, sondern sich aufnahmebereit für ihn öffnen. Durch einen bewussten Kontakt zum Boden kann der Lehrer aufgenommene Spannungen wieder lösen. Kontakt vom Lehrer zum Schüler wird angewandt, wenn der Schüler signalisiert, dass er Zuwendung wünscht oder braucht. Bewusster Kontakt zu den inneren Strukturen hilft, gezielt Muskelgewebe, Knochen oder Organe anzusprechen. Dabei wird sich der Tonus zwischen Lehrer und Schüler übertragen. Voraussetzung für den Umgang mit dem Phänomen der Tonusübertragung ist die Präsenz des Lehrers für seine eigene Spannung. Diese Tonusübertragung liegt in der Verantwortung des Lehrers.
Eutonie und Kreativität Die vorgegebene Bewegungsform Gerda Alexander hat eine Serie von Körperpositionen entwickelt, die eine selbständige Untersuchung der eigenen Bewegungsmöglichkeit erlaubt. Mit ihrer Hilfe kann das eigene subjektive Körperbild überprüft und korrigiert werden. In jeder dieser Positionen werden bestimmte Gelenke mit den zugehörigen Muskelketten auf ihre Beweglichkeit und Flexibilität hin erforscht. Die Dehnungen geschehen indirekt durch das Zulassen des eigenen Gewichtes, das der Schwerkraft folgt. Mangelnde Elastizität gibt Hinweise auf Verspannungen oder auf Muskelverkürzungen durch Dauerkontraktionen. Die eingeschränkte Beweglichkeit eines Gelenkes kann zur Kompensation und Überbeanspruchung anderer Gelenke und Muskeln führen oder diese ebenfalls fixieren. Die so genannten Kontroll-Positionen gehen von optimalen anatomischen Bewegungsmöglichkeiten bei völlig störungsfreien Funktionen aus. Sie zeigen nur den Weg auf zu größerer Geschmeidigkeit, sie werden nicht als ein zu erreichendes Ziel angestrebt. Der Umgang mit ihnen muss ohne Ehrgeiz behutsam angegangen werden, um Schädigungen zu vermeiden. Schmerzen sind als Schutzfunktionen ernst zu nehmen. Ehrgeiziges Weiterüben ist nicht im Sinne der Eutonie.
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Am Anfang ist die Anleitung durch einen Eutonie-Lehrer erforderlich. Die Art und Weise und der Ort der unangenehmen Spannung oder des Schmerzes zeigt auf, wo Einschränkungen sind. Dort kann mit den Prinzipien der Eutonie weiter gearbeitet werden. Berührung, Kontakt und Bewegung mit dem Prinzip Zeichnen helfen, Spannungen zu lösen und das eingeschränkte Gelenk funktional wieder zu integrieren. Bei starken Schmerzen ist oft eine bequeme Ruhelage vorzuziehen. Die Arbeit mit leichter Berührung, Kontakt zum Boden oder mit angenehmen Materialien und das Bewusstmachen des Innenraums sind angesagt. Die Schüler bekommen dadurch ein Mittel in die Hand, auch ohne Anleitung selbständig zu üben. Die Kontroll-Positionen werden durch die Teilnehmer einer Gruppe in immer anderer Reihenfolge miteinander verbunden. Dabei werden neue Sequenzen entdeckt, die für den Bewegungsablauf sinnvoll sind. Einzelne Prinzipien werden integriert: Eine Position mit dem Fokus Berührung und Innenraum hat eine andere Wirkung, als wenn sie mit dem Fokus Kontakt zum Boden, zum Raum oder zu den anderen Teilnehmern ausgeführt wird. Guter Kontakt innerhalb der Gruppe führt zum rhythmischen Gleichklang, und durch Tonusadaption werden Bewegungen erleichtert. Die Kontroll-Positionen, am Anfang nicht immer beliebt, führen zur gemeinsamen Kreativität in der Gruppe. Oft entsteht im spielerischen Experimentieren ein leichter und fröhlicher Umgang mit Möglichkeiten und Grenzen.
Die improvisierte Bewegung Improvisationen, ob im Tanz, in der Musik, in der Bewegungspädagogik oder in alltäglichen Handlungen, entstehen aus dem intuitiven Impuls, das zu tun, was dem gegebenen Augenblick entspricht. Für die Improvisationen im Eutonie-Unterricht benennt der Lehrer ein Eutonie-Prinzip und gibt damit einen Inhalt und eine ordnende Hilfe: Der Fokus wird während einer Improvisation auf ein Eutonie-Prinzip wie Berührung oder Kontakt, Zeichnen oder Transport gelegt. Der Schüler hat die Aufgabe, das gegebene Prinzip bewusst in seine Bewegungen zu integrieren. Dies schränkt zwar einerseits seine Freiheit ein, sich nur den eigenen Bewegungsimpulsen zu überlassen, eröffnet aber andererseits eine Chance. Gerade die Begrenzung kann schöpferische Impulse auslösen, um neue Freiheit innerhalb der Einschränkung zu finden. Eine wichtige Erfahrung für den Schüler ist der Einfluss der verschiedenen Prinzipien auf den Tonus und damit auf die Qualität der Bewegung. Damit entsteht eine gewisse Objektivität gegenüber der eigenen Empfindung. Diese Aufgabenstellung schützt den Schüler auch davor, von Emotionen überwältigt zu werden, denen er noch nicht mit einer körperlich-seelischen Stabilität begegnen kann.
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Improvisationen können im Unterricht mit den Schülern geübt werden, sobald sie das entsprechende Prinzip im angeleiteten Unterricht erfahren haben. Den Schülern wird eine Zeit und ein Raum freigegeben, damit sie sich mit ihrer Aufgabe so bewegen können, wie es ihrer eigenen Persönlichkeit entspricht: Rhythmus, Dynamik und Ausmaß der Bewegung sind nicht vorgegeben. Jeder Schüler entwickelt seine Bewegungssequenzen unabhängig von Ansagen des Lehrers und von den anderen Teilnehmern. Seine Bewegungen gelten einem allgemein gültigen Prinzip: der Schwerkraft und dem Getragen-werden vom Boden, dem Kontakt zum Außenraum und der eigenen psychophysischen Realität. Bewegung geschieht nicht, um sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, um die eigene Kraft oder einen emotionalen Ausdruck zu demonstrieren oder eine Leistung zu vollbringen, sondern die Bewegung geschieht um ihrer selbst willen und wird zum Erlebnis an sich. Dadurch kann der Übende sich von Ich-bezogener Darstellung lösen. Von konventionellen Klischees befreit, sucht er nach der inneren Übereinstimmung von Empfindung und Bewegung, nach seinem eigenen Maß in Zeit und Raum. Er entdeckt seine Identität und entwickelt in einem schöpferischen Prozess seinen ureigenen Ausdruck. Dieser Weg des Probierens und die entstandenen Bewegungen werden nicht beurteilt, sondern gehören in den Schutzraum, den die Eutonie-Pädagogik bietet. Nach einer Übungseinheit ergibt sich oft ein Gespräch zwischen den Schülern, in dem sie einander von ihren Erfahrungen berichten. Der verbale Austausch kann die körperliche Erfahrung auf einer anderen Ebene bewusst machen. Die Schüler haben aber auch die Freiheit, nichts zum Erlebten zu sagen, wobei dieses Schweigen ebenso gut seinen Aussagewert hat. Im Zuhören werden sie vertraut mit den Erfahrungen anderer, mit ihren Hemmnissen und Widerständen oder ihrer Freude am Experimentieren. Sie können sich selbst in anderen wiedererkennen oder mit ganz fremden und unverständlichen Reaktionen konfrontiert werden. Die Fülle der individuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten wird ohne Wertung des Lehrers angenommen. Es wächst ein Verständnis dafür, wie jede individuelle Wahrnehmung in ihrer Einmaligkeit im Laufe eines Lebens geprägt wird und damit jeder seine eigene Wirklichkeit schafft. Mit diesem Verständnis für sich selbst und andere wächst der Mut, sich selbst in Improvisationen zu äußern. In einem weiteren Schritt schauen die Schüler einander zu. Die Zuschauenden üben dabei, präsent zu sein für die Bewegungsqualität und den Tonus des Ausführenden. Die Frage an sie lautet: «Was empfindest du im Zuschauen, wie wirkt es auf dein Körpergefühl?» Mit-Gefühl kann im wahrsten Sinne des Wortes entstehen: das Mitgefühl für die Situation des Schülers, der sich mit seiner Improvi-
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sation den anderen zeigt und sich offenbart, das Mitgefühl für seinen Bewegungsfluss oder seine Bewegungshemmung. Das körperliche Mit-Fühlen hat einen deutlich wahrnehmbaren Einfluss auf den Tonus des Zuschauenden: Der Psychotonus von Spannung und Anstrengung, Gelöstheit und Freude des Ausführenden überträgt sich unmittelbar auf ihn. Die Empathie, die aus dieser Tonusadaption wächst, geht damit weit über eine bloße Toleranz hinaus. Dadurch fühlt sich auch der Ausführende von dem Mitfühlen und Miterleben der anderen getragen (Beispiel 2). Improvisationen zu zweit fordern eine Präsenz, die gleichzeitig der eigenen Bewegung im Raum als auch dem Partner gilt. Das Prinzip Kontakt kann sichtbar und fühlbar durch Stäbe, Bälle oder direkte Berührung hergestellt werden. Das Gegenüber wird zum Mitspieler. Dabei kann bewusst eine gegenseitige Tonusübertragung als Kommunikationsmittel eingesetzt werden. Schwieriger ist es oft, den eigenen Tonus dem ganz anderen Tonus des Partners entgegenzusetzen und die Spannung in der Beziehung bewusst aufrecht zu halten. Das Streben nach angeblicher Harmonie steht zu Beginn einem wahren Kontakt noch im Wege. Alle Spielarten von bewusster oder unbewusster Tonusübertragung, von Dominanz und Anpassung finden ihren Ausdruck in der improvisierten Bewegung zu zweit und helfen, die eigene psychosomatische Situation zu verstehen. Zunehmend wächst das Bewusstsein für den Außenraum, für den eigenen Platz und den Platz des anderen. Der Kontakt von Mensch zu Mensch kann dann auch ohne verbindendes Material, durch die Dimensionen des Raumes hindurch, erlebt werden. In das Spiel der Bewegung zwischen den Partnern wird der umgebende Raum mit einbezogen. Den eigenen Raum einzunehmen bedeutet auch, dem anderen seinen Raum zu lassen. Wenn dieser Raum gegeben werden kann, wird es möglich, die Zweierbeziehung zu öffnen für andere. Eine Gruppe kann sich bilden, in der sich ein gemeinsames Bewegen entwickelt. In diesem Miteinander erhalten alle die Möglichkeit, die eigene Individualität zu bewahren und doch zum Gelingen des Ganzen beizutragen. Auf diesem Entwicklungsweg entsteht das Gefühl für ein soziales Miteinander, und der Wert dieser menschlichen Beziehung wird deutlich. Gerda Alexander antwortete einmal nachdenklich auf die Frage, was für ein Wachsen miteinander nötig sei: Gebt einander Raum – ja, das ist es, gebt einander Raum. Jedes soziale Empfinden, das Mitfühlen und Mitleiden mit den anderen ist, im Gegensatz zur intellektuellen Anteilnahme am Geist und an der Gesinnung einer Gruppe, von entsprechenden Tonusveränderungen abhängig. (Gerda Alexander, 1999, S. 57) … Ein solches Miterleben der Bewegungsvorgänge der anderen bewirkt eine gesammelte Atmosphäre, die Einheit von Ausführenden und Beobachtenden – es
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ergibt sich eine Präsenz der Gruppe, die man als typisch für den Eutonie-Unterricht bezeichnen kann. (Gerda Alexander, 1999, S. 55) Eine Schülerin schreibt nach einer Improvisation im Eutonie-Unterricht: Ich bewege mich, mein Körper verändert sich im Verhältnis zum Raum. Gleichzeitig erlebe ich, wie der Außenraum sich mir gegenüber verändert. Die Dimensionen des Raumes werden lebendig, so wie mein Körper sich lebendig in ihm bewegt. Es erscheint mir wie ein Gespräch zwischen mir und dem Raum, zwischen meinem Innern und dem Außen. Es gibt kein Zerteilen mehr in Beginn, Ablauf und Ende der Bewegung. Es gibt auch kein Zeitgefühl mehr, sondern ein Gefühl immer währender Gegenwart stellt sich ein. Dieses in Bewegung-Sein ist ein neues DaSein, das ich nie vorher empfunden habe. Der begleitende Eutonie-Lehrer unterstützt durch seine Präsenz den Prozess und gibt allenfalls kleine Hilfen, indem er die Aufmerksamkeit der Schüler lenkt: «Ist das gegebene Prinzip noch gegenwärtig? Spüren die Füße den Boden? Wie fühlen sich jetzt die Schultern, die Arme, das Becken an? Gibt es Raum hinter dem Rücken?» Er erhält Eindrücke vom Körperbewusstsein der Schüler, von der Qualität ihrer Atmung und dem Zustand ihrer somatopsychischen Einheit. Diese Eindrücke geben ihm einen Hinweis auf Störungen und Mängel, aber auch auf die besonderen Fähigkeiten der Schüler und werden einen Einfluss auf seinen weiteren Unterricht haben. Die gestaltete Bewegung Die in den Bewegungsimprovisationen gewonnenen Erfahrungen bilden die Basis für die Entwicklung gestalteter Bewegungen, in der Eutonie «Bewegungs-Studien» genannt. Während eine Improvisation dem intuitiven Gefühl des Augenblicks entspringt, geht es in der Bewegungsstudie darum, eine verbindliche Form zu finden. Analog zur Musik lässt sich sagen, dass aus einer freien, dem Augenblick geltenden Improvisation eine verbindliche Komposition gestaltet wird. Diese Komposition muss immer wieder neu erlebt und neu interpretiert werden. Wenn die Teilnehmer einer Gruppe den Weg der Eutonie solange zusammen gegangen sind, dass ihre gemeinsame Entwicklung die Arbeit mit Studien ermöglicht, ist ein großer Schritt zur Ausschöpfung der Eutonie-Methode gelungen. In der beruflichen Ausbildung erhält diese Arbeit einen besonderen Schwerpunkt. Sie wird für die angehenden Eutonie-Pädagogen zum Feld, den Eutonie-Prinzipien mit ihren somatopsychischen und sozialen Zusammenhängen Ausdruck zu geben.
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Wenn die Schüler ihre Bewegungsmöglichkeiten mehr und mehr ausschöpfen und selbstverständlicher nutzen, stellen sich individuell wiederkehrende Motive ein, die ihnen vertraut sind und mit denen sie sich identifizieren. So ein Bewegungsmotiv wird als selbst gefundene Form wiederholt, ein weiteres Motiv schließt sich an, bis eine kleine Bewegungssequenz entsteht. Am Anfang erleben die Schüler eine festgelegte Form oft als Einschränkung und stereotype Wiederholung. Einige einfache, selbstverständlich gewordene Bewegungen aneinander zu reihen, scheint nicht repräsentativ genug zu sein. Zur Kompensation entstehen dann komplizierte Bewegungsabläufe, in denen die Einhaltung der richtigen Abfolge alle Aufmerksamkeit bindet und das sensitive Erleben verhindert. Dabei werden wieder alte Ängste vor Wettbewerb und Be- oder Verurteilung wach, die Erwartung von Lob oder Tadel wird zum Maßstab. Das Erkennen dieser Muster hilft, sie abzulegen. Diese Konfrontation ist notwendig für eine Selbsterkenntnis und zur Objektivierung der eigenen Situation, sie hilft, sich zur eigenen Identität zu bekennen. Wie in den Improvisationen wird sich auch in den Studien die Qualität der Bewegungen verändern: Ein Wechsel der eingesetzten Prinzipien, eine Verkleinerung oder Vergrößerung des Raumes, die Veränderung des Tempos geben der gleichen Bewegungssequenz unterschiedliche Qualität. Allmählich erweitern sich die Formen der Studien und die Freude wächst, mit Rhythmus, Dynamik und Ausmaß der Bewegungen zu spielen. Wie in der Improvisation werden die Studien zu zweit, später zu dritt oder mit mehreren entwickelt. Hier finden dann Prozesse zwischen den Partnern statt, die zu heftigen Konfrontationen führen können. Unterschiede im Gefühl für Raum, Rhythmus und Bewegungsausmaß und Unterschiede im Tonus können dazu führen, dass die nonverbale Kommunikation über den Körper abgebrochen und verbal weitergeführt wird. In gruppendynamischen Prozessen wird danach gesucht, sich verständlich zu machen oder andere zu verstehen. Auch diese verbale Kommunikation wird mit zunehmender Tonusflexibilität kreativer. In den Einzelstudien und Studien mit Partnern werden psycho-soziale Probleme offenkundig. In so einer aktuellen Situation können dann aus therapeutischen Gründen emotionale Inhalte als Studienaufgabe gegeben werden. Emotionen werden dadurch bewusster und können, auch durch entsprechende Unterstützung des Lehrers, durchlebt werden. Um aber zu vermeiden, dass Schüler, die nur schwaches Ausdrucksvermögen besitzen, in Bewegungsklischees verfallen oder unter dem für sie übermäßigen Druck einer Aufgabe sich in Gefühlsintensitäten hineinsteigern, für die keine Deckung in ihrem Wesen vorhanden ist, werden Themen emotionellen Inhaltes nur dann als Aufgabe gestellt, wenn sie einem klar umschriebenen therapeutischen Zweck die-
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nen. Sonst wartet man, bis sich beim Einzelnen ein wirkliches Ausdrucksbedürfnis zeigt. (Gerda Alexander, 1999, S. 56) Die ordnende und gestaltende Kraft, die von der Improvisation zur Form führt, ist der Gegenpol zur Intuition. Sie führt zur Reflexion intuitiver Inhalte und ist das geistige Prinzip, das dem menschlichen Organismus seine Ausrichtung gibt und zur Bewusstseinserweiterung führt. Die Bewegungen wachsen aus der Subjektivität heraus und werden zu einer objektiven Aussage, die verbindlich ist. Während die Schüler einer vorgeführten Studie zuschauen, erleben sie selbst mit den Ausführenden und durch die Ausführenden die große Bandbreite unterschiedlicher Tonuslagen. Ihr körperliches Mitempfinden und Mitschwingen kann die eigene Tonusbegrenzung auflösen und die Tür öffnen zu einer größeren Spannbreite der Empfindungen. Der Tonus kann sich über das habituelle Maß hinaus ausweiten. Die befreiende und heilende Wirkung aller künstlerischen Erlebnisse, die durch die griechischen Dramen bewirkte Katharsis oder die Heilung durch Musik (z. B. Davids Spiel vor Saul) beruhen auf der Durchbrechung der Persönlichkeitsisolierung, die sich in einem starren, fixierten Körpertonus manifestiert. (Gerda Alexander, 1999, S. 56) Das Sich-Zeigen in Bewegungsstudien macht ehrlich. Selbst-Täuschung und der Versuch, andere zu täuschen, werden zum spürbaren Hindernis eines freien Bewegungsablaufes. Der Ausführende hat Zeugen für seine leibliche Ausdrucksmöglichkeit und bekennt sich vor ihnen zu sich selbst. Indem er sich selbst vor anderen bestätigt, wird er durch ihr Zuschauen bestätigt. Durch alle vorangegangenen Ängste hindurch öffnet dieses Sich-Offenbaren den Weg zu größerer Freiheit. Die Arbeit mit Bewegungsstudien führt die Schüler zu ihren kreativen Potentialen. Oft fließt diese angeregte schöpferische Quelle in andere Gebiete und drängt nach außen: Die Freude am Musizieren, am Malen oder Schreiben wird entdeckt und die befreiende Wirkung der geäußerten Kreativität erlebt. Um schöpferische, eutonische Bewegungen hervorzubringen, ist daher eine Präsenz erforderlich, die keine geringere geistige Disziplin ist, als die einer Meditation. In einer eutonischen Bewegungsstudie muss jedoch die gereifte Form, das Erleben des Körperinnenraumes mit dem Kraftzentrum in der Wirbelsäule und der von emotionellen Spannungen befreite, schwingende Atem in der Bewegung, nicht in ruhiger Versenkung zur Darstellung gelangen. Erst im dynamischen Spiel der Bewegung wird die Transparenz des eigenen Körperraumes in der lebendigen Beziehung zum umgebenden Außenraum und zum Körperraum der anderen erfahren, wodurch ein neues, komplexes Bewusstsein ent-
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wickelt wird, das Innen und Außen gleichzeitig umfängt. (Gerda Alexander, 1999, S. 58 f) Aber auch im Alltag entwickelt sich eine neue Lebensqualität. Die Übung, eine feste Form immer wieder neu zu erleben und ihr einen lebendigen Inhalt zu geben, hilft uns, unser Leben im Alltag mit den vielen sich wiederholenden, banalen Tätigkeiten nicht zur starren Form werden zu lassen. Die Präsenz im Umgang mit immer wiederkehrenden, alltäglichen Handreichungen, mit den Dingen, die uns zur ständigen Verfügung stehen sollen und unsere Achtsamkeit dem Menschen gegenüber im Berufsleben und in der Familie, gibt unserem Leben die Qualität. Die Intensität, die wir dem entgegenbringen, was uns berührt und was wir berühren, wirkt auf uns zurück und wir können durch die gegebene Form unseres Lebens hindurch im Dialog sein mit allem, was uns begegnet.
Arbeiten mit Ton – Körperbildtest nach Gerda Alexander Um die leibliche Erfahrung gestaltend zu vertiefen, werden die Teilnehmer auch zum Modellieren angeregt. Als Material wird meistens Ton verwendet. Die Themen ergeben sich aus den Inhalten des Unterrichts. Die eigenen Erfahrungen werden durch kreatives Tun geäußert: Die Arbeit an der Knochenstruktur wird vertieft durch das Modellieren einzelner Knochen und Gelenkflächen, nach dem Umgang mit den Füßen entsteht die Form eines Fußes, die Innenraum-Übungen führen die Schüler oft dazu, ein Gefäß zu formen. 1960 ließ Gerda Alexander zum ersten Mal im Eutonieunterricht einen menschlichen Körper in Ton modellieren. Damit körperlich-seelisches Erleben möglichst direkt und unverstellt in die Gestaltung einfließen könnte, regte sie die Schüler/innen an, ihre Figur unmittelbar nach einer Eutonie-Übungssequenz bei geschlossenen Augen zu formen. Sie war fasziniert von der Unterschiedlichkeit des individuellen Erlebens, die sich in den Figuren zeigte. Auch die «Fähigkeit des Menschen, ohne vorhergegangene Übung seiner körperlich-seelischen Einheit in den Modellagen Ausdruck zu geben» beeindruckte sie tief. Ihre Hoffnung, den Schülern durch die Modellagen ihr Körperbild bewusst zu machen, ging auf: Zu meiner Überraschung wurde außer den Lücken im Körperbild, dem fehlenden Körpergefühl und Bewegungsstörungen auch ungenügende Atemfunktion, organische Krankheiten sowie die psychische Einstellung der Schüler sichtbar. (Gerda Alexander, 1999, S. 91) Das Körperbild als komplexes, inneres Erfahrungsmuster enthält die gesamten subjektiven Erfahrungen mit dem eigenen Körper. Als solches bildet es die Grund-
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lage unseres Selbstbildes, unseres Lebensgefühls, unseres Kontakts zur Realität. Mit den Körpererfahrungen verändert sich auch das Körperbild, das wiederum die Körpererfahrungen organisiert. Gerda Alexander entdeckte in der Arbeit mit Ton die Möglichkeit, diesen Prozess bewusst werden zu lassen. Die Begegnung mit sich und anderen, die in der Auseinandersetzung mit Tonfiguren stattfindet, erweckt Mitgefühl und Respekt und macht den Menschen kontaktfähig. Das kreative Potential eines jeden ist in der Arbeit mit Ton angesprochen. Gerda Alexander war sich des engen Zusammenhangs von persönlicher Entwicklung, sozialer Fähigkeit und kreativer Gestaltungskraft bewusst: Wenn durch bewusste Arbeit mit dem Körper der Tonus wieder flexibel geworden ist, gewinnt der Schüler vertiefte Erlebnisfähigkeit und den Zugang zu seinen schöpferischen Kräften. Die so gefundene Tonusharmonie führt zudem zu einem den Bedingungen der Gemeinschaft entsprechenden sozialen Verhalten und über den Weg der Individuation zur Reifung der Persönlichkeit. (Gerda Alexander, 1999, S. 57) Im folgenden Bericht fasst die Eutonie-Pädagogin Renate Riese ihre Erfahrungen mit verschiedenen Ausbildungs- und Laiengruppen in den Jahren 1995 bis 1999 zusammen. Sich spüren im Tun. Berührung und Kontakt als Grundthemen der Eutonie Die Arbeit mit Ton ist eine ungebrochene Fortsetzung der Eutonie-Arbeit. Jetzt ist der Ton das Arbeitsmaterial, das der Schüler berührt und auf sich einwirken lässt, auf das er zurückwirkt, indem er es formt. Entsprechende Fragen können diesen Wahrnehmungsprozess unterstützen: «Wie empfindest du das Material, seine Konsistenz, Temperatur …?» oder: «Wie fühlst du dich in dieser Tätigkeit?» oder konkreter auf das körperliche Geschehen bezogen: «Wie hast du dich im Sitzen eingerichtet? Wie geht es deinen Schultern? Wo befindet sich deine Zunge im Mund?» – Durch solche Fragen wird die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart gelenkt, in der die Körperempfindung und das seelische Erleben in ihrer Verbindung und ständigen Veränderung wahrgenommen werden können. Auf diese Weise rückt der Prozess, die Entstehung der Figur, in den Mittelpunkt. Wenn es gelingt, in diesem prozessorientierten, bewusst wahrnehmenden Tun aufmerksam zu bleiben, tritt das Ziel, die fertige Figur, in den Hintergrund. Für viele ist dies entlastend; sie fühlen sich vom Leistungsdruck befreit, erleben Neugier und Freude am Gestalten.
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Diese Art der Aufmerksamkeit erlaubt den Einzelnen, Störungen und Brüche im Arbeitsprozess zu erkennen, zu bemerken, wo unmittelbares, ganzheitliches Erleben gestört wird oder verloren geht. Drei Beispiele sollen das verdeutlichen: Gedanken: «Beim Formen der Figur hatte ich eine sehr tiefe • «Störfaktor» und genaue Erinnerung an eigene jeweilige Körperteile. Ich formte die
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Figur aus dem Ton heraus und war sehr bei mir. Irgendwann kamen Gedanken, und ich verlor dadurch den Bezug zu meinem Tun, z. B. die Beine konnten nicht mehr ‹entstehen›, sondern ich ‹formte› zwei Beine. Wohl spürend, dass das so nicht stimmte, drückte ich dem Material meine Idee auf. Nachher wusste ich auch nicht, wohin mit den Beinen …» «Störfaktor» Wille: «An dem Tag wollte ich eine Figur … machen, eine geöffnete, in meiner Stellung, die ich in Momenten fröhlichen Losgelöstseins einnehme … Ich formte die Figur jedoch mehr meinem Willen als meinem Gefühl folgend und hatte erstaunlich viel weniger emotionalen Bezug zu der Figur als zu den anderen.» «Störfaktor» Anspruch: «Ich formte eine Figur ohne Hände und Füße und fühlte mich gut dabei. Dann überkam mich der «Perfektionsdrang», und ich ergänzte die fehlenden Körperteile. Das machte mich traurig.»
Zugleich zeigt sich, wie Vergangenheit sich in der Gegenwart manifestiert und erlebt wird. Im Folgenden beschreibt eine Schülerin ihr Erleben während des Modellierens der zweiten Figur im Laufe eines fünftägigen Eutonie-Projekts. Eine schmerzliche Erinnerung steigt auf; Gefühle können in selbst bestimmtem Maße zugelassen werden: «Während des Knetens war ich … innerlich sehr aufgeregt … Es kam immer wieder vor, dass ich vor lauter Anspannung die Zunge an den Gaumen presste … Ich hatte zudem arge Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich und Herzklopfen … Meine zweite Figur ist mir ganz schön unter die Haut gegangen. Ich war mit ihr von Anfang an mehr beschäftigt und musste immerzu wieder an ihr entlang streichen, um sie nachzuempfinden. Irgendwann war mir klar, dass sie sitzen würde. Also formte ich den Rumpf und ging dann zu den Beinen über. Weil aber die Arme zu dem Zeitpunkt noch im Weg waren, bog ich sie einfach etwas nach oben. Zu Anfang dachte ich mir noch nichts dabei … Ich tastete meine Figur erneut von oben nach unten und von unten nach oben ab und spürte meine innere Erregung. Bei der Stellung der Arme musste ich innehalten und traute mich kaum zu atmen – so gerührt war ich von dem ‹Bild›, was sich mir bot. Mir wurde dann ganz schnell klar, dass es ein ‹Bild›
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war, welches ich schon lange in mir trage, und aus einem Reflex heraus war ich kurz davor gewesen, die Figur wieder zu verändern. Ich ließ es dann aber doch dabei … Meine Figur entspricht meinem ‹inneren Kind›, welches immer noch mit dem Schmerz und dem Verlust meiner Mutter als Kleinkind zu kämpfen hat … Ich denke, dass diese Figur nur entstehen konnte, weil ich mich im Verlaufe der Woche gut auf die Eutonie einlassen konnte… Auch wenn der alte Schmerz noch einige Zeit mein Begleiter sein wird, … bin ich dennoch froh, dass er sich mir … gezeigt hat. Ich denke, dass ich bei jedem Anschauen und Fühlen dieser Gefühle etwas ‹heiler› in mir werde und einen besseren Umgang damit finden kann.» Die Schülerin erlebt nicht nur den Schmerz um den Verlust ihrer Mutter. Sie ist «gerührt», d. h. die Figur erweckt Mitgefühl in ihr. Sie widersteht dem «Reflex», die Figur zu verändern, d. h. sie kann sich diesem «inneren Kind» zuwenden, es in seiner Hilflosigkeit und in seinem Schmerz annehmen. Je intensiver die Schüler sich ihrem Erleben mit geschlossenen Augen aussetzen können, desto größer scheint ihr Interesse an der Figur zu werden. Wie sich die Figur in den Händen angefühlt hat, was das Formen dieses Materials auf der Gefühlsebene ausgelöst hat, welche Gedanken, Erinnerungen, Bilder, Ideen damit verbunden waren und umgekehrt – sein körperlich-seelischgeistiges Vermögen hat diesen Ton geprägt. Beim Öffnen der Augen zeigt sich, ob das Ergebnis der inneren Erwartung entspricht; Überraschung und auch Ent-Täuschung können sich einstellen. Ist etwas davon sichtbar geworden? Oder zeigt sich Anderes? Eine Schülerin berichtet: «Es entstand eine Figur, die genauso sitzt, wie ich während des Formens. Ich wünschte mir … einen geschwungenen Rücken, stattdessen entstand ein sehr gerader Rumpf mit einer hervortretenden Wirbelsäule. Ich habe seit einigen Wochen Rückenbeschwerden. In dem so geformten Rücken spiegelt sich für mich das Gefühl der Verletzbarkeit meiner Wirbelsäule wider.» Nach der ersten spontanen Reaktion auf die eigene Figur rege ich die Schüler/innen an, die Figur als Gegenüber aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, indem sie mal ihre eigene Position, mal die der Figur verändern. Ein nächster Schritt ist das möglichst genaue «Nachstellen», d. h. die Stellung der Figur für eine Weile möglichst unbeweglich einzunehmen und spürend wahrzunehmen: Wie fühle ich mich darin? Wie empfinde ich diese Haltung? Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die ursprüngliche Position der Figur zu verändern (z. B. eine Liegende auf die Füße zu stellen oder eine Hockende auf den Rücken zu legen) und dies im Nachstellen nachzuempfinden. Dieser Umgang mit der eigenen Figur ermöglicht zugleich, sich wiederzuerkennen und zu distanzieren. Der Wechsel von immobiler Position
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(Haltung) und Bewegung macht konkret erfahrbar, dass Leben Veränderung ist. (Die unbewegliche Position ist wie eine Momentaufnahme. Sie kann bedeutsam sein, aber nicht festgehalten werden.) Der Wechsel der Perspektive macht die Subjektivität und Begrenztheit der Wahrnehmung deutlich. Im Laufe dieses Umgangs mit der Figur werden unterschiedliche Aspekte wichtig: Neues wird entdeckt, das beim ersten Betrachten verborgen geblieben ist, die Empfindungen und Gefühle zu dem Objekt können sich wandeln. Die folgenden Berichte zeigen, dass die Beschäftigung mit der eigenen Figur eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst ist: wahrnehmen – achtsam sein: «Im Gegensatz zur ersten Figur • Bedürfnisse habe ich mich sehr wohl gefühlt beim Gestalten, war achtsam mit mir.
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Konnte sehr gut mit meinen Händen fühlen, was aus meinem Inneren entstehen wollte und durch meine Hände zunächst fühlbar und dann mit offenen Augen sichtbar wurde. Beim Betrachten meiner Figur sehe ich mehr Körpergefühl. Spüre und empfinde meinen Bauch. Sehe aber auch durch die Wölbung der Arme und durch das Anliegen am Körper das Bedürfnis nach Schutz. Empfinde das Bedürfnis, gut für mich zu sorgen. Spüre, dass ich mich mehr wohl fühle.» Sich erkennen – das bin ich: «Meine Figur liegt in Rückenlage und wirkt sehr angespannt, instabil, zerbrechlich, die Arme Hilfe suchend ausgestreckt … Sie hat nur zwei Auflagepunkte, nämlich Schulterblatt und Füße. Der Kopf und das Becken haben keinen Bodenkontakt. Wenn ich die Figur nachstelle, steht mein gesamter Körper unter einer ungeheuren Anspannung, die sich nicht lange halten lässt, ohne Verkrampfungen zu riskieren. Wenn ich ehrlich bin, gibt die Figur genau meinen zu diesem Zeitpunkt herrschenden seelischen Zustand wieder. Auch ich fühle mich angespannt, instabil, zerbrechlich, krampfhaft nach Hilfe suchend. Als ich meinen inneren Zustand so ausmodelliert vor mir sah, wurde ich sehr traurig und musste weinen. Rückblickend bin ich froh, mich auf diese für mich sehr intensive und schmerzliche Arbeit eingelassen zu haben, da mir in ihrem Verlauf klar wurde, woher meine Ablehnung gegenüber dem Material Ton rührt.» Wünschen – ein Schritt in die richtige Richtung: Dieselbe Schülerin fährt fort: «Bei meiner zweiten Figur hatte ich mich dem Material Ton gegenüber geöffnet und versucht, die verschiedenen Möglichkeiten kennenzulernen … Es war mir wichtig, dass diese Figur steht, und zwar auf stabilen Beinen … Ich habe viel Zeit damit verbracht, der Figur einen sicheren Stand zu geben, was mir, glaube ich, recht gut gelungen ist. Wenn man die
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Figur jetzt in ihrer Gesamtheit betrachtet, macht sie einen sehr stabilen und in sich gefestigten Eindruck. Und wenn ich sie nachstelle, fühlt es sich sehr gut an. Ich wünschte, ich hätte mehr Anteile von meiner zweiten Figur, es überwiegen wohl nach wie vor die Anteile der ersten Figur. Aber ich sehe meine zweite Figur als einen ersten Schritt in die richtige Richtung an, und es beruhigt mich zu wissen, dass die zweite Figur so nicht hätte entstehen können, wenn ich das, was sie ausdrückt, nicht auch letztendlich in mir hätte.» Sich zu erkennen geben: «Am meisten finde ich mich in dem abstrakten Stil der Figuren wieder. Ich finde, die Figuren wirken unpersönlich, bleiben in ihren Formen unkonkret und sind dadurch nicht greifbar. Aber sie kommen nicht umhin, irgendeine Haltung einzunehmen und dadurch etwas von sich mitzuteilen und zu erkennen zu geben. – Das bin Ich.»
Nach diesen Erfahrungen mit sich stellen wir in der Gruppenarbeit die eigene Figur vor. Alle sitzen im Kreis; jede/r hat die Gelegenheit, etwas mitzuteilen und platziert dabei die eigene Figur in der Mitte. Bewusst lasse ich frei, ob und wozu die Einzelnen sich äußern möchten. Die Schüler/innen sprechen über den Prozess der Entstehung und/oder über das Ergebnis, die Tonfigur. Auch können die Aussagen sich auf unterschiedliche Ebenen (körperlich-seelisch-geistig) beziehen. Die Aussagen unterscheiden sich außerdem durch den Grad ihrer Konkretheit. Durch allgemeine Aussagen auf einer Ebene kann der Schüler sich «bedeckt» halten, indem er konkreter wird oder eine zweite Ebene mit einbezieht, zeigt er mehr von sich. Auch ein schweigendes Hinstellen der Figur ist eine Aussage. Alle Aussagen bleiben unkommentiert im Raum stehen – wie die Figuren, die sich so zu einer Figurengruppe konstelliert haben. Meine Erfahrungen mit dieser Vorstellungsrunde: Einige hatten die Befürchtung, interpretiert und «abgestempelt» zu werden. Sie sind erleichtert, dass dies nicht geschehen ist und haben Vertrauen gewonnen. Einige äußern, dass sie «etwas Wesentliches» von anderen erfahren haben – auch ohne Kommentar, allein durch die Figur. Einige sind tief beeindruckt und erstaunt über das, was in der Form sichtbar wird. Sie entdecken ihr Potential. Eine Schülerin hatte Lust, zu Hause noch eine weitere Figur zu formen, ebenfalls mit geschlossenen Augen. Danach schrieb sie folgenden Kommentar: «Ich hatte das Gefühl, in meinen Händen entsteht eine menschliche Blume. Die Blüte richtet sich dem Himmel entgegen, der Stamm fest verwurzelt mit der Erde. Meine Hände konnten sich entfalten und ausbreiten beim Gestalten. Die Figur nahm Raum ein … Es war ein schönes Gefühl. Als
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ich meine Augen öffnete, war ich erst mal erstaunt über die Größe und Standhaftigkeit. Ich sehe eine Figur, die sich nach allen Seiten ausdehnt, Raum einnimmt. Sehr aufrecht steht und in sich sehr standhaft ist. Sie fällt so leicht nicht um. Sie hat auch etwas von einer Göttinnenstatue.» Die Figurengruppe in ihrer zufälligen Figurenkonstellation bietet ein Bild, das zu vielen Assoziationen und Reflexionen in Bezug auf die Ausbildungsgruppe anregt. Einzelne möchten die Position ihrer Figur verändern: Sie suchen mehr Nähe oder Distanz zu anderen. Wünsche und Bedürfnisse werden artikuliert oder schweigend ausgedrückt und zur Kenntnis genommen. Konflikte in der Gruppe werden sichtbar und können, je nach Situation, angesprochen werden. Zwischendurch schlage ich vor, wieder einmal die Perspektive zu ändern: Jede/r sucht sich einen anderen Platz. Wie wirkt das Figurenbild aus diesem Blickwinkel? Durch dieses Spiel mit der Figurengruppe entsteht ein Wir-Gefühl: Gruppenstrukturen, Gruppenverhalten, Charakteristika werden bewusst und manchmal auch benannt. Jedes einzelne Gruppenmitglied gehört zum unverwechselbaren Gesamtbild; entfernt man auch nur eine Figur, verändert es sich erheblich. Der soziale Aspekt der Zusammengehörigkeit, aber auch der verantwortlichen Teilnahme eines jeden einzelnen Mitglieds der Gruppe wird sichtbar. Die Figuren präsentieren die Gruppe, und je nach Haltung und Konstellation, unterschiedliche Beziehungen, Seins- und Verhaltensweisen in der Gruppe. Das Spielen mit den Figuren deutet darauf hin, dass es einen Gestaltungsspielraum in unseren Beziehungen gibt. Meine Erfahrungen mit dieser Gruppenarbeit: In allen drei Gruppen konnte ich positive Auswirkungen auf das Gruppenverhalten beobachten: Die Schüler/innen gingen achtsamer miteinander um, Einzelne konnten sich besser in die Gruppe integrieren, die Arbeitsatmosphäre (Bereitschaft) verbesserte sich erheblich. Eine Gruppe meldete mir zurück, dass die Woche ihren Umgang miteinander sehr verändert habe: Die hektische Betriebsamkeit habe aufgehört; Ruhe sei eingekehrt und halte an. Die Schüler/innen teilten mit, sie fühlten sich als Gruppe gestärkt, weil sie sich in ihrer Verschiedenheit besser akzeptieren könnten. Die Arbeit mit den Tonfiguren bietet eine Fülle von Möglichkeiten, Bewegung experimentell zu erforschen, alte Bewegungsmuster zu verlassen, Neues auszuprobieren. Hier nur ein Beispiel für individuelle Arbeit (Partner- und Gruppenarbeit lässt sich auf ähnliche Weise in vielen Variationen anregend gestalten): Die Schüler/innen haben im Laufe des Eutonie-Projekts drei Tonfiguren modelliert. Ich schlage vor, die Position ihrer ersten Figur als Ausgangsstellung einzunehmen und von dort einen Weg in die Position ihrer zweiten und dritten Figur zu suchen. Besonders interessant ist die
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«Nahtstelle». Woher nehme ich den Bewegungsimpuls? Welcher Körperteil führt, welche folgen? Wie nutze ich den Boden für die Bewegung? usw. Die Eutonie-Prinzipien (Berührung, Kontakt, Transport, Zeichnen, Verlängerung …) helfen, den Weg in die Bewegung zu finden. Allmählich kristallisiert sich aus der Improvisation eine Form. Die Schüler/innen durchlaufen mit der Bewegungssequenz noch einmal den Entwicklungsweg und erleben die einzelnen «Haltepunkte» (unbewegliche Positionen) als wichtige Stationen ihres Weges, der noch nicht zu Ende ist.
Entwicklung eines Berufsbildes Die Eutonie nach Gerda Alexander als eine Methode zu beschreiben, die zur Erfahrung der eigenen Leiblichkeit führt, beschreibt nicht die Erfahrung selbst. Das körperliche Erleben «artikuliert» sich durch Bewegung. Wenn wir unsere subjektive Wahrnehmung in Worte fassen wollen, müssen wir uns von ihr distanzieren. Wir können das Phänomen des Erlebens allenfalls umschreiben und nähern uns ihm mit Hilfe von Bildern, Musik, Poesie oder der Beschreibung von Naturereignissen an. Die Vergangenheit und Entwicklung der körperorientierten Methoden hat Karoline von Steinaecker in ihrem Buch «Luftsprünge» beschrieben und durch ihre Forschungsberichte zum Körperverständnis und seinem Paradigmawechsel um die Jahrhundertwende lebendig werden lassen. Körper- und Atem-Methoden im Zusammenhang mit der Reformbewegung wurden vor allem von Frauen entwickelt. Zu einem Thema ihrer Arbeit macht v. Steinaecker das Schweigen dieser Pionierinnen, aber auch das Verschweigen ihrer großen Einflüsse auf die Psychotherapie in der männlichen, wissenschaftlichen Welt, die sich sehr wohl ihrer Methoden bedient. Sie schreibt, dass die männlichen Kollegen wie Jaques-Dalcroze, Rudolf Bode, Rudolf v. Laban von sich reden machten und schriftliches Material hinterließen, … nur die Frauen selbst hüllen sich in Schweigen … Dieses Schweigen der Atemund Leibpädagoginnen ließ ein Vakuum entstehen, in das man viele Geheimnisse hineinlegen konnte … In welcher Richtung war dieses Schweigen zu deuten? Hatten sie nichts zu sagen? Wollten sie nicht über ihre Arbeit sprechen, weil sie zu sehr im Gegensatz zur wissenschaftlichen Lehrmeinung stand, oder gab es keine Sprache für den Körper und seine Empfindung? Hatte die jahrhundertelange Körperfeindlichkeit verhindert, Begriffe und Definitionen für das Körpererleben zu entwickeln?
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So, wie der Atem in östlichen und orientalischen Kulturen immer als transzendent gilt, also als etwas die Grenze der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren Welt Überschreitendes, könnte so das Schweigen der Frauen auch im religiösen Sinne zu verstehen sein? …Wäre ihr Schweigen auch als eine Form der Regression, also des Rückzugs in frühkindliche Körperwahrnehmungen zu deuten, in der Spracherwerb noch nicht vollzogen ist und damit auch keine Sprache für die Körpererfahrung zu finden ist? Weiterhin ist von Interesse, welche Motive Frauen hatten, sich mit einer solchen Intensität dem Körper zuzuwenden. In einer Zeit, da Freud über das Wort und die Träume Zugang zur menschlichen Seele finden wollte, suchten sie über die nonverbale Ebene der Körpererfahrung und den Atem einen Raum der Selbsterfahrung und Selbstentfaltung und einen Zugang zu unbewussten Ebenen. (v. Steinaecker, 1999) Hadassa Moscovici kommt bei ihren Nachforschungen über die Pionierinnen der Körpertherapie ebenfalls zu dem Ergebnis: … dass hier ein kulturgeschichtlicher Bereich ist, der offensichtlich ganz wesentlich von Frauen gestaltet wurde. Während aber ähnliche gesellschaftliche Bereiche, die von Männern dominiert werden, bis in letzte Feinheiten dokumentiert sind, finden sich die meisten Pionierinnen weder in den großen Konversationslexika noch in den Nachschlagewerken der Fachliteratur. (Moscovici, 1989, S. 35) K. v. Steinaecker bricht das Schweigen dieser Pionierinnen der Körpermethoden, um «die Frauen wieder sichtbar zu machen». Auch Gerda Alexander gehörte zu dieser schöpferischen Frauengeneration, die leider sehr wenig publizierte. Auf intellektuelles Debattieren über die EutonieArbeit, analysierende oder emotionale Beschreibungen von Erfahrungen reagierte sie oft sehr nüchtern oder unterbrach sie mit einer Aufforderung, das zu tun, was zu tun ist: «Legen Sie Ihr Knie auf den Boden.» – «Spüren Sie sich in Ihren Schultern.» – «Wie fühlen Sie jetzt den Boden?» Sie zeigte deutlich, dass sie bei ihren Schülern zwischen einem Darüber-Reden und einer nach innen wirkenden Erfahrung unterscheiden konnte. Anders ging Gerda Alexander an ihrer Schule in Kopenhagen bei der Ausbildung zur professionellen Ausübung der Methode vor. Sie prägte damit die berufliche Ausbildung bis zur Gegenwart. Wenn auch die praktischen Übungen und Erfahrungen an ihrer Schule in Kopenhagen im Mittelpunkt standen, so wurde doch zum Abschluss einer Unterrichtseinheit durch verbalen Austausch ein kognitives Verstehen und damit eine Distanz zum subjektiven Erleben angestrebt. Der theoretische Unterricht angrenzender Gebiete wie z. B. Anatomie, Neurologie, Psychologie, Pädagogik und sozial-kulturelle Bereiche schuf Einsicht in Zusammenhänge. Gleichzeitig wurde die sprachliche Ausdrucksfähigkeit geför-
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dert. Dadurch konnte während der Ausbildung die notwendige Objektivierung entstehen, die für das Unterrichten von Eutonie nötig ist. Aus dem Schweigen und Verschweigen entwickelte sich der Respekt vor der Wortlosigkeit gegenüber dem persönlichen Erleben. Vielleicht schützt diese Wortlosigkeit davor, Erlebnisse vorwegzunehmen, vorzugeben oder sie zu zerreden, indem alles an das Licht der Vernunft gezerrt und verzerrt wird und damit das individuell Einmalige verloren geht. Die Eutonie führt am Anfang in die frühkindliche Zeit, in der die Kommunikation in der Berührung lag und verbaler Austausch noch nicht stattfand. Berührung wortlos zu erleben und als Kommunikationsmittel wieder zu entdecken, weckt unbewusste Sehnsüchte, tiefe Verletzungen und frühkindliche Traumata. Erfahrungen dieser Art können dann zusätzlich zu einer Psychotherapie führen. Andererseits erleben Frauen, die ihren Missbrauch schon psychotherapeutisch bearbeitet haben, diese Verletzung in der Eutonie auf einer anderen, der vorsprachlichen Ebene, noch einmal und finden eine neue Aussöhnung mit sich und Wege zu ihrer Sinnlichkeit. Die neue Erfahrung, gehalten zu werden, berührt zu werden, gesehen zu werden, sich selbst zu begegnen und zu entdecken, wird oft von einem sprachlosen Staunen begleitet und wirkt heilend in diesem Raum, für den es keine Worte gibt. Hier stellt sich die Frage: Gehört die Eutonie Gerda Alexander in den Bereich der Pädagogik oder der Therapie? Trotz der Erkenntnis von der Unteilbarkeit des Individuums und der Wechselwirkung zwischen Psyche, Körper und Denken wird in den institutionalisierten Berufen getrennt. Die Erfahrung zeigt, dass ein Lernprozess, der zu einer Einsicht führt, durchaus heilende Wirkung hat. Ebenso kann eine therapeutische Intervention einen Lernprozess auslösen. Eine Methode wie die Eutonie, die durch Erfahrung zu Körperbewusstsein führt und dabei ressourcenorientiert handelt, meint immer den ganzen Menschen. Eine Pädagogik, die sich nicht am Defizit orientiert, sondern an dem, was ein Mensch kann, stellt das Positive des Menschen in den Mittelpunkt. Das was ein Mensch kann, auf welcher Entwicklungsstufe er sich befindet, wird zum Ausgang der pädagogischen Arbeit. Nicht das Defizit ist entscheidend, sondern der ganze Mensch. (Krawitz, 1997, S. 336) Was hier von der Pädagogik gesagt wird, trifft ebenso auf die Therapie zu. Wenn die Aspekte Pädagogik und Therapie in demjenigen integriert sind, der die Eutonie weitergibt, wird er vom Lehrenden zum Therapeuten und vom Therapeuten zum Lehrenden. Der Ansatz entscheidet sich vor allem durch die Situation desjenigen, der nach Hilfe sucht: Ist dieser im gegenwärtigen Moment eher Schüler oder eher Patient? Der Eutonie-Lehrer zeigt den Weg auf, der Schüler übt das Gehen auf diesem Weg. Der Eutonie-Therapeut wird den Patienten tragen,
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bis dieser wieder geh- bzw. wieder lernfähig ist. Die Frage, in welchem Maße eine «heilende Pädagogik» vor Therapie bewahren kann, bleibt offen. Bei vielen Kindern wird der Mangel an Berührung durch ihr Verhalten deutlich. Berührungsmangel, also Mangel an Bewusstsein für die Haut, schwächt die Ich-Findung und die psychische Stabilität. Ihre Unfähigkeit zur inneren Sammlung und Aufmerksamkeit, zur Kontaktaufnahme und Akzeptanz zeigt ihr Defizit an Selbstwertgefühl und Orientierung. Sie lernen nicht, Kriterien zu entwickeln, nach denen sie für sich selbst unterscheiden, entscheiden und autark wählen können. Ausgeliefert an die Medien als Vertreter der Macht ökonomischer Effizienz, schlucken sie vorgefertigte Nahrung. Wer ist verantwortlich für die Frage, wie sie diese Nahrung verdauen oder nicht verdauen? Ohne gelernt zu haben, sich selbst fühlend zu fragen und die Antwort in eigenen Empfindungen zu suchen, kann die Fähigkeit zur Selbstverantwortung nicht wachsen. Das Hinhorchen auf die fühlbaren Mitteilungen des Körpers kann nicht durch Ratschläge oder begriffliches Lernen ersetzt werden. Es muss erfahren und geübt werden. Das Achten auf die körperlichen Gefühle und Empfindungen bringt uns wieder in einen natürlichen Kontakt mit unserer Leiblichkeit und hilft, auf ihre Gesetzmäßigkeit zu horchen und ihr zu ge-horchen. Aus dieser Gesetzmäßigkeit wächst die eigene Heilkraft. Ein im Sinne der Eutonie gesunder Mensch reagiert mit seinem flexiblen Tonus auf seine Lebenssituation und kann ihr mit einer ihm angemessenen Reaktion antworten. Er fühlt sich eingebunden in das Ganze und ist in der Lage, sein Leben und seine Umwelt mitzugestalten. (Schaefer 1997) Über 40 Jahre sind vergangen, seit die «Eutonie Gerda Alexander» sich als Methode der Öffentlichkeit stellte und noch immer wird sie fast wie ein Geheimtip einiger Eingeweihter betrachtet. Das mag die Eutonie im Zwielicht erscheinen lassen und sie dem Verdacht einer Ideologie aussetzen. Wer genauer hinsieht, erkennt die Transparenz der Methode, deren Strukturen auf Initiative von Gerda Alexander hin von ihren Schüler/innen erarbeitet wurden. Die Bezeichnung «Eutonie Gerda Alexander» wurde 1985 als Markenzeichen eingetragen. Die nationalen Verbände der einzelnen Länder, in denen EutoniePädagogen tätig sind (Canada, Belgien, Deutschland, Frankreich, Schweiz) gehören dem internationalen Dachverband FIEGA an (Fédération Internationale d’Eutonie Gerda Alexander, Sitz Luzern/Schweiz). Die FIEGA erstellte eine Berufsordnung und berufsethische Richtlinien, die für alle gelten, die professionell die Eutonie nach Gerda Alexander ausüben.
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Bei regelmäßigen Zusammentreffen auf nationaler und internationaler Ebene wird an der Praxis der Eutonie geübt, Erfahrungen ausgetauscht, reflektiert und an einer Weiterentwicklung der Eutonie gearbeitet. Das «Collège» ist ein Organ der FIEGA und wurde 1985 von Gerda Alexander gegründet. Es ist zuständig für die Anerkennung der Schulen und erstellt Richtlinien für das Curriculum und für die Qualifikation der Ausbilder. Mitglieder des Collège gehören zur Prüfungskommission der Abschlussexamen. Der deutsche Berufsverband DEBEGA ist assoziiert in der AFA (Verband der AtempädagogInnen und AtemtherapeutInnen, Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Atempflege e. V.). Das AFA-Berufsbild gilt für die Eutonie nach Gerda Alexander. Die DEGGA (Deutsche Eutonie Gesellschaft Gerda Alexander) ist ein gemeinnütziger Verein. Sie wurde 1970 gegründet, um die Methode zu schützen, zu verbreiten und finanziell zu unterstützen. Sie fördert die Schule, unterstützt Schüler und trägt durch eine Schriftenreihe zur Öffentlichkeitsarbeit bei. Die Gerda-Alexander-Schule e. V. in Deutschland wurde 1987 mit der Unterstützung von Gerda Alexander gegründet. Die Ausbildung entspricht mit ihren Inhalten und Stundenzahlen dem internationalen Curriculum. Zu den Fächern der Eutonie mit den Aspekten Pädagogik, Therapie und kreatives Gestalten werden Basiskenntnisse aus medizinischen und psychologischen Bereichen unterrichtet. Dadurch sollen die Grenzen ihrer Möglichkeiten und die interdisziplinäre Stellung der Eutonie geklärt werden. Um eine angemessene verbale Begleitung im Unterricht zu ermöglichen, ist in der deutschen Ausbildung die Klientenzentrierte Gesprächsführung nach C. Rogers integriert. Insgesamt besteht die Ausbildung aus 2200 Unterrichtsstunden, verschiedenen Zwischenexamen und einem Abschlussexamen. Das Abschlussexamen berechtigt, den geschützten Namen Eutonie Gerda Alexander und das Logo beruflich zu benutzen. Die zeitliche Aufteilung in Vollschulzeit, längeren Blockunterricht und Seminare über vier bis fünf Jahre wird in den Schulen individuell gehandhabt. Die Terminologie «Eutonie» ist als ein gebräuchliches Wort zur Beschreibung eines somatopsychischen Zustandes nicht zu schützen. Der Begriff wird heute häufig für körperorientierte Arbeit benutzt. Die Weitergabe der Eutonie durch Laien, die keine Ausbildung durchlaufen haben, beschränkt sich oft auf eine verkürzte Übermittlung der Prinzipien. Verlängerung und Transport z. B. können als reine Techniken in Bewegungslehren, Sport und Gymnastik, im Tanz und Yoga eingesetzt werden. Sie wirken sehr effizient, auch ohne eine innere Entwicklung der Persönlichkeit im Sinne der Eutonie zu fördern. Solange es eine offizielle Anerkennung der Eutonie Gerda Alexander und damit eine klare Definition als Beruf nicht gibt, ist für den Laien eine Unterscheidung zwischen der Arbeit NichtAusgebildeter und einer kompetenten beruflichen Ausübung schwierig. Öffentliche Institutionen, die an dieser Methode Interesse zeigen und bereit sind, eine
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Lücke im therapeutischen und pädagogischen Rahmen zu füllen, können wegen der mangelnden staatlichen Anerkennung keine Planstellen schaffen und die Eutonie kann weder an Schulen noch im Gesundheitswesen ihren Platz einnehmen. Die angestrebte Entwicklung der Methode bedeutet für uns Praktizierende eine große Herausforderung. Gerda Alexander selbst hat in ihrem Vorwort zur 3. Auflage des Buches Eutonie 1976 dazu ermutigt: Die heutigen Erkenntnisse in verschiedenen Disziplinen und die modernen Forschungsmöglichkeiten können neue Formen der Zusammenarbeit und der Formulierung von grundlegend neuen Einsichten ermöglichen. Neue physiologische Erkenntnisse klären nun mehr und mehr die objektiven Gesetze, welche die Wirkung der Eutonie verständlich machen. Kontakte mit Wissenschaftlern und Forschungsinstituten fördern diesen Bewusstseinsprozess. Allerdings wäre die Eutonie nicht entstanden, wenn wir erst die wissenschaftlichen Erklärungen ihrer Phänomene abgewartet hätten, ehe wir an uns selbst die umstürzenden Wirkungen eines neuen Zugangs zur vieldimensionalen Wirklichkeit feststellen. (Gerda Alexander, 1999, S. 12)
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Die Feldenkrais-Methode Wolfgang Steinmüller Erinnern Sie sich an Ihren Turnunterricht? An das Gefühl, an der Reckstange zu hängen und nicht den Felgaufschwung zu schaffen? Die eine Hälfte der Klasse hatte keinerlei Probleme, die Beine nach vorne zu schwingen, das Becken nach oben zu bringen und sich schließlich im Stütz auf der Reckstange zu befinden. Nur Sie und einige andere versuchten vergeblich, die Leichtigkeit und Eleganz zu imitieren, mit der Ihnen vorgeturnt wurde. Je mehr Sie sich anstrengten, je mehr Willen Sie aufbrachten, desto schwerer wurde die Aufgabe. Falls Sie Glück hatten und ein engagierter, einfühlsamer Turnlehrer Ihnen Hilfestellung leistete, konnten Sie sicherlich die nötige Bewegungskoordination noch lernen und am Ende des Unterrichts den Felgaufschwung eigenständig ausführen. Hatten Sie jedoch Pech, und Ihnen half niemand, denken Sie noch heute schmerzlich zurück und möchten am liebsten nichts vom Geräteturnen wissen.
Die Feldenkrais-Methode wird als Gruppenunterricht in Form von Lektionen in «Bewusstheit durch Bewegung» oder als Einzelbehandlung, bezeichnet als «Funktionale Integration», vermittelt. Im deutschen Sprachraum hat sich die Bezeichnung Feldenkrais-Lehrer etabliert, im Englischen spricht man vom FeldenkraisPracticioner, wenn von den Praktizierenden der Methode die Rede ist. Im folgenden Text wird nicht von Feldenkrais-Schülern oder Patienten die Rede sein, sondern von Klienten. In Feldenkrais-Gruppen experimentieren die Teilnehmer unter verbaler Anleitung des Feldenkrais-Lehrers mit Bewegungsfolgen. Eine Lektion dauert zwischen 45 und 90 Minuten. In der individuell gestalteten Einzelstunde gestalten die Hände des Feldenkrais-Lehrers die Kommunikation mit dem Klienten. Sprache dieser Kommunikation sind Bewegungen. Auf sensomotorische Antworten, die beiden Beteiligten durch eine veränderte Muskelspannung
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spürbar werden, kann individuell reagiert werden. Eine Einzelbehandlung nimmt zwischen 30 und 50 Minuten in Anspruch. Sowohl der Aufbau einer Gruppenlektion als auch die Techniken der Einzelbehandlung beruhen auf einem tiefen Verständnis von menschlichen Bewegungsfunktionen und deren strukturellen Grundlagen.
Funktionale Integration – der mögliche Ablauf einer Einzelstunde Eine erste Stunde beginne ich zumeist mit der Frage, wie es zu dem Entschluss kam, eine Feldenkrais-Einzelstunde auszumachen. Falls es um gesundheitliche Probleme geht, bekommt der Klient viel Zeit, die Entwicklung seiner Symptome ausführlich zu beschreiben. Meine Fragen zielen einerseits darauf, Ereignisse zu finden, die motorisches Verhalten eingeschränkt haben und die Entwicklung von Schonhaltungen zur Folge hatten. Im Vordergrund stehen Unfälle, aber auch Erkrankungen, die lange Zeit zurückliegen können. Andererseits ist es mir wichtig, mit meinen Fragen nicht nur negative Erinnerungen zu sammeln, sondern von Anfang an Raum zu geben für Wünsche und Fragen des Klienten. Ab einem gewissen Punkt des Gespräches frage ich nach angestrebten Lösungsmöglichkeiten. Ich versuche herauszufinden, ob es Bewegungssituationen gibt, die als Entlastung, als Erleichterung empfunden werden. Dies gibt mir Hinweise, in welchen Positionen ein Anfang der Behandlung möglich sein kann. So nutze ich die Zeit des Gesprächs für eine aufmerksame Beobachtung des gewohnten Körpergebrauchs des Klienten und entwickle eine Arbeitshypothese für die Gestaltung des Lernprozesses, der diesen Gebrauch verbessern soll. Während des Gespräches achte ich darauf, wie die Person mir gegenüber sitzt, ob auf den Sitzbeinen oder weiter hinten auf dem Steißbein. Ich beobachte, wie mein Gegenüber sein Gewicht verlagert, und sehe, wie die Wirbelsäule Kopf und Becken verbindet. Sitzt der Kopf balanciert auf dem obersten Halswirbel oder eher zu weit vorn, hinten, rechts oder links? Welches Auge mag das Führungsauge sein? Nach dem Eingangsgespräch bitte ich, ein paar Schritte durch den Raum zu gehen, vorwärts, rückwärts und sich umzudrehen. Hierbei achte ich auf die Qualität der ausgeführten Funktionen und auf etwaige Unterschiede zwischen rechts und links. Während ich all dies beobachte, erhalte ich weitere Hinweise für die notwendigen Berührungen, die ich dann während der manuellen Arbeit auf ihre Richtigkeit überprüfe. Wichtig ist: Die Kontaktaufnahme mit den Händen ist zunächst respektvoll fragend, nicht manipulativ bestimmend. Die Prüfung der Ruhespannung der verschiedenen Muskelketten und die Freiheit einzelner Gelenke erfolgt zumeist im Liegen. In der ersten Einzelstunde for-
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dere ich die Klienten meist auf, die Liegeposition einzunehmen, in der sie sich spontan am wohlsten fühlen. Für viele ist dies die Stellung, in der sie normalerweise einschlafen. Auch das gibt mir wertvolle Hinweise über bestehende motorische Gewohnheiten. Bei all dem bleibt der Klient stets bekleidet und bekommt nicht das Gefühl vermittelt, seinen Körper hergeben zu müssen, damit etwas an ihm «gerichtet» wird. Die Reaktionen des Klienten auf die Berührungen und Bewegungen gestalten den Verlauf der Einzelstunde. Die vermittelten Bewegungen bieten Handlungsbezüge an, so dass, was wie passives Bewegen aussieht, für das Nervensystem des Behandelten ein Fluss wertvoller Information ist. Ich arbeite mit der Assoziationsfähigkeit des Nervensystems, die aus dem Informationsgehalt der Bewegungen die Möglichkeit erkennt, mit veränderter Qualität zu handeln. Wie ein Sprachlehrer Sätze zum Wiederholen, aber auch zum Umformulieren anbietet, biete ich Bewegungen auf eine kreative nicht schematisierte Art und Weise an. Manchmal ist es sinnvoll, die gewählte Ausgangsposition zu verändern und in einem neuen Bezug zur Umgebung weiterzuarbeiten. Am Ende der Einzelstunde fordere ich den Klienten erneut auf, die eingangs beobachteten Bewegungen wie Gehen und Umdrehen erneut wahrzunehmen und überlasse es seiner Eigenwahrnehmung, Unterschiede festzustellen und gegebenenfalls zu formulieren. Die während der Behandlung angewendeten Techniken werden an späterer Stelle ausführlich beschrieben.
Ich bat drei meiner Klienten, über ihre Erfahrungen mit der Feldenkrais-Methode zu berichten, um das Erleben des Lernprozesses aus der Sicht des Lernenden zu veranschaulichen. Zwei schildern eindrücklich die erzielten Erfolge und beschreiben einen idealen Verlauf. Da es neben Erfolgen natürlich auch Misserfolge in der Anwendung der Feldenkrais-Methode gibt, war es mir wichtig, auch hierfür ein Beispiel zu liefern. So wird auch eine erfolglos verlaufende Behandlung von einem Betroffenen geschildert. Der Blickwinkel der Begeisterten und der des Enttäuschten mögen helfen, die Methode zu verstehen.
Klientin 1, 46 Jahre Meine erste Begegnung mit der Feldenkrais-Methode war im Herbst 1991. Ich war seit einigen Monaten Patientin in einer Unfall-Klinik mit der Diagnose: Polytrauma nach einem Fahrradunfall. Meine Knochen waren operativ versorgt worden. Ich konnte mich mit zwei Gehhilfen fortbewegen. Von
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den Klinikärzten wurde mir fortwährend mitgeteilt, dass ich aufgrund der Verletzungen mit einigen Einschränkungen und Schmerzen leben müssen und meinen Beruf als Krankenschwester nicht mehr ausüben können werde. Zur damaligen Zeit war mein größter Wunsch, wieder zu lernen, mein Gleichgewicht zurückzuerhalten, wieder ohne Hilfe stehen und gehen zu können und in den täglichen Dingen des Lebens selbständig zu werden. Ich war in dieser Zeit täglich in der Klinik, bekam Krankengymnastik und die ganze Bandbreite der Physiotherapie. Eines Tages fragte mich meine Krankengymnastin, ob ich mich als Klientin im Rahmen einer FeldenkraisFortbildung für Physiotherapeuten für eine Einzelbehandlung zur Verfügung stellen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie etwas von der Feldenkrais-Methode gehört. Ich sagte sofort zu, ich war bereit, alles zu tun, was mir weiterhelfen könnte. Ich erhielt eine Stunde in Funktionaler Integration. Während der Behandlung war mir wenig bewusst, was mit mir geschah. Ich spürte, dass etwas mit mir passierte, ich wurde bewegt, manchmal konnte ich die Bewegung bewusst nachvollziehen, meistens spürte ich «nur», dass etwas mit mir passierte. Wie lange die Behandlung dauerte, war mir nicht bewusst, meinem inneren Zeitgefühl nach musste ich Stunden auf dem Tisch gelegen haben. In Wirklichkeit war es etwa eine Stunde. Ich wurde gebeten, aufzustehen. Ich stand – und begann im Raum herumzugehen – ohne Gehhilfen! Ich probierte aus, beschleunigte meine Schritte, es war, als ob ich nie einen Unfall gehabt hätte. Alle Gleichgewichtsstörungen, alle Schmerzen waren wie weggeblasen. Ich fühlte mich leicht und beschwingt. Nach Monaten hatte ich wieder das Gefühl, gesund zu sein, mich am Leben freuen zu können. In diesem Moment wollte ich keine Zusammenhänge wissen, keine Erklärungen, keine Kommentare hören. Alles, was ich jetzt wollte, war: das Gehen genießen! Zuhause angelangt hatte ich nur ein Bedürfnis – in Ruhe gelassen zu werden. Ich brauchte Zeit, diese Erfahrungen zu verarbeiten. Unmittelbar danach, am nächsten Tag begann wieder die übliche Physiotherapie mit Krankengymnastik und physikalischen Anwendungen. Ich ließ alles über mich ergehen. Aber innerlich begann etwas in mir in Bewegung zu geraten. Ich begann, die Erfahrung der Feldenkrais-Stunde zu reflektieren und auf die Signale meines Körpers zu hören. Denn plötzlich war es, als ob sich etwas in mir gegen die Art der täglichen Behandlungen sträuben würde. Anfangs sehr unbewusst, sehnte ich mich nach dieser Erfahrung der Leichtigkeit und Mühelosigkeit, mit der ich mich bewegen konnte, ich wusste ja, es war möglich.
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Oft werden einem im Leben wichtige Zusammenhänge erst im Nachhinein klar bewusst. Meine erste Feldenkrais-Einzelstunde war der «Auslöser» dafür, dass ich begann nachzudenken, wie ich mit mir umgehen wollte, was dieser Unfall im Muster meines Lebens zu bedeuten hatte. Ich hatte über die Bewegung die Erfahrung gemacht: Die Möglichkeit, wieder gesund zu werden und mich am Leben freuen zu können, steckt in mir! Da tritt jemand zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in mein Leben, lässt mich innerhalb einer Stunde erfahren, dass da alle Möglichkeiten, meine derzeitige Situation zu verändern, in mir stecken. Da war jemand, der mir mit seinen Händen zeigte, du bist ganz. Du bist ein Mensch mit Möglichkeiten, die es zu fördern gilt. Du bist mehr als eine Diagnose, mehr als ein Unfallopfer, das nach einem bestimmten Schema zu behandeln ist. Diese ureigene Erfahrung, wieder als ganzer Mensch gesehen zu werden, nicht gesagt zu bekommen, was nicht geht, sondern dass mir gezeigt wurde, was geht; das war das Entscheidende an dieser Feldenkrais-Erfahrung. Ich suchte nach Möglichkeiten, mit der Feldenkrais-Methode weiterzuarbeiten, und entdeckte, dass ganz in der Nähe Feldenkrais-Seminare und Einzelstunden angeboten wurden. Schritt für Schritt lernte ich wieder mit meinem Körper umzugehen, wurde beweglicher und gleichzeitig lernte ich, die Verantwortung für mein Gesundwerden selbständig zu übernehmen.
Klientin 2, 52 Jahre Ich hatte einen Körper, dessen Schultern immer wieder steif und schmerzhaft wurden. Ich brachte ihn von Mal zu Mal zum Orthopäden oder zur Chiropraktikerin, zum Sportmediziner, zur Physiotherapeutin. Ließ den Kopf in die Glissonschlinge hängen, den Hals lang ziehen, den Rücken massieren, heiße Rollen die Muskeln erwärmen, die Arme in der Krankengymnastik Kreise drehen, mit Hau-Ruck die Wirbel einrenken, mir Tabletten verschreiben, mir richtige Sitzpositionen anweisen, bewegliche Stühle empfehlen, mir Entspannungstechniken beibringen, mir ein anderes Kissen, eine andere Matratze besorgen … Weder Ärztinnen und Therapeuten noch ich hatten an diesem Verfahren grundsätzlich etwas auszusetzen: die Schmerzen kamen, die Behandler manipulierten, medikamentierten, die Schmerzen gingen – für eine Weile. Dann waren sie wieder da. Diagnose: chronisch. Auch an solche Kreisläufe gewöhnt sich der Mensch, wie an den beständigen Wechsel des Wetters und der Jahreszeiten.
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Ungewohnt war im nächsten Winter die Gruppe der Menschen, die auf ihren Decken am Boden lagen, warme Socken an den Füßen trugen und nach den Worten des Feldenkrais-Lehrers sich vom Rücken auf die rechte Seite drehten. Ich folgte ihnen ebenso. Eine Freundin hatte mich mitgenommen, nachdem sie schon ein Wochenende lang «Bewusstheit durch Bewegung» hinter sich gebracht und ihre Nackenschmerzen verschwunden waren. Also dann: auf die rechte Seite liegen, rechten Arm im rechten Winkel vom Körper zur Seite gelegt, linken Arm mit der Handfläche nach unten auf den rechten Arm, die rechte Hand legen. «Berühren sich die Fingerspitzen?» werden wir gefragt. Nein, woher denn, denke ich, das geht ja gar nicht. Der Feldenkrais-Lehrer sagt: «Gleiten Sie mit der linken Hand nur einen Millimeter nach vorn auf die Fingerspitzen der rechten Hand zu – und wieder zurück. Und einen Millimeter mit den Fingerspitzen bei ausgestrecktem Arm auf den Ellenbogen des rechten Arms zu. Wiederholen Sie diese Bewegungen ein paar Mal. So leicht wie möglich, ohne den Atem anzuhalten, die Zähne zusammenzubeißen …» Kleinste Bewegungen, immer wieder, dazwischen ausruhen und vergleichen: Wie fühlt sich die rechte Seite an, wie die linke? Am Ende der Stunde gelingt es mir nicht nur ohne Mühe, die linke Hand auf die rechte zu legen, sondern in voller Länge darüber hinaus zu schieben. Die linke Schulter bewegt sich nach vorne, nach hinten, als würde sie über weiches Wasser gleiten. Ungewohnt war auch die Feldenkrais-Einzelstunde. Auf der Liege liegen und nichts tun. Sich nur bewegen lassen, loslassen. Was sollte ich loslassen? Meinen Körper, meine Gedanken, meine Gefühle? Die Bewegungen, langsam und vorsichtig tastend, meine Möglichkeiten sie zuzulassen, zeigten mir, dass es alte Muster waren, die mich hemmten. Aber nicht nur mein Körper hatte sie fest in sich gespeichert, sie hatten auch ihre Repräsentanz in Gefühlen, die nicht so ohne weiteres locker lassen wollten: Die Auswirkungen einer Bewegung des Nackens auf den Zustand des Beckens und umgekehrt, mir bis dahin unbekannt, riefen eine befremdliche Scham hervor. Oder eine Bewegung, die die Diagonale von rechtem Arm und linkem Bein spürbar macht. Sie ließ ein Gefühl der Stärke in mir aufkommen, das mich zunächst verwirrte. Mit der Zeit begannen diese Blockaden sich zu lockern, zu lösen. An ihre Stelle trat ein inneres Erkennen meines Körpers und zunehmende Vertrautheit mit der Funktionsweise seiner Beweglichkeiten. Mein Gang veränderte sich, meine Haltung. Mein gesamter Körperausdruck erfuhr, was ich als stabile Leichtigkeit bezeichne – eine Veränderung, die im Übrigen auch von Außenstehenden mit ähnlichen Worten registriert wurde. Die Selbstwahr-
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nehmung wie die Vorstellung der Bewegungsabläufe des eigenen Körpers, der beständige Vergleich der einen Körperseite mit der anderen, die Erfahrung des Aufliegens der Wirbelsäule auf dem Boden vorher und nachher, erlaubte jede geringfügige Qualitätsveränderung zu spüren. Die Lust am Erproben neuer Bewegungsmöglichkeiten stieg danach von Stunde zu Stunde. Und mit ihr die Fähigkeit, in einem dialektischen Verhältnis den objektiven Körper und subjektive Bilder der Körperlichkeit miteinander zu verbinden. Ich war auf dem Weg von «einen Körper haben» zu «im Körper sein». Habe ich diese Veränderung bewirkt? War es der Feldenkrais-Therapeut? Mir scheint, es war die gemeinsame Arbeit an einem Erkenntnisprozess, in dem beide sorgsam erkundeten, welche Bewegungsmöglichkeiten mir möglichst unangestrengt zumutbar waren. Der Zeit ließ, neue Erfahrungen zu integrieren, zu sichern. Eine gemeinsame Arbeit, in der ich mich nicht als Objekt, sondern als Subjekt des therapeutischen Settings begreifen konnte: Niemand war mir fraglos auf den Leib gerückt, niemand hatte ihn nach seinen Regeln zurechtgerückt, niemand meinen Körper falsch oder verkehrt geheißen, niemand mein Unvermögen, meine Unfähigkeit, bestimmte Bewegungen nicht selbstverständlich ausführen zu können, beklagt. Stattdessen erfuhr ich Respekt vor dem, was ich leisten konnte, ein Respekt, den ich mir selbst ebenso schuldig war. An diesem Punkt erschien mir nur logisch, warum mir die vorangegangenen orthopädischen, krankengymnastischen Therapien und Hilfsmittel nur kurzfristig hatten helfen können: Sie waren von außen an einem von mir selbst veräußerlichten Körper zugefügt worden, ohne dass ich die Art, wie meine Bewegung funktioniert, noch die der therapeutischen Wirkungsweise hätte erkennen, in ein Bewusstsein meines Körpers integrieren können. Jetzt aber war es mir möglich, meine landläufig als «hypochondrisch» charakterisierte Fähigkeit, jede kleinste Veränderung meines Körpers zu registrieren – ähnlich der detaillierten Wahrnehmung körperlicher Vorgänge, auf die in einer homöopathischen Behandlung Wert gelegt wird –, statt leidend zu erleben, aktiv umzusetzen. Gleichzeitig bekamen die gedanklichen Reflektionen meiner Psychoanalyse, die seelischen Zustände, eine deutlichere Entsprechung im Körper und umgekehrt. Meine inneren Räume, meine Bewegungsfreiheit nach allen Richtungen hin wurde – auch durch diese Wechselwirkung – noch größer, Erlebnisse wurden sinnlicher und Ziele leichter erreichbar.
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Klient 3, 44 Jahre Körperlich plagen mich zwei Probleme. Seit 16 Jahren habe ich Knieschmerzen und musste deswegen vor fünf Jahren mein Hobby Fußballspielen aufgeben. Bei einer Kniespiegelung vor zwei Jahren anlässlich einer Gonarthritis zeigten sich neben einer schweren Entzündung, ausgedehnte Abnutzungserscheinungen und eine zum Teil schwere Arthrose. Ich begann mit einem ambulanten Rehabilitationsprogramm, zusätzlich ging ich häufig Fahrradfahren und Schwimmen. Belastbarkeit und Beweglichkeit des Knies verbesserten sich erheblich, aber immer noch weit unter dem Niveau von vor zwei Jahren. Damals war langes Wandern, Basketballspielen und alpines Skifahren noch gut möglich. Vor einem Jahr begann mein zweites Problem an Bedeutung zu gewinnen. Seit 1973 litt ich an rezidivierenden Lumbalgien, die nun erstmals von einem umschriebenen Punkt ausgehend zu einer rechtsseitigen Skoliose führten. Zum Teil lag ich tage- bis wochenlang in entsprechender Haltung. Von chiropraktisch tätigen Ärzten und Krankengymnasten wurden wesentliche Blockierungen ausgeschlossen. Auch ein Computertomogramm ergab außer mäßigen Abnutzungserscheinungen keinen erklärenden Befund für meine Schmerzen. Zu dieser Zeit hatte ich das Gefühl, dass meine Probleme wahrscheinlich alle irgendwie zusammenhingen, ausgelöst durch schlechte Haltung, unphysiologische Bewegungen oder was auch immer. Die Feldenkrais-Methode kannte ich vom Hörensagen über Freunde und Bekannte, ohne dass ich mich damit intensiv beschäftigt habe. Ich stand ihr mit freundlicher Skepsis gegenüber: freundlich, weil ich den Eindruck hatte, dass sich die Methode um Seriosität bemüht, ganzheitlich ansetzt und keinen esoterischen HokusPokus verkauft; skeptisch, weil ich eigentlich nicht verstanden hatte (und habe), wie das funktionieren soll. Allerdings habe ich mich auch kaum damit beschäftigt. In mehreren Einzelstunden habe ich es dann sehr genossen, überwiegend «nichts» tun zu müssen, zu liegen, passiv bewegt zu werden, Körperhaltungen und Bewegungen nachzuspüren etc. Dabei gab es für mich auch «Aha-Erlebnisse» und Überraschungen, wenn ich spürte, wie Bewegungen links und rechts zum Teil unterschiedlich abliefen, wie verschieden es sich anfühlte einen Kreis links oder rechts herum zu gehen. Nach den Stunden hatte ich das Gefühl, als sei mein Körperschwerpunkt nach vorne verschoben worden, dass ich also nicht mehr über den Fersen, sondern über dem Vorfuß stand. Dieses Gefühl verschwand aber dann nach einer viertel bis halben Stunde. Insgesamt hatte ich nicht das Gefühl, dass die Behandlung die körperliche Grundbefindlichkeit oder -konstellation, die meine
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Beschwerden auslöst, erreicht hat – wenn es die überhaupt gibt. So erschien es mir dann nicht mehr lohnend, die Behandlung fortzusetzen. Vor einigen Monaten zeigte sich bei einem Kernspintomogramm eine entzündlich, ödematöse Durchtränkung im Bereich des vierten und fünften Lendenwirbels rechts, ohne Hinweise auf eine Bandscheibenentzündung. Daraufhin nahm ich nichtsteroidale Antirheumatika ein, worunter die Beschwerden schnell und nahezu vollständig zurückgingen. Gegenwärtiger Zustand ist, das bei manchen Bewegungen die Beschwerden wieder auftauchen und eine geringe Restskoliose auch ohne Medikamente besteht.
Was Sie in einer Gruppenlektion erwartet, können Sie durch ein kleines Experiment am eigenen Leib erfahren:
Bewusstheit durch Bewegung – ein kleiner Selbstversuch Während Sie diese Zeilen lesen, sitzen Sie wahrscheinlich, vielleicht liegen Sie auch oder stehen an einem Pult. Wie Ihre Leseposition auch sein mag, Sie sind mit einer mehr oder weniger großen Fläche mit der Umgebung verbunden. Spüren Sie bitte einen Augenblick nach, welcher Abschnitt Ihres Körpers am deutlichsten mit Ihrer Unterlage (Stuhl, Bett, Boden) verbunden ist. Je nach Ausgangslage spüren Sie ihre Sitzbeine, Ihre rechte Seite, Ihre linke Seite, Ihren Bauch oder Ihre Füße. Was müssen Sie tun, um einen anderen Teil von sich zu spüren? Sie haben es mit Sicherheit bereits getan: Sie haben sich bewegt. Jede Bewegung, und sei sie auch noch so klein, ermöglicht Ihrem Gehirn, ein aktuelles Bild von dem zu entwerfen, was Sie tun. Darf ich Sie nun bitten, aufzustehen und auf Ihrem Weg nach «oben» zu beobachten, wie sich Ihre Arme verhalten: Sind Ihre Hände mit der Funktion «Aufstehen» beschäftigt, das heißt stützen Sie sich ab? Oder stehen Ihnen Ihre Hände zur Verfügung (beispielsweise um das Buch mitzunehmen)? Im Stehen angekommen, spüren Sie bitte, wie sich Ihr Gewicht auf Ihre Füße verteilt: Welcher Fuß wird Ihnen klarer, deutlicher bewusst, dadurch, dass er mehr Gewicht dem Boden überträgt? Um dies zu erforschen, werden die meisten von Ihnen mit Ihrem Gewicht spielen, es nach rechts, nach links, nach vorne oder hinten verlagern. Indem Sie dieses tun, erfahren Sie bereits, was Moshé Feldenkrais mit «Bewusstheit durch Bewegung» gemeint hat. Bewegungen geben Ihnen die Möglichkeit,
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mehr von sich zu erfahren. Je spezifischer diese Bewegungen sind, desto mehr Möglichkeiten bieten sich. Um dies zu spüren, tun Sie bitte folgendes: Stellen Sie das Buch in Augenhöhe in ein Regal, so dass Sie die Anleitungen lesen können. Nehmen Sie so weit Abstand, wie die Buchstabengröße es Ihnen erlaubt. Nun lösen Sie ihre Augen vom Text und schauen nach links und wieder zurück zum Buch. Merken Sie sich bitte, wie weit Sie ohne Mühe, ohne besondere Anstrengung kommen, so dass Sie später vergleichen können, ob sich ihre Bewegungen verändert haben. Während Sie einige Male nach links schauen, beobachten Sie bitte, wie Sie meine Anleitung verstehen und in Bewegung umsetzen: Wandern nur Ihre Augen nach links oder drehen Sie den Kopf von Beginn an zusammen mit den Augen? Arbeiten nur ihre Augenmuskeln oder drehen ihre Halsmuskeln den Kopf auf der Wirbelsäule? Was macht Ihre rechte Schulter, während Sie nach links schauen? Bitte heben Sie den rechten Arm und bringen Sie Ihre rechte Hand zwischen das Buch und ihre Nasenspitze. Der Arm ist nicht gestreckt, sondern bildet einen Bogen, als ob sie jemanden umarmen. Ihre Hand kann locker sein und einfach hängen. In welcher Höhe befindet sich ihr rechter Ellenbogen? Nun schauen Sie auf die rechte Hand, während sie diese nach links bewegen und wieder zurück. Wiederholen sie diese Bewegung einige Male. Achten Sie bitte auf die Bewegung ihrer Nasenspitze im Raum. Bleibt die Nasenspitze regungslos oder verändert sie sich mit der Bewegung ihres Armes, ihrer Hand und ihrer Augen? Spüren Sie nunmehr deutlicher, was Ihre rechte Schulter tun kann, während Sie nach links schauen? Machen Sie bitte eine Pause, gehen ein paar Schritte und kehren zurück. Heben Sie wie zuvor Ihren rechten Arm und nehmen Sie Blickkontakt mit Ihrer rechten Hand auf. Bewegen Sie diesmal Ihre rechte Hand in der Höhe des Buches nach rechts, ohne den Winkel zwischen Oberarm und Unterarm zu verändern. Verfolgen Sie diese Bewegung mit den Augen, aber drehen Sie bitte gleichzeitig den Kopf nach links. Das heißt, die Nasenspitze bewegt sich nach links, ihre Augen und Ihre Hand bewegen sich nach rechts. Führen Sie diese Variante dreimal langsam und aufmerksam aus. Machen Sie eine kurze Pause, lassen Sie den rechten Arm wieder einfach nach unten hängen und schauen Sie dann noch einmal, wie ganz am Anfang, nach links. Beobachten Sie die Qualität dieser Bewegung. Fühlt Sie sich bereits leichter, einfacher an? Eine weitere Variante mag den Effekt verdeutlichen. Heben Sie erneut Ihren rechten Arm, die Hand in Nasenhöhe. Bewegen Sie Nasenspitze und Augen nach links und gleichzeitig Ihren rechten Arm nach rechts. Kehren
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Sie zurück zum Ausgangsort und wiederholen Sie diese Bewegungskombination dreimal. Spüren Sie, während der Pause, wie ihr rechter Arm entlang Ihrer rechten Seite hängt, und vergleichen Sie seine Länge mit der des linken Armes. Heben Sie bitte erneut den rechten Arm, schauen Sie auf Ihre rechte Hand und bewegen diesmal Hand, Nasenspitze und Augen nach links. Nach dreimaliger Ausführung dieser Bewegung machen Sie eine kurze Pause, ihr rechter Arm hängt entlang ihrer rechten Seite. Nach der Pause schauen Sie bitte, wie am Anfang, nach links und beobachten, wie weit Sie einfach, leicht und ohne Anstrengung schauen können. Was hat sich in Qualität und Umfang dieser Bewegung verändert? Was haben Sie über sich und Ihre Möglichkeiten, Bewegungen zu gestalten, erfahren? Manche von Ihnen werden spüren, wie ein kurzes Spiel mit verschiedenen Varianten den Spannungszustand Ihrer Muskulatur verändern kann. Es ist Ihnen möglicherweise bewusst geworden, dass sich Ihr Gehirn mit der Funktion «Umdrehen» beschäftigt hat. Wie stehen Sie jetzt? Wie verteilt sich Ihr Gewicht auf Ihre Füße?
Ich könnte weiter und weiter fragen, um Ihnen den Zusammenhang zwischen Bewusstheit und Bewegung aufzuzeigen. Aber bei all dem wird entscheidend sein, was Sie an sich gespürt und beobachtet haben: vor, während und nach der Lektion. Das Praktizieren der Feldenkrais-Methode, sei es in Form der Einzelarbeit oder in Rahmen des Gruppenunterrichtes bewirkt eine Veränderung der Selbstwahrnehmung während der Ausführung einer Aktion. Das, was Sie tun, erhält eine neue Qualität. Die Feldenkrais-Ausbilderin Beatriz Walterspiel formuliert den Effekt ihrer Arbeit folgendermaßen: «Sie gehen nicht bewusst, sondern Sie gehen, und Ihnen wird bewusst. Dadurch erhalten Sie die Freiheit, eine Entscheidung zur Veränderung zu treffen.»
Die Entwicklung der Feldenkrais-Methode Biographisches zu Moshé Feldenkrais 1904 in Slawuta (Ukraine) geboren, übersiedelte Feldenkrais 1919 als 15-Jähriger ohne seine Familie nach Palästina. Dort machte er erste Erfahrungen mit Jiu-Jitsu, einer östlichen Kampfsportart, die von deutschen Auswanderern gelehrt wurde.
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Er studierte Mathematik und Vermessungstechnik und verdiente sein Geld als Nachhilfelehrer. In den dreißiger Jahren studierte er in Paris Elektrotechnik. Der Promotion an der Sorbonne folgte eine Anstellung am Institut Juliot-Curie. In diesen Jahren kam es zu einer persönlichen Begegnung mit Prof. Jigoro Kano, dem Entwickler des Judo. Feldenkrais erhielt als erster Europäer den schwarzen Gurt zweiten Grades und gründete den Jiu-Jitsu Club de France. Er zählte zu den ersten Europäern, die befugt waren, Judo zu unterrichten. In seiner Veröffentlichung «Higher Judo» schreibt er: «Die meisten Leute betreiben Judo – entweder absichtlich oder unbewusst – auf der Suche nach Weiterentwicklung und um ihre Beziehungen zur Umwelt zu harmonisieren. Viele Lehrer erkennen nicht das Problem und die wahre Bedeutung von Judo als eine erzieherische Methode für bessere soziale Anpassung.» Durch den Kontakt zu seinen japanischen Lehrern lernte Feldenkrais auch Akupunktur kennen, mit deren Wirkmechanismen er sich ausführlich beschäftigte. Ebenfalls befasste er sich mit der Theorie und Praxis der Psychoanalyse und dem «Autogenen Training». Hypnose und Meditationstechniken, die zu veränderten Bewusstseinszuständen führen, wurden von ihm erprobt. 1940 emigrierte Feldenkrais nach England und arbeitete dort in der U-BootOrtungs-Forschung der Alliierten. Ein interdisziplinärer Austausch mit anderen Wissenschaftlern im Rahmen von Vortragsreihen führte 1949 zur Veröffentlichung seines Buches «Body and Mature Behavior». In dieser Sammlung von Vorträgen, die er 1943/44 vor der Association of British Scientific Workers in Fairlie (Schottland) gehalten hatte, schreibt Feldenkrais: Es kann behauptet werden, dass Menschen an eine Interaktion von Körper und Geist glauben. Einige Methoden messen dem Geist eine größere fundamentale Bedeutung zu, andere dem Körper. Beide haben gute Gründe für ihre Ansicht. Dies führt zu einer unglaublichen gedanklichen Verwirrung. Der Grund hierfür ist die künstliche Trennung des Lebens in physische und psychische Prozesse. Selbst angenommen, dass die beiden nur unterschiedliche Aspekte von ein und derselben Sache sind, ist bislang noch nicht viel Praktisches erreicht worden … (Feldenkrais, 1949, S. 4, Übers. d. Verf.) Während seines Aufenthaltes in England trat Feldenkrais mit seiner Methode erstmals an die Öffentlichkeit: Konfrontiert mit einer Knieverletzung, hatte er seine Vorerfahrungen praktisch umgesetzt und ein Verfahren entwickelt, um wieder schmerzfrei gehen zu können. Es kam zu einer Begegnung mit F. M. Alexander, dessen Einzelstunden sicherlich die Entwicklung der eigenen Methode beeinflussten. Feldenkrais begann die Wirkungen seines Selbsthilfeverfahrens an anderen auszuprobieren, zunächst in Einzelarbeit, später in Gruppen. 1950 wurde ihm von der Universität London der Dr. med. honoris causa angeboten, dessen Annahme
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er jedoch ablehnte. Hierzu schreibt sein langjähriger Freund Franz Wurm, den er in London kennen gelernt hatte: «Zwar hatte im Jahre 1950 die Universität London ihm den Dr. med. honoris causa angeboten, er aber hatte abgelehnt, weil er, um auch die Lizenz zum Praktizieren zu erhalten, noch hätte eine Prüfung ablegen müssen.» (Feldenkrais, 1996, S. 243). 1951 kehrte Feldenkrais nach Palästina zurück und lebte von nun an in dem neu gegründeten Staat Israel. Im Wohnzimmer von Freunden gab er seine ersten «Bewusstheit durch Bewegung»-Lektionen in Israel. Er unterrichtete immer größere Gruppen, immer mehr Menschen kamen zu seiner Einzelbehandlung. Zunächst lehrte und behandelte er parallel zu seiner Arbeit als Leiter der wissenschaftlichen Forschungsabteilung der israelischen Armee. Später widmete er sich ausschließlich der Perfektionierung des von ihm entwickelten heilsamen Verfahren. In den frühen fünfziger Jahren kam es zu einer ersten Begegnung zwischen Feldenkrais und Heinrich Jacoby, einem Musikpädagogen und Wegbegleiter von Elsa Gindler, der Reformfigur der deutschen Gymnastikbewegung. In Jacobys Art zu unterrichten fand Feldenkrais viele von ihm selbst gefundene Kriterien eines sinnvollen Unterrichts wieder. Er traf ihn in den folgenden Jahren mehrfach wieder, und seine Anregungen flossen in die Entwicklung der Feldenkrais-Methode ein. 1959 wurde er zum «Ersten internationalen Kongress für Entspannung» in Kopenhagen eingeladen. Dort schrieb er in einem Beitrag zu «Körper-Geist Beziehungen»: Die viel diskutierte Frage ist: Was kommt zuerst? Das «Gefühl» oder die motorische Reaktion? Im Grunde ist die Antwort darauf nicht wichtig, da wir eines Gefühls nicht gewahr werden ohne Mobilisierung des Motors. Ohne Körpereinstellung können wir nicht fühlen. 1968 veröffentlichte er das Buch «Der aufrechte Gang», später umbenannt in «Bewusstheit durch Bewegung». In der Einleitung schreibt Feldenkrais: Bleibt die Selbsthilfe, diese freilich für jedermann. Sie mag mühsam, auch schwierig sein, aber sie ist für jeden, der sich Änderung und Besserung noch wünschen kann, praktisch möglich und durchführbar. Ebenfalls 1968 begann er in Israel seine erste offizielle Ausbildungsgruppe mit 15 Schülern. Für seine Arbeit mit Gruppen unter verbaler Anleitung hatte er inzwischen den Namen «Awareness Through Movement», auf Deutsch «Bewusstheit durch Bewegung» gewählt. Die von ihm entwickelte manuelle Einzelarbeit nannte er «Funktionale Integration». 1975 begann Feldenkrais eine zweite Ausbildung in den USA mit 60 Teilnehmern. Es kam zu Kontakten mit Gregory Batson, Heinz von Foerster und Karl Pri-
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bram, Wissenschaftlern, die von Feldenkrais' Methode beeindruckt waren und wichtige Hinweise für das damalige theoretische Verständnis der zugrundeliegenden Prozesse gaben. Er traf Dr. Milton Erikson, dessen Weiterentwicklung der Hypnotherapie ihn sehr beeindruckte. Feldenkrais erhielt gegen Ende seines Lebens Angebote für Lehrstühle an verschiedenen Universitäten, in seinen Augen «zwanzig Jahre zu spät» (F. Wurm in Feldenkrais 1996, S. 243). Die letzte von ihm selbst geleitete Ausbildung fand 1980–1983 in den USA statt, mit nunmehr 230 Teilnehmern. Die von ihm erhoffte breite wissenschaftliche Diskussion und gesellschaftliche Anerkennung seines methodischen Vorgehens blieb ihm zu Lebzeiten versagt. Moshé Feldenkrais starb 1984 in Israel.
Ein Knieproblem stand am Anfang Dr. Moshé Feldenkrais war in den vierziger Jahren durch eine immer wieder aufflackernde Knieverletzung gezwungen, sich mit Beschränkungen seiner Beweglichkeit auseinander zu setzen. Dies ging so weit, dass er vor der Entscheidung stand, sein instabiles Kniegelenk versteifen zu lassen; die Möglichkeiten moderner Sportmedizin gab es damals noch nicht. Feldenkrais beobachtete: Je mehr er sich bemühte, «richtig» zu gehen, desto «schlechter ging es». Das gewohnte Bewegungspotential, das ihm als erstem Europäer den schwarzen Gurt in Judo beschert hatte, schien unendlich weit weg. Er machte jedoch auch die Beobachtung, dass es durchaus Situationen gab, in denen sein Bein spontan funktionierte. Zum Beispiel, als er auch sein anderes Bein verletzt hatte und gezwungen war, auf ein Klingeln hin die Wohnungstüre zu öffnen. Feldenkrais war fasziniert von dieser Reaktion seines Nervensystems. Diesen Zustand des Funktionierens genauer zu verstehen und herbeiführen zu können, wurde sein Ziel. Seine Erfahrungen als Judo-Lehrer, als systematisch forschender Wissenschaftler und sein kultureller Hintergrund kamen nun zum Tragen: Selbsthilfe, als Mittel zu überleben, war für ihn seit frühester Jugend eine unabdingbare Notwendigkeit. Feldenkrais ließ sich sein Bein nicht versteifen, gab die Heilung nicht in andere Hände, sondern entwickelte eine Methode, sich selbst zu helfen. Er kam auf die Idee, sich auf den Boden zu legen und ausgehend von verschiedenen Ausgangsstellungen die Qualität seiner Bewegungen zu untersuchen. Bodenübungen des Judo gaben zunächst den funktionellen Rahmen. Er fand heraus, dass langsame, kleine Bewegungen sich als wirksam erwiesen. Er kombinierte sie zu komplexeren Gebilden, in der Art, wie Kleinkinder zunächst einfache Bewegungen ausführen, um dann wie zufällig auf komplexere Funktionen wie Aufstehen, Gehen etc. zu stoßen. Kinder orientieren sich hierbei nicht an vorbe-
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stimmten Zielen, sondern nehmen sich Zeit, ihr eigenes Körpergespür zu entwickeln. Ihr Selbstbild entwickelt sich zusammen mit ihrem Körperbild in Zusammenhang mit den Aktionen, die sie lernen auszuführen. In unzähligen Selbstversuchen entwickelte Feldenkrais Bewegungsfolgen, die sich für ihn und viele andere als hilfreich erwiesen. Auch wenn sein Forschen Spiel und Intuition einschloss, verhielt sich Feldenkrais im klassischen Sinne wissenschaftlich: Aufgrund einer Beobachtung entwickelte er eine Arbeitshypothese, die er dann durch systematische Versuche auf ihre Richtigkeit hin überprüfte. Keine Feldenkrais-Lektion ist zufällig entstanden. Zufall mag seine Aufmerksamkeit auf die jeweils relevanten funktionellen Zusammenhänge gelenkt haben, spielerisch setzte er sich damit auseinander, aber er arbeitete an der Optimierung der Bewegung mit wissenschaftlicher Genauigkeit. Er orientierte sich im Spiel mit Bewegung an der spürbaren Qualität, die durch wiederholtes Ausführen einer Bewegung, mit einer fragenden Einstellung, möglich wird. Sein Messinstrument war sein eigener Körper, der, mit Fühlern und einen Verarbeitungssystem ausgestattet, in der Lage war, über die Effekte einer Bewegung Auskunft zu geben. Nachdem Feldenkrais durch die Anwendung seiner Bewegungsfolgen zu einem verbesserten Bewegungsverhalten gefunden hatte, begann er seine Bewegungen zunächst manuell, nonverbal weiterzugeben. Erst später entwickelte er die Gruppenarbeit. Franz Wurm, Freund und Übersetzer von Feldenkrais, schildert in dem Vorwort zu «Das starke Selbst» (Feldenkrais, 1992) den Beginn der GruppenLektionen: 1947 arbeitete Feldenkrais zum ersten Mal mit Gruppen, genauer: mit einer kleinen Gruppe von Freunden und Bekannten. Einmal in der Woche kam die Gruppe – zu der auch der Übersetzer gehörte, nachdem er kurz vorher Feldenkrais' Zimmernachbar geworden war – im Londoner Budokwai zusammen. Für die Arbeit von Moshé Feldenkrais war dies ein wichtiger Einschnitt: Hatte er bisher seine Schüler wortlos durch seine Hände unterrichtet (diese Technik hat er später «Funktionale Integration» genannt), so stand er jetzt vor der Aufgabe, entsprechende Vorgänge in den Mitgliedern der Gruppe durch verbale Anweisungen auszulösen. So entstanden die ersten Lektionen in «Bewusstheit durch Bewegung». Feldenkrais hatte am eigenen Leib erfahren, was ihm durch die Gestaltung eines somatopsychischen Lernprozesses mit Hilfe von Bewegungen möglich wurde. Diese heilsame Arbeit am eigenen Verhalten stellte er bereits in den vierziger Jahren dem damaligen Therapieverständnis gegenüber, dessen autoritäre Prägung ihm unzweckmäßig erschien. Feldenkrais entdeckte eine tiefe Weisheit, die dem lebendigen Körper innewohnt. Er stellte Zeit seines Lebens die besondere Lernfähigkeit, mit der Menschen ausgestattet sind, in den Vordergrund und ermunterte andere sich selbst zu helfen, anstatt die Heilung zu delegieren. Sein Konzept
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der Weiterentwicklung von Fähigkeiten, die in jedem schlummern, anwendbar zu vermitteln und Menschen praktisch zur Verfügung zu stellen – nicht theoretisch zu lehren – erwies sich für ihn als große Herausforderung. Der Weiterentwicklung seines prozessorientierten Ansatzes widmete er die zweite Hälfte seines Lebens.
Grundannahmen von Moshé Feldenkrais Die Einsicht, dass Körper und Geist, Strukturen und Funktionen, untrennbare Einheiten sind, legte Feldenkrais der Entwicklung seiner Methode zu Grunde. Er ging bei der Entwicklung seines Konzeptes von folgenden Grundannahmen aus: Chronische Beschwerden, die sich aufgrund eines Fehlgebrauches der Körperstrukturen entwickelt haben, sind durch Lernprozesse veränderbar. Da seit frühester Kindheit Lernprozesse mit sensomotorischen Erfahrungen verbunden sind, ist der Einsatz von Bewegung für die Gestaltung dieser Lernprozesse das Mittel der Wahl. Da weder theoretisch noch praktisch Motorik und Sensorik voneinander zu trennen sind, ist es sinnvoll, sie didaktisch miteinander zu verknüpfen. Bewegungen drücken nicht nur den Zustand des Nervensystems aus, sie sind auch anwendbar, um dessen Zustand zu verbessern. Die Feldenkrais-Methode verwendet Bewegungen, verbal angeleitet oder manuell vermittelt, als Informationsquelle für die Neugestaltung bzw. Umorganisation sensomotorischer Regelkreise. Seine Techniken bewirken daher eine Änderung in der Selbstorganisation, die sich in einer Tonusregulierung der Skelettmuskulatur ausdrückt. Aus einem Zustand relativer Unordnung, der sich in der Qualität der spontan ausgeführten Bewegungen ausdrückt, kann durch Bewegungen ein Zustand höherer Ordnung werden. Dieser Zustand wird spürbar durch eine wahrnehmbare Verbesserung einer Funktion, wie Umdrehen, Aufstehen, Gehen. Motorische Zentren reagieren auf Bewegungsfolgen, die langsam, mit Aufmerksamkeit, vermittelt werden und auf einem hohen funktionellen Verständnis beruhen. Das Gehirn ist bereit, Angebote anzunehmen und kreativ zu nutzen, wenn diese Angebote entsprechend vermittelt werden. Es scheint Funktionen zu erkennen, wenn die Darbietung bestimmten Regeln folgt. Variationen des motorischen Angebotes bezüglich der Größe und der Geschwindigkeit sind in einem fortlaufenden Behandlungsprozess nötig. Im Laufe von 30 bis 40 Einzelstunden kann die Fähigkeit zu einem besseren Selbstgebrauch im Alltag entwickelt werden. Durch verschiedene Ausgangsstellungen im Liegen, bis hin zum Sitzen, Stehen und Gehen wird das Nervensystem angeregt, die Organisation von Bewegung zu schulen. Dieser Lernprozess wirkt im Alltag nach und hilft Aktivitäten so zu gestalten, dass die erforderlichen Bewegungen mit Qualität ausgeführt werden und nicht nur mit Willenskraft. Die Schwerkraft als konstanter Teil der Umwelt gestaltet die Entwicklung der verschiedensten menschlichen Funktionen mit. Eine dauerhafte Verbesserung gestörter Funktio-
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nen, im psychischen wie im physischen Bereich, ist nur zu erreichen, wenn Menschen in unterschiedlichen Aktionen in Bezug zum Schwerkraftfeld, eine Verbesserung der Qualität ihrer Handlungen spüren. Aktionen, die mit weniger Energieaufwand ausgeführt werden, in den Gelenken weniger Wärmeenergie durch Reibung erzeugen, werden vom Gehirn als vorteilhaft erkannt. Feldenkrais ging von einem gewaltigen Entwicklungspotential des menschlichen Gehirns aus, das durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung entdeckt werden kann. Eine Handlung, die mit besserer Qualität ausgeführt wird, erfährt eine bestimmte emotionale und kognitive Wertung. Eine Weiterentwicklung von motorischen Fähigkeiten, die zu ökonomischeren Verhalten führen, führt auch zu einer Entwicklung des Denkens und Fühlens. Menschen, die sich mit der Entwicklung ihrer eigenen Bewegungsqualität beschäftigen, verspüren einen Zustand höherer Präsenz, entdecken kreative Möglichkeiten und eine größere Lebendigkeit.
Grundbegriffe der Feldenkrais-Methode Um die Theorie und Praxis der Feldenkrais-Methode genauer zu beschreiben, ist es zunächst sinnvoll, einige häufig verwandte Grundbegriffe zu erläutern. Folgende Begriffe tauchen in der Feldenkrais-Arbeit immer wieder auf: Selbstbild, menschliche Bewegung, Entwicklung, reifes Verhalten, Lernen, Selbsterziehung, Bewusstheit. Sie wurden durch Feldenkrais immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen verwendet und bedürfen einer Klärung.
Selbstbild Schon wenige Wochen nach der Befruchtung beginnt der menschliche Fötus, sich spontan zu bewegen. Zu einem Zeitpunkt, an dem noch keine sensorischen Rezeptoren entwickelt sind, werden erste Bewegungen ausgeführt. Anders ausgedrückt: Die motorische Entwicklung geht der sensorischen voraus. In dem Moment, in dem sich Bewegungsfühler entwickelt haben, ist die Motorik jedoch nicht mehr von der Sensorik zu trennen. Von diesem Zeitpunkt an kann man davon ausgehen, dass Bewegungen, ob intrauterin oder später extrauterin unter Einfluss der Schwerkraft ausgeführt, jedem Menschen dazu dienen, sich zu erfahren. Unter dem permanenten Einfluss der Eigenwahrnehmung, verbunden mit bestimmten Bewegungen, entwickelt der Mensch ein Bild seines Körpers. Dieses Bild ist jedoch nicht zweidimensional zu verstehen, sondern muss räumlich gedacht werden, da wir uns ja in unserer Länge, Breite und Höhe wahrnehmen, immer bezogen zur Erdoberfläche, an die wir aufgrund der Schwerkraft gebunden sind. Die Schwerkraft übt einen konstanten Einfluss auf unser Nervensystem aus,
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dem alle motorischen Lernprozesse unterworfen sind. Der sich entwickelnde Organismus erfährt sich also dreidimensional, in Bewegung, und lernt zwischen oben und unten, vorne und hinten, rechts und links, innen und außen zu unterscheiden. Zu dieser Dreidimensionalität, die mit Sinneswahrnehmung und Bewegung verknüpft ist, kommen im Laufe der weiteren Entwicklung gleichzeitig stattfindende Denkprozesse hinzu. In der Evolution erwies sich neben der Verknüpfung von Bewegung, Sinneswahrnehmung und Denken die Bewertung einer Situation durch Gefühle als notwendig und sinnvoll. Durch die Verbindung dieser vier Elemente – Bewegung, Sinneswahrnehmung, Emotionen und Denken – wurde der Mensch fähig, sich seiner selbst bewusst zu werden und sich ein Bild seiner selbst zu entwerfen. Es bleibt festzuhalten, dass dieser Prozess permanent an Bewegungserfahrungen im Schwerkraftfeld gebunden ist. Die Qualität dieser Bewegungen wirkt an der Gestaltung des Selbstbildes mit.
Menschliche Bewegung Bei keinem anderen Organismus ist eine derart komplexe motorische Entwicklung zu beobachten wie beim Menschen. Motorisches Lernen beinhaltet nicht nur die Fähigkeit, eine Aktion durch eine andere zu ersetzen. Vielmehr lernt ein sich entwickelndes menschliches Nervensystem, die Dynamik des eigenen Tuns zu gestalten und zu beurteilen. Zu jedem Zeitpunkt sind an motorische Lernprozesse Sinneswahrnehmungen, Emotionen und Denkvorgänge gebunden. Selbstbild und motorische Fähigkeiten entwickeln sich nicht nur gemäß der genetischen Ausstattung, die das Individuum mitbringt, hinzu kommen auch individuelle Lernprozesse, die auf unterschiedlichen motorischen Erfahrungen und Möglichkeiten beruhen. Feldenkrais führt folgende Gründe an, warum er Bewegung als Mittel zur Selbstverbesserung vorschlägt: a. b. c. d. e. f. g. h. i.
Das Nervensystem ist vorwiegend mit Bewegung beschäftigt. Die Qualität von Bewegung ist leichter zu erkennen. Wir haben von Bewegung größere Erfahrung. Dass sich einer bewegen kann, ist wichtig für seine Selbsteinschätzung. Jede Muskeltätigkeit ist Bewegung. Bewegungen spiegeln den Zustand des Nervensystems. Bewegung ist die Grundlage der Bewusstheit. Atmen ist Bewegung. Sinnesempfindung und Denken beruhen auf Bewegung. (Feldenkrais, 1996, S. 59–65)
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Entwicklung Die Entwicklungsneurologie versteht unter entwicklungsbedingten Änderungen sowohl quantitative Änderungen der Zahl der Elemente des Nervensystems als auch das Auftreten von qualitativ neuen Strukturen und Funktionen (Prechtl in Remschmidt, Schmidt, 1988, S. 12). Auch Feldenkrais weist auf qualitative Unterschiede hin, die er bezüglich der Ausübung menschlicher Tätigkeiten beobachtet hat (Feldenkrais, 1996, S. 49). Er unterscheidet drei Entwicklungsstufen: der ersten Stufe spielen sich Tätigkeiten wie Gehen, Laufen und Tanzen bei • Auf jedem Individuum in etwa gleicher Weise ab. Man kann von einem natürlichen
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Erbe sprechen. Bei einem Naturvolk gleichen sich die Gangbilder mehr, als in einer Population von Großstadtbewohnern. Die individuellen Abweichungen von dem durch menschliche Struktur und Funktion vorgegebenen Idealgebrauch sind gering. Einer zweiten Stufe lassen sich individuell gestaltete motorische Fähigkeiten zuordnen, die sich durch Ausprobieren entwickelt haben. Neue menschliche Fähigkeiten können entstehen. Feldenkrais nennt als Beispiele das Werfen eines Bumerangs in Australien, das Kraulschwimmen der Südseeinsulaner und das Judo der Japaner. Individuen finden neue motorische Varianten und werden nach und nach von anderen kopiert. Auf der dritten Stufe menschlicher Entwicklung finden methodische Analysen der Tätigkeiten statt, es entsteht Wissen, das in Zukunft dafür verwandt wird, die Tätigkeiten zu lehren. Feldenkrais schreibt hinsichtlich der gesellschaftlichen Auswirkungen: «Wir sehen heute, wie sich der Entwicklungsprozess fortsetzt, der anstelle individueller und oft intuitiver Verfahrensweisen, bewusst konstruierte Methoden und Systeme setzt …» (Feldenkrais, 1996, S. 51).
Feldenkrais betont die Vorzüge der dritten Entwicklungsstufe, weist aber auch auf mögliche Gefahren hin. So verlieren viele Menschen die Verbindung zu natürlichen Fähigkeiten der ersten Entwicklungsstufe. Den Zugang zu finden zu somatopsychisch verankertem Wissen, das in jedem menschlichen Individuum ruht, wird für viele sehr schwer. In einer Zeit der Systematik und Methodik leiden die Funktionen der ersten Entwicklungsstufe. Eine organische Individualentwicklung, die die qualitative Ausformung von Grundfunktionen wie Atmen, Sitzen, Gehen, Stehen absichert, ist in einer modernen Gesellschaft erschwert. Für Feldenkrais ergibt sich folgende Konsequenz: Er schlägt vor, die Möglichkeiten der dritten Entwicklungsstufe für die Gestaltung von Tätigkeiten der ersten und zweiten Entwicklungsstufe zu nutzen.
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Durch systematisches Tun können wir Verhaltens- und Handlungsweisen finden, die unseren inneren und uns eigentümlichen Bedürfnissen entsprechen und die wir auf dem «natürlichen» Weg vielleicht nicht finden würden, weil Umstände und äußere Einflüsse uns in Bahnen gelenkt haben mögen, in denen weiterzukommen unmöglich ist. (Feldenkrais, 1996, S. 53) Er schreibt an anderer Stelle: Begriffe wie Selbstkorrektur, Besserung, Training der Bewusstheit und andere beschreiben hier lediglich verschiedene Aspekte dessen, was wir Entwicklung nennen. Entwicklung betont das harmonische Zusammenwirken von Struktur, Funktion und Leistung. (Feldenkrais, 1996, S. 79)
Reifes Verhalten Für Feldenkrais bedeutet Reife nicht etwa das Erreichen eines stationären Zustands, in dem sich nichts mehr verändern kann. Er betrachtet dies als widersprüchlich zu der Dynamik des Lebens. Er schreibt vielmehr: Beim reifen Individuum sucht die bewusste Kontrolle unter all den existierenden, durch vorangegangene Erfahrungen gebildeten (Verhaltens-) Mustern diejenigen aus, die der gegenwärtigen Situation am angemessensten sind. Es mögen Fehler im Abschätzen der Angemessenheit der betreffenden Antwort vorkommen. Diese Fehler veranlassen ein reifes Individuum, beim wiederholten Auftreten der Situation andere Antworten zu finden. (Feldenkrais, 1949, S. 52, Übers. d. Verf.) Reifes, menschliches Verhalten beinhaltet für Feldenkrais die Fähigkeit, auf spezifisch menschliche Art zu lernen. Er schreibt in diesem Zusammenhang: Die Schwäche von instinktiven Verhaltensmustern, die lange Wachstumsperiode der willentlichen Innervationen sind beim Menschen hauptverantwortlich für die unbegrenzte Anzahl an verschiedenen Möglichkeiten, die einfachsten und fundamentalsten Handlungen auszuführen. Durch sein Lernverhalten unterscheidet sich der Mensch von allen anderen Lebewesen. Die spezifisch menschliche Eigenschaft ist seine Art zu lernen. (Verhaltens-) Muster können aus Elementen, die in einer früheren persönlichen Erfahrung bereits zusammengefügt wurden, neu (der gegenwärtigen Situation entsprechend) gebildet werden. Dies ist gleichzeitig die Grundlage für das (spezifisch menschliche) Vorstellungsvermögen. Menschliches Lernen unterscheidet sich grundsätzlich von reinem Reflexkonditionieren, das beim Menschen von zweitrangiger Bedeutung ist. (Feldenkrais, 1949, S. 148, Übers. d. Verf.)
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Lernen Wir Menschen müssen fast alles, was uns später dann ganz selbstverständlich erscheint, wie Stehen, Laufen, Sprechen, aber auch Wahrnehmung und Denken, erst lernen. Dies hat folgende Konsequenz: Menschen lernen auch mit der Zeit, entsprechend ihren Erfahrungen zu funktionieren. Angeborene Verhaltensmuster liegen zwar bereit und müssen mit den Schwerkraftgesetzen, aber auch mit kulturell bedingten Erziehungsmustern in Verbindung gebracht werden. Sogar Reflexbewegungen wie Schlucken und Atmen enthalten erlernte Teilmuster, die, abhängig von der Umgebung, erworben werden. Erfolgt eine Integration von unzweckmäßigen Teilmustern in die Grundfunktionen, ergibt sich die Notwendigkeit, dies später zu korrigieren. (Künzler, 1999) Sinnvolles Verhalten heißt für Feldenkrais, die somatopsychisch durch Bewegung verankerten, nicht zufrieden stellenden Verknüpfungen, die sich im Laufe eines Lebens ergeben haben, lernend zu verändern. Hierzu ist ein Prozess der Selbsterziehung unter Einbeziehung von Körper und Geist nötig. Der FeldenkraisLehrer Michael Schründer schreibt in diesem Zusammenhang: «Die Feldenkrais-Methode ist ein spezielles Verfahren zur Gestaltung von Lernprozessen, welche eine zweckmäßige Bewegungsorganisation betreffen.» (Schründer, 1990, S. 1)
Erziehung und Selbsterziehung Jeder Mensch wird mit seinem biologischen Erbe in ein bestimmtes soziales Umfeld geboren, das die Entwicklung seiner Tätigkeiten, Handlungen, Fähigkeiten und nicht zuletzt seines Selbstbildes beeinflusst. Jede Gesellschaft fordert von ihren Mitgliedern bestimmte Anpassungsleistungen, die durch Erziehung vermittelt werden. Ein Individuum, das sich damit abfindet, wird eine bestimmte Qualität in seinen Tätigkeiten erreichen. Wer ein «reifes Selbst» im Sinn von Feldenkrais erreichen möchte, muss den gesellschaftlichen Erziehungsprozess durch einen Prozess der Selbsterziehung ergänzen. Er muss bereit sein, aus sich heraus zu lernen. Das systematische Untersuchen von vermeintlich banalen motorischen Handlungen lässt spürbar werden, wie komplex und einfach zugleich Veränderung sein kann. Die Weiterführung dieses Prozesses im Sinne einer selbstverständlich ablaufenden Analyse des eigenen Tuns ist nötig. Dies kann mit der Zeit von immer wiederkehrenden störenden Verhaltensmustern befreien, die sich durch die Fremderziehung zwangsläufig ergeben haben. Die Folge ist eine Wahlmöglichkeit im eigenen Verhalten.
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Bewusstheit Um Bewusstheit von Bewusstsein zu unterscheiden, schreibt Feldenkrais: Ich kann bei vollem Bewusstsein die Treppe meines Hauses hinaufgehen und doch nicht wissen, wie viele Stufen ich hinaufgegangen bin. Um herauszufinden wie viele es sind, werde ich zum Beispiel ein zweites Mal über die Treppe gehen, meine Aufmerksamkeit dabei auf das lenken, was ich tue, mir gleichsam zuhören und die Stufen zählen. (Feldenkrais, 1996, S. 78) Für Feldenkrais sind Bewusstheitsprozesse untrennbar mit Bewegungen bzw. Bewegungsabsichten verbunden. Die Koppelung des Aufmerksamkeitsmechanismus an Bewegungen ist eine notwendige Voraussetzung für Bewusstheit. «Vorgänge in seinem Zentralen Nervensystem nimmt einer nicht wahr, solange er sich nicht der Änderungen bewusst wird, die sich in seiner Körperhaltung vollzogen haben.» (Feldenkrais, 1996, S. 62). An anderer Stelle schreibt er: Dass eine Pause möglich ist zwischen der Entstehung der Denkfigur zu irgendeiner bestimmten Handlung und deren Ausführung als Handlung, bildet die physische Grundlage der Bewusstheit. Diese Pause ermöglicht es einem, das zu prüfen, was in ihm vorgeht, wenn seine Absicht zu handeln entsteht, wie auch während sie ausgeführt wird. Dass er sein Tun hinausschieben, d. h. die Zeitspanne zwischen der Absicht und deren Ausführung verlängern kann, macht es dem Menschen möglich, sich selber kennen zu lernen. (Feldenkrais, 1996, S. 73)
Die Gestaltung der Lernprozesse in der Feldenkrais-Arbeit Moshé Feldenkrais war kein Bewegungs-Lehrer, sondern er verwendete Bewegungen, um Individuen die Möglichkeit einer Weiterentwicklung spürbar werden zu lassen: Sein Anspruch war, Menschen das ihnen innewohnende Potential entdecken zu lassen, das der Eine beispielsweise zur Verlangsamung seiner arthrotischen Gelenkveränderungen, der Andere zum besseren Klavierspielen gebrauchen kann. Er betonte die Untrennbarkeit von Körper und Geist, von Strukturen und Funktionen und entwickelte eine Methode, die spürbar macht, welches Potential mit dem aufrechten Gang verbunden ist.
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Aufrichtung: Segen und Fluch Die Aufrichtung, die Tatsache, dass der Mensch als einziges Säugetier sein Becken dauerhaft unter den Kopf brachte, hatte enorme Folgen für die Artentwicklung. Im Allgemeinen werden in diesem Zusammenhang die damit verbundenen Vorzüge betont. Die Hände wurden frei für den Gebrauch von Werkzeugen, welcher wiederum mit der Entwicklung geistiger Fähigkeiten einherging. Menschen sind mit der Fähigkeit ausgerüstet, in Bruchteilen von Sekunden den Raum um sich zu erfahren, zu beurteilen, ihn zu beherrschen. Kein anderer Säuger kann sich so schnell um seine eigene Achse drehen. Neben seiner Fähigkeit zu denken besitzt der Mensch, physikalisch betrachtet, durch die vertikale Anordnung seiner Skelettelemente ein hohes Maß an potentieller Energie. Das ganze Bewegungssystem ist darauf ausgelegt, potentielle Energie in kinetische Energie umzuwandeln. Der menschliche Organismus ist gestört, wenn diese Umwandlung nicht verlaufen kann, wie sie biologisch gedacht ist, nämlich fließend und leicht. Nach dem Energieerhaltungssatz kann Energie nicht verloren gehen. Wenn die durch die Aufrichtung gespeicherte potentielle Energie nicht durch einen flüssigen Bewegungsablauf in kinetische Energie umgewandelt wird, entsteht Wärme durch Reibung. Bewegungen haben direkte Auswirkungen auf Gefühle des Menschen, sein Gefühl im Raum, seine Selbstwahrnehmung in Bezug zur Umwelt. Menschen orientieren sich durch Bewegungen. Bewegungen wirken auf körpereigene Strukturen, die möglichst nicht durch Reibungswärme belastet werden sollten. Die Evolution hat den Menschen befähigt wahrzunehmen, wie er sich fühlt. Das heißt biologisch, dass der Mensch die Fähigkeit hat, den Zustand seiner Selbstorganisation zu spüren und zu beurteilen. Die Natur legt Verhaltensänderung immer dann nahe, wenn bewusst wird, dass die Umwandlung von potentieller in kinetische Energie nicht optimal funktioniert. Ein einfaches Beispiel: Menschen verändern die Qualität ihrer Bewegungen, wenn sie müde werden. Sie stolpern, laufen unsicherer. Eine einfache Maßnahme ist schlafen. Nach einer Aufwachphase fühlen sich die Bewegungen meist flüssiger, leichter an. Jedes Tier nützt diesen Mechanismus, die Selbstorganisation des Nervensystem zu verbessern. Bei Katzen und Hunden lässt sich in der Phase des Aufstehens noch etwas beobachten, was auch Menschen können: Sie recken und strecken sich. Betrachtet man eine Katze genauer, wird man feststellen, dass das Recken und Strecken nicht zufällig erfolgt. Die Katze macht vielmehr sinnvolle Bewegungen, die sie in der Phase des Aufwachens auf spätere motorische Aufgaben vorbereiten. Jedes Säugetier scheint Bewegungen zu gebrauchen, um den Funktionszustand seines Nervensystems zu optimieren. Bezeichnenderweise hat das am höchsten entwickelte Säugetier, der Mensch, der zudem spezifische Mechanismen der Selbstwahrnehmung und -beurteilung entwickelt hat, oft den Kontakt zu diesen bewegungsvermittelten Regulations-
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mechanismen verloren. Es kann vermutet werden, dass dies mit der komplexen Verarbeitung von Zeit im Zusammenhang steht, die der bewusste Geist zu leisten hat. Nur der Mensch kann sich einbilden, mehrere Sachen gleichzeitig machen zu können. Eine Katze reckt sich und streckt sich und steht dann erst auf. Was bedeuten diese Überlegungen im Zusammenhang mit der FeldenkraisMethode? Durch seine Selbststudien hatte Feldenkrais die Möglichkeiten einer optimalen Wiederherstellung seiner motorischen Fähigkeiten erfahren. Nicht im Schlaf, der biologisch die Funktion hat, das Nervensystem zu reorganisieren, verbesserte er die Qualität seiner Motorik entscheidend, sondern im Wachzustand. Er fand heraus, dass die horizontale Ausrichtung der Körperachse, das Liegen in verschiedenen Positionen, optimale Anfangsbedingungen schafft, um sich bei Bewusstsein damit auseinander zu setzen, was man gerade tut und wie man es tut. Ein weiterer, wesentlicher Schritt war das Experimentieren mit langsamen, kleinen Bewegungen, die in einem funktionellen Zusammenhang stehen. Feldenkrais erkannte, welche Möglichkeiten zur verbesserten Selbstorganisation in seinem Nervensystem schlummerten und wie diese nutzbar sind. Feldenkrais-Lektionen enthalten Bewegungsfolgen, die, unter entsprechenden Bedingungen ausgeführt, direkte regulierende Rückwirkungen auf das Nervensystem haben. Funktionen, wie beispielsweise die Aufrichtung, werden entsprechend der strukturellen Vorgaben des menschlichen Körpers neu organisiert. Die dazu zu verwendenden Bewegungsorganisationen liegen bereit und werden durch die Bewegungsfolgen von störenden Teilmustern befreit. Feldenkrais sprach von parasitären Bewegungen und der Notwendigkeit, diese zu eliminieren. Seine Methode veranlasst das Nervensystem, das Ideal einer Bewegungsorganisation zu erkennen und zur Verfügung zu stellen. Im Laufe der Individualentwicklung hat jedes menschliche Nervensystem störende Teilmuster, verbunden mit den jeweiligen Entwicklungsmöglichkeiten, in typischer Art lernend integriert. Daraus ergibt sich, dass ein weiterer Lernprozess nötig ist, Störungen, die sich in der Art der Aufrichtung beobachten lassen, zu verändern. Da sich die störenden Teilmuster zweier Individuen niemals völlig gleichen, ist das Erleben der Wirkungen einer Feldenkrais-Lektion immer individuell. Worin sich die Bilder gleichen, ist die außen sichtbare, bessere Ausrichtung der Skelettelemente im Raum. Die Kopf-Becken-Relation im Raum nähert sich nach einer Feldenkrais-Lektion dem gewünschten Ideal an, in dem Sinne, dass das Becken mit Hilfe einer reaktionsfreudigen Wirbelsäule den Kopf trägt und keine überflüssige Haltearbeit entlang der Körperachse verrichtet werden muss. Der Mensch empfindet eine Fähigkeit, seine Aktivitäten mühelos zu gestalten, mit all den emotionalen und physikalischen Auswirkungen dieses Zustands.
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Korrekte Aktivität und ihre Beurteilung Feldenkrais schlägt folgende Kriterien für die Beurteilung korrekter Aktion vor (F. Wurm in Feldenkrais, 1989, S. 276): ein Körper sich aus einer Stellung in eine andere bewegt – etwa aus dem • Wenn Liegen ins Sitzen oder aus dem Sitzen ins Stehen –, so ist die Bahn eines jeden
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Knochens die gleiche, wie wenn er am Kopf oder am gestreckten Arm in die betreffende Stellung emporgezogen würde, das heißt, die kürzestmögliche Bahn. Die Muskulatur arbeitet so, dass sie die betreffende Stellung herbeiführt. Sie gehorcht dabei den Knochenbahnen. Bei idealer Haltung ist der Mobilisierungsgrad für jeden Muskel gleich, die Beanspruchung jedes Muskels proportional zu seinem Querschnitt. Diese drei Bedingungen entsprechen dem Maupertuis'schen Prinzip der kleinsten Wirkung. Der Energieaufwand ist minimal. Die Entropie ist an jedem Punkt der Bewegung und in jedem Augenblick ebenfalls minimal.
Eine Bewegung, die diese Kriterien erfüllt, wird sich leicht und mühelos anfühlen. Sie besitzt eine Qualität, die einem Beobachter auffällt. In diesem Zusammenhang stellt sich eine interessante Frage: Wie kommt es, dass Menschen, oftmals nur durch flüchtiges Hinschauen, die Qualität einer Bewegungshandlung beurteilen können? Seit Jahrtausenden setzen sich Menschen mehr oder weniger kriegerisch miteinander auseinander. Die Fähigkeit, blitzschnell zu erkennen, was der gegenüberstehende Körper ausdrückt, Aggression, Angst oder Schmerz, war in der Evolution extrem wichtig. Im Zusammenhang damit muss sich im Menschen ein inneres Bild entwickelt haben, was das arttypische optimale Bewegungsverhalten im Raum betrifft. In der Verhaltensforschung werden die Begriffe «Gestaltperzeption» und «Gestaltqualität» verwendet und folgendermaßen definiert: «Unter Gestaltperzeption versteht man einen berechnenden Wahrnehmungsmechanismus, der wichtige Konfigurationen aus weniger wichtigen Informationen herauspickt. Dieser Mechanismus beruht auf unbewussten statistischen Schätzungen.» (Marler and Hamilton 1966). Gestaltqualität ist eine mit Gestaltperzeption verbundene ästhetische Schätzung der wahrgenommenen Informationen (Prechtl, 1984, S. 180, Übers. d. Verf.). In der Feldenkrais-Arbeit spielt Gestaltperzeption und Gestaltqualität eine große Rolle. Sie sind jedoch nicht nur visuell vermittelt. Während der Einzelarbeit entwickelt sich durch die Berührung ein Bild der Bewegungsqualitäten des Klienten. Wie ein Judokämpfer die nächste Bewegung des Gegners spüren kann, kann
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ein Feldenkrais-Lehrer lernen wahrzunehmen, welche Bewegungselemente einem Klienten nicht zur Verfügung stehen und als Nächstes angeboten werden sollten. Feldenkrais sprach von der Notwendigkeit, sich vorstellen zu können, wie der Klient idealerweise seine Bewegungen organisieren könnte. Daraus ergibt sich oft, was er lernen muss, um dies auch zu tun.
Lernen zu lernen Wie Feldenkrais stets betonte, sind Lehren und Lernen zwei unabhängige Prozesse, und gewöhnlich korrelieren sie nicht miteinander (A. Baniel in Wilson, 1998, S. 255). Diese für Lehrer wie Schüler ernüchternde Erkenntnis beschäftigte Feldenkrais seit seinen Tagen als Nachhilfelehrer, später als Judo-Lehrer und gegen Ende seines Lebens als Lehrer seiner eigenen Methode. Anat Baniel, eine seiner engsten Mitarbeiterinnen, sagt hierzu: Es ist wichtig, Lernen zu erkennen, wenn es sich vollzieht; üblicherweise findet Lernen statt, bevor das Resultat, auf das man hofft, sichtbar ist. In meiner Praxis arbeite ich oft mit Kindern, die ernste Bewegungsprobleme haben, und ich muss mit dem anfangen, was sie lernen müssen. Ich muss wissen, dass das, was ich tue, funktioniert, auch wenn das, was ich erreichen möchte, erst in zwei Jahren auftaucht. (A. Baniel in Wilson, 1998, S. 256) In der Feldenkrais-Arbeit besteht die Aufgabe des Lehrers darin, ein Bild zu entwickeln, was der Klient lernen kann, damit er das, was er sich wünscht, erreicht: zum Beispiel Schmerzfreiheit, besseres Klavierspiel, einen besseren Aufschlag beim Tennis und vieles mehr. Hierzu muss der Feldenkrais-Lehrer nicht Schmerztherapeut, Klavierlehrer oder Tennislehrer und schon gar nicht Lebensberater sein. Seine Mittel sind die von Feldenkrais hinterlassenen Bewegungsfolgen, die Menschen die Erkenntnis möglich machen, dass sie in der Lage sind, sich lernend zu verändern. Die Veränderungen werden spürbar in der Qualität der Aktionen, die der Klient zu verbessern wünscht. Das Erleben des eigenen Potentials, das immer somatopsychisch verankert ist, öffnet den Weg zu vielen weiteren Lernprozessen, die, nach einer Zeit der Reifung, die erhofften Dinge möglich machen. Es ist wichtig, verständlich zu machen, dass Feldenkrais-Lehrer keine Bewegungs-Lehrer im engen Sinn des Wortes sind. Ansonsten müssten sie Tennisbewegungen, Klavierbewegungen etc. unterrichten. Feldenkrais hat komplexe Bewegungen in einfache Bausteine zerlegt und hat Menschen mit seinen Händen bzw. seiner Stimme gelehrt, wie sie selbst, mit der ihnen innewohnenden Qualität, diese Bausteine zusammensetzen können. Entsprechend seinem Selbstverständnis von Lernen hat er folglich das Lernen unterrichtet. Menschen lernen am Beispiel von Bewegungen,
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wie sie ihr eigenes Lernen so organisieren können, dass sich Bewegungsfunktionen verbessern und Strukturen ihrem Bauplan entsprechend gebraucht werden. Ein Mensch spürt seine individuelle Fähigkeit, sich optimal aufzurichten und in der Schwerkraft entsprechend der momentanen Anforderungen zu verhalten. Lernen wird verstanden als ein kreativer Prozess, der zu einem veränderten Selbstbild führt. Dieses veränderte Selbstbild trägt unmittelbar dazu bei, die Ausführung einer Aktion zu verbessern.
Organisches Lernen und Kreativität Feldenkrais hat über 1000 Gruppenlektionen entwickelt und eine Vielzahl von Techniken für die Einzelarbeit an seine Schüler weitergegeben. Er arbeitete mit sehr jungen Menschen und sehr alten. Schauspieler und Musiker besuchten seine Kurse ebenso wie Unfallopfer und körperlich Behinderte. Er unterrichtete Ben Gurion, den ersten Ministerpräsidenten des Staates Israel, über mehrere Monate, um ihm den Wunsch zu erfüllen, noch im Alter den Kopfstand zu erlernen. Ein Zeitungsfoto von der erfolgreichen Ausführung machte Feldenkrais in ganz Israel bekannt. Wie erklärt sich die Anwendbarkeit in so verschiedenen Zusammenhängen, für so verschiedene Menschen, mit ganz verschiedenen Problemen oder Wünschen? «Ein gestörtes System verfügt über sämtliche Fähigkeiten, die es zur Lösung bestehender Probleme braucht. Die Aufgabe des Feldenkrais-Lehrers ist es, einen Kontext herzustellen und Aktivitäten zu veranlassen, die die jedem Menschen innewohnende Fähigkeit wecken, seine individuellen Lösungen zu finden» (M. Schründer, 1999, S. 9). Dies fordert die Kreativität des Feldenkrais-Lehrers und seines Klienten gleichermaßen heraus. Feldenkrais-Lektionen in Form einer Einzelbehandlung oder als Gruppenunterricht sind keine starren Gebilde, sondern berücksichtigen die Möglichkeiten der Teilnehmer. Sie geben Raum für Ausprobieren, Spaßhaben und bieten die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen. Auch der Behandler darf diesen Raum haben und geht an die Einzelbehandlung mit der Einstellung heran, auf der Suche nach einer Lösung zu sein. Niemand weiß vor der Behandlung, ob die Wahl der Ausgangsposition, die Wahl des erforschten Bewegungszusammenhanges, die Qualität der Berührung unmittelbaren Erfolg haben wird. Es bleibt zunächst die Frage offen, was der Klient mit den durch die Hände vermittelten Bewegungen anfängt. Durch den Respekt, mit dem die Kommunikation gestaltet wird, mit dem Verständnis für die Bewegungen des Klienten, schafft der Behandler wichtige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Lernprozess. Grundsätzlich dem gleichen Denken folgend, unterscheiden sich die Gruppenarbeit und die Einzelbehandlung durch den Abstand, den der Feldenkrais-Lehrer zu seinem Schüler einnimmt. Wird im Gruppenunterricht die Sprache gebraucht,
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um Bewegungsfolgen anzuleiten und zu entwickeln und manuelle Unterstützung nur sehr selten gewährt, so ist es in der Einzelstunde genau umgekehrt. Die Hände entwickeln Bewegungen und werden nur selten durch sprachliche Anweisungen unterstützt. Man könnte also sagen, in der Einzelstunde steht der Lehrer körperlich zur Verfügung, zwei Bewegungssysteme verbinden sich zu einem und die Kommunikation ist nonverbal, sensomotorisch. In der Gruppenstunde arbeitet der Lernende mit sich selbst, körperlich getrennt von dem Lehrer und den anderen Teilnehmern. Der Lehrer bietet den Rahmen, in dem der Schüler spielerisch sein Bewegungsverhalten erforscht. Der Lehrer ist zwar präsent, überlässt aber eintretende Veränderungen der Eigenaktivität des Schülers. In der Einzel- und Gruppenarbeit werden die Bewegungen stets als Angebote verstanden, nicht als Manipulationen. Sie ermöglichen dem Schüler, seinen eigenen Lernprozess, in Verbindung mit seinen Bedürfnissen, zu gestalten. Feldenkrais bezeichnet dies als organisches Lernen, im Gegensatz zum schulischen Lernen. Nicht für den Lehrer werden die Bewegungen ausgeführt, sondern für die eigene Entwicklung. Selbstkorrekturen in der Bewegungsausführung ergeben sich von innen heraus, durch das Wahrnehmen von feinen Unterschieden. Der Klient beginnt sein individuelles Entwicklungspotential zu spüren. Das Auftreten qualitativ neuer Strukturen (neuer neuronaler Verbindungen) und neuer Funktionen wird durch eine verbesserte Art zu handeln konkret erlebt. Die Bewegungsfolgen, die Feldenkrais hinterlassen hat, sind vergleichbar mit musikalischen Werken, durch die sich die meisten Menschen berührt fühlen. Solange der Musiker sie spielen kann, durchaus mit einer eigenen Interpretation, werden sie ihre Wirkung erzielen. Um die Wirkung einer Feldenkrais-Lektion für den Klienten spürbar zu machen, muss der Lehrer einen sicheren Rahmen anbieten, der zugleich Freiräume lässt, für die Empfindung von Autonomie und Kompetenz auf Seiten des Klienten. Diesen Rahmen kann nur jemand zur Verfügung stellen, der durch intensive Arbeit mit sich selbst diese Autonomie und Kompetenz erworben hat und bereit ist weiterhin daran zu arbeiten. Die Aufgabe des Feldenkrais-Lehrers ist es, die Wirksamkeit der Bewegungen immer wieder an sich selbst zu erproben, damit er wie ein Musiker mit den Stücken, die er für ein Konzert auswählt, auch wirklich Wirkung erzielt.
Techniken der «Funktionalen Integration» Eine Technik ist «die Art, wie Mittel für vorgesetzte Zwecke angewendet werden» (Der große Brockhaus, Bd. 11, S. 432). Übertragen auf die Einzelarbeit, genannt «Funktionale Integration» bedeutet dies: Die Berührungen, die eingesetzt werden, dienen dem Zweck des Lernens. Meine Beschreibung einiger angewandter Techniken erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll einen kleinen Einblick in das Handwerk einer Einzelstunde geben. Welche Gründe auch immer
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dazu geführt haben mögen, dass manchen Feldenkrais-Lehrern der Begriff Behandlung als unvereinbar mit der eigenen Methode erscheint, bleibt festzuhalten, dass Feldenkrais selbst ihn gebrauchte: «Systematische Beobachtung und Behandlung mehrerer Tausender …» (Feldenkrais, 1996, S. 37). Es ist mir wichtig zu betonen: Die Hände dienen in einer Einzelstunde dem Zweck des Lernens und handeln mit großer Aufmerksamkeit.
Die Selbstorganisation und das Denken des Behandelnden ist entscheidend Um die handwerklichen Aspekte einer Einzelbehandlung zu verstehen, ist Folgendes wichtig: Der Einsatz der Hände folgt der Grundidee einer nonverbalen Kommunikation, wie man sie auch beim Tanzen oder beim Judo erleben kann. Einer der Beteiligten macht motorische Vorschläge, der andere folgt. Obgleich meist nur die Hände in direktem Kontakt mit dem Klienten sind, muss der FeldenkraisLehrer seinen ganzen Körper entsprechend organisieren, um sinnvolle Angebote machen zu können. Beim Tanzen und beim Judo ist dies offensichtlich, bei einer Einzelstunde in «Funktionaler Integration» etwas versteckter der Fall. Der Behandler macht das Angebot, sich nonverbal mit den Elementen einer Funktion zu beschäftigen, sie zu differenzieren und sinnvoll wieder zusammenzufügen. Er geht davon aus, dass der Behandelte über die Fähigkeit verfügt, dies zu tun. Das wird der Fall sein, solange die angebotene Funktion dem angemessen ist, was der Klient zum jeweiligen Zeitpunkt zu verändern in der Lage ist. Für Feldenkrais war es ein großes Anliegen, in seinen professionellen Ausbildungen diese dynamische Beziehung zwischen den Beteiligten zu betonen. Entscheidend für die Verarbeitung des motorischen Angebotes ist die Qualität der Darreichung und der Zusammenhang, durch den es Sinn erhält. Die Hände sollen dem Behandelten Orientierung vermitteln und nicht das Gefühl der Manipulation.
Die Wahl der Ausgangsposition und der funktionelle Zusammenhang Ein besonderer Vorteil der menschlichen Aufrichtung ist die Freiheit der oberen Extremität. Die Hände übernehmen zumeist kein Körpergewicht, sondern sind frei für handwerkliche Aufgaben. Durch den Verlust der Stützfunktion der oberen Extremität geht dem Gehirn jedoch auch eine wichtige Informationsquelle verloren. Der Mensch spürt sich zumeist nur noch auf zwei Beinen und es besteht die Gefahr, dass das Selbstbild über die Beziehungen der Körpersegmente Rumpf, untere und obere Extremität ungenauer wird. Feldenkrais hat Folgendes herausgefunden: Gelingt es, dem Nervensystem in unterschiedlichen Situationen ein
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genaueres Bild der Beziehungen der verschiedenen Körpersegmente zueinander zu vermitteln, ist eine wichtige Voraussetzung für eine Tonusregulation der Skelettmuskulatur geschaffen. Hierzu hat Feldenkrais zahlreiche Ausgangspositionen für den Beginn einer Behandlung entwickelt. Seine Idee war es, dem Nervensystem in verschiedenen Beziehungen zum Raum funktionelle Bewegungsabläufe vorzuschlagen, die Peripherie und Zentrum zu einem sinnvoll koordinierten Ganzen verbinden. So kann eine Stunde in der Rückenlage beginnen, eine andere in der Seitenlage. Andere Ausgangspositionen erinnern an Bewegungssituationen des Kleinkindalters, wie Kriechen oder das Fortbewegen auf Händen und Knien (Krabbeln). Jede Ausgangsposition soll jedoch bequem und schmerzfrei einzunehmen sein. Es gibt keine starre Reihenfolge von Positionen, die jeder Klient durchlaufen muss, entscheidend ist immer das, was für den Behandelten zum jeweiligen Zeitpunkt möglich ist. Die Ausgangsposition wird so gewählt, dass der Klient nicht sein Nervensystem mit der Verarbeitung unangenehmer Reize beschäftigt, sondern frei ist, neue Bewegungsimpulse zu verarbeiten. Durch die Arbeit im Liegen wird zunächst die mit der Aufrichtung verbundene Angst zu fallen überflüssig und im wahrsten Sinne des Wortes eine gute Grundlage für Veränderung geschaffen. Dem Nervensystem wird Arbeit abgenommen, so können beispielsweise beim Stehen auf Händen und Knien die Arme durch die Behandlungsbank ersetzt werden. Die Arme und der Oberkörper liegen dann bequem auf einer Unterlage, und für das Nervensystem entsteht gleichzeitig eine Erinnerung an das Laufenlernen auf allen Vieren. Der Feldenkrais-Lehrer kann sich nun mit Bewegungsmöglichkeiten der Zehen und Füße in dieser Position beschäftigen. Ausgehend von der gewählten Ausgangsposition müssen die Berührungen und damit verbundenen Bewegungen für das Nervensystem des Behandelten einen Sinn ergeben. Der Behandelnde zeigt mit seinen Händen dem Klienten, wie viel Möglichkeiten in der jeweiligen Situation bestehen. Hierzu muss er entscheiden, welche Bewegungen nötig sind, um eine Funktion besser zu gestalten.
Ein Klient liegt in Rückenlage, und der Feldenkrais-Lehrer rollt mit großem Einfühlungsvermögen den Kopf des Klienten ein klein wenig nach rechts, rollt ihn zurück, hält in der Mitte an und rollt ihn dann nach links und wieder zurück. Was sehr banal aussieht, kann für den Behandelten ein sehr wichtiger Zusammenhang sein. Verbessert sich im Laufe der Behandlung die Fähigkeit, in Rückenlage den Kopf mühelos rollen zu können, kann am Ende der Lektion in der Aufrichtung Folgendes festgestellt werden: Die Fähigkeit, sich im Raum zu orientieren, hat sich verbessert. Es fällt leichter, nach rechts oder nach links zu schauen.
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Feldenkrais betonte immer wieder den großen Vorteil des aufrechten Ganges: Kein anderes Säugetier kann sich schneller um die eigene Achse drehen und den Raum um sich herum erfahren. Für diese Aktion ist das Zusammenspiel vieler Teilfunktionen nötig, eine wichtige Teilfunktion ist die Beweglichkeit des Kopfes auf der Halswirbelsäule. Diese Bewegung muss funktional mit den anderen erforderlichen Bewegungen integriert sein, damit die wichtige menschliche Fähigkeit zur Raumorientierung mühelos vonstatten geht und nicht unnötig Zeit und Energie kostet. Wichtig ist zu betonen, dass nicht in jeder Einzelbehandlung, quasi aus Prinzip, der Kopf gerollt wird. Dies wird mit Sicherheit zunächst vermieden bei Klienten, die über Schmerzen in dieser Körperregion klagen. Der Umgang mit Schmerz Es gibt eine Grundregel: Der affizierte, mit Schmerz und Aufmerksamkeit besetzte Körperteil wird zunächst nicht angerührt. Für eine funktionale Integration aller Körpersegmente ist es zunächst hilfreicher, mit den Bereichen zu arbeiten, die von der Selbstwahrnehmung quasi «vergessen» wurden. Eine schmerzhafte Körperregion ist dem Klienten im Allgemeinen sehr bewusst, andere Bereiche sind hingegen unterrepräsentiert und stehen den Bewegungszentren im Gehirn für eine Bewegungsplanung möglicherweise nicht zur Verfügung. So stellt sich die Aufgabe, den Klienten von seinem Schmerz abzulenken und verbleibende Bewegungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Berührungs- und Bewegungsfolgen sind so zu gestalten, dass eine Veränderung im Angenehmen stattfinden kann. Schmerzhafte Bewegungen aktivieren Schutz und Fluchtreflexe und dienen mit Sicherheit nicht der Neugestaltung von Bewegungsverhalten. Im Gegenteil, wann immer ein Klient während einer Behandlung an seinen Schmerz erinnert wird, sinkt die Wahrscheinlichkeit zu einer positiven Veränderung. Eine Körperhälfte lehrt die andere Einen wichtigen Zusammenhang hat Feldenkrais für die Arbeit mit Halbseitengelähmten beschrieben. Er arbeitete mit diesen Klienten zunächst nur mit der so genannten gesunden Seite und vermied es, die als nicht funktionierende, behindert empfundene Körperhälfte zu berühren. Verblüffenderweise vermag die betroffene Seite von der noch besser funktionierenden gesunden Seite zu lernen, und in vielen Fällen findet eine indirekte Regulierung des Muskeltonus der betroffenen Seite statt. In einem Ausbildungsvideo, das Feldenkrais in der Arbeit mit einem ca. 70jährigen Schlaganfallpatienten zeigt, sieht man, wie er 30 Minuten mit einem Holzbrettchen ausschließlich mit der Fußsohle des gesunden Fußes arbeitet. Seine Idee war es, mit dem Brett als künstlichen Boden, den Bewegungsablauf beim Abrollen
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eines Fußes zu imitieren. Das Thema der nonverbalen Unterhaltung war: Wie kann eine Fußsohle auf dem Boden abrollen? Wer die Folgen dieser Strategie erlebt hat, kann die Vorzüge dieses Vorgehens ermessen. Kleine, langsame Bewegungen ermöglichen große Unterschiede wahrzunehmen Die Berührungsqualität während einer «Funktionalen Integration» berücksichtigt das psycho-physische Grundgesetz von Weber-Fechner, das besagt, dass die Intensität der Empfindung bezogen auf die Reizstärke einer logarithmischen Formel folgt. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt dies: Der einem Klienten zuerst angebotene Reiz muss klein sein, damit dieser, bezogen auf weitere Reize, kleine Unterschiede empfinden kann. Legt Ihnen jemand ein schweres Buch auf die ausgestreckte Hand, werden Sie nicht unterscheiden können, ob auf dem Buch noch eine Feder zum Liegen kommt. Bekommen Sie allerdings ein Blatt Papier auf die Hand gelegt, können Sie sehr gut unterscheiden, ob noch eine Feder hinzukommt. Mit diesem «eben merklichen Empfindungszuwachs» (Schmidt/Thews 1980, S. 202) wird in der Feldenkrais-Methode systematisch gearbeitet. Angenommen, ich hebe für eine Person, die auf dem Rücken liegt, einen Arm, übernehme ich diese Arbeit im physikalischen und neurophysiologischen Sinn. Das heißt, ich nehme dem zentralen Nervensystem die Bewegungsplanung ab, ich ermögliche den Muskeln, nichts Unnötiges zu tun. Mit der Wahrnehmung, dass sich der eigene Arm von der Unterlage löst, kann für den Klienten einiges verbunden sein; das Gefühl: «So hebe ich ihn auch immer», oder die Feststellung: «Dies fühlt sich irgendwie anders an». Dieses «andere» Gefühl kann entweder angenehm oder unangenehm sein. Gelingt es mir, den Arm auf eine Art und Weise zu heben, die beispielsweise die Druckrezeptoren der Haut im Bereich des entsprechenden Schulterblattes mit einer geringen Reizstärke erregen, wird dem Nervensystem durch die angebotene Bewegung ermöglicht, einen Unterschied zu empfinden. Die Repräsentation des Schulterblatts auf dem sensorischen Kortex verändert sich. Natürlich melden auch die Gelenkrezeptoren der Gelenkkapseln von Schultergelenk und Schlüsselbeingelenken entsprechende Vorgänge. Würde ich jedoch nicht möglichst viele Rezeptoren, die durch die Bewegung «Armheben» angesprochen werden, gemäß dem Gesetz von Weber-Fechner aktivieren, wäre die Empfindung eine gänzlich andere. Ein zu schnelles, zu forciertes Heben des Armes wäre nicht geeignet, um Unterschiede empfinden und bewusst werden zu lassen.
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Es ist nicht hilfreich, «irgendwie» den Arm zu heben. Aus physiologischen Gründen ist es sinnvoll, sich Zeit zu lassen und den leichtesten Weg zu suchen. Hierbei taucht auch ein Bild auf, welchen Weg im Raum der Arm bei der gewohnten Eigenaktivität des Klienten nehmen würde. Diesen Weg zunächst anzubieten, gibt dem Behandelten das Gefühl, nicht korrigiert zu werden. Gelingt es dann, in einem angenehmen Bereich mit einer geringen Reizstärke Alternativen für die Armbewegung anzubieten, bekommt das Nervensystem die Gelegenheit, zwei verschiedene Angebote zu vergleichen. Idealerweise nutzt es für die nächste, selbst ausgeführte Bewegung eine ökonomischere Alternative als die gewohnte. Was aus der Sicht der Physiotherapie wie «passives Bewegen eines Armes» erscheinen mag, bekommt somit eine andere Bedeutung: Nicht die Bewegung allein macht den Unterschied, sondern die Qualität der Ausführung lässt andere Möglichkeiten entstehen. Neue Informationen für sensomotorische Regelkreise ermöglichen Bewegungszentren des Gehirns die Gestaltung von Lernprozessen, die eine zweckmäßige Bewegungsorganisation betreffen.
Zusammenhänge werden spürbar Ein nächster Schritt in der Gestaltung des Lernprozesses während einer Einzelstunde könnte sein, ein Bein zu heben. Wähle ich das Bein der anderen Körperhälfte, lege ich dem Gehirn einen funktionalen Zusammenhang nahe, der beim Gehen eine Rolle spielt. Sie spüren ihn am besten, wenn Sie kurz aufstehen, ein paar Schritte durch den Raum gehen und gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel Ihres rechten Armes mit dem linken Bein richten: Was tut ihr rechter Arm, während ihr linkes Bein sich vom Boden löst und einen Schritt macht? Je nach ihrer Vorbildung haben Sie entsprechende Wörter, um diesen Zusammenhang zu beschreiben. Ob Sie sich als Bewegungsexperte empfinden oder nicht, Sie sind in der Lage etwas zu spüren, auch wenn Sie nicht zwangsläufig beschreiben können, was. Genauso geht es einem Klienten in der Einzelbehandlung. Durch das Angebot «Arm- bzw. Beinheben» kann spürbar, für manche auch formulierbar werden, dass für die Bewegungen der Peripherie die Organisation der Rumpfmuskulatur eine Rolle spielt. Die Auflage des Rückens verändert sich durch das Heben der Extremitäten, die Lektion verweist auf einen dynamischen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Rumpfes, der Verbindung zwischen Kopf und Becken und den Bewegungen der Extremitäten. Eine Möglichkeit, mit Schmerzen der Wirbelsäule umzugehen, ist, sie zunächst in Ruhe zu lassen und den funktionalen Zusammenhang zwischen Extremitätengebrauch und Wirbelsäulengebrauch zu erforschen. Schmerzen in der Peripherie, an Ellbogen, Knie, Hand und Fuß lassen oft eine gegenteilige Strategie notwendig werden. Man arbeitet mit der Wirbelsäule und geht später erst in die Peripherie.
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Nonverbale Kommunikation Die Hände tun in einer Einzelstunde das, was sich in der Kommunikation mit dem Klienten als nötig und möglich erweist. Hierbei ist der verbale Austausch auf ein Minimum reduziert, was für viele Klienten zunächst ungewohnt ist. Die Hände des Behandlers sind dafür ausgebildet, Unterschiede zu erspüren. Die Hände verweisen allein durch die angebotenen Bewegungen auf Unterschiede. Sehr selten wird der Klient durch Sprache auf Unterschiede hingewiesen. Die volle Aufmerksamkeit des Klienten soll der Selbstwahrnehmung und dem Zulassen von Veränderung zur Verfügung stehen und nicht auf die sprachliche Kommunikation mit dem Behandler gerichtet sein. Während einer Feldenkrais-Einzelstunde steht der Lehrer senso-motorisch zur Verfügung, hierfür ist er ausgebildet. Im Allgemeinen sind Feldenkrais-Lehrer jedoch nicht dazu ausgebildet, den Klienten psychotherapeutisch zu begleiten. Auf die Grenzen der Methode sollten die Klienten rechtzeitig hingewiesen werden.
Die Gruppenarbeit «Bewusstheit durch Bewegung» Das Wissen macht das Gewusste anders, das nicht mehr bleibt, wie es war, wenn es gewusst wird. (Karl Jaspers 1947) Wer seine Muskeln gebraucht, ohne zu beobachten, zu unterscheiden und zu verstehen, handelt wie eine Maschine: seine Bewegungen haben einen Wert einzig darin, dass sie – mechanisch – geschehen. (Feldenkrais 1996, S. 181) In der Arbeit mit sich selbst entdeckte Feldenkrais noch einen anderen Wert von Bewegungen. Selbsthilfe wird möglich, wenn man Muskelwirkung beobachtet, Unterschiede wahrnimmt und plötzlich sein eigenes Tun, oft ohne zunächst die Worte dafür zu haben, genauer versteht. Er entdeckte «Regeln der Wirksamkeit» im Umgang mit Bewegung zum Zwecke der Weiterentwicklung von menschlichen Fähigkeiten. Diese Regeln beobachtete er zunächst in der Arbeit mit sich selbst, berücksichtigte sie in der Einzelarbeit und später im Aufbau seiner Gruppenlektionen. In einer «Bewusstheit durch Bewegung»-Lektion werden Klienten eigenaktiv an der Gestaltung ihres Lernprozesses beteiligt. Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung der «Bewusstheit durch Bewegung»-Lektionen ist die Bereitschaft des Klienten, sein eigenes Tun anhand von Bewegungen zu beobachten und mit Neugierde zu betrachten. Die Aufgabe des Feldenkrais-Lehrers besteht folglich darin, diese Neugierde zu wecken und in seinem Unterricht so viel Abwechslung zu bieten, dass die Lernenden an immer mehr Wissen über sich selbst interessiert sind. Durch Feldenkrais-Lektionen wird das somatopsychisch verankerte, oftmals pas-
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sive, «Gewusste» zu einem aktiven Wissen über die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Dies vermittelt ein Gefühl der Kompetenz und Lebendigkeit und hilft, auch unerwartete Situationen zu meistern. In «Bewusstheit durch Bewegung»-Lektionen werden keine stereotypen Bewegungen gelehrt, sondern der Rahmen geboten, zu entdecken, wie das Nervensystem Bewegungen organisiert, um sie jederzeit zur Verfügung zu haben.
Kleine Unterschiede – große Wirkung Die Arbeit beginnt meist in der Rückenlage, um ein Bild des gegenwärtigen Zustandes zu erhalten. Hierin liegt die Möglichkeit, nach dem Ausführen verschiedener Bewegungsfolgen wiederum in Rückenlage zu vergleichen, ob sich etwas verändert hat oder gerade verändert. Was auf den ersten Blick wie Entspannung oder Meditation aussehen mag, ist ein erster Schritt eines systematischen Vorgehens. Vergrößert sich während einer Lektion die Auflage des Rückens in Ruhelage, so ist dies neben einem angenehmen Gefühl auch die Information für den Teilnehmer, dass er sich durch sein Tun verändert. Neurophysiologisch ausgedrückt heißt das: Muskelketten regulieren sich, unnötige Anspannung der Rumpfmuskulatur wird durch eine Selbstregulation aufgegeben. So hat die Stimme des Lehrers nicht nur die Aufgabe, Bewegungen vorzuschlagen, sondern auch an Pausen zu erinnern, um die Wirkungen wahrzunehmen. Die Stimme leitet also an, zunächst Gewohnheiten kennen zu lernen, die Elemente, die diese motorischen Gewohnheiten bilden, zu differenzieren und schließlich auf sinnvolle Art und Weise neu zu kombinieren. Ein konkretes Beispiel: Die Teilnehmer liegen auf dem Rücken und haben beide Arme nach oben gelegt. Um zu Beginn der Lektion einen später vergleichbaren Eindruck zu vermitteln, fordert der Feldenkrais-Lehrer auf, einmal den rechten Arm ein klein wenig zu heben und dann den linken. Nun lenkt die Stimme des Lehrers die Aufmerksamkeit auf den rechten Arm, sie fragt nach, welcher Teil des Armes sich zuerst vom Boden löst, fragt nach Alternativen und macht den Gruppenteilnehmern möglich, sich mit kleinen, langsamen Bewegungen mit der Funktion des rechten Armes zu beschäftigen. Sie werden aufgefordert, nur die Hand, nur das Handgelenk, nur den Ellenbogen, nur die Schulter zu heben. Die meisten Teilnehmer machen zu Beginn zu große und zu schnelle Bewegungen, als dass sie gemäß des Weber-Fechner'schen Gesetzes kleine Empfindungsunterschiede herbeiführen könnten. Zu Beginn der Lektion besteht die Aufgabe des Lehrers oft in dem Bremsen unzweckmäßiger Aktivität. Im Laufe der Stunde nimmt die Komplexität der Bewegungen zu. Möglicherweise kommt das gegenüberliegende Bein ins Spiel, zwischendurch wird nach der Beteiligung des Rumpfes, der Qualität der Atmung gefragt. Mehr und mehr der verschiedenen Körpersegmente werden im Laufe einer Bewusstheit durch Bewe-
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gungs-Lektion funktionell integriert. Heben die Teilnehmer nach einer Sequenz, die sich mit dem dynamischen Zusammenhang zwischen Tätigkeiten des rechten Armes und des linken Beines beschäftigt hat, noch einmal beide Arme zum Vergleich, ist das Erstaunen sehr groß. Ein deutlich spürbarer Unterschied im Gebrauch beider Arme ist entstanden. Um es noch einmal anders auszudrücken: Die Bewegung des rechten Armes kann sich nicht isoliert verändern. Durch die Lektion ist ein Bezug der Wirbelsäule zu dem rechten Arm und dem linken Bein entstanden. Funktionale Integration heißt, Strukturen für eine Funktion so verfügbar zu machen, dass durch Bewegung Bewusstheit entstehen kann. Dieses Ziel wird sowohl in der Gruppen- als auch in der Einzelarbeit verfolgt. Bewusstheit für das eigene Verhalten bei dem Ausführen einer Aktion kann bei einer Gruppenlektion unmittelbar erlebt werden, bedarf aber einer klaren Motivation. Eine funktional konzipierte Lektion bietet einen sicheren Rahmen für Versuche mit dem eigenen Körper und seinen Bewegungsmöglichkeiten. In diesem Rahmen ist es erlaubt, ja sogar erwünscht, Fehler zu machen, um aus ihnen zu lernen.
Aus «Fehlern» lernen Feldenkrais betonte sein Leben lang, wie wichtig misslungene Versuche im Lernprozess seien. Sie bieten die Gelegenheit zum Vergleich mit einer besseren Variante und sind aus einem Prozess der Selbstverbesserung nicht wegzudenken. So wird während einer Lektion oft untersucht, inwieweit eine Bewegung reversibel ist. Ein Beispiel: Es gibt viele Wege, vom Liegen zum Sitzen zu kommen. Erscheint der Hinweg oft schon leicht, so deckt der Versuch, den gleichen Weg zurück zu nehmen, um vom Sitzen zum Liegen zu kommen, Unklarheiten in der Bewegungsorganisation auf. Das Spiel mit der Umkehrbarkeit bringt oft unbemerkte Anstrengungen ans Licht, deren Eliminierung einen großen Sprung in der Bewegungsqualität bedeuten.
Lernen ohne Anstrengung und ohne Imitation In der Feldenkrais-Arbeit ist das Spiel mit der eigenen Beweglichkeit von jeglichem Erfolgsdruck von außen befreit. Vielen Teilnehmern wird klar, wie sehr sie, geprägt von Turnunterricht oder Gymnastik, Bewegung mit Anstrengung verbinden, mit dem oft erfolglosen Versuch, etwas so gut zu machen wie andere auch. Mit Absicht werden bei einer «Bewusstheit durch Bewegung»-Lektion die Bewegungen ausschließlich verbal angeleitet; nicht das Imitieren des Lehrers soll den Zusammenhang erschließen, sondern das eigene Tun. Die Stimme des Lehrers bietet also Orientierung und Sicherheit, wirkt aber nicht belehrend.
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Pausen Ein charakteristisches Merkmal der Feldenkrais-Gruppenarbeit sind die vielen Pausen, in denen die Teilnehmer ermuntert werden, für kurze Momente nichts zu tun, außer vielleicht ihrem Atem zu lauschen und den Kontakt zum Boden zu spüren. Warum diese Unterbrechungen? Die Feldenkrais-Arbeit fordert die hundertprozentige Aufmerksamkeit des Klienten, und diesen Grad von Aufmerksamkeit kann unser Gehirn nur in kurzen Sequenzen liefern. Sobald diese Aufmerksamkeit abschwächt, tritt eine Form von automatischer Bewegung ein. Diese wird jedoch nicht die gewünschten Veränderungen zur Folge haben. Die Aufgabe des Anleitenden ist es, zu spüren, wann für die Mehrzahl der Gruppenmitglieder der Zeitpunkt gekommen ist einen Moment innezuhalten, um danach Bewegungen wieder neu zu gestalten. Die Methode lebt von der Gestaltung von Unterschieden, nicht von dem Lehren eines Bewegungsrepertoires, das automatisch wiederholt wird. Die Unterbrechungen sind Pausen für das Gehirn, so dass die Teilnehmer immer wieder «erfrischt» an den angebotenen Bewegungsablauf zurückkehren können und in der Lage sind, Qualität zu unterscheiden. Angebote, sich zu entwickeln Feldenkrais-Lektionen sind Angebote, sich lernend zu verändern. Sie sind nicht als starre Gerüste zu verstehen, sondern als lebendige Anregungen, sich zu entwickeln. Einem guten Feldenkrais-Unterricht ist dies anzumerken. Es sind Überraschungen eingebaut, vermeintliche Schwierigkeiten, die den gewohnten Umgang mit einer auftauchenden Schwierigkeit körperlich spürbar machen. Es entsteht Lernen am Unterschied zwischen schwierig und leicht. Es entsteht das Selbst-Bewusstsein, dass die eigenen Strukturen zu dem Zweck zu gebrauchen sind, zu dem sie von der Evolution entwickelt wurden.
Anwendungsmöglichkeiten der Feldenkrais-Methode Die Methode ist als Selbsthilfe entstanden. Sie macht erfahrbar, wie durch einen lebendig gestalteten Lernprozess ein sinnvoller Einsatz der Körperstrukturen zu erzielen ist. Dies macht sie für Sportpädagogen natürlich genauso interessant wie für Orthopäden oder Tänzer. Neurologen zeigen sich über Veränderungen ihrer Patienten ebenso erstaunt wie Regisseure über die Entwicklung ihrer Schauspieler. Dies ist ein faszinierendes Phänomen, macht aber die Einordnung der Methode nicht einfacher. Die Behauptung einer vermeintlich allumfassenden Wirk-
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samkeit weckt natürlich berechtigterweise Skepsis. Der Schlüssel zum Verständnis könnte die Ressourcenbezogenheit der Methode sein. Jemand, der an Multipler Sklerose erkrankt ist, hat ebenso Ressourcen, die für einen besseren Selbstgebrauch verfügbar sind, wie ein Spitzensportler. Für beide kann die gleiche Feldenkrais-Lektion einen beeindruckenden Erfolg erzielen. Was einem neurologisch Erkrankten einige Schritte in besserer Balance beschert, hat für einen Weitspringer die Folge, dass er zehn Zentimeter weiter springen kann. Die Methode wurde nicht entwickelt, um eine bestimmte Krankheit zu heilen, sondern um ein zufällig beobachtetes Phänomen immer wieder herbeiführen zu können. Sie erinnern sich: Feldenkrais beobachtete die Funktionstüchtigkeit seines verletzten Knies. Die Methode ist immer dann anwendbar, wenn eine Motivation besteht, eigene Ressourcen zu nutzen, um bestimmte Dinge besser tun zu können. Hierzu muss man nicht krank sein, aber auch nicht zwangsläufig gesund. Um die Anwendbarkeit im pädagogischen Bereich zu schildern, ein Erfahrungsbericht der Krankengymnastin und Feldenkrais-Lehrerin Renate Pohnke: Sie schreibt über ihre Erfahrungen mit dem Unterricht der Feldenkrais-Methode an einer Grundschule in Baden-Württemberg:
Die Verbindung zur Schule stellte eine Lehrerin her, die seit längerer Zeit meine Feldenkrais-Gruppe besucht. «Wie gut wäre die Feldenkrais-Arbeit für meine Schüler» meinte sie. Die für meine Arbeit aufgeschlossene Schulleiterin ermöglichte mir, im Rahmen des Lehrbeauftragten-Programms des Kultus-Ministeriums eine Arbeitsgemeinschaft «Feldenkrais» anzubieten. Zum besseren Verständnis der Methode unterrichtete ich das Lehrer-Kollegium eine Gruppenstunde «Bewusstheit durch Bewegung». Die Eltern einer 2. und einer 4. Klasse wurden anschließend informiert und konnten ihr Kind anmelden. Geplant war, dass nicht mehr als zehn Kinder eine Gruppe bilden sollten. Im ersten Schulhalbjahr konnte die erste Gruppe einer Klasse das zusätzliche Angebot der Schule nutzen, im zweiten die zweite Gruppe. Die Kinder, die dafür angemeldet worden waren, kamen dann eine Stunde vor dem eigentlichen Schulbeginn in ihre Schule. Die Kinder sollten mit Hilfe der Feldenkrais-Methode lernen, ihr Bewegungspotential zu nutzen, das sie im Alltag nur zu einem Bruchteil einsetzen. Nicht als Konkurrenz zum Sportunterricht, sondern als Ergänzung. Sie erhielten aus den Feldenkrais-Lektionen mehr Förderung von Koordination, Orientierung und Kommunikation. Da räumliche und soziale Orientierung sehr eng zusammenhängen, bildeten Spiele aus der Psychomotorik immer den Abschluss einer Stunde. Mit der Klassenlehrerin stand ich in Kontakt. Wir tauschten unsere Erfahrungen und Beobachtungen bei den Kindern aus. Gemeinsam
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überlegten wir dann, welche Möglichkeiten den betreffenden Schülern zugute kommen könnten. Vereinzelt wurden die Eltern von der Lehrerin informiert. Rückmeldungen der 7- bis 10-Jährigen lauten: «Ich glaube, meine Diktatnote ist wegen Feldenkrais besser geworden», «Ich schreibe anders durch Feldenkrais» oder «Feldenkrais ist schön, weil man nichts falsch machen kann».
Das Berufsbild des Feldenkrais-Lehrers Moshé Feldenkrais begann 1968 in Israel eine kleine Gruppe in der Weitergabe seiner Methode zu unterrichten. Später folgten zwei Ausbildungen in den USA (1975–1983). Deren Aufbau dient bis heute als Modell für die Mehrzahl der bestehenden Ausbildungen, die weltweit stattfinden. Über Ausbildungsrichtlinien befinden internationale Gremien. Die Feldenkrais-Lehrer der einzelnen Länder sind teilweise in nationalen Berufsverbänden organisiert. Diese Berufsverbände, meist «Gilden» genannt, gehören zu einem gemeinsamen Dachverband namens International Feldenkrais Federation (IFF). Die von den meisten Verbänden akzeptierten Ausbildungsrichtlinien sehen eine Ausbildungszeit von 160 Tagen vor (800 Stunden), verteilt auf vier Jahre. Dies bedeutet bislang den Rahmen einer berufsbegleitenden Ausbildung.
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Therapeutische Dimensionen somatopsychischen Lernens Ruth Künzler
Erwartungen F. M. Alexander-Technik, Eutonie Gerda Alexander und Feldenkrais-Methode, in dieser Arbeit kurz als methodische Beispiele für «somatopsychisches Lernen» zusammengefasst – sind sie neue alternative Heilmethoden oder eigentlich gar keine Therapie? Die Begründer der Methoden haben sich bewusst von der Medizin ihrer Zeit abgesetzt, bezeichneten sich als Pädagogen, nicht als Therapeuten. Fragen tun sich auf. Warum entstanden die Methoden zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt? Antworten sie auf einen Mangel, oder schafft erst das Angebot eine Nachfrage? Ergänzen sie bestehende therapeutische Angebote oder stellen sie diese auch in Frage? Der Begriff Ganzheitlichkeit taucht auf, was könnte hier damit gemeint sein? Schließlich: Wer kommt, was wird gesucht und was kann gefunden werden?
Was erwarten Patienten? Von Anfang an kamen leidende Menschen, d. h. Patienten, mit der Hoffnung auf Heilung oder zumindest Linderung ihrer Beschwerden. Die Symptome waren und sind unterschiedlich, oft geht es um Schmerzen, Behinderungen, Funktionseinschränkungen. Die drei Begründer der Methoden litten selbst an Symptomen und Schwierigkeiten. Unzufriedenheit mit den vorgefundenen therapeutischen Möglichkeiten, Neugierde und eine präzise Selbstbeobachtung ließen sie nach neuen Wegen suchen. So unterschiedlich die Menschen, die Hilfe suchen, so vielfältig sind die Wünsche und Hoffnungen. Unabhängig von dem ursprünglichen Anliegen werden in der Arbeit selbst dann ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Ein Patient,
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beispielsweise mit chronischen Rückenschmerzen, hatte sich möglicherweise schon mit erheblichen Einschränkungen abgefunden. Für ihn mag diese Arbeit ein Versuch sein, einen alternativen Weg auszuprobieren, weil etablierte Methoden nicht zu einer ausreichenden Verbesserung geführt haben. In der Arbeit macht er dann die Erfahrung, dass Schmerzen sich verringern, vielleicht sogar ganz verschwinden, besonders aber, dass er lernen kann, sich selbst anders zu gebrauchen. Er ist neugierig geworden und möchte weiter den Weg «sich spürend kennen zu lernen» verfolgen, über das primäre Anliegen der Symptomverbesserung hinaus. Ein anderer Patient kommt mit der Hoffnung auf Heilung seiner Erkrankung. An dieser Erkrankung selbst ändert sich vielleicht nichts, aber er macht die Erfahrung, dass ihm weit mehr Möglichkeiten offen stehen, als er zunächst für möglich hielt. Die Spielräume des Spürens und Handelns wurden größer und das bedeutet für ihn mehr Lebensqualität. Ein weiterer Patient, vielleicht auf der Suche nach einer alternativen Heilmethode, erfährt eine deutliche Verbesserung und Reduktion seiner Symptome, aber für ihn ist diese Art der Körperarbeit nicht der passende Rahmen für seine weitere Entwicklung, und er wird sich weiter auf die Suche nach für ihn geeigneten Methoden begeben. Die Methodenvertreter selbst bringen ihrerseits unterschiedliche Interessen und Anliegen mit und kommen aus ganz verschiedenen Grundberufen. So arbeiten viele in der Pädagogik, Sonderpädagogik und in künstlerischen Bereichen. Oft kommen die jeweiligen Therapeuten schon aus Heilberufen, sind Physiotherapeuten, Ärzte, Psychologen, Heilpädagogen oder Logopäden. Trotz einer grundsätzlichen Zufriedenheit mit ihren Grundberufen steht am Anfang oft die Erfahrung, zu häufig an die Grenzen der eigenen therapeutischen Möglichkeiten zu stoßen, verbunden mit der Hoffnung auf alternative Wege oder auf ein besseres Verständnis von Zusammenhängen. Eigene hilfreiche Erfahrungen mit den Methoden geben dann in der Regel den Anstoß zu einer zusätzlichen Qualifikation. Von Seiten der etablierten Medizin werden diese Entwicklungen mit Interesse, aber auch mit Skepsis beobachtet. Die Einordnung der Methoden fällt schwer. Geht es um Physiotherapie, Psychotherapie oder etwas ganz anderes? Für wen ist es sinnvoll? Gibt es Indikationen und Kontraindikationen? Inwieweit wird therapeutische Verantwortung übernommen?
Was erwartet einen Patienten? Patienten kommen, erleben sich als leidend, was sich in Vorstellungen ausdrücken kann wie «Mir soll geholfen werden», aber auch «Ich möchte verstanden werden» und «Ich möchte mich besser verstehen», vielleicht auch mit der Frage
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«Wie kann ich mir selbst besser helfen?». Gemeinsam ist den in diesem Buch vorgestellten Methoden, dass sie entstanden sind aus einem Bemühen um Selbsthilfe und dem Wunsch, die Autonomie des Lernenden zu wahren und zu verbessern. Dabei wird Lernen nicht verstanden als eine Form der Speicherung bloßer Fakten oder Ratschläge oder als ein Korrigieren und Reparieren, sondern als eine individuelle Entwicklung und Reifung, die um die tiefe Verwobenheit und Untrennbarkeit von körperlichen, geistigen und seelischen Prozessen weiß. Lernen, ein Thema das uns lebenslang begleitet, vielfach überfrachtet mit Ängsten vor zu hohen Anforderungen durch andere, vor dem Vergleich mit anderen, vor dem Nichtgenügen. Lernen aber auch als eine Kraft in uns, die sich entfalten möchte. Das weckt Erinnerungen. So tauchen Szenen der Angst und Beschämung auf, vielleicht aber auch Erinnerungen an Momente des Glücks, wo etwas entdeckt oder neu verstanden wurde. Woher kommt diese Ambivalenz, und worum geht es beim Lernen? Lernbar ist schlechterdings nur etwas, das wir nicht schon können, was also noch außerhalb unserer Kompetenz liegt. Das Wiederholen des immer Gleichen auf immer gleiche Weise von etwas, was wir schon können, schafft Langeweile. Das Üben von Fertigkeiten, die noch weit außerhalb unseres Vermögens liegen, erzeugt Frustrationen, schafft aber keinesfalls Kompetenz. Lernbar ist somit nur, was sich an unseren Grenzen zwischen Vermögen und Noch-Unvermögen bewegt. Diese Grenzerfahrung hat vielerlei Facetten: Das Glück, etwas Neues gefunden zu haben und damit jetzt etwas besser zu können, ein bisschen Kränkung des «Ich kann noch nicht», aber immer auch Angst vor Verunsicherung. Schließlich wird Bekanntes durch Neues in Frage gestellt. Und Lernprozesse sind leicht störbar, beispielsweise durch Überforderungen. Einschränkungen entstehen aber auch durch Vorbilder, Zeitgeist, Verletzungen und Schonhaltungen. So haben Patienten, hat jeder Mensch, seine eigene und in der Regel ambivalente Geschichte mit Lernerfahrungen. Somatopsychisches Lernen bietet einen Raum an, wo Lernen wieder neu entdeckt werden kann. Dabei wird ganz bewusst auf Vormachen, Reparieren-, Ändern- und Steuernwollen verzichtet. So können neue Handlungs- und Spielräume entdeckt werden. Vieles erinnert dabei an das absichtslose Spielen kleiner Kinder, bei dem Neues ausprobiert und mit Bekanntem verglichen wird. Absicht und Ziel treten hinter dem forschenden Ausprobieren zurück. In der Entwicklung von Kindern wird so aus einem strampelnden Baby in wenigen Jahren ein Schulkind, das Rechnen und Schreiben lernen kann. Spielen kann also verstanden werden als ein freiwilliges und überwiegend absichtsloses Aufsuchen der eigenen Grenzen und an diesen Grenzen findet Lernen statt. Während im Spiel ganz die Absichtslosigkeit im Vordergrund stehen darf, verfolgt Pädagogik immer auch ein Ziel. Und die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler wird sich anders gestalten als die zwischen Partnern im Spiel.
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In der Therapie taucht noch ein weiterer Gesichtspunkt auf. Hier sucht ein Patient Hilfe. Er leidet, vielleicht an einer Erkrankung, vielleicht an sich selbst oder in der Beziehung zu Anderen. Der Therapeut kann deshalb nicht nur Partner im Spiel sein, wo jeder nur für sich selbst verantwortlich bleibt. Auch ist es nicht damit getan, ein für den Patienten sinnvolles Ziel zu verfolgen. Es müssen Erfahrung und Wissen im Umgang mit verschiedenen Erkrankungen und Behinderungen hinzukommen. Somatopsychisches Lernen als Therapie ist die Begleitung eines Prozesses, bei dem sich der Therapeut mit seiner Erfahrung und mit seinem Wissen zur Verfügung stellt, um einen geeigneten Lernraum für den Patienten zu schaffen. Dies schließt eine besondere Form der Übernahme von Verantwortung mit ein, die gegebenenfalls auch bereit ist handelnd einzugreifen, dabei aber bewusst darauf achtet, dass Lernen und Verantwortung immer wieder an den Patienten zurückgegeben werden. Schließlich gehört dazu neben dem Respekt vor dem Patienten und seinem Schicksal auch ein Respekt vor der Eigendynamik von Erkrankungen. Dieser Respekt kann auch helfen, die eigenen Grenzen im therapeutischen Handeln besser wahrzunehmen, um dann gegebenenfalls die Hilfe anderer Methoden in Anspruch zu nehmen. Die Frage, die somatopsychisches Lernen in der Therapie verfolgt, ist: Wie kann aus einem Patienten ein Lernender werden? Oder anders ausgedrückt: Wie kann ein geeigneter Lernraum geschaffen werden, der spielerische, pädagogische und therapeutische Aspekte beinhaltet und in dem die Patienten, die mit ganz unterschiedlichen Symptomen kommen, Veränderungen erfahren, die auch im Blick auf ihr Leiden zu einer Verbesserung ihrer Situation führen können. Der griechische Wortstamm für Therapie kann mit «Dienen» und «Heilen» übersetzt werden (Menge Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch) und kommt dem oben formulierten Anliegen damit recht nahe. Freilich weckt der Therapiebegriff auch andere Assoziationen, die Vorstellungen von Reparatur oder Abtretung von Verantwortung nahe legen. Hier erscheint mir ein grundsätzliches Überdenken unserer Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Therapie sinnvoll.
Erfahrungen mit somatopsychischem Lernen in der Therapie Bisher haben weniger die Leistungsanbieter als vielmehr die Patienten selbst entschieden, was typische Anwendungsbeispiele für somatopsychisches Lernen innerhalb therapeutischer Angebote sein konnten. Das hat vielerlei Ursachen und liegt sicher auch daran, dass die Methoden noch recht jung und innerhalb der Medizin
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noch wenig bekannt, geschweige denn etabliert sind. Sie sind nicht Teil des öffentlichen Versorgungssystems. Die Behandlungskosten werden in der Regel von den Krankenkassen nicht übernommen. Damit sind die Leistungen dieser Methoden nur recht wenigen Patienten zugänglich. Inzwischen liegen dennoch eine ganze Reihe von Erfahrungen mit somatopsychischem Lernen bei unterschiedlichen Erkrankungen vor (Lamprecht, 1999, Narula et. al. u. a.). Daten aus systematischen Untersuchungen sind noch spärlich, aber es gibt sie (Bost et. al. u. a.). Vorherrschend sind Therapieberichte, Fallbeschreibungen und Videodokumentationen. Im Folgenden sollen aus unterschiedlichen Bereichen der Medizin Erfahrungen und Behandlungsmöglichkeiten mit somatopsychischem Lernen vorgestellt werden, selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Schmerzsyndrome Schmerz kann ein ausgesprochener Tyrann sein. So verwundert es nicht, dass gerade Patienten mit chronischen Schmerzen nach alternativen Wegen suchen, wenn bisherige Therapieversuche zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt haben. Gemeint sind hier nicht Patienten mit akuten Erkrankungen, bei denen der Schmerz ein sinnvoller Indikator für Verletzungen oder Entzündungen sein kann und für den auch zunächst und vorrangig ein differentialdiagnostischer Klärungsbedarf besteht zum Ausschluss von möglicherweise schwerwiegenden akuten Erkrankungen. Es geht dabei viel mehr um Patienten mit chronischen Muskel- und Gelenkschmerzen, bei denen der immer wiederkehrende Schmerz Ausdruck eines nicht optimalen Selbstgebrauchs ist, d. h.: Bewegungs- und Haltungsmuster sind nicht auf die eigenen Strukturen von Knochen und Gelenken abgestimmt oder der eingesetzte Kraftaufwand entspricht nicht der beabsichtigten Handlung. Die Ursachen sind vielfältig. Sie reichen von so genannten paradoxen Bewegungen, bei denen widersprüchliche Bewegungsentwürfe gleichzeitig in Handlungen umgesetzt werden, über einseitige Belastungen am Arbeitsplatz oder in der Schule, dem Gebrauch von einengenden Schuhen oder Kleidung bis zu emotionalen Konflikten, die ihren körperlichen Ausdruck in muskulären Verspannungen und typischen einseitigen Haltungsmustern finden. Schließlich spielen auch Bewegungsvorbilder wie Eltern, Erzieher und Geschwister, die ihrerseits an Bewegungseinschränkungen leiden, eine erhebliche Rolle. Oft wird eine im Rahmen einer Verletzung oder akuten Erkrankung gelernte und für die Akutsituation auch sinnvolle Schonhaltung über die begrenzte Dauer der akuten Erkrankung hinaus beibehalten. Wenn solche Kompensationsmechanismen dann unbewusst bleiben, werden die Schonhaltungen zu langfristigen Gewohnheiten, die den Körper aus
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seiner Balance bringen. Dabei werden einzelne Strukturen, besonders Gelenke, übermäßig und einseitig belastet, was auf die Dauer Schmerzen verursacht. Wesentliches Merkmal solcher «Schmerzmuster» ist, dass ihre Elemente unbewusst bleiben, die Schmerzen zu weiteren Schonhaltungen und Einschränkungen führen und damit weitere Funktionseinschränkungen nach sich ziehen. In der Anleitung zum forschenden Umgang mit sich selbst, der dem Suchen und Ausprobieren unter Verzicht darauf, etwas «korrigieren» und «richten» zu wollen einen ganz besonderen Platz einräumt, kann somatopsychisches Lernen hier einen Rahmen anbieten, wo diese Muster allmählich bewusst werden können, indem sie nicht bekämpft werden, sondern im Gegenteil als eine sinnvolle Lösung gewürdigt werden. Über das Spiel mit alternativen Möglichkeiten und einer immer wieder gesuchten Alltagsorientierung kann Lernen von neuen funktionaleren Mustern und ein allmähliches Verlernen von Dysfunktionalem geschehen. Ein neues Gleichgewicht kann sich etablieren.
Orthopädische Probleme Eine große Zahl von Menschen, die mit den Methoden des somatopsychischen Lernens Hilfe erhoffen, sind Patienten, die an orthopädischen Problemen leiden. Das Spektrum reicht von so genannten «Haltungsanomalien», besonders Skoliosen und Fußfehlstellungen, über Gangbildstörungen bis hin zu komplexen Bewegungseinschränkungen von Schultergürtel und Beinen. Erkrankungen des Kapsel-Bandapparates mit Luxationsneigung sind ebenso vertreten wie Kontrakturen. Patienten mit orthopädischen Problemen kommen in der Regel dann, wenn symptomorientierte Therapieansätze auf die Dauer weder zur Verbesserung der Situation noch zur Linderung ihrer Beschwerden geführt haben. Aus dem Wissen, dass Ursachen von Symptomen oft an einer ganz anderen Stelle zu suchen sind als die geschilderten Symptome selbst, wird die Aufmerksamkeit in der konkreten Arbeit sich nicht primär auf die einzelnen Symptome richten, sondern auf funktionale Zusammenhänge. Auch wird keine simplifizierende Aufteilung in «richtige» und «falsche» Bewegungsmuster erfolgen. Bewegung wird auch hier verstanden als ein dynamisches, sich veränderndes System, das ständiger Adaptation und Regulation bedarf, um sich wechselnden Einflüssen von außen anzupassen und um sich weiterentwickeln zu können. Patienten können dabei lernen, von einer defektorientierten und distanzierten Betrachtungsweise des eigenen Körpers, die sich in Formulierungen wie «daran ist mein Bandscheibenschaden schuld» oder «der Verschleiß meiner Hüfte» spiegeln, zu einem neuen Verständnis und Körpererleben zu finden. Sie lernen spüren, dass Veränderungen ihrer Beweglichkeit, die Lage und Haltung einzelner Teile des Körpers zueinander, eine Umorganisation des ganzen Systems zur Folge haben
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müssen, wenn sich ein neues Gleichgewicht einstellen soll. Dabei spielt das Spüren von Knochen und Kraftanstrengung, die Begrenzungen durch Haut, Kleider und Boden sowie die Wahrnehmung passiver Kräfte wie Trägheit und Schwerkraft, aber auch die Beobachtung der räumlichen und zeitlichen Zusammenhänge gleichermaßen eine entscheidende Rolle. So kompliziert dies in Worte gefasst auch klingen mag, so einfach kann das in der praktischen Umsetzung der Arbeit konkret erlebt werden. Bei Rollbewegungen am Boden oder bei dem forschenden Experimentieren mit Material werden motorische und sensorische Muster des eigenen Bewegungs- und Wahrnehmungspotentials in vielfältigen Möglichkeiten durchgespielt. Dabei werden Unterschiede in Kraftaufwand, Tempo, Begrenzungen des eigenen Körpers und des umgebenen Raumes wie auch das Zusammenspiel unterschiedlicher sensorischer Informationen wie Gleichgewichtswahrnehmung, visuelle, taktile und akustische Wahrnehmung erfahren und spielerisch erprobt, um schließlich – auf dem Hintergrund eines individuellen Entwicklungsprozesses – eine zumindest vorläufig optimale Lösung finden zu können. Dabei sollte das System immer offen bleiben für die Frage, ob es nicht noch andere, vielleicht effektivere oder einfachere Lösungsmöglichkeiten geben könnte.
Neurologische Erkrankungen Das Spektrum neurologischer Erkrankungen ist vielfältig und reicht von akuten und chronischen Erkrankungen über Entzündungen, Blutungen bis zu Tumoren. Immer bedeuten sie für die Patienten eine erhebliche Einschränkung im Alltag. Somatopsychisches Lernen mit Patienten, die an neurologischen Erkrankungen leiden, kann nicht bedeuten, dass hier strukturelle Defekte geheilt werden. Ziel ist eine möglichst optimale Nutzung von vorhandenen Ressourcen. Dabei machen Patienten und Betreuer immer wieder die überraschende Erfahrung, dass weit mehr Möglichkeiten vorhanden sind, als beide Seiten sich zu Beginn der Therapie vorstellen konnten. Die Arbeit konzentriert sich dabei nicht auf isolierte Ziele wie das «Auftrainieren» bestimmter Muskelgruppen, sondern sie versucht schon zu Beginn und für die Patienten nachvollziehbar, eine Synthese zu bilden von Veränderungen in der Sensomotorik und für die Patienten unmittelbar sinnvollem Verhalten im Alltag wie beispielsweise Sitzen im Rollstuhl, Aufstehen, Malen, Sprechen, Körperpflege oder Umgang mit Haushaltsgegenständen. So wird das neu Gelernte schon in der Therapiestunde als Erweiterung und Verbesserung von Handlungsmöglichkeiten erfahrbar und muss nicht erst zu Hause in Alltagsmotorik übersetzt werden. Damit reduzieren sich, besonders bei Kindern, Widerstände gegen die Therapie, und neu Gelerntes kann als Erweiterung der eigenen Möglichkeiten erlebt wer-
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den. Auch müssen dann keine «Hausaufgaben» erteilt werden, weil die Patienten erfahrungsgemäß das Gelernte zu Hause weiter anwenden. Das Neue wird mit dem Gewohnten in spielerischer Weise verglichen und wiederholt und kann so Teil des eigenen Handlungsrepertoires werden. Wie in fast allen Bewegungstherapien, spielt auch beim somatopsychischen Lernen die Arbeit an der Aufrichtung eine zentrale Rolle. Die Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit und Beweglichkeit geht auch hier aus von angeborenen Globalmustern über einfache Bewegungen bis hin zu immer differenzierteren Bewegungsabläufen. Freilich sind die Intensität und die Ziele der Arbeit, insbesondere jedoch die Gestaltung der Schrittlänge beim Lernen entscheidend abhängig von der zugrundeliegenden Erkrankung. So wird die Arbeit mit einem Kind mit einer schweren spastischen Lähmung, vielleicht mit Schluck- und Sprechstörungen, ganz anders aussehen als bei einem Patienten mit einem Schlaganfall und hier wieder anders als bei Patienten, die an einer Multiplen Sklerose, einer Muskeldystrophie oder an einer peripheren Lähmung leiden. Entscheidenden Einfluss wird neben der Persönlichkeit, dem Lebensalter und den individuellen Schwierigkeiten der Patienten auch das jeweilige Erkrankungsstadium haben. Hier unterscheiden sich so genannte Defektsyndrome (der eigentlich pathologische Prozess ist abgeschlossen und hinterlässt jetzt Einschränkungen, z. B. bei einem Schlaganfall) wesentlich von prozesshaften Erkrankungen (der pathologische Prozess schreitet immer weiter fort und verläuft in Schüben, z. B. Morbus Parkinson). Immer muss das Gleichgewicht zwischen Akzeptanz von Behinderungen und Begrenzungen und die Erarbeitung von Fähigkeiten neu ausgelotet werden.
Psychosomatische Erkrankungen Die enge Verbindung von Körperleben und psychischen Prozessen wurde in den vergangenen Jahren häufig diskutiert und beschrieben (Uexküll, Blankenburg et. al., Canzler). Das Zusammentreffen psychischer Erkrankungen mit unterschiedlichen körperlichen Beschwerden erscheint im Alltag eher als Regel, denn als Ausnahme. Daneben werden somato-psychische Störungen oder Erkrankungen beschrieben, bei denen sich auf der Basis einer organischen Krankheit erhebliche psychosoziale Schwierigkeiten entwickeln (Hoffmann und Hochapfel, Rudolf und Henningsen). Es überrascht nicht der Zusammenhang selbst, viel verwunderlicher ist, dass es so langer Zeit bedurfte, bis diese enge Verbindung von Körper, Fühlen und Denken von der offiziellen Wissenschaft wahrgenommen und dann gleichsam wie eine neue Erfindung dargestellt wurde, während die Alltagserfahrung von Therapeuten, ganz besonders aber auch die Entwicklung von Kindern uns diesen
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Zusammenhang stets deutlich vor Augen führte. Alle Handlungen und alles Wahrnehmen sind stets ein integriertes Muster von vier Elementen: Bewegen, Wahrnehmen, Denken und Fühlen (Feldenkrais, 1995). Sie bilden eine primäre Einheit und werden auch als Einheit erlebt, wenn auch, je nach Situation, mit unterschiedlicher Gewichtung und unterschiedlicher Aufmerksamkeit (Roth). Letztlich stellen die Begriffe eine künstliche Trennung dieser Einheit dar und sollten deshalb auch verstanden werden als unterschiedliche Seiten einer einzigen Wirklichkeit. Ebenso markieren Begriffe wie Körperschema, Körperbild und Selbstbild nur jeweils unterschiedliche Perspektiven. So werden sich Schwierigkeiten in einem Bereich immer auch jeweils in den anderen Bereich spiegeln. Somatopsychisches Lernen möchte nicht eine Form der Psychotherapie sein. Dass Erinnerungen, seelische Konflikte und Einstellungen zum Leben zu typischen körperlichen Haltungen und spezifischen Bewegungsmustern und dann auch zu spezifischen motorischen Einschränkungen führen, lehrt die alltägliche Arbeit mit Patienten wie auch die Selbsterfahrung. Bleiben diese Muster unbewusst und bestehen sie über längere Zeit, werden sie zu Gewohnheiten. Alternativen zu diesen Gewohnheiten werden nicht in das Bewegungs- und Handlungsrepertoire integriert und werden schließlich als fremd und oft auch als beängstigend erlebt. Das aufmerksame und bewusste Erspüren von Körperhaltungen und Bewegungen, besonders aber das Experimentieren mit inzwischen fremd gewordenen Bewegungsmustern kann bisweilen heftige Emotionen wecken, bietet dabei aber auch immer eine Chance, Entwicklung nachzuholen und fixierte Denk- und Gefühlsmuster neu zu ordnen. In vielen Psychosomatischen Kliniken sind einzelne Methoden des somatopsychischen Lernens heute schon integraler Bestandteil des Therapiekonzeptes (Klinkenberg, Uexküll et. al.). Besondere Bedeutung haben die Methoden des somatopsychischen Lernens in den zurückliegenden Jahren in der Arbeit mit schweren Körperbild- und Körperschemastörungen erlangt, so insbesondere bei Patienten mit schweren Essstörungen (Laumer et. al., 1996). Die Erfahrung zeigte erfreulicherweise, dass ein körpertherapeutischer Zugang schon sehr früh in der Therapie möglich und auch notwendig ist, wo Patienten, aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung, durch überwiegend verbal orientierte Therapien noch nicht erreichbar zu sein scheinen.
Atemwegserkrankungen Atemwegserkrankungen – ein Feld für somatopsychisches Lernen? Auch hier stehen zunächst die vielfältigen Funktionsstörungen wie chronische Sinusitiden, Stimmstörungen und Störungen des Sprechflusses im Vordergrund (SpieckerHenke, 1997, Lamprecht, 1998, Alexander G, 1978, Alexander F. M., 1988). Ein
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besonders sensibler Bereich sind dabei auch Störungen des Atemrhythmus und der Atemmechanik, beeinflussen sie doch nicht nur den Gasaustausch, sondern auch Kreislaufregulation, Körperhaltung und Muskeltonus, immunologische Prozesse und psychische Befindlichkeit (Schmitt). Dies soll hier exemplarisch an der chronischen Erkrankung Asthma bronchiale erläutert werden. Entzündungen und Verkrampfungen der Bronchien spielen eine Schlüsselrolle. Die Ursachen sind vielfältig: erbliche Belastungen, Allergien, Schadstoffbelastungen und vieles mehr. Immer kommt es zu Störungen von Atemmechanik, Atemrhythmus und Atemfluss. Die körperliche Leistungsfähigkeit und die Bewegungsfreude sind eingeschränkt. Oft werden Kompensationsmuster, die im Zustand der erschwerten Atmung sinnvoll und effektiv waren, wie etwa der Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, zu langfristigen Gewohnheiten, die über die akuten Atemnotsituationen hinaus beibehalten werden und schließlich ihrerseits Bewegungsmöglichkeiten erheblich einschränken. Häufig werden diese funktionalen Einschränkungen dann von den Patienten selbst nicht mehr wahrgenommen. Sekundäre Strukturveränderungen des Brustkorbs sind bei Patienten mit chronischen Atemwegserkrankungen gut bekannt. Somatopsychisches Lernen kann hier einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung für die Patienten leisten, indem an einem entscheidenden Schlüsselpunkt der Pathophysiologie angesetzt wird. Dies darf nicht missverstanden werden als Ersatz für andere bewährte therapeutische Möglichkeiten oder, was noch folgenschwerer wäre, als sich widersprechende oder sich gar ausschließende Wege. Im Gegenteil, der komplizierten Ursachenvielfalt und dem individuellen Bedingungsgefüge gerade dieser Erkrankung wird man nur gerecht, wenn die verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten – sinnvoll aufeinander abgestimmt – genutzt werden. Fast immer bedarf es einer medikamentösen Behandlung, um aus einem Zustand der akuten Not wieder in einen Zustand der Lernfähigkeit und Weiterentwicklung zu gelangen. Dabei zeigt sich immer wieder, dass langfristig Medikamente eingespart werden können. Schließlich werden angenehme Bewegungserfahrungen gemacht, die helfen, die eigene Bewegungsfreude wieder neu zu entdecken, was auch Auswirkungen auf die Stimmung und auf die Einstellung zur eigenen Erkrankung haben wird.
Entwicklungsstörungen In den Bereichen Frühförderung und Sonderpädagogik wird der pädagogische und entwicklungsfördernde Aspekt des somatopsychischen Lernens besonders deutlich. Hier liegen Erfahrungen besonders bei Kindern mit Lernstörungen und Wahrnehmungsstörungen vor (Shelhav-Silberbusch, 1999, Zinke-Wolter). Über die Förderung der Aufmerksamkeit hinaus können die Übungen über eine Ver-
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besserung der Körper- und Raumorientierung auch zu einer vermehrten Sensibilität für den Umgang mit den eigenen Grenzen und mit Fehlern, nicht zuletzt auch zu einer verbesserten Wahrnehmung für den handelnden Umgang mit Partnern und Dingen führen. Durch eine verfeinerte Wahrnehmung und verbesserte Wahrnehmungsverarbeitung in allen Sinnesmodalitäten ist ein größeres Spektrum von Erfahrung und Lernen möglich. Gelegentlich berichten Patienten, die Hilfe wegen ganz anderer Probleme gesucht hatten, z. B. wegen Schmerzen oder seelischer Probleme, dass Entwicklungsstörungen, die sie schon für unabänderlich gehalten hatten, wie z. B. eine Rechts-Links-Schwäche, sich durch die Arbeit entscheidend verändert hätten.
Neue Anwendungsmöglichkeiten Die bisher beschriebenen Anwendungsmöglichkeiten sind eine mehr oder weniger subjektive Auswahl. In welchen Bereichen die Konzepte des somatopsychischen Lernens bisher angewendet wurden und in welchem Umfang Erfahrungen gesammelt werden konnten, hing neben der Nachfrage entscheidend von den Vorerfahrungen, Kenntnissen und spezifischen Interessen der jeweiligen Therapeuten ab. So gibt es inzwischen eine ganze Reihe ermutigender Erfahrungen aus unterschiedlichen Indikationsbereichen. Daneben arbeiten einzelne Therapeuten, die aus entsprechenden Grundberufen kommen, auch mit Patienten, die an akuten Erkrankungen leiden, so auch auf Intensivstationen von Akutkliniken. Die enge Zusammenarbeit und gegenseitige Absprache aller beteiligten Therapeuten und Pflegepersonen erscheint hier ganz besonders notwendig. Intensivstationen sind sicher keine primär typischen Arbeitsfelder für somatopsychisches Lernen. Es wird daran aber deutlich, dass die Bandbreite der sinnvollen und effektiven Anwendungsmöglichkeiten größer sein könnte als bisher angenommen. Eigene, bisher nicht veröffentliche Erfahrungen auf einer Kinderintensivstation mit Frühgeborenen und kranken Neugeborenen mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen, z. B. Schluck- und Trinkschwierigkeiten, waren ausgesprochen vielversprechend. Sie zeigten jedoch auch immer wieder die Grenzen aller therapeutischen Ansätze auf. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit mit medizinischem Fachpersonal wie Pflegekräften, Ärzten und Physiotherapeuten. Hier kann die neu gelernte verbesserte eigene Körperkoordination die tägliche Arbeit erheblich erleichtern, etwa über ein «rückengerechteres Arbeiten». Sie erhöht darüber hinaus langfristig auch die Sensibilität für die Bedürfnisse der Patienten. Lagerungstechniken und Tragehaltungen werden verbessert. Für Auszubildende in medizinischen Berufen kann es eine spannende Erfahrung sein, Anatomie, funktionale
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Zusammenhänge und Entwicklungsneurologie nicht nur in der Theorie zu lernen, sondern auch am eigenen Leib ganz konkret zu erfahren und vielleicht ganz neu zu verstehen.
Das therapeutische Selbstverständnis So viele Anwendungsmöglichkeiten in ganz unterschiedlichen Bereichen? Überraschende Erfolge oft, gerade in Bereichen, wo etablierte schulmedizinische Methoden an Grenzen stoßen – das weckt Hoffnungen, wirft aber auch Fragen auf. Woran und auf welche Weise wird gearbeitet? Was ist das therapeutische Selbstverständnis? Gibt es Nebenwirkungen? Das therapeutische Selbstverständnis bei ganz unterschiedlichen Problemstellungen soll im Folgenden anhand des Analogbeispiels von Stadtplänen und Stadtführern erläutert werden. Stellen sie sich hierzu den Stadtplan ihrer Heimatstadt vor. Er soll in unserem Analogbeispiel dem Selbst- und Körperbild eines Menschen entsprechen. Plan und Realität sind selbstverständlich nicht identisch, aber sie bedingen einander, und der Plan wird Grundlage für Orientierung und Handeln sein. Je aktueller dieser Stadtplan ist, je präziser Details eingezeichnet und je klarer die Außenorientierung ist, beispielsweise die Frage «Wo ist Norden?», umso leichter wird es fallen, Wege und Ziele rasch zu finden – und dies wahrscheinlich auch ohne Hilfe durch die Person eines Stadtführers. Trotzdem kann hier ein Stadtführer helfen, uns jenseits der bekannten und gewohnten Strecken einiges Neue, Interessante und Schöne, vielleicht sogar günstigere Wege entdecken zu lassen. Vergleichbar ist diese Situation mit der Begleitung eines Klienten, der einfach mehr von sich verstehen möchte, ohne an spezifischen Symptomen oder Behinderungen zu leiden.
Stadtplan mit Defekten Wenn man sich nun vorstellt, unser Stadtplan habe Löcher – im Bild entspräche das der Situation einer abgelaufenen Schädigung des Zentralen Nervensystems, beispielsweise einer Cerebralparese oder dem Zustand nach einem Schlaganfall – dann lägen im Gehirn Strukturdefekte vor. Je größer die Zahl und die Ausdehnung dieser Löcher ist, desto schwieriger wird sich die Wegsuche gestalten und umso mühsamer wird es, ans Ziel zu kommen. Manche Ziele sind jetzt auch nicht mehr erreichbar. Möglicherweise wird auch die gesamte Orientierung unter dem massiven Informationsverlust leiden. Umso dringlicher sind wir jetzt auf äußere Hilfe angewiesen.
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Die Aufgabe eines Stadtführers kann nun nicht sein, diese Löcher zu stopfen. Das kann kein Stadtführer, das kann auch keine Therapie! Die therapeutische Aufgabe wird darin bestehen, zusammen mit dem Patienten die verbliebenen Möglichkeiten zu erforschen, so dass möglichst viel Selbständigkeit und Orientierung und damit mehr Lebensqualität gefunden werden kann. Ein kluger Stadtführer kann seinen Patienten möglicherweise sogar für eine Weile zu einem wichtigen Orientierungspunkt, etwa zum Bahnhof tragen, vielleicht um ihm zu zeigen, dass es überhaupt einen Bahnhof gibt und welche Bedeutung dieser für ihn haben könnte, oder dass es überhaupt noch gangbare Wege zum Bahnhof gibt. Dann würden die beiden möglichst viele Wege mit möglichst vielen Variationsmöglichkeiten erkunden. Unser Stadtführer würde manchmal gezielt sehr vertraute Wege versperren, um den Patienten ganz neue ungewohnte Wege entdecken zu lassen. Schließlich könnten die beiden Wege gehen, die es noch gar nicht gibt, indem sie unwegsames Gelände beschreiten, vielleicht mehrere Male – und nach einer Weile würde aus einer Idee eine Spur, aus einer Spur ein Trampelpfad und aus einem Trampelpfad schließlich ein Weg. Neurophysiologisch ausgedrückt würden wir jetzt sagen: Ein neues sensomotorisches Programm ist entstanden.
Akute Situation Stellen sie sich jetzt demgegenüber eine akute Notfallsituation vor, sei dies nun eine akute Entzündung, eine Tumorerkrankung oder eine frische Verletzung. Im Analogbild hieße das, die Schwierigkeiten liegen nicht an einer Störung des Stadtplans, sondern sind ganz reale Katastrophen auf der Straße. Möglicherweise kann auch jetzt ein Stadtführer sinnvoll helfen. Aber die Prioritäten müssen sich verändern. Die Bedeutung des forschenden Suchens tritt – für einige Zeit – in den Hintergrund. Vermutlich wird eine Krisenintervention notwendig. Die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen ist jetzt dringend erforderlich. An dieser Stelle wird aber auch deutlich, dass der Stadtführer als Therapeut, um im Analogbild zu bleiben, die Infrastruktur von Städten, Verkehrsregeln, Umgehungsmöglichkeiten und Nachbarschaftsbeziehungen präzise kennen muss. Gelegentlich wird auch die Fähigkeit zum Krisenmanagement erforderlich sein. Auch sollte er möglichst über verschiedene Verkehrsmittel verfügen. Diese Haltung kann den Patienten vor unrealistischen Heilserwartungen, den Therapeuten vor Selbstüberschätzungen schützen.
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Selbstbild, Gewohnheiten, Ungereimtheiten Lassen Sie uns nun die Aufmerksamkeit auf ganz besondere Formen von Störungen richten. So seltsam und unlogisch sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, sie sind sicher am häufigsten anzutreffen. Stellen sie sich hierzu wieder einen Stadtplan mit ganz aktueller Auflage vor. Aber dieser Stadtplan enthält – und das braucht oberflächlich nicht erkennbar zu sein – Elemente eines ganz anderen Stadtplans, in unserem Beispiel Bruchstücke eines veralteten Stadtplans. Ein entsprechender Patient wird vielleicht wegen Schmerzen zur Therapie kommen. Möglicherweise wird er feststellen, dass er trotz intensiven Übens bestimmte Dinge einfach nicht bewältigen kann oder, dass sie ihm immer wieder Angst machen. Aber die entscheidende Ursache für seine Schwierigkeiten kennt er selbst nicht. Diese ist Teil seines Selbst- und Körperbildes geworden und kann von ihm nicht als fremd oder überholt identifiziert werden. Auch ist zunächst offen, wie die Einschränkung irgendwann einmal entstanden ist. Sich immer wieder an der gleichen Stelle zu verirren, ganz umständliche, vielleicht höchst anstrengende Wege und Umwege gehen zu müssen, den Rückweg oft nicht zu finden oder an immer der gleichen Stelle Hilfe von außen zu brauchen, das kennt er. Er wird begreiflicherweise Ängste entwickeln, wenn diese Seiten seiner Persönlichkeit durch irgendwelche Therapien aufgedeckt und in Frage gestellt werden. Schließlich sind sie Teil seiner Identität und haben ihre eigene biographische Logik. Somatopsychisches Lernen wird mit dem Patienten – und das ist wichtig und sinnvoll – zunächst unkomplizierte Wege möglichst angstfrei erkunden. Dabei können Patient und Therapeut gemeinsam entdecken, dass es auch davon deutlich mehr geben wird, als zu Beginn der Arbeit zu vermuten war. Der Patient kann viele Seiten von sich entdecken, die er bisher einfach nicht beachtet hatte. Und so weit wird die gemeinsame Arbeit von Patienten in der Regel als ausgesprochen angenehm und entlastend erlebt. Aber je mehr jemand seinen aktuellen Stadtplan, seine Möglichkeiten und seine Begrenzungen, besser kennen und spüren lernt, desto deutlicher werden die anachronistischen Muster hervortreten, und sie werden jetzt von ihm als zunehmend störend und einengend und schließlich als fremd und überflüssig erlebt. Besonders in der Einzelarbeit aber auch im Lernprozess in der Gruppe kann der Patient wieder Möglichkeiten erfahren und entdecken, wie er auf diese Muster zunehmend verzichten kann. Das schließt aber ein, dass diese Muster zunächst, so wie sie sind, vielleicht noch nicht ganz verstanden, doch akzeptiert und respektiert werden. Dies erscheint in vielerlei Hinsicht sinnvoll. Zum einen haben diese Muster ihre lebensgeschichtliche Logik, gleichgültig ob es sich dabei um Schonhaltungen nach Verletzungen oder spezifische Körperhaltung als Ausdruck emo-
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tionaler Konflikte handelt. Zum anderen kann Lernen von Neuem nur geschehen, wenn der Lernende unterschiedliche Muster in sich wahrnehmen und unterscheiden kann. Entscheidungen können dann bewusster und situationsgerechter gefällt werden. Der Verzicht auf überholte Muster führt dann oft in eine Phase der Instabilität und Angst, solange noch keine befriedigenden Muster aufgebaut sind und manches Neue noch recht unverbunden und widersprüchlich nebeneinander steht. In dieser Phase kann es sogar zu verstärkten Symptomen und zu emotionalen Destabilisierungen kommen. Dies insbesondere dann, wenn primär emotionale Schwierigkeiten zu den Funktionseinschränkungen geführt hatten. Auch hier sind die Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen und regelmäßige Supervisionen sinnvoll.
Wie wird man Stadtführer? Im Lese- und Übersetzungsprozess von Stadtplänen gibt es neben den bisher beschriebenen Beispielen noch eine Reihe anderer typischer Probleme. So enthalten unsere Stadtpläne, d. h. unsere Vorstellungen von uns selbst und von dem was wir tun, oft Elemente aus fremden Städten, an manchen Stellen sind sie einfach zu ungenau und zu oberflächlich und manchmal mangelt es an der klaren Außenorientierung oder die Nachbarschaftsbeziehungen erscheinen klärungsbedürftig. Was qualifiziert nun einen Bewegungspädagogen und -therapeuten zum Stadtführer für andere? Basis seiner Ausbildung in einer der Methoden des somatopsychischen Lernens ist das möglichst präzise Erforschen seiner eigenen Heimatstadt und seiner eigenen Stadtpläne. Dabei wird er zunehmend spüren lernen, dass auch er bisher nach ganz unterschiedlichen Stadtplänen lebte und sich dessen in der Regel nicht bewusst war. Auch seine Vorstellungen und Bilder von sich selbst unterscheiden sich in der Präzision, in der Ausführlichkeit, mit der auch Stadtrandgebiete mit einbezogen und die Lagebeziehungen zur Umgebung geklärt sind. Er wird fremde und überholte Elemente entdecken. Realität und Pläne verändern sich ständig und sind damit immer wieder aufs Neue revisionsbedürftig. Ein Stadtführer wird im Rahmen seiner Ausbildung eine Menge über sich selbst lernen, er wird auf Bekanntes und Fremdes stoßen. Manches Bekannte wird er aus neuen Blickwinkeln betrachten lernen. Schließlich wird er entdecken, dass es nicht nur andere Städte und Stadtpläne, sondern auch ganz andere Lese- und Übersetzungsschwierigkeiten als seine eigenen gibt. Und in dem Maße, wie er seine eigenen Stadtpläne immer besser zu verstehen beginnt, wird er neugierig und allmählich mit zunehmender Erfahrung auch kompetenter werden im Umgang mit anderen Stadtplänen und anderen Städten. Er kennt dann eigene und fremde Schwierigkeiten, weiß um Verwirrungen und Auswege und kann dann den Orientierungsprozess von Schülern und Patienten hilfreich begleiten. Regelmäßige
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Supervisionen können diesen Lernprozess unterstützen. Auch wird immer deutlicher werden, dass Pläne, das heißt auch Vorstellungen und Methoden, immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden und stets neu aktualisiert und übersetzt werden müssen.
Unterschiede und Überschneidungen F. M. Alexander-Technik, Eutonie Gerda Alexander und Feldenkrais-Methode: ganz neue Heilmethoden oder Altes in neuem Gewand? Somatopsychisches Lernen als ein Beitrag zu Prävention und Therapie, das seinen Platz im Raum der unterschiedlichen therapeutischen Angebote noch sucht? Der Wunsch nach Ganzheitlichkeit wird formuliert. Er soll einen Unterschied markieren zur so genannten Schulmedizin, wobei beide Begriffe weder klar definiert sind noch wirklich einhalten können, was sie zu versprechen scheinen. Ganzheitlichkeit, ein hoher Anspruch und verständlich, wenn Therapeuten und Patienten an der Begrenztheit monokausaler Erklärungsmodelle leiden. Doch ist Ganzheitlichkeit letztlich keine Methodenfrage, sondern sie entsteht durch die Einstellung von Patienten und Therapeuten und von beiden Seiten werden Scheitern und Erfolg dieses Anliegens mitgestaltet. Ganzheitlichkeit verstehe ich als das Bemühen, möglichst viele Kommunikations- und Wahrnehmungssysteme für den Entwicklungs- und Therapieprozess zu nutzen und Spüren, Handeln, Lernen und Therapie im Bewusstsein von Zusammenhängen zu begreifen. So gesehen können selbst intensivmedizinische Maßnahmen «ganzheitlich» angewendet und verstanden werden. Umgekehrt wird man auch im somatopsychischen Lernen nie sicher davor sein können, in vereinfachendem Denken verhaftet zu bleiben und damit das eigentlich angestrebte Ziel zu verfehlen.
Wo steht die etablierte Medizin? Medizin als Teil unserer Gesellschaft hat zusammen mit ihr eine lange Geschichte. Diese ist geprägt von unterschiedlichen Denkansätzen, Erfolgen und Irrtümern. Eine Ortsbestimmung im Vergleich zu somatopsychischem Lernen fällt schwer. Dies liegt zum einen auch an der inzwischen großen Methodenvielfalt, zum anderen an der steten Weiterentwicklung auch etablierter Methoden. Die Errungenschaften unserer heutigen Medizin sind unbestreitbar. Es gibt inzwischen ein breites und detailliertes Wissen über physiologische und pathophysiologische Zusammenhänge. Erkrankungen werden bis in ihre humangenetischen Wurzeln hinein erforscht und immer besser verstanden. Das Wissen und die
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reiche Erfahrung vieler Therapeuten wurde gesammelt und immer wieder neu geordnet, um von den geschilderten Symptomen, an denen Patienten leiden, über geeignete differentialdiagnostische Wege zu einer möglichst optimalen Therapie zu gelangen. Das verfügbare Wissen hierüber ist inzwischen äußerst umfangreich. Freilich gab und gibt es in dieser Entwicklung auch Sackgassen und Irrwege. Entscheidende Fortschritte gab es besonders dann, wenn sich vermeintlich absolut richtige Lehrmeinungen aufgrund neuer Erkenntnisse dann doch als falsch oder zumindest ergänzungsbedürftig erwiesen. Den typischen Erkenntnisweg, besonders in der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, könnte man kurz zusammenfassen als einen Weg von Symptomen über differentialdiagnostische Überlegungen und Untersuchungen, die die erhobenen Befunde objektivieren und neu ordnen, zu einer Diagnose. Die gefundene Diagnose legt dann die Therapie in der Regel fest. Die großen Stärken dieser Art der Medizin liegen besonders in der Akutmedizin. Ein Denken in solchen differentialdiagnostischen Fließschemata kann hier helfen, möglichst schnell von den geschilderten Symptomen zu einer manchmal dringend notwendigen Therapie zu gelangen. So sollte beispielsweise von dem Symptom Kopfschmerzen bis zur Einleitung einer lebensrettenden Antibiotikatherapie, etwa bei eitriger Meningitis (Hirnhautentzündung), möglichst wenig Zeit verstreichen. Ein vorstrukturiertes System differentialdiagnostischer Überlegungen kann helfen, die verschiedenen Symptome möglichst rasch zu ordnen und zu bewerten auf dem Weg zur hoffentlich richtigen Diagnose. Denn schließlich verbirgt sich nicht hinter jedem Kopfschmerz eine Meningitis. Eine Schlüsselrolle nehmen hierbei neben den Symptomen objektive Befunde ein, wobei zwischen so genannten Normalbefunden («richtig») und pathologischen Befunden («falsch») unterschieden wird. Viel komplizierter wird es im Bereich der chronischen Erkrankungen und hier besonders bei den so genannten «Funktionsstörungen». Hier gibt es oft eine erhebliche Diskrepanz zwischen objektiven pathologischen Befunden, subjektivem Krankheitserleben und tatsächlichen Einschränkungen im Alltag. Auch bedeutet das Fehlen einer medizinisch fassbaren Diagnose dann nicht notwendigerweise Gesundheit und schon gar nicht Wohlbefinden, wie dies die Definition der WHO nahe legt: Gesundheit als physisches, emotionales und soziales Wohlbefinden. Unabhängig davon, dass hier immer nur Annäherungen an Idealvorstellungen möglich sind, wird deutlich, dass die klassische medizinische Sichtweise mit ihrer defektorientierten, krankheitsbekämpfenden Perspektive eben nur ein Weg neben anderen im therapeutischen Umgang mit Patienten sein kann. Auch lässt sie viele Fragen offen. Viele Schwierigkeiten erscheinen unlösbar. Somatopsychisches Lernen verzichtet bei der Analyse von Schwierigkeiten und Funktionsstörungen ganz bewusst auf eine defektorientierte Sichtweise und Einordnungen in Kategorien von Richtig und Falsch. So erweisen sich diese Methoden oft gerade dann als hilfreich, wenn so genannte schulmedizinische Ansätze
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auf der Suche nach Strukturdefekten und Diagnosen oder im Bemühen um Reparatur scheitern. Und es überrascht auch nicht, dass gerade Patienten, die an chronischen Schmerzen leiden, Hilfe bei alternativen Methoden suchen. Häufig schildern diese Patienten eine lange Geschichte von den unterschiedlichsten Funktionsstörungen und Beschwerden, für die es keine diagnostischen Kategorien und damit auch keine erfolgreichen therapeutischen Angebote gab. Es handelte sich um Funktionsstörungen noch ohne diagnostisch fassbaren Strukturschaden. Irgendwann führten, besonders bei fixierten Funktionsstörungen, diese dann zu Strukturschäden (z. B. Bandscheibenschaden) und waren damit einer Betrachtung von außen (z. B. auf einem Röntgenbild) leichter zugänglich. Aus einer Funktionsstörung war jetzt eine Diagnose im medizinischen Sinn geworden. Die Palette ist groß. Sie reicht von den unterschiedlichsten orthopädischen Problemen (z. B. erworbene Fußfehlstellungen) über neurologische Erkrankungen (z. B. Lumbalgien) bis zu chronischen Entzündungen (z. B. Nasennebenhöhlenentzündungen). Die Betrachtung von außen legte dann in der Regel eine Intervention im Sinne von Reparatur nahe und führte langfristig oft nicht zum gewünschten Erfolg, oder es traten neue Funktionsstörungen auf. Eine unmittelbare und langfristige Erleichterung, wie die Reduktion von Schmerzen und von Atemnot, konnte jedoch oft erst dann erreicht werden, wenn durch Lernprozesse Funktionen verbessert wurden. Überzeugende und manchmal auch schnelle Erfolge dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wieder-Erlernen oder Neu-Lernen von Funktionen ein hochkomplexer Vorgang ist, der immer auch Zeit braucht. Konzepte wie die des somatopsychischen Lernens können hier einen wesentlichen Teil zu einem besseren Verständnis von Entstehungsbedingungen und Therapie von Funktionsstörungen beitragen. Denn viele chronische Erkrankungen entstehen aus chronisch-fixierten Funktionsstörungen. So werden beispielsweise Schonhaltungen, die im Zusammenhang mit einer akuten Verletzung möglicherweise ausgesprochen sinnvoll waren, zu Gewohnheiten, die über lange Zeit beibehalten werden. Diese Fixierung entspricht dann auch oft einer fixierten und externalisierten Betrachtungsweise der eigenen Schwierigkeiten, äußert sich in Formulierungen wie «ich muss meine Depressionen behandeln lassen» und legen ebenso fixierte und nur außenorientierte Lösungsmöglichkeiten nahe. Somatopsychisches Lernen versucht hier, den Blick zu weiten. Über eine auch im Alltag wahrnehmbare Verbesserung von Funktionen können Patienten wieder lernen, mehr von ihren Möglichkeiten zu nutzen, was oft zu einer überraschenden Reduktion von Symptomen führt, und nicht ohne Einfluss auf das eigene Selbstbild bleibt. Das schließt ein Lernen, wie mit Begrenzungen und Erkrankungen umgegangen werden kann, keinesfalls aus, sondern ist eine notwendige Bedingung dafür.
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Medizinisches Denken ist darin geschult, den Patienten aus einer objektiven Distanz zu betrachten. Diese Distanz hilft, in schwierigen Situationen den Überblick zu wahren, und ermöglicht sinnvolles Handeln gerade auch da, wo Einfühlung ein kompetentes und manchmal auch ein aggressives Verhalten unmöglich machen würde, z. B. im Rahmen von Wiederbelebungsmaßnahmen oder bei Operationen. Einer Betrachtung und Einflussnahme von außen, wie etwa der Bekämpfung von Erkrankungen mit Medikamenten, fügt somatopsychisches Lernen eine Sichtweise von innen hinzu in dem Vertrauen auf eine Beeinflussbarkeit von Störungen und Leiden über Lernprozesse, letztlich eine Veränderung von innen. Auch in der etablierten Medizin hat hier in den vergangenen Jahren ein Umdenken begonnen, was sich in neuen Erkenntnissen, etwa der Immunologie, aber auch in dem Bemühen um präventive Methoden spiegelt. Medizin denkt und handelt jedoch letztlich reparativ. Auch Prävention wird oft nur verstanden als bloße Vermeidung eines möglichen Schadens, bietet aber noch nicht automatisch Alternativen an. Das macht Medizin manchmal für Patienten, besonders aber auch für Therapeuten mühsam und anstrengend. Therapeuten fühlen sich oft unzufrieden, immer nur Schäden reparieren zu sollen. Besonders bei vermeidbaren Schäden löst dies auf die Dauer Frustrationen aus. Umso nahe liegender scheint es zu sein, der Prävention einen breiteren Raum einzurichten. Hier wurden in der medizinischen Versorgung in den zurückliegenden Jahren gewaltige Anstrengungen unternommen und finanzielle Mittel investiert. Patientenschulungen bei unterschiedlichen Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Diabetes mellitus und in der Rehabilitation neurologischer und orthopädischer Erkrankungen sind erfreulicherweise Teil des medizinischen Versorgungssystems geworden. Und dabei konnten überraschende Erfahrungen gesammelt werden. Eine große Zahl von Patienten nutzten diese Angebote für sich sinnvoll und genossen ihre zunehmende Selbstständigkeit und Kompetenz im Umgang mit ihrer Erkrankung. Andere schienen sich geradezu gegen diese Selbstständigkeit zu wehren. Therapeuten reagierten hierauf dann oft mit vermehrter Überzeugungsarbeit. Was primär gedacht war als Erleichterung und Entlastung, entpuppte sich dann oft in Mühe und Anstrengung: Verordnen und Überzeugen auf Seiten der Therapeuten und Flucht vor dem Überzeugt-Werden auf Seiten der Patienten, dadurch entsteht Abwehr. Denn als richtig gilt, was sich bewährt hat – bei einer großen Zahl von anderen Menschen. Das Recht auf eigenes Wahrnehmen und Finden scheint Patienten deshalb manchmal bedroht. Somatopsychisches Lernen kann einen Beitrag leisten, dass Therapie und Prävention effektiver und auch weniger anstrengend gestaltet werden kann, wenn es begriffen wird als Schutzraum, in dem Therapeuten sich mit Wissen und Erfahrung zur Verfügung stellen, damit Patienten für sich neue heilsamere Lösungen entdecken können und wo auf Verordnen, Ändern- und Steuernwollen verzichtet wird.
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Reparatur will Defekte ausbessern, und eine gelungene Reparatur wünschen wir uns schnell, makellos und möglichst billig. Die Überbewertung des Reparaturdenkens gegenüber der Vorstellung von Entwicklung und Reifung ist kein speziell medizinisches Problem. Es tritt uns in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen entgegen. Medizin ist nur ein Kristallisationspunkt, wo sich beides, der pragmatische Sinn, aber auch die Grenzen dieses Denkens, verdeutlichen. So bleibt im medizinischen Alltag ein Unbehagen nicht aus. Der Wunsch nach Weitung der Denkansätze spiegelt sich in der Suche nach neuen und anderen therapeutischen Möglichkeiten.
Somatopsychisches Lernen und Physiotherapie F. M. Alexander, G. Alexander und M. Feldenkrais haben sich ganz bewusst von den Therapiemethoden ihrer Zeit abgesetzt. Ihre eigenen Erfahrungen mit den damals gängigen und als optimal geltenden Therapieempfehlungen waren allesamt zur Lösung ihrer Schwierigkeiten nicht befriedigend. Insbesondere wollten sie nicht, dass die von ihnen entwickelten Methoden als Physiotherapie verstanden wurden. Sie sahen sich als Lehrer. Ihre Methoden sollten ein Weg zur Selbsthilfe, zur Selbsterziehung sein. Und trotzdem: Für den erfahrenen Betrachter gab und gibt es Berührungspunkte und Überschneidungen, aber auch Unterschiede und Widersprüche. Die damals gängigen krankengymnastischen Behandlungsmethoden steckten ihrerseits, verglichen mit heutigen Maßstäben, in den Kinderschuhen. Zwar gab es schon lange Überlegungen für eine systemische Sicht von Krankheitsentstehung und Entwicklungsmöglichkeiten. Die Kybernetik mit ihrem Verständnis für Regelkreise und Steuersysteme begann jedoch erst allmählich in das medizinische Denken einzufließen (Schlippe und Schweitzer). Konkret hieß das, dass in der Physiotherapie Schmerzen oder so genannte Fehlhaltungen recht eindimensional durch die Bearbeitung einzelner Gelenke und Muskeln verändert werden sollten, indem das als «richtig» deklarierte Muster geübt, die «falschen» Muster mit viel Anstrengung bekämpft wurden. In der Ausbildung von Ärzten und Physiotherapeuten hieß das – und es gilt leider auch heute noch –, dass in dem simplifizierenden Raster der Unterscheidungen von Richtig und Falsch mit einem Übermaß an Begriffen, Namen und Detailwissen wenig Raum blieb für die Erarbeitung eines tieferen Verständnisses für funktionale Zusammenhänge. Inzwischen haben sich aufgrund von Erfahrungen an einer großen Zahl von Patienten mit ganz unterschiedlichen Schwierigkeiten und Alltagsanforderungen eine ganze Reihe unterschiedlicher physiotherapeutischer Methoden entwickelt, die – unter Einbeziehung neuer neurophysiologischer Erkenntnisse (Gschwend, Rohen) und einem tieferen Verständnis für die menschliche Bewegungsentwick-
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lung – Bewegungsmuster analysieren und einüben (Castillo-Morales, Fröhlich u. a.). Dass eine für Patienten effektive Physiotherapie sich nicht in einem passiven Über-sich-ergehen-Lassen von therapeutischen Maßnahmen erschöpfen kann, sondern langfristige Veränderungen nur über aktive Lern- und Umlernprozesse möglich sind, wird allmählich selbstverständlicher (Mehne, 1993, Larsen). Und trotzdem bleiben noch Unterschiede zu dem, was das Anliegen der Methoden des somatopsychischen Lernens ist. Schon beim Vergleich der Vorstellungen von «gesund» und «krank» fallen Unterschiede auf. Das Auftrainieren physiologischer Bewegungs- und Haltungsmuster und das Bekämpfen oder Verbieten ungünstiger pathologischer Muster erkennt nicht die tiefe, oft nur aus der individuellen Lebensgeschichte verständliche Logik der, gemessen an einem gesunden Ideal, dysfunktional erscheinenden Lösungsversuche von Patienten. Auch scheint ein Veränderungs- und Therapiebedarf erst dann zu bestehen, wenn ein eindeutig krankhafter Befund, das sind dann in der Regel strukturelle Veränderungen, erhoben wurde. Dann freilich erlebt sich der Patient typischerweise eingeladen, Verantwortung für den therapeutischen Prozess abzugeben. Der Therapeut tritt als Experte auf. Er entscheidet jetzt über richtige und falsche Bewegungs- und Haltungsmuster, legt Übungsprogramme fest und hofft gemeinsam mit dem Patienten, dass Symptome verschwinden oder sich zumindest erheblich reduzieren lassen, schließlich, dass der Patient damit wieder neuen Handlungsspielraum und vermehrte Selbstständigkeit gewinnt. Aber in der therapeutischen Arbeit selbst wird gerade über die Abtretung von Verantwortung auf diese Selbstständigkeit verzichtet. Die Rollen scheinen klar fest gelegt. Patienten leiden und bekommen etwas, Therapeuten wissen und geben. Somatopsychisches Lernen geht auch in der Arbeit mit Patienten von einem komplexen Bedingungsgefüge aus, innerhalb dessen die von den Patienten geschilderten Symptome selten ihre eigentliche Ursache am Ort dieser Symptome haben. Therapeutische Begleitung im Kontext des somatopsychischen Lernens bedeutet eine gemeinsame forschende Suche nach erweiterten Spielräumen des Handelns und Wahrnehmens. Dabei dürfen Funktionsstörungen und Diagnosen nicht statisch als etwas Unabänderliches gedacht werden. Sie haben ihre Geschichte und sie sind veränderbar. Veränderung erfahren sie durch Lernprozesse, bei denen Patienten selbst die Regie führen. Die Aufgabe von Therapeuten ist es dabei, einen geeigneten Lernraum zur Verfügung zu stellen. Konkret heißt das, bei aller Erfahrung mit behandlungstechnischen Möglichkeiten, eine therapeutische Haltung einzunehmen, die das Lernen immer wieder an den Lernenden zurückgibt. Auch diese innere Haltung bedeutet nichts Statisches, das jemand irgendwann einmal gelernt hat und dann besitzt. Sie kann durch intensive Selbsterfahrung und forschendes Studieren eigener und dann auch fremder Bewegungsmuster, Gewohnheiten und Lernprozesse entwickelt werden.
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Im Umgang mit Patienten muss diese erfahrungs- und prozessorientierte Kompetenz sich verbinden mit dem Wissen um die Vielfalt und Eigendynamik von Erkrankungen. Hier ist ein gedeihliches Mit- und Voneinanderlernen wünschenswert.
Somatopsychisches Lernen und Psychotherapie Die Methoden, die in diesem Buch unter «somatopsychisches Lernen» zusammengefasst werden, verstehen sich nicht als Psychotherapie, auch nicht als eine Form von körperorientierter Psychotherapie. Der Markt von Psychotherapien und Körpertherapien erscheint heute unüberschaubar. Verglichen mit der naturwissenschaftlich orientierten Organmedizin sind alle Psychotherapiemethoden noch recht jung und kennen die Erfahrung, sich als neue Denkansätze mit dem Bestehenden auseinander setzen zu müssen. Standortbestimmungen werden notwendig. Abgrenzungen und Annäherungen gehören dazu. Psychotherapie, gleich welcher Schule, konnte sich nie auf objektive Befunde und leicht evaluierbare Erfolgskontrollen beziehen. Das erschwert vielleicht Methodenvergleiche, hält dafür aber einen lebhaften Diskussionsprozess in Gang. Die Themen, mit denen Psychotherapie sich beschäftigt, Beziehungen, Ängste, Konflikte, Entwicklung und Reifung sind zu komplex, als dass sie sich durch einfaches Zählen, Messen und Wiegen beurteilen ließen. Sie legen von vorne herein eine systemische Betrachtung nahe. Die klare Trennung zwischen Diagnostik und Therapie, aus der naturwissenschaftlichen Medizin bekannt, ist weder durchführbar noch sinnvoll. Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut wird zu einem wesentlichen Wirkfaktor in Diagnostik und Therapie. Bei allen Unterschieden in Ausbildung und Lehrmeinungen, die fraglos das therapeutische Handeln prägen, ist der Unterschied in der Persönlichkeit des Therapeuten oft entscheidend. Auch für die Methoden des somatopsychischen Lernens gilt, dass die konkrete Ausgestaltung der therapeutischen Arbeit wesentlich beeinflusst wird von der Persönlichkeit, der Weltanschauung und auch dem Grundberuf der Therapeuten. Im Bezug zu etablierten Psychotherapiemethoden siedeln sich Bewegungstherapeuten des somatopsychischen Lernens mehr in der Nachbarschaft verhaltenstherapeutischer Psychotherapien (Klinkenberg u. a.), andere sehen Parallelen zu der Tiefenpsychologie und der Humanistischen Psychologie. Der mehrdimensionale und überwiegend ressourcenorientierte Ansatz erinnert an Konzepte der systemischen Familientherapie (Bateson, Mehne, 1993). Viele Parallelen und Überschneidungen gibt es zur Konzentrativen Bewegungstherapie (Becker, Blankenburg). Unabhängig von Lehrmeinungen und Schulenstreit wird Psychotherapie immer emotionale Konflikte und Beziehungsgestaltung fokussieren und kann zu Recht
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annehmen, dass Veränderungen im Beziehungserleben und ein befriedigenderer Umgang mit Affekten sich auch positiv auf Körpererleben und Selbstbild auswirken werden. Betrachtet man die Entwicklung eines Menschen als einen Weg vom «Ich in mir» (Körperschema), über ein «Ich im Raum» (Raumschema) und «Ich in der Zeit» (Rhythmuserleben und Zeitgefühl) zu einem «Ich in Beziehungen» (Beziehungs- und Konfliktfähigkeit), so wird deutlich, dass all diese Reifungsebenen aufs Engste miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen. Auch darf man sie sich nicht als ein starres Nacheinander, womöglich mit detaillierten Zeitangaben vorstellen. Es fallen vielmehr in der menschlichen Entwicklung unterschiedliche Prioritäten in der Gestaltung dieser Lernprozesse auf. Während Psychotherapien Beziehungen und Konflikte thematisieren, geht somatopsychisches Lernen eher einen anderen Weg. Aufmerksames Berühren und Bewegen ermöglicht den Patienten ein besseres Verstehen und dann auch ein Verändern des «Ich in mir» und «Ich in Raum und Zeit». Da all diese Reifungsebenen letztlich eine Einheit bilden, kann dies auch zu einem veränderten Umgang mit Konflikten führen. Bewegungstherapien wie somatopsychisches Lernen haben durchaus ein psychotherapeutisches Potential. Allerdings findet dies in den Ausbildungen der künftigen Bewegungspädagogen und -therapeuten noch wenig Berücksichtigung. Wünschenswert für die Patienten wäre eine verstärkte Zusammenarbeit. So können Bewegungstherapien wie F. M. Alexander-Technik, Eutonie und FeldenkraisMethode Psychotherapien vorbereiten und sinnvoll begleiten. Umgekehrt können Bewegungspädagogen von dem inzwischen schon reichen Erfahrungsschatz der verschiedenen Psychotherapiemethoden profitieren. Der Blick für die Grenzen des eigenen Kompetenzrahmens kann sich dabei schärfen.
Anwendungsbeschränkungen In der etablierten Medizin gibt es einen reichen Erfahrungsschatz an unterschiedlichen therapeutischen Möglichkeiten. Die Beurteilung von Erfolgsaussichten, aber auch die Beachtung von Risiken und Nebenwirkungen sind Teil verantwortungsbewussten therapeutischen Handelns. Indikationen und Kontraindikationen werden üblicherweise diagnosebezogen aufgelistet. Anwendungsbeschränkungen sollten für die Methoden des somatopsychischen Lernens aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und formuliert werden.
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Anwendungsbeschränkungen im Blick auf Erkrankungen Kontraindikationen im Sinne der so genannten Schulmedizin gibt es hier überraschend wenige. Freilich werden bei verschiedenen, besonders bei akuten Erkrankungen, Lernprozesse für eine Weile zurück treten müssen zugunsten dringend notwendiger medizinischer Maßnahmen. Vorsicht ist im besonderen Maße geboten bei unklaren Krankheitsbildern. Dies gilt nicht nur für Schmerzsyndrome. Hier hilft eine vorgeschaltete differentialdiagnostische Klärung, schwerwiegende Verzögerungen einer vielleicht dringend notwendigen Therapie zu vermeiden. Auch im Blick auf den Verlauf von Erkrankungen ist sorgfältig zu bedenken, wann bewegungstherapeutisches Lernen durch die Einleitung von anderen therapeutischen Maßnahmen ergänzt oder durch sie abgelöst werden muss. Verstanden als unterschiedliche Wege im Hilfsangebot, muss das dann auch nicht notwendigerweise als Bruch erlebt werden. Kenntnisse und Erfahrungen mit Krankheiten und Krankheitsverläufen erlauben dabei einen größeren Spielraum. Anwendungsbeschränkungen im Blick auf die Patienten So vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der unterschiedlichsten Funktionsstörungen auch sein mögen, so wenig garantiert das bloße Anwenden von Methoden irgend einen Erfolg. Die entscheidende Frage für einen Patienten wird sein, ob es ihm gelingt, von einer Einstellung des «Ich möchte meine Symptome verlieren, aber sonst soll sich darüber hinaus nichts ändern» zu einer Haltung zu finden, die Neues entdecken möchte, gerne Spielräume erforscht und Veränderungen zulassen kann. Führt man sich noch einmal vor Augen, dass Veränderungsprozesse eine Auseinandersetzung von Bewährtem mit Neuem erfordern und dies auch immer wieder Verunsicherung und Angst auslöst, so lassen sich durchaus auch Lebenssituationen vorstellen, in denen die inneren Kräfte sich auf andere Bereiche konzentrieren müssen. Auch die finanziellen Möglichkeiten sollten bedacht werden. In der Regel müssen die Kosten von den Patienten selbst aufgebracht werden. Anwendungsbeschränkungen auf Seiten der Therapeuten Ausbildungsintensität, Erfahrungen in und mit der Arbeit sind begreiflicherweise unterschiedlich. Auch stecken inhaltliche Schwerpunkte und der jeweilige Grundberuf einen gewissen Rahmen ab. Ob die jetzt noch als Außenseitermethoden geltenden Verfahren in den nächsten Jahren ein sinnvolles Therapieangebot für viele werden können, wird auch
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davon abhängen, ob es den einzelnen Berufs- und Fachverbänden gelingen wird, Strukturen für Aus- und Weiterbildung zu schaffen, die die Schüler auf eine kompetente Verantwortungsübernahme vorbereiten, und ob sinnvolle Formen der Qualitätssicherung gefunden werden.
Fragen und Perspektiven Wie könnte es weitergehen? Somatopsychisches Lernen und etablierte Medizin werden sich weiterentwickeln. Nachfrage, Grenzen und Selbstverständnis unterliegen einem steten Wandel. Wie kann wesentliches Gedankengut von Methoden gewahrt werden, ohne in Traditionen zu erstarren, was letzten Endes das Anliegen der Methode selbst, nämlich die Begleitung von Entwicklungsprozessen in Frage stellen würde? Ein vermehrter Dialog mit den Vertretern unterschiedlicher Methoden ist wünschenswert und kann ein fruchtbares Von- und Miteinander-Lernen ermöglichen. Etablierte Medizin wird sich fragen lassen müssen, ob sie diese Methoden unter «alternativen Entspannungsverfahren» abbuchen möchte, ohne sich näher mit deren Anliegen und Arbeitsweise zu beschäftigen, und ob sie Phänomene des Leidens, für die sie keine oder nur unzureichende Angebote hat, für unlösbar erklären möchte, oder ob sie lieber langfristig bereit ist, für die Erarbeitung situationsangepasster und individueller Konzepte mit alternativen Methoden zusammenzuarbeiten. Umgekehrt richtet sich die Frage an die Methoden des somatopsychischen Lernens, ob sie den reichen Erfahrungsschatz der etablierten Medizin im Blick auf Krankheitslehre, Risiken und Nebenwirkungen nutzen möchte. Die Abgegrenztheit neuer Methoden von etablierten Systemen bietet Chancen und Gefahren. So erleichtert sie zunächst neues Denken, das Ausprobieren neuer Wege und fördert Selbstverantwortlichkeit und Unabhängigkeit. Sie birgt aber auch Gefahren. Tabus, Abgrenzungen gegenüber Andersdenkenden und Überschätzungen der eigenen Urteils- und Wahrnehmungsfähigkeit bleiben leichter unbewusst, da sie zu wenig von außen hinterfragt werden. Auch geht in einem starren Verhaftetsein am Lehrgebäude der Methodengründer die nahe liegende Erkenntnis verloren, dass genau diese Menschen sich ihr Leben lang selbst weiterentwickelten und dass in der Zwischenzeit innerhalb anderer Methoden auch eine ständige Weiterentwicklung stattgefunden hat. Mit einer gegenseitigen Dialogbereitschaft, die Neugier, Lernlust, aber auch die Bereitschaft, sich selbst und die gewohnten Denkschemata hinterfragen zu lassen, einschließt, könnte in den nächsten Jahren ein fruchtbares Miteinander entstehen. Standortbestimmungen und Auftragsklärungen stehen an. Welche persönlichen und gesellschaftlichen Erwartungen können erfüllt werden und sind sinn-
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volle Herausforderungen? Und welche Wünsche und Aufträge müssen zurückgewiesen werden, weil schon der Versuch, sie zu erfüllen, die eigenen Stärken aushöhlen könnte? Interne und externe Supervisionen können bei diesem Klärungsprozess helfen. Bisher existieren erst wenige klinische Studien, die sich wenn, dann oft nur mit Teilaspekten des somatopsychischen Lernens beschäftigen. Hier ist ein gutes Stück wissenschaftlicher Basisarbeit mit zunächst sorgfältigen Dokumentationen von Behandlungsverläufen bis hin zu externen wissenschaftlichen Evaluationen für den Nachweis der Wirksamkeit und für eine bessere Einschätzung von Anwendungsmöglichkeiten und Anwendungsbegrenzungen zu fordern. Befürchtungen werden dabei wach. Droht nicht beim Überprüfen und Überprüft-Werden, besonders bei externen Evaluationen und bei Qualitätskontrollen, das kreative Potential der Arbeit verloren zu gehen? Oder ist nicht gerade umgekehrt das immer neue Vergleichen, Überprüfen, Verunsichern-Lassen und Neuordnen etwas, das in der Arbeit selbst heilsame Entwicklungen und Verbesserungen von Qualität schafft und hier sogar nicht nur theoretisch bejaht, sondern ganz konkret und leibhaftig erfahren werden kann?
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Pädagogische Dimensionen somatopsychischen Lernens Renate Riese Gerda Alexander, Frederick Matthias Alexander und Moshé Feldenkrais gingen von der prinzipiellen Lernfähigkeit des Menschen aus. Mit ihrer Arbeit knüpften sie an die Fähigkeit des Menschen an, sich in der aktiven Auseinandersetzung mit der Welt zu entwickeln, zu reifen, in Konfliktsituationen individuelle Lösungen zu finden und das Leben in einer ständig sich verändernden Welt zu meistern. Sie entwickelten konkrete, praktische Übungswege auf der Basis ihres Wissens und ihrer Erfahrung der Untrennbarkeit von Körper und Geist. Ihr ganzheitlicher Ansatz schlägt sich in ihren Konzepten nieder: bei Gerda Alexander im Konzept der Tonusregulierung, bei F. M. Alexander im Konzept des Selbstgebrauchs und der primären Steuerung, bei M. Feldenkrais im Konzept, lernen zu lernen. Alle drei nahmen eine experimentelle Grundhaltung ein: In Selbstversuchen und Beobachtungen an Schülern erforschten sie Zusammenhänge, stellten Arbeitshypothesen auf, überprüften sie auf ihre Gesetzmäßigkeiten hin, tauschten sich untereinander und mit Pädagogen, Therapeuten, Ärzten, Künstlern verschiedener Richtungen aus. Sie ließen ihren Geist weit schweifen und blieben in ihrer Arbeit konkret. Ihre Frage lautete: Wie gestalte ich meine eigenen Lernprozesse «effektiv», d. h. ökonomisch, meinen Möglichkeiten entsprechend und den Gesetzmäßigkeiten gehorchend. Sie verstanden sich als Pädagogen im Sinne von Wegbegleitern. Dieser Weg führt über die Hilfe zur Selbsthilfe und mündet letztlich in die Selbsterziehung zu verantwortlichem Handeln. So entstanden Methoden, d. h. konsequente praktische Übungswege, zur (Selbst-)Gestaltung von Lernprozessen. Frederick Matthias Alexander, Gerda Alexander und Moshé Feldenkrais leben nicht mehr. Wie ihre Arbeit sich weiterentwickelte und welchen Platz in unserer Gesellschaft sie heute einnimmt, wäre zu erforschen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, gemeinsame Grundzüge gegenwärtiger pädagogischer Praxis (dieser pragmatische integrierende Arbeitsbegriff wurde von Rudi Krawitz vorgeschlagen) zu beschreiben.
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Die bewusste Wahrnehmung des eigenen Leibes in Ruhe und Bewegung bewirkt etwas, das als «Phänomen» in Erscheinung tritt und oftmals in Erstaunen versetzt. Besonders zu Beginn der Arbeit sind es oft diese Phänomene, die Aufmerksamkeit erregen, die Neugier und Hoffnung wecken. Das so entstandene Interesse (= bei der Sache sein) führt den Schüler mehr und mehr zu der Frage: Wie bewirke ich etwas? Denn er erfährt, dass die Art und Weise, wie er etwas tut, die auftretenden Phänomene verändert. Auf diese Weise rückt der Prozesscharakter allen Geschehens in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In einem Prozess werden Veränderungen wahrgenommen und Zusammenhänge aufgespürt. Die Lust am spielerischen Umgang, am Experimentieren und Erforschen, erwacht und führt aus eingefleischten Gewohnheiten in neue Gefilde, wo Fragen entstehen – Fragen, die helfen, Vorgänge unvoreingenommen zu erforschen. Im Fragen begegnet sich der Schüler als Fragender und Befragter. Er beobachtet nicht nur Veränderungen, sondern nimmt sich selbst als bewirkendes (handelndes) Subjekt wahr. Das äußert sich darin, dass der Prozess der Veränderung als «etwas Eigenes» oder «persönliches Potential» empfunden wird. Das Vertrauen in die eigene Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit wächst. Die drei aus Schülersicht dargestellten Lernaspekte: beobachten • Phänomene Zusammenhänge • sich als bewirkendesaufspüren (handelndes) Subjekt wahrnehmen • bezeichnen keine voneinander getrennten Phasen oder Stufen des Lernvorgangs; sie sind immer zugleich enthalten. Ihnen entsprechen die pädagogischen Maßnahmen: Erfahrungsraum schaffen • einen Achtsamkeit unterstützen: Aufmerksamkeit lenken • Beziehung gestalten: sich begegnen. • Sie bilden die Voraussetzung dafür, dass die Lernaspekte zum Tragen kommen können, und sind konstitutiv für den Dialog zwischen Schüler und Lehrer.
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Aspekte somatopsychischen Lernens Einen Erfahrungsraum schaffen (Lernaspekt: Phänomene beobachten) Wenn Lernen im Sinne der Methodenbegründer als prinzipielle Selbstgestaltungsmöglichkeit realisiert werden soll, kann der Lehrer nur ein im ständigen Dialog befindlicher unterstützender Begleiter sein. Er muss einen Erfahrungsraum schaffen, in dem sich das Individuum (als ungeteiltes Ganzes) spüren und entfalten kann. Der Erfahrungsraum muss sowohl ein Schutzraum als auch ein Freiraum sein. Maßnahmen, die eher strukturierend, haltgebend sind und geeignet, einen Schutzraum zu schaffen, sind z. B.: Handlungsanweisungen • klare einfache die ohne Leistungsdruck und Leistungsbewertung aufge• nommenAufgaben, werden können Aufgaben; Bezug zu realen Gegebenheiten • konkrete vertraute Situationen (Lebens-, Alltagsbezug) • vergleichbare Situationen • Geltenlassen jeder Erfahrung; Verzicht auf wertende Äußerungen. • Andere Maßnahmen sind eher dazu angetan, einen Freiraum zu schaffen: Fragen, die neue Fragen nach sich ziehen • offene Aufgaben, die keine Lösung vorwegnehmen, die individuellen Spiel• offene raum lassen auf Suggestion und «Vormachen» • Verzicht Verzicht Zweckbindung und Zielgerichtetheit • freie Zeitauf zum Experimentieren. • Mit seinem Unterricht bewegt sich der Lehrer im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen, zwischen Führen und Freigeben, zwischen Begrenzung und Öffnung, zwischen Planung und Intuition. Das erfordert von ihm ein hohes Maß an innerer Klarheit, Einfühlungsvermögen und Flexibilität, die er nur – auf der Basis eines ausreichenden Erfahrungswissens – durch stetiges Üben von Achtsamkeit realisieren kann. Der Lehrer ist in jedem Augenblick auch ein Lernender. Sein Unterricht formt sich aus dem (verbalen und nonverbalen) Dialog mit den Schülern. Auch der Schüler bewegt sich zwischen zwei Polen, zwischen Bewahren und Verändern, zwischen Sicherheit und Wagnis. Er entscheidet (zunehmend bewusst), wie er Aufgaben nach seinen Möglichkeiten umsetzt und Situationen gestaltet. Dabei stößt er an seine Grenzen und überschreitet sie in Augenblicken. Wenn der Schutzraum sich zum Freiraum weitet und der Freiraum immer wieder
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verlässlichen Schutz bietet, kann der Schüler neue Schritte wagen. Er beobachtet Phänomene und Prozesse ohne Gefahr für die eigene Integrität mit dem Wissen, dass er das eigene Maß finden und sich jederzeit in den Schutzraum zurückziehen kann. In diesem Sinne gestaltet er seinen eigenen Erfahrungsraum, der ihm vom Lehrer als Schutz- und Freiraum angeboten wird.
Achtsamkeit unterstützen: Aufmerksamkeit lenken (Lernaspekt: Zusammenhänge aufspüren) Immer wieder sind Lehrer konfrontiert mit der Frage nach «Übungen» (meist gegen körperliche Beschwerden). Der Wunsch ist verständlich. Übungen sind jedoch eine Falle. In dem Maße, wie sie sich verselbständigen und zu einem mechanisch ablaufenden Programm werden, sind sie sinnlos, wenn nicht schädlich. Gesundheit ist nicht machbar, nicht verfügbar. Achtsames Üben kann jedoch heilsame Wirkung hervorbringen, indem die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge gerichtet wird. So können Veränderungen wahrgenommen werden. Der somatopsychische Lehrer unterstützt das Aufspüren von Zusammenhängen, indem er die Aufmerksamkeit wach hält und lenkt: in verschiedene Bereiche oder Räume des Körpers, von innen nach außen und außen nach innen, von der Körperebene (Empfinden) auf die des Fühlens und Denkens. So deutet er auf Verbindungen hin, ohne etwas vorauszunehmen. Indem der Schüler sich dieser Führung überlässt, ist er befreit von Entscheidungen bezüglich dessen, was zu tun ist. So kann er seine Wahrnehmung ständig verfeinern und seine Beweglichkeit verbessern. Auch hinsichtlich der Aufmerksamkeitslenkung gilt: Der Lehrer vollzieht während des Unterrichtens die Aufgabe intentional in und an sich. So kann er sich einfühlen und Schwierigkeiten Einzelner aufgreifen. Seine wache Präsenz ist Bedingung und zugleich Folge seines eigenen achtsamen Übens.
Beziehung gestalten: sich begegnen (Lernaspekt: sich als handelndes und bewirkendes Subjekt wahrnehmen) Somatopsychisches Lernen ereignet sich im permanenten Dialog des Individuums mit sich selbst und seiner Welt. Im Unterricht werden alltägliche Lebenssituationen thematisiert, sodass der Schüler den Bezug zu sich selbst und seiner Realität herstellen kann. Dazu kommt jedoch ein Moment des Unvertrauten; eine Aufgabe, die dem Schüler zumutet, etwas Außergewöhnliches auszuprobieren. Aus der Spannung zwischen Bekanntem und Neuem ergeben sich Aufgaben, die der Lehrer – nach Maßgabe dessen, was er von den Schülern aufnimmt – immer neu formuliert.
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Das Ungewohnte, Fremde eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf den Gegenstand, es erweitert auch den eigenen Horizont. Indem der Schüler mit den Dingen «spielt», lernt er sich kennen, seine Grenzen, seine Möglichkeiten. Der Weg nach innen ist kein Selbstzweck und hat nichts mit egozentrischer Selbstsuche zu tun; er ist Grundbedingung verantwortlichen menschlichen Handelns. Die fragende Grundhaltung des Lehrers verweist den Schüler auf sich als Erkenntnissubjekt. (Ein Schüler drückt das aus mit der Formulierung «Fragen, die man aufnimmt und an sich selbst weitergibt».) Hier wird deutlich, dass es nicht um eine Sache an sich geht, sondern um die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Sache im Dialog mit anderen (Lehrer, Gruppe). Der Dialog in der Gruppe kann verbal (Erfahrungsaustausch) und nonverbal (durch geeignete Aufgabenstellung in Gruppen- oder Partnerarbeit) angeregt werden. Dabei geht es um die Frage, wie das Individuelle eingebracht werden und der Lösung eines gemeinsamen «Problems» dienen kann. Das Leben in einer sozialen Gemeinschaft fordert von jedem Individuum, dass es seine eigene Antwort auf die Herausforderungen des Alltags gibt, d. h. verantwortlich handelt.
Bildungsphilosophisch orientierte pädagogische Konzepte als Orientierung für die pädagogische Praxis Mit den drei Lernaspekten und den ihnen zugeordneten Maßnahmen sind Grundzüge pädagogischen Handelns in den Methoden sichtbar geworden. Sie an ein geschlossenes Theoriekonzept zu binden hieße, ihrem Geist zu widersprechen. Sie sollen lediglich in einen losen pädagogisch-philosophischen Bezugsrahmen gestellt werden, der geeignet scheint, das Wesen und die (mögliche) Relevanz dieser pädagogischen Praxis zu erhellen. «Geschichtlich» lebt der Mensch nicht dann, wenn er Geschichte «hat», sondern wenn er Geschichte «ist». Bislang geschieht sie ihm noch – und sie geschieht ihm am unausweichlichsten, wo er sie «planend» in den Griff zu bekommen versucht. (Heinrich Rombach 1980, S. 25) In seiner «Phänomenologie des Bewusstseins» (1980) sieht Heinrich Rombach die Phänomenologie als «ungehobene Grundform» des gegenwärtigen Bewusstseins, die alle wesentlichen Erscheinungen unserer Zeit durchzieht. Sie ist grundlegende Vernunftforschung, wobei sie Vernunft nicht als gegeben und nur zu erforschen, sondern zu entwickeln und hervorzubringen versteht. («Selbstklärung», «Selbsthervorbringung», «Selbsterhellung»). Phänomenologie wird konkrete, praktische
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Philosophie, indem sie sich nicht nur für abstrakte Grundformen der Erkenntnis des Menschen interessiert, sondern vor allem für die Grundstrukturen und Grundgesetze seiner Lebenspraxis. Sie ist «nicht nur Phänomenologie ihren Inhalten, sondern auch Phänopraxie ihrer Wirklichkeit nach. Sie ist Erscheinenlassen und Erscheinenmachen in einem». (ebd., S. 24) Für Rombach ist Phänomenologie als «Selbsthervorbringung der Vernunft» eine historische Aufgabe: Was in die Erscheinung zu kommen verlangt, ist ein neues Bewusstsein, eine neue historische Gestalt der Vernunft. Diese bekundet sich zunächst darin, die gegebenen Grundformen des Denkens und Handelns nicht als unveränderlich und nicht als von Natur aus in Ordnung anzusehen, sondern sich skeptisch dazu zu verhalten, nicht annehmend und nicht verwerfend, sondern erforschend. (ebd., S. 21) Am «Erscheinenmachen» arbeiten die drei Methoden; ihr pädagogisches Handeln ist Phänopraxie (auch wenn die Alexander-Technik und die Feldenkrais-Methode genuin keine phänomenologischen Methoden sind). Die Spaltung in Körper und Geist kann in dem Maße überwunden werden, wie der Gedanke der Körperkontrolle oder Körperbeherrschung durch den Geist aufgegeben wird zugunsten des «Leibseins», d. h. der «Selbsthervorbringung» und Selbstgestaltung. Die Diskussion, inwieweit dies in den unterschiedlichen Methoden praktisch geschieht bzw. sie sich in diesem Sinne ergänzen und gegenseitig befruchten können, hat erst begonnen. Mit ihr stellt sich die Frage nach einer gemeinsamen phänomenologisch begründeten Methodologie. Die Erforschung der Grundstrukturen und Gesetzmäßigkeiten, wie die drei Methoden sie anregen, kann einen wichtigen Beitrag zu einer «konkreten Philosophie» leisten und dazu führen, gegenwärtiges Geschehen transparent zu machen. Umgekehrt hätte eine phänomenologische Philosophie im Sinne Rombachs konkret zu werden, indem sie aus der Praxis gewonnene Erkenntnisse formuliert und ein Zusammenhangbewusstsein schafft. Der offene Dialog zwischen Praktikern und Theoretikern ist wünschenswert und an der Zeit. Erziehende Befreiung bedeutet Verzichtenlehren – auf das Aneignen und Bekommen, auf das Haben und Verfügen – und Geduldigwerden – gegenüber der zögernden Ankunft der Einsicht. (Theodor Ballauff nach Krawitz, S. 168) Ballauff setzt sich in seinem grundlegenden pädagogischen Werk («Systematische Pädagogik» 1970) mit der Tradition von Bildungstheorien auseinander und stellt subjektivistische und anthropologische Konzepte von Erziehung, Bildung und Unterricht radikal in Frage. Im vorangestellten Zitat formuliert er einen hohen Anspruch an eine pädagogische Praxis, in der das «Denken» im Mittelpunkt steht.
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Aus phänomenologischer Sicht geht es nicht darum, sich etwas anzueignen oder verfügbar zu machen; es geht vielmehr darum, einer Sache gerecht zu werden: Denken zu «lehren», das heißt, zur Erfüllung der Zeit anzuhalten, bei einer Sache anzuhalten und immer wieder zu ihr zurückzukehren, bis sie sich auf das ihr Wesentliche hin erschließt. Das erfordert «Zeit» (…) Aneignen oder Erfüllen – um diesen Unterschied geht es. (Ballauff nach Krawitz, S. 180) Solange die Methoden sich mit ihrer Arbeit außerhalb institutioneller Bildungseinrichtungen bewegen, d. h. nicht curricular gebunden sind, können sie sich diesem Anspruch stellen. Auf dem Hintergrund zunehmender Beschleunigung in allen Lebensbereichen und ständiger Verfügbarkeit einer unbegrenzten Menge «Wissens» mutet die mahnende Forderung Ballauffs, zur «Erfüllung der Zeit» anzuhalten, «bei einer Sache auszuhalten und immer wieder zu ihr zurückzukehren», unzeitgemäß an. Wie ernst sie gerade auf dem angedeuteten gesellschaftlichen Hintergrund zu nehmen ist, liegt auf der Hand. In Ballauffs Pädagogik ist die Zeit das «Wesensgewährende», weshalb das «Zeit-Lassen» ein wichtiges Prinzip pädagogischen Handelns ist. «Geduldigwerden» bedeutet: nicht erzwingen. «Die Zeit erfüllen» heißt: den Dingen auf den Grund gehen. In der Praxis der Methoden wird oftmals bewusst ein «Zeit-Raum» gegeben, eine «freie Zeit», innerhalb derer der Schüler die eigene Weise und das individuelle «Maß» finden kann. Raum und Zeit werden selber zum Phänomen; sie sind nicht nur Voraussetzung, sondern auch Inhalt oder Gegenstand der Arbeit. Das Fragen gehört dem Menschen, es kommt ihm zu. Es ist nicht erwerbbar. Sagt man zu einem Individuum Mensch, dann spricht man vom Fragenden zugleich. (Alfred Petzelt nach Krawitz, S. 124) Petzelt gibt in seiner transzendental-kritischen Pädagogik des Dialogs dem Interaktionsaspekt Vorrang vor dem Inhaltsaspekt. Das einzelne Individuum lernt durch beständiges selbständiges Fragen. Als Fragender ist er aber immer auf ein Du angewiesen. Der Dialog konstituiert pädagogisches Handeln, das universell und lebenslang, also nicht auf Institutionen und Lebensabschnitte zu begrenzen ist. Schüler wie Lehrer stehen einer Sache gegenüber, die sie subjektiv unterschiedlich erleben und begreifen. Sie teilen sich ihre Fragen mit, greifen die Fragen der anderen auf und kommen so zu neuen Fragen, die eine vorläufige Antwort sein können. Beide sind dabei dem Prinzip der «leitenden Wahrheit» als transzendentalem Orientierungspunkt verpflichtet. So wird Unterricht zu einem Forum offener Forschungstätigkeit.
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Im Dialog geht es darum, einen angemessenen Zugang zur Sache zu finden, Zusammenhänge und Strukturen zu begreifen. Lernen findet statt in der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Sache im Dialog mit anderen. So ist jeder Dialogpartner ein Begleiter im Prozess der Selbsterziehung, d. h. die am pädagogischen Dialog beteiligten Individuen sind prinzipiell Partner. Der Schüler hat nur da gelernt, wo er selbständig erkannt hat. Das schließt Hilfe nicht aus, sondern definiert sie im Sinne des Dialogs. (ebd., S. 129/130) Daraus ergibt sich für den Lehrer eine pädagogische Verantwortung: muss die Individuallage des einzelnen Schülers berücksichtigen. • ErEr darf «wirken» wollen. «Der Lehrende ist dafür verantwortlich, dass der • Schülernicht sich ausdrücklich nicht als von ihm ‹bewirkt› ansieht.» (ebd., S. 129) sich bewusst sein, dass es keine allgemein verbindliche Methode gibt; • Erdassmuss der jeweils eingeschlagene Weg einer unter vielen möglichen ist. muss sich stets der subjektiven Erkenntnismöglichkeiten des Schülers verge• Erwissern. Alexander-Technik, Eutonie Gerda Alexander und Feldenkrais-Methode bieten konkrete Einübung in Kommunikation im Sinne Petzelts an. Dabei wird dem nonverbalen Dialog gebührende Beachtung geschenkt. Verbaler und nonverbaler Dialog gehören zusammen: Aus den Körpererfahrungen erwächst das forschende Fragen, das wiederum die Erfahrung prägt. Das Individuum lernt durch die anderen. Im Dialog erfährt es sich als soziales Wesen, in seinen Beziehungen, seiner Einbindung einerseits, in seiner Besonderheit und Einmaligkeit andererseits. Im nonverbalen Dialog (praktische Körperarbeit) und verbalen Dialog (Erfahrungsaustausch) übt der Schüler, sich als «Teil» (der Gruppe) in einen sozialen Zusammenhang zu stellen und darin als «Ganzes» (Individuum) zu bestehen.
Zusammenfassung Bildungsphilosophisch orientierte pädagogische Konzepte, wie sie hier (nach Krawitz) nur sehr verkürzt dargestellt werden konnten, sind eine Orientierung für die pädagogische Praxis und umgekehrt. Rudi Krawitz stellt mit Bedauern fest, dass die wertvollen pädagogischen Impulse von Heinrich Rombach, Theodor Ballauff und Alfred Petzelt von der Pädagogik kaum aufgenommen worden sind. In der Praxis der Alexander-Technik, der Eutonie Gerda Alexander und der FeldenkraisMethode jedoch finden sich wesentliche Merkmale dieser Konzepte. Hier wurde
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ein erster Versuch gewagt, Praxis und Theorie in Verbindung zu bringen und darin drei Gemeinsamkeiten herauszuheben: Überwindung der Spaltung von Subjekt und Objekt in der Selbstgestaltung • die (Rombach: «Leibsein») Umgang mit Zeit (Ballauff: «Geduldigwerden», «Erfüllung der Zeit») • der • das partnerschaftliche Lernen im Dialog (Petzelt: der Mensch als Fragender). Man könnte diese Wesensmerkmale auch als «Ziele» bezeichnen, auf die sich Schüler und Lehrer hinbewegen, im Sinne einer gemeinsamen Aufgabe. Wie dies in der Praxis geschieht, wurde anhand der Lernaspekte und der entsprechenden pädagogischen Maßnahmen aufgezeigt.
Exkurs: Die pädagogische Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby Nun hoffe ich aber zuversichtlich, dass Sie bei mir nichts lernen werden! Ich möchte, dass Sie mir auch nichts glauben! (Jacoby 1991, S. 27/29) Werden Sie erfahrbereit! (Gindler nach Zeitler 1991, S. 22) Elsa Gindler (1885–1961), ursprünglich von der gymnastischen Körperschulung herkommend, bezog sich in ihrer Arbeit auf Dinge des täglichen Lebens und hielt in einfachen Experimenten dazu an, «sich selber als Instrument wahrzunehmen, zu forschen, zu erkennen, wie wir uns zweckmäßig verhalten oder unzweckmäßig». (ebd., S. 129) Dies war auch Anliegen von Heinrich Jacoby (1889-1964), der die Arbeitsweise Elsa Gindlers 1925 in Berlin kennen lernte und darin fand, was er im Bereich der Körperarbeit (Gymnastik, Tanz) lange vergeblich gesucht hatte. Von der Musik herkommend, hatte er sich seit 1913 mit Grundproblemen der Wahrnehmungsund Ausdrucksfähigkeit praktisch und theoretisch auseinander gesetzt und war zunächst den Ursachen des so genannten Unmusikalischseins auf den Grund gegangen. (Später dehnte er seine Forschungen auf andere Gebiete aus.) Er wies nach, dass Unmusikalischsein weitgehend ein Problem gestörter Bereitschaft, d. h. ein Zustands- und Verhaltensproblem ist, und arbeitete in seinen Kursen an der «Bereitschaft, sich gewissermaßen von der Aufgabe mitteilen zu lassen, wie man sich beim Erfahren und bei der Leistung zu verhalten hat; die Bereitschaft, sein ‹Körperinstrument› durch Kontakt mit der Aufgabe zweckmäßig für die zu lösende Aufgabe verwandeln zu lassen». (Jacoby 1991, S. 13) Zweckmäßig bedeutet ihm: der Struktur der menschlichen Organisation und den Gegebenheiten der
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Aufgabe entsprechend. Schöpferische Leistungen sind Ausdruck des Gehorsams gegenüber den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Organisation und ihrer Funktionsweise. Alles Machen-Wollen dagegen ist kontraproduktiv. Die kongeniale Zusammenarbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby, die selbst unter schwierigsten politischen Verhältnissen anhielt, war außerordentlich fruchtbar und hat wichtige und weit reichende Impulse an viele andere Methoden vermittelt. In jeder Hinsicht waren die beiden Pioniere dessen, was die Autoren dieses Buches mangels besserer Alternative mit dem Begriff «somatopsychisches Lernen» bezeichnen.
Somatopsychisches Lernen als Schüler-Lehrer-Dialog Der Einsatz für ein wissenschaftlich fundiertes Bild vom Menschen und von seiner Entfaltungsfähigkeit ist – auch heute noch – ein Kampf gegen Vorurteile, Denkund Verhaltensklischees. Lehrer der Alexander-Technik, der Eutonie Gerda Alexander und der Feldenkrais-Methode bemühen sich darum, zweckmäßige Frageund Aufgabenstellungen zu entwickeln, die ein «Erarbeiten» möglich machen im Unterschied zum «Beibringen». Sie unterstützen auf je eigene Weise sachliche praktische Forschungsarbeit an der Qualität menschlichen Verhaltens und Sichgebrauchens. Am Beispiel der dreizehnjährigen Meike (S. 13) wird deutlich, wie der Alexander-Technik-Lehrer in einer Kombination aus taktiler Führung und verbalem Dialog Erfahrung und Erkenntnis ermöglicht, so dass an die Stelle von Belehrung ein gemeinsames Forschen tritt, das Schüler wie Lehrer mit ihrer ganzen Person einnimmt. Das zweite Beispiel aus der Praxis einer Eutonie-Lehrerin (S. 49) repräsentiert eine typische Lernsituation in einer Eutonie-Gruppenstunde. Durch eine sachliche Forschungsaufgabe («Spür deine Füße: Wie stehst du?») findet die Schülerin einen Weg aus einer scheinbar ausweglosen angstbesetzten Situation, auf die sie sich einlassen kann, weil sie der Lehrerin vertraut. Außerdem zeigt sich, auf welche Weise das Individuum durch die Gruppe heilsame Stärkung statt Konkurrenz erfährt und wie sich dies in seinen Bewegungen äußert. Diese Stärkung des Individuums beschreibt auch die zweite Klientin nach einigen Erfahrungen mit Unterricht und Behandlung durch einen FeldenkraisLehrer (S. 97 ff.). Nach jahrelanger Zeit chronischer Schmerzen begreift sie sich zum ersten Mal wieder als Subjekt, das Qualitätsveränderungen bewirken und spüren kann. («Ich war auf dem Weg von ‹einen Körper haben› zu ‹im Körper sein›.») Die gemeinsame Suche nach Bewegungsmöglichkeiten, die Zeit, die der Lehrer ihr lässt, um neue Erfahrungen zu sichern, verändern ihre Lebensqualität – nicht nur auf der körperlichen Ebene – entscheidend.
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In allen drei Beispielen, die stellvertretend für viele andere stehen, begegnen sich Schüler und Lehrer in einer gemeinsamen Zielsetzung oder Aufgabenstellung, die ihre Beziehung prägt. Im Folgenden sollen die Aufgaben von Schüler und Lehrer erläutert und ihre Beziehung neu bestimmt werden.
Die Aufgaben des Schülers Das Verb aufgeben trifft in zweierlei Bedeutung zu: Dem Schüler wird etwas aufgegeben (und er nimmt es auf), vor allem aber muss er etwas aufgeben, d. h. etwas lassen, was meist der schwierigere Part ist. Es gibt etwas sehr tief Sitzendes zu «verlernen». H. Jacoby sieht in der Angst vorm Falschmachen, in der wir – nicht erst in der Schule, aber dort entscheidend – erzogen worden sind, das größte Hindernis. Alles zielt darauf, möglichst schnell möglichst wenig Fehler zu machen und «richtige» Antworten zu geben. Die ständige Sorge, etwas «falsch» zu machen, und die gelernte Gewohnheit, schnelle Antworten zu produzieren und Fragen (als Zeichen von Nichtwissen) zu vermeiden, sind Ausdruck unnötiger Anstrengung mit fatalen Folgen. (Angst bewirkt Kontraktionen, die zu Bewegungsstörungen führen.) Der ungeheure Druck, unter dem heute viele stehen, begegnet somatopsychischen Lehrern in verschiedener Gestalt: der Ungeduld (z. B. der Wunsch nach schnellen Erfolgen, die Frage • innachZeichen der Dauer) in Zeichen des Misstrauens, der Skepsis, gelegentlich auch der Abscheu (z. B. • gegen das Liegen am Boden, dagegen, sich mit dem eigenen Körper zu beschäf-
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tigen) in Zeichen von Vorurteilen und Denkklischees (z. B. das ist nichts für mich, ich bin unsportlich, unbegabt etc.) in Zeichen von intellektueller Distanz (z. B. verstehen wollen, diskutieren, intellektuelle Fragen stellen, ohne sich auf Erfahrungen einzulassen) in Zeichen intellektueller Arroganz (z. B. einordnen, bewerten, beurteilen, ohne durch eigene Erfahrungen zu überprüfen) in Zeichen von Angst vor den eigenen Gefühlen, Gedanken und Körperempfindungen (z. B. Unruhe, Nervosität, Aggression, Vermeidung, Fernbleiben).
Die Praxis zeigt jedoch, dass der unmittelbare Zugang über das Körpererleben und die systematische, wissenschaftlich-nüchterne Herangehensweise der Methoden Vertrauen schafft, so dass unangemessene Denk- und Verhaltensweisen allmählich «zurechtgerückt» werden. Indem diese aber ihren Platz haben, nicht bewertet und nicht verdrängt werden, sind sie bewusstseinsfähig. Das macht Veränderungen überhaupt erst möglich.
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Somatopsychisches Lernen ist ressourcen- und prozessorientiert: Der Schüler erfährt, was er «kann». Das ermutigt ihn. Gleichzeitig erlebt er, wie er sich selber störend einmischt und an seiner Entfaltung hindert. Dies kann zwar schmerzlich sein, muss ihn aber nicht entmutigen; denn der Schüler erfährt, dass seine Art des Umgangs mit sich nicht abgelehnt wird, dass es jedoch (bessere) Alternativen gibt, die er sich erschließen kann. Dazu wird er angeleitet. Neu zu lernen oder besser: zu erarbeiten sind also die Bereitschaft und Fähigkeit zu folgenden Verhaltensqualitäten (zur Erinnerung werden sie im Folgenden in Beziehung gesetzt zu den o. g. «Zielen», auf die sich Schüler und Lehrer gemeinsam hinbewegen): spüren als Ganzes durch die Auseinandersetzung mit der Realität. Ziel: die • sich Überwindung der Spaltung von Subjekt und Objekt in der Selbstgestaltung
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(Rombach: «Leibsein») sich Zeit geben, still werden, wirken lassen. Ziel: der Umgang mit Zeit (Ballauff: «Geduldigwerden», «Erfüllung der Zeit») fragen, Umwege gehen, Fehler machen, ohne zu urteilen. Ziel: das partnerschaftliche Lernen im Dialog (Petzelt: der Mensch als Fragender).
Die Aufgaben des Lehrers Der Lehrer gestaltet den Unterricht im Dialog mit den Schülern, d. h. er muss sich einfühlen und spontan auf aktuelle Situationen reagieren können. Das erfordert Vertrauen in die eigene innere Ordnung. (H. Jacoby spricht vom «Empfinden für das Stimmende», das zur biologischen Ausrüstung eines jeden Menschen gehört.) Das Vertrauen in die leitende Instanz kann nicht über den Intellekt «erworben» werden. Leibliche Erfahrungen in Situationen, in denen es sich «beweisen» und bewusst werden kann, sind existenziell notwendig. Auf dieser Basis kann der Lehrer dem Schüler dessen eigene Fähigkeit zu Selbständigkeit und Selbstvertrauen «vermitteln», d. h. ihn grundsätzlich als Partner anerkennen. Diese menschliche Wertschätzung äußert sich darin, dass der Lehrer auf Handlungen verzichtet, die im Allgemeinen mit Erziehung und Unterricht verbunden sind: gut zureden, «motivieren» • ermuntern, loben, tadeln, bewerten, beurteilen • korrigierend, besserwissend eingreifen • zeigen, vormachen, demonstrieren • Resultate vorwegnehmen • überzeugen, beweisen wollen • Ergebnisse, Erfolge erzielen wollen • Leistung fordern •
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erzwingen • Ergebnisse • zur Eile antreiben, unter Zeitdruck setzen. Auch der (somatopsychische) Lehrer muss also etwas aufgeben zugunsten des partnerschaftlichen Dialogs und sein Verhalten immer wieder überprüfen (vgl. Petzelts Pädagogik des Dialogs: nicht «wirken» wollen).
Die Schüler-Lehrer-Beziehung Durch den Verzicht auf Kontrolle und Beurteilung und durch die Art der Aufgabenstellung verweist der Lehrer auf eine Sache, auf die der Schüler sich ständig bezieht. Der «Gegenstand» ist im Fokus, nicht die Personen in ihrer Beziehung zueinander. (Durch Kontrolle und Beurteilung entsteht ein Machtgefälle; die Beziehung rückt in den Mittelpunkt, die Sache tritt tendenziell dahinter zurück.) Schüler und Lehrer begegnen sich in einer Aufgabe, in der Erforschung, im Ausprobieren und Reflektieren dessen, was die Sache ihnen «bietet». Diese Arbeit bewirkt wahrnehmbare leibliche Veränderungen, die das Interesse des Schülers wach halten und den Lehrer auffordern, neue Aufgaben zu erfinden und Aufgaben neu zu formulieren. Die Ausrichtung der Dialogpartner auf die Sache hilft, sich selbst (und in der Folge auch anderen) unvoreingenommen zu begegnen, eigene Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Verhaltensqualitäten zu überprüfen und unabhängig zu werden. Das klärt auch die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer. Traditionelles Rollenverhalten kann nach und nach abgelegt werden.
Gesellschaftliche Funktionen der Methoden Pädagogische Aufgaben werden in vielen Lebensbereichen nicht mehr ausreichend wahrgenommen oder an Spezialisten delegiert. Die Auswirkungen sind – nicht nur an den Schulen – immer deutlicher spürbar. So genannte Körpertherapien wie die Alexander-Technik, die Eutonie Gerda Alexander und die Feldenkrais-Methode haben neben den Psychotherapien längst eine wichtige kompensatorische Funktion übernommen. Dadurch, dass sie sich nicht etabliert haben, sind sie nun schon über Generationen hinweg frisch und lebendig geblieben. Der Nachteil ist, dass sie ihre potentielle Wirksamkeit nicht entfalten und nur einen relativ kleinen Anteil der Bevölkerung erreichen. Die drei Methoden verstehen sich nicht als Alternative, weder im medizinischtherapeutischen Bereich zur Schulmedizin mit ihren Heil-Hilfsberufen, noch im pädagogischen Bereich zum Unterricht an allgemein bildenden Schulen. Die Autoren dieses Buches sind sich darin einig, dass somatopsychisches Lernen mehr
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als eine bloß kompensatorische Funktion in der Gesellschaft haben soll und muss. Neben dem Bereich der Erwachsenenbildung halten sie eine breitere Integration im Ausbildungsbereich für notwendig. Berufliche Qualifikation in allen pädagogischen, therapeutischen und künstlerischen Berufen ist angesichts der schnell sich verändernden hohen Anforderungen weitgehend eine Frage der Persönlichkeitsstärkung und darf nicht zur Vermittlung von Techniken und Wissen aus zweiter Hand verkommen. Somatopsychische Lehrer können eine komplementäre Funktion übernehmen, wie es in Einzelfällen schon praktiziert wird. In interdisziplinären Teams wären aus der Praxis heraus Konzepte zu entwickeln, wie somatopsychisches Lernen in verschiedene Ausbildungen integriert werden kann, ohne das Gewachsenes und Bewährtes über Bord geworfen werden muss. Eine Zusammenarbeit zwischen «neuen» und «alten» Berufen ist an der Zeit. Dazu müssen sich staatliche Institutionen für die «neuen» Berufe öffnen. Eine weitere, umfassende Möglichkeit sehen die Autoren in einer somatopsychischen Grundausbildung im Hochschulbereich, eine Art Studium generale, auf dessen Basis junge Menschen, sich spezialisierend, in verschiedene Richtungen weitergehen können: in ein Aufbaustudium als somatopsychischer Lehrer (mit künstlerischem, therapeutischem oder pädagogischem Schwerpunkt), in ein Medizinstudium, ein Lehrerstudium, ein Sportstudium, eine künstlerische Laufbahn (Tanz, Musik, Theater) etc. In die Um- und Neugestaltung traditioneller Studien- und Ausbildungsgänge einbezogen, könnten Methoden wie die Alexander-Technik, die Eutonie Gerda Alexander und die Feldenkrais-Methode wichtige innovative Funktion haben. Über den Fort- und Ausbildungsbereich kommen mittel- und langfristig auch den Schulen und Kindergärten Impulse zu, und zwar von innen her, durch die Erzieher und Lehrer. Das schafft wiederum die Basis für eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen «neuen» und «alten» Berufen. In wissenschaftlicher Forschungsarbeit sollten die einzelnen Methoden vermehrt Gelegenheit bekommen, sich ihrer Überprüfung zu stellen, und den Dialog mit Wissenschaftstheoretikern nicht scheuen.
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Künstlerische Dimensionen und Anwendungsmöglichkeiten Irene Sieben
Zum Kunstbegriff Kunst, Kreativität und kinästhetisches Lernen scheinen einander so verwandt wie der Puls des arteriellen Blutes dem Pochen afrikanischer Trommeln. Der Künstler als Meister von Licht und Schatten, Raum und Zeit, als Schöpfer von Bewegung und Stille flieht permanent den Stillstand, die Statik, die Starre. Er sucht nach dem Geheimnis Leben: Bewegung, Veränderung, Wandel. Er transformiert Materie, materialisiert Gedanken. Die Transparenz, Durchlässigkeit und Wandlungsfähigkeit des Körpers im Tanz, seine Öffnung zum Resonanzraum für eine künstlerische Aussage beim Singen, sein Einssein mit einem Text und Charakter beim Schauspiel, sein Verschmelzen mit einem Musikinstrument oder mit bildnerischem Material wie Ton, Stein, Farbe legt den Vergleich nahe, der Körper selbst müsse wie ein Instrument gestimmt werden. Ein Instrument freilich mit Geist, Gefühl, Gespür, Gedankenkraft. Die psycho-physische Einheit, von der F. M. Alexander spricht. Bewusstheit und Achtsamkeit sind Schlüssel für die Verfeinerung menschlicher Fähigkeiten, wie sie in den Künsten notwendig sind. Sie zu erlangen, dazu ist intelligentes Lernen unerlässlich. So wie es die Forscherinnen und Forscher auf dem unendlich weiten Terrain der Selbstentfaltung des Menschen unabhängig voneinander, aber aneinander interessiert vorschlugen, ohne selbst je mit dem neugierigen Lernen aufzuhören. Sie lebten und bewiesen die Untrennbarkeit von Körper, Geist, Denken, Fühlen und Handeln. Es scheint, als hätten die Reisenden in die Tiefe des menschlichen Potentials Künstler damit magnetisch angezogen. Vielleicht, weil einige selbst Künstler waren oder durch ihr achtsames Tun unter den erweiterten Kunstbegriff fielen; im Sinne des Philosophen und Reformpädagogen John Dewey, der der Erfahrung selbst einen ästhetischen Wert verlieh und sie damit zur Kunst erhob.
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Zuviel stört Die Kunst des Bildhauens bestehe vor allem darin, Überflüssiges wegzunehmen. Michelangelo sagte damit nicht nur Wesentliches über sein eigenes Werk aus, sondern zugleich über das Kunstwerk schlechthin, über zweckmäßiges Handeln, die Ökonomie von Bewegung. Jedes Zuviel an Stein, Klang, Gestik, Spannung, Farbe übertönt die Grundidee, verhindert die Transformation. Peter Brook, einer der Väter des modernen europäischen Theaters, vermutet: «Ein großer Teil unserer übermäßigen, unnötigen Entäußerungen rührt von der Horrorvorstellung her, wir würden, wenn wir nicht ständig irgendwie signalisieren, dass wir existieren, auf einmal nicht mehr da sein.» Im Theater sei die Erkenntnis wichtig, «dass man völlig ‹da› sein kann, auch wenn man anscheinend nichts ‹tut›» (Brook 1994, S. 35). Der Komponist György Kurtág möchte «mit möglichst wenig Tönen so viel wie möglich sagen, und es so dicht als möglich sagen.» Aber wie ist das möglich? Durch Reduktion. Es gilt zu erkennen, was überflüssig ist – im Denken und im Tun, denn «jeder Muskel, der nicht nützt, hindert», so die Bewegungsforscherin Bonnie Bainbridge Cohen. «Parasitäre Bewegungen» nennt Moshé Feldenkrais die Störfaktoren eines fließenden Ablaufs. Für einen Musiker oder Tänzer haben sie schwerwiegende Folgen. Sie hemmen die Vervollkommnung einer Technik und verengen den Erlebnisraum, den Empfindungsreichtum in ästhetische Dimensionen hinein. Gerda Alexander spricht von «Tonusfixierungen». Die Fähigkeit, den eigenen Muskeltonus anzupassen, sei die Voraussetzung für das Miterleben und Interpretieren von Musik, aber auch anderer Künste. F. M. Alexander entdeckt, dass praktisch alle Einflüsse – körperliche, mentale, emotionale – in muskuläre Spannung übersetzt werden. Dieses «Overdoing» im gewohnten «Gebrauch» seiner selbst durch stetes Innehalten zu stoppen, helfe, seiner eigenen Natur näher zu kommen. «Körperliche Übertreibung» aufzugeben und den eigenen Empfindungen zu trauen, schlägt Elsa Gindler vor. Nur wer wirklich fähig sei zu entspannen, könne auch nützliche Spannkraft haben. Darunter verstehen wir den schönen Wechsel der Energien, der auf jeden Reiz reagiert, der zunehmen, abnehmen kann, je nach Beanspruchung … Und wenn wir die erfolgreichen Menschen beobachten, können wir oft sehen, dass sie die wundervolle Beweglichkeit des Reagierens, des steten Wechsels von Aktivität und Passivität haben. (Gindler in Zeitler 1991, S. 52) Kunst zwingt zum Wachsen Überflüssiges zu erkennen und loszulassen, um Natur freizulegen und effektives, von Zwängen, Spannungen, Einschränkungen, Voreingenommenheiten befreites Handeln möglich zu machen, zieht sich als gemeinsamer roter Faden durch die
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strukturell sehr unterschiedlichen Lernmethoden. Manche Künstler, nicht alle, fühlen sich angezogen von der Chance, in den hier beschriebenen Arbeitsweisen sich selbst zu begegnen. Es geht ihnen dabei nicht nur darum, technische Schwierigkeiten zu bewältigen oder sich von Schmerzen zu befreien, sondern als Mensch zu wachsen und zu reifen, «zweckmäßiges Fragenstellen» zu üben, wie Heinrich Jacoby es vorschlug. Künstler sind freilich durch ihr Medium, die kreative Arbeit, zur Weiterentwicklung gezwungen. Das haben sie den «Fließbandarbeitern» voraus: Die meisten von uns erlernen einen Beruf eher durch die Gelegenheit dazu als durch kontinuierliche Entwicklung und Entfaltung ihrer Möglichkeiten und Neigungen. Nur künstlerisch tätige Menschen – Musiker, Maler, Bildhauer, Dichter, Tänzer und manche Wissenschaftler und Schuster – bleiben nicht stehen und stecken, entwickeln sich nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht weiter, sondern auch als Person … Es liegt im Wesen jeder Kunst, dass, wer sie ausübt, seine Fähigkeiten immer mehr differenziert und variiert, bis ins hohe Alter hinein. (Feldenkrais 1985, S. 19)
Der erweiterte Kunstbegriff Interessant, dass Feldenkrais den Schuster nennt. Das verweist erneut auf den erweiterten Kunstbegriff, den Dewey (geboren 1859) einführte und der durch Joseph Beuys' radikales Kunstverständnis zeitweise in die akademische Ausbildung eingeschleust wurde. Für den umstrittenen bildenden Künstler Beuys war Kreativität ein Volksvermögen. Mit seiner strikten Behauptung, jeder Mensch sei ein Künstler, meinte er nicht, jeder Mensch sei gleich Maler oder Bildhauer, sondern er besitze schöpferische Fähigkeiten, die erkannt und ausgebildet werden müssten. Seine Grundformel des Seins spitzte sich zu der These zu: Der Begriff Kunst solle auf die menschliche Arbeit schlechthin angewendet werden – auf die Qualität seines Tuns. Genau wie Dewey: Achtet ein umsichtiger Handwerker bei der Ausübung seines Berufes darauf, dass er seine Arbeit einwandfrei und für sich selbst zufrieden stellend ausführt, und behandelt er sein Material achtsam und liebevoll, so ist seine Arbeit eine künstlerische Tätigkeit. (Dewey 1995, S. 11 f) Da in seiner Philosophie der Ursprung der Kunst in der Intensität der Erfahrung selbst liegt, hat die «genussvolle Perzeption» einen ästhetischen Wert, der sogar den Hörer oder Betrachter zu einem potentiellen Künstler macht. Peter Petersen widmet dem Aspekt kreativer Erfahrung, Intuition und Verwandlung im therapeutischen Prozess sein Buch «Der Therapeut als Künstler» und bemerkt:
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Ob Bewegung, Form, Farbe, Musik, Getast, Geruch, Geschmack oder Biographie – jeweils Sinnesgebiete verschiedenartiger Qualität und Komplexität – immer geht es um die Gestaltung der Sinneswahrnehmung, der ästhetischen Dimension. (Petersen 1987, S. 93) In diesem Sinne darf sich jeder Lehrer, der die rechte Neugier weckt und Intensität im Hier und Jetzt freilegt – sei es verbal oder mit der Sprache seiner Hände – getrost zu den Künstlern zählen.
Die Gründergeneration und die Künste F. M. Alexander F. M. Alexander kannte sich als Schauspieler und Rezitator auf der Farbpalette der Fähigkeiten und Störungen trefflich aus und nahm tiefgreifend Einfluss auf Menschen, die ähnliche Probleme mit der Stimme hatten wie er. Aber diese überall und jederzeit anwendbare Technik des Innehaltens und Lenkens richtungsweisender Gedanken in die Tätigkeit hinein, das Aufspüren hemmender Angewohnheiten, schien Musiker ebenso zu überzeugen wie die post-modernen Tänzer des New Yorker Judson Church Theater, Avantgardisten der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts; Menschen also, die viel sitzen und Menschen, die fast nie sitzen. Sie haben etwas gemeinsam: Im Sitzen, Stehen, Gehen, Liegen lernen sie, was immer sie für ihre Kunst gebrauchen können.
Gerda Alexander Gerda Alexander entstammt der Tradition des Genfer Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze, der im Festspielhaus Heinrich Tessenows in der Gartenstadt Hellerau/Dresden Anfang des 20. Jahrhunderts als Rhythmiker die Keimzelle künstlerischer Reformen legte. Ihr einflussreichster Lehrer war Otto Blensdorf, dessen rhythmische Schulung sich vom Tanz und Theater später auch auf soziales Engagement zu bewegte. Zwischen 1930 und 1951 hat Gerda Alexander in Schweden noch selbst inszeniert und choreographiert, bevor sie – wegen ihrer schwachen Konstitution – ihre künstlerischen Ambitionen aufgab und die Entwicklung der Eutonie vorantrieb. Die Tiefe der «Erfahrung von Bewegung, Berührung, Rhythmus, Klang, Horchen und dem Prinzip der Körperspannung» (Alexander in Moscovici 1991, S. 51) führt sie auf frühe Erlebnisse mit ihrem Vater zurück, der nachts, wenn sie weinte, ihre Füße über die Tastatur des Flügels gleiten ließ. Wie schon vor ihr Elsa Gindler vertrat sie in ihrer Methode, nicht mechanisch zu üben,
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sondern Verantwortung zu übernehmen für sich selbst: «Fühlend denken. Denkend fühlen. Handelnd spüren.» Wie auch die Alexander-Technik und erst später die Feldenkrais-Methode nahm die Eutonie mit ihrem reichen improvisatorischen Erfahrungsschatz Einfluss auf Instrumentalisten, Sänger, Schauspieler, Tänzer, vielfach auch an öffentlichen Institutionen. Lange bevor die Cembalistin Edith Picht-Axenfeld und der Flötist Aurèle Nicolet (nach ersten Spürerfahrungen bei der Gindler-Schülerin Frieda Goralewski) an der Musikhochschule Freiburg ihren Studenten die F. M. Alexander-Technik empfahlen, hatte Marcel Moyse, Nicolets Lehrer, in Paris bereits seinen Schülern Eutonie nahe bringen lassen, im gleichen Übungskreis wie den Musikern des Orchesters der Pariser Oper.
Elsa Gindler und Heinrich Jacoby Wesentliche Impulse für künstlerische Prozesse gab ursprünglich Elsa Gindler. Als Gymnastiklehrerin war sie in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Mitgestalterin einer kulturellen Reformbewegung. Sie entwickelte weder eine Technik noch eine Methode, dennoch ist ihr Einfluss bis heute groß. Keiner, der auf dem Gebiet der «Nachentfaltung» des Menschen, wie sie es nannte, arbeitet, kommt an ihren «Versuchen», sich selbst im Tun zu spüren, vorbei. Sie führen zu ganz pragmatischen Erkenntnissen: Selbstkontrolle und Selbsterkenntnis; Bereitwerden für die Lösung der Aufgaben im täglichen Leben, also auch in der Kunst. Ihr Einfluss auf den Musiker Heinrich Jacoby (und umgekehrt) gab der gemeinsamen «Arbeit am Menschen» eine stark schöpferische Farbe und eine analytische Dimension. Jacoby hatte bei Hans Pfitzner Komposition und Dirigieren studiert. Er suchte als Pädagoge, der sich von Dalcroze abgewandt hatte, nach einer Beziehung zwischen Musik und Bewegung, Angst und empfundener Unfähigkeit. Er sah die Wurzel einer als mangelhaft eingeschätzten Begabung in frühkindlichen Erziehungsfehlern und führte die «irreführende Art des Beibringens» als Grund für ein gestörtes Gesamtverhalten an.
Moshé Feldenkrais Diesem freien Forschen Gindlers und Jacobys nach der Quelle menschlicher Begabung ähnelt durchaus die präzise, systematische Suche des Wissenschaftlers Moshé Feldenkrais, der aus einer anderen Kultur stammte. Er nutzte Theorien aus der Mechanik, Kybernetik, Thermodynamik und Hirnforschung, um sie praktisch an sich selbst zu testen. Als Judo-Übendem mit dem Schwarzen Gürtel waren ihm die Prinzipien asiatischen Denkens auch für seine Experimente am
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eigenen Leib von Nutzen. Fasziniert von des Menschen potentiellen Fähigkeiten, war er an der Magie des Lernens selbst interessiert, an der evolutionären Entwicklung von Bewegung und Handlung, den Angstreaktionen als rudimentäre Reste von Schutz- und Überlebensreflexen. Er war zeitlebens fasziniert von außergewöhnlichen Fähigkeiten des Menschen im olympischen Camp, im Zirkus, auf dem Konzertpodium und auf der Weltbühne. Und da er selbst ein prominenter Mann war, zog er auch Prominente an: Musiker wie Yehudi Menuhin, Narciso Yepes, Igor Markevitch, den Regisseur Peter Brook mit seiner Schauspiel-Company, Tänzer, Schriftsteller, Mimen, Maler, Wissenschaftler, Politiker.
Wie Feldenkrais von Jacoby lernte Gegenstand seiner Anekdoten im Unterricht und in seinen Publikationen waren oft die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen. So hielt Feldenkrais sich selbst für völlig unmusikalisch und unbegabt fürs Zeichnen, bis ihn ein Schüler Anfang der fünfziger Jahre auf Heinrich Jacoby hinwies, den unverhofft Geistesverwandten. Während gemeinsamer Treffen zu praktischem Erfahrungsaustausch warf Jacoby Feldenkrais auf die Grundlagen dessen eigener Theorien zurück. Er forderte ihn, der ungeduldig auf dem Klavier herumhämmerte, auf, leise zu werden und dem von ihm oft zitierten Weber-Fechner-Gesetz zu folgen, nach dem «Reize und Reizreaktionen einem logarithmischen Gesetz folgen». (Jacoby aus Feldenkrais 1990, S. 32) Der Begabtenforscher konfrontierte den Physiker erstmals in dessen Leben mit der Dimension «lauschenden» Hörens. Und mit dem Phänomen des Sehens von Licht und Schatten als Schlüssel zum Malen. «Er hat mir nie gezeigt, wie man zeichnet oder malt, und er hat mich nie belehrt. Ohne es auch nur zu erwähnen, weckte er in mir die Frage, warum ich beim Zeichnen meiner eigenen Lehre nicht gefolgt war.» (Feldenkrais 1985, S. 37) Feldenkrais zählte Jacoby zu der Crème jener Lehrer, «die man mit Diamanten aufwiegen kann». (Feldenkrais 1990, S. 32) Was erhebt nun eine Bewegung, eine Sonate, eine Choreografie, ein Schauspiel, ein Gemälde zur Kunst? Hat der Volksglaube, Kunst komme von Können (wie man Können auch immer interpretieren mag, als Virtuosität oder vollendete Reife) seine Berechtigung? Oder hat Karl Valentin Recht, wenn er behauptet, Kunst sei schön, mache aber viel Arbeit? Was unterscheidet die Sternstunde des Künstlers von seinen Erdenstunden? Und wie müssen Zuschauende oder Zuhörende gestimmt sein, um die feinsten Nuancen veränderter Schwingungen überhaupt wahrzunehmen, die ihrem Leben eine Wendung geben können? Heinrich Jacoby drang als einer der Pioniere der Lernforschung tief in die Geheimnisse suggestiver Wirkung des Künstlers ein und entmystifizierte sie. Er nannte den Zauber «geglückte Darstellung» und machte sie an der «Qualität von Anwesenheit» fest.
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Für ihn war das Stillsein eine suggestive Kraft, ebenso die Fähigkeit, «improvisatorisch» und bereit zu bleiben, den Abläufen und Prozessen nach ihren Gesetzmäßigkeiten ihren Lauf zu lassen. Er verglich die «Ladung» eines Vortrages mit dem Schießen. In diesem Bild des Schießens ist das, was im Gesprochenen oder in der Musik geschieht, die hörbar werdende Geschossbahn. Es ist der Weg, der zurückgelegt worden ist vom Beginn der Explosion, der Expression, bis zum Wiedereintritt der Ruhe. Improvisatorisches Verhalten bedeutet, sich während des ganzen Verlaufes einer Äußerung so zu verhalten, dass diese sich dem Start entsprechend entwickeln kann. (Jacoby 1991, S. 423) Und indem der Künstler bereit ist, selbst Instrument zu werden, zu dienen, werde auch der Hörer verwandelt. Die Qualität von «Anwesenheit», sie überträgt sich. Das innere Bereitsein des Musikers, bevor er beginnt, das «Ausklingenlassen» der Musik, von dem Jacoby spricht, gehört ebenso zum künstlerischen Prozess wie der Mut, Angst zu verlieren oder trotz der Angst zu leben.
Tanz als Spiegel der Umbrüche im 20. Jahrhundert Die Entwicklung der modernen Kunst wäre ohne die Erweiterung und Ausdehnung des Menschenbildes durch medizinische Forschung, Psychologie, Psychoanalyse und Körpertherapien nicht vorstellbar. In enormem Tempo hat sich das Wissen um den menschlichen Körper, seine Gene und Bewusstseinszustände vermehrt. Speziell im Tanz, der körperlichsten und dem Fluss der Zeit am stärksten unterworfenen Kunstform, spiegelt sich dieses Phänomen rasant. Darum soll hier chronologisch der Wandel der Tanz-Ästhetik und die Interaktion von Tänzern und Forschern sensitiver Körperarbeit beleuchtet werden. Schauen wir heute auf die moderne Tanzgeschichte zurück, die ja mehr oder weniger das 20. Jahrhundert umfasst, dann wird deutlich, dass die gewaltigen Explosionen, die stattgefunden haben, maßgeblich geprägt waren durch die Neubestimmung von Körperbildern. (Odenthal 1999, S. 8) Die Entdeckung des kinästhetischen, des Bewegungssinnes durch die Wissenschaft erweitert das Spektrum der fünf Sinne. Die Befreiung des Tanzes aus den Fesseln des Balletts geht in Deutschland Hand in Hand mit der reformpädagogischen Bewegung. «Wie Röntgenstrahlen und Radium oder Relativitätstheorie schien der Rhythmus über Europa zu kommen». (Lämmel 1928, S. 12) Die rhythmische, «harmonische», tänzerische Gymnastik, natürliches Leben und (Nackt)-
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Körperkultur, Emanzipationsversuche aus Geschlechterrollen und sozialen Verhaltensmustern, die Ideologie eines neuen Menschen waren der Humus, auf dem der German Dance wuchs. Er stellte neue ästhetische Weichen, bevor der Nationalsozialismus sich ihn einverleibte und die Reformen zerschlug. Isadora, Hellerau und die Ballets Russes Barfüßig, in lockerer Tunika und mit skulpturalen Bewegungen war Isadora Duncan aus San Francisco im kaiserlich-bürgerlichen Berlin erschienen und eröffnete 1904 eine Tanzschule, nach dem Motto «der höchste Geist im freien Körper». Sie warf den ersten Stein für den Aufbruch. Wie Ted Shawn, Vater des American Modern Dance, war sie inspiriert von François Delsartes Erkenntnissen vom Informationswert der Bewegung, der emotionalen Färbung jeder Geste. Das Gros der seinerzeit Tanzenden hatte bei Gymnastikerinnen und Rhythmikern gelernt: Stebbins, Kallmeyer, Bode, Loheland. Die Dalcroze’sche «Bildungsanstalt» machte als multikultureller Schmelztiegel die Suchenden einer noch unbekannten Kunst mit den Neuerern der Ballets Russes bekannt: Diaghilew, Nijinsky, Strawinsky, Matisse. Mit «Le Sacre du Printemps» lösten sie 1913 in Paris einen der größten Theaterskandale aus, im Rücken den Rhythmus von Hellerau. Die Künstler als notorische Außenseiter, hier bewiesen sie, dass (gewaltfreier) Anarchismus und Avantgarde offenbar zusammengehören. Das Heilende, Sportive, Groteske überschwemmte die Künste und legte die Individualität frei. Gindler, Jacoby und Gerda Alexander prägten diesen Aufbruch – gewollt oder ungewollt – mit. Gindler war sehr beeindruckt von Isadora Duncan, der einzigen Tänzerin damals, die bewusst die Wirkung der Schwerkraft auf die Bewegung erfühlte – im Gegensatz zu allen anderen Tänzern, die gegen die Anziehungskraft der Erde ankämpften. Isadora Duncan arbeitete mit der Schwerkraft im Tanz wie Elsa Gindler im täglichen Leben. (Selver in Zeitler 1991, S. 71) Geistesverwandte In keiner anderen Kunstform haben sich die Ideen und Philosophien der Pioniere und Pionierinnen intelligenten Körperlernens so verwurzelt und weiterentwickelt wie im Tanz. Zu den Geistesverwandten, deren Einfluss die Ästhetik dieser Kunstform nachdrücklich prägte, gehörte Rudolf von Laban, «Gründungsvater» des Ausdruckstanzes und der Analyse von Bewegungsgesetzen. Er hatte sich ebenfalls bei Dalcroze umgetan. Der wichtigste Lehrer von Mary Wigman und Kurt Jooss war bereits durch Studien in Architektur, Bildhauerei, Mathematik und Physik akademisch vorgebildet. Ein Universalkünstler. In Bewegungs-Chören ließ er
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Laiengruppen den Wechsel von Spannungen, Impulsen und Schwüngen erleben. Zugleich erforschte Laban die Beziehung zwischen Raum, Kraft, Form und Zeit, untersuchte die Mechanik von Alltags- und Arbeitsbewegungen, die Vielfalt der Bewegungsmöglichkeiten um die drei Körperachsen in drei Raumebenen. Seine Lehre, die eine Tanzschrift umfasst, gilt noch immer als Basis verschiedener Tanzzentren in den USA und in England, wohin er in der Nazizeit emigrieren musste. Selbst William Forsythe, der das zeitgenössische Ballett radikal beschleunigt und aus seiner vertikalen Achse wegreißt, bezieht seinen Ideenreichtum aus Labans «Eukinetik» und improvisiert nach Labans Prinzipien. Durch Laban wird Improvisation zum wichtigen kreativen Faktor im Tanz. Etwa zeitgleich zu Laban und rund 20 Jahre nach F. M. Alexander entdeckte in den USA die Stimmlehrerin Mabel Todd die Verknüpfung von gedachter Bewegung, anatomischer Vorstellung, dynamischen Bildern aus der Natur und deren Einfluss auf die neuro-muskulären Impulse. Todds erstes Buch «The Thinking Body» (1937) ist noch heute eine hoch geschätzte Publikation für Lehrer und Körpertherapeuten (2001 wird endlich eine deutsche Ausgabe erscheinen). Es umfasst nicht nur ihre eigenen Theorien von Bewegungs(um)erziehung – Tun, ohne zu tun –, sondern bündelt Einsichten aus der Biomechanik, Anatomie, Kinesiologie und Physiologie. Lulu Sweigart, Barbara Clark, Irene Dowd, André Bernard nannten die Technik Todds, die an Prinzipien der Alexander-Technik erinnert, Ideokinese. Sie stießen damit an die Universitäten vor und so auch zu Tanzstudenten, etwa der New Yorker Juilliard School. Schwerpunkt der Technik ist die Imagination von neun Kraftlinien durch das Skelett, vom Gewicht der Knochen und dem Schub, der gegen die Schwerkraft wirkt. Damit werden jene Muskeln entlastet, die oft unwillkürlich verkürzend wirken. Wichtiger Aspekt ist die «taktile Hilfe», die Berührung eines Partners oder Lehrers, eine Parallele auch zur Alexander-Technik und zur Feldenkrais-Methode. Auf gleichen Ideen beruht das «Skinner Releasing» der Todd-Schülerin Joan Skinner. Innere Bilder sprengen anatomische Grenzen und schaffen kreativen Zuwachs im Tanz. Die «Images» der Ideokinese verhelfen in freien Tanzsequenzen zu Transparenz, Leichtigkeit, Offenheit und Mühelosigkeit. Nützlich bei Verletzungen, aber auch zur Unfallprävention. Mit improvisatorischer Neugier forscht die jüngste Wegbereiterin des somatopsychischen Lernens, Bonnie Bainbridge Cohen (Jahrgang 1943), nach dem Geheimnis von Bewegungs- und Lebensqualität, dem Wechsel von Tonusveränderung und Geisteshaltung. Sie nennt ihre Forschung eine «permanente Erfahrungsreise ins lebendige und dauernd sich verändernde Territorium des Körpers» (Bainbridge Cohen 1993, S. 1). Mit ihren hochdifferenzierten Erkundungen der Körpersysteme, durch Anatomiestudium, Berührung, Bewegung, Stimme und Imagination zieht sie ganze Heerscharen von Movern, Musikern, Mimen und Malern an. In ihr scheint sich das Wissen, das die Methoden-Gründer dieses
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Buches zwar innerlich verband, aber physisch voneinander trennte, zu verschmelzen. Ihr Hintergrund ist künstlerisch und therapeutisch. Als Tänzerin und Beschäftigungstherapeutin studierte sie bei dem Ehepaar Bobath Entwicklungstherapie (Berta Bobath war Schülerin von Elsa Gindler!), bei Irmgard Bartenieff Labans Antriebs- und Formlehre. Außerdem fand sie Inspiration in der Ideokinese, Tanztherapie, Cranio-Sacral-Arbeit, Sensory Awareness und Meditation. Wie bei Feldenkrais das Judo, so nahm bei ihr das Aikido einen starken Einfluss auf ihre Erfahrungen. Von dem japanischen Heiler Haruchika Noguchi, mit dem sich auch Feldenkrais rege austauschte, lernte sie, bewusste Bewegung loszulassen und damit das Unbewusste zu entfesseln. Mit Übungen des «Kadsugen Undo» führte Noguchi seine Schüler in einen Zustand, in dem sich unwillkürliche Bewegungen des Nervensystems lösen, Spannungen freischütteln, authentische Bewegung entsteht. Auf ähnlichen Prinzipien basiert «Authentic Movement», die Improvisation mit geschlossenen Augen und einem wachenden Zeugen. Durch Janet Adler wurde diese Form ein Instrumentarium der Tanztherapie. Bainbridge nutzt sie in Anlehnung an Noguchi als freie Bewegungsimprovisation in ihren Ausbildungen.
«Release»-Techniken Die Befreiung des Körpers überdauert die Weimarer Republik und findet noch einen letzten Höhepunkt im Rausch der Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Wie unbefangen und blind sich Tänzer vereinnahmen ließen für die völkischen Ideologien wird erst offenbar, als Verbote, Verhaftungen, Deportationen, Morde die künstlerische Elite zum Schweigen bringen. Alles Neue im Tanz weicht in Deutschland einer seichten Unterhaltungskultur. Die USA werden zum Entwicklungsland für den neuen Tanz. Bevor die Welle nach Europa zurückschwappt, breiten sich die Ideen erweiterter Wahrnehmung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten aus. An fast allen Universitäten wird Modern Dance als akademische Disziplin gelehrt. Die Dozenten haben freie Hand, «body and mind» zu bündeln, je nach eigener Entwicklungsstufe. In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts mischen sich unter dem Slogan «Body Awareness» und «Release Technique» die Methoden sensitiver Spürarbeit und verschmelzen zum New Dance. «Sensory Awareness» – entwickelt von der emigrierten Gindler-Schülerin Charlotte Selver und beeinflusst vom Zen-Buddhismus, dem Wu Wei des Taoismus (Handeln durch Nichteingreifen, Geschehenlassen) – trifft fruchtbringend auf die Ideokinese und die Alexander-Technik. Die vom Judo geprägten Feldenkrais-Strategien begünstigen die Entwicklung des «Gentle Dance» durch die nach neuen Ufern strebenden Tänzer Garet Newell und John Graham. Immer mehr Compagnien «verkörpern» ihre Anatomie, nutzen als Trainings-Äquivalent die dynamischen Feldenkrais-Lektionen, die sie kraftvoll und mühelos rollen, fallen,
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springen und die Ebenen wechseln lassen. Für die notwendige Kondition joggen sie lieber. Der kühle postmoderne Tanz Amerikas bezieht seine Faszination aus Alltagsbewegungen und dem Vorstoß in den öffentlichen Raum. Die Minimal Art übt sich in Parks, Museen, auf Straßen und Dächern in Zufallsentscheidungen, Reduktion und Monotonie. Virtuosität ist verpönt. Während das deutsche Tanztheater um Pina Bausch darauf lauscht, «was» den Menschen bewegt, und traditionsbewusst auf die Schärfung der Präsenz, die geistige Dimension des Tanzes zielt, schaut die US-Avantgarde auf das «Wie», auf Bewegungsprinzipien und Strategien, oft in abstrakter Choreografie. Trisha Browns Truppe schwimmt schlenkernd wie ein kollektives Perpetuum mobile durch einen flüssigen Raum, als habe sie das Paradies entriegelt und Kleists Ideal von Ebenmaß, Beweglichkeit und Leichtigkeit der Marionette gestreift. Körperfeindliches Training – im Tanz noch immer die Regel – und Drill sind tabu. Virtuosität geht mit verfeinerter Wahrnehmung, Imaginationskraft und grenzenloser Freiheit in den Gelenken einher. Elisabeth Molle, Tänzerin und Alexander-Technik-Lehrerin, die aus dieser Tradition stammt, beschäftigt der Einfluss des Geschehenlassens, der Entkoppelung des Kopfes vom Atlas, des «Inhibierens» im Tun auf den künstlerischen Ausdruck: Die Alexander-Technik erlaubt dem Tänzer, die Qualität seiner Bühnenpräsenz zu verbessern. Er ist sich gleichzeitig seiner selbst und der Umgebung gewahr: Raum, Klang, die anderen Tänzer, Publikum. Mit dieser doppelten Bewusstheit stürzt er sich nicht vollständig in die Bewegung hinein. Er kreiert zwischen sich und der Bewegung einen Abstand, einen Raum, den der Zuschauer betreten kann. Die persönliche Bewegung ist völlig offen. (Molle 1985) Tanzen, sagt sie, ist auf diese Weise nichts anderes, als dem Lebensfluss nicht im Wege zu stehen, den Fluss geschehen und sich überraschen zu lassen.
Contact Improvisation: Die Berührungsrevolution Die Körperrevolution der Contact Improvisation geht einher mit der Auflösung hierarchischer Strukturen, welche die Ballett- und Modern-Dance-Compagnien zusammenhielten und die Form diktierten. Die Fixierung der vertikalen Achse aufgeben, der Schwerkraft nachgeben: tragen/getragen werden, heben/fliegen, Gewicht geben/Gewicht nehmen, fallen/schweben, führen/folgen sind elementare Spielarten der Berührung, die der nonverbalen Kommunikation in den Kontaktübungen der Eutonie oder den Interaktionen zwischen Lehrer und Schüler in der Funktionalen Integration (Feldenkrais) und der Alexander-Technik verwandt sind. Reflektorische Reaktionen werden dabei ausgereizt, Angst überwunden,
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Vertrauen gelernt. Eine Erinnerung an den Körperkontakt des Fötus und des Kleinkindes. Die Entwickler dieser freien Form – Steve Paxton, Nancy Stark Smith, Lisa Nelson – wollten den Performern ihre volle Verantwortung für Raum und Zeit zurückgeben. Tanz übernimmt die Aufgabe, Körper und «Mind» für einen Moment zusammenzubringen. Heute ist vielleicht einer der reichsten Momente der Geschichte des Tanzes. Kampfkünste, Yoga, Modern Dance, klassische Traditionen … Wir müssen die Freiheit bewahren, um wählen zu können. (Paxton in Odenthal 1990, S. 9) Wichtig waren den Performern nicht Techniken, sondern Prinzipien, die in der Eutonie gelehrt und erfahren werden und die sie im Body-Mind Centering wiederfanden: Sich tief in die Körpersysteme einzufühlen. Die Dichte der Knochen zu erspüren. Die Organe in den Leerräumen des Skeletts zu erforschen. Den Strukturen, Funktionen und dynamischen Schwingungen der Haut, Muskeln, Drüsen, Flüssigkeiten, Nervengewebe, ja, selbst der Mitochondrien in der einzelnen Zelle nachzugehen. Die Regungen des Embryos und des Kleinkindes zurückzuverfolgen und sie in ihrer Bewegungsentwicklung im Spiegel der Evolution zu betrachten (wie es auch Feldenkrais in seinen Lektionen tat).
Grenzerfahrungen in multimedialen Performances In Europa mischen sich derzeit die Traditionen und Kulturen im Tanz zu einer wilden Mixtur: amerikanisch-sportive Perfektion – höher, schneller, weiter –, das Erbe der sanften Revolution der Release-Generation und die geistigen Kinder des deutschen Barfußtanzes stoßen auf die Köpfe des Kommunikationszeitalters. Sezierende Schnitte in die Anatomie des Körpers sind die theatralen Früchte penibler Untersuchungen, wie sie sich bei Sasha Waltz an der Schaubühne Berlin in skurrilen Gangarten und verqueren Bewegungsmustern, in wabernden Zellstrukturen und Dekonstruktionen der Glieder ausdrücken. Das Körpergedächtnis entleert seine Speicher. Das Theater wird körperlich, die Sprache sekundär. Urbanes Leben, hart, schnell und einsam, spiegelt sich in den neurologischen Tics und Torsionen der «Morphing»-Soli von Meg Stuart. Die Bewegung selbst ist das Drama, oft beängstigend und komisch. Alles scheint auf den Bühnen möglich. Gewalt und Zartheit. Oder die «fraktalen» Verstrickungen und Verwandlungen eines Körpers in kafkaeske Insektenleiber, wie sie der Mikrobiologe Xavier Le Roy dem Tanz einverleibt. Ohne die enormen Differenzierungen, wie sie somatopsychisches Lernen hervorruft, wäre dies undenkbar. Als Laban 1920 fragte «Wer – in seinem Innersten – ist nicht Tänzer?», erhob er das Selbstverständlichste zur Kunst, wie es ein halbes Jahrhundert später Beuys in
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Anspruch nahm. Die Fluxus-Bewegung, die Aktions-Kunst der Gegenwart, verlocken dazu, das Leben in all seinen Erscheinungsformen und Extremen als Kunst auszustellen. Der Leib rückt ins Blickfeld, fähig zur Verwandlung in lichte, starre, flüssige, luftige Zustände. Fettskulpturen zerfließen oder erstarren, je nach Temperatur und Temperament. Transformation geschieht. Grenzerfahrungen auszustellen wird Mode. Wie bei Marina Abramovic, der bildenden Künstlerin, deren schockierende Performances ans Pathologische und Spirituell-Rituelle stoßen, entblößen sich Tanz und Tänzer bis zur Erschöpfung und Selbstverletzung, das Wissen um Schutzreflexe und Schwerkraftüberwindung nutzend. Die Suche nach der schnellstmöglichen Flugbahn, dem härtesten Aufprall, der wahnwitzigen HipHop-Artistik kehrt sich zeitgleich um ins «Absolute Zero» des Japaners Saburo Teshigawara. Schönheit und Langsamkeit entrücken. Der geschundene Leib verschwindet in den digitalen Medien, wird fragmentiert, löst sich auf. Die wiedergefundene Sensibilität zeigt immer auch ihre Kehrseite.
Somatopsychisches Lernen im heutigen Tanz Die Ausbildungssituation im Tanz Trotz der Ausbreitung der Release-Techniken hat sich im Zeitalter rasenden Tempos in den Künsten an den Ausbildungskriterien von Tänzern wenig verändert. Ballett und halsbrecherische Virtuosität boomen. Wie kann man sich für den gewaltfreien Körper stark machen, wenn die Unterweisungsmethoden den Tänzer dauerhaft seines Vermögens berauben, die Mittel der Bewegungsfindung und ihre Bedeutung zu verstehen? (Ginot 1999, S. 70) Nur wenige Schulen bieten Alternativen: die holländischen Institute für neue Tanzentwicklung, an denen Alexander-Technik, Ideokinese, Body-Mind Centering und Contact Improvisation zum Lehrplan gehören, die Laban-Zentren in England und den USA oder «Feldenkrais» als Fach in der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt a. M. sind Ausnahmen. Wer tanzt und mehr wissen will, muss auf eigene Faust seine Lehrer suchen: in Workshops internationaler Festivals oder im Labor der flämischen Tanz-Avantgarde. Einzig Rosalia Chladek, einst Ausdruckstänzerin mit brillanter Technik, in der Dalcroze-Nachfolge in Hellerau und in Laxenburg unterrichtend, hat eine alternative Lehrmethode entwickelt, die sie an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien lange selbst weitergab und die heute in einem Ergänzungsstudium angeboten wird. Sie basiert auf natürlichen Gesetzmäßigkeiten im Kraftfeld zwischen Schwerkraft und Eigenenergie, labilem, aktivem und passivem
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Bewegungsentfalten im Raum. In der Spannungsskala zwischen totaler Passivität und höchster Aktivität ist die neutrale Mitte die Aufrichtung. Wie Feldenkrais und Gerda Alexander interessiert auch die Chladek der «folgerichtige Verlauf einer Bewegung», die Wegstrecke und das Prinzip des «zentralen Ansatzes», im Unterschied zur peripheren Auslösung von Bewegung. Wie Feldenkrais und G. Alexander schaffte sie als Erste und Einzige in der Tanzpädagogik das Prinzip des Vormachens-Nachmachens ab. Nur verbale Anweisungen weisen den Weg, und jeder gibt, was er zu geben hat oder was er verstanden hat. Anatomische und physikalische Faktoren verhelfen zur selbständigen Suche nach eigenen Gesetzmäßigkeiten, die von vorgeprägten Normen in Ästhetik und Leistung frei machen. Die Chladek-Technik gilt deshalb als «neutrale» Bewegungsgrundlage.
Israel und das kostbare Erbe Nicht nur die Tanz-Szene Israels, sondern sein gesamtes Erziehungssystem hat von den Gindler-Schülerinnen Lotte Kristeller und Judith Binetta, die emigrieren mussten, nachhaltig profitiert. Die ersten Studenten von Moshé Feldenkrais in Tel Aviv waren durch sie bereits wachgerüttelt. Israels hochvirtuosen, athletischen Tänzern ist der Paradigmenwechsel anzusehen, den die Prinzipien erhöhter Bewusstheit und ökonomischer Kraftverteilung im Gehirn einleiten können. Für die geistigen Dimensionen im «inneren Tanz» plädiert nachhaltig Amos Hetz. Der Musiker, Tänzer und Bewegungsforscher hat an der Rubin Academy for Music and Dance in Jerusalem sein eigenes Department. Er lehnt das ästhetische Diktat des konventionellen Tanzes ab und integriert in seine Bewegungsstudien die weisen Erkenntnisse von Feldenkrais, Jacoby, Gindler, F. M. Alexander. Er wählt als analytische Form des Verstehens von Aktionen die Bewegungsschrift von Eshkol und Wachmann, die mit geometrischer Präzision Glieder und Gelenke in Kurven, Konusformen um Achsen räumlich und zeitlich festhält wie Worte durch Buchstaben und Musik durch Noten. Mit diesem abstrakten Handwerkszeug komponiert er auch seine Solo- und Gruppen-Tänze. Er lehrte damit die Studenten der letzten Ausbildung, die Feldenkrais im amerikanischen Amherst/Massachusetts leitete, einen kompletten Stundenablauf zu notieren. Dieses System ist tausendmal begabter als ich. Es ist eine riesige Herausforderung, denn es öffnet mich für Erfahrungen, die ich auf natürliche Weise nicht gemacht hätte. (Hetz in Sieben 1997, S. 49) Amos Hetz regt in seinen hochkomplexen, dynamischen Seminaren in intelligenten Spielen und «Versuchen» das nicht zielgerichtete Tun im Sinne F. M. Alexanders an, experimentiert wie Gindler und Gerda Alexander mit Bällen, Stäben,
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Sandsäckchen und kultiviert, analog zum Musizieren, die «Modulation» jedes Bewegungsablaufs bis in die Stille hinein. Wann beginnt die Geste, der Schritt, die Handlung, und wie endet sie? Probleme der tänzerischen Praxis Da Tänzer meist sehr früh mit ihrer Ausbildung beginnen, sind sie dominierenden Lehrerautoritäten besonders ausgesetzt. Das Nachdenken und In-Frage-Stellen dessen, was sie lernen, beginnt erst, nachdem die harten Trainingsbedingungen den Körper längst konditioniert haben. «Wie Spalierobst» wollte die russische Ballettpädagogin Tatjana Gsovsky ihre kleinen Ballerinen formen. Diese an einem bestimmten Ideal orientierte Gestalt hat zwar einen ästhetischen Reiz, sie verliert aber oft ihre Individualität. Im Vordergrund steht das narzisstische Schönbewegen. Je ausgeprägter der Stil an ein Ideal geknüpft ist, desto größer die Gefahr, das Gefühl für die persönlichen Qualitäten zu verlieren. Hinzu kommt, dass viele Pädagogen kaum Kenntnisse von Anatomie oder Kinesiologie haben. Das ist fatal, denn Tänzer sind Hochleistungsathleten mit erheblichem Verletzungsrisiko und enorm frühem Verschleiß. Was ihnen heute sowohl im Ballett als auch im modernen Tanz abverlangt wird, erfordert neben tänzerischer Begabung eine starke Konstitution, einen Knochenbau mit überdurchschnittlicher Außenrotation in den Hüftgelenken, Füße mit guter Streckung, eine gesunde, biegsame Wirbelsäule. Sie lernen früh, Bewegung zu isolieren, und versteifen sich dabei im Rumpf. Sie versuchen, sich mit Anstrengung und oft stereotypen Wiederholungen zu verbessern, statt mit Intelligenz und Feingefühl. Sie benutzen die äußere Skelettmuskulatur, um sich mit Spannung aufrecht zu halten, und lernen nicht, die innere reflektorische Aufrichtungsmuskulatur der Wirbelsäule zu aktivieren, um die großen Muskeln für die Bewegung frei zu machen. Knie- und Rückenprobleme, Bänderverletzungen, Achillessehnenrisse, Hüftschmerzen, Stressfrakturen gehören zu den häufigsten Gründen, monatelang pausieren zu müssen. Erst dann beginnt oft das Nachdenken, Umlernen, Ausprobieren auf dem Feld des somatopsychischen Lernens. Was Tänzer lernen müssen: gleichmäßig auf den gesamten Organismus verteilen • Bewegungsabläufe Kettenreaktionen, Hebel der Knochen und Spiralen für ökonomische Bewe• gung nutzen vermindern, damit Sensibilität steigern • Kraft Tempo reduzieren, um besser und schneller zu werden • spüren lernen, die Atmung hemmt • die Zeit zwischenwannPlanung und Ausführung einer Bewegung dehnen und mit • Bewusstheit füllen
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Sinne verfeinern • alle Lernen zugunsten prozessorientierten Forschens aufgeben • leistungsbetontes Bewegungsabläufe in der Vorstellung entwickeln • mit Mikrobewegungen das Nervensystem «aufwärmen». • Alle hier beschriebenen Methoden und Techniken haben ihre eigene Strategie, um individuell technische und künstlerische Fähigkeiten zu verbessern. Die Hebelwirkung und den «Transport» durch die Knochen zu verstehen, den Innenraum des Körpers in Beziehung zu setzen zum Außenraum, dazu bietet die Eutonie wertvollen Lernstoff. Dass ein angemessener Muskeltonus für die entsprechende Anforderung ausschlaggebend ist, erfährt jeder tanzende Mensch tagtäglich im Training. Übermäßiger Muskelspannung in Becken, Rücken, Oberschenkeln und Waden kann wirksam mit «Kontaktübungen» begegnet werden. Blinde Stellen im Körperbild werden deutlich, wenn der eigene Körper mit Ton modelliert wird. Tänzer lieben es, sich auf Tennisbälle, Kastaniensäckchen oder Stäbe zu legen, den Schmerz bewusst schmelzen zu lassen und die wohltuende Veränderung ihres Zustandes zu erspüren. Die richtungweisenden Gedanken und Strategien der Alexander-Technik können mühelos auf alles angewendet werden, was im Training, in einer Probensituation oder in Vorstellungen geschieht. Sich gleichzeitig nach oben und unten zu verlängern, breit zu werden, dem Kopf auf dem Atlas, den Armen und den Beinen in ihren Gelenken volle Freiheit zu geben, auch in extremen Bewegungssequenzen und Ebenenwechseln, erfordert allerdings eine erhebliche Übung und die Fähigkeit, gleichzeitig Beobachter und Beobachteter zu sein. Der kanadische Solotänzer David Nixon hat nach einer Knieverletzung etwa ein Jahr pausieren müssen, um sich Zeit zu geben, das Gespürte und Umerzogene in die Praxis eines «Schwanensee»-Prinzen zurückführen zu können. Elementare Bewegungssequenzen aus der frühkindlichen Entwicklung, wie sie die Feldenkrais-Methode minutiös in kleine Teilchen eines Puzzles aufsplittert und erst zum Ende zusammensetzt, um vom zielgerichteten zum achtsamen Tun zu gelangen, sind für Tänzer überaus hilfreich, um unbewusste Fixierungen und Denkprogramme zu lösen. Das Variieren einer Funktion erinnert ja an das Üben eines Musikers, der ein Thema in Töne, Phrasen und Skalen zerlegt, laut, leise, langsam, schnell spielt, bevor er das komplette Werk entstehen lässt. Im Tanz ist das ganz anders. Form und Tempo sind oft vorgeschrieben. Die meisten Tänzer kultivieren im Laufe ihres Lebens ihre «Schokoladenseite». Drehungen, Sprünge, Balancen werden wegen der Virtuosität auf die bessere Seite verlegt. Das schafft extreme Disbalancen. Am Boden rollen und wälzen, kriechen und krabbeln klärt auf spielerische Weise die Bewegungsrichtungen der Wirbelsäule (Beugen, Strecken, Seitneigung und Drehung in einer Spirale). Diese Bewegungsabläufe führen von der Peripherie (distal) ins Zentrum zurück (proximal) und bringen ohne Anstrengung
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Freiheit in die großen Gelenke. Bewegungen umzukehren, sie auf vielfache Weise anders zu tun als gewohnt, schließt auch die Strategie ein, die beiden Körperhälften in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen. Fehler oder Mängel auf die «bessere» Seite zu übertragen, um die «schlechtere» stillschweigend profitieren zu lassen, ist eine Entdeckung von Feldenkrais, die tanzende Schwerarbeiter verblüfft. Genauso wie das Phänomen, Schwieriges noch schwieriger zu machen, um dem weniger Schwierigen letztlich Leichtigkeit und Eleganz zu verleihen.
Vom Verlernen Die größte Klippe für Tänzer und Lehrer, deren Bewegungsspektrum und Körperbild von bestimmten Techniken geprägt ist, bedeutet das Umlernen. Sie müssen verlernen, was sie gelernt haben, und das ist das schwerste, was es gibt. Was wir gelernt haben, scheint stärker zu sein als unsere eigene Natur, die dadurch verdrängt wird. (Gindler/Selver in Zeitler 1991, S. 70) Hier spricht Gindler ein Phänomen an, mit dem viele Tänzer zu kämpfen haben, die aus innerem Antrieb oder durch eine Verletzung gezwungen sind wahrzunehmen, was sie tun und wie sie es tun. Da ihr Lernen sich auf das übliche Vormachen/ Nachmachen mit fortgesetzter, oft nicht sehr konstruktiver Korrektur stützt, auf den Blick in den Spiegel fixiert ist, geschieht oft sogar in Improvisationen nur eine Repetition der Routine. Das Selbstherausfinden nach dem Prinzip «Versuch und Irrtum» hat sich in künstlerischen Lehrformen noch kaum durchgesetzt. Elsa Gindler scheute davor zurück, Menschen zu unterrichten, die schon anders konditioniert waren. Charlotte Selver stieß, als sie – von Bode kommend – bei ihr lernen wollte, ebenso auf Granit wie Gertrud Falke Heller, die in England als Tanzpädagogin und Choreografin mit der aus Deutschland emigrierten Company des Laban-Schülers Kurt Jooss arbeitete. Ich wollte Elemente meiner früheren Arbeit und meine künstlerische Erfahrung als Tänzerin mit dem intuitiven Ansatz zur Bewegung – zum Sein – der GindlerArbeit verbinden … Mit der Zeit entdeckte ich, dass dieses Sich-selbst-Spüren keine Technik ist und auch nichts Dramatisches. Es ist sehr einfach, und darin liegt die Schwierigkeit. Ich musste lernen, meine Bemühungen auf das Einfachste zu reduzieren – was das Schwierigste auf der Welt ist. (Heller in ebd., S. 83) Gindler zeigte in ihrem Unterricht «die Manierismen von Bewegungsschulen, die Übertreibungen, die den Schülern ihre Natürlichkeit raubten. Dann zeigte sie das Gegenteil: Menschen im Schlaf; spielende Kinder; Tiere… Tänzer mit echtem
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Ausdruck – den Unterschied zwischen Konditionierung auf der einen Seite und Natürlichkeit und Frische auf der anderen». (Selver ebd., S. 76) Der Versuch, sich selbst als Instrument wahrzunehmen, zu forschen, zu erkennen, wo wir uns zweckmäßig verhalten oder unzweckmäßig, fällt erfahrungsgemäß allen, die sich mit dem Körper beschäftigen, viel schwerer als anderen Menschen. (Gindler ebd. S. 129)
Neutral werden im Schauspiel Während im Tanz die Bewegung selbst zum Kunstwerk wird (was freilich so schnell verfliegt, wie es geschaffen wurde), nutzt das Theater die Bewegung als Mittel zum Zweck, um einen Text und damit Sinn zu transportieren, eine Arie zu singen, eine Rolle zu gestalten. Weich und durchlässig zu sein, offen für die Stimme und das angstlose Hineinschlüpfen in einen fremden Charakter, im Bewegen tief in die eigene Empfindung zu kommen, sind Qualitäten von hohem Wert. Der Schauspieler kann die Figur, die er darstellen will, lediglich als eine Rolle spielen oder die Figur SEIN. Seine Präsenz in dem SEIN kann dem Zuschauer das Wesen der Figur offenbaren, bevor die Sprache in Aktion tritt. Was der Schauspieler braucht, um glaubwürdig und effektiv zu sein in seiner Kunst: Er muss eine Bewusstheit für die eigene ‹private› Person entwickeln. Er muss präsent sein. Er muss vital sein. Er muss wandelbar sein. Er muss sich selbst zur Verfügung stehen. Sein Material ist nicht die schöne Bewegung. Sein Material ist die Fähigkeit seines Nervensystems, sich nicht zu fixieren, sich so zu neutralisieren, dass er seine persönlichen Bewegungsmuster zurückstellen und sich immer wieder jeder Figur bereitstellen kann. Ein Schauspieler muss in der Lage sein, in jedem Augenblick von Null auf Hundert zu gehen. Das erfordert das höchste Maß an Bewusstheit. (Triebel-Thomé 1995) Damit Schauspieler ihre Absichten vollkommen deutlich machen können, «mit intellektueller Wachheit, echtem Gefühl und einem ausgewogenen, trainierten Körper, müssen diese drei Faktoren – Denken, Gefühl, Körper – in vollkommener Harmonie zueinander stehen. Nur dann kann er die Forderung erfüllen, innerhalb einer kürzeren Zeitspanne als bei sich zu Hause intensiv zu sein». (Brook 1994, S. 29) Für Anna Triebel-Thomé, die am Fachbereich Darstellende Kunst der Hochschule der Künste Berlin lehrt, ist die Feldenkrais-Methode «wie erfunden», um die Studenten zu «dekodieren» und zu «neutralisieren» von Programmierungen in ihren Bewegungsgewohnheiten. Fatal, wenn man ihnen ansieht, welche Tech-
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nik sie trainiert haben. Ballett oder Pantomime «verbilden» und hinterlassen Spuren, die nur schwer zu löschen sind, so Triebel-Thomé. Die von ihr mitentwickelte Unterrichtsstruktur hat sich als überaus erfolgreich erwiesen. Systematisch das Bewegungsvokabular zu erweitern und zu verfeinern, wie es in FeldenkraisLektionen geschieht, ist die Basis des Bewegungsunterrichts – acht Stunden wöchentlich pur im ersten Jahr, bevor Fechten, Afrikanischer Tanz, eine freie T’ai-Chi-Form, Akrobatik, Stockkampf, Historischer Tanz notwendige Aspekte von Rhythmus, Raumgefühl, Tempo, Pause und Stilbewusstsein einbeziehen. Einwänden der Regisseure, die gern auf «Typ» besetzen, der Schauspieler könnte mit dieser Dekodierungs-Praxis womöglich seine Persönlichkeit verlieren, entgegnet sie: Auf dem Weg zur Verfeinerung der Wahrnehmung, Entwicklung größerer Vorstellungskraft, erhöhter Kontaktbereitschaft wird ein Schauspieler nur besser. Er wird bereichert in der Fülle seiner Möglichkeiten. Er lernt, nicht das «Was» zu ändern, sondern das «Wie». Er lernt: «Eine Bewegung selbst hat keine Macht. Es ist immer die Empfindung, die wir der Bewegung zugestehen.» (Triebel-Thomé 1997) Der Maler und Regisseur Achim Freyer sagt es metaphorisch: «Der Schauspieler ist künstlerisch geformtes Bildzeichen, soll aber auch seinen Atem, sein Herz mit der Figur verbinden.» (Freyer/Heithoff 1999, S. 3) Auf der Suche nach einem persönlichen Stil muss der Schauspieler einen «Reinigungsprozess» durchlaufen, den auch Mara della Pergola an der ScuolaTeatro Stabile in Turin mit dem reichen Spektrum an «Bewusstheit durch Bewegung»-Stunden und mit spielerischen Elementen, z. B. der Imitation eines Partners füllt. Einerseits, um Begrenzungen und Eigenheiten des Beobachteten zu erkennen, andererseits, um den eigenen Mustern auf die Spur zu kommen. «Haltungs-Schwächen» frieren die Bewegung, aber auch die Stimme ein. Darum muss beides gemeinsam variiert, umspielt werden, bevor die Studierenden bereit sind, sich der komplexen Interaktion zwischen der eigenen Person, den Mitspielern auf der Bühne und dem dritten Pol, dem Publikum zuwenden können. Sie müssen Mehrfach-Beobachter werden und dabei Bewegung, Stimme, Interpretation und Denken integrieren. Thomas Hanna nannte dieses Ausputzen von Überflüssigem in elementaren Bewegungsvariationen salopp «propriozeptive Inventur». Die Feldenkrais-Lektionen «reinigen unsere Kommunikationskanäle von unerwünschten Störfaktoren und zeigen uns, dass wir uns nur dann ein reicheres Spielrepertoire schaffen können, wenn wir uns unseres Verhaltens im Alltagsleben bewusster werden». (Pergola in Russell 1999, S. 320) Um Gedanken und Gefühle zu übermitteln, genügt es allerdings nicht, (nur) die Gelenke zu differenzieren. Rhythmus und «Timing», das Erforschen von Stille, Versuche, Stimme und Bewe-
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gung zusammen klingen zu lassen, oder die Quelle für den Missklang zu finden, sind wichtige Aspekte des Lernens. Peter Brook besteht darauf, dennoch «körperlich auffällig zu sein»; er nennt es, «ein Abbild von Welt» zu schaffen: der kleine Dicke, der große Dünne, der schnelle Geschmeidige, der schwere Tollpatsch. Jeder von uns stellt einen bestimmten Typus Mann oder Frau dar. Aber es ist wichtig …, dass der dicke und ungeschickte Körper ebenso verfeinert in seiner Sensibilität ist wie der junge, schnelle Körper … Mit sensibel ist gemeint, dass der Schauspieler jederzeit in Verbindung mit seinem gesamten Körper steht. Wenn er eine Bewegung in Gang setzt, weiß er exakt, wo sich jedes Glied befindet. (Brook 1994, S. 33) Eben das war es, was seine Schauspieler zeitweise bei Feldenkrais lernten. Je länger ich unterrichte, desto weniger, erscheint mir, gibt es einen Unterschied zwischen Bühne und Leben. (Triebel-Thomé 1997) In der Tat: Man geht ins Theater, um dort Leben zu finden, aber: Wenn kein Unterschied zwischen dem Leben außerhalb des Theaters und dem Leben auf der Bühne besteht, dann hat das Theater keinen Sinn. Dann gibt es keinen Grund, Theater zu machen. Wenn wir aber erkennen, dass das Leben im Theater sichtbarer und lebhafter ist, dann wird uns auch klar, inwiefern es dasselbe ist wie draußen und dabei doch anders … Das Leben im Theater ist leichter zu entschlüsseln und intensiver, weil es konzentrierter ist. Den Vorgang, den Raum einzugrenzen und die Zeit zu verdichten, schafft ein Konzentrat … Die Verdichtung besteht darin, alles zu entfernen, was nicht unabdingbar notwendig ist, und zu verstärken, was übrig bleibt, etwa indem man ein kräftiges Adjektiv an die Stelle eines farblosen setzt, gleichzeitig aber den Eindruck von Spontaneität bewahrt. Wenn das gelingt, werden wir schließlich auf der Bühne etwas in drei Minuten sagen, wozu im Leben zwei Leute drei Stunden brauchen. Genau das leistet der klare Stil eines Beckett, Pinter oder Tschechow. (Brook 1994, S. 20) Was brauchen wir nun, um das Gewöhnliche zu etwas Einzigartigem zu erheben? Wir müssen (forschend) üben. Brook empfindet einen untrainierten Körper wie ein verstimmtes Musikinstrument – «sein Resonanzraum ist voll verwirrender, hässlicher Misstöne und nutzloser Geräusche, welche die wahre Melodie übertönen. Wenn das Instrument des Schauspielers, sein Körper, durch Training gestimmt ist, verschwinden die kraftaufreibenden Spannungen und Angewohnheiten. Er ist jetzt bereit, sich den unbegrenzten Möglichkeiten der Leere zu öff-
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nen». (Ebd., S. 34) Die Angst vor dieser Leere, sie gehört zu diesem Prozess der Demontage. Jede Demontage schafft einen gefährlichen Raum, in dem es weniger Krücken, weniger Stützen gibt. (Ebd., S. 39) Erst dann, wenn man nicht mehr nach Sicherheit sucht, kann sich echte Kreativität im Raum entfalten. Jeder Pädagoge der hier beleuchteten Methoden kennt diesen Prozess aus seiner eigenen Erfahrung und der Praxis mit Alltagsmenschen und mit Künstlern. Der Regisseur Peter Zadek, seit 20 Jahren damit beschäftigt, dem Schauspieler «das Handwerk auszutreiben», übt zuweilen Selbstregulation, wie es die weisen Lehrmeister tun: Mit den Jahren habe ich gelernt, dass man unter Umständen jemanden wochenlang etwas Falsches machen lassen muss, damit er am Ende entweder allein darauf verzichtet oder – das ist das Schönste – selbst auf das Richtige kommt. Er regt die Schauspieler an, ihre «Deutungsmuster» abzulegen, und träumt von einem Theater, das «Mut macht. Es ist ein Theater für Menschen, für die Theater eine lebenswichtige Mahlzeit ist». (Zadek/Müller 1999, S. 5) Oder ein Ort, an dem «Wunder wirklich stattfinden», wie der Regisseur Matthias Hartmann weiß.
Allroundkünstler im Musical Zu diesen Wundern zählen die «Gesamtkunstwerker», wie George Tabori sie nennt. Sie tanzen, singen, schauspielern im Musical. Wie lernen sie das? Barbara und Stanley Walden haben in der Hochschule der Künste Berlin eine Strategie entwickelt, die in Deutschland einzigartig ist. Nach dem Motto «Zeige es nicht, sei es», lernt der Allroundkünstler, «von innen nach außen zu arbeiten», psychisch und physisch zu wachsen, selbstbewusst, kooperativ, geistesgegenwärtig, phantasievoll, glaubhaft und bereit zu sein, Konflikte zu lösen. Unser Studiengang versucht, zwei scheinbar unvereinbare Elemente unseres eigenen Werdegangs zusammenzubringen: auf der einen Seite die rigorose Ausbildung des «klassischen» Musikers und der «klassischen» Tänzerin sowie die enormen Anforderungen, denen diese Ausbildungen im kommerziellen Musiktheater gerecht werden müssen, und auf der anderen Seite die befreienden, unorthodoxen Improvisationserfahrungen, die wir bei der experimentellen Arbeit von «The Open Theater» in den USA und mit dem Tabori-Ensemble gemacht haben. (Walden 1998, S. 16)
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Um das Instrument Körper als «persönliches Statement» und «Ausdruck des Seelenzustandes» zu stimmen, fragen die Waldens wie Stanislawski: «Wer bin ich?» «Wo bin ich?» «Was tue ich?» Und fügen «Was will ich?» noch hinzu. Zur Beantwortung nutzen sie Elemente aus der Psychotherapie, der Alexander-Technik, der Laban-Analyse und der Feldenkrais-Methode. Sie nippen an den Ideen. Die «Konstruktive Ruheposition» aus der Ideokinese wird zur Loslass-Oase und Arznei gegen Lampenfieber. Authentic-Movement-Improvisationen verhelfen dazu, inneren Impulsen zu folgen und sich frei zu machen vom Bedürfnis, einem anderen zu gefallen. Die «Schaukelatmung» aus den Feldenkrais-Elementen nutzen sie zur Befreiung des Rumpfes. Um sehen, nachempfinden und kopieren zu lernen, um «in den Schuhen des andern zu tanzen», eignet sich der imaginäre «Doppelspiegel» der Tanztherapeutin Marian Chace. Aufs Korrigieren zu verzichten und konstruktive Kritik zu geben, wie es bei den Waldens üblich ist, das zu üben, enthülle den Menschen im Künstler, sei der Kunstbetrieb auch noch so hart.
Körper und Klang – Klang und Körper Die essentielle Beziehung zwischen Körper und Klang beim Singen und Musizieren hat sich in der Musikpädagogik erst ganz allmählich durchgesetzt. Sie bekommt eine gewisse Brisanz durch immer neue Statistiken, die vor allem den Negativ-Zustand, nämlich die krank machende Dynamik des Musizierens bescheinigen. Demnach sollen 85 Prozent der Orchestermusiker durch ihre Tätigkeit gesundheitliche Störungen davontragen. Gründe sind Fehlstellungen des Skeletts durch asymmetrische Haltepositionen des Instruments, auch ein größerer Muskeleinsatz durch Höherstimmung des Kammertons, Hörprobleme, Allergien, vegetative Störungen durch extreme Leistungserwartungen, Stress durch Konkurrenz- und Karriere-Druck, Mobbing ect. Der Laie würde spontan das Gegenteil behaupten: nämlich der Musik eine heilende Wirkung zusprechen, die sie unter gewissen Umständen auch hat. Doch dieser Aspekt ist von der Wissenschaft noch recht unerforscht (siehe unten: «Das Geheimnis der Grille im Kopf»). Obwohl Gehirnphysiologen herausgefunden haben, dass es keine vergleichbar komplizierte Aufgabe des Menschen gibt, bei der das Gehirn ebenso flächendeckend benutzt wird wie beim Musizieren, sind Musiker wiederkehrende Klienten in Arztpraxen und bei diversen Therapeuten, im Glücksfall auch bei Lehrern der hier behandelten Methoden. Oft mit Erfolg, aber nicht immer, denn sie haben durch das extrem zeitraubende Üben wenig Zeit für sich selbst. Und das von Kindesbeinen an. Ein Glück – oder eher Tortur?
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Das Wunderkind – am Beispiel Menuhin Yehudi Menuhin glaubte als Kind, mit der Chaconne von Bach, gespielt in der Sixtinischen Kapelle, den Weltfrieden herstellen zu können. Als Wundergeiger, Lichtgestalt, moralische Instanz hielt er an der Vision fest, dass Kunst die Welt verbessern könne. Schon als Dreizehnjähriger spielte er unter Bruno Walter in der Berliner Philharmonie gleich drei Violinkonzerte nacheinander. Albert Einstein wollte unter dem Erlebnis dieses Konzerts an einen Gott im Himmel glauben, während ältere Geigerkollegen Menuhins Technik, bei aller Bewunderung für die Reife des Ausdrucks, als «mangelhaft» bezeichneten. Diese offenbar realen technischen Probleme sollten sich in bewussteren Jahren zu ernsthaften Konflikten verdichten. Der Atemlehrer Cornelis Veening sah in der Wunderbegabung eine «dämonische Seite». «Die viel zu frühe Leistung stellt eine ernsthafte Schädigung dar», weil Raum und Zeit zum Wachstum fehlen und das Kind «aus der Mitte weggeschleudert» werde. (Veening 1995, S. 26) Menuhin kannte das «Ringen mit den Schwierigkeiten». Wenige große Musiker haben die Bedeutung des forschenden Umgangs mit dem Instrument und dem Körper, die Suche nach einem eigenen Klang, die bewusste Verfeinerung der Wahrnehmung so nachhaltig öffentlich gemacht wie er. Menuhins sich steigernden Schwierigkeiten, den Bogenarm fließend zu führen, nahm sich Moshé Feldenkrais zeitweise an. Er ließ den Geiger während des Spielens auf Rollen balancieren, um ihm zum spontanen Zugriff auf das «Wie» zurückzuverhelfen, über den der kleine Junge noch verfügt hatte. Diese Technik, die eine Doppelfunktion des Nervensystems stimuliert – mit Balance und Sicherheit einerseits, feinmotorischer Differenzierung andererseits klarzukommen –, fand in unterschiedlichen Zusammenhängen sowohl im Gruppen-, als auch im Einzelunterricht ihren Ausdruck. Die Art und Weise, mit der Menuhin in fortgeschrittenem Alter gegen Ehrgeiz, zu viel Willenskraft und «zehnstündiges Üben wie die Biber» wetterte und statt dessen «multiskilled musicians» heranzog, lassen darauf schließen, dass er das Gelernte schätzte und weitertrug. Menuhin rühmte das «geniale Denken» von Feldenkrais, das in seiner Einschätzung darin bestand «im Teilchen das Ganze zu sehen. Für ihn gab es keine isolierten Erscheinungen, und seine Therapie bestand darin, zwischen Teil und Ganzem die Wechselbeziehung wiederherzustellen, den Teil dem Ganzen wieder einzugliedern.» (Menuhin in P. Jacoby, 1997)
Vom Umgang mit der Geige Beim Musizieren eine lebendige Kraft weiterzugeben, verlangt «Erfahrungswissen». Kein Teil des Körpers bleibt beim Geigen unbeteiligt.
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Jede Aktion löst eine Reaktion aus. Möglicherweise haben bestimmte Körperteile, die weit weg von der Geige liegen – sagen wir die Zehen oder Ferse –, nur einen sehr geringen Anteil an der gesamten Körperbewegung und stehen scheinbar in keiner Beziehung zur Tätigkeit der Finger auf dem Griffbrett. Aber wie klein die Bewegung auch sein mag – es ist eine Bewegung, und auch die entfernteste Muskelregung trägt dazu bei, den Spieler in Übereinstimmung mit seinem Instrument zu bringen. Ich strebe nach einem Gespür für das organische Ganze, einer Bereitschaft, sich der Bewegung anzuvertrauen, sie zu unterstützen, an sie zu glauben, sie zu akzeptieren. (Menuhin 1986, S. 160) Man meint, Elsa Gindler sprechen zu hören: «Gymnastik» tut’s nicht, sondern «der Geist, der mit uns bei der Sache ist. Wir lernen nicht bestimmte Übungen, sondern versuchen, durch bestimmte Übungen die Intelligenz zu vermehren» (Gindler in Zeitler 1991, S. 48), die «Umschaltung» auf Abwarten und Geschehenlassen, das Hinhorchen und Einkehren in die Stille zu erlauben, wie Jacoby es vorschlug. Gerda Alexander plädierte dafür zu lernen, «kein Schema zu haben, denn ein Schema isoliert von der Umwelt. Das ist das, was ich Körperbewusstsein nenne: die aktive Sensibilität des ganzen Organismus». (G. Alexander in Moskovici 1991, S. 53) Und diese aktive Sensibilität bedeutet zugleich, das Zuviel an Aktivität im Nacken aufzugeben, wie es F. M. Alexander für essentiell hielt, um Klang erzeugen zu können. Tonus und Stimmung In der Eutonie wird eine geglückte künstlerische Darstellung von der angemessenen «Tonusumstellung» abhängig gemacht. Ein Musiker stellt seinen Tonus auf das Werk ein, das er interpretieren will. Gleichzeitig erweitert er seinen Gefühlsraum hin zu den Zuhörern. Marcel Marceau verwandelt sich in Sekundenschnelle durch Tonusumstellung vom gewaltig-großen, schwerfälligen Riesen Goliath in den zierlichen, behänden David und wirkt als David und Goliath auf die Zuschauer. (Sackmann-Schaefer in Steinaecker 1994) Ein Beispiel für «Tonusübertragung» und «Tonusadaption» zeigt Karin Schaefer am Beispiel eines Films über die Chinareise des Geigers Isaac Stern «Von Mao zu Mozart» auf: Auf der Bühne einer riesigen Konzerthalle spielt ein etwa siebenjähriges Mädchen Isaac Stern etwas auf der Geige vor. Er hört zu, wie das Kind in rasantem Tempo die schwierigsten Passagen perfekt spielt. Dann nimmt er der kleinen Geigerin das Instrument freundlich aus der Hand und bittet sie, den Anfang des Musikstücks zu singen. Sie schaut verständ-
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nislos, fast erschreckt auf. Er sagt, sie solle es einfach singen, für sich selbst. Sie gehorcht, und langsam breitet sich auf ihrem angestrengten Gesicht ein Lächeln aus. Ihre Gestalt wird weicher und durchlässig für die Töne. Sie wird singend selbst zum Instrument. Stern bedankt sich bei ihr, gibt ihr die Geige zurück und bittet sie, jetzt zu spielen, was sie eben gesungen hat. Das Lächeln bleibt, sie hat verstanden. Die Filmkamera schwenkt zum Publikum. Auf den Gesichtern spiegelt sich das Wunder wider, das mit dem Mädchen und seiner Geige geschehen ist: Musikerin und Musik wurden eins, Ton und Tonus schwangen zusammen. Nichts geschah hier durch Erklärung oder vorzeigen. Die Intuition brachte einen begnadeten Lehrer auf die Spur zu einem Kind. (Sackmann-Schaefer/Steinaecker 1994) Solcherart Lehrer muss man, um Feldenkrais zu zitieren, mit Diamanten aufwiegen.
Die Gegengeige Sowohl in der musikalischen Frühförderung als auch in den Musikhochschulen nimmt der Trend zu, der Qualität der Bewegung, dem Zustand des «Body-Mind» beim Musizieren mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Feldenkrais-, Eutonie- oder Alexander-Stunden am Instrument sind keine Seltenheit mehr. Sie haben einiges gemeinsam: Den Blick auf den ganzen Menschen (mit Instrument) zu lenken, auf sein Zentrum, den «Stamm»; kreative Lernstrategien anzuwenden, um die Handhabung des Instruments zu verfeinern; das dynamische Sitzen oder Stehen, die feinen Gewichtsverlagerungen beim Spielen wahrzunehmen, die zur Spannungsreduzierung und Selbstregulation beitragen; Raumgefühl, Bewegungsfluss und das Erkennen von Strukturen zu verbessern. Um den unbewussten Verdrehungen und Verkürzungen einseitiger Belastungen des Nackens und der Schultern (beim Geigen oder Bratsche spielen) auf die Spur zu kommen, hat sich der gelegentliche Versuch bewährt, das Instrument rechts zu spielen. Die Umkehrung der Körperseiten, wie sie Feldenkrais vorschlug, wirkt sich weniger auf die musikalische Gestaltung oder die Feinmotorik der Fingergriffe aus, als vielmehr auf die Grobmotorik, die Funktion des Einswerdens mit dem Instrument selbst, auf das Bewusstwerden der Spiralbewegung im Rumpf und der Freiheit des Schulterblatts (des Bogenarmes). Diese Art des Übens ist immer dann betont in die Ausbildung zu nehmen, wenn an einem Punkt der Bewegungskette die Gefahr besteht, dass das mechanische System überfordert ist. In der Ausbildung ist es von außerordentlicher Bedeutung, die optimale Kombination zwischen mechanischem und mentalem Training bei individueller Einstufung zu finden … Arthur Rubinstein lebte viele Jahre von seiner
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hohen Begabung und muss wohl als Meister des mentalen Trainings angesehen werden, denn er beschränkte sich auf seinen Konzertreisen in der Vorbereitung betont auf mentale Trainingsformen. Das Üben am Klavier war in langen Phasen seines Lebens zweitrangig. (Schnack 1994, S. 46)
Die Grille im Kopf Es genügt nicht, einem Musiker mit optimaler Bewegungsorganisation zu einem gut gestimmten Instrument Körper zu verhelfen, um ihn für den Klang zu öffnen, sondern der Klang selbst muss die Rolle des Reorganisators übernehmen. Von dieser These ausgehend untersuchte eine Studie des Lichtenberger Instituts für Gesang und Instrumentalspiel in Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule Darmstadt die Frage: Welche Rahmenbedingungen muss der Körper stellen, um Klänge zu orten und zu produzieren, die eine günstige Rückkoppelung erlauben? Um diesen notwendigen Transfer zu verstehen und herzustellen, vertiefte sich das Forscher-Team zwölf Jahre lang in zahlreiche Lernmethoden und Körpertherapien, um sie in ihrer Wirkung auf die Stimmfunktion und das wahrgenommene und objektiv gemessene Klangspektrum zu überprüfen. Eine Feldstudie mit der Alexander-Technik (Lehrerin Julia Balter aus Boston, USA) fragte nach dem Einfluss der Alexander-Technik auf die Obertonstruktur eines Stimmklangs. 15 Versuchspersonen im Alter zwischen 23 und 36 Jahren sangen an sechs Versuchstagen vor und nach der (individuell abgestimmten) Behandlung jeweils einen Ton Bruststimme auf Vokal A und einen Ton Kopfstimme auf Vokal U. Die Testtöne wurden auf Band aufgenommen und ihre Frequenzen analysiert. Außerdem fand eine subjektive Bewertung des Stimmklangs durch die Gruppenmitglieder statt. Obwohl die Versuchsbedingungen so schonend wie möglich sein sollten, stießen die TeilnehmerInnen doch auf etliche Störfaktoren, die das Ergebnis möglicherweise negativ beeinflussten: Mikrofon, Frequenzanalysator und -schreiber, Ausfüllen von Fragebögen hemmten den unbefangenen Verlauf. Das zeigt, wie stark im Grund solche Alexanderarbeit sich festgelegten Versuchsbedingungen entzieht und zum Teil nicht messbar ist und dass die Versuchsperson schon dann nicht mehr richtig «funktioniert», wenn sie kurzfristige Ziele erreichen soll. Alexander (1923) selbst schreibt über die Gefahr des «endgaining», des Erreichenwollens eines Zieles. (F. Rohmert, H. Rehders, G. Rohmert, 1990, S. 90) Dennoch ergab sich, dass nach einer Alexander-Technik-Stunde die Obertöne im Stimmklang fokussiert nachweisbar sind, bestimmte Formanten (klarer) hervortreten.
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Die Leitung des Lichtenberger Instituts interpretiert diese Ergebnisse, indem sie auf die selbstregulierende Funktion des Kehlkopfes und die hochdifferenzierte Steuerung der Vokalmuskeln hinweist, sowie auf die Rolle der Formatio reticularis im Hirnstamm, die «autoakustische Signale abgeben kann», einem entfernten Grillenzirpen ähnlich. In der Formatio reticularis werden nicht nur die gesamten Sinneseindrücke verarbeitet und der Grad der Aufmerksamkeit gesteuert, sondern auch der reflexmäßige Anteil der Atmung und des Kehlkopfes sowie die Feinregelung der Muskulatur, die Gefühle und das Vegetativum reguliert. Wenn es also gelingt, im Klang einen Anteil zu erzeugen, der mit der Formatio reticularis in Resonanz kommt, dann haben wir alle die Funktionen erreicht, an denen uns so viel liegt beim Singen und Musizieren. (G. Rohmert, 1995) Bestätigung für dieses Phänomen fand sich auf Abbildungen aus dem alten Griechenland, wo der Hinterkopf eines Menschen mit einem Grillenleib verschmolzen ist. Die Grille wurde von den Griechen als heiliges musisches Tier verehrt. Die innere Bereitschaft und Bewusstheit für diesen hohen Klang wieder zu entwickeln, der in der Stimme, aber auch in fast jedem Instrumentalklang enthalten ist, mache nicht nur den Klang tragfähiger, er habe auch eine heilsame Wirkung (auf Musizierende und Hörende).
Klangbilder für Musiker Die Geigerin, Sängerin und Feldenkrais-Lehrerin Johanna Rohmert-Landzettel demonstrierte auf dem Europäischen Feldenkrais-Kongress 1995 in Heidelberg die Wichtigkeit und Effizienz von musikspezifischer Terminologie beim sensomotorischen Lernen von Musiker und Sänger. 1: Klopfen Sie mit den Fingern einer Hand die Gelenke der anderen • Beispiel Hand ab und achten Sie auf den Klang der Knochen. Gemeint ist «musikali-
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sches» Klopfen, rhythmisch, empfindsam, lauschend. Beispiel 2: Beklopfen Sie Ihren Unterschenkel. Wo können Sie am meisten Resonanz erzeugen? Am Schienbein? An welcher Stelle des Knochens transportiert sich der Klang am besten? Wie hohl oder wie hell oder dunkel klingt das? Beispiel 3: Stecken Sie einen Finger ins Ohr und klopfen mit einem Finger der anderen Hand sanft dagegen. Das zirpende, hohe Geräusch repräsentiert die Grillen-Frequenz. Beispiel 4: «Durchkämmen» Sie in Gedanken Ihren Körper in Rückenlage. Welcher Fuß (welches Bein, welcher Arm, welche Schulter ect.) scheint höher oder tiefer zu klingen? Welcher Fuß tönt lauter oder leiser, wärmer oder schriller? Ist
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es möglich, die Unterschiede in den Klangempfindungen beider Körperseiten auszugleichen, sie ähnlich klingen zu lassen? Beispiel 5: Instrumentalklänge mit Körperteilen zu assoziieren, macht den Musiker wachsam für die Variation von Klängen, die er «sein» kann, wenn er ihnen lauscht. Die Frage könnte lauten: Welcher Körperteil entspricht welchem Musikinstrument? Ist der Klang, den Sie hören, ein Streicherklang (Geige, Cello, Kontrabass) oder könnte er zu einem Schlag- oder Blasinstrument gehören? Welchem Instrument entspricht der Kopf oder das Becken und wie kann man es zum Klingen bringen (streichend, zupfend, blasend, klopfend)? Wie harmonisch oder dissonant klingen alle Instrumente zusammen? Beispiel 6: Eine Stunde in «Bewusstheit durch Bewegung» durch hochfrequente Klänge (Zymbeln, Geige oder Stimme) zu bereichern, ermöglicht eine hochdifferenzierte und effektive Bewegung, denn «der neurologische Effekt eines akustischen Stimulus ist in einer Unterrichtsstunde für das Gehirn komplexer als die ausschließlich verbale Anleitung». (Rohmert-Landzettel 1995) Eine Erkenntnis, die auch François Combeau (Sänger, Stimm- und Feldenkrais-Lehrer) bei seiner Arbeit mit Musikern, aber auch mit hirngeschädigten Menschen in Frankreich teilt. «Being in Motion» drückt sich für ihn räumlich optimal aus durch die Klänge und Melodien, die wir singen.
Lampenfieber – ein kollektives Leiden Experimentieren und Variieren, das liebevolle Innehalten und Überprüfen des eigenen Zustands, gehören zum täglichen Brot eines jeden künstlerisch arbeitenden Menschen. Er braucht es, um sein Üben lebendig zu halten, um Entwicklung zu erlauben, sich stetig zu verbessern. Er nutzt es, um seinen Visionen näher zu kommen, aber auch, um Misserfolge zu verkraften, Stress zu bewältigen, der Angst zu begegnen: erzeugt durch immer irrationaler werdende Bewertungskategorien des modernen Kunstbetriebs, durch Zeitdruck, körperliche Probleme, Minderwertigkeitsgefühle, zielgerichtetes Denken, die Furcht zu versagen. Zustände, die Befinden und Körperreaktionen unbewusst verknüpfen. Die Größten leiden oder litten darunter: Maria Callas, Pablo Casals, Arturo Paganini … Der viel gereiste Cellist Gregor Piatigorsky kannte die typische Nervosität des Künstlers in vielen Sprachen: Auf Russisch heißt Lampenfieber «wolnenje», auf Französisch «trac», auf Englisch «stage fright». Manche beschreiben es als «Schmetterlinge im Magen». Für ihn war «Folter» die treffendste Vokabel, der Gang auf die Bühne wie ein Gang zum «elektrischen Stuhl» (Piatigorsky 1975, S. 114) – den er dennoch immer lebend und gefeiert überstand. Lampenfieber als verbreitetes Symptom eines unbalancierten körperlich-seelischen Zustands thematisiert Pedro de Alcantara in seinem «Musician’s Guide to the Alexander Technique» als
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ganzheitliches Phänomen. Er empfiehlt im Sinne Alexanders jene «innere Vorbereitung», die es möglich macht, sich positiv zu konditionieren, sich ökonomisch zu bewegen, die Kräfte zu bündeln, einen klaren Kopf zu behalten. Learn to inhibit all interference to your Primary Control, and you need not fear the unexpected or abnormal. (Alcantara 1997, S. 258) Ein Rätsel bleibt, warum außergewöhnliche künstlerische Leistungen zuweilen aus extrem schlechten psycho-physischen Zuständen eines Künstlers entstehen können.
Kreativität und Chaos In ihrem Essay über Kreativität beschreibt Hanna Johansen die oft chaotische Suche nach Ordnung im Kopf, die Qual, «in einem Meer von möglichem Stoff zu schwanken und nicht zu wissen, was davon zu gebrauchen sein wird und wie es sich ordnen lässt». Ähnlich der verunsichernden Unordnung, mit der sie in ihrer Feldenkrais-Ausbildung zuweilen mit dem Phänomen des Bewegungslernens konfrontiert war. Menschen, die schöpferisch arbeiten, wissen es: «Nicht nur das Herausarbeiten des Stoffes unterliegt Evolutionsprinzipien, die Entwicklung der Form tut es gleichermaßen.» Johansen fragt: Was ist Verstehen? Nicht das Schnappen nach einem großen, unverdaulichen Brocken von Neuigkeiten, vielmehr ein kleiner Schritt vom Bekannten ins Unbekannte. Das Neue ist das, was dabei herauskommt, wenn wir Dinge, die wir schon wissen, zusammentreffen lassen und sie dabei sehr aufmerksam beobachten. Die Schriftstellerin vermutet, dass die unaufhörlichen und ungeordneten Bewegungen unseres Denkens die Quelle unserer Kreativität sind. Kreativität schöpft also aus dem weitgehend ungeordneten Durcheinander in unseren Köpfen und aus dem, was unaufhörlich von außen auf uns zukommt. Sie schöpft aus der Fülle. Eindeutigkeit dagegen ist schon geordnet und bringt nichts Neues hervor. Kein Verlass darauf, dass, «was beim letzten Mal funktioniert hat, wieder funktioniert». Jede Entscheidung (für die Form) stellt Weichen, schränkt die Freiheit ein. Kreativität hat immer mit Freiheit zu tun, aber nicht so ausschließlich, wie man gern meint. Ohne Beschränkung ist Kreativität nicht zu haben … Ich halte es für
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wichtig, einen möglichst freien Umgang mit Beschränkung zu lernen, zu üben und weiterzuentwickeln. Einen freien Umgang mit Beschränkung, wie ihn auch Gindler, G. Alexander, F. M. Alexander und Feldenkrais vorschlugen. Jeder ging etwas anders mit Beschränkung und Freiheit um. Nur im Bereich zwischen beiden Extremen, Chaos und Starre, ist, ganz naturwissenschaftlich gesagt, Leben. (Johansen 1996, S. 14–19)
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Mit dem Leib lernen – Gesundheit und Heilung ganzheitlich fördern Helmut Milz Wir behandeln den eigenen Leib, der wir sind, oft so, als sei er der Körper eines Anderen. (A. Keil) Wenn du eine hilfreiche Hand brauchst, dann suche erst am Ende deines Armes. (arabisch) Infolge der einseitigen Begeisterung für das technologisch Machbare schätzen wir gegenwärtig unsere eigenen Fähigkeiten zur Selbsthilfe gering. Dafür zahlen wir persönlich und als soziale Gemeinschaft einen vermeidbar hohen Preis. Diese anerzogene Vernachlässigung unserer genuinen Fähigkeit, zu spüren, zu fühlen und zu erleben, ist jedoch jederzeit veränderbar. Oberflächlicher Kontakt mit dem Wunder unserer leiblichen Existenz, verlorenes Vertrauen in unsere Möglichkeiten zur Selbsterhaltung, Selbstregeneration und Selbstheilung schmälern unsere Lebensqualität. Im folgenden Beitrag werde ich darstellen, wie somatopsychisches, leiborientiertes Lernen helfen kann, dies zu ändern. Ich sehe dieses als integralen Bestandteil einer ganzheitlichen, systemischen Heilkunde und Gesundheitsförderung. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts haben sich eine Vielzahl von leib- und körperorientierten Lern- und Heilmethoden entwickelt. Diese folgen ähnlichen Mustern. Ich werde dies am Mythos vom verwundeten Heiler sowie am Dialog zwischen östlichen und westlichen Veränderungswegen nachzeichnen. Abschließend versuche ich, den Begriff des somatopsychischen Lernens sowie dessen Bedeutung für die zukünftige Praxis von Gesundheitsförderung, öffentlicher Gesundheitspflege und Heilkunde zu klären.
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Gemeinsamkeiten in der Entwicklung neuer somatopsychischer Lernmethoden Der Mythos vom verwundeten Heiler Man kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechtum, auch aus dem Siechtum des schweren Verdachts, neugeboren zurück, gehäutet, kitzliger, boshafter, mit einem feineren Geschmack für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude, kindlicher zugleich und hundertmal raffinierter, als man jemals zuvor gewesen war. (F. Nietzsche) Es gab mein persönliches Bedürfnis zu lernen, wie ich überleben konnte. Ich musste lernen, ein normales Leben mit möglichst geringem Kraftaufwand zu führen. Das hieß auch, Kraft aufbringen ohne große Anspannung, und im Tun entdeckte ich die Notwendigkeit der Entspannung – höchste Ökonomie in der Bewegung. (G. Alexander) Je mehr man sich von seinen ängstlichen Neigungen und Bestrebungen löst, davon, dass man sich ständig schützen müsse, umso mehr gelingt es einem, seinen eigenen Fähigkeiten wieder Vertrauen zu schenken. (Charlotte Selver) Die Menschen haben schon immer versucht, das, was sie erleben, was ihnen gemeinsam widerfährt, in größere Sinnzusammenhänge einzuordnen. Mythen sind dabei sinnstiftende Erzählungen über die erfahrenen Rhythmen und Ordnungen der Natur und des Lebens. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. In Ritualen wird ihrer regelmäßig und mit Respekt gedacht. Sie dienen dazu, Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Seit der Renaissance versucht die Aufklärung, traditionelle Mythen zu entzaubern und an ihrer Stelle rationale, wissenschaftlich nachvollziehbare Begründungen zu finden. Die Aufklärung kritisiert schwärmerische, vage Mythologien und versteht den Rückgriff auf mythische Archetypen als Unlust und Unfähigkeit, sich der eigenen, persönlichen Geschichte selbstkritisch zu stellen. In ihrer «Dialektik der Aufklärung» haben T. Adorno und M. Horkheimer aber nachgezeichnet, dass auch jede Aufklärung und Wissenschaft in sich schon Züge eines neuen Mythos tragen, welche unreflektiert zur Ideologie und zum Dogma führen können. Mythen bieten Möglichkeiten zur sinnstiftenden Identifizierung und persönlichen Zugehörigkeit. Ihr Vorbildcharakter ist bei der Suche nach Heilung von Bedeutung. Für die Akzeptanz der Methoden des somatopsychischen Lernens spielt dies eine wichtige Rolle. Ihr eigener Leidensweg sowie ihre transformativ erfahrene Suche nach neuen Möglichkeiten verleiht den Methodenbegründern
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einen mythologischen Status. Ihre spezifischen Wege werden später in allgemeine Landkarten übersetzt, welche andere zur Erkundung ihrer eigenen Landschaften in der Krise ermutigen. Der Mythos vom «verwundeten Heiler», welcher Gefahren der eigenen Krise als Herausforderung und gute Gelegenheit nutzen lernt, verweist auf dessen persönliche Zähigkeit und festen Willen. Er/sie wendet die Not des eigenen Leidens zur Tugend des neugierigen Lernens und der praktischen Veränderung. Dieser Prozess der Veränderung ist lang und erfordert Geduld und die Überwindung von Gefahren und leidvollen Prüfungen. Dabei reifen neue Möglichkeiten, unerwartet anders, geschickter auf das Erlebte zu reagieren und es schließlich heilsam und erfolgreich zu überwinden. Erst nach der Genesung vom eigenen Leiden wurde das besondere Talent der traditionellen Medizinmänner/frauen und Schamanen von ihren Gemeinschaften anerkannt. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Laienheiler der Moderne. Mit diesen kann man viele Methodenbegründer des somatopsychischen Lernens vergleichen. Von Zeugen des Geschehens, welche sich der Erfahrung ihrer ungewöhnlichen Fähigkeiten unterzogen haben, wird das Talent des Laienheilers entdeckt und empfohlen. Sie verbreiten seine Fähigkeiten, erzählen seinen Mythos, gründen zu seiner Unterstützung Gemeinschaften, Organisationen und Ausbildungsstätten. Auch viele Methoden des somatopsychischen Lernens sind ursprünglich aus krankheitsbedingten Krisen ihrer Begründer und Begründerinnen entstanden. Sie sind Ausdruck von deren persönlicher Willensstärke, Neugier, Lernbereitschaft, Ausdauer und Zielstrebigkeit: Alexander war schon als junges Mädchen von Schauspielkunst und Cho• Gerda reografie fasziniert. Sie wollte seit dieser Zeit inständig Wege finden, wie sie
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trotz ihrer frühen schmerzhaften, rheumatischen Bewegungseinschränkungen freie, rhythmische und gelenkige Ausdrucks- und Bewegungsmöglichkeiten entfalten könnte. Elsa Gindler entwickelte in den zwanziger Jahren als Kind aus einfachen Verhältnissen den ungewöhnlichen Wunsch, Gymnastiklehrerin zu werden. Um dieses Ziel zu realisieren, musste sie ihre schwere Lungentuberkulose, ohne die finanzielle Möglichkeit zur Kur, mit Geduld, Ausdauer, subtiler Beobachtung und Vertrauen in die eigene Natur überwinden. Diese Erfahrungen wiesen ihr den Weg zu ihrer ungewöhnlichen «Arbeit am Menschen». F. M. Alexander war ein angesehener und ehrgeiziger Schauspieler, dessen Stimme ein wichtiges Instrument seiner Kunst war. Durch geduldiges, minutiöses, besessenes Erproben und Erforschen wollte er diese Stimme wiederfinden, erhalten und weiterentwickeln. Seine neue Methode der Haltungs- und Seinsschulung entwickelte sich aus seinem leidvollen Weg.
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Feldenkrais emigrierte in jungen Jahren aus Russland nach Westeuropa, • Moshé später nach Israel. Seine anfangs sportliche Beschäftigung mit dem Judo war für
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ihn auch ein wichtiges Instrument, um sich seiner eigenen Haut wehren zu können. Später halfen ihm diese Erfahrungen bei der Entwicklung von ungewohnten, intelligenten und gewitzten Wegen zum Umgang mit den behindernden Bewegungseinschränkungen seines Knies. Erst nach diesem Umweg entwickelte er sein großes Repertoire an Bewegungskombinationen zur Förderung leiblicher Bewusstheit und praktischer Veränderung. Bonnie Bainbridge-Cohen, die Begründerin des Body-Mind Centering, lernte erst mit 4 Jahren sprechen und litt unter den Folgen ihrer Kinderlähmung. Aber während dieser Zeit beobachtete sie als kleines Mädchen die ungewöhnlichsten Körperfertigkeiten von Artisten im Zirkusbetrieb ihrer Eltern. Charlotte Selver, die Begründerin des Sensory Awareness, lacht im Alter gerne über die eigene kindliche Plumpheit und Unbeholfenheit, welche sie manche Mühe kosteten, aber auch Impulse freisetzten, um anders mit sich und ihren Potentialen umgehen zu können. Morihei Uyeshiba, der Begründer des modernen Aikido, wird ursprünglich als schwaches und kränkliches Kind geschildert, welches aber vom starken Wunsch beseelt war, sich körperlich zu entwickeln. Dieser Wunsch sei dadurch bestärkt worden, dass er als Kind hilflos zusehen musste, wie eine Bande seinen Vater brutal zusammenschlug. Erst über den Umweg der Kriegskünste entwickelte er später den friedvollen Weg des Aikido.
Ein gemeinsames Charakteristikum dieser Biographien ist, dass die Betroffenen lernen mussten, mit ihren eigenen Einschränkungen und Schonhaltungen anders umzugehen. Auf heilsamen Umwegen fanden sie erst dann neue Möglichkeiten für Heilung und Wachstum. Die Förderung der subtilen Auseinandersetzung mit dem eigenen körperlichen Wahrnehmen, Fühlen und Bewegen ist dementsprechend ein gemeinsames Prinzip vieler Methoden des somatopsychischen Lernens. Im Fall von gesundheitlichen Beschwerden und Krankheiten stellt sich zu Beginn oft ein ambivalentes Verhältnis zum eigenen Körper ein. Einerseits erscheint der betroffene Körperbereich oder das eingeschränkte Vermögen, welches sich in Beschwerden schmerzhaft bemerkbar macht, als fremd und nicht zum eigenen Körper gehörig. Dann entwickelt sich jedoch eine ganz besonders innige Verbindung und Zuneigung zu diesem Bereich des eigenen Körpers (Leder, 1990). Am Beginn dieser Veränderungen steht häufig auch ein verstärkter Rückzug in sich selbst, sowie das Gefühl eines verminderten eigenen «bewohnten Raums». Die Notwendigkeit des Überlebens, der innewohnende leibliche «Wille zur Macht» (F. Nietzsche), fordert und fördert schließlich unerwartete Wege zu neuer Lebendigkeit.
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Der Neurologe Oliver Sacks merkt in der Erfahrung seiner schweren Beinverletzung an: Der Organismus und das Nervensystem haben ein riesiges Repertoire von «Trickbewegungen» und «Entlastungsmechanismen» aller Art – ganz und gar automatische Kunstgriffe, die «in Reserve» gehalten werden. Wir hätten keine Ahnung von diesen Fertigkeiten, die wir in potentia besitzen, wenn wir nicht vorgeführt bekämen, wie sie in Notzeiten zur Hilfe kommen. Viele somatopsychische Pioniere haben diese Potentiale subtil erfahren und später zur Förderung von Gesundheit und Heilung geordnet. Im Prozess des somatopsychischen Lernens wird der gewahrsame Kontakt, das Wiederentdecken der eigenen sensomotorischen Musik, die «kinaesthetische Melodie des eigenen Gangs» (O. Sacks), das spielerische Finden, die bewusste Erlaubnis zum Getragensein von der eigenen Körpermelodie erkundet und angeeignet. Über die Erfahrung des sechsten Sinns, der Propriozeption, vermitteln sie ein leibliches Gefühl für das Richtige und Stimmige.
Austausch zwischen östlichen und westlichen Wegen Um schöpferische eutonische Bewegungsformen hervorzubringen, ist daher eine Präsenz erforderlich, die keine geringere geistige Disziplin ist als die einer Meditation. (G. Alexander) Awareness might be described as being conscious of one’s consciousness. (M. Feldenkrais) Somatic awareness training of hatha yoga, pranayama yoga, aikido, and tai chi ch´uan are oriental versions of the same procedures created by G. Alexander, Gindler and Feldenkrais … The characteristic of somatic education is its assumption that the human being has evolved as a self-regulating, self-correcting and selfimproving organism, who can take over greater control of himself through ever greater somatic self-awareness. (T. Hanna) Es schmälert nicht den Genius von F. M. Alexander, Moshé Feldenkrais und Gerda Alexander, wenn man sagt, dass sie Prinzipien und Praktiken für die moderne Welt wiederentdeckt haben, welche sich ursprünglich im Taoismus oder anderen alten Traditionen des Ostens entwickelt haben. (F. Morrow)
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Ein hervorragender Kenner der drei schwerpunktmäßig in diesem Buch vertretenen Methoden somatopsychischer Erziehung war deren amerikanischer Verleger Felix Morrow. Er stellte mehrfach eine Reihe von Gemeinsamkeiten bei ihnen fest. Im Einzelnen verwies Morrow dabei auf die gemeinsame Beschäftigung mit dem tragenden Grund der Erde, dem Gespür für die Mitte, der Erfahrung der Schwerkraft, der Aufmerksamkeit für die Atmung, sowie die Entwicklung eines situationsangemessenen, gelassenen Spannungszustands. In den Lebensgeschichten der Methodenbegründer finden sich vielfach Hinweise auf deren Begegnungen mit östlichen Traditionen: Feldenkrais war als erfahrener Judokämpfer mit den energetischen Prin• Moshé zipien der Kampfkunst ebenso vertraut wie mit meditativen Praktiken. Seine
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Kenntnis des Jujutsu-Prinzips, welches darauf beruht, sich den Angriff des Gegners zu Nutze zu machen, anstatt gegen diesen anzukämpfen, floss deutlich in seine Methode der Funktionalen Integration ein. Er hatte mehrfach Gelegenheit zum Austausch mit japanischen Meistern. Eine seiner Meisterschülerinnen, Mia Segal, hat intensive Studien traditioneller japanischer Methoden betrieben. Obwohl sich Gerda Alexander nie ausführlich über ihre Beziehungen zu östlichen Traditionen geäußert hat, dürften verschiedene Begegnungen mit diesen für sie von Bedeutung gewesen sein. Die Arbeit eines ihrer wichtigen Lehrer, Jacques Dalcroze, war vom damaligen Interesse der Künste an östlichen Bewegungspraktiken beeinflusst. Gerda Alexanders Begegnungen mit dem Zen-Lehrer Karlfried Graf Dürkheim dürften ihr wichtige Inspirationen vermittelt haben. Felix Morrow merkt dazu an: «Es mag wohl sein, dass sich Gerda Alexander bisher zurückgehalten hat, die gemeinsamen Bindungen zwischen der Eutonie und diesen Disziplinen anzusprechen. Insbesondere wenn es sich dabei primär um spirituelle Disziplinen handelte. Ihr Kampf darum, die Eutonie gegen die wissenschaftliche medizinische Profession zu verteidigen, von der sie oft wegen ihrer überraschenden, aber noch nicht erklärbaren Resultate angegriffen wurde, ließen sie zu den spirituellen Dimensionen ihrer Eutonie eher schweigen. In Wahrheit ist Eutonie aber eine der großen Schulen der Meditation. Meditation ist anhaltendes Gewahrsein dessen, was in uns vorgeht, und gerade dies ist es, was Eutonie bewirkt und unterrichtet.» (F. Morrow) K. Graf Dürkheim, der einen Teil seiner Arbeit als Leibtherapie verstand, verweist in seinem Buch «Meditieren» ausdrücklich auf Gerda Alexander: «Es gibt keine Grenzen für den Fortschritt dieser Bewegung zur Transformation des Körpers. Dazu ist es notwendig, dass der Student lernt, sich selbst ständig so in seinem Körper zu spüren, dass sein eigenes Bewusstsein diesen schließlich wieder verlässt. Zu Beginn der Übungen wird der Körper ohne Zweifel von all seinen Gedanken besetzt gehalten. Dieser Körper ist zugleich auch die Seele und der Geist. Die Methode der Eutonie, welche von Gerda Alexander unterrichtet
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wird, entwickelt diese Kunst der gewahrsamen Präsenz heute ganz besonders. Eutonie – Übungen erleichtern somit das Zazen und sie werden deshalb von mir als vorbereitende Übungen sehr empfohlen.» (übersetzt nach F. Morrow) Charlotte Selver pflegt intensiven Austausch mit der amerikanischen ZenGemeinde. Der Zen-Abt Richard Baker-Roshi bezeichnet sie als seine erste Lehrerin, welche ihm den Weg zum Zen-Buddhismus geöffnet habe: «In Charlotte sah ich jemand, die durch ihr Gespür und Mitgefühl für andere im Besitz ihrer selbst, bei sich war. Sie brachte mir die Bedeutung des Einfachen nahe. Durch sie wurde ich gewahr, dass die absolute Einzigartigkeit des Moments in seiner Vergänglichkeit liegt.» (Baker-Roshi). C. Selver sieht ihre Arbeit, welche sie heute noch mit fast 100 Jahren weitervermittelt, als gelebte Kontinuität dessen, was sie von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby gelernt hat. Sie hat im Laufe der Zeit erheblich Einfluss genommen auf die Arbeit von Freds Perls und sein gestalttherapeutisches Diktum des «Hier und Jetzt». Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm zählte ebenso zu Selvers Bewunderern wie der geniale Experte für östliche Spiritualität Alan Watts. Bonnie Bainbridge-Cohen hat wichtige Impulse durch ihre Arbeit in Japan, insbesondere mit dem Aikido, sowie in der Begegnung mit einem indischen Yoga-Meister erfahren. Sie integrierte diese in ihre westliche Ausbildung in Beschäftigungstherapie, verschiedenen Methoden der Tanztherapie und der physiotherapeutischen Arbeit nach Bobarth (welche wiederum wesentlich von der Gindler-Arbeit beeinflusst wurde).
Weitere Beispiele für ost-westliche Synthesen sind die Arbeit von Ron Kurtz (Hakomi), Robert Hall und Richard Heckler (Lomi School), Earnest Rossi (Hypnotherapy, Self-Hypnosis), Arnold Mindell (Jungianische Therapie und Traumkörperarbeit), Ion Kabat-Zinn (Achtsamkeitsmeditation und Verhaltensmedizin), Tom Ots (westliche Psychosomatik und traditionelle chinesische Medizin), Kay Hoffman (traditionelle Trancetechniken und Hypnotherapie), Matthias Varga von Kibed / Insa Sparrer (ost-westliche Logik und systemische Körperaufstellung).
Somatopsychische Potentiale und soziale Utopien Darum ist die Eutonie keinesfalls eine Methode im traditionellen Sinn, sondern eine neue Haltung gegenüber dem Menschen und dem Leben. (G. Alexander) It’s certain, from my point of view, that the major public health problems of the United States and all advanced industrialized countries will simply disappear, if you have people who are aware that they themselves can be responsible for their whole somatic process. Again, the theme is freedom, independance. (T. Hanna)
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Die ursprünglich als Hilfe zur Selbsthilfe entwickelten Methoden der somatopsychischen Erziehung veranlassten ihre Begründer und Begründerinnen im reiferen Stadium ihrer Leben zu weitergehenden Aussagen über die emanzipativen und sozialen Bedeutungen ihrer Entdeckungen. Von Moshé Feldenkrais ist der Satz überliefert: Die Bewegungsübungen an sich haben wenig Bedeutung. Für sich allein genommen sind sie manchmal idiotisch. Was mich wirklich interessiert, sind nicht flexible Körper, sondern flexible Gehirne. Ich möchte jedem Menschen dazu verhelfen, seine eigene Würde wieder zu entfalten. Zur sozialen Bedeutung der Arbeit von F. M. Alexander schrieb der amerikanische Pädagoge John Dewey: «Wenn in Zukunft ein größerer Teil der neuen Generation angemessen koordiniert sein wird (durch die Alexander-Arbeit), dann bringt dies die Gewissheit, dass diese Männer und Frauen der Zukunft erstmals wirklich in der Lage sein werden, auf ihren eigenen Füßen zu stehen, um damit die anstehenden Herausforderungen und Notwendigkeiten ihrer Umwelt meistern zu können, ohne dabei, wie die heutigen Menschen, von Angst, Konfusion und Unzufriedenheit beherscht zu werden.» Mein ganzes Leben versuchte ich herauszufinden, was Freiheit bedeutet. Freiheit ist für mich mehr, als die Nichtexistenz von Mangel oder äußerer Behinderung. Mein Begriff von Freiheit setzt aber auch innere Kraft und bestimmte Fähigkeiten wie Urteilsvermögen, klare Wahrnehmung und Intelligenz unabdingbar voraus. Durch sie wird Autonomie erst ermöglicht. Unabhängigkeit ist nur dann möglich, wenn man auf eigenen Füßen steht. Auf den eigenen Füßen stehen heißt aber nicht nur Rebellion, sondern beinhaltet das Wissen um die eigene Person, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten zum selbständigen Handeln. (T. Hanna) Selbstwerdung und Transzendenz Die Schüler erfahren, dass es eine Scheidung in «rein geistig» und «nur körperlich» nicht geben kann. Darum gilt es, das den Körper bis in seine innersten Teile durchwirkende Geistige, welches das persönliche und kollektive Unbewusste und zudem alle vergangenen und zukünftigen Schöpfungsevolutionen mit einschließt, in das Offenbare des Bewusstseins zu heben. (G. Alexander) To recognize that our bodys are inspirated enobles the body. To recognize that our spirits are embodied is to empower the spirit. To recognize both is to enoble and empower the human being and see ourselves as far more capable, far more potent, far more sensitive than we had heretofor believed. (T. Hanna)
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Im Laufe ihrer langjährigen Erforschungen entwickelten die Methodenbegründer den expliziten Wunsch nach voller Selbstwerdung und Selbstentfaltung. Der Philosoph und somatopsychische Therapeut Don Johnson spricht davon, dass unter den vielen Praktikern der somatopsychischen Erziehung, trotz ihrer unterschiedlichen Techniken, eine gemeinsame Vision somatopsychischer Möglichkeiten bestehe, welche dem Weltverständnis alter, traditioneller Kulturen oft näher sei als dem der Methoden des modernen Wissenschaftsbetriebs. Auch wenn Bioenergetiker, Eutonisten, Rolfer oder Feldenkrais-Praktiker verschiedener Meinung über die Wirksamkeit bestimmter Praktiken sein mögen, so sind sie doch alle der Ansicht, dass Empfindung, Gefühl, Atmung, Bewegung, Haltungsänderung und Belebung die entscheidenden Faktoren bei der menschlichen Suche nach Sinn sind. (D. Johnson) Methoden des somatopsychischen Lernens fördern oft auch einen radikalen, unbequemen Wandel der Einstellung gegenüber dem eigenen Körper und den Körpern der Mitmenschen. Es geht ihnen um integrierte, systemische, ganzheitliche Sichtweise von Wachstum, Gesundheit und Heilung. Diese Sicht betont die intime Zusammengehörigkeit von Bewegung, anatomischer Struktur, Intelligenz und spirituellem Bewusstsein. Diese Lehrer ermutigen uns, der lebendigen Erfahrung mit Achtung zu begegnen und die Weisheit zu schätzen, die sich aus der Aufmerksamkeit auf die Prozesse des Lebens und nicht nur aus ihrer Kontrolle oder Beherrschung ergibt. (D. Johnson) Somatopsychisches Lernen zielt sowohl darauf ab, Gewahrsein durch Bewegung zu entwickeln, als auch Bewegungen durch Gewahrsein zu gestalten. Es hilft, ein neues Gefühl und Vertrauen für Beziehungen zu entwickeln. Im Erleben des eigenen Organismus klärt sich das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Teilen und dem eigenen Ganzen, zwischen sich und der Mitwelt. Die gewahrsame Verbundenheit schafft ein verändertes Gefühl für Richtigkeit und Befriedigung. Sie befördert Stimmungsaufhellung und Angstlösung sowie ungewohnte Klarheit des Denkens. Der somatopsychische Lernprozess erfordert eine Haltung und Einstellung gegenüber sich selbst, bei der man erst einmal etwas erprobt, ohne sich vorschnell etwas beweisen zu müssen. Es ist zu Beginn weniger Lernen als Entdecken von Verbindungen, Geschehen, Unterschieden und Veränderungen. Wie lerne ich, wenn ich etwas lerne? Wie beachte ich meine Möglichkeiten zu antworten? Wie werde ich empfindsam für die Unterschiede zwischen anerzogener Gewohnheit und aktueller, freier Wahl? Scheinbar vertraute Unterschiede zwischen oben und unten,
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vorne und hinten, rechts und links, klein und groß, rasch und langsam, gewollter und erlaubter Bewegung werden neu erfahren und bewusster. Ganz gleich ob dies durch Hören, Berühren, Schmecken oder Sehen geschieht, wenn die Sinne angeregt werden, dann ist der ganze Organismus in eine fühlende Einheit verwandelt. Dies kann nur geschehen, wenn der eigene Geist klar ist. Dies bedeutet nicht scharf. Es bedeutet so gereinigt, wie wenn sie einen großen Frühjahrsputz veranstalten, bei dem sie alle Möbel verrücken, allen Staub und Schmutz entfernen, so dass der ganze wieder sauber und klar wird, ruhig. Dieses «Radio im Hirn» wird still, während sie von ihren Gedanken ablassen, und Frieden einkehren kann, wenn sie stiller werden, offener im Kopf. Dies ist weder schlafen noch träumen. Und dann müssen wir lernen, das zu erlauben, was in uns geschieht: das Schlagen unseres Herzens. Das Kommen und Gehen der Luft. Nichts schaffen wollen. Alles so lassen können, wie es geschieht und sich wandelt, falls es sich wandelt. Keine Erwartungen, keine Kritik, keine Gefühle. Nur wie ein klarer See, sehr still. (C. Selver)
Leib-Erfahrungen im somatopsychischen Lernen Eigene Lernprozesse Seit mehr als 25 Jahren bin ich in verschiedenen Bereichen der Medizin, Therapie und öffentlichen Gesundheitsvorsorge tätig. Ausgangspunkte waren die ärztliche und sozialwissenschaftliche Ausbildung. Diese prägten meine möglichst objektive Sicht, welche von außen betrachtend eine wissenschaftlich fundierte Diagnose erheben will, um dann eine darauf gezielt aufbauende, medizinische Intervention in das körperliche Geschehen zu planen. Mit zunehmender praktischer Erfahrung erlebte ich immer häufiger Widersprüche zwischen meiner medizinischen Sichtweise und der komplexen Realität des Heilungsprozesses. Die wissenschaftlich vermutete rein körperliche oder rein seelische Genese eines Leidens erwies sich dabei immer mehr als verkürzt. Mir wurde deutlich, dass die eigene Lebensgeschichte, die aus der Lebenssituation erwachsende, meist unbewusste Einstellung zu sich selbst und zum eigenen Leiden wesentlichen Einfluss auf das Gelingen oder Misslingen des Heilungsprozesses nehmen. Besonders deutlich wurde mir dies in Folge einer eigenen Knieoperation und im Leidensprozess meines Vaters, welcher plötzlich von einem schweren Schlaganfall behindert wurde. Ich entwickelte zusehends mehr Interesse an ganzheitlich orientierten Wegen der Medizin und Gesundheitsförderung (Milz 1985). Angeregt durch praktische Erfahrungen mit verschiedenen Methoden der Leib- und
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Körperarbeit begann ich, unterschiedliche Pioniere dieser Methoden zu untersuchen und zu vergleichen. Die Möglichkeit, am eigenen Leibe zu lernen, eröffnete mir ungewohnte Zugänge zu eigenen körperlichen Räumen; ich erlebte auf neue Weise berührt zu werden und zu berühren; ich erfuhr, was es bedeutet, bei mir zu sein, während ich mit anderen zusammen bin; ich lernte anders dazustehen, auf eigenen Füßen; meine Wirbelsäule lernte ich nicht nur als Problem, sondern auch als Halt und Mitte zu erfahren; ich konnte eingefahrene Gewohnheiten entdecken, Einseitigkeiten aufzugeben, neue Muster erproben; mir wurde gewahr, wie es ist, im Kontakt mit der tragenden Erde zu sein; ich lernte nicht zu starren, sondern einfach zu sehen; mir wurde deutlich, wie ich das besondere Gegenüber erleben kann und mich nicht an eigenen Vorurteilen festzuhalten; die Augen weich zu machen, sie zu öffnen, um neue Einsichten zu erlauben; wieder mehr den Wert von Spielen, Lachen, Gefühlen und Neugier zu schätzen; zu be-greifen, ver-stehen, er-leben, was wirklich ist, auch wenn mir dies oft nicht immer ge-fallen hat; und vieles andere mehr. Mich haben in diesen Lernprozessen weniger die einzelnen Methoden, sondern ihre umfassenden Veränderungspotentiale interessiert. Dabei hatte ich das Glück, mit einer Vielzahl von Pionieren wie Thomas Hanna, Gerda Alexander, Charlotte Selver, Bonnie Bainbridge Cohen, George King, Patrik Douce, Chungliang Al Huang, Dean Marson, Robert Hall, Richard Heckler, Kay Hoffman, Matthias Varga von Kibed, Tom Ots, meinen Freunden am kalifornischen Esalen-Institut und vielen anderen arbeiten und lernen zu können. Durch den intensiven Austausch mit meiner Frau Uta Christ-Milz, welche u. a. Feldenkrais-Pädagogin ist, sowie mit Dieter Kallinke, Rainer Danzinger, Michael Feichtinger u. a. konnte ich das am eigenen Leibe Erfahrene reflektieren und systematisieren. Während meiner Arbeit als Berater des Gesundheitsförderungsprogramms der WHO war Ilona Kickbusch eine kompetente Übersetzerin dieser Ideen in Konzepte einer neuen öffentlichen Gesundheitspolitik. Manfred Fichter verdanke ich Möglichkeiten der konkreten Erprobung von Methoden der somatopsychischen Erziehung in die Arbeit der Psychosomatischen Klinik Roseneck. Über das unmittelbar Erfahrene hinaus habe ich mich seit vielen Jahren mit den Grundlagen des Körper- und Leiberlebens beschäftigt und versucht, ein weitergehendes theoretisches Verständnis für somatopsychisches Lernen und somatopsychisch, leiblich orientierte Therapie zu gewinnen.
Leib-Sein und Körper-Haben Wie verschieden ist der Leib, wie wir ihn empfinden, sehen, fühlen, fürchten, bewundern, und «der Leib», wie ihn der Anatom uns lehrt! (F. Nietzsche)
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Wenn ich vom menschlichen Leib spreche, dann denke ich nicht an den menschlichen Körper, den man besichtigen und betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, unabhängig vom Zeugnis des Sehens, Tastens und Hörens. (H. Schmitz) Im Alltag sind Körper und Leiblichkeit durch das Leben zusammengeschmolzen. Wir sind dabei meist am unmittelbaren äußeren Geschehen beteiligt, «außerhalb» unseres bewussten Selbstgefühls. Leiblich wissen wir jedoch immer um die kontinuierliche Verbundenheit mit der Welt. Wir sind in der Welt, in sie eingebunden, ohne räumliche und zeitliche Grenzen. Dies entzieht sich meist unserer bewussten Kontrolle. Unser Leben lebt uns, es geschieht. Damit gewinnen wir erst die Freiheit etwas unmittelbar zu können, zu handeln, zu wollen, Neigungen und Abneigungen zu erleben. Das ändert sich sofort in allen Grenzsituationen, die keinesfalls Krankheiten sein müssen. Schon Müdigkeit, ja jedes Misslingen eines Vorhabens, jede mit Bedenken begonnene oder zögernd durchgeführte Handlung zeigt die Merkmale dinglicher Körperlichkeit, indem z. B. ein Schweregefühl auftritt, die Muskulatur sich eben als Schwere der Extremitäten meldet, Gefäßreaktionen eintreten, Schwitzen und Frieren oder z. B. eine behinderte Atmung uns auffallen und registriert werden. (H. Plügge) Erst im Falle von Missbefinden wird «Befinden» als ein Sich-Befinden wirklich gemerkt und beobachtet. Erst jetzt wird das unbewusste Leib-Sein zum problematischen Körper-Haben. Im Missbefinden rückt die Dinglichkeit unseres Körpers als Objekt der Aufmerksamkeit, als Getrenntes, in unser Bewusstsein. Dies geschieht immer mit einer gewissen Verzögerung. Erst wenn etwas geschehen ist, wenn auch nur um den Bruchteil einer Sekunde verzögert, wird es unserer bewussten Erkenntnis zugänglich (T. Noerretranders). Unser Bewusstsein beginnt das begonnene spontane, leibliche Selbstgeschehen zu bewerten, einzuordnen, in seinem Ausdruck zu verzögern, zu unterdrücken oder zu erlauben. Aufmerksam sein Ob, was und wie wir etwas bewusst beachten, darüber entscheidet unsere Aufmerksamkeit. R. Heckler spricht metaphorisch vom menschlichen «Organ der Aufmerksamkeit», welches uns wie ein Steuer durch die Welt navigiere. Dieses ermögliche uns eigene Richtung einzuschlagen und verbinde uns mit dem Strom der Lebensenergie, welcher uns bewegt. Ohne Aufmerksamkeit verläuft unser Leben mechanisch, automatisch, teilnahmslos. So können wir zwar die Arme in der korrekten Weise um ein Kind legen, um es an uns zu drücken. Aber wenn wir
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nicht aufmerksam dabei sind, dann vermittelt diese Umarmung nur den blassen Schatten von der Wärme, welche sie aufmerksam und anwesend durchgeführt übertragen könnte. Sicherlich ist ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit immer vorhanden. Unsere Handlungsmöglichkeiten erweitern und verfeinern sich aber erheblich, wenn wir bewusst aufmerksam sind, lernen und üben, mit Aufmerksamkeit in direktem Kontakt zu sein. Durch praktische, körperlich vermittelte Übungen, durch Beachtung des gegenwärtigen leiblichen Geschehens können wir diese Möglichkeiten entwickeln. Wir intensivieren unser Verbundensein mit der Welt, steuern unsere aktuelle Lebendigkeit neu.
Eigene Mitten spüren Den eigenen Leib als Mitte, Zentrum und Heimat der Erfahrung bewusst wahrund einzunehmen ist ein Fundament somatopsychischen Lernens. Hier sind vor allem traditionelle Einflüsse östlicher Praktiken der Meditation und des Kampfsports von Bedeutung. Aus dem gespürten Zentrum des Bauches, wie etwa des japanischen Hara oder des chinesischen Dantien entwickelt sich ein stabileres Verhältnis zum tragenden Grund der Erde. Auf dieses baut sich die gespürte Mitte des Herzens und schließlich die erlebte Mitte des Geistes im Kopf auf. Erst aus der lebendigen Verbindung aller «Mitten» wird schließlich der ganze Leib zum Zentrum unserer Welterfahrung in Gewicht, Zeit und Raum. In der somatopsychischen Übungspraxis können wir diese leiblichen Mitten als wichtige Lebensmittel zum Ausgleich gewohnt einseitiger Verkopfung erleben.
Unterscheiden lernen Die Dinge rühren unsere Saiten an, wir machen die Melodie daraus. (F. Nietzsche) It’s the difference that makes the difference … Meaning exists only in context. (G. Bateson) Dem Selbst die Freiheit zu geben ist das große Problem. Es erfordert Vertrauen von Seiten des Ich, und dieses Vertrauen entsteht durch Übung … Die wirkliche Stärke des Ich macht sich aber erst geltend, wenn es sich demütig zeigt gegenüber dem Selbst, das so viel mehr kann, weil seine Bandbreite um ein Vielfaches größer ist. Das Bewusstsein ist ein wunderbares Instrument, wenn es seine eigenen Grenzen kennt. (T. Noerretranders)
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No other being must learn so much in order to live; no other being can learn so much in order to live … This is education rather than therapy. Nothing is removed; instead something is added: knowledge and control … gaining control through gaining awareness of one´s bodily processes … Somatic education is essentially a brief event whereby one teaches another person how to be self-teaching. (T. Hanna) Am eigenen Leibe spüren und fühlen wir Unterschiede und Veränderungen. Meist geschieht dies ohne bewusste Wahrnehmung. Diese subtil wahrgenommenen Unterschiede beeinflussen beständig unsere Bewegungen, Handlungen und Gedanken. Somatopsychisches Lernen hilft Aufmerksamkeit und Beobachtung für das eigene leibliche Geschehen zu entwickeln. Dies kann unmittelbar in der alltäglichen Erfahrung, im Kontakt mit der Umwelt und anderen Menschen geschehen. Besonders gefördert wird es in methodischen, ritualisierten Übungsperioden. Die Methoden der somatopsychischen Erziehung vermitteln bewusste Disziplin als Weg zur schöpferischen Kreativität sowie geordnete, innere Stabilität als Weg zur offenen Bereitschaft für Überraschungen. Ein methodenübergreifendes Konzept für «somatopsychischen Lernens» wurde erstmals durch Thomas Hanna systematisch entwickelt. Er bezeichnet mit dem griechischen Begriff «Soma» den Körper des Menschen, wie dieser von ihm selbst, aus seinem Inneren, subjektiv, aus der Sicht der «ersten Person» erlebt wird. A soma is not a body, and it is not a mind; it is the living process. (Hanna) T. Hanna war ursprünglich Philosoph. Darüber hinaus war er ein langjähriger Praktiker und Lehrer des Yoga. Später brachte er M. Feldenkrais in die USA und wurde einer seiner Schüler. Als Herausgeber der Zeitschrift «Somatics – The Bodily Arts and Sciences» schaffte er Anfang der achtziger Jahre eine erste breite, interdisziplinäre Plattform für die sich entwickelnde westliche, aber auch für traditionelle asiatische Methoden der Körper- und Leibarbeit. Hannas Interpretation des Begriffs «Soma» ist nicht unumstritten. So verweist Hermann Schmitz auf unterschiedliche Gebrauchsweisen und bestreitet, dass «Soma» in der griechischen Mythologie bei Homer nur als umfassende Metapher für den lebenden Körper verwendet wurde. Der Begriff Leib kommt nach meiner Meinung dem Soma-Verständnis von Hanna am nächsten. Leib und Leben sind sprachgeschichtlich beide vom altgermanischen Begriff «lif» abgeleitet. Hierzu gehört auch das englische Wort «life». Friedrich Nietzsche sah im Leib die wesentliche menschliche Lebensgrundlage. In dieser «Vielheit mit einem Sinne» ist die «große Vernunft» zu suchen, die der Leib selber ist und damit jenes «Selbst», das «nicht Ich sagt, sondern Ich tut». Hinter all unseren Gedanken und Gefühlen zeigt sich «ein mächtiger Gebieter, ein
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unbekannter Weiser – der heißt Selbst … In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er». Immerzu horcht dieses Selbst und sucht, «es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ichs Beherrscher». (H. Schipperges, F. Nietzsche) Somatopsychisches Lernen verweist auf bewusstes, immer nur annäherungsweise mögliches Erfahren und Erkennen des eigenen leiblichen Geschehens. Lernen leitet sich sprachgeschichtlich vom gotischen «lais» ab – ich weiß. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffs war «ich bin wissend geworden, ich habe erfahren, ich habe nachgespürt». Um sich leiblicher Veränderungen bewusst zu werden, bedarf es der Bereitschaft, Aufmerksamkeit und Beachtung für das, was man unmittelbar spürt und fühlt. Es ist in gewisser Weise das Wagnis das zu erleben, was für uns augenblicklich der Fall ist, auch wenn es uns nicht behagt. Eine solche Haltung des «Nicht-Tun» wird in der taoistischen Tradition «Wu-Wei» genannt. Sie ist ebenfalls ein zentrales Prinzip verschiedener Traditionen der Meditation. Nicht-Tun eröffnet Möglichkeiten, eigene Muster, Gewohnheiten, Impulse und Einseitigkeiten gewahrsam zu beobachten. Im Üben der stillen Beobachtung von eigenen Gewohnheiten des Wahrnehmens, Bewertens und spontanen Handelns entwickelt sich langsam neue Leiberfahrung. Sowohl das eigene Erleben als auch der äußere Blick der anderen (aus der Sicht der dritten Person) wirken auf unser alltägliches Empfinden, Denken und Handeln. Seitdem wir uns als Kleinkinder, etwa im Alter von 3 Jahren, erstmalig im Spiegel selbst wiedererkannt haben, spüren und wissen wir unwiderruflich, dass auch die anderen uns und unseren Körper von außen sehen können. Aus dieser «Spiegelerfahrung» (Lacan) ergeben sich lebensbegleitende Beeinflussungen unseres subjektiven Körperbildes. Somatopsychische Erziehung kann helfen, diese beiden Blickwinkel und Erlebnissphären besser zu unterscheiden und anders miteinander zu verbinden. Spannungen und Konflikte zwischen unmittelbarer Empfindung und äußerer Beurteilung werden deutlich und veränderbar.
Gesundheit als zwischenleibliches Geschehen Mein Leib ist es, der den Leib des Anderen wahrnimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt; und wie die Teile meines Leibes ein zusammenhängendes System bilden, bildet somit auch der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens. (M. Merleau-Ponty) Mir scheint eine effektivere Praxis der öffentlichen und privaten Gesundheitsförderung notwendig und möglich. Die sozialen und ökonomischen Veränderungen der zunehmend global vernetzten Gesellschaften fordern von den Menschen mehr
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Flexibilität, kontinuierliche Wandlungsfähigkeit, die Bereitschaft immer wieder alles aufzugeben, vertraut gewordene Orte und Gemeinschaften plötzlich zu wechseln, sozusagen den beständigen Neuanfang als Ziel anzuerkennen. Er erfordert erhebliche Anstrengungen für die Menschen des «globalen Dorfs», zu lernen, sich der zunehmenden Geschwindigkeit zu stellen, nicht mehr länger sesshaft werden zu dürfen, sowie neue Formen von Partnerschaft auf Distanz, in besonderen Zeiten sowie in Kombinationen leben zu können (R. Sennet, U. Beck). Im harten Konkurrenzkampf dieser Ökonomie werden besonders an ältere Menschen ungewohnte Anforderungen gestellt werden. Bedingt durch den wachsenden Altersdurchschnitt und den allgemeinen Geburtenrückgang werden sie im fortgeschrittenen Alter mehr Neues lernen und praktizieren müssen als je zuvor. Durch die wachsende Präsenz der Medien befinden wir uns heute mehr als je zuvor virtuell an fremden Orten und in anderen Zeiten als denjenigen, welche uns real, unmittelbar umgeben. Nur wenn wir lernen, mehr bei uns zu sein, mehr gegenwärtig zu leben, die eigene leibliche Heimat bewusster als Kontinuität in der Veränderung wertzuschätzen, werden wir trotz der immensen Herausforderungen einer rücksichtsloser gewordenen globalen Ökonomie unseren Verstand und unsere Herzen behalten können. Immer mehr Menschen leben heute schon früh alleine und werden einsam alt. Sie brauchen mehr als je zuvor Fertigkeiten der Bewegung, um eine gewisse Autonomie behalten zu können. Sie brauchen mehr Möglichkeiten zur Begegnung, zum Austausch, zur Berührung mit anderen. Somatopsychisches, leibliches Lernen ermutigt die menschlichen Fähigkeiten zur Unterscheidung, Wahl, Freiheit und Selbstverantwortung. Es fördert, erlaubt, ermöglicht und ermutigt: sich zu sein und inne zu halten • bei schöpferische Pausen zu finden • Spannungen, Einstellungen und Haltungen zu prüfen • gewahrsamen Zugang zu gegenwärtigem Erleben zu finden • wach und aufmerksam zu sein • spielerische Neugierde zu entwickeln • situationsangemessene Improvisation zu praktizieren • sich von hindernden Gewohnheiten, Idealen und Idolen zu lösen • Flexibilität im Kontakt mit den eigenen Möglichkeiten zu lernen • Empfangsbereitschaft zu schulen • offen zu sein für Kontakte und Berührung • über Gewohntes hinauszuwachsen • Staunen und Wundern zu erlauben • Wege zur Überwindung von Hilf- und Hoffnungslosigkeit zu entdecken • verändertes Zutrauen zu haben •
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und Lebenswillen neu zu gestalten • Lebensmut • Gespür für spirituelle Zusammenhänge wieder zu gewinnen. In psychischer Hinsicht kann somatopsychisches Lernen helfen, selbstsicher, angstfreier, aufrecht, aufrichtig, klar, beweglich, bereit, vertrauensvoll und fröhlicher zu werden. Es trägt spürbar dazu bei, mehr Halt in dieser Welt zu finden, Fuß zu fassen, auf die eigenen Füße zu kommen, Schritte zu tun, zu handeln, zu berühren, berührt zu werden, mehr Gespür zu entwickeln für Mitmenschlichkeit und Mitleiblichkeit. Somatopsychisches Gewahrsein verknüpft Bewusstsein und leibhafte Erkenntnis. Es hilft zu lernen, was drinnen – in mir – vor sich geht, während zugleich – draußen – etwas geschieht. Es erlaubt eine doppelte, ausgedehnte, frei flottierende Aufmerksamkeit für das jeweils Gegebene. Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten ist eine zentrale Aufgabe der verschiedenen Methoden somatopsychischen Lernens. Dabei haben wir in Deutschland gut entwickelte Strukturen der Erwachsenenbildung, z. B. im Rahmen des Deutschen Volkshochschulverbandes. Dort werden körper- und bewegungsbezogene Kurse wie etwa Autogenes Training, Yoga, Eutonie, Feldenkrais-Arbeit, Tai-Chi, Qi Gong, Tanz und andere Methoden breit angeboten. Was den Verantwortlichen der VHS jedoch oft fehlt, sind eigene Erfahrungen und klare Kriterien, nach denen sie die Qualität ihres Angebots beurteilen können. In Zeiten einer stärkeren körperlichen Verunsicherung der Menschen gewinnen Methoden des somatopsychischen Lernens auch eine erhebliche gesundheitspolitische Bedeutung (H. Milz, 1998). Sie bilden eine notwendige Erweiterung und Vertiefung zu den bereits vorhandenen Fitness-Programmen. In ihrer präventiven Orientierung sind Methoden der somatopsychischen Erziehung notwendige Bestandteile der Gesundheitsförderung im Sinne der Entwicklung von gesundheitsfördernden Fertigkeiten (Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung, 1986). Sie sollten integraler Bestandteil von Programmen im Bereich von Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen, Gemeinden, Behörden und vor allem von arbeitsplatzbezogenen Gesundheitsprogrammen sein. Im Rahmen der Entwicklung von neuen elektronischen Kommunikationsmedien, wie dem Internet, sollten die Hilfsangebote des somatopsychischen Lernens deutlicher präsentiert sein (ein gutes Beispiel ist die Website www.somatics.de, welche von Robert Schleip entwickelt wurde). Es gilt für alle Methoden des somatopsychischen Lernens, dass sie bessere Verbindungen zur Arbeit der verschiedenen Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeverbände herstellen sollten. Dadurch kann es gelingen, ihr gesundheitsförderndes Potential einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
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Grenzen zwischen Selbsterfahrung, Lernen und Therapie Die Grenzen zwischen der Vermittlung von somatopsychischem Lernen und dem spezifischen Einsatz dieser Methoden im Rahmen von Medizin und Therapie sind manchmal fließend. Deshalb ist es wichtig, diese bei der jeweiligen Arbeit deutlich zu benennen, kontinuierlich zu beachten sowie bei nicht angemessener Kompetenz andere rechtzeitig um Hilfe zu bitten. Als allgemeine Orientierung kann helfen: Studiengruppen des somatopsychischen Lernens beruhen auf freiwilliger • Offene Motivation sowie dem Austausch zwischen Lehrer und Schüler, Anbieter und
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Verbraucher; im Mittelpunkt steht Lernen mit offenem Ziel. Die innere Einstellung ist eher: «Ich kann es im Prinzip alleine, suche aber nach neuen Möglichkeiten.» Für therapeutische Gruppen gilt, dass die ersten Kontakte durch Mängel, Behinderungen, Ängste, Nöte und Leiden, also weitgehend unfreiwillig und verordnet sind. Die Beziehungsdynamik orientiert sich in diesen Gruppen am Modell von Helfer und Hilfe Suchendem, Experten und Laien. Es geht um die Wiederherstellung erlebter Defizite. Somatopsychisches Lernen ist hier eher ein Mittel als ein ausreichender Weg. Die innere Einstellung der Betroffenen ist: «Ich kann es nicht alleine, ich brauche deine professionelle Hilfe und Behandlung.»
Leibbezogene Ansätze in Medizin und Therapie Das einseitige Vertrauen auf äußere, technische und medikamentöse Zugriffe und Eingriffe der Medizin ist öfters schädlich als nützlich. Mehr als 80 % aller Krankheitsepisoden sind funktionaler Natur. Sie sind ein unbewusster, oft schmerzhafter, letztlich destruktiver Versuch des Leibes, etwas an seiner krank machenden Situation zu ändern. Eine Heilkunde, welche die erlebten Symptome nur rasch von außen wegmachen und kurieren will, kann für diese Leiden nicht wirklich erfolgversprechend sein. Wir müssen lernen, in einer kooperativen Heilkunde die Bedeutung der erlebten Störungen, den Sinn des aktuellen Missbefindens wieder ernst zu nehmen. Dabei müssen wir fragen, welche Bedeutungen die Symptome dieses besonderen Menschen jetzt, in seiner aktuellen Lebenssituation haben. Wir müssen mit den betroffenen Menschen gemeinsam prüfen, was sich in ihnen bereits an Selbstheilungsprozessen regt und wie diese gezielt unterstützt werden können. Eine einseitig technische Medizin ist nur in einer Minderzahl der heutigen Krankheitsepisoden angemessen. Wir brauchen verstärkt eine stillere Heilkunst des aufmerksamen Lauschens, welche bereit ist, die Komplexität der Heilkräfte wahrzunehmen.
Mit dem Leib lernen
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Ich plädiere für eine ganzheitliche, ökonomisch ausgewogene Verbindung von moderner Medizin und aktiver, intelligenter, respektvoller Selbstverantwortung. Jedes primär körperliche Leiden bedingt eine Vielzahl von psychischen Konflikten und Empfindungsstörungen. Jedes primär seelische Leiden hat wesentlichen Einfluss auf das körperliche Empfinden und die Bewegung. Somatopsychisches Lernen kann helfen, theoretische Trennungen zu überwinden und die Erfahrung der leiblichen Einheit wiederzugewinnen. Im Folgenden möchte ich einige spezifische Hinweise aus den Bereichen Medizin und Therapie benennen. Zumeist beziehen sich diese auf Erfahrungen. Deren systematische wissenschaftliche Überprüfung halte ich für wichtig und wünschenswert. Im Rahmen der psychosomatischen und psychotherapeutischen Medizin und der Psychotherapie finden Methoden des somatopsychischen Lernens verstärkt Anerkennung. Dies geht einerseits auf die traditionellen Arbeiten von S. Ferenci, W. Reich und G. Groddeck zurück. Für die tiefenpsychologisch und psychoanalytisch orientierten Kliniken hat insbesondere die Arbeit von Helmut Stolze Bedeutung. Er orientierte sich an Elsa Gindler und hat deren Arbeit klinisch weiterentwickelt (Konzentrative Bewegungstherapie). Zudem hat dort die Methode der Funktionellen Entspannung nach Marianne Fuchs stärkere Bedeutung. Ein guter Überblick über diese Traditionen der körperbezogenen Psychotherapie findet sich in von Uexküll et al.: «Subjektive Anatomie». In der verhaltenstherapeutisch orientierten Psychosomatik haben insbesondere die Arbeiten von E. Jacobson (Progressive Muskelentspannung) und H. Schultz (Autogenes Training) traditionelle Bedeutung. Als erweiterte, computerassistierte Technik hat sich in den letzten Jahren das Biofeedback bewährt (Rief/Peper). N. Klinkenberg hat eine hilfreiche Systematisierung der Möglichkeiten der Feldenkrais-Arbeit für die Verhaltensmedizin vorgenommen (Klinkenberg). Die positive Neuentdeckung des eigenen Körperbildes sowie die Wechselbeziehung zwischen «Problemkörpern und Körperproblemen» steht bei essgestörten Menschen im Zentrum der therapeutischen Arbeit (H. Milz 1994). In der Klinik Roseneck untersuchten wir die Bedeutung der Feldenkrais-Arbeit für Patienten/ Innen mit unterschiedlichen Essstörungen (Magersucht, Fress- und Brechsucht, starkes Übergewicht). Dabei konnten wir einen positiven Einfluss der FeldenkraisArbeit auf diese Patientengruppe nachweisen (Laumer, Fichter, Milz). Die Veränderung des Körpertonus spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Behandlung chronischer Leiden (H. Milz/T. Ots, 1999). Beispiele dafür sind die Reduktion des Erregungsniveaus und Stressverhaltens bei kardiovaskulären Erkrankungen und chronischen Schmerzen. Somatopsychische Lernmethoden sind im Rahmen der verhaltensorientierten Medizin erfolgreich erprobt und erforscht (D. Kallinke, D. Ornish, J. van Dixhoorn). Bei selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen und Panikerkrankungen ist die neue Beachtung von Körpersignalen ein wesentliches Ele-
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ment der Therapie. Der bewusste Kontakt zum Boden (Erdung), die Erfahrung des eigenen Körpervolumens und der eigenen Körperräume sowie der tragenden Strukturen des eigenen Skeletts sind hier besonders hilfreich. Ein Beispiel der spezifischen Einsatzmöglichkeiten des somatopsychischen Lernens ist die Gruppe von Menschen, welche mit einem operativen Organverlust leben müssen. Hier sind z. B. Frauen nach Brustamputationen oder Gebärmutterentfernungen zu nennen (H. Milz, 1995). Atemorientierte Methoden haben bei einer Vielzahl von funktionellen Störungen besondere Bedeutung (Middendorf). Neue Bedeutung gewinnen Methoden des somatopsychischen Lernens bei posttraumatischen Belastungsstörungen. Hier hat sich die somatotherapeutische Lösung von fixierten Augenbewegungen im Rahmen des EMDR (eye movement dissociation and reprocessing) als hilfreiche Methode erwiesen (F. Shapiro). Ähnliche Ansätze der Arbeit mit der Lösung von Augenbewegungen finden sich in der Feldenkrais-Arbeit, im Sensory Awareness und in der Bioenergetik. Eine spezifische Indikation für diese Methoden des somatopsychischen Lernens stellen die besonderen Anforderungen von Performance-orientierten Künstlern, wie Musikern und Schauspielern, sowie von Leistungssportlern dar. Intensive Maßnahmen der modernen Medizin haben mehr Menschen als je zuvor ein Leben mit und trotz chronischer Krankheiten ermöglicht – vom früher lebensunfähigen minimalgewichtigen Frühgeborenen über den intensivmedizinisch geretteten schwer Verletzten bis hin zum organtransplantierten Menschen. Als Konsequenz daraus haben wir auch die gesellschaftliche Verpflichtung, diesen Menschen neue Hilfen zur Gestaltung ihrer Gesundheit zu vermitteln. In der Rehabilitation chronischer Leiden können Methoden des körperlichen Lernens erhebliche Hilfe leisten. Zahlreiche Rehabilitationskliniken nehmen diese Methoden bereits in ihre bewegungstherapeutischen Abteilungen auf. Meistens ist dies jedoch noch auf individuelle Fortbildungsinitiativen einzelner Therapeuten zurückzuführen. Insgesamt wird bisher dem eigenständigen Beitrag der Methoden des somatopsychischen Lernens in der Rehabilitation deutlich zu wenig Beachtung geschenkt.
Nachbemerkung Die systematische Erforschung und wissenschaftliche Prüfung der Methoden des somatopsychischen Lernens steht erst am Beginn. Dies liegt unter anderem daran, dass bisher die Entwicklung von angemessenen Forschungsdesigns fehlt, welche subjektive und objektive Daten sinnvoll miteinander verbinden. Hier sind die Impulse der Psychoneuroimmunologie und Psychoneuroendokrinologie (G. F. Soloman, S. Levine, C. Pert, J. Achterberg) von Bedeutung. Wichtige Anstrengun-
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gen in dieser Hinsicht werden u. a. von Don Johnson am Center for Integral Studies, San Francisco, initiiert. Seit 1994 habe ich zusammen mit Kollegen der Universität Graz begonnen, Möglichkeiten des interdisziplinären Austauschs über Wege des somatopsychischen Lernens zu organisieren. Jeweils im April jeden Jahres treffen sich dort Praktiker und Studenten verschiedener Methoden auf dem Internationalen Seminar «Leib oder Leben», um verschiedene Wege von körperorientierter Psychotherapie und Körpertherapie zu demonstrieren und zu erörtern. Dieser Dialog zwischen verschiedenen Traditionen östlicher Veränderungswege und westlicher Methoden des somatopsychischen Lernens wird bisher noch kaum gepflegt. Ich hoffe, dass dieser Beitrag dazu neue Impulse geben kann.
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Überlegungen zu Praxeologien – körper- und bewegungsorientierte Arbeit mit Menschen aus integrativer Perspektive Hilarion Petzold Ich finde dieses Buch ein spannendes und seit langem überfälliges Unterfangen, denn in ihm stellen sich drei traditionsreiche und wichtige Praxeologien körperund bewegungsorientierter Arbeit mit Menschen vor: die Methoden von G. Alexander, F. M. Alexander und M. Feldenkrais, die aufgrund zahlreicher Gemeinsamkeiten in ihren Konzepten und Praxen (Friedemann 1989) in einen Austausch eingetreten sind und gemeinschaftlich getragene Projekte der Professionalisierung, Theorienentwicklung und Qualitätssicherung in Angriff nehmen. Als Praktiker, der mit leib- und bewegungstherapeutischen Methoden sowohl in agogischen wie auch klinisch-therapeutischen Kontexten arbeitet, als Ordinarius für Psychologie, Psychomotorik und klinische Bewegungstherapie und als Forscher in den Bereichen der (körperorientierten) Psychotherapie, der Bewegungstherapie, der «klinischen Entwicklungspsychologie in der Lebensspanne» und der Psychotraumatologie standen die in diesen Sammelband repräsentierten Ansätze stets in meinem Interesse (Petzold 1974j, 1989l). Ich habe von ihrem methodischtechnischen Reichtum und von der Fülle ihrer Praxiserkenntnisse sehr viel gelernt, habe aber auch immer ihre mangelnde Kommunikation untereinander und ihren fehlenden Anschluss an Wissenschaft und Forschung und die damit gegebenen konzeptuellen Schwächen bedauert. Mit der vorliegenden Publikation wird ein interessanter Anfang zu einer vielversprechenden Entwicklung gemacht. Man hat mich eingeladen, zu diesem Buch und den in ihm vertretenen Ansätzen einige Überlegungen beizutragen und ich bin dieser Einladung gerne nachgekommen.
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Überlegungen zum Standort und Status der Ansätze Betrachtet man die Methoden der drei großen Pioniere körper- und bewegungsorientierter Arbeit mit Menschen, deren Werk agogische, therapeutische und künstlerisch-ästhetische Ausrichtungen hat, ist es zunächst schwierig, ihren wissenschaftlichen Status und methodologischen Standort zu bestimmen. Sicher sind es keine psychotherapeutischen oder körperpsychotherapeutischen Verfahren im spezifischen Sinne, wie etwa die verschiedenen Varianten neoreichianischer Behandlung – Bioenergetik, Radix- oder Core-Therapy – oder leibphänomenologischer Orientierung – Thymopraktik, Integrative und Konzentrative Bewegungstherapie (Petzold 1974 k, 1975 e, 1992 b). Es sind auch keine klinischen sensumotorischen Therapien wie die Ansätze von M. Frostig, A. J. Ayres oder A. Petö. Trotz der starken Betonung ihres pädagogischen Charakters handelt es sich aber weder um ausgearbeitete pädagogische Systeme, noch um «alternative» Pädagogiken – wie die von J. Dewey, C. Freinet, P. Freire, G. Kerschensteiner, A. S. Makarenko, E. F. A. Weninger, noch um «therapeutische» Pädagogiken wie die psychoanalytische, die August Aichhorn begründete, oder die psychodramatische Pädagogik Morenos, die personzentrierte von Carl Rogers, die gestalttherapeutisch orientierte, die mit Namen wie Paul Goodman, George Brown oder Ruth Cohn verbunden ist (vgl. Brown, Petzold 1977; Sieper, Petzold 1993, zum Ganzen: idem 1989 j). Es sind schließlich keine Bewegungstheorien wie die von J. F. F. Buytendijk oder N. A. Bernstein (Bongaardt 1996). Vielmehr handelt es sich um methodisch elaborierte Praxen bzw. Arbeitsformen für den Umgang mit Menschen über die Zugänge: leibliche Wahrnehmung – «eigenleibliches Spüren» (H. Schmitz 1985, 1989), «sensory awareness» (Ch. Selver, Ch. Brooks 1974) – Haltung/Haltungskontrolle und Bewegung/Bewegungskoordination sowie körperliche Regulation (Spannung/Entspannung) mit einem mehr oder weniger ausgearbeitetem Rahmenwerk an «Konzepten» – insbesondere das Konzept «somatopsychischen» Lernens, auf das sich die Repräsentanten der Ansätze in diesem Buch gleichsam als «übergreifendes und verbindendes Konstrukt» geeinigt haben. Indes keine der zur Rede stehenden Methoden hat einen ausgearbeiteten theoretischen und metatheoretischen Aufbau, zumal keinen forschungsgestützten. Hier sind Entwicklungen erforderlich und im Gange. Man kann solche konzeptbasierten Methoden unter einen spezifischen Begriff von Praxeologie fassen. Methodengegründete Praxeologien sind durch Erfahrung, systematische Beobachtung und methodisches Erproben erarbeitete, in sich hinlänglich konsistente Formen und Wege praktischen Handelns. Durch Methoden, die als solche reflektiert wurden, sind Wissensbestände entstanden, ein Praxiswissen. Aus diesem können im Prozess seiner Elaboration theoretische Konzepte und Konstrukte generiert wer-
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den, die sich zu Theorien von zunehmender Komplexität entwickeln können, welche wiederum in die Praxis zurückwirken und diese zu verändern vermögen.1 Die in diesem Band vorgestellten Verfahren können sowohl aufgrund der Praxis und der Schriften ihrer Begründerin bzw. ihrer Begründer und deren SchülerInnen, nicht zuletzt aufgrund der Texte in diesem Sammelwerk selbst m. E. am angemessensten als methodengegründete Praxeologien in dem definierten Sinne angesehen werden. Jedes von ihnen ist nach mehr als einem halben Jahrhundert der Praxis und des Erfahrungsgewinns mit seinem gegenwärtigen Stand in einer Situation, in der seine «practitioner» aufgrund des Entwicklungsstandes der Methode selbst und aufgrund der Erfordernisse einer wissenschaftsorientierten Moderne sowie der Strukturveränderungen im Gesundheitswesen Überschreitungen (Petzold, Orth, Sieper 2000) in die Richtung einer wissenschaftlich begründeten Methode gehen müssen. Falls dafür die eigenen Ressourcen nicht reichen, sind diese Schritte mit anderen, verwandten Ansätzen zu unternehmen. Das böte eventuell die Möglichkeit der Entwicklung eines übergeordneten Verfahrens (vgl. Anmerkung 4) oder der Orientierung an einer übergreifenden Referenzwissenschaft: den «fundamental and clinical movement sciences».
Überlegungen zum Kontext Ein solcher erster Schritt ist durch die Kooperation der drei genannten Ansätze der Körper- und Bewegungsarbeit getan worden. Mit diesem Band begeben sie sich in einen «Diskurs nach außen». Sie stehen ja in einem in sich gestaffelten psychosozialen Feld, dem des Gesundheitswesens, der Gesundheitsförderung, der Persönlichkeitsbildung, der Heilkunde, der körper- und bewegungsorientierten Therapieverfahren, im Grenzbereich zwischen Psychotherapie und Physiotherapie einerseits und dem rekreativen Sport und der künstlerischen Bewegungsgestaltung
1 Neben dieser «Bottom-up-Definition» des Theorie-Praxis-Verhältnisses in der methodengegründeten Praxeologie findet man auch «top-down» entwickelte theoriegegründete Praxeologien (z. B. die klinisch angewandte Psychoanalyse oder das psychodramatische Rollenspiel des komplexen psychosozialen Interventionsverfahrens von J. L. Moreno). Hier lässt sich theoriegegründete Praxeologie bestimmen «als eine theoriegeleitete, systematische Praxis in angewandten Humanwissenschaften, in welchen Praxis und Theorie sich in reflektierter Weise forschungsgestützt durchdringen». Zwischenformen und Übergänge sind in unterschiedlichen Entwicklungsstadien von Methoden und Verfahren (vgl. Anmerkung 4) möglich. Ganz allgemein und unter einer Metaperspektive in einem «System der Humanwissenschaft» («Tree of Science», Petzold 2000 h, 1992 a, 456–667) kann man Praxeologie als «Wissenschaft von der Praxis» betrachten (vgl. ebd., 617, vgl. Bourdieu 1976).
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(Rhythmik, Tanz, Pantomime, Choreographie) andererseits. Diese vielfältigen Kontexte haben bislang prägnante Zuordnungen schwierig gemacht. Jetzt haben sich diese Ansätze als «Bewegung» ins Gespräch gebracht, und die Herausgeber dieser Veröffentlichung haben der Hoffnung Ausdruck gegeben (siehe Vorwort), in eine «kritische Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen» der vorgestellten Praxen und ihrer Konzepte eintreten zu können. Eine solche Diskussion würde natürlich auch die verwandten Methoden einbeziehen: die von Heinrich Jacoby, von Elsa Gindler, ihrer Schülerin Charlotte Silber (Ch. Selver), Elfriede Hengstenberg, Rudolf von Laban, Ilse Middendorf, Dore Jacobs – um nur einige VertreterInnen neuzeitlicher Gymnologie, d. h. «der Lehre von der Bewegungsbildung, der Körperübungen und der heilenden Bewegungsarbeit», zu nennen.2 Und natürlich werden ihre Weiterentwicklungen wesentlich: die Methode der Konzentrativen Bewegungstherapie, die sich, von der leibphänomenologischen Praxeologie Gindlers ausgehend, zum tiefenpsychologischen Verfahren hin orientiert und zu einer tiefenpsychologisch fundierten Methode entwickelt hat (Stolze 1988; Becker 1981; Polkorny et al. 1996; Küchenhoff 2000).3 Weiterhin ist hier zu nennen das Verfahren der Integrativen Bewegungstherapie, die von Petzolds leibphänomenologischer (1985 g) Orientierung (G. Marcel, M. Merleau-Ponty, H. Schmitz) und stresstheoretischer Konzeptualisierung ausgehend (Petzold 1968 a, b; van der Mei, Petzold, Bosscher 1997; vgl. Mierke 1955; Fink 2000; van der Kolk et al. 2000), in die Richtung eines entwicklungsgerichteten biopsychosozialen Modells leibzentrierter Psychotherapie und sensomotorischer Förderung ausgearbeitet wurde (Petzold 1974 j, 1996 a, 2001 a; Petzold, Orth 1998 a; Orth 1994). Schließlich wären die verschiedenen Orientierungen psychomotorischer Therapie und Übungsbehandlungen und 2 Und natürlich wichtige Protagonisten der u.a. auch persönlichkeitsbildend und heilpädagogisch orientierten Rhythmik- und Gymnastikbewegung wie E. J. Dalcroze (1907, 1921), Mensendiek (1906), H. Medau (1967); R. Bode (1926), J. Holler-von-der-Trenk (1965, 169), deren Arbeiten zu den in diesem Band vereinten Ansätzen große Gemeinsamkeiten aufweisen und etwa im Bereich der Bewegungserziehung und -bildung manches noch vertieft ausgearbeitet haben (vgl. auch die Ansätze von E. und I. Duncan, M. Wigman und ihre Weiterführungen in der modernen Tanztherapie, siehe Willke, Hölter, Petzold 1991), so dass eigentlich eine Bestandsaufnahme des gesamten Feldes «leiblicher Bildung», «somatopsychischen» Lernens erforderlich würde, um eine differentielle und integrative Leib- und Bewegungsagogik zu entwickeln (Petzold, Berger 1974), denn in der Ausgleichsgymnastik, Heilgymnastik und Krankengymnastik (Einsingbach, Wessinghage 1993; Schmidt, Ott 1996) finden sich weitere relevante Praxeologien, die aufgegriffen und für eine moderne wissenschaftlich fundierte komplexe Gymnologie ausgewertet werden müssten. 3 Was Gindler sicher nicht intendiert hatte und endorsiert hätte, aber das kann eben das Schicksal von Praxeologien werden, die ihre theoretische Position nicht elaboriert haben: sie werden von Epigonen, die sich nicht die Mühe machen, die in der Praxeologie inhärente Theorie herauszuarbeiten, umdefiniert.
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ihre zum Teil sehr differenten Traditionen im deutschsprachigen, französischsprachigen und niederländischen Bereich zu nennen (H. Wallon, J. de Ajuriaguerra, E. J. Kipard, S. Naville, J. Le Boulch, B. Aucouturier, H. G. W. Bolhuis, J. Fahrenfort). Es gibt bei Betrachtung des Kontextes noch eine andere Entwicklung zu vermerken: Die traditionellen Psychotherapieverfahren («Richtlinienverfahren») entdecken mehr und mehr die körper- und bewegungsorientierte Arbeit als methodische Behandlungsvariante – und ich rede hier nicht von den reichianischen (O. Raknes, E. Baker), neoreichianischen (A. Lowen, D. Boadella) und neoferenczianischen Ansätzen (einschließlich der körperorientierten Varianten der Gestalttherapie, vgl. Stevens 1977), die ohnehin im Feld der Psychotherapie gründeten. Albert Pessos (1969, 1973, 1987) «psychomotor therapy» wurde von dem Psychoanalytiker T. Moser für den Bereich der tiefenpsychologischen Verfahren rezipiert, und in dem neuen sich als authoritativ gerierenden Praxislehrbuch der Psychotherapie von Senf und Borda (2000) wird von Seiten des Verfahrens4 der
4 Verfahren und Methode werden wie folgt differenziert: «Verfahren sind im Feld der klinischen Praxis entwickelte, theoretische Modellvorstellungen (klinische Mesoparadigmen) über die gesunde und die gestörte Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in ihrem Kontext und über die Möglichkeiten der Beeinflussung ihrer kognitiven, emotionalen, sensumotorischen und sozialen Stile und Verhaltensweisen durch ein systematisch erarbeitetes und überprüftes Repertoire von Interventionsmethoden. Durch diese Modellvorstellungen, die in der Regel unter Rückgriff auf ‹Referenztheorien› (d. h. auf philosophisches, psychologisches und klinisches Grundlagenwissen aus ‹main streams› bzw. ‹Grundorientierungen›) erarbeitet werden, wird die Praxeologie des Verfahrens, durch welche Krankheiten, Störungen und Leidenszustände von Patienten in/mit ihrem Kontext behandelt werden, auf den Boden wissenschaftlich konsistenter Theorien (z. B. zur Salutogenese und Pathogenese) gestellt, werden weiterhin klar formulierbare Therapieziele möglich und können Methoden, Formen und Techniken der Beeinflussung von Befindlichkeiten, Leidenszuständen und Krankheiten im Rahmen therapeutischer Beziehungen und supportativer Agenturen der Hilfeleistung (Ambulatorien, Kliniken usw.) systematisch klinisch erprobt und empirisch überprüft werden.» (Petzold 1993 h, 360) «In der Psychotherapie sind ‹Methoden› (griech. = Weg auf ein Ziel hin) an übergeordneten, theoretischen Prinzipien, d. h. an einem ‹klinischen Mesoparadigma› bzw. ‹Verfahren› ausgerichtete Wege theoriegeleiteten, systematischen Handelns in der Praxis. ‹Methode› als klinisches Mikroparadigma verstandenes Gesamt konsistent abgestimmter Praxisstrategien (Interventionsformen, Techniken, Medien, Behandlungsstile, Settings usw.) ermöglicht es, übergeordnete und spezifische therapeutische Zielsetzungen zu erreichen, wie sie einerseits im Rahmen eines Verfahrens erarbeitet werden (Globalziele von Therapie etwa) und wie sie sich andererseits aus der Anwendung eines Verfahrens in der Praxis ergeben (Grob- und Feinziele). Methode macht es weiterhin möglich, die Inhalte einer Therapie mit einem konkreten Menschen in seiner Situation systematisch zu bearbeiten.» (ebd. 362 f; vgl. zur Frage der Therapieziele Petzold, Leuenberger, Steffan 1998)
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Verhaltenstherapie die Feldenkrais-Methode als körperorientierte Behandlungsmodalität in Anspruch genommen (vgl. Klinkenberg 2000). Die starke kognitive Orientierung der Alexander-Technik könnte für kognitive Strömungen der Verhaltenstherapie, die zum Teil ähnliche Vorgehensweisen mit dysfunktionalen Mustern praktizieren, durchaus ansprechend sein. Man erkennt offenbar in der Psychotherapie die Potentiale dieser Methoden und greift sie auf – es ist zu hoffen, dass man sich ihrer nicht bemächtigt. Die Entwicklungen zu einer modernen, forschungsgestützten Sporttherapie (Schüle 2000; Rost 1995), wie sie zunehmend an den deutschen Sporthochschulen gelehrt und auch international im Rahmen von Psychotherapie eingesetzt wird (Ahle 1988; van der Mei, Petzold, Bosscher 1997; Hays 1999), zeigt, dass heutzutage die Bedeutung somatopsychischen Lernens und körperlicher Aktivität im Bereich der Prävention, Gesundheitsförderung und kurativen Behandlung ständig an Beachtung gewinnt, und das bedeutet für die Methoden von G. Alexander, F. M. Alexander und M. Feldenkrais eine Chance, bietet aber auch das Risiko, von diesen Entwicklungen überholt oder absorbiert zu werden. Deshalb ist es eine richtige Entscheidung der in diesem Band versammelten Ansätze, neben dem «Diskurs nach außen» auch einen «Diskurs nach innen» begonnen zu haben – und das verdient hervorgehoben zu werden. Seine Resultate werden zum Teil in diesem Reader vorgelegt. Der «Diskurs nach innen» zwischen diesen Praxeologien wird hierbei, so denke ich, eine bedeutende Rolle zu spielen haben, weil ein Zusammenschluss auf einer organisationalen Ebene – z. B. in einem Dachverband – oder einer fachlichen Ebene – z. B. in einem Diskussionsforum – die Kräfte bündeln würde, eine Außenrepräsentation dieser Methoden erleichtern sollte und eine konzeptuelle Klärung verbindender Basisannahmen vorantreiben könnte. Die Texte dieses Buches sind Ausdruck des Bemühens, eine Plattform zu schaffen. Dabei wird allerdings deutlich, dass die Ansätze unterschiedlicher sind, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag – das gilt besonders für die beiden «Alexander-Ansätze». Es geht ja keineswegs um die Angleichung der verschiedenen Praxen im Sinne einer Uniformierung, sondern auch um «fundierte Differenzen». Die bestehen bleiben müssen, z. B. die der unterschiedlichen Sichtweisen des «Leib-Seele-Problems», das sich in den praktischen Arbeitsformen und den dazugehörigen Erklärungsmodellen findet – und diese Sichtweisen sind durchaus disparat.5 Die Diskurse haben begonnen, das zeigt dieses Buch und
5 Man kann nicht eine Körper-Geist-Konzeption (body mind), wie sie bei dem im angloamerikanischen Kulturraum verwurzelten Ansatz von F. M. Alexander vertreten wird und die trotz anders gearteter Argumentation eine deutliche dualistische Prägung hat (mentale Handlungsentwürfe wirken «top down» in den Organismus, from mind to muscle, vgl. den Lernprozess in der Alexander-Technik in der Darstellung von J. Drake, in Fortwängler, Lamprecht, dieses Buch) gleichsetzen mit einem organismischen Mo-
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das ist ein Anfang, dem ein guter Fortgang zu wünschen ist, denn im Bereich der «Körpertherapien» und «Bewegungsmethoden» fand sich bislang ein ähnliches Schulen- und Territorialdenken wie im Feld der Psychotherapie. Die Folge war und ist, dass sich eine große Vielfalt von Ansätzen und Methoden findet – und das ist ein Reichtum. Sie wurden zumeist von kreativen und charismatischen Gründerpersönlichkeiten entwickelt, standen deshalb aber auch recht unbezogen nebeneinander und auch unverbunden zum Feld der Wissenschaft.
Überlegungen zum Wissenschafts- und Forschungsbezug Die zur Rede stehenden Ansätze bildeten mehr oder weniger geschlossene «communities of practicioners», die – ähnlich wie andere Wissensgemeinschaften6 – kaum Austausch hatten und zum Teil sogar in Konkurrenzsituationen standen. In den vergangenen Dezennien sind diese Bewegungen aber durch Verbandsgründungen, zum Teil auf internationaler Ebene, durch institutionalisierte Ausbildun-
dell, wie es bei G. Alexander aufscheint, deren kultureller Hintergrund (die sprachlichbegrifflichen Differenzen machen dies deutlich) mit allen Implikationen des deutschen Leibbegriffes eher «bottom up»-Strategien des Spürens (from muscle to mind) in der Praxis favorisiert. 6 Kuhn hat mit seiner Charakterisierung von «scientific communities» sozialpsychologische Merkmale herausgearbeitet, die eigentlich für alle Gemeinschaften von Spezialisten in arbeitsteiligen Gesellschaften gelten. «Eine wissenschaftliche Gemeinschaft besteht [ … ] aus den Vertretern eines wissenschaftlichen Spezialgebiets. Es verbinden sie Gemeinsamkeiten in ihrer Ausbildung und ihrer ersten, noch abhängigen Tätigkeit; sie sehen sich und werden gesehen als diejenigen, die für die Verfolgung eines Systems gemeinsamer Ziele verantwortlich sind, darunter die Ausbildung ihrer Nachfolger. Solche Gemeinschaften sind gekennzeichnet durch verhältnismäßig starke Kommunikation innerhalb der Gruppe und verhältnismäßig einmütige Urteile in Fachfragen. Die Mitglieder einer gegebenen Gemeinschaft haben in auffälligem Maße die gleiche Literatur gelesen und die gleichen Lehren aus ihr gezogen. Da sich die anderen Gemeinschaften mit anderen Gegenständen beschäftigen, ist die fachliche Kommunikation über Gruppengrenzen hinweg schwierig und kann zu Missverständnissen führen» (Kuhn 1977, 391) «… wissenschaftliche Gemeinschaften [müssen s. c.] durch die Untersuchung der Ausbildung und Kommunikation aufgefunden werden» (ebd. 38).
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gen, Berufsstandards etc. in Professionalisierungsprozesse7 eingetreten und haben sich zu «professional communities»8 entwickelt. Keine dieser «communities» indes wurde, trotz internationaler Verbreitung, so stark und ressourcenreich, dass sie die Entwicklung der eigenen Methode in einer Weise hätte vorantreiben können, wie sie in einer modernen Fachwelt der Gesundheits- und Heilberufe erforderlich wäre oder in einer wissenschaftlichen Sphäre experimenteller Wirksamkeitsnachweise und erklärender Grundlagenforschung unabdingbar ist. Das hat auch bislang die Ausbildung einer «scientific community»9 (Kuhn 1977) verhindert. Die Gründerväter/-mütter blieben überdies so präsent und prägend, dass die Methoden eng an ihren Prinzipien in Lehre und Praxis und den dahinterstehenden Strömungen des jeweiligen Zeitgeistes und Erziehungsverständnisses (John Deweys Pragmatismus bei F. M. Alexander, Einflüsse der Rhythmik von Dalcroze und der Reformpädagogik Peter Petersens u. a. bei G. Alexander) gebun-
7 Die Situation der drei Methoden müsste von ihnen selbst unter professionalisierungstheoretischen Perspektiven (vgl. etwa die Professionalisierungsprozesse in der Supervision Petzold, Ebert, Sieper 1999) reflektiert werden einschließlich der Vorteile, Risiken und Konsequenzen einer «staatlich anerkannten» Profession, die letztlich keine Sicherheiten bietet, wie das Desaster der einstmals blühenden deutschen Gymnastikbewegung durch die Abschaffung der Lehrbefugnis von «staatlich geprüften» Gymnastiklehrerinnen an öffentlichen Schulen zeigte oder gerade unlängst, die gesetzliche Regelung der Psychotherapie in der BRD mit einschneidenden Restriktionen was Methodenvielfalt, Praxismöglichkeiten und Entwicklungen anbelangt. 8 Gegenüber Kuhn habe ich bei «communities» mit Bezug auf meine identitätstheoretischen Überlegungen (Petzold 1998 a, 227 f, 370 ff; Müller, Petzold 1999) noch deren identitätsstiftende Funktionen herausgestellt. Eine «Professional Community ist eine Makro- oder Mesogruppierung von Menschen, die einerseits im gesellschaftlichen Kontext als Ausübende einer bestimmten Profession mit einer bestimmten Interessenlage und -vertretung identifiziert werden [z. B. ‹die Ärzte›] und die sich andererseits mit ihrer Profession identifizieren, berufsständische Normen, Regeln und Organisationsformen herausbilden und ein ‹professionelles Bewusstsein› entwickeln [z. B. ‹wir als Psychologen›]. Das Maß der ‹professionellen Identität› des einzelnen wie der Gesamtgruppierung hängt von der Prägnanz der Gruppenbildung [ … ], also dem Grad ihrer Organisiertheit, Kohärenz, Interessenverfolgung ab, weiterhin von verbindenden Zielen, Werten und Konzepten sowie der gesellschaftlichen, durch Wissen, Kapital, Einfluss, Tradition gesicherten Macht, d. h. von ihrer Präsenz als ‹commercial community› im Markt» (Petzold 1993 n, 56). 9 Scientific Community wird heute allgemein verstanden als der «Begriff für die Gemeinschaft derjenigen, die als eigentliche Träger des normativen Bezugssystems der Wissenschaft (Standard und Regeln wissenschaftlichen Erkennens, Forschungs- und Handlungslogik) angesehen werden können.» (Der Brockhaus multimedial 2001 Premium, siehe Stichwort)
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den blieben. Die Folge war bislang eine Vertiefung des Bestehenden, aber eine relative Stagnation, was Forschung, theoretische Modellentwicklung, klinische Erprobung, gesundheitswissenschaftliche Einbindung anbelangt. Vor allem fehlte und fehlt der Anschluss an die Theorienbildung und Forschung der universitären Fachdisziplinen der Physiologie und Bewegungswissenschaften, der funktionellen Anatomie und der modernen Biomechanik, der Bezug auch zu der sich rasant entwickelnden wissenschaftlichen Physiotherapie. Insbesondere was die Fragen von Sensorik und Motorik, von Wahrnehmung und Bewegung, «perception and action» anbetrifft (Bardy et al. 1995; Bruce et al. 1996; Glencross, Piek 1995; Proteau, Elliott 1992; Valenti, Pittenger 1993) ist für die theoretische Fundierung der elaborierten Praxeologien, die dieses Buch repräsentiert, in Zukunft Arbeit zu leisten – nicht zu reden vom Anschluss an die Neurowissenschaften (Kandel et al. 1996; Bloom et al. 2000; Damasio 1997, 2000), die Psycho- und Neuromotorik (Bril et al. 1998; Kelso 1995; Meijer, Roth 1988; Whiting et al. 1990) und an die Sportwissenschaften insgesamt bzw. an ihre spezifischen Ergebnisse, die bewegungsagogisch und körpertherapeutisch relevant sind (z. B. Williams et al. 1999) – etwa die wissenschaftliche Trainingslehre. Weil die Methoden von G. Alexander, F. M. Alexander und M. Feldenkrais an einer Schnittstelle von körperlichem und mentalem Lernen stehen, von leiblichen und seelischen Entwicklungsprozessen, von gesundheitsfördernden und therapeutischen Vorgehensweisen, ist natürlich auch der Bezug zur allgemeinen, biologischen und klinischen Psychologie (Birbaumer, Schmidt 1999) und zur aktuellen Psychotherapieforschung (Grawe et al. 1994; Petzold, Märtens 1999), zu den «Health Sciences» mit dem reichen konzeptuellen Fundus der Gesundheitspsychologie und ihren Forschungsergebnissen (Ammann, Wipplinger 1998; Haisch 1996) unumgänglich. Von all dem findet man in den meisten der vorliegenden Texte noch relativ wenig, obgleich die Anwendungsfelder der genannten Praxeologien genau in Bereiche fallen, die Gegenstand der aufgeführten wissenschaftlichen Disziplinen sind, welche zum Teil selbst erst beginnen, Praxisstrategien für körperorientierte Behandlungen zu entwickeln. Das zuvor genannte Beispiel der Verhaltenstherapie macht dies deutlich. Es beständen hier also Möglichkeiten fruchtbaren Austausches, wenn die universitäre Wissenschaft sich den erfahrungsbegründeten, in der «Praxis bewährten» (Popper) Methoden zuwenden würden und diese ihrerseits sich dem Feld wissenschaftlicher Forschung öffnen würden. Beide Seiten könnten Erkenntnisse gewinnen. Sie müssten allerdings auch bereit sein, neue Wege zu beschreiten und gegebenenfalls Positionen zu revidieren. Eine solche breite Verankerung von bewegungs- und körperorientierten Praxeologien, wie sie voranstehend aufgezeigt wurde, ist unverzichtbar und unvermeidbar, weil diese Methoden an der Grundlage menschlicher Lebensprozesse, ja allen menschlichen Lernens ansetzen: dem Leib des Menschen. Die Psychotherapie steht übrigens vor ähnlichen Problemen der Komplexität (Grawe 1998; Petzold
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1999 p). Dabei kommen natürlich auch epistemologische Probleme ins Spiel, denn es geht u. a. um das «Leibapriori der Erkenntnis» (Apel 1985), es geht um leibphänomenologischen Erkenntnisgewinn, dem Hermann Schmitz (1965 ff, 1989, 1990) sein monumentales Werk gewidmet hat: keine Erkenntnis kann ohne die Voraussetzung eines lebendigen, wahrnehmungs-/handlungsfähigen und bewusstseinsfähigen Leibes gewonnen werden (Petzold 1988 n, 176 ff, vgl. Eilan 1995). Das Wahrgenommene aber bedarf der Verstehensprozesse, einer «Hermeneutik des sprachlichen und nichtsprachlichen Ausdrucks» (Petzold 1988a). Ohne eine solche sind bewegungspädagogische Ansätze, ist eine «Agogik vom Leibe her» kaum zu fundieren. Das Thema Leiblichkeit (ders. 1985 g) rückt hier in den Blick, das Leib-Seele-Problem (Bunge 1984; Dennett 1978; Edelman 1992; Stoerig 1984; Elsner, Lüer 2000), zu dem die Begründer der hier vorgestellten Methoden ungeklärte Positionen vertreten – nicht zuletzt wenn man ihre Praxisstrategien und deren Begründungen in den Blick nimmt, die oft dualistisch konzeptualisieren (vgl. das Konzept des bewussten «Körpergebrauchs» mit seinem dualistischen Implikat eines den Körper gebrauchenden Geistes und Bewusstseins in der Alexander-Technik oder G. Alexanders [1976] starke Betonung des [erweiterten] Bewusstseins und der «bewussten Arbeit» mit dem Körper). Überhaupt findet sich bei den drei Gründerpersönlichkeiten eine dominierende Betonung von Bewusstseinsprozessen, die den Fragen «unbewusster Informationsverarbeitung» (Perrig et al. 1993), der «indirekten Wahrnehmung» (Rock 1997), des neuronalen Unbewussten also (nicht des Freud’schen) nicht genügend Beachtung schenken, ganz abgesehen davon, das der Bewusstseinsbegriff nicht expliziert oder ein differentielles Bewusstseinskonzept (consciousness, awareness) nicht vorgelegt wird (vgl. Petzold 1988 a). Eine starke Betonung von Bewusstseinsprozessen ist häufig ein Hinweis auf einen verdeckten Dualismus oder philosophisch idealistische Konzeptualisierungen. Hier wären konzeptkritische Reflexionen angezeigt. Eine Differenzierung von Objektkörper und phänomenalem Leib (M. Merleau-Ponty 1945; G. Marcel 1935; K. Graf Dürkheim 1974) oder die Konzeptualisierung des «Leibes als Relation», wie sie mein Kollege Jan Tamboer (1985, 1991) vorgeschlagen hat, könnte Dualismusprobleme vereinfachen und eventuell lösen. Mit derartigen Überlegungen verbundenen anthropologischen Fragen wird aber von den Gründerpersönlichkeiten als Praktikern wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hier ließen sich Brücken zu den zeitgleich mit G. Alexander oder M. Feldenkrais arbeitenden Leib- und Bewegungstheoretikern F. J. J. Buytendijk (1956), Merleau-Ponty (1945, 1964), H. Wallon (1947), dem Begründer der «psychomotriceté» (Calza 1994) schlagen, die bedeutende und bis heute grundlegende Beiträge geleistet haben, welche neuerlich auch in modernen neurowissenschaftlichen Ansätzen aufgenommen wurden, z. B. in ökologischen Wahrnehmungs-Handlungstheorien (Gallagher 1986, 1995), in der Gibson-Schule (Vedeler 1993) oder in der biologischen Systemtheorie (Varela et al. 1991). Varela z. B. greift das so fruchtbare Kon-
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zept der «Verkörperung» von Merleau-Ponty auf. Die «links» von der Anthropologie zur Persönlichkeitstheorie mit Konzepten wie «body self» (Bermúdez et al. 1995), «physical self» (Fox 1997) oder «Leibsubjekt» (Petzold 1985 g, 1992 a) werden dann selbstverständlich herzustellen sein. Wie kommt es nun zu dem Faktum fehlender Verbindungen zwischen dem «Feld der Wissenschaft und Forschung» und dem «Feld der Praxis», wie wir sie bei den Bewegungspraxeologien und den Bewegungswissenschaften finden? Offenbar liegt hier eine grundsätzliche Problematik vor, denn auch zwischen dem Praxisfeld der Psychotherapie und der wissenschaftlichen Psychotherapieforschung sowie der akademischen klinischen Psychologie besteht eine von vielen Forschern beklagte Unverbundenheit (Grawe 1998; Petzold, Märtens 1999). Bei vielen Praktikern findet sich eine zurückhaltende bis ablehnende Einstellung Wissenschaft und besonders Forschung gegenüber. Divergenzen in der Betrachtungsweise und in den Interessen, unterschiedliche Sprachspiele und Kommunikationsformen machen eine Verständigung, eine Zusammenarbeit gar, immer noch schwierig. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass die Praxen und die aus ihnen gewachsenen Methoden und Praxeologien einerseits und die wissenschaftlichen Disziplinen mit ihrer Grundlagen- und Anwendungsforschung andererseits sich weitgehend unabhängig voneinander entwickelt haben. Ein anderer Grund liegt bei den unterschiedlichen Identitäten von Forschern und Praktikern, ein weiterer in den gesellschaftlichen Wertungen von Wissenschaft und Praxis. Hybris und Abwertungen von Wissenschaftlern («was die Praktiker in vorwissenschaftlicher Naivität so treiben») und von Praktikern («die vom grünen Tisch, was haben die für eine Ahnung von den wirklichen Problemen») blockieren Annäherungen genauso wie Ängste von Praktikern, was die Kontrolle und eventuelle Infragestellung ihrer Praxis und «believe systems» anbelangt. Die Liste der Gründe ließe sich verlängern. Oft nehmen sich Gruppen, die den gleichen Namen reklamieren, kaum wahr. Die Psychomotorik, wie sie von Psychomotorikern als Praktikern in Form von «psychomotorischer Therapie bzw. heilpädagogischer Übungsbehandlung oder motopädagogischer Bewegungserziehung» – etwa in Deutschland vom «Aktionskreis Psychomotorik» – gelehrt und vertreten wird (und für die Schweiz und die Niederlande liegen die Dinge nicht anders) hat mit den Psychomotorikern als Forschern und mit der Psychomotorik als «Teildisziplin der wissenschaftlichen Psychologie, die das Verhältnis von Motorik und Perzeption bei Tieren (auch des ‹human animal›) und die Ausdrucks- und Leistungsbewegungen des Menschen in sozioökologischen Kontexten untersucht», kaum etwas gemein. Bei den Körper- und Bewegungsmethoden, die in diesem Buch vorgestellt werden, liegt die Situation nicht anders. Bei den meisten dieser Praxeologien bestanden bis in die jüngste Zeit noch keine Verbindungen zu den zahlreichen international arbeitenden bewegungswissenschaftlichen Forschungszentren, die – wie z. B. die «Faculty of Human Movement Sciences» der Freien Universität Amster-
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dam, an der der Autor lehrt und forscht – eine Vielzahl von Studien bereitstellen, die auch für die in diesem Band versammelten Verfahren von größter Relevanz sind10. Es muss aber auch festgestellt werden, dass die «community of researchers» der genannten Referenzbereiche – z. B. der klinischen Psychologen oder der Human Movement Scientists – dieses Feld der bewegungsagogischen und körpertherapeutischen bzw. somatopsychischen oder psychophysiologischen Praxeologien mit ihrem reichen Erfahrungswissen und ihrer «clinical wisdom» noch kaum «eines Blickes gewürdigt», geschweige denn sie entdeckt hat. Es liegt hier also offensichtlich die Situation einer «wechselseitigen Hermetik» vor, und das hat vielfältige Gründe. Neben den schon genannten ist ein weiterer Grund die für einen Beobachter, der nicht mit diesem Feld verbunden ist, kaum zu überschauende Vielfalt körper- und bewegungstherapeutischer Schulen (Petzold 1974 j, 1977 n/1993). Ein übriges tut der Stand ihrer Theorieentwicklung, wie er in vielen praxeologischen Publikationen zum Ausdruck kommt, die für Forscher keine «Interessenwecker» sind – leider, denn damit verstellen sie sich den Zugang zu höchst interessanten Forschungsfeldern. Die Theorienbildung ist in der Tat – die Kernbeiträge aller drei Verfahren in diesem Band machen das (in unterschiedlichem Maße zwar) deutlich –, was die Basisannahmen anbetrifft, auf dem Level der Wissensstände der Gründerpersönlichkeiten anzusiedeln. Die durchaus vorhandenen, zumeist anwendungsbezogenen Weiterentwicklungen überprüfen die Grundannahmen nicht und stellen sie noch nicht in eine kritische Diskussion, wie dies mit einem Paradigmenwechsel zu wissenschaftlichen Verfahren geschehen müsste, um Überholtes zu revidieren, Bestätigtes zu behalten und zu entwickeln. Traditionelle Vorstellungen über das Verhältnis von Wahrnehmungs- und Handlungssystem, über physiologische bzw. neurophysiologische Hintergrundmodelle oder «Reflexe» herrschen vor. Die dominante Orientierung von Feldenkrais (1996, 59 ff) an motorischen Lernprozessen ist sicher im Lichte kognitiver, neurobiologischer und molekularer Lerntheorien zu hinterfragen und ähnliches gilt für Basisannahmen von F. M. Alexander: Ist das Beginnen «angemessener und ökonomischer Aktivitäten» tatsächlich «nur aus einem harmonischen Ruhezustand der ‹Homöostase der Körperhaltung› möglich» (vgl. W. Barlow in der Darstellung der Alexander-Technik, Fortwängler, Lamprecht, dieses Buch)? Gibt es tatsächlich einen «bewusst und überlegt» zu steuernden «Ansatzpunkt im Gehirn, der vor
10 Vgl. z.B. einige relevante Publikationen und Dissertationen aus der Faculty of Human Movement Sciences der Free University of Amsterdam: Beek 1989; Beek, Beek 1991; Bongaard 1996; Kalverboer et al. 1993; Leemrijse 2000; Meijer 1988; Michales, Beek 1996; Oudejans 1996; Peper 2000; Petzold, Beek, van der Hoek 1994; Savelsbergh 1993; van der Kamp 1999; Wimmers 1996; siehe auch die wissenschaftlichen Jahresberichte dieser Fakultät und des «Instituts für fundamentale und klinische Bewegungswissenschaften», dem sie verbunden ist.
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der Bewegung liegt» (ebd.)? Liegen Bewegungsmustern «Gedankenmuster zugrunde», verläuft das Niedersetzen auf einen Stuhl als «Reiz-Reaktions-Schema» (ebd.)? Gewährleistet bewusstere Wahrnehmung bessere Steuerung und Koordination, wie alle drei Protagonisten annehmen? Aus der Sicht moderner Bewegungswissenschaften und Neuromotorik, die sich auf eine ökologische Wahrnehmungstheorie (Michaels, Carello 1981; Reed 1996) stützen, auf ein Verständnis nonlinearer Abläufe und dissipativer Prozesse in komplexen dynamischen Systemen gründen, wie dem sich in ökologischen Kontexten wahrnehmenden und bewegenden Körper (Kelso 1995; Thelen, Smith 1994), sind solche Positionen nicht mehr zu vertreten – z. B. idealtypische, der menschlichen Sehnsucht nach Ruhe und Sicherheit entspringende, harmonistische Homöostasemodelle.11 Hier könnten N. A. Bernsteins (1896–1966) revolutionäre Konzepte (Bongaardt 1996), die bahnbrechenden Studien von Eric von Holst (1908–1962), die ökologische Theorie von J. J. Gibson (1966, 1979), die grundlegenden Arbeiten von Turvey (1990), Kugler (1986), Kelso (1995), Haken (1996), Thelen Smith (1994) zu einer «dynamischen Systemtheorie» sensomotorischer Koordination und systemischen, «synergetischen» Lernens und die sich daran anschließenden Diskussionen in den Bewegungswissenschaften (Beek, Peper, Stegeman 1995; Meijer, Roth 1988; Feldman, Levin 1993; Michaels, Beek 1996) für neue Versuche der vertieften theoretischen Explikationen der Praxen von Feldenkrais und beider Alexanders wertvolle Grundlagen bereitstellen. Sie böten auch einen soliden Boden und Methodologien zur Erforschung dieser Praxen – und das stände an, denn was immer M. Feldenkrais, G. Alexander oder F. M. Alexander als Erklärungen für das Funktionieren ihrer Ansätze formuliert haben, es muss sich dabei keineswegs in allen Bereichen um stimmige oder gar richtige Erklärungsansätze handeln. Warum sollte es in den körper- und bewegungsorientierten Verfahren anders sein als in der Psychotherapie? Was Psychotherapeuten theoretisch postulieren, ist eine Sache, was sie in praxi tun, eine andere (Bergin, Garfield 1994). Wirkungen sind wesentlich von unspezifischen – und natürlich auch von spezifischen – Wirkfaktoren abhängig (Huf 1992; Orlinsky, Grawe, Parks 1994). Das Wirkfaktorenkonzept ist zur Zeit eines der diskutiertesten in der Psychotherapie und ein Schwerpunkt gegenwärtiger Psychotherapieforschung (Märtens, Petzold 1998; Smith, Grawe 1999; Brumund, Märtens 1998). Heuristiken wie die Wirkprinzipien von Grawe (1998) oder die «vierzehn Heilfaktoren» von Petzold, die die Interaktion von Risiko-, Resilienz- und protektiven Faktoren nutzen (Petzold, Goffin, Oudhof 1993; Petzold, Steffan, Schuch 2000; Petzold, Steffan 2000), wer-
11 Vgl. auch G. Alexanders Konzept der «Tonusharmonie» oder Feldenkrais’ Annahme einer relativen Unordnung spontaner Bewegungen, die in einen Zustand «höherer Ordnung» geführt werden müssen.
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den zunehmend durch empirische Untersuchungen gestützt (Dick, Grawe, Regli, Heim 1999; Smith et al. 1999; Petzold, Hass, Märtens, Steffan 2000). Ganz ohne Frage gibt es auch in den körper- und bewegungsorientierten Therapieverfahren unspezifische und spezifische Wirkfaktoren, von denen einige mit denen von der Psychotherapieforschung herausgearbeiteten übereinstimmen werden (z. B. «Passung» zwischen Therapeutin und Patientin/gute therapeutische Beziehung, Akzeptanz und Wertschätzung, Ressourcenorientierung etc.) bzw. mit denen von der longitudinalen entwicklungspsychologischen Forschung aufgefundenen «protektiven Faktoren» (Rutter 1985; Rolf et al. 1990; Petzold, Goffin, Oudhof 1993) identisch sind (significant caring other, soziale Orientierung etc.). Andere werden sehr spezifisch für die Körpermethoden sein. Einige seien genannt: Förderung eines positiven Leibbezuges/Selbstbezuges (Fox 1997), differenzierte leibliche Selbstwahrnehmung, Bekräftigung positiver Kontrollüberzeugungen und körperbezogener «mastery experiences», Förderung ausgeglichener Tonusregulation und Entspannungsfähigkeit, physische Aktivierung und Konditionsförderung unter Nutzung von «mentalem Training» und «movement produced information» (Warren 1988, 1990), multiple sensorische und motorische Stimulierung (Mergner, Hlavacka 1995) – insbesondere vestibuläre –, Nutzung evolutionsbiologisch disponierter Nähemuster und Geborgenheitsreaktionen (dialogue tonique, intuitive parenting, sensitive caregiving, vgl. Ajuriaguerra 1962, 1970; Papousek, Papousek 1993; Petzold, van Beek, van der Hoek 1994), Nutzung psychophysiologischer ˇ ˇSynchronisationstendenzen bei Mitbewegungen (Schmidt, Carello, Turvey 1990) etwa in der «up regulation» von apathischen, abgestumpften Patienten (numbing reaction) oder der «down regulation» von übererregten Patienten (hyperarrousal reaction) in der Traumatherapie (Petzold, Wolf et al. 2000), emotionale Modulierung «bottom up» durch postural-mimisch-respiratorische Einstellung von Emotionsmustern (Bloch, Lemeignan 1992, Petzold 1992 b) etwa in der Therapie von Depressionen («Give yourself a smile for a while!») wieder unter Nutzung von «movement produced information» der Haltung, Bewegung, Gesichtsmuskulatur (Döring-Seipel 1996; Damasio 1997, 195 ff). Dies sind nur einige mögliche Wirkfaktoren oder -prinzipien, die im einzelnen und in ihrer Kombination untersucht werden müssten, nicht zuletzt mit der Erhebung physiologischer und immunologischer Parameter unter Einsatz moderner Technologien, z. B. bildgebender Verfahren. Im Unterschied zur Psychotherapie und weiten Bereichen der Psychotherapieforschung sind überdies für körper- und bewegungsorientierte Verfahren Wirkungen auf der Ebene offenen Verhaltens (Bewegung/Koordination, Kraft/Schnelligkeit/Ausdauer, Spannung/Entspannung) und physiologischer Messwerte gut zu untersuchen. Damit sind Wirkungsnachweise zu führen, die wiederum zur Entwicklung differenzierter Theoriemodelle beitragen können. Bei den biopsychologischen, neurowissenschaftlichen und bewegungswissenschaftlichen Zugängen ist m. E. für die hier diskutierten
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Praxeologien viel mehr zu gewinnen als durch ein «blending» mit tiefenpsychologischen Konzepten, wie es zuweilen versucht wird, weil diese keine wirkliche Anschlussfähigkeit haben zu den eher phänomenologisch und organismustheoretisch operierenden Ansätzen (G. Alexander) mit ihren behavioralen Lernkonzepten (M. Feldenkrais) oder pragmatistischen Orientierungen (F. M. Alexander).
Überlegungen zum konzeptuellen Rahmen Es kann im Rahmen von «Überlegungen», wie sie dieser Beitrag unternimmt, nicht darum gehen, eine fundierte Auseinandersetzung mit den «expliziten» und (was noch wichtiger wäre) mit den «impliziten» Grundannahmen der Praxeologien in diesem Buch zu unternehmen. Es sei deshalb nur ein Aspekt aufgegriffen und näher betrachtet, der Anstöße zum Diskurs und zur weiteren Arbeit geben könnte: das Konzept des «somatopsychischen Lernens». Diese Betrachtung – für jede Sicht ist unabdingbar ein Standort erforderlich, der gekennzeichnet werden muss – erfolgt aus einer bewegungswissenschaftlichen Perspektive, der der Psycho- und Neuromotorik und der leibphilosophischen und klinischen Orientierung «Integrativer Bewegungstherapie» (Petzold 1974 j). Diese ist in ihrer «übungszentriert-funktionalen» und zum Teil in ihrer «erlebniszentriert-stimulierenden» («agogischen») Modalität den in diesem Band vorgestellten Ansätzen verwandt, definiert sich aber mit ihrer «konfliktzentriert-aufdeckenden» Modalität (ibid. 342 ff, 1988 n) als «leibzentrierte Psychotherapie» im Rahmen einer Integrativen Therapie (idem 1992 a, 2001; Schuch 2000). Die in diesem Buch vorgestellten Praxeologien haben ein großes Potential und breite Ausrichtung. Das macht ihre Ausarbeitung schwierig und auch die Kommunikation zwischen den Ansätzen. Wahrscheinlich liegt hier ein Grund für die über so viele Jahrzehnte wenig vertieften Kontakte zwischen den Richtungen und für die bislang nur spärlich erfolgte theoretische Elaboration ihrer Praxen, die in actu offenbar die verschiedenen Orientierungen, die pädagogische, die klinische und die künstlerische zu verbinden mögen. Für konzeptuelle Auseinandersetzungen und eine umfassende Theorie entstehen damit erhebliche Ansprüche an übergreifende Verbindungen. Deshalb ist es nützlich, wenn es «Integratoren» (Petzold 1993 h) gibt, die eine gewisse Synchronisation und Konnektivierungen gewährleisten. Oft werden hier anthropologische Positionen (Herzog 1984), Werte oder theoretische und methodische Basisprinzipien verwandt. Man könnte an ein ausformuliertes Konzept von «Leiblichkeit» denken, einen präzise gefassten Begriff des «Körpers» oder der «Bewegung» oder, wie in diesem Band geschehen, an einen konsensuell bestimmten Begriff des «somatopsychischen Lernens». Zu diesem Begriff sollen einige weitere Überlegungen erfolgen. Er erweist sich insofern als nützlich, da «Lernen» einen «gemeinsamen Nenner» für die beiden Schwer-
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punktbildungen bzw. Orientierungen bieten kann, die sich in diesem Band zeigen und für die sich eine je spezifische Ausarbeitung abzeichnet, der Schwerpunkt als bewegungsagogische Methode und ein anderer als körpertherapeutische Methode. Natürlich sind diese Orientierungen in praxi auch immer wieder verbunden (Wallon 1959/63) – allein schon dadurch, dass die Methoden gelehrt werden und hier eine spezifische und methodensyntone Didaktik erforderlich machen (vgl. Petzold 1983 i, Orth, Petzold 1998 a). Ich werde mich auf die agogische bzw. pädagogische Orientierung beschränken. G. Alexander, F. M. Alexander und M. Feldenkrais haben in ihren Ansätzen eine deutliche bewegungsagogische Orientierung, auch wenn sich zugleich eine körpertherapeutische findet. Ich verwende den Begriff der «Agogik» (van Gent, ten Have 1972), weil er altersgruppenspezifische Differenzierungen (Pädagogik/Kindererziehung, Andragogik/Erwachsenenbildung, Geragogik/Altenbildung) in einem Konzept des «life long learning» möglich macht. Er beinhaltet auch das Modell eines differentiellen und ganzheitlichen Lernens, das «persönlich bedeutsam» (Bürmann 1992) ist und «leibliches Erleben, emotionale Erfahrungen und kognitive Einsicht in Bezogenheit zu Ereignissen von vitaler Evidenz verbindet» (vgl. Petzold 1992 a, 827, 916 f; Sieper, Petzold 1993). Mit dieser «Formel», die die Intentionen zumindest von G. Alexander treffen dürfte, ist ein «pädagogischer Lernbegriff» eingeführt, der auf anthropologischen Modellvorstellungen gründet («der Mensch als Mann und Frau ein Körper-Seele-Geist-Subjekt im sozialen und ökologischen Kontext/Kontinuum», idem 2001 a). Diese Vorstellungen sind bei Gerda Alexander (1976) noch am deutlichsten erkennbar, und ihre Positionen unterscheiden sich sicherlich von den pragmatistischen Orientierungen F. M. Alexanders und den behavioralen von M. Feldenkrais. Deren implizite Anthropologien müssten deutlich gemacht, geklärt, dekonstruktivistisch und diskursanalytisch (sensu Foucault 1998, vgl. Dauk 1989) historisch-kritisch reflektiert werden (Hager 1996; Petzold, Orth, Sieper 1999, 2000), wenn man eine agogische Konzeption mit entsprechenden methodischen und didaktischen Ausarbeitungen vorlegen will. Und das wird erforderlich, wenn man, wie dies die drei Praxeologien vertreten und in ihrer Arbeit umsetzen, Persönlichkeitsbildung als zentrales Anliegen und Ziel vertritt. Die anonymen Diskurse der «Disziplinierung des Körpers» (Foucault 1978, 1986 a, b; Dauk 1989) durchfiltern nämlich auch die Theorie und – das muss näher untersucht werden, weil gegebenenfalls nicht unbedenklich – die Praxis der drei hier zur Rede stehenden Ansätze. Mit dem Anspruch der Persönlichkeitsbildung wird natürlich eine persönlichkeitstheoretische Position erforderlich, die mit dem vertretenen Menschenbild kompatibel ist. Für beides – anthropologische und persönlichkeitstheoretische Vorstellungen – finden sich in den Schriften der Gründerpersönlichkeiten zahlreiche verstreute – und zum Teil disparate – Hinweise. Hier wäre eine Möglich-
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keit, Anschluss an kompatible persönlichkeitstheoretische Modelle zu suchen, z. B. Dieterichs (1981) «Integrale Persönlichkeitstheorie» oder die integrativen Modelle von Epstein (1979) oder Petzold (1992 a, 528 ff). Neben einem anthropologisch begründeten «pädagogischen Lernbegriff», der die übergeordneten Zusammenhänge und Bedingungen menschlichen Lernens expliziert, werden aber noch andere Lernbegriffe erforderlich, die nicht so einfach in ein Konzept «somatopsychischen Lernens» eingeschmolzen werden können: Ein «psychologischer Lernbegriff» (vgl. Bredenkamp 1997; Evans 1996; Hammond 1985; Timberlake 1993) wird notwendig, der die Mikroprozesse des expliziten und impliziten Lernens und der Gedächtnisleistungen auf der kognitiven, emotionalen und volitiven Ebene zu erklären in der Lage ist. Darüber hinaus ist, wenn man auf die somatische Ebene geht, ein «physiologischer Lernbegriff» gefragt, der die neurophysiologischen, immunologischen, ja molekularen Prozesse des Lernens zum Gegenstand hat (Abbott 1990; Birbaumer, Schmidt 1999; Kandel, Hawkins 1992; Woody 1982). Ganz sicher wird man auch nicht ohne spezifische, forschungsbegründete Modelle zum «motorischen bzw. sensumotorischen Lernen» auskommen, die eine lange und reiche Tradition haben – mehr als ein Jahrhundert experimenteller Forschung. In dieser haben die Arbeiten der Gestaltpsychologen mit ihren Untersuchungen zu Bewegungsgestalten, zu Fragen der Gestaltformation und Feldbezügen, Männer wie W. Köhler und K. Lewin, Marksteine gesetzt. Biologen und Physiologen wie P. A. Weiss und N. A. Bernstein, Psychologen wie L. S. Vygotsky und J. J. Gibson haben den Weg für eine moderne Bewegungswissenschaft bereitet, die durch strittige Diskurse wie die «motor-action controversy» (Beek, Meijer 1988) zu kontextbezogenen («ökologischen»), nicht-linearen Modellen der Organisation von Bewegungsmustern, d. h. Lernprozessen in dynamischen Systemen fanden, die allein der Komplexität des Bewegungsgeschehens und der Wahrnehmungs-Handlungsverschränkung gerecht werden. Modelle zum Verständnis solchen Lernens, wie sie Turvey (1990), Schöner et al. (1992), Kelso (1995), Feldman & Levin (1993) u. a vorgelegt haben, werden für das Verständnis der Prozesse der Praxis von G. Alexander, F. M. Alexander und M. Feldenkrais unverzichtbar sein und stellen eine Herausforderung für neue Konzept- und Theorienbildung dar. Sie könnten eine große praktische Relevanz besitzen, nicht zuletzt, weil sie Chancen bieten, die in diesen Ansätzen defiziente konzeptuelle Verbindung von motorischem und kognitivem Lernen voranzutreiben – es genügt nicht, von «ganzheitlichen Prozessen» zu sprechen, man muss auch erklären können, wie sie differentiell funktionieren. Ein Lernkonzept für leib- und bewegungsagogische und körper- und bewegungstherapeutische Arbeit darf somatopsychische bzw. psychophysiologische Prozesse nicht von kognitiven Prozessen abkoppeln. Bei der Bedeutung kognitiven Geschehens auch für sensorisch-perzeptuelle und emotionale Phänomene, für motorisches Lernen, bis hin in die intentionale Tonussteuerung – etwa bei «top down» orientierten Entspannungsverfahren –, muss den
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Fragen der Verbindung von «cognition and action», wie sie etwa Thelen & Smith (1994) auf dem Hintergrund des Ansatzes einer dynamischen Systemtheorie thematisieren, nachgegangen werden.12 Die fehlende Differenzierung der aufgezeigten, verschiedenen Lernebenen, -prozesse und Lernbegriffe birgt die Gefahr, dass der «gemeinsame Nenner» des Lernens, spezifisch «somatisches» oder «somatopsychisches Lernen» zu Kategorienfehlern führt, wenn keine genauen begrifflichen Spezifizierungen vorgenommen werden. Begriffe wie der des «somatischen Lernens» werden dann entweder überdehnt oder unscharf.13 Handelt es sich um einen «pädagogischen Lernbegriff» oder um einen «psychologischen» oder einen «physiologischen»? Bezieht man sich auf den von Thomas Hanna inaugurierten Begriff «somatics», der am besten mit «Leiblichkeit» wiedergegeben wird, könnte man höchstens ein Adjektiv «leiblich» ableiten (und das wäre als anthropologischer Begriff stimmig). Der Begriff «somatopsychisches Lernen» (leibseelisches Lernen) wäre konsistenter als anthropologisch gegründeter «pädagogischer Lernbegriff» zu verwenden. Ein solcher erklärt aber nicht, was auf der Mikroebene motorischen, emotionalen und kognitiven Lernens geschieht. Hier müsste Differenzierungs- und Integrationsarbeit ansetzen. Persönliches Lernen, Persönlichkeitsbildung, Lernen des Leibsubjekts, Lernen des Leibselbst würde dann auf eine Theorie «leibhaftiger Selbsterfahrung» hinauslaufen. Lernen durch Selbsterfahrungen ist derzeit in der psychotherapeutischen Theorienbildung und Forschung ein höchst aktuelles Thema (Laireiter 1999; Petzold, Steffan 1999 b), zu dem die körper- und bewegungsorientierten Verfahren Wertvolles beitragen könnten.
12 Auf eine Diskussion von Grundfragen zum Lernkonzept kann hier nicht eingegangen werden. Unsere Position (vgl. Sieper 2001) sei nur kurz umrissen: Wir sehen Lernen als einen Prozess des Erwerbs von Fertigkeiten (skills) in Kontexten (Kelso 1995, 159 ff), spezifisch als Erwerb von «Kompetenzen [Fähigkeiten] und Performanzen [Fertigkeiten]» im Sinne adaptiver oder kreativer/kokreativer Veränderung überdauernder Verhaltensmöglichkeiten durch Differenzierungen in Wahrnehmungs-VerarbeitungsHandlungs-Zyklen (Petzold, van Beek, van der Hoek 1994), die die Ausbildung neuer Muster erlauben. Dabei sind immer nur Resultate des Lernens zugänglich, weil «alles Lernen latent ist, sich also auf nicht beobachtbare Prozesse bezieht» (Bredenkamp 1997, 286) und damit, weil es auf der neurophysiologischen Ebene erfolgt, auch der Introspektion nicht zugänglich ist. Es können deshalb nur Bedingungen geschaffen werden, etwa durch die Gestaltung von Kontexten und die Konstellierung von «affordances» (Gibson 1979; Reed 1996), die Lernvorgänge ermöglichen und fördern (praktische Therapiebeispiele in Petzold 1995 a). 13 Im allgemeinen Spachgebrauch bedeutet «somatisch, den Körper betreffend» (Duden, Brockhaus etc.), ebenso im Englischen «somatic, relating to the body, distinct from the mind» (The New Oxford Dictionary of English 1999), im speziellen Gebrauch «auf dem Körper bezogen im Ggs. zu psychisch» (z. B. Dorsch 1970; Fuchs-Heinritz et al. 1994, 601).
Überlegen zu Praxeologien
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Die pädagogische Orientierung und der Lernbegriff der drei Praxeologien müssten – das dürfte deutlich geworden sein – Anschluss an die aktuellen Diskussionen zum Konzept des Lernens in Psychologie, Pädagogik und in den Bewegungswissenschaften finden (wobei letztere wegen ihrer neurowissenschaftlichen Bezüge wesentlich sind) und versuchen, sich in diesen Referenzmodellen zu explizieren, zumal eine gute Anschlussfähigkeit an die modernen Selbstorganisationstheorien gegeben wäre, z. B. Hermann Hakens «Synergetik» und an das in der dynamical system theory gründende Lernkonzept von Scott Kelso (1995), das das subtile Zusammenspiel von cooperation and competition in komplexen Prozessen der Musterbildung betont – und Bewegungsabläufe sowie die mit ihnen unlösbar verbundenen exterozeptiven und propriozeptiven Wahrnehmungsvorgänge sind derartige komplexe Muster. Hier liegt noch sehr viel Arbeit, die getan werden muss, wenn die in ihrer Substanz überzeugenden Praxeologien von G. Alexander, F. M. Alexander und M. Feldenkrais aktuelle Referenztheorien und neue Begründungsrahmen finden wollen, orientiert an dem, was in den «Human Movement Sciences» an Grundlagenforschung geleistet wurde und gegenwärtig geleistet wird. Hier finden sich nämlich Modelle und Konzepte, die über die Erklärung der verschiedenen Praxen und ihrer Wirkweise hinaus auch zur Untersuchung und zur Dokumentation ihrer Wirksamkeit beitragen könnten. Ich hoffe, das haben diese Überlegungen deutlich gemacht und ich würde mich freuen, wenn sie zu weiteren Entwicklungen und fruchtbaren Diskursen führen würden.
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Schlusswort Die Entstehung der Alexander-Technik, der Eutonie Gerda Alexander und der Feldenkrais-Methode spiegelt einen Wandel im Bewusstsein der Menschen und der Einstellung zu ihrem Körper wider. Seit der Renaissance bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stand eine systematische und methodisch ausgearbeitete Beschäftigung mit Bewegung und Körperhaltung im Zeichen der Herrschaft des Menschen über die Natur. Die Zerlegung menschlicher Bewegungszusammenhänge unter physikalischen Gesichtspunkten in der Renaissance fand in der körperlichen Militärerziehung und im höfischen Tanz ihren Ausdruck. Klare Zeiteinheiten als Grundmaß der Bewegung und definierte Verhältnisse der Bewegungselemente zueinander in Form überschaubarer Figuren wurden in die militärische Schulung jener Zeit eingeführt und dienten dem Zwecke eines effizienteren Einsatzes der Menschen. Auch der höfische Tanz als choreographierte Bewegung war weder Ausdruck reiner Bewegungsfreude, noch hauptsächliche Darstellung ästhetischer Prinzipien. Vor allem ging es darum, die menschliche Physis weiter einer messenden und schematisierenden Beschreibung zu unterwerfen, und schließlich war der höfische Tanz ein Training in der Form des Auftretens, um den privilegierten Stand einer Person zu dokumentieren. Der Einfluss der militärischen Erziehung als Grundlage des Sportunterrichts und der höfische Tanz als Ursprung des klassischen Tanzes sind noch bis in unsere Zeit sichtbar. Die in diesem Buch beschriebenen Methoden somatopsychischen Lernens zeigen einen anderen Weg auf, die eigene Körperlichkeit zu verstehen und mit ihr umzugehen. F. M. Alexander, Gerda Alexander, Moshé Feldenkrais fragten sich selbst: Wie kann ich etwas anders machen? Auf diese Kernfrage jedes kreativen Prozesses fanden sie mit Hilfe ihres eigenen Körpers und ihres suchenden Geistes zahlreiche Antworten. In dieser Art zu fragen sehen wir den Schlüssel für das Verständnis unserer Methoden. Jede Methode gibt Menschen die Möglichkeit, Fragen zu entdecken, deren Beantwortung für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der eigenen Gesundheit wesentlich ist. Lernen mit dem Körper heißt manchmal auch Kontrolle aufgeben, sich öffnen für unerwartete Fragen und überraschende Antworten. Das Anleiten dieses Lernprozesses bedeutet eine große Verantwor-
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tung dem Einzelnen gegenüber, der als Fragender kommt und zuweilen mit mehr Fragen wieder geht. Während der Arbeit an diesem Buch tauchten neue Themen auf, die uns als Anwender und Ausbilder beschäftigen. Wir möchten unsere Methoden auffordern, zu untersuchen, ob die Antworten der Gründer auf Fragen ihrer Zeit heute noch ausreichend sind. Die heutigen Anwender der Methoden kommen nicht umhin, ihr Handeln und die Darstellung ihres Vorgehens im Kontext unserer Zeit auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Neue Erkenntnisse der Natur- und Geisteswissenschaften werden das eigene Selbstverständnis in Zukunft beeinflussen. Ein Dialog zwischen Theoretikern und Praktikern, der auch kritische Fragen zulässt, kann zur Weiterentwicklung der Methoden beitragen. Dies ist nicht nur wichtig für die Qualität der Arbeit, sondern auch eine Voraussetzung für eine gesellschaftliche Anerkennung als Beruf. Reformen in der Ausbildung werden unerlässlich sein. Unsere Vision ist es, einen gemeinsamen Studiengang «somatopsychisches Lernen» zu entwickeln, der die bisherigen Ausbildungen ergänzt und eine staatliche Anerkennung möglich macht. Im Rahmen einer staatlichen Anerkennung als eigenständige Berufe müssten die einzelnen Methoden ihre Ausbildungen sowie Supervision und Fortbildung der Praktizierenden klar regeln. Der Einsatz der Methoden in den verschiedenen Bereichen wie z. B. im klinischen und ambulanten medizinischen Bereich wäre ebenso klar zu definieren wie die Lehrtätigkeit an Schulen und Hochschulen. Bereits bestehende Einzelbeispiele einer Integration der Methoden in einem institutionellen Rahmen könnten als Vorbild dienen. Die Menschen im 21. Jahrhundert wissen mehr über Lernen, Kreativität und Gesundheit als jemals zuvor. Unsere Methoden können helfen, dieses Wissen auch zu gebrauchen und praktisch anzuwenden. Wir freuen uns auf einen Austausch mit allen, deren Interesse wir durch dieses Buch geweckt haben.
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Literatur
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Gesundheit – Lernen – Kreativität
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Über die AutorInnen Wolfgang Steinmüller, geboren 1959, studierte Medizin in Freiburg/Brsg. und wurde von Mia Segal in der Feldenkrais-Methode ausgebildet. Schwerpunkte seiner Tätigkeit als niedergelassener Arzt sind die Behandlung chronischer Schmerzpatienten und die Betreuung von Musikern mit berufsbedingten Problemen des Bewegungsapparates. Ärztlicher Leiter des Freiburger «Lehrinstituts für Soma-Pädagogik», das Fortbildungen zur Gestaltung somatopsychischer Lernprozesse anbietet. Der Wunsch, die gesundheitsfördernden Zusammenhänge zwischen Lernen und Bewegung auf wissenschaftlicher Grundlage genauer zu verstehen, führte u. a. zur Mitarbeit an einer Studie über die Gesundheitsförderung von Musikstudenten an der Musikhochschule Freiburg. Kontaktadresse: Lehrinstitut für Soma-Pädagogik, Urachstr. 27, D-79102 Freiburg, [email protected]
Karin Schaefer, geboren 1934, bekam den ersten Kontakt zur Eutonie durch Zen-Meditation bei Pater Enomiya-Lasalle. Sie wurde von Gerda Alexander in Kopenhagen ausgebildet. Anschließend assistierte sie bei Gerda Alexander in ihren deutschsprachigen Seminaren. Als freie Mitarbeiterin war sie bei einem Arzt für Neurologie und Psychiatrie tätig und baute eine eigene Praxis auf. Ein Seminar bei Moshé Feldenkrais motivierte sie zur Ausbildung in der FeldenkraisMethode, die sie bei Chava Shelhav mit dem Zertifikat abschloss. 1987 gründete sie in Deutschland die Gerda-Alexander-Schule, die sie bis heute leitet. Ihr besonderes Interesse gilt der Qualität und den Strukturen der Ausbildung für körperorientierte Methoden und der Fortbildung/Supervision für Ausbilder/innen. Kontaktadresse: Gerda-Alexander-Schule, Philosophenweg 27, D-77654 Offenburg.
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Gesundheit – Lernen – Kreativität
Michael Fortwängler, geboren 1957, absolvierte nach einem Pädagogikstudium eine Ausbildung zum Lehrer der Alexander-Technik bei Yehuda Kupermann und Uri Eshet und eine Ausbildung in Gestalttherapie bei Katharina Martin (Gestaltinstitut Würzburg). Er gibt Einzelunterricht und Einführungskurse sowie berufsgruppenspezifische Kurse. Als Ausbilder der Alexander-Technik gilt sein besonderes Interesse der Strukturierung und methodisch-didaktischen Weiterentwicklung der Ausbildung. Gemeinsam mit seiner Frau Aranka leitet er die Schule für F. M. Alexander-Technik Freiburg, die seit 1989 besteht und neben einem dreijährigen Ausbildungsgang auch Fortbildungen anbietet. Kontaktadresse: Schule für F.M. Alexander-Technik Freiburg, Adelhauserstr. 10, D-79098 Freiburg, [email protected].
Ruth Künzler, Dr. med., geboren 1958 in Karlsruhe. Fachärztin für Kinderheilkunde, Feldenkrais-Pädagogin und Therapeutin für Funktionale Bewegungstherapie. 1978 bis 1985 Medizinstudium in Heidelberg und Mannheim. Danach Weiterbildung zur Fachärztin für Pädiatrie an der Kinderklinik in Offenburg. Berufsbegleitende Psychotherapie Weiterbildung in Freiburg i. Brsg. FeldenkraisAusbildung bei Dr. Chava Shelav von 1995 bis 1999. Fortbildungen und Selbsterfahrungen in unterschiedlichen Physiotherapiemethoden sowie körperbezogenen Psychotherapiemethoden seit 1990. Heute Kinderärztin an der Kinderklinik in Offenburg. Schwerpunkte ihrer Arbeit: Entwicklungsneurologie und Psychosomatik sowie Frühgeborenenbetreuung und Allergologie. In freier Praxis: Therapeutin für Funktionale Bewegungstherapie. Daneben Dozententätigkeit in Entwicklungsneurologie für Physio- und Ergotherapeuten sowie Eutonie-Pädagogen.
Gerlinde Lamprecht, Dr.phil, geboren 1961, studierte zunächst Theaterwissenschaft in Erlangen und wechselte dann zum Studium der Sprachheilpädagogik, Psychologie, Psycholinguistik nach München. Dort erfolgte auch ihre Ausbildung zur Lehrerin der F. M. Alexander-Technik von 1994 bis 1997 bei Daniel Süsstrunk. Sie arbeitet als Lehrerin für Alexander-Technik in eigener Praxis in München. Ihre Schwerpunkte des Interesses liegen in der Arbeit mit der Sprechstimme und darin, die mentalen Grundprinzipien der Alexander-Technik als Basis für jegliche Aktivitäten im beruflichen und privaten Alltag zu vermitteln. Sie ist zudem als Sprachtherapeutin im Bereich der neuropsychologischen Rehabilitation und als freiberufliche Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig. Kontaktadresse: Neustätterstr. 3, D-80636 München, gerlinde.lamprecht@ gmx.de
Über die AutorInnen
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Helmut Milz, Prof. Dr. med., geboren 1949, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Allgemeinmedizin, studierte Medizin und Soziologie an der FU Berlin; postgraduierte Studien in Public Health an der UC Berkeley sowie in Körpertherapien am Esalen-Institute, Big Sur. 1985 bis 1987 Inhouse Consultant im Europäischen Büro der Weltgesundheitsorganisation, Kopenhagen; Mitarbeit an der Formulierung der Ottawa-Charta For Health Promotion. 1988 bis 1994 Oberarzt der Psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien. Seit 1994 niedergelassener Facharzt für Psychotherapeutische Medizin in Marquartstein. Honorarprofessor für Public Health / Gesundheitsförderung an der Universität Bremen. Seit Beginn der achtziger Jahre kontinuierliche Studien verschiedener Körpermethoden sowie leib- und körpertherapeutischer Möglichkeiten, u. a. mit G. Alexander, T. Hanna, C. Selver, B. Bainbridge-Cohen, E. Rossi. Mitinitiator des jährlichen Seminars für körperorientierte Psychotherapie und Körpertherapie «Leib oder Leben» in Bad Gleichenberg, Österreich. Kontaktadresse: Loitshauser Str. 10, D-83250 Marquartstein, www.Helmutmilz.de
Hilarion Petzold, Prof. Dr. Dr., geboren 1944, Lehrstuhl für Psychologie, Klinische Bewegungstherapie und Psychomotorik an der Freien Universität Amsterdam. Wissenschaftlicher Leiter der Hochschulstudiengänge für Psychotraumatologie und Supervision an der Donau-Universität Krems. Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter der «Europäischen Akademie für Psychosoziale Gesundheit» und des Fritz-Pearls-Instituts. Approbierter Psychotherapeut für Erwachsenen- und für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie. Begründer der Integrativen Therapie und der «Integrativen Leib- und Bewegungstherapie». Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 600 wissenschaftlichen und Fachpublikationen. Kontaktadresse: Fritz-Pearls-Institut, Achenbachstr. 40, D-40237 Düsseldorf
Renate Riese, geboren 1948, studierte Schulmusik, Klavier und Germanistik in Hannover. Von 1987 bis 1992 absolvierte sie eine Ausbildung zur EutoniePädagogin und -Therapeutin bei Karin Schaefer an der Gerda-Alexander-Schule. Seitdem arbeitet sie freiberuflich als Eutonie-Pädagogin in Gruppen- und Einzelunterricht. Ihr beruflicher Schwerpunkt ist die Arbeit in Ausbildungen (Tanzund Bewegungspädagogen, Logopäden) und seit 1999 die Mitarbeit an der GerdaAlexander-Schule in Offenburg. Kontaktadresse: Köpkenstr. 3, D-28203 Bremen, Fax: 0421-326217
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Gesundheit – Lernen – Kreativität
Irene Sieben, geboren 1943, studierte Tanz und Tanzpädagogik bei Mary Wigman und Manja Chmièl. Während und nach ihrer Bühnenlaufbahn in den ersten experimentellen Tanzensembles der Nach-Ausdrucktanz-Generation und bei den Bayreuther Festspielen unter Wieland Wagner beschäftigte sie sich mit alternativen Trainingsmethoden und versuchte, sich in intensiven Lernphasen mit Gindler-Arbeit, Eutonie (bei Gerda Alexander), Alexander-Technik, Ideokinese und Body-Mind Centering (bei Bonnie Bainbridge Cohen) von Verletzungen zu heilen. Ein Workshop mit Moshé Feldenkrais gab den Ausschlag, sich für die Ausbildung in der Feldenkrais-Methode bei Mia Segal zu entscheiden. Seit sie 1981 ihre zehnjährige Festanstellung als Feuilletonredakteurin kündigte, arbeitet sie als freie Autorin, Tanzkritikerin und unterrichtet in freier Praxis, an öffentlichen Institutionen und in der «Tanz Tangente Berlin» Feldenkrais und Improvisation. Ihr besonderes Interesse gilt methodenübergreifend der frühkindlichen Bewegungsentwicklung und dem darin schlummernden Lernpotential für Tänzer, Tanzpädagogen, Musiker, Schauspieler, aber auch für Kinder und alte Menschen. Kontaktadresse: Herthastraße 20, D-14193 Berlin, [email protected]
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Thea Rytz
Bei sich und in Kontakt Körpertherapeutische Übungen zur Achtsamkeit im Alltag 2., überarb. Aufl. 2007. 190 S., mit 32 farbigen Kärtchen, Kt 냖 24.95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-84468-8
Am Beispiel von Essstörungen zeigt dieses Buch, wie der Entfremdung vom eigenen Körper eine somatopsychische Selbstbeobachtung entgegengesetzt werden kann. Im praktischen Teil vermitteln mithilfe von 32 Fotokarten 128 körpertherapeutische Übungen in der Tradition von Elsa Gindler, Ilse Middendorf und Bonnie Bainbridge Cohen ressourcenorientierte Achtsamkeit im Sinne von «Mindfulness» und ihre Umsetzung im Alltag.
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Bevis Nathan
Berührung und Gefühl in der manuellen Therapie Aus dem Englischen von Astrid Wieland. Mit einem Geleitwort von Leon Chaitow und Fotografien von Sandra Lousada. 2001. 232 S., 1 Abb., Kt 냖 26.95 / CHF 44.80 ISBN 978-3-456-83408-5
Was passiert in der therapeutischen Berührung, und wie lässt sich das Wissen um die psychologischen Wirkungen der Berührung therapeutisch nutzbar machen? Nathan hebt den in der manuellen Therapie häufig vernachlässigten Aspekt der psychologisch und therapeutisch bedeutsamen Berührung hervor, die fester Bestandteil einer jeden therapeutischen Handlung ist.
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