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German Pages VI, 232 [233] Year 2020
Rolf G. Heinze
Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt
Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt
Rolf G. Heinze
Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt
Rolf G. Heinze Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland
ISBN 978-3-658-30906-0 ISBN 978-3-658-30907-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
1 Das Coronavirus als aktueller Katalysator für Solidarität oder Desintegration?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einleitung 2 Beschleunigungsdynamiken, Politikstagnation und neue Protestkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Soziologische Zeitdiagnosen 2.1 Krisendeutungen: Vom Elfenbeinturm in die Praxis. . . . . . . . . . . . . 39 2.2 Von der Hierarchie zur Vernetzung: Kontextuelle Steuerung. . . . . . 49 2.3 Wandel und Kontinuität der Arbeitsgesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.4 Von der abstrakten Gestaltungsoption zur Umsetzung. . . . . . . . . . . 64 2.5 Zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3
ielfalt solidarökonomischer und sozialer Verflechtungen V jenseits von Markt und Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
4 Mehr Handlungsfähigkeit durch die Partizipation von Nonprofit-Organisationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5 Wohlfahrtsverbände als prägende Gestaltungsakteure des deutschen Systems sozialer Dienste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6
Vermessung der Wohlfahrtspflege in einer Großstadt . . . . . . . . . . . . . 121 V
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Inhaltsverzeichnis
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Gesellschaftliche Innovationen als Transformationssteuerung. . . . . . 131
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Strukturwandel des Engagements und gemeinnützige Netzwerke . . . 145
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Wandel zum hybriden Wohlfahrtsmix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
10 Genossenschaften als gemeinwirtschaftliche Partizipationsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 11 Gestaltungsnetzwerke als Labore für institutionellen Wandel. . . . . . . 185 Demokratische Gestaltung im Stresstest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Epilog Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
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Das Coronavirus als aktueller Katalysator für Solidarität oder Desintegration?1 Einleitung
Die globale Ausbreitung des Coronavirus hat im Frühjahr 2020 einen Schock ausgelöst und durch die Gefährdungsdimension, die alle treffen kann, einen Normalitätsbruch bewirkt. Die Ausbreitung und Intensität der Gesundheitskrise geht tiefer als bei den in den letzten Jahrzehnten erlebten Epidemien, man kann schon von einer Disruption des gesellschaftlichen Lebens sprechen. Dies führte zu einem „Shutdown“, welcher bei Betrachtung der letzten 75 Jahre für die westlichen Länder beispiellos bleibt.2 Da bislang kein Impfstoff gefunden wurde, der diese Pandemie eindämmen kann, kann sich die Rückkehr zur Normalität hinziehen. Bis dahin leben wir in einer infizierten Gesellschaft, mit großteils kaum bekannten Folgewirkungen nicht nur für die subnormale Zeit, sondern auch für die Post-Coronaepoche. Hier liegen viele Anknüpfungspunkte für empirische Untersuchungen, denn Seuchen können auch als Seismograph einer Gesellschaft dienen. Sie fördern soziale und räumliche Abgrenzungen, definieren Identitäten und können individuelle Ängste und soziale Spannungen verstärken. Insbesondere die Seuchenbekämpfung war schon in früheren Epochen immer ein Terrain, in
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Für kritische Kommentare möchte ich insbesondere Rabea Bieckmann sowie Fabian Beckmann und Sebastian Kurtenbach danken. Wenngleich auch einige Forscher vor solchen hochinfektiösen und unbekannten Krankheiten warnten, wurde das Gefährdungspotenzial des neuartigen Coronavirus Covid-19 für westliche Länder noch Anfang 2020 als gering eingeschätzt (vgl. zur historischen und politisch-sozialen Einordnung solcher Pandemien Ehlkes/May 2015).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_1
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dem sich die staatlichen Akteure als „Disziplinierungsmacht“ (Foucault) beweisen konnten.3 Die Coronakrise hat aber nicht nur einen Schockzustand herbeigeführt, sondern hierdurch dürfte sich auch einiges im Verhältnis von Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft verändern. Wenngleich es voreilig ist, schon jetzt einen neuen Gesellschaftsvertrag auszurufen, wird sich die Wertigkeit marktlicher Regulierungen nach der Krise weiter geschmälert haben. Das Virus hat bewusst gemacht, wie stark auch wirtschaftliche Wertschöpfungen von einer funktionierenden staatlichen Infrastruktur und öffentlicher Daseinsvorsorge abhängen. Gerade die Länder, die diese fundamentalökonomischen Infrastrukturen dem Markt und den dort dominierenden Renditeinteressen überlassen haben (am prominentesten demonstriert dies das Gesundheitswesen), erleben bei der Bekämpfung der Seuche die größten Risiken und versetzen sie in den Notstand. Weitaus steuerungsfähiger zeigen sich diejenigen Gesellschaftsformationen mit einer ausgebauten öffentlichen Infrastruktur (insbesondere einem funktionsfähigen Gesundheitswesen) und einer stabilen Zivilgesellschaft. In vielen Kommentaren4 wurde insbesondere auf die Solidarität in dieser Krisenepoche verwiesen, die in vielfältigen Formen ein neues Gemeinschaftsgefühl geschaffen habe. Damit wurde auch die spannende Frage aufgeworfen, ob über die (re)vitalisierten Solidarbeziehungen die in soziologischen Studien gegenwärtig konstatierte „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) relativiert wird. Sowohl die wieder erwachten Gemeinschaftsgefühle als auch die schon immer das Alltagsleben prägenden sozialen Nahbeziehungen (in der Nachbarschaft, Familie oder mit Freunden), aber ebenso in Vereinen und anderen gemeinnützigen Organisationen (bspw. der Wohlfahrtspflege), werden in der sozialwissenschaftlichen Literatur dem Typus der Zivilgesellschaft zugeordnet. Dieser, neben dem Staat und dem Markt, konstitutive Gesellschafssektor ist allerdings sehr breit und wirkt deshalb unübersichtlich. Im Verlauf des Buches wird er deshalb vermessen und es wird überprüft, wie diese gemeinwohlorientierten Organisationsformen für eine Wende zu einer sozial gerechteren und ökologisch nachhaltigeren Gesellschaft genutzt werden können. 3
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„Mit der „Medikalisierung“ Europas und dem Aufbau staatlicher Gesundheitswesen rückte die Seuchenbekämpfung ganz oben auf die politische Agenda. Der Philosoph Michel Foucault hat die Pest in diesem Zusammenhang sogar als einen „Traum“ der Regierenden bezeichnet“ (Thießen 2015, 16; vgl. auch Lobe 2019, 27ff.). Manche Historiker sehen sogar in dem unter den Bedingungen der Coronapandemie ausgebreiteten „social distancing“ in der Alltagskultur einen vergleichbaren gesellschaftlichen Strukturbruch wie zur Aufklärungszeit um 1800 (vgl. Koschorke 2020). Vgl. hierzu die von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eingerichtete Seite mit soziologischen Kommentierungen der Coronakrise (https://soziologie.de/aktuell/ soziologie-in-der-presse/corona-krise).
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Punktuell traten Erfahrungsschocks wie die Coronakrise schon bei den Atomkatastrophen der letzten Jahrzehnte oder der Finanzkrise auf, allerdings geht diese Krise tiefer und hat viele gesellschaftliche Ordnungsmechanismen abrupt unterbrochen. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Gesellschaft in den Krisenmodus versetzt und eine Risikopolitik etabliert, die als staatliches Katastrophenmanagement zu charakterisieren ist. Vermittelt über wissenschaftliche Experten (in diesem Fall Virologen) diktiert das Virus relativ souverän sowohl das politische Geschehen als auch den Alltag der Menschen. Plötzlich werden politischen Konflikte, ökologische Gefährdungen und soziale Ungleichheiten als sekundär betrachtet. Auch dem Primat der Ökonomie wird in der Krisenphase nicht mehr entsprochen, ganze Wirtschaftsbranchen erleiden massive Einbußen, internationale Wertschöpfungsketten wurden zerschnitten oder ausgedünnt und individuelle Freiheitsspielräume massiv eingeschränkt. Damit werden aber real die bestehenden Probleme nicht gelöst (etwa der Klimaschutz), vielmehr spitzen sich soziale Ungleichheiten sogar zu. Nichtsdestotrotz steuert das Virus die gegenwärtige gesellschaftspolitische Agenda, verdrängt bislang dominierende Narrative und rückt gesellschaftliche Kontrollmaßnahmen in den Vordergrund. Es ist in der Geschichte einmalig, dass eine Bundeskanzlerin dazu aufruft, soziale Kontakte zu vermeiden und sich zu Hause, im unmittelbaren Sozialnahraum, aufzuhalten. Soziale Distanz wird aufgerufen, um den Einzelnen und die Gesellschaft vor dem Virus zu schützen. Damit wurde ein gesellschaftliches Großexperiment eingeleitet, dessen Reichweite noch vor kurzer Zeit für undenkbar gehalten wurde. Der Staat, über dessen Handlungsgrenzen in den letzten Jahren viel debattiert wurde, bestimmt plötzlich wieder das Geschehen, setzt Grundrechte aus und lässt sich im Modus des Risikomanagements auch nicht durch wirtschaftliche Imperative irritieren. Ohnehin waren die wirtschaftlichen Akteure im ersten Stadium der Risikopolitik verstummt und erkannten den Staat als Krisenmanager an – natürlich auch, um für ihre Unternehmen bzw. Branchen massive Förderungen einzufordern. Ob das Momentum der Krise allerdings einen Wendepunkt in der Gesellschaftsentwicklung markiert und eine entschleunigte, weniger egoistische Welt heraufzieht, kann aus heutiger Sicht nicht fundiert beantwortet werden. Zudem sind auch im Krisenmodus mit der Auflage der sozialen Distanzierung die differenzierten sozialen Betroffenheiten unübersehbar: Während Akademiker im Home-Office ihrer Arbeit zumeist relativ gesichert nachgehen können, ist der erzwungene Rückzug in den Privatbereich für andere Gruppen verbunden mit Existenzängsten und zunehmenden Alltagsfrust.5 Auch wenn alle vom Virus affiziert werden können, 5 In einer empirischen Untersuchung wurden die differenzierten Folgewirkungen der Arbeit im Home-Office erfasst: „Unsere Daten zeigen, dass die Verlegung des
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bleiben die Folgewirkungen sozial ungleich verteilt und können sogar verschärfte soziale Polarisierungen hervorrufen (man denke etwa an die Schließung der Schulen und Kindertageseinrichtungen und deren Effekte für Alleinerziehende oder Großfamilien mit niedrigem Einkommen). „Zu den Verlierern muss man wohl auch das Vertrauen in den sinnlich gegenwärtigen Mitmenschen zählen. Er könnte ein Infektionsherd sein. Deshalb sollen wir uns ja sozial distanzieren. Selbst enge Freunde begrüßen sich durch Berührung mit dem Ellenbogen. Ellenbogen waren einmal das Symbol einer schlechten Gesellschaft, der „Ellenbogengesellschaft“, in der jeder nur an sich denkt“ (Lindemann 2020). Der staatlich angeordnete Rückzug aus dem sozialen Leben ist die eine Seite der Katastrophenbekämpfung, andererseits hat die Pandemie ebenso durch die gemeinsam empfundene Betroffenheit in vielen Sozialräumen – jedenfalls in der ersten Phase – mehr Miteinander und wechselseitige Verantwortung geschaffen. Dies wird in den öffentlichen Diskursen auch explizit herausgestellt: „Gerade in diesen Tagen der Krise zeigt sich, wie groß die Solidaritätsressourcen in unserem Lande sind. Solidarität bedeutet die Bereitschaft zu prosozialen Handlungen auf der Grundlage relevanter Gemeinsamkeit, die der solidarbereiten Person etwas abverlangen. Sie besteht weder automatisch noch unbegrenzt. Mag der Impuls zur solidarischen Hilfsbereitschaft am Anfang von jenem elementarmenschlichen Mitgefühl ausgehen, das nahezu jede Person angesichts schwerer Bedrohungen anderer empfindet, so muss solches Mitempfinden immer noch übersetzt werden in konkretes Handeln“ (Deutscher Ethikrat 2020, 5).6
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Arbeitsplatzes in die häuslichen vier Wände – insbesondere im Zusammenspiel mit den Schließungen von Kitas und Schulen – eine große Herausforderung ist. Erwerbsarbeit ohne Kantine, ohne Kollegen und ohne Feierabend mag im ersten Moment schön und besonders sein, aber schon nach kurzer Zeit in einer beengten Wohnung und mit fehlender technischer Ausstattung kehrt der Wunsch nach Normalität zurück. Insbesondere dann, wenn neben dem Job auch noch die Kinder rufen. Wir müssen im Blick behalten, dass die ungleichen Erfahrungen, die wir im Rahmen der Pandemie in unserem Arbeitsleben machen, bereits bestehende Ungleichheiten weiter verschärfen können. Die besonders starke Belastung und die größere Unzufriedenheit von Frauen, Selbstständigen und Geringverdienern, die unsere Zwischenergebnisse zeigen, sind deutliche Hinweise darauf“ (Hipp et al. 2020). Es ist allerdings notwendig auf die spezifische Form der Solidarität in der Coronapandemie zu verweisen: „Wir erleben eine Wiedergewinnung von Solidarität aus dem Gefühl der individuellen Verwundbarkeit. Das ist eine ganz andere Solidarität als die latente Kampfsolidarität der Arbeiterbewegung. Ausgebeutete gegen Ausbeuter. Es ist auch nicht die Solidarität einer Nation gegen andere Nationen. Sondern: die Solidarität wechselseitiger Hilfe, gewissermaßen auf Augenhöhe“ (Bude 2020a).
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Wenn auch derzeit der Solidaritätsbegriff oft verwendet wird, um das in der Krise gewachsene Gemeinschaftsgefühl zu verorten und auch schon als Megatrend gedeutet wird, sollte man mit dem Begriff etwas bescheidener umgehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn hieraus eine historische Chance zur Neugestaltung unseres Gemeinwesens gesehen wird. „Zwar klingt ›Solidarität‹ in vielen Ohren heute charmanter und moderner als etwa Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft oder die als paternalistisch in Verruf geratene Mildtätigkeit und Barmherzigkeit; allerdings ist die Reichweite der Solidaritätssemantik – anders als die der gängigen Begriffe der Moral und auch des Rechts – von vornherein deutlich begrenzt. Die Rede von der Solidarität zielt moraltheoretisch nämlich konstitutiv auf egalitär-reziproke Sozialbeziehungen ›auf Augenhöhe‹ und hat dabei keinen universalistischen, sondern einen dezidiert partikularen Charakter, denn es geht ihr um konkret identifizierbare Menschen, die gemeinsame Interessen haben und von den gleichen Gefahren bedroht sind“ (Große-Kracht 2017, 348). Diese Lesart impliziert die Anerkennung einer Aufwertung praktisch-tätiger sozialer Nahbeziehungen in der Krise, verabsolutiert diese Erfahrungen aber nicht, indem der derzeitige Bedeutungsgewinn als dauerhaft angesehen und in eine neue Gesellschaftsarchitektur überführt wird. Auch in anderen soziologischen Kommentierungen der Coronakrise wird vor der Beschwörung solidarischer Zeiten gewarnt, auf die wir quasi automatisch zulaufen. Demgegenüber wird auf die Staatsbedürftigkeit der Zivilgesellschaft verwiesen und dass Solidarität abhängig von einer öffentlichen Infrastruktur und einer Politik des Zusammenhalts ist (vgl. Vogel 2020). Zudem kann auch nicht flächendeckend von einer neuen Solidarität in der Krise gesprochen werden, denn neben der oft beeindruckenden Hilfsbereitschaft fördern solche Krisen eben auch egoistisches Verhalten bei einzelnen Gruppen, das sich in Deutschland etwa im Missbrauch von Förderprogrammen, der Bereicherung bei Maskenverkäufen oder Hamsterkäufen äußert. Auch die Vereinsamung ist für manche Gruppen durch die Kontakteinschränkungen gewachsen. Diese Phänomene sozialer Desorganisation sind in Deutschland bislang nur vereinzelt zu beobachten, in den USA hat das Virus sowohl wesentlich mehr Todesopfer als auch dramatische wirtschaftliche Schäden verursacht, die an die Große Depression vor fast 100 Jahren erinnern und die sozialökonomischen Zersplitterungen intensiviert. Die Arbeitslosenrate ist im Frühjahr 2020 drastisch nach oben gestiegen: während im Februar 2020 noch die niedrigste Arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten zu verzeichnen war, stiegen die Zahlen im März und April sprungartig an (die Arbeitslosenquote stieg von 3,5 % auf über 15 %). Innerhalb eines Monates haben rund 30 Millionen Erwerbspersonen ihre Beschäftigung verloren, ohne durch Maßnahmen wie Kurzarbeit abgefedert zu werden und bis Jahresende werden Quoten von über 20 % erwartet. Diese Massenarbeitslosigkeit verschärft soziale und räumliche Ungleich-
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heiten und fördert eher soziale Polarisierungen als dass es zu neuer Solidarität in einem ohnehin schon vor der Coronapandemie zerrissenen Land führt (vgl. u. a. Hochschild 2018 und Wuthnow 2018). Krisen können eine Gesellschaft zusammenführen, sie können aber auch entsolidarisieren, wenn viele Menschen ohne soziale Absicherung buchstäblich um ihre Existenz kämpfen müssen. Es hängt stark von den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen und der jeweiligen Regierungspolitik ab, ob sich eine gemeinwohlorientierte, auf sozialen Ausgleich und Nachhaltigkeit oder eine auf Klientelinteressen, Ideologien und wahltaktische Manöver zielende Gestaltungsvariante durchsetzt. Zudem wirkt die Coronapandemie auch hier als Beschleuniger: die gewachsene soziale Distanz zwischen mobilen, hochqualifizierten „Anywheres“, die vorwiegend in den Metropolen leben und „Somewheres“, die eher geringere formale Bildungsabschlüsse aufweisen, in traditionellen Berufen tätig sind und in ländlichen und kleinstädtischen Milieus lokal verankert sind, wurde in den letzten Jahren hervorgehoben. Die Geschehnisse in den USA können als warnendes Beispiel für eine Vertiefung von Zersplitterunsgtendenzen aufgefasst werden, das durch die unterschiedlichen sozialen Sicherungssysteme und Wohlfahrtskulturen nicht direkt auf westeuropäische Verhältnisse zu übertragen ist. Gleichwohl verweist es auf die Fragilität von Gesellschaften, die bei schockartigen Zuständen eben nicht zwangsläufig zu mehr sozialen Zusammenhalt finden, sondern auch auseinander brechen können. Deshalb ist es sehr optimistisch zu glauben, dass die neue soziale Nähe und sozialen Verzichte quasi automatisch als „Zukunfts-Sprung“ und Evolutionsbeschleuniger wirken. „Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst“ (Horx 2020). Solch positive gesellschaftliche Wirkungen sind aber – wenn überhaupt – nur dann wahrscheinlich, wenn die Coronapandemie nur eine vorübergehende Phase ist. Welches Verhalten zeigen die Individuen und welches gesellschaftliche Klima entwickelt sich jedoch, wenn die virale Bedrohung längere Zeit kursiert? Noch stehen kein Impfstoff und keine zuverlässigen Therapien zur Verfügung und auch im Fall
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der Verfügbarkeit in ein oder zwei Jahren stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft bis dahin die reale Bedrohung verarbeitet. Auf Erfahrungen können westliche Länder dabei nicht zurückgreifen, denn solche Epochen einer viralen Vergemeinschaftung gab es nur in Kriegszeiten oder unter anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ersetzen nun digitalisierte Beziehungen teilweise das traditionelle soziale Alltagsleben, wie es in der aktuellen Krise schon ansatzweise praktiziert wurde? Und wie reagiert man, wenn nach der Coronakrise weitere Pandemien und ökologische Gefahren Realität werden? Verschwörungstheoretiker haben in Deutschland schon nach einigen Wochen der Pandemie Auftrieb bekommen. Da die Ungewissheiten und globalen Bedrohungsszenarien kurzfristig nicht abzustellen sind, werden die populistischen Proteste nicht abebben, sondern können zur Gefahr für eine demokratische Kultur werden. Wenn nicht eine „desinfizierte Gesellschaft, mit strenger Hand geführt von einem allzu fürsorglichen Sicherheitsstaat“ (Ulrich 2020, 3) das Ziel ist (wie es bspw. Südkorea vorlebt), dann muss die Renaissance des Staates einhergehen mit einer Neujustierung der politischen Steuerung. Deshalb bleibt festzuhalten: Durch die Krise wurde ein „Fenster“ geöffnet. Zudem wurde nicht nur die Bedeutung eines steuernden und schützenden Staates, sondern auch zivilgesellschaftlicher Organisationsformen offensichtlich. Solche Umbruchphasen können sogar zum Beschleuniger von Reformprozessen werden, weil im Notzustand sowohl bürokratische Regulierungen vereinfacht werden (müssen) als auch aus Eigennutz blockierende Interessengruppen weniger Gehör finden. Auf die damit verbundenen Einschränkungen der Freiheitsrechte kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, allerdings dürfte Konsens darin bestehen, dass solche Regelungen nur in akuten Gefährdungssituationen gelten dürfen und deshalb immer temporär angelegt sein müssen. Gleichwohl darf aber diese neue Verknüpfung von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Steuerung nicht überschätzt werden. Die gesellschaftliche Solidarität (oder genauer Hilfsbereitschaft) ist sozial selektiv und zudem lehren uns die Erfahrungen aus anderen Krisen (etwa der Finanzkrise 2008/2009), wie stabil gesellschaftliche Strukturen und politischinstitutionelle Arrangements sein können und dass deshalb Paradigmenwechsel nicht einfach umzusetzen sind. Die Wirkungsmächtigkeit und Stabilität gesellschaftlicher Kernstrukturen wie auch individueller Verhaltensweisen ist einzukalkulieren, auch wenn die Welt nach der Coronakrise in vielen Aspekten anders aussehen wird und sich in einigen Bereichen voraussichtlich sogar deutlich unterscheiden lässt (dies gilt etwa für die Durchsetzung der Digitalisierung7 in vielen gesellschaftlichen Sektoren 7
Gerade weil der Begriff in letzter Zeit inflationsartig benutzt wird, sei eine Definition vorangestellt: „Digitalisierung heißt also, dass realweltliche Vorgänge von Sensoren
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oder die vermehrte Nutzung der Möglichkeit von zuhause zu arbeiten). Insofern können auch bessere Realisierungschancen, für den in diesem Buch präsentierten Vorschlag für eine Neujustierung der zentralen Steuerungsprinzipien und insbesondere eine neue Vermessung der öffentlichen Infrastrukturen, die in Deutschland besonders stark von organisierten Akteuren der Zivilgesellschaft geprägt sind, gesehen werden. Die Auswirkungen des natürlichen sozialen Großexperiments, welches durch die Coronapandemie ausgelöst wurde, betreffen alle gesellschaftlichen Teilsysteme (vom Gesundheitswesen über den Sport bis hin zur ungewissen Zukunft mancher Wirtschaftsbranchen) und werden zu einer Diskussion über eine Neuausrichtung der grundlegenden Ordnungsprinzipien beitragen. Mit der Pandemie wurde quasi über Nacht ein kollektiver Lernprozess für alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Akteure eingeläutet, dessen Ausgang noch offen ist und maßgeblich auch vom Ausmaß der gesundheitlichen Gefahren und den ökonomischen Folgewirkungen (die auch das soziale Sicherungssystem massiv erschüttern können) beeinflusst. Ganz gleich, ob diese Krise in einigen Jahren als Epochenbruch oder als eine von mehreren Katastrophen charakterisiert wird, rückt sie schon heute neben der solidarischen Hilfsbereitschaft auch die Schattenseiten der gegenwärtigen Gesellschaftsformation ins Licht. Man denke nur an die seit langem unterschätzte Bedeutung des Gesundheits- und Pflegesektors, über dessen schlechte Arbeitsbedingungen seit Jahren debattiert wird, ohne dass es zu grundlegenden Verbesserungen kam oder an die Hundertausenden von oft informell beschäftigten Pflegekräfte aus Osteuropa, die zuvor in der Öffentlichkeit nicht thematisiert wurden (was ebenfalls für die vielen Erntehelfer in der Landwirtschaft oder die Werkvertragsbeschäftigten aus Südosteuropa in der Fleischwirtschaft gilt). Durch die Coronapandemie ist das Fortschrittsnarrativ brüchig geworden und man sieht unmittelbarer die Widersprüche und Pathologien der gegenwärtigen Gesellschaftsformation. Dieser neue Blickwinkel kann durchaus positive Funktionen haben, weil die einseitigen optimistischen Deutungen etwa der Globalisierung zugunsten eines neuen Realismus überwunden werden, allerdings werden dadurch auch systematisch individuelle Enttäuschungen produziert, die im öffenterfasst und in digitale, maschinenlesbare Daten umgewandelt werden. Mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnik werden diese Daten aufbereitet und an Rechner übermittelt, deren Computerprogramme (Algorithmen) die Daten zu Informationen verdichten. Auf diese Weise lassen sich Muster erkennen wie etwa »Person ist bekannt und autorisiert, das Gebäude zu betreten«. Anschließend geschieht mit den Daten dreierlei: Sie werden genutzt, um realweltliche Prozesse automatisch zu steuern, also ohne menschliche Eingriffe“ (Weyer 2019, 13).
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lichen Diskurs leicht in pessimistische oder sogar depressive Stimmungslagen umschlagen. Im Folgenden wird nicht von einem damit verbundenen Epochenbruch ausgegangen, vielmehr wird die Pandemie als Beschleuniger von Prozessen angesehen, die sich bereits im Wandel befinden und nun schneller gesellschaftliche Realität werden. Dies betrifft auch die zentralen Steuerungsressourcen Solidarität, Macht und Geld, die vor dem Hintergrund der Strukturbrüche nun neu austariert werden. Strukturbildende gesellschaftliche Wandlungsprozesse erlangen in Krisenzeiten einen Bedeutungsgewinn und können insbesondere dann Breitenwirkung erzielen, wenn sie gesellschaftliche Megatrends beschleunigen. Dies kann am Beispiel der Digitalisierung exemplifiziert werden, die durch den Druck der Pandemie virtuelle Vergemeinschaftungen, aber auch soziale Distanzen fördert: Hier „verbindet sich ein zivilisationsgeschichtlicher Wandel mit einer Medienrevolution. Der Bedeutungsverlust nahräumlicher Bezüge wird dadurch bedingt und verstärkt, dass sich immer größere Anteile des sozialen Lebens in die Zweitwelt eines entkörperten Zeichenverkehrs auslagern lassen. Was in der Aufklärungszeit der Schriftgebrauch war, ist heute die Digitalisierung“ (Koschorke 2020, 52; vgl. auch Baecker 2018 und Nassehi 2019a). Obwohl die Folgen der so forcierten gesellschaftlichen Strukturbrüche bislang nur ansatzweise erkennbar sind, zeichnet sich ein Wandel der gesellschaftspolitischen Narrative ab. Nach einer Phase der dynamischen Fortschrittsgläubigkeit und vielfältigen Öffnungen in kultureller, sozialer wie ökonomischen Hinsicht, die oft pauschal als Neoliberalismus gekennzeichnet wird, ist nun eine Relativierung zu diagnostizieren. Durch die globale Pandemie geraten Verwerfungen und Widersprüche stärker in den Fokus, bringen einseitige Argumentationslinien ins Wanken und erfordern eine Neujustierung der grundlegenden gesellschaftlichen Steuerungsfaktoren. Die Diagnose einer Neubestimmung impliziert aber nicht, konkrete Politikempfehlungen (Rezepte) aufzulisten, sondern bewegt sich auf der Ebene gesellschaftlicher Modellvorstellungen, die jedoch nicht nur auf wissenschaftliche Diskurse zielen, sondern durchaus auch im Sinne von wissenschaftlicher Politikberatung formuliert werden. In Krisenzeiten, zumal wenn diese mit so weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens verbunden sind, werden die Abhängigkeiten bewusst und können im positiven Fall zu einer Neubewertung der Tätigkeiten, etwa im Gesundheits- und Sozialsektor, führen. Das Gleiche gilt für die derzeit oft angesprochenen zivilgesellschaftlichen Hilfen und Unterstützungsnetzwerke, die durch die kollektiven Gefährdungserfahrungen mobilisiert wurden, was auch in anderen Umbruchzeiten zu beobachten war. Im Bewusstsein der Verletzlichkeit entstehen neue Solidaritäten oder es werden alte revitalisiert, allerdings stellt sich die Frage wie dauerhaft solche Unterstützungsleistungen sind. Wie strukturbildend wirken die
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gemeinsamen Erfahrungen und bekommen sie damit auch mittelfristig einen neuen Stellenwert in der Gesellschaftsarchitektur? Was in der Gefährdungssituation plötzlich an gegenseitiger Hilfe möglich wird, verlängert sich nicht einfach in den Normalzustand – zumal auch die Medien eine Erregungsatmosphäre geschaffen haben, die wieder abflachen wird. Bisherige Krisenerfahrungen legen zwar nahe, dass in Zeiten gemeinsamer Gefährdungen grundlegende Gesellschaftsentwürfe (wie die Etablierung eines universellen Wohlfahrtsstaates) generiert und umgesetzt wurden, allerdings ist dies kein zwangsläufiger Transformationsprozess. Nach einer Eskalation setzt relativ rasch die Phase des Vergessens ein und viele gesellschaftliche Akteure sehnen sich, nach den drastischen Einschnitten in ihr Privatleben, nach einer Rückkehr zur Normalität. Die Realität nach der Coronakrise wird jedoch nicht mehr die alte sein, denn es wurden in der Krise neue Gestaltungsoptionen konkret praktiziert (etwa das dezentrale Arbeiten von zuhause aus oder die Online-Lehre in Schulen und Universitäten), die damit praxistauglich wurden und ihren Status verloren, nur für kleine Minderheiten eine interessante Perspektive zu bieten. Gleiches gilt für manche bürokratischen Regulierungen (etwa in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik), die quasi über Nacht drastisch reduziert wurden, und es sich lohnen würde, zu evaluieren, ob nicht manche der klassischen Vorschriften ohnehin schon länger revisionsbedürftig waren. Neben dem Wiederaufbau der Wirtschaft, die die schwerste Rezession seit Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt und auch dem Arbeitsmarkt einen Schock versetzte (so hat sich in Deutschland die Zahl der Kurzarbeiter im März 2020 gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat vertausendfacht – im April waren sogar gut 10 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit), wird die neue Normalität deshalb einige Signale aus dem Krisenmodus aufnehmen. Der Wiederaufbau könnte bspw. mit der ohnehin anstehenden Energie- und Mobilitätswende und einer stärker integrierten Versorgung verkoppelt werden, um nachhaltiger und vorausschauender zu handeln. Es werden aber wohl nur dort, wo es bereits vor der Krise eine Reformdebatte gab und Innovationspotenziale vorhanden waren, neue Wege real beschritten und das „window of opportunity“ als Weichenstellung genutzt. Insofern könnte man dann von der Krise als Katalysator oder als Ferment für einen gezielten Politikwandel sprechen. Generell werden sich gesellschaftliche Relevanzkoordinaten verschieben und der Blick auf die Bedeutung einer kollektiven Daseinsvorsorge – verbunden mit einer Kultur der Vorsicht und des Miteinanders – ist geschärft worden. Endlich hat der Sozial- und Gesundheitssektor die Anerkennung bekommen systemrelevant zu sein, obgleich er aus beschäftigungs- und sozialpolitischer Sicht schon seit Jahren zu den zentralen gesellschaftlichen Institutionen zählt. Dennoch wurde er stiefmütterlich behandelt und oft betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien unter-
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worfen, deren Unangemessenheit gerade in der Pandemiephase manifest wurde. Dass es nun zu einer Verbesserung der Beschäftigungssituation in diesen Sektoren kommt, sollte eine Lehre aus den existentiellen Gesundheitsbedrohungen sein. Ob dieser konkrete Effekt real wird, muss sich noch zeigen (Einmalzahlungen in der Gesundheitswirtschaft dürften nicht mehr als ein „Tropfen auf den heißen Stein“ sein). Ebenso rücken die Arbeitsbedingungen im Handel oder in der Logistik in das Blickfeld der Öffentlichkeit und es offenbaren sich in einzelnen Sparten oft erhebliche Defizite in der Entlohnung und Qualität der Arbeit. Es wird zu überprüfen sein, wie die Versprechungen auf bessere Beschäftigungsverhältnisse für die im Frühjahr 2020 als „Heldinnen“ und „Helden“ gefeierten Beschäftigten in diesen Sektoren eingelöst werden. Die Frage, ob Verbesserungen der Arbeits- und Lebenssituation von besonders belasteten Arbeitnehmergruppen nur im Krisenmodus Konjunktur haben, stellt sich auch für andere potenzielle soziale Innovationen in verschiedenen Handlungsfeldern.8 So schlummern etwa im Bereich der integrierten Versorgung älterer Menschen mit digitaler Unterstützung schon seit Jahren einige soziale Technologien in der Experimentierphase (prominent etwa technologische Unterstützungssysteme und telemedizinische Anwendungen), die bei der Bewältigung des Virusschocks ihre Alltagstauglichkeit belegen konnten. In einer sozial entschleunigten Zeit, die zudem soziale Distanz zur Eindämmung des Virus Top-Down befahl, konnten digitale Medien eine neue Nähe schaffen. Hier durchkreuzen sich im durchaus innovativen Sinn zwei gegenläufige Muster gesellschaftlicher Programmierung: Die Diffusion digitaler Technologien ermöglicht Kommunikation und Hilfebeziehungen in einer Entschleunigungsphase. Schon hieran ist zu erkennen, welche neuen Dynamiken durch die Krise in Szene gesetzt und über die Alltagskultur zum institutionellen Kernbestand der Gesellschaft werden können. Dramatisch wird uns durch die Coronakrise vor Augen geführt, was Beck bereits in den 1980er Jahren – damals primär mit Blick auf die Atomkatastrophe von Tschernobyl – über die Gefahren der technischen Hochzivilisation schrieb: „Diese sind nicht eingrenzbar, weder räumlich noch zeitlich noch sozial; übergreifen Nationalstaaten also ebenso wie Klassen und militärische Bündnissysteme und stellen die Institutionen ihrer Kontrolle aufgrund ihres Zuschnitts vor völlig neuartige Herausforderungen“ (ders. 1988, 9). Zur Eindämmung der Gefahrensituation sind unmittelbare staatliche Eingriffe erforderlich und deshalb schlägt in solchen Situationen – wie auch in Deutschland im Frühjahr 2020 – die Stunde der Exekutive und alles gehorcht dem Primat der Politik bzw. der medizinischen Ex8
Vgl. zum Begriff und den unterschiedlichen Deutungen zusammenfassend Howaldt/ Schwarz 2019.
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perten. Es ist schon erwähnenswert, wie auch in liberalen Demokratien den Aufforderungen staatlicher Autoritäten zur Eindämmung der Pandemie so strikt Folge geleistet wurde, erklärbar wohl nur darüber, dass scheinbar keine Alternativen zu den drastischen Abwehrmaßnahmen zur Verfügung standen. Die Frage nach der demokratischen Legitimation solcher Einschnitte in Grundrechte wurde von der Furcht vor einer Ausweitung der Katastrophe in den Hintergrund gedrängt. Viele Länder sind unvermutet und überraschend in ein Gesellschaftsexperiment geraten, dessen Reichweite in Deutschland umfassender sein dürfte als z. B. die Wiedervereinigung 1990. Schon jetzt werden deshalb, mit Blick auf die ökonomische Rezession, Vergleiche zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg angestellt. Es ist jedoch derzeit noch nicht absehbar, wie dieser Normalitätsbruch die zentralen gesellschaftlichen Ordnungsmuster verändern wird. Systemtheoretiker diagnostizieren den Coronakrisenmodus als eine historisch einzigartige Phase, der mit einem temporären Bruch der gesellschaftlichen Ordnung der Funktionssysteme, mit einer Entdifferenzierung, einhergeht. Dieser Ausnahmezustand wird voraussichtlich nicht lange anhalten, allerdings ist es aus dieser Sicht nicht vorsehbar, wo sich neue Gestaltungsoptionen ergeben. „Alles könnte auch anders sein – und das ist für alle Beteiligten Risiko und Chance. Einen solchen Neustart aller Funktionssysteme hat es in der Geschichte der Moderne (Ausnahme sind vielleicht die beiden Weltkriege) so noch nicht gegeben. Es wird Strukturbrüche geben, aber wir wissen nicht welche“ (Stichweh 2020). Prognosen sind schwer zu begründen, gleichwohl wird nach dieser Pandemie die Gesellschaftsformation eine andere sein, was sich neben der Wirkungsmächtigkeit des Virus auf die individuelle Gesundheit und das gesellschaftliche Zusammenleben schon allein durch die Schockwirkungen auf dem Arbeitsmarkt und in verschiedenen Wirtschaftsbranchen abzeichnet. Aber wie auch nach den genannten Umbrüchen bleibt eine Grundarchitektur der Gesellschaft bestehen, allerdings werden sich Neujustierungen zwischen den Funktionssystemen ergeben, die in der Phase des Katastrophenmanagements ihre Praxistauglichkeit belegt haben. Dabei sollte man allerdings mit pathetischen Formulierungen vorsichtig umgehen, etwa in Bezug zum Durchbruch der Solidarität als gesellschaftliche Gestaltungsmaxime – eher sind neue Kombinationen von Steuerungsprinzipien angesagt. „Zwar hat das Corona-Virus erstaunliche Praktiken des Füreinandersorgens und des Aufeinanderachtens freigelegt. Man ist vorsichtig, sorgsam, auch ein bisschen tastend. Aber gleichzeitig ist da auch der Gedanke: Es braucht, um füreinander da sein zu können, auch eine gemeinsame Stimme, und das ist die Stimme des Staates. Es wächst das Bedürfnis nach einem Staat, der nicht diktatorisch oder paternalistisch auftritt, sondern den Geist dieser Solidarität bekräftigt. Das ist ein ganz wichtiger Impuls für die Zukunft“ (Bude 2020).
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An dieser Stelle kann nicht mit empirisch gesicherten Daten auf die Folgewirkungen der Katastrophen der letzten Jahre für das Sozialverhalten der Menschen eingegangen werden, aber eine katastrophensoziologische Schlussfolgerung aus der Hurrikan Katrina–Flut in New Orleans im Jahr 2005 sei zitiert, weil diese Folgewirkungen in ähnlicher Form auch bei anderen Ereignissen solcher Art auftraten: „Man kann einmal mehr Gemeinschaftsgefühle unter Beweis stellen, man ist aber plötzlich auch mit Hässlichkeiten konfrontiert, an die man nicht erinnert werden will. Ereignisse, die als Katastrophen erlebt werden, bringen das Beste und das Schlechteste einer Gesellschaft zum Vorschein; sie haben die unangenehme Eigenschaft, jenseits des unmittelbaren Schadens an Gütern und Personen, den sie anrichten, „sekundäre“ Wirbelstürme in der geistigen Befindlichkeit anzufachen. Es werden Prozesse ausgelöst, in denen versucht wird, die „Normalität“ wiederherzustellen oder zu einer Korrektur der Normalitätsbeschreibungen zu kommen. In der Katastrophe ist man mit sich selbst konfrontiert. Das gilt für einzelne Personen, wenn sie in das Geschehen verwickelt sind. Es gilt aber auch für ganze Gesellschaften. Katastrophen sind Knotenpunkte einer gesellschaftlichen Entwicklung, an denen sichtbar wird, was sonst verborgen bleibt. Es sind jene Momente, an denen man versuchen kann, Prozesse zu entziffern, die in einer Gesellschaft vor sich gehen“ (Prisching 2006, 159f.). Für eine solche Analyse der gesellschaftlichen Folgewirkungen der Coronapandemie ist es im Frühsommer 2020 zu früh. Hier kann nur der Versuch unternommen werden, auf Basis der Erkenntnisse aus den letzten Jahren zur Gestaltung und Steuerung, erste Erfahrungen mit der politisch-gesellschaftlichen Verarbeitung der Krise mit in die Argumentation einzubauen. Denn gerade wenn man Krisenzeiten als Knotenpunkte begreift, bilden sich hier neue Verschränkungen von Ordnungsprinzipien und Priorisierungen. Diese Relevanzverschiebungen zeichnen sich bereits ab, ablesbar etwa in der Beurteilung der Rolle der Zivilgesellschaft, die zwar in den letzten Jahren in politischen Festreden und auch in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen gewürdigt wurde, deren Solidaritätspotentiale aber nun für alle in verschiedenen Formen spontaner Hilfeinitiativen in der Nachbarschaft real sichtbar wurden. Wenn auch das Schattendasein vorüber ist, heißt dies noch lange nicht, dass dieser besondere Status, der auch nicht verabsolutiert oder romantisiert werden darf, nach dem Krisenmodus überdauert. Krisen können Lernprozesse begünstigen, tun dies aber nicht zwangsläufig. Dies gilt sowohl für die Anerkennung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten als auch der Neubestimmung der immer komplexer und enger gewordenen globalen Wirtschaftsvernetzungen. Diese wurden auf strikte Effizienz getrimmt, priorisierten private statt kollektive Nutzensteigerungen und sind prädestiniert, bei Störungen schnell zu kollabieren. Solch ein kurzfristiges betriebswirtschaftliches
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Effizienzparadigma wurde aber nicht nur in der privaten Wirtschaft als Leitbild gefeiert, sondern auch auf öffentliche Dienstleistungen übertragen. Dabei scheinen viele verantwortliche Akteure vergessen zu haben, dass Dienstleistungen (wie sie die Feuerwehr oder auch das Gesundheitssystem erbringt) flexibel nachgefragt werden und deshalb grundsätzlich gewisse Überkapazitäten vorhalten müssen.9 Diese Reservekapazitäten, die eigentlich zum Normalzustand gehören sollten, weisen manche Gesundheitseinrichtungen auch in Deutschland unter dem Diktat kurzfristigen Effizienzdenkens kaum noch auf – ganz zu schweigen von anderen europäischen Ländern (wie bspw. Italien und Spanien) oder den USA, die angesichts der Coronapandemie die gesundheitliche Sicherung nicht mehr ausreichend garantieren konnten. Wie unter einem Brennglas werden in einer Krise gesellschaftliche Strukturen und Konfliktlagen und somit die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaftsformation offengelegt. Deshalb werden die in diesem Buch behandelten Fragen zur Umsteuerung und Neuausrichtung der Funktionssysteme auch anhand zentraler Krisenbewältigungsformen (z. B. die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Netzwerke oder generell der sozialen Infrastruktur) diskutiert. Ohnehin vorhandene Suchprozesse nach einer gemeinwohlverträglichen Lösung verschiedener Herausforderungen – sei es die Klima- und Energiekrise, die demografischen Umbrüche oder der Mobilitätswandel – werden nicht obsolet, sondern könnten in der Krisenbewältigung sogar einen neuen Stellenwert bekommen. Von welchen Voraussetzungen es abhängt, ob ein Anstoß für eine nachhaltige demokratische Politik gelingt, wird sich erst noch zeigen. 9
Die in der Arbeitssoziologie seit Jahrzehnten anerkannte These wurde nicht in die Alltagspraxis von Politik und Verwaltung transferiert, obwohl sie sehr einleuchtend ist, was die in der jetzigen Pandemie aufgekommenen Debatten über die Ausstattung von Krankenhäusern und anderen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen als neues Phänomen relativiert. Anstatt nur mit betriebswirtschaftlichem Blick soziale und gesundheitsbezogene Dienste zu betrachten, haben soziologische Argumentationen auch für Krisenzeiten besser nutzbares Wissen generiert. So wurde hervorgehoben, „dass der Auslastungsgrad wegen mangelnder Lager- und Transportfähigkeit von Dienstleistungen einerseits, wegen ihrer gesellschaftlichen Funktion der Absorption ungewisser Bedrohungslagen und Störungen immer problematisch ist; sie müssen erzeugt werden, wann und wo sie in Anspruch genommen werden; aber wann und wo sie in Anspruch genommen werden, ist nicht kalkulierbar und unterliegt Schwankungen und Unstetigkeiten, die nur in engen Grenzen nach dem Vorbild jener organisatorischen Schematisierung aufgefangen werden können, die Voraussetzung industrieller Produktionsprozesse ist. Daraus erklärt sich die strukturelle Notwendigkeit der Bereithaltung von Überkapazitäten der Dienstleistungsproduktion“ (Berger/Offe 2018, 236).
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Das Virus hat Deutschland und auch andere westliche Länder unvorbereitet getroffen, wenngleich bereits nach der Finanzkrise explizit auf die Ausbreitung weiterer Krisen, die einen hohen Leidensdruck auslösen und große Schäden hinterlassen können, und auch auf die Unterschiede zwischen der chinesischen und demokratischen Steuerungsvarianten, hingewiesen wurde. Demnach fehlen Demokratien „Strategiefähigkeit und eine gesteigerte und auf die Zukunft ausgerichtete Lernfähigkeit. Was die Demokratie zusätzlich zu ihren etablierten Qualitäten braucht, ist ein strategischer Umgang mit künftigen Krisen. Dass die Krisen kommen werden, steht fest. Ob es nun demographische Entwicklungen sind, Altersvorsorge, Pflege, Pensionssysteme, Staatsschulden, Ökologie, Infrastrukturen oder Netzsicherheit, Pandemien, Klimawandel, Migration, Kriege um Wasser und Öl, die Frage ist in allen Fällen nicht mehr, ob, sondern wann und in welcher Form die Krise kommt“ (Willke 2014, 151).10 Allerdings wurden solche Hinweise sowohl auf die Erwartbarkeit globaler Krisen (auch einer Pandemie, wie sie 2020 mit dem Coronavirus grassiert) vom politisch-administrativen System nicht aufgegriffen. Eher wird die These bestätigt, dass die Politik erst bei einem massiven Ausbruch einer Krise reagiert, dann zwar Führungsstärke beweisen will (und dies auch bei der Bekämpfung der Pandemie in einem bislang nicht gekannten Ausmaß praktiziert), insgesamt aber nicht den Eindruck vermittelt, über das konkrete Management hinaus eine zukunftsfähige Bewältigungsstrategie (manche sprechen auch von Resilienz11) zu haben.
10 Im Deutschen Bundestag wurde bereits 2012 über die Gefahren und mögliche Ausbreitung eines Coronavirus nach Vorlage einer Studie u. a. des Robert Koch-Instituts berichtet (vgl. Bundestagsdrucksache 17/12051 v. 3.1. 2013: Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund. Pandemie durch Virus „Modi-SARS“, S. 5ff. und 57ff.). Schlussfolgerungen aus dem Szenario (z. B. Vorsorgemaßnahmen für Krankenhäuser) wurden von politischer Seite scheinbar nicht gezogen, obwohl die heftigen Gefährdungspotenziale aufgelistet wurden. 11 Resilienz ist inzwischen auch in sozialwissenschaftlichen Diskursen zu einem Modebegriff geworden (obwohl er ursprünglich aus der Anthropologie und Kinderpsychologie stammt), der vielfach verwandt wird, was nicht unbedingt seiner analytischen Klarheit dient. Im Kern geht es um die Widerstands- und Überlebensfähigkeit von Individuen und sozialen Gruppen in gesellschaftlichen Krisensituationen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die derzeitige Karriere des Resilienzbegriffs, der in den meisten Argumentationen in Richtung einer sozialverträglichen, ökologischen und nachhaltigen Handlungsstrategie tendiert. Er wird aber auch kritisch gesehen: „Je mehr Resilienz die Individuen entwickeln, desto geringer wird der Bedarf an kollektivem Handeln und institutionellem Wandel zur Oberwindung der durch die befreiten Marktkräfte hervorgerufenen Unsicherheit“ (Streeck 2019a, 32).
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Dies erklärt sich durch die Trägheit politischer Handlungsroutinen, den Hoffnungen der politischen Akteure vor dem Hintergrund einer komplexen gewordenen Welt von Katastrophen verschont zu bleiben, aber auch über den Erfolg des Modells Deutschland. Nach Überwindung der Finanzkrise 2008/2009 setzte eine beispiellose ökonomische Prosperitätsphase ein, die auf dem Arbeitsmarkt für einen Aufbau an Beschäftigung sorgte und die Arbeitslosigkeit zurückdrängte. Zwar konnte die Zahl der Langzeitarbeitslosen und auch die Segmentierungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt kaum reduziert werden, dennoch waren eher die Fachkräftedefizite das beherrschende Thema der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik. Bis zum Frühjahr 2020 wurde so in Diagnosen zur gegenwärtigen Gesellschaftsformation einerseits eine anhaltende positive wirtschaftliche Entwicklung mit einer historisch niedrigen Arbeitslosenquote (Anfang 2020 lag sie bundesweit bei gut 5 %) und eine weiter gewachsene Erwerbsbeteiligung konstatiert. Gleichzeitig waren trotz der ökonomischen Prosperität soziopolitische Verunsicherungen, gepaart mit einem hohen Maß an subjektiver Unzufriedenheit mit den politischen Eliten unübersehbar und manifestierten sich in Protestaktionen und in der Wahl rechtspopulistischer Parteien. Den traditionellen politischen Organisationen wurde vorgeworfen, inhaltlich und organisatorisch in vielen gesellschaftlichen Regelungsfeldern ausgehöhlt zu sein; manche Beobachter attestierten schon den „Herbst“ der Volksparteien. Diese Einschätzungen wurden durch die Krise überholt, denn gerade die führenden Regierungsparteien (insbesondere die CDU/ CSU) haben sich profiliert und Vertrauen der Bevölkerung zurückgewonnen. Deshalb war im Frühjahr 2020 von diesem Unmut gegenüber den politischen Eliten und Protesten kaum etwas zu spüren, was nicht heißt, dass das Misstrauen nicht wiederkehren kann (wenn etwa die Folgen des „Lockdowns“ wie hohe Arbeitslosigkeit und Existenzgefährdungen bei einzelnen Gruppen in Enttäuschung umschlagen). Dies heißt nicht, die vor der radikalen Zäsur feststellbaren Unzufriedenheitspotenziale und sozioökonomischen Zersplitterungen wären verschwunden. So sind etwa die sozialen Folgen ungleich verteilt und verschärfen für manche Gruppen sowohl die Einkommenssituation als auch soziale Ausgrenzungen. Auch wenn sich die Politik bemüht, die wirtschaftlichen Auswirkungen abzufedern, werden die klassischen Problemgruppen des Arbeitsmarktes (wie Alleinerziehende, Personen mit geringen finanziellen Mitteln und Geringverdiener) massiver getroffen und es kommen neue „Seuchenverlierer“ hinzu (etwa Soloselbstständige oder Kulturschaffende und auch ganze Wirtschaftsbranchen wie die Gastronomie oder der Tourismus). Bei einer Verlängerung des Ausnahmezustandes entstehen hier sozioökonomische Verwerfungen und soziale Disparitäten, gepaart mit subjektiver Erschöpfung, die auch ein Nährboden für populistische Strömungen sein können.
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In den akuten Phasen der Symptombekämpfung waren die populistischen Proteste nicht zu vernehmen, auch weil sie konzeptionell nichts zu bieten hatten, allerdings werden diese Konflikte wohl nach dem Schockzustand wieder aufbrechen. Die Verdrängung der Konfliktdimension liegt neben den existentiellen Gesundheitsbedrohungen in der Rhetorik der staatlichen Krisenbekämpfung begründet. Wenn explizit vom Krieg gegen das Virus gesprochen wird12, wird damit indirekt eine nationale Allianz suggeriert, in der es schwer fällt, alternative Politikoptionen zu formulieren. Durch die Krisenbekämpfung haben der Staat und die Akteure der Zivilgesellschaft gegenüber einer jahrelang verkündeten Marktideologie eine neue Wertschätzung erfahren. „Koordiniertes kollektives Handeln, das auf problemorientierter Verständigung basiert und sich in zweckhaft eingerichteten Institutionen kristallisiert, (ist) während der letzten drei Jahrzehnte immer entschiedener diskreditiert worden. Viele der für ein solches Handeln zuständigen Orte sind geschwächt oder sogar gänzlich abgebaut worden“ (Wagner 2020, 10). Noch ist allerdings die Gesellschaft im Schockzustand und politische Führung ist in solchen Situationen immer gefragt, was aber nicht bedeutet, dass diese Wertschätzung längere Zeit anhält. Derzeit gibt es zwar keine Befürworter einer Agenda des freien Marktes, eher dürfte sich sowohl in der Bevölkerung als auch bei den politischen Eliten nach der Krise dauerhaft die Aufgabe stellen, „das ganze Programm einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes auf den Prüfstand (zu) stellen“ (Habermas 2008, 53). Denn die rasche Ausbreitung des Virus mit all den negativen Signalwirkungen für die Realwirtschaft und das öffentliche Leben (das einer geschlossenen Gesellschaft entsprach) hat mit einer nicht vorhersehbaren Rigorosität auch westlichen Ländern gelehrt, wie zerbrechlich der globale und digitalisierte Kapitalismus ist und dass dieser ohne staatliche Regulierungen und eine ausgebaute öffentliche Infrastruktur nicht überleben kann. Gut zehn Jahre nach dem Finanzcrash ist erneut das Vertrauen in das Wirtschaftssystem nachhaltig erschüttert und es ist auf theoretisch-konzeptioneller Ebene festzuhalten, dass das Marktparadigma und die Logik der Gewinnmaximierung und der damit ausgelöste Ökonomisierungsdruck als zentrale Leitbilder gescheitert sind. Sie mögen für wichtige Subsysteme wie die Wirtschaft 12 Dieses Narrativ wird nicht nur in den USA gepflegt, sondern auch in klassischen westlichen Demokratien wie Frankreich, wenn der Agrarminister von einer „Schattenarmee“ spricht, um Erntehelfer für die Landwirtschaft zu rekrutieren, nachdem die Grenzen für saisonale Erntehelfer aus Nordafrika und Osteuropa geschlossen wurden. Mit Hilfe einer Plattform sollen sich die vom Coronavirus Ausgeschlossenen „der großen Armee der französischen Landwirtschaft anschließen“, was wohl auch eine breite Resonanz auslöste (vgl. Klimm/Pantel 2020).
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durchaus sinnvolle Leitplanken und Orientierungsmuster sein, eine Gesellschaft kann aber nicht als Ansammlung von Märkten oder primär in Kategorien der Eigeninteressen gedacht werden. „Es ist die breit ausgreifende Umstellung der gesellschaftlichen Ordnung von Vertrauen auf Misstrauen. Sie geht einher mit der Ersetzung von Hierarchien durch Märkte, von öffentlicher Verantwortung durch private Angebote, von professioneller Ethik und handwerklicher Ehre durch den Wettbewerb um Kunden, von Bürokratie durch New Public Management, von Abteilungen in Betrieben durch Profitcenter, von Angestellten durch Unternehmer im Unternehmen. All diese gesellschaftlichen Umgestaltungen ersetzen gewachsenes Vertrauen, fest umrissene Aufgaben und Verantwortungsverhältnisse durch das grundsätzliche Misstrauen, dass öffentliche Instanzen nicht wissen, welche Maßnahmen das Gemeinwohl fördern, oder dass es gar überhaupt kein Gemeinwohl gibt, sondern immer nur viele einzelne Privatinteressen“ (Münch 2009, 20f.). Wenn auch entschlossenes politisches Handeln in finanziellen Dimensionen, die noch vor kurzem als irreal belächelt wurden, zu konstatieren ist, können die bereitgestellten Gelder, die Schulschließungen, das Verbot größerer Veranstaltungen, die Verpflichtung auf umfassende Hygiene und andere Maßnahmen nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solche staatliche Kontrolle dauerhaft nicht durchzuhalten ist. Staatsrechtler haben bereits darauf hingewiesen, dass das Mitte März 2020 praktizierte Krisenmanagement des Staates in „durchaus dramatischer Weise ergänzungsbedürftig ist. […] Gesellschaftliche Vereinzelung kann keine Dauerstrategie über Wochen und Monate sein, und staatliche Hilfsversprechen leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren können. Es sollte nicht der merkwürdigen Vorstellung Vorschub geleistet werden, man könne in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft auf längere Zeit „systemrelevante“ von sonstigen Tätigkeiten unterscheiden, und der Staat gewährleiste mit seiner Macht (sprich: Kreditwürdigkeit) die Arbeitswelt. Es ist doch andersherum: Nur in dem die über große Anzahl von Menschen jeden Tag ihren Beitrag leistet, werden Steuern und Beiträge erwirtschaftet, die den Staat in die Lage versetzen, überhaupt irgendetwas zu tun, seine Beamten zu besolden, Renten auszuzahlen, Hilfsbedürftige zu alimentieren, Zuwendungen für die Wirtschaft zu versprechen“ (Wißmann 2020). Der Staat kann zwar Disziplinierungen anordnen und im wirtschaftlichen Bereich Hilfen für alle Branchen auflegen (bspw. Kreditprogramme, Steuerstundungen, unbürokratische Hilfen für Kleinbetriebe und Soloselbstständige etc.), allerdings ist er als Steuerstaat auf eine funktionierende Wirtschaft systemisch angewiesen. Die Umsatzeinbußen vieler Branchen können nur etwas gemildert werden, aber der Staat kann weder Insolvenzen in größerem Maße verhindern noch Arbeitsplätze in größerem Umfang schaffen oder die globalen Wertschöpfungsketten neu ordnen. Die nun massiv hervorgetretene Fragilität der
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Lieferketten insbesondere in existentiellen Fragen der Daseinsvorsorge (wie die Versorgung mit Medikamenten) hat öffentliche Diskussionen über die Reichweite und Sinnhaftigkeit der Globalisierung ausgelöst, die in den nächsten Jahren auf der politischen Bühne ausgetragen werden. Bei diesen Debatten um die nationale Versorgungssicherheit ist jedoch vor ideologischen Diskussionen und pauschalen Urteilen über die globalen Wirtschaftsverflechtungen zu warnen. Sicher ist aber, dass die globale Just-in-Time-Wertschöpfung neu ausjustiert wird und die regionale Produktion für gewisse Produkte eine Renaissance erleben wird. Insbesondere gilt dies für Güter, die in der Daseinsvorsorge von großer Bedeutung sind wie u. a. Medikamente und medizinische Basisausstattungen. Eine neue, nicht mehr so eng getaktete Verknüpfung von globaler und lokaler Produktion wird sich ausbreiten. Neue Technologien (bspw. der 3D-Druck) werden diesen Trend zur Glokalisierung bekräftigen. Eine solche Neuformierung berührt nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungsnetze, sondern wird sich nach der Coronakrise auf die gesamte Gesellschaft und das staatliche Handeln beziehen. Die tiefgehenden und nachhaltig erfahrenen Kontrollverluste bewirken einen Reset der gesellschaftlichen Funktionsbereiche und deren Wertigkeiten. In diesem Buch geht es um eine solche Neujustierung der gesellschaftlichen Ordnungs- und Steuerungsprinzipien. Gesellschaftsgestaltung wird nicht mehr Top-Down erfolgen, sondern sich stärker auf die Eigenlogiken und Ressourcen der gesellschaftlichen Funktionssysteme beziehen. Vor diesem Hintergrund bieten sich Gelegenheitsstrukturen, auch um die Problemlösungskompetenzen demokratischer Steuerung zu erhöhen. Die im Weiteren entwickelte strategische Linie der Gesellschaftsgestaltung zielt auf die Selbstorganisationskräfte der Subsysteme und setzt auf eine Umsteuerung mit besonderem Blick auf zivilgesellschaftliche Organisationsformen, die nicht nur die Basis sozialer Infrastruktur repräsentieren, sondern in ihren Non-Profit-Organisationen derzeit etwa 3,7 Millionen Beschäftigte haben (vgl. Adloff/Busse 2020). Bevor aber die Verschiebungen und Neujustierungen zwischen den verschiedenen Steuerungsformen und der Aufbau neuer Kooperationskulturen angesprochen werden, muss zunächst ein Blick auf die bisherigen Erfahrungen mit der Seuchenkatastrophe gerichtet werden. Aus soziologischer Sicht ist es spannend zu beobachten, wie Solidarität, Familie, Nachbarschaft und Freunde angesichts der Krise nun als gesellschaftliche Ordnungsmuster erheblich an Gewicht gewonnen haben. „Stay at Home“ ist die zentrale Devise, wobei es allerdings schwerfällt, Solidarität zu praktizieren, wenn Sozialkontakte auf das Notwendigste beschränkt bleiben sollen, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Trotz dieser Restriktionen haben sich aber vielfältige Initiativen gebildet, die Älteren und Vorerkrankten konkret helfen und
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bspw. Einkäufe erledigen oder Botengänge übernehmen. Derartige Solidaritätspraktiken sind in Katastrophenzeiten immer wieder zu beobachten, allerdings werden sie durch den spezifischen Charakter des Coronavirus unter erschwerten Bedingungen realisiert. „Bei einer Epidemie ist das anders: Einer hat vor dem anderen Angst. Solidarisches Handeln muss diese Angst erst einmal überwinden, bevor es wirksam werden kann. In solchen Situationen sind Menschen extrem anfällig dafür, allein auf das eigene Überleben zu schauen. Sündenböcke werden gesucht, um Schuldige für die Katastrophe zu finden“ (Neckel 2020). Viele der in der Coronakrise spontan entstandenen sozialen Netzwerke organisieren sich über das Internet und agieren auf Plattformen.13 Diese Solidarressourcen der Zivilgesellschaft helfen einige der Einschränkungen, die mit der Pandemie verbunden sind, besser zu bewältigen. Auch wenn es bei der Bekämpfung der Pandemie wichtig ist, soziale Kontakte möglichst gering zu halten, rückt dennoch das soziale Miteinander im Sozialraum in den Fokus. Deshalb kommt es darauf an, Potenziale und Grenzen der nachbarschaftlichen Hilfen zu erkennen und Handlungsempfehlungen für die relevanten Akteure sowie die Bevölkerung abzuleiten, wie sie durch die Nutzung der vorhandenen Unterstützungspotenziale sowohl die Situation betroffener Personen verbessern als auch die öffentlichen Versorgungsstrukturen entlasten können. Über solche zivilgesellschaftlichen Organisationsformen wird nicht nur der unmittelbare soziale Zusammenhalt gefördert, sondern diese Solidaritäten sollen schon für zukünftige Krisen Resilienzfähigkeiten einüben. „Diese Solidarität jetzt einzufordern und einzuüben, wäre doppelt wichtig: einmal für den unmittelbaren Zusammenhalt in der aktuellen Krise, zum anderen aber auch, um uns für die kommenden Krisen zu rüsten. Es wäre ein erster Schritt in eine resilientere Gesellschaft, die gelernt hat, in Notlagen zusammenzuhalten“ (Adloff/Busse 2020; vgl. auch Rosol et al. 2020). Unabhängig davon, inwieweit und in welchen Teilbereichen zivilgesellschaftliche Organisationen als Keimzellen einer sozialökologischen Transformation gelten können, fungiert Solidarität über den Krisenmodus hinaus als ein zentrales gesellschaftliches Ordnungsprinzip, das sich von staatlicher Hierarchie und dem Markt als Steuerungsmedien absetzt. „Dort, wo die Zwanghaftigkeit von Macht, die kalte Vertragsförmigkeit des Marktes, die Gefühlssteigerung der Liebe, die gütige Herabneigung einseitigen Helfens nicht hingelangen oder nicht mehr ak13 Und auch die offizielle Politik hat die Ressourcen der digitalen Hilfenetzwerke auf lokaler Ebene erkannt und unterstützt sie. So hat bspw. der Ministerpräsident von Niedersachsen (Stephan Weil) explizit auf den Hashtag #NachbarschaftsChallenge hingewiesen. Aber auch weitere diverse Social-Media-Initiativen haben sich spontan gegründet und auch die traditionellen Sozialorganisationen bieten Hilfe für die Risikogruppen an.
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zeptiert werden und ihre Verbindlichkeit verlieren, findet Solidarität ihren Ort, als eine Binde- und Regelungskraft eigener Art: gefühlvoller als Verträge, aber nüchterner als Liebe; nicht in uneigennütziger Caritas sich verströmend, sondern Gegenseitigkeit des Beistandes zumindest für eine unbestimmte Zeit annehmend; beseelt vom Gedanken einer irgendwie verstandenen Gleichheit zwischen Gebern und Empfängern, trotz Differenzen zwischen ihnen und ungleicher Notlage; aus freien Stücken zustande gekommen und wieder auflösbar“ (Hondrich/Koch-Arzberger 1992, 114).14 Die mit der Coronapandemie neu aufgeflammte Debatte um die Solidarität – oder konkreter um die zivilgesellschaftlichen Netzwerke in der Nachbarschaft – kann auch zum Anlass genommen werden, über die aktuellen Sorgegemeinschaften hinaus nach der Rolle und Funktion der organisierten Akteure der Zivilgesellschaft als Steuerungsform sozialer Beziehungen in modernen Gesellschaften zu reflektieren. Die mit den abrupten und in der Größenordnung noch nie dagewesenen Unterbrechungen des öffentlichen Lebens verbundene Entschleunigung hat viele Menschen auf ihr nahes Lebensumfeld und wechselseitige Sozialbeziehungen zwangsläufig zurückverwiesen. Dieser Rückzug aus dem öffentlichen Raum löst bei einigen Menschen, die ohnehin von Vereinsamung bedroht sind, Ängste aus oder verstärkt diese. Bei anderen führt die ungewohnte Situation entleerter öffentlicher Räume zu einer gereizten Stimmung. Alle spüren den sozialen Kitt, der letztlich Gesellschaften zusammenhält, aber ohne sozialstaatliche Sicherungen, die als Formen institutionalisierter Solidarität zu verstehen sind, auch nicht zu begreifen ist. Aus der (Re)vitalisierung der Solidarität folgt aber nicht zwangsläufig die Abwesenheit individualistischer Handlungsstrategien, wie sie sich auch in der Coronakrise etwa durch Hamsterkäufe oder in Feierlichkeiten trotz hoher Ansteckungsgefahren äußerten. Egoistische Verhaltensweisen in Notsituationen sind nicht überraschend, zumal kurzfristiges Effizienzdenken in den letzten Jahrzehnten 14 Dallinger arbeitet aus den verschiedenen sozialtheoretischen Ansätzen einen gemeinsamen Bedeutungskern für Solidarität heraus: „die Verbundenheit trotz Vielheit, der Zusammenhang des Differenten, die Kohäsion von Teilen zu einem Ganzen oder die Bindung zwischen Individuen. Diesen Problemkern, die wechselseitige Verpflichtung zwischen Gesamtheit und Einzelnem, ist in der etymologischen Herkunft des Wortes verankert. Im römischen Recht bezeichnete ‚solidus‘ die Haftungspflicht einer Gruppe für einzelne Mitschuldner und damit das wechselseitige Einstehen der Gruppe für ihre Mitglieder, die sogenannte Solidarhaftung bzw. Solidarobligation. Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts löste sich der Begriff aus dem schuldrechtlichen Kontext und wurde verallgemeinert in breiteren Diskursen aufgegriffen“ (dies. 2009, 23; vgl. hierzu auch Große Kracht 2017, bes. 337ff.).
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sowohl als Muster gesellschaftlicher Beziehungen als auch in der Wirtschaft und in weiteren Funktionssystemen wie der Bildung als Leitbild propagiert wurde. Vor diesem Hintergrund ist eher hervorzuheben, wie solidarisch die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf den Schutz der Älteren und Vorerkrankten agierte und umfassende Einschränkungen hinnahm. Die durch die Coronakrise ausgelöste Welle solidarischen Handelns war auch teilweise schon bei der Flüchtlingskrise sichtbar, aufgrund des Ausnahmezustandes und der Stilllegung weiter Teile des öffentlichen Lebens hat sie sich erweitert. Gleichwohl bringen Krisenzeiten nicht nur eine solidarische Praxis mit sich, sondern lassen auch egoistisches Handeln bei einigen Gruppen anwachsen. Die Zivilgesellschaft ist eben in sich heterogen, weist Ambivalenzen auf und „besteht aus den vielstimmigen Versuchen in Vereinen, Netzwerken, Verbänden, Nachbarschaften, Gärten und Freundschaften Formen der Verbundenheit, der Verlässlichkeit und der Vergegenwärtigung zu entdecken“ (Bude 2019, 141). Sie kann deshalb als soziale Integrationsinstanz begriffen werden, dessen Wert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insbesondere bei Krisen und Katastrophen, wie im Falle der Coronakrise, explizit zum Vorschein kommt. Das neue Interesse am solidarischen Handeln birgt aber auch Risiken. Einmal aus dem Schatten des Expertendiskurses herausgetreten, steht es nun in der Gefahr, als kostengünstiger Lückenbüßer angesichts eines Markt- und Staatsversagens instrumentalisiert zu werden. Dazu gehört die Überschätzung der Potenziale sozialen Engagements, das in den letzten Jahrzehnten zwar angestiegen ist, gleichwohl aber eine öffentliche Infrastruktur und damit eine staatliche Daseinsvorsorge benötigt. Dies ist im Krisenmodus auch den staatlichen Akteuren bewusst, die an die Solidarität appellieren, um den tiefgehenden Einschränkungen und Verboten zu begegnen.15 Appelle an die Solidarität und die Potentiale von gesellschaftlichen Assoziationen16 sind aber nur dann wirkungsvoll, wenn sie die Rahmenbedingungen und die institutionellen Arrangements, berücksichtigen, in denen die Individuen agieren. Moralische Motive der Solidarität und Gerechtigkeit formieren sich zu kollektivem Handeln insbesondere dann, wenn die Handlungssituation einen unmittelbaren Charakter trägt und die Transaktionskosten niedrig sind (etwa in Katastrophen15 Bundeskanzlerin Merkel hat dies nachdrücklich bei ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 betont: „Man hört jetzt von wunderbaren Beispielen von Nachbarschaftshilfe für die Älteren, die nicht selbst zum Einkaufen gehen können. Ich bin sicher, da geht noch viel mehr und wir werden als Gemeinschaft zeigen, dass wir einander nicht allein lassen.“ 16 Unter Assoziationsverhältnissen sollen „institutionell überformte soziale Gemeinsamkeiten und Differenzen und die Verfahren der Konfliktregulierung zwischen sozialen Kategorien“ (Offe 1989, 755) verstanden werden.
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zeiten). „Praktisch folgenreiche Motive der Hilfsbereitschaft dürften z.B. dort wirkungsvoller aktiviert werden, wo sie sowohl in direkter Konfrontation mit konkreten Bedürftigkeiten anderer Menschen wie im Kontext der sichtbar praktizierten Hilfsbereitschaft Dritter abgerufen wird, als dort, wo die Vermittlung zwischen Helfer und Bedürfnis durch rechtliche, bürokratische, professionelle oder wohlfahrtsverbandliche Prozeduren zustande gebracht wird“ (Offe 1989, 766). In diesem Buch geht es nicht primär um kurzfristige, oft reaktive Hilfen, sondern um die grundlegende Anerkennung der Zivilgesellschaft als soziale Praxis, die gegenüber dem Markt und dem Staat eigene Handlungsressourcen mobilisiert. Präzise hat dies Habermas formuliert: „Moderne Gesellschaften verfügen über Ressourcen, aus denen sie ihren Bedarf an Steuerungsleistungen befriedigen können: Geld, Macht und Solidarität. Deren Einflusssphären müssten in eine neue Balance gebracht werden. Damit will ich sagen: die sozialintegrative Gewalt der Solidarität müsste sich gegen die „Gewalten“ der beiden anderen Steuerungsressourcen, Geld und administrative Macht, behaupten können“ (Habermas 1985, 158). Wenn auch durch die aktuelle Coronakrise sowie bereits die Flüchtlingskrise bewiesen ist, welche positiven Effekte solidarische Steuerungsleistungen aktivieren können, so stellt sich nach der Überwindung der Krisen nicht automatisch eine neue Balance ein. Es muss mit Widerständen gerechnet werden, denn traditionelle Pfade sektoraler institutioneller Ordnungen werden durch neu entstehende Governancestrukturen tangiert. Ein Paradigmenwechsel im Verhältnis von am Solidaritätsmodus orientierten zivilgesellschaftlichen Akteuren und dem Staat würde bei Umsteuerungen Einschränkungen der Organisationsmacht in der politisch-administrativen Arena nach sich ziehen und diese Neujustierungen betreffen genauso das Verhältnis zwischen dem Staat und der Wirtschaft. Wenn das kurzfristige Effizienzdenken und die nur auf Effizienz getrimmten globalen Wirtschaftsverknüpfungen in Frage gestellt werden, wie es hinsichtlich der Erfahrung mit der Coronakrise geschieht, werden Korrekturen an bisherigen globalen Wirtschaftskreisläufen notwendig. Da die Wirtschaft offensichtlich nicht in der Lage war, institutionelle Bremsen in ihre Kreisläufe einzubeziehen, was sich auch schon bei den ökologischen Herausforderungen und anderen Großrisiken (etwa mit Blick auf die Atomkraft) zeigte, werden politische Regulierungen, die international abgestimmt sein müssen, unumgänglich sein. Dass der Aufbau einer neuen Steuerungsarchitektur stärker von Konflikten begleitet wird als kurzfristige Krisenregulierungen, in denen der Staat als zentraler Herrschaftsmanager agiert, dürfte unumstritten sein. Hinzu kommt, dass der Wandel institutioneller Arrangements und dies meint eine Neujustierung zwischen solidarischen Netzwerken, Staat und Wirtschaft schwieriger zu realisieren ist als der Wandel einzelner Organisationen, obwohl auch dort die
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Bestandserhaltungsinteressen nicht zu unterschätzen sind. „Das liegt zum einen an der „path-dependency“ der Entwicklung nationaler und sektoraler institutioneller Ordnungen: jeder einmal eingeschlagene Weg degradiert jeden anderen, der anfangs einmal ebenso in Frage gekommen wäre, zum Abweg, weil – je länger, desto mehr – die Kosten des Übergangs durch ungebahntes Gelände führen und daher abschreckend hoch sind“ (Offe 1989, 770f.). Dieses Festhalten aus Komplexitätsgründen kann durch positive Krisenerfahrungen (in diesem Fall durch die große Hilfsbereitschaft während der Coronakrsie) ein Stück weit aufgebrochen werden, denn es manifestierten sich in den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Hilfeprojekten durchaus weiterführende Emanzipationspotenziale. „Gleichwohl hat Solidarität immer auch das Potenzial, das Andere der gegenwärtig herrschenden Vergesellschaftungs- und Beziehungsweisen nicht nur zu denken und zu imaginieren, sondern schlicht und einfach zu praktizieren – zunächst einmal im Kleinen, Beschränkten, Vorläufigen. Gerade in Zeiten, die auf Jahrzehnte der organisierten Entsolidarisierung zurückblicken, setzen solidarische Praktiken jedweder Art ein Zeichen, dass es auch anders geht“ (Lessenich 2020, 10; vgl. auch ders. 2019). In der ersten Phase der Coronapandemie waren viele Beobachter von der praktizierten Solidarität in der Nachbarschaft beeindruckt, allerdings gab es durchaus Abweichungen, die mit der Dauer der Krise anwachsen, weil die Kontaktbeschränkungen einzelne Gruppen sozial isolierten und sowohl materielle als auch psychosoziale Belastungen anstiegen. Wenn sich bspw. eine Alleinerziehende, die ihr Kind nicht in eine Betreuung geben kann und auch nicht auf familiäre Hilfezurückgreifen darf, Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen muss oder sogar schon direkt von Arbeitslosigkeit oder einer Insolvenz betroffen ist, schrumpft die Solidaritätsbereitschaft zusammen. Anhand des schon erwähnten sprunghaften Anstiegs der Kurzarbeit ist zu erkennen, welche Dimensionen die Coronapandemie auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst hat und, dass es einige Zeit brauchen wird, diese Beschäftigungskrise, die mit deutlich wachsenden Arbeitslosenzahlen einhergehen wird, deutlich zu mildern. Insofern besteht durchaus die Gefahr, dass die vielbeschworene Solidarität für eine gewisse Phase das gesellschaftliche Bild prägte, sich aber im Verlauf der Pandemie sozialökonomische Problemlagen kumulieren und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse auslösen können. Neben der breit thematisierten Fokussierung auf zivilgesellschaftliche Aktivitäten, die auch schon bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise 2015 bedeutsame Unterstützung geboten haben, wird die Coronakrise den bereits erwähnten Digitalisierungstrend weiter antreiben. Wenn keine analogen Sozialkontakte mehr gewünscht sind und zum Teil offiziell mit einer Kontaktsperre untersagt werden, können digitale Medien mithelfen, den Kontakt zur Familie, Nachbarn und Freun-
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den zu halten. Die Pandemie wirkt hier als Treiber für neue Kommunikationstechniken und kann in Richtung einer gesteigerten Akzeptanz von digitalen Medien und technologischen Unterstützungssystemen (bspw. für das selbstständige Wohnen im Alter) ausstrahlen. Wie aus der Innovationsforschung bekannt ist, vollzieht sich ein Pfadwechsel insbesondere in Krisenzeiten, was bedeuten kann, dass sich die technologisch schon länger vorhandenen Digitalisierungsoptionen nun in der Alltagskultur der Menschen ausbreiten können. Sie können nicht nur die Kommunikation und Haushaltstechnik steuern, sondern auch weitere Funktionen im Alltag übernehmen – von der Beschaffung von Lebensmitteln bis zur Überwachung von Risikopatienten mittels Messung der Vitalparameter. Allerdings sind diese sich ausweitenden digitalen Räume weitgehend ungeschützt. Wachsenden Optionen stehen deshalb zunehmende Pathologien und eine kaum vorhandene demokratisch legitimierte Kontrolle gegenüber (vgl. u. a. Mau 2017, Weigend 2017 und Zuboff 2018). Die weitgehend freie Nutzung digitaler Daten, die einigen Internetkonzernen durch den Verkauf dieser Daten erhebliche Umsätze und Gewinne beschert, erlaubt auch den Individuen eine ständige Überwachung und hat zu einer allgegenwärtigen Vermessung des Individuellen (Self-Tracking) wie Sozialen geführt. Diese Nutzung von Big Data hilft sicherlich manchen gesundheitlichen Risikopatienten und kann auch für Verhaltensänderungen unterstützend wirken, birgt aber auch die Gefahr des ständigen Vergleichs in sich und ist damit potentiell eine Quelle von Stress und individuellen Enttäuschungen. Die Quantifizierung von Statusdaten und Selbstvermessungspraktiken tragen so zur gewachsenen Gereiztheit in der Gesellschaft bei, auf die noch eingegangen wird. Zudem kann die virtuelle Nachbarschaft die Sozialkontakte nicht ersetzen, allerdings dafür sorgen, aktiv am Leben weiter teilzunehmen, Sorgen auszutauschen und ggf. Hilfen zu mobilisieren. Das Internet kann so gesehen ein (ungesichertes) Fenster in die Außenwelt darstellen, das insbesondere älteren, aber auch allgemein den bspw. durch die Bekämpfung des Virus eingeschränkten Personenkreisen ein wenig mehr an Lebensqualität und Sicherheit bieten. Diese Schutzund Integrationsfunktion digitaler Hilfen erfordert aber von den Individuen einige Kosten – sowohl in materieller als auch immaterieller Sicht (z. B. die Bereitschaft zu lernen), da insbesondere in Deutschland die digitalen Infrastrukturen unterentwickelt sind und zudem nur wenige Unterstützungsangebote für Ältere bestehen. Zu Beginn der Coronakrise gab es deshalb ein Mismatch zwischen den digitalen Kommunikations- und Unterstützungsangeboten und der Nachfrage, da die Risikogruppen der Viruskrise nicht bzw. weitaus weniger in den digitalen Netzwerken engagiert sind. Die Krisenerfahrungen sollten genutzt werden, um im Bereich der Sozialbeziehungen die Folgewirkungen näher zu untersuchen. Die
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ersten Erfahrungsberichte deuten darauf hin, dass vieles, was jahrelang abgelehnt oder verzögert und dann im Krisenmodus eingeführt wurde, zumeist besser funktioniert als erwartet. Diese großteils positiven Online-Erfahrungen im Schnelldurchgang haben in vielen Fällen Blockaden aufgelöst und werden wohl auch im Normalmodus beibehalten. Dennoch sollte untersucht werden, welche weiteren Wirkungen zu verzeichnen sind (ob bspw. durch digitale Kontakte analoge Treffen verringert werden). Es besteht allerdings in Deutschland (wie auch generell in Europa) das Problem, dass im digitalen Raum amerikanische Konzerne weitgehend die Herrschaft übernommen haben – und dies gilt für soziale Medien und Plattformen, aber auch Browser und Betriebssysteme. Von digitaler Souveränität kann nicht gesprochen werden, vielmehr liegt die kommerzielle und technologische Führerschaft bei einigen wenigen Unternehmen, die damit Riesenumsätze generieren und zumeist in der Lage sind, mögliche Konkurrenten auszuschalten oder zu integrieren. Nicht nur in Deutschland hat die staatliche Politik diese neuen digitalen Monopole in ihrer Dimension zu spät erkannt und läuft den Entwicklungen weitgehend hinterher. Gerade in der Coronakrise wurde einerseits deutlich, wie stark digitale Netze inzwischen sind und anderseits welche Defizite bereits im Hardwarebereich noch immer zu verzeichnen sind. Nach wie vor wird der digitale Raum nicht als zu regulierender Teil der öffentlichen Infrastruktur (vergleichbar mit dem Rundfunk und Fernsehen) anerkannt und auch europapolitische Strategien, eine ernsthafte Konkurrenz etwa im Feld der Plattformen oder Suchmaschinen zu schaffen, sind gescheitert. Zwar gibt es auf europäischer Ebene seit 2018 eine Datenschutzgrundverordnung, die Dynamik und auch Kommerzialisierung der Daten wird jedoch weiterhin von amerikanischen und zunehmend chinesischen Konzernen gelenkt.17 Trotz dieser einseitigen Abhängigkeit von ferngesteuerten Internetriesen und aller berechtigten Sicherheitsmängel haben sich die digitalen Angebote gerade in der Coronapandemie massenhaft weiterverbreitet. Zweifel an der demokratischen 17 Nach Zuboff werden durch diesen „Überwachungskapitalismus“ (andere nennen ihn digitalen Kapitalismus) neue Strukturen sozialer Ungleichheit produziert: „Er operiert mittels beispielloser Asymmetrien an Wissen und daraus erwachsender Macht. Überwachungskapitalisten wissen alles über uns; ihre Aktivitäten sind jedoch so angelegt, dass sie für uns nicht erkennbar sind. Sie häufen immense Domänen neuen Wissens über uns an, nur dass dieses Wissen nicht für uns ist; es dient zwar der Vorhersage unserer Zukunft, nur eben für anderer Leute Profit“ (dies. 2019, 8; vgl. auch Kreye 2018, Staab 2019 sowie die Beiträge in Bude/Staab 2016). In der Coronapandemie breiten sich Überwachungstechnologien in allen Lebensbereichen aus und verbunden mit den immer mehr verfeinerten Optionen, Körperdaten zu speichern, könnte sich so eine „Überwachungsgesellschaft“ bilden (vgl. Kreye 2020).
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Kontrolle, dem Gewinnstreben der Anbieter oder des Kontrollverlustes werden zurückgestellt, um über digitale Beziehungen einen gewissen Gewinn an Lebensqualität im Krisenmodus zu erzielen. Durch die möglichen Gefährdungen, die bspw. mit einem Arztbesuch während der Coronakrise verbunden waren, erlebten so telemedizinische Verfahren wie Online- und Videosprechstunden, Terminbuchungen über Apps, aber auch elektronische Patientenakten einen Aufschwung. Telemedizinische Technik, die mit gut zugänglichen und weit verbreiteten Kommunikationsmedien kombiniert werden kann, ermöglicht Ärzten die Patienten mobil und ortsunabhängig zu betreuen. Die traditionelle Beziehung zwischen Ärzten und Patienten wird somit durch eine technische Komponente erweitert; unter dem Motto „move the information, not the patient“ können problematische Patiententransporte oder Krankenhausaufenthalte vermieden oder reduziert werden. Home Monitoring kann sich so zu einem modernen Bestandteil der Betreuung Kranker und Hilfebedürftiger entwickeln, der von der Prävention über die Diagnostik und Therapie bis hin zur Rehabilitation die gesamte Behandlungskette berücksichtigt. Die Einführung von Digitalisierungsprozessen im Gesundheitssektor verlief in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern allerdings bis 2020 schleppend und setzte sich ansatzweise nur in den Bereichen durch, die mit individualisierten, stark auf die Welt des Konsumierens ausgerichteten Lebensstilen verknüpft sind (etwa im Fitnessbereich). Durch die Pandemie wurden die bereits bestehenden und in anderen Ländern bereits genutzten Optionssteigerungen des Digitalen auch in Deutschland Alltagspraxis. Einige telemedizinische Komponenten (am stärksten die Videosprechstunde) konnten sich rasant verbreiten, wobei die plötzlich angestiegene Nachfrage auf einen vorbereiteten Nährboden traf. Dieser wurde in Deutschland durch das Digitale-Versorgungs-Gesetz, das Ende 2019 vom Bundestag ratifiziert wurde, geschaffen. Nach der gesetzlichen Regelung und der in Teilaspekten erfolgreichen Diffusion muss nun eine konzeptionelle Digitalarchitektur aufgebaut werden; dazu gehören funktionale Anreizstrukturen und Abrechnungssysteme mit den Leistungsträgern der Kranken- und Pflegeversicherung sowie den weiteren etablierten Akteuren (allen voran den Ärzten) im Gesundheitssystem, damit aus den Leuchttürmen endlich Wegbereiter für eine digitale Transformation des Gesundheits- und Pflegewesens werden, das nicht nur von Ankündigungen lebt, sondern auch real umgesetzt wird. Nun ist die Chance für digitale Steuerungen greifbar, zukünftig E-Health als gleichberechtigten Baustein in der Gesundheitsversorgung und im Pflegebereich als auch im Haushalt (etwa hinsichtlich der Energienutzung) zu implementieren. Diese im Alltagsleben realisierten Anwendungsmöglichkeiten werden m Sinne des „nudging“ einen weiteren Impuls auf zentraler politischer Ebene aus-
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lösen, um endlich einen umfassenden regulatorischen Rahmen zu setzen, um so den von den großen Internetkonzernen weitgehend diktierten Digitalisierungsstrategien eine eigene Governancestruktur entgegenzusetzen. Die Dringlichkeit ist gerade heute unübersehbar und auch (berechtigte) Zweifel hinsichtlich einer Überwachung durch digitale Techniken werden durch das Sicherheitsempfinden in der Krisenphase relativiert. Allerdings sind Widerstände gegen eine offensive Digitalisierungsstrategie weiterhin vorhanden und sogar durch die Diskussionen um eine Appüberwachung, um das Virus zu verorten, weiter gewachsen. Kritische Stimmen weisen auf die Gefahren etwa hinsichtlich der Auswertung der Bewegungsprofile durch die Regierungspolitik hin. Andererseits bietet sich durch die Coronapandemie eine relativ einmalige Möglichkeit, die auch von der Bundesregierung in der High-Tech-Strategie geforderte Schaffung von „regulatorischen Experimentierräumen“ zu nutzen, um die Akzeptanz und Nutzung real zu testen (vgl. BMBF-Impulspapier 2020). Auch in anderen Digitalisierungsfeldern werden die Gestaltungsräume konkret und können dadurch diffundieren. Die zwangsweise eingeführten Mobilitätseinschränkungen ermöglichten großangelegte Versuche, um die Vor- und Nachteile abzuwägen und es ist wahrscheinlich, dass die so gewonnenen Erfahrungen einen Richtungswandel bewirken. Die Regierungspolitik konnte sich jahrelang nicht durchringen, bspw. einen Rechtsanspruch auf Home-Office zu gewährleisten, was nun aber nicht mehr durchzuhalten ist und die Zahl der bislang in dieser Arbeitsform Tätigen (geschätzt gut 10 % gelegentlich) anwachsen lassen wird. Allerdings können nicht alle Berufsgruppen diese Option wählen (gerade im Feld der sozialen und gesundheitsbezogenen Dienste ist das eng limitiert). Die im Krisenmodus erzwungenen digitalen Arbeits- und Bildungsformen werden also die oft beklagten Rückstände Deutschlands bei der Nutzung der Digitalisierung reduzieren und einen Innovationsschub bewirken. So einschneidend die Coronakrise für die Menschen und die Wirtschaft sind, sie stellt eben nicht nur einen Ausnahmezustand her, der viele Menschen überfordert, da er mit einem erheblichen Kontrollverlust einhergeht, sie kann auch eine Weggabelung bedeuten und schlummernde Innovationspotenziale freisetzen. Noch ist nicht ausgemacht, ob der zwangsweise herbeigeführte Rückzug in das Private auch im „normalen“ Leben zu einer Optionssteigerung führt. Je nachdem wie groß die bei der Bewältigung der Viruskrise anfallenden Problemlagen sind, ist auch die Steuerungsfähigkeit unterschiedlich. Wenn die Komplexitätssteigerungen zu groß werden, droht eher die Dominanz traditioneller Lösungsverfahren und damit eine Unbeweglichkeit hinsichtlich innovatorischer Ansätze. Die Einschnitte in die öffentliche Ordnung haben nicht nur Freiheitsrechte eingeschränkt, sondern auch viele Wirtschaftsbranchen und damit Erwerbspersonen
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in existentielle Probleme gestürzt. Bereits jetzt wird deutlich, dass die Arbeitslosigkeit deutlich ansteigt und damit soziale Ungleichheiten weiter wachsen werden. Zu den durch die Globalisierungsprozesse „freigesetzten“ Erwerbstätigen kommen nun weitere Bevölkerungsgruppen aus spezifischen Wirtschaftsbranchen, die als Verlierer der Viruswelle bezeichnet werden können, hinzu. Damit reichen Statusängste und subjektive Erschöpfungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein und erschüttern Erwartungssicherheiten. Diese subjektiven Belastungen kommen zu den ohnehin vorhandenen Anforderungen an das Selbstmanagement und die Kontrollfähigkeit durch die Globalisierung und Flexibilisierung der Arbeit dazu, denen sich schon vor den Einschnitten durch die Pandemie manche nicht gewachsen fühlten. Frust breitete sich deshalb insbesondere in den abgehängten Regionen aus, die dann Trump oder rechtspopulistisch wählten, den Brexit unterstützten oder sich bei den Gelbwesten engagierten. Dort sind dann demokratieablehnende Affekte zu beobachten, die nicht nur auf die politischen Ränder beschränkt bleiben. Gekoppelt mit den breite Bevölkerungsgruppen treffenden Sorgen um die ökonomische Bewältigung der Viruskrise, werden Ängste um die gesellschaftliche Zukunft das Bild der gegenwärtigen Gesellschaft weiter prägen. Schon vor der Krise wurde die große Gefahr konstatiert, „dass die gegenwärtige Form von Demokratie nicht mehr fähig ist, die großen gesellschaftlichen Problemlagen auch nur einigermaßen adäquat zu behandeln. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Demokratie geht verloren – und zwar zurecht, weil sie in ihrer gegenwärtigen Form zu langsam, zu wenig strategisch und insgesamt zu wenig lernfähig ist“ (Willke 2020a, 217). Durch die Coronakrise haben sich Verunsicherungen und sozioökonomische Verwerfungen einerseits vertieft, andererseits hat es schon vor dieser Krise globale Katastrophen und gesellschaftliche Zersplitterungsprozesse gegeben. In den soziologischen Debatten zur Risikogesellschaft oder sogar Weltrisikogesellschaft (Beck 2007) wurden die sozialen und politischen Brüche und neuen Herausforderungen bereits diskutiert (zur blockierten Gesellschaft vgl. Heinze 1998) und auch die Probleme mit der politischen Steuerung grundlegender Veränderungen sind bekannt (vgl. Heinze 2002, 2006). Allerdings zeichnen sich die derzeitigen Ungleichheiten durch eine neue Qualität insofern aus, als dass durch die Pandemie 2020 eine Steigerung der Bedrohungen und Kontrollverluste in globaler Hinsicht erfolgte und die Gesamtgesellschaft betrifft. Es ist noch nicht absehbar, wie stark und wie lange die Krise und die damit ausgelösten Desorganisationserscheinungen die politische Agenda beherrschen werden. Politische Steuerung bedeutete in den letzten Jahrzehnten zumeist reaktives, kurzfristiges Agieren auf aktuelle Herausforderungen (man kann dies auch als Reparaturbetrieb bezeichnen). Positiv gewendet kann von einer experimentellen
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Politik gesprochen werden, allerdings liegen für solch eine Politik keine verlässlichen Daten vor. Und auch wenn die drastischen Maßnahmen zur sozialen Distanzierung und eine Maskenpflicht berechtigt sind, bewegt sich die Politik in einem „Blindflug“, der deshalb auch ständig neu austariert wird. In einer organisierten Gesellschaft fällt es schon in Normalzeiten der Politik generell immer schwerer, aus den punktuellen Krisenbearbeitungen zugunsten einer gestaltenden und vorausschauenden Perspektive auszubrechen. Gefordert ist nach der unmittelbaren Pandemie – wie auch schon nach den Atomkatastrophen oder der Finanzkrise – eine Resilienz der Politik. „Resilienz zu fördern heißt, die vertraute Komfortzone der schrittweisen Adaptation und des erst nach der Krise einsetzenden Krisenmanagements zu verlassen. Tatsächlich erfordert Resilienz ein strategisches Vorgehen beim Aufbau von Steuerungssystemen, die über die bloße Korrektur von Störungen und Fehlern hinaus wirken“ (Willke 2014a, 71). Dies wird nur gelingen, wenn das politische Steuerungsrepertoire durch das Zusammenspiel mit den in den jeweiligen Funktionssystemen maßgeblich agierenden Organisationen angereichert wird. Dabei treten in vielen Handlungsfeldern Governanceprobleme insofern auf, als dass oft kein regulatorischer Rahmen vorhanden ist, um die zumeist abgeschotteten Silos der bürokratischen Problembearbeitung und die dort dominierenden Anreizstrukturen zu überwinden. Über eine organisierte Vernetzung der zivilgesellschaftlichen Akteure mit den politischen Institutionen können neue Steuerungsressourcen jenseits von Markt und Staat genutzt werden. Die Partizipation der zivilgesellschaftlichen Organisationen darf allerdings nicht auf die traditionellen Akteure und deren Eigenlogiken beschränkt bleiben, sondern muss die gesamte Bandbreite in den jeweiligen Handlungsfeldern repräsentieren und auch neue Partizipationsformate ansprechen. Benötigt werden neue strategische Räume, die über die klassischen korporatistischen Steuerungsgremien (die „Berliner Räterepublik“/Heinze 2002) hinausgehen müssen. Bezogen auf die derzeit viel diskutierten Potenziale sozialen Engagements ist es bspw. „notwendig, über mehr zu reden als über unsere ‚lebendige Zivilgesellschaft‘ und den Schutz von Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie. Demokratie braucht auch so etwas wie eine Vorwärtsverteidigung. Bessere Verbindungen zwischen institutionalisierter Politik und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind hier ein Schlüsselfaktor. Das meint allerdings mehr als Verwaltungen mit Partizipationsverfahren zur Bürgeranhörung und Ministerien mit Modellprogrammen zur Engagementförderung. Es braucht eine Debatte zwischen demokratischen Parteien und Vertretern aus der organisierten Zivilgesellschaft, die zu so etwas wie einer Charta führen sollte, in der deutlich gemacht wird, für was man die Beiträge der Zivilgesellschaft schätzt und an welchen Grundsätzen man sich bei der Stärkung eines wertschätzenden und zivilen Umgangs
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miteinander orientieren will. Das verteidigt nicht nur, sondern stärkt auch Demokratie“ (Evers/Leggewie 2018, 38). Eine solche, nicht auf kurzfristige Effekthascherei, sondern auf einen nachhaltigen Wandel zielende Politik, hat es in einer emotionalisierten und fragmentierten politischen Öffentlichkeit schwer. Die Kommunikation verläuft bei vielen politischen Akteuren nur in der eigenen „Blase“ und der etablierten Politik wird in vielen Fragen von der Bevölkerung immer weniger vertraut. Dieses Misstrauensvotum mag überzogen sein, die dahinterstehenden Sorgen und der Unmut sollten allerdings ernst genommen werden, was sich nicht nur in den unübersehbaren Repräsentationsdefiziten der Volksparteien oder auch in den Gewerkschaften, Kirchen und anderen gesellschaftlichen Verbänden niederschlägt. Dass die etablierten Routinen der politischen Problemverarbeitung nicht mehr reibungslos funktionieren, ist allerdings auch kein neuartiges Phänomen. Über Staatsversagen sowie auch Marktversagen wird schon seit einigen Jahrzehnten in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gestritten. Sozialwissenschaftliche Diagnosen haben die Steuerungsfähigkeit zentraler Politik schon seit geraumer Zeit als begrenzt angesehen und nicht umsonst gab es schon seit den 1980er Jahren eine intensive Debatte um den kooperativen Staat, der seine Steuerungsfähigkeit über die Partizipation außerstaatlicher Akteure erweitert hat (vgl. Heinze 2002). Die korporatistische Erweiterung des Steuerungsrepertoires ist aber auch an ihre Grenzen gestoßen, erforderlich sind neue Impulse für eine umstrukturierende Politik (bspw. in Fragen des Klimawandels und der Energieversorgung, der Mobilität oder der alternden Gesellschaft). Diese müssen stärker sowohl von wissenschaftlichen Experten als auch der lokalen Basis kommen, weil sich dort Wissen über alternative Gestaltungsszenarien angesammelt hat, das darauf wartet, umgesetzt zu werden. Dies ist allerdings oft schwierig zu realisieren, denn „obwohl Organisationen natürlich Strategieabteilungen haben und Strategieprozesse eingerichtet sind, leidet in der Praxis Strategiefähigkeit durch die „Vordringlichkeit des Befristeten“ (Luhmann), die Vordringlichkeit des Tagesgeschäfts. Alle finden Strategie gut und wichtig, aber Zeit und Raum dafür sind leider nicht vorhanden, weil Aktuelles immer dazwischenkommt“ (Willke 2020a, 221). Der oft gehörte Hinweis auf die Ausbreitung eines Wissensmanagements auch in der Politik und Verwaltung scheint folglich zwar bezogen auf die Einsetzung von Expertenkommissionen und die Vergabe diverser Gutachten richtig zu sein, allerdings trifft er nicht die Umsetzung und scheint deshalb mehr symbolischer Natur zu sein und spiegelt die Realität nicht adäquat wider. Neben den wissenschaftlichen Expertisen gibt es in Deutschland seit Jahrzehnten auch in vielen Handlungsfeldern auf der mittleren, intermediären Ebene ein breites Repertoire an Wissen und Vernetzungen, das von den organisierten Akteuren der Zivil-
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gesellschaft genutzt wird. So ist das deutsche System der beruflichen Bildung ohne die Gewerkschaften und Kammern sowie Unternehmervereinigungen undenkbar. Auch in anderen Regelungsfeldern gibt es eine Tradition von zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation (bspw. in der Wohlfahrtspflege), die – so die These in diesem Buch – wieder an Bedeutung gewinnen kann. Starke zivilgesellschaftliche Organisationen können Brücken zwischen den verschiedenen Gesellschaftsakteuren errichten und mithelfen, die kommunikativen Brüche und gesellschaftlichen Spaltungen zu verringern und so aufgrund ihrer reichen Erfahrungen zu Konfliktlösungen aktiv beitragen. Dies impliziert nicht, den Status quo bei den Nonprofit-Organisationen so zu erhalten; neue Verschränkungen zwischen den Steuerungsformaten (Staat, Markt, „Dritter Sektor“) erfordern auch die Überwindung mancher Organisationsblockaden in den traditionellen Verbänden und Selbstverwaltungseinrichtungen. Bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren und Assoziationsverhältnissen, denen eine prominente Rolle bei der Neukonzeptionierung von gestaltender Politik zukommt, ist eine gewachsene Vielfalt zivilgesellschaftlicher Nonprofit-Organisationen zu registrieren, die sich in Form von Sozial-, Energie- und Seniorengenossenschaften, soziokulturellen Zentren, Quartiersbüros, Selbsthilfegruppen etc. darstellen (vgl. zum Wachstum der Zivilgesellschaft zusammenfassend Grande 2018). Diese am Gemeinwohl orientierten und selbstorganisierten Initiativen verstehen sich als Ergänzung und in manchen Fällen auch als Alternative zu der etablierten Politik und können auch Innovationen in den traditionellen Organisationen auslösen. Aus soziologischer Sicht zeigt sich in den oft mehrdimensionalen Projekten ein Suchprozess; gemeinsam ist ihnen, dass sie öffentliche Güter nicht Top-Down realisieren wollen, sondern auf partizipative Formate setzen und damit als institutionelle Innovatoren wirken wollen. Mit der Netzwerkorientierung verbinden sich neue Steuerungs- und Verflechtungsformen, die sich in verschiedenen Feldern in den letzten Jahren herauskristallisiert haben. „Das kommunale Steuerungsideal verschob sich vom Typ der hierarchischen öffentlichen Verwaltung in der jungen Bundesrepublik (Public Administration) über die ökonomische Modernisierung des Neuen Steuerungsmodells in den 1990er Jahren (Public Management) zum aktuellen Ansatz der Public Governance. In der konzeptionellen Schrittfolge von Verwaltungslogik, ökonomisierter Neuer Steuerung und Public Governance gewinnt der Netzwerkansatz zunehmend an Bedeutung. In dem Veränderungsprozess nehmen Top-Down-Führungsmuster ab und partizipatorische, interaktive sowie indirekte Formen der Politikgestaltung zu“ (Schubert 2020, 36; vgl. auch Langer 2020). In diesem Buch wird die sozialraumorientierte Netzwerksteuerung als innovatives Ordnungsprinzip primär in wohlfahrtspolitischen Handlungsfeldern dis-
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kutiert, gleichwohl zeigt sie sich auch in anderen Sektoren. Netzwerke, die auch als Koordinationsform jenseits von Markt und Hierarchie betrachtet werden, kommt – so der Tenor der neueren sozialwissenschaftlichen Forschung – „im Innovationsgeschehen eine herausragende Bedeutung“ (Häußling 2019, 14) zu. Die Neujustierung von Gestaltungsstrukturen zielt nicht auf eine völlige Umsteuerung, sondern setzt auf eine neue Komplementarität zwischen den verschiedenen Steuerungsformen. Stimulierende Impulse werden dennoch in der gegenwärtigen Phase von den organisierten Kräften der Zivilgesellschaft erwartet, weil viele Menschen trotz aller politischen Rhetorik hinsichtlich einer besseren Politik (bspw. Kampagnen in der Bildungspolitik nach dem Motto „Kein Kind zurücklassen“) die nüchternen Ergebnisse registriert haben, dass sich trotz aller Versprechungen Bildungsungleichheiten in Deutschland kaum veränderten. Ohne an dieser Stelle zu analysieren, ob dies auf die Trägheit der Politik und der Verwaltungen oder mangelnde Finanzen auf kommunaler Ebene zurückzuführen ist, muss festgehalten werden: die Enttäuschungen über ausbleibende Korrekturen an den sozialen Ungleichheiten wie auch an den ökologischen Erfordernissen haben ein Klima gesellschaftspolitischer Nervosität erzeugt und Tendenzen zur „Unregierbarkeit“ unterstützt, die die Demokratie insgesamt gefährden. Die Zeiten eines ausgleichenden und sozialintegrativen Kapitalismus sind vorüber, politische Instabilitäten werden zur Regel und bei vielen Menschen haben sich Enttäuschungen, die manchmal in Wut umschlagen, angesammelt, weil sie ihre verlässliche soziale Ordnung bedroht sehen. Auch wenn manche dieser Frustrationen durch die Coronapandemie gegenwärtig in den Hintergrund gedrängt werden, bleiben sie latent als Konfliktlagen bestehen und werden sich auch wieder manifestieren. Bevor im weiteren Verlauf dieses Buches die Neujustierungen thematisiert werden, findet im zweiten Kapitel eine Auseinandersetzung mit den zentralen soziologischen Zeitdiagnosen zu einer verunsicherten und sich im Umbruch befindenden Gesellschaft statt, die inzwischen eine erhebliche Bandbreite verschiedener Schwerpunktsetzungen aufweisen und deshalb im Hinblick darauf diskutiert werden, inwieweit sie auch Beiträge zur Gesellschaftsgestaltung liefern. Die Analysen beziehen sich auf die Zeit vor der Pandemie und haben deshalb die dadurch ausgelösten Umbrüche und Neukonfigurationen nicht im Blick. Punktuell werden Querverbindungen gezogen, um auf die neuen Konstellationen hinzuweisen, aber viele Argumentationsbausteine behalten auch weiterhin ihren Status. Als eine wesentliche Steuerungsressource werden zivilgesellschaftliche Akteure gesehen, deren vielfältige Formate im dritten Kapitel vorgestellt werden. Wenngleich die politischen Gestaltungsspielräume durch die Globalisierungsprozesse und die Verschiebungen auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft sicherlich geschmälert wurden, gibt es noch Handlungsräume für eine Politik, die je-
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doch nicht hierarchisch von oben nach unten delegiert und nach einem Masterplan funktioniert, sondern die sich zunächst lokal und regional verortet, dort nach neuen Allianzen sucht und dann in Abstimmung mit den staatlichen Instanzen auf Bundes- und Länderebene eine neue Architektur in den einzelnen Feldern (und explizit auch in vernetzter Form) konzipiert und insbesondere umsetzt. Im vierten Kapitel wird diese Option der Neukombination und Schnittstellensteuerung, die ein höheres Maß an Problemlösungskompetenz durch den organisierten Einbezug der Nonprofit-Organisationen generieren kann, vorgestellt. Die Fokussierung auf Selbstorganisation und dezentrale Allianzen sollte jedoch nicht als Aufforderung zur Privatisierung oder zum Rückzug des Staates verstanden werden, vielmehr geht es um die Mobilisierung und Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte und neubalancierte Verknüpfungen zwischen den Handlungslogiken von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei richtet sich der Blick explizit auf den Nahbereich der Versorgung mit öffentlichen Gütern und dieser Fokus überwiegt auch bei der (Re)Thematisierung der fundamentalökonomischen Infrastruktur, die in Deutschland stark von Akteuren aus der Zivilgesellschaft geprägt wird. Bei der Erledigung der Daseinsvorsorge ist der Staat aufgrund seiner geschrumpften Handlungsfähigkeit sogar vermehrt auf die Koproduktion und selbstverantwortliche Eigenleistung individueller wie kollektiver gesellschaftlicher Akteure angewiesen. Im fünften Kapitel wird ein wesentlicher Pfeiler des Sozial- und Gesundheitssektors in seinen verschiedenen Dimensionen vorgestellt: die Wohlfahrtsverbände. Sie fungieren seit Jahrzehnten als Scharnier zwischen dem formellen Sektor (Staat und Markt) und dem informellen Sektor, zu dem die Familie, Bürgerengagement, Nachbarschaften und Selbsthilfegruppen gezählt werden. Trotz aller Privatisierungs- und Ökonomisierungstendenzen wird weiterhin ein Großteil der sozialen Dienstleistungen durch freigemeinnützige Träger erbracht, die direkt oder mittelbar den fünf großen Wohlfahrtsverbänden (Deutscher Caritasverband, Diakonisches Werk, Deutsches Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt sowie der Paritätische) angehören. In der Wohlfahrtspflege sind rd. 1,9 Millionen Personen beschäftigt und sie unterhalten knapp 120.000 soziale Einrichtungen und Dienste. Traditionell wird auch in diesen Nonprofit-Organisationen ein Großteil des sozialen Engagements (zumeist Ehrenamt genannt) abgeleistet. Aber auch in diesem Sektor haben sich die Governancestrukturen gewandelt; die traditionell weitgehend autonome Wohlfahrtspflege wurde im Rahmen der Debatte um ein „New Public Management“ stärker in staatliche Regulierungen eingebunden und den verbandlichen Einrichtungen wurden hinsichtlich ihrer betriebswirtschaftlichen Effizienz ein Change Management verordnet. In der Coronapandemiephase werden auch sie – als Segment des Gesundheits- und Pflegewesens – unter einem
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neuen Blickwinkel gesehen: der schon seit längerem schlafende „Beschäftigungsriese“ Gesundheitswirtschaft ist nun zum systemrelevanten Akteur geworden. In Kapitel sechs wird das Wirken von Wohlfahrtsverbänden und deren gesellschaftliche Rendite am Beispiel einer Großstadt nachgezeichnet. Im siebten Kapitel geht es um die Integration unterschiedlicher Konstellationen von Akteuren und Praktiken in ein neues sozial- bzw. gesellschaftspolitisches Handlungs- und Gestaltungskonzept. Im Feld der gemeinwohlorientierten Organisationen handelt es sich keineswegs immer um gänzlich neue oder einzigartige Akteure. In Deutschland existiert eine lange gesellschaftliche Tradition der Sozialwirtschaft mit den bereits erwähnten starken Nonprofit-Organisationen und deshalb ist es erforderlich, auch die Querverbindungen zu diesen Organisationen herauszuarbeiten und innovative Verschränkungen aufzubauen. Diese entwickeln sich zumeist nicht über einem Masterplan, sondern erfordern ein sensibles Vorgehen der Akteure auf dezentraler Ebene und benötigen Vertrauen. Nicht umsonst gelten sie als hybride Organisationsformen, die aber oft der einzige Weg sind, um aus den bürokratischen Erstarrungen und der ausgeprägten Fragmentierung des deutschen Sozialstaates hinauszukommen. Im achten Kapitel werden explizit die Potentiale des zum Teil organisationsungebundenen zivilgesellschaftlichen Engagements und deren Formwandel nachgezeichnet. Dabei wird auch den Folgewirkungen der umfassenden Digitalisierungsprozesse auf die Ausbreitung und Intensität des Engagements Aufmerksamkeit geschenkt. Während die Bereitschaft, Ehrenämter in Vereinen, aber auch Verbänden und Kirchen sowie Parteien zu übernehmen, zurückgegangen ist, ist das nicht in traditionellen Großorganisationen organisierte, eher selbstbestimmte und weniger hierarchisch organisierte Engagement angestiegen. Sowohl die noch immer vorhandenen Potentiale an ehrenamtlicher Arbeit in den Wohlfahrtsverbänden wie auch die neu entstandenen selbstorgansierten zivilgesellschaftlichen Vergemeinschaftungsformen dürfen allerdings nicht überschätzt werden. Sie sind kein Ersatz für sozialstaatliche Lösungen, vielmehr ergänzen sie die Daseinsvorsorge auf dezentraler Ebene. Gerade weil sich der Markt im Feld der Infrastruktur in den letzten Jahrzehnten im Kontrast zu den Hoffnungen mancher Politiker und Ökonomen nicht als gemeinwohlorientiertes und nachhaltiges Geschäftsmodell erwiesen hat (was an den verschiedenen Baustellen – von der Bahn bis zur Breitbandversorgung und der Wohnungsfrage – in allen westlichen Ländern zu besichtigen ist), geht der Blick in Richtung eines neu austarierten Steuerungsmix, der wieder stärker auf die öffentliche Verantwortung setzt und damit den Investitionsstau abbauen kann. Im neunten Kapitel wird der Wandel zu einem hybriden Wohlfahrtsmix reflektiert. Das alte korporatistische Ordnungsmodell hat sich entgrenzt und neue Go-
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vernancestrukturen haben durchaus problematische Ökonomisierungseffekte mit sich gebracht, allerdings werden auch experimentelle Antworten ermöglicht. Diese werden von der derzeit regierenden Großen Regierungskoalition jedoch kaum aktiv genutzt. Aus historischer Sicht verfolgt die deutsche Politik „weiterhin anachronistische Prioritäten mit einer atemberaubenden Kurzsichtigkeit. Milliarden werden etwa in den winzigen Agrarsektor gelenkt, während das Bildungssystem, von dem die Zukunft, die Leistungsfähigkeit, der Wohlstand der Wissensgesellschaft abhängen, geradezu kärglich versorgt wird. […] Und vor dem unvermeidlichen Umbau des exzessiv aufgeblähten Sozialstaats, der deutschen Innenpolitik liebstes Kind, floh die einstmals flexible und reformfreudige Bundesrepublik im Gegensatz zu ihren klügeren Nachbarn in eine trotzig behauptete Defensivpolitik“ (Wehler 2008, 438). Je später man allerdings beginnt, die Kardinalprobleme des Wirtschafts- und Sozialstandortes Deutschland nicht nur rhetorisch zu bearbeiten, desto stärker werden die Einschnitte sein, sowohl um eine wirtschaftliche Dynamik als auch das soziale Sicherungsniveau und die Umwelt zu erhalten. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der massiven Umbrüche durch die Coronakrise. Im zehnten Kapitel wird ein weiteres, auf Selbstorganisation beruhendes Steuerungsmodell, die Genossenschaften, diskutiert, das in Deutschland über eine lange Tradition verfügt und aktuell mit neuen Varianten im Feld der Daseinsvorsorge auf sich aufmerksam macht. In Kapitel elf werden zusammenfassend die Steuerungspotenziale zivilgesellschaftlicher Akteure und deren organsierte Vernetzung mit staatlichen Institutionen thematisiert. Die stärkere Einbindung und Nutzung des Nonprofit-Sektors ist nicht nur in Krisenzeiten eine sinnvolle Governancestrategie, vielmehr sollte die Politik klug genug sein, diesen zukunftsfähigen Pfad einzuschlagen, schon um sich selbst abzusichern. Dieses abstrakte Interesse an Selbsterhaltung ist mit der Formel des „Interesses des Staates an sich selbst“ (Offe 1975) pointiert beschrieben worden. Eine intelligente staatliche Politik würde heute in diesem Sinn auf eine zivilgesellschaftlich untermauerte Governance netzförmiger Verhandlungs- und Leistungssysteme auf dezentraler Ebene setzen.18 Das Ziel bestünde 18 „Governance umfasst auch Interaktionsmuster und Modi kollektiven Handelns, welche sich im Rahmen von Institutionen ergeben (Netzwerke, Koalitionen, Vertragsbeziehungen, wechselseitige Anpassung im Wettbewerb). Prozesse des Steuerns bzw. Koordinierens sowie Interaktionsmuster, die der Governance-Begriff erfassen will, überschreiten in aller Regel Organisationsgrenzen, insbesondere auch die Grenzen von Staat und Gesellschaft, die in der politischen Praxis fließend geworden sind. Politik in diesem Sinne findet normalerweise im Zusammenwirken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure (oder von Akteuren innerhalb und außerhalb von Organisationen statt“ (Benz 2004, 25: vgl. auch Mayntz 2004, 2009 und Schuppert 2019, 22ff.).
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darin, außerstaatliche Kompetenzen und Potentiale zu aktivieren und als Ressource politischer Steuerung zu nutzen. Hierzu müsste sich allerdings die Regierungspolitik mit den gerade in Deutschland massiv auftretenden Vetospielern anlegen. In den letzten Jahren konnte man gut studieren, dass diese Akteure nicht nur in den Interessenorganisationen außerhalb des Parlaments und der Parteien ihr Spiel inszenieren, sondern durchaus in den Regierungsparteien selbst aufzufinden sind. Die Defensivpolitik, angereichert mit Moderationselementen, hat sich deshalb bislang nicht grundlegend verändert, auch wenn in der Risikopolitikphase Blockaden überwunden wurden, die jahrelang mutige politische Entscheidungen lähmten (z. B. bezüglich der Digitalisierung in der Gesundheitspolitik oder in der Fleischwirtschaft). Ob damit das grundlegende Strickmuster deutscher Politik, auch wenn sie sich reformerisch gibt, nämlich die Detailversessenheit und die Neigung zu übertriebener Regulierung und Bürokratisierung, überwunden ist, muss abgewartet werden. Gefragt sind weiterhin flexible, experimentelle Steuerungsformen, die sich keiner bürokratischen Logik unterwerfen, sondern vielmehr von den Fähigkeiten der Akteure zu Selbststeuerung und kollektivem Lernen ausgehen. Es ist bereits auf die Ambivalenzen der Krisenbearbeitung eingegangen worden, die durch die Coronakrise eine neue Brisanz erhalten haben. Im abschließenden Epilog werden die konzeptionellen Überlegungen zu einer neuen wohlfahrtsstaatlichen Architektur mit den aktuellen Katastrophenbewältigungsstrategien konfrontiert und ausgeleuchtet, inwieweit Krisen als Treiber für politisch-institutionelle Reformen wirken können und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen.
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Beschleunigungsdynamiken, Politikstagnation und neue Protestkulturen Soziologische Zeitdiagnosen
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Krisendeutungen: Vom Elfenbeinturm in die Praxis
2020 wird sicherlich als das Jahr der Coronakrise in die Geschichte eingehen. 2019 gilt schon heute als Jahr des Protestes, und manche Beobachter ziehen mit Blick auf das neue Jahrzehnt den Vergleich mit der Dekade vor 100 Jahren und erinnern an die Weimarer Republik mit all ihren Krisen und aufkommenden Radikalismen. Obwohl solche Vergleiche sachlich schwer zu begründen sind und eher auf kalendarische Zufälligkeiten treffen, scheint es bei einzelnen Bevölkerungsgruppen schon vor der Coronapandemie Stimmungslagen gegeben zu haben, die umschrieben werden als Abstiegs- und Zukunftsängste sowie Misstrauen gegenüber den Volksparteien als zentrale Pfeiler der parlamentarischen Ordnung. Auch wenn keine Zeitenwende diagnostiziert wird, so irritieren solche Wahrnehmungsmuster nicht nur sozialwissenschaftliche Betrachter: „Weithin ratlos reagiert das Gros der Beobachter darauf, dass sich inzwischen auch in Ländern mit beachtlichem Wohlstand eine Unzufriedenheit ausgebreitet hat, die jederzeit in Zorn und Wut umschlagen kann. Bis vor kurzem herrschte noch die Auffassung vor, die Ordnung der Demokratie sei dann sicher, wenn es einem Land wirtschaftliche gut gehe“ (Münkler/Münkler 2019, 9; vgl. auch Kurbjuweit 2019). Anders als in den 1970er und 1980er Jahren dominieren Krisendiskurse gegenwärtig jedoch nicht primär in sozialwissenschaftlichen Diskursen, sondern in der Öffentlichkeit. Die Klimakrise und andere ökologische Gefährdungen, aber auch der finanzialisierte und digitalisierte Kapitalismus werden als bedrohliche Risiken unserer Gesellschaftsformation wahrgenommen. Die Inflationierung der © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_2
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Krisenrhetorik erinnert ein wenig an die Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte LP der Band Supertramp mit dem Titel „Crisis? What Crisis?“, die weltweit erfolgreich war. Diese Zeile wurde später in unterschiedlichen Kontexten verwendet und beschreibt auch die in den letzten Jahren in Deutschland gehandelten Krisenvarianten, wenngleich die Coronapandemie alle Krisen der Nachkriegszeit übertraf und zu einer Zäsur führte, die gesellschaftliche Entwicklungsmuster grundlegend hinterfragt und Spuren für die nächsten Jahrzehnte hinterlassen dürfte. Da man tagtäglich mit diversen Krisen konfrontiert wurde, bestand allerdings schon vor der Coronakrise die Gefahr der Desensibilisierung (vgl. auch Beckmann et al. 2017). Wenn Krisen zur Normalität und fast zur Alltagsroutine gehören, können real bedrohliche Zustände oft nicht mehr von gefühlten unterschieden werden. In dieser Gefahrenzone hinsichtlich globaler ökonomischer Risiken, aber auch der Klimakrise befinden wir uns seit Jahren, ohne dass etwa ein einschneidender Energiewandel real umgesetzt wurde. Ein anderes Bedrohungsszenario wirkt in der Coronapandemie, indem die Bedrohungen insbesondere durch die mediale Berichterstattung sehr konkret die Menschen mit dem möglichen Tod konfrontieren – und zwar nicht in entfernten, sondern in Nachbarländern. Diese Bilder haben der Coronakrise eine eigene Dynamik inkorporiert, die staatliche Eingriffe zur Folge hatten (sogar Grundrechte außer Kraft setzten), wie es andere Krisen nicht vermocht haben. Gerade weil sich viele krisenhafte Prozesse oft schleichend entwickeln, aber dennoch globale Gefährdungsdimensionen haben, werden grundlegende Wenden in der Politik seit Jahrzehnten gefordert – und das nicht nur sektoral (etwa in der Energiepolitik), sondern ressortübergreifend. Sie werden allerdings nur selten realisiert. Eine radikale Korrektur der staatlichen Politik, die sich nicht nur in Deutschland in vielen Aspekten segmentär abgeschlossen organisiert hat („Politiksilos“), schien eine Utopie zu sein. Nun hat der Staat durch die Coronapandemie (wenigstens in der ersten Phase) sein Handlungsimperativ zurückgewonnen und steuert die Gesellschaft in einem Maße durch die Krise, wie es vorher kaum zu erwarten war. Gelingt diese Steuerung nur im Krisenmodus oder was ist daraus für die Postcoronaphase zu lernen? Kann die Politik auch bei aufkeimenden Wohlstandskonflikten und politischen Radikalisierungen wirklich ein „neues Modell des Gemeinwohls“ (Vogel 2020) realisieren? Im Folgenden geht es genau um diese Fragen, inwieweit die Politik auch im Regelfall in der Lage ist, eine nachhaltige und gemeinwohlorientierte (sozialgerechte) Gesellschaftsgestaltung realisieren zu können und wo noch Gestaltungspotenziale liegen, die bislang nicht hinreichend genutzt wurden. Die komplementäre Ergänzung zum klassischen Repertoire des Regierens leitet sich aus einer Vielzahl von Studien zur Reichweite und Tiefe staatlicher Politik aus den letz-
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ten Jahren ab, die allerdings gegenüber großangelegten politischen Gestaltungsambitionen skeptisch sind. Eher dominiert ein hegemoniales Staatsverständnis, das „von Sollen und Wollen auf Können“ schließt: „Weil an Politik in der Moderne der Anspruch gerichtet wird, die „gute“ Gesellschaft durch gegebenenfalls auch groß dimensionierte Umgestaltungen zu verbürgen, wird ihr per „wishful thinking“ schnell unterstellt, dazu auch in der Lage zu sein. Entsprechende Selbsttäuschungen politischer und staatlicher Akteure erwachsen daraus, und das Hinausposaunen solcher Selbstermächtigungen nährt wiederum nochmals die Anspruchshaltungen der Bürger“ (Schimank 2019a, 254). Wenngleich diese Einschätzung geteilt wird und viele Symptome dafür sprechen, dass die Politik immer weniger der Erwartungskulisse nachkommen kann und an Vertrauen verloren hat, werden dennoch mögliche Ansatzpunkte für eine experimentell und kontextuell angelegte Gestaltungsstrategie gesucht, die nicht die „große Transformation“ anzielt, sondern eher auf die feldspezifischen Ressourcen und eine organisierte Vernetzung der Regelungsfelder setzt. Die Argumentation bewegt sich damit zwischen Gestaltungsskepsis und vorsichtigem Gestaltungsoptimismus, der sich aus den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten sowie den Handlungsspielräumen in den einzelnen Politikfeldern für solche Assoziationsverhältnisse speist. Sie setzt sich damit vom Modell eines „entsozialisierten“ Kapitalismus ab, „in dem systemische Strukturen, also soziale Institutionen, uninstruktiv geworden oder gemacht worden sind, sodass die Verantwortung für die Organisation des sozialen Lebens voll und ganz den ‚Individuen und ihren Familien‘ zufällt. Sich selbst überlassen, müssen sie sich in einer entpolitisierten, individualisierten und improvisierten Gesellschaftsordnung, die sie selbst, so gut sie können, ‚von unten‘ aufbauen und immer wieder neu errichten müssen, privat um Stabilität und Sicherheit bemühen, in Form einer Vielzahl von auf das Individuum zentrierten sozialen Netzwerken und ohne Unterstützung ‚von oben‘“ (Streeck 2019a, 28f.).19 Damit wird jedoch nicht bestritten, dass sich der heutige Kapitalismus nicht nur zunehmend zersplittert und damit kollektive Handlungsfähigkeiten erodieren, sondern auch „unter-regiert“ und immer weniger in der Lage ist, eine stabile soziale Ordnung zu begründen. Man kann das auch 19 Eine aktive Beteiligung der Bürger bei der Datenverwendung in allen Bereichen scheint zwingend, da sonst digitale Leibeigenschaft droht. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir von automatisierten Systemen abgeurteilt und bewertet werden, wo wir, ohne angehört und benachrichtigt zu werden, auf irgendwelchen Listen (etwa einer No-Fly-Liste) landen, wo uns Maschinen ständig den Prozess machen. Digitale Speichertechnologien, die jedes Wort, jeden Laut und jeden Schritt aufzeichnen und möglicherweise gegen uns verwenden, machen das Leben zum perpetuierten Indizienprozess“ (Lobe 2019, S. 26f.; vgl. auch Mau 2017).
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als Kapitalismus ohne Systemintegration kennzeichnen, was zu einer Verlagerung der Sozialintegration auf die Ebene der Individuen und Interaktionen führt. „Als Resultat löst sich der Dualismus von Systemintegration und sozialer Integration, wie ihn der soziologische Funktionalismus der längst vergangenen 1960er-Jahre postuliert hatte, zugunsten einer – höchst fragilen – Herstellung sozialer Ordnung allein durch soziale Integration auf“ (a.a.O., 29). Eine eher lösungsorientierte Zuversicht in die Gestaltungskraft ist aber deshalb ratsam, weil ohnehin schon zu viele emotionale Empörungskaskaden zu beobachten sind und rational geführte Debatten in der Empörungskultur an Gewicht zu verlieren drohen. Zu warnen ist allerdings vor den großen Planungsentwürfen, die zumeist gescheitert sind. Stattdessen ist bei anstehenden Strukturreformen eine Strategie der kleinen Schritte angesagt, die sich eher mit dem Bild einer Dauerbaustelle darstellen lässt. Zunächst wird vor akuten Niedergangsprognosen gewarnt und auf eine nüchterne soziologische Bestandsaufnahme gesetzt, zu der aber auch gehören muss, warum sich diese Gesellschaft so schnell in Verunsicherung bringen lässt. Dies ist nicht nur auf nachweisbare Bedrohungen zurückzuführen, sondern lässt ein allgemeineres Wahrnehmungsmuster erkennen. „Die hoffnungsvollen Erwartungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung, wie viele sie seit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 in den westlichen Ländern gehegt haben, werden so ganz grundsätzlich enttäuscht oder zumindest relativiert. Die Erwartungen erweisen sich heute als Illusionen, das Ergebnis ist Desillusionierung. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die westlichen Gesellschaften insgesamt“ (Reckwitz 2019, 9). Fundamentalkritik kommt deshalb nicht nur aus einem linken oder grün-alternativen politischen Spektrum. Sowohl in Europa als auch weltweit breiten sich vielmehr autoritäre, illiberale politische Strömungen aus, die in diversen Ländern bereits die Regierung stellen. Dieser Wandel des Gestaltungsmodus in Richtung der Exekutive wird von Rosanvallon (2016) als „Präsidialisierung“ der Demokratie gekennzeichnet und Symptome davon finden wir ebenfalls in Deutschland. Auch hier hat sich an der Regierungsspitze ein informelles Politikmanagement etabliert, das die Macht der Parlamente einschränkt und durch die Politikinszenierung mit nur wenigen Führungspersönlichkeiten in den Medien begünstigt wird. Machtverschiebungen haben sich aber ebenso in Richtung einer „Gegen-Demokratie“ und neuen Spielräume für zivilgesellschaftliche Akteure und selbstorganisierte Initiativen ergeben. „Die Rolle der Vertretungs- und Verhandlungsagenturen hat sich zusehends verringert, während Ad-hoc-Organisationen aus dem Boden schossen. Die Bürger haben inzwischen viele Möglichkeiten jenseits des Wahlzettels, um ihre Sorgen und Beschwerden zu artikulieren“ (Rosanvallon 2017, 24). Es entstehen so Aneignungs- oder Interventionsdemokratien, die
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umfassend als partizipative Demokratien gekennzeichnet werden können und in denen komplementär zur repräsentativen Demokratie in wachsendem Maße gemeinwohlorientierte Projekte und Organisationen treten. Deren Ziel ist es, „eine Gemeinschaft zu definieren, deren Organisation sich nach den Regeln der Verteilungsgerechtigkeit, den Prinzipien erweiterter Chancengleichheit und klar vereinbarten Normen des Umgangs zwischen Individuum und Kollektiv richtet“ (a.a.O., 282). In der Soziologie dominieren Diskurse zur „Großen Transformation“, wobei neben der Analyse der vielfachen Krisen ebenfalls Fragen zu grundlegenden institutionellen Innovationen und einer Gesellschaftssteuerung im Zentrum stehen. Dabei geht es sowohl um Alternativen zu den klassischen etatistischen Herrschaftsformen als auch korporatistischen Steuerungsversuchen, deren Blütezeit in Deutschland vorüber ist (vgl. Heinze 2009). Die Krise des traditionellen Korporatismus bedeutet nicht, gänzlich auf die sektoralen Selbstorganisationsfähigkeiten und Lösungskompetenzen der Organisationen des „Dritten Sektors“ (seien es die Tarif- und Berufsverbände, Genossenschaften oder im Gesundheits- und Sozialsektor die Wohlfahrtsverbände) zu verzichten. Gerade wenn es um fundamentale Strukturumbrüche oder Pfadwechsel geht, sind die Mechanismen der politisch-institutionellen Gestaltung von zentraler Bedeutung. „Für die Entwicklung moderner Gesellschaften sind die Verfahren der (innergesellschaftlichen) Interessenvermittlung und politischen Steuerung von buchstäblich entscheidender Bedeutung“ (Wiesenthal 2019a, 7). Dies impliziert für Transformationsanalysen sowohl den Einbezug der Strategieund Handlungsfähigkeit der zentralen politischen Akteure als auch der Dynamiken in einzelnen Subsystemen, weil nur dadurch die Frage nach den Transformationspotentialen näher geklärt werden kann. Implizit wird hier eine Ausdifferenzierung in gesellschaftliche Subsysteme unterstellt, die auf Basis eigener relativ autonomer Handlungslogiken operieren. „Aus der Perspektive der Wirtschaft stellt sich die Gesellschaft als Kapitalismus dar. Die Wissenschaft denkt sich die Gesellschaft als Wissensgesellschaft oder gar als Wissenschaftsgesellschaft. Für das Rechtssystem scheint es selbstverständlich, die Gesellschaft als Rechtsstaat zu begreifen. Die Medien verstehen alles als Teil einer großen Kommunikationsgesellschaft, die selbstverständlich ohne die Massenmedien nicht existieren könnte“ (Kühl 2018, 34). Die Indifferenz der einzelnen Funktionssysteme führt einerseits zu einer internen Entlastung, weil sich die Subsysteme durch ihre relative Autonomie auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können, sie bedeutet aber nicht Unabhängigkeit. „Nicht nur die kapitalistische Wirtschaft ist von einem funktionierenden politischen System, einer lebhaften Wissenschaftslandschaft und einem ausgefeilten Rechtssystem abhängig, sondern auch die Politik muss sich auf ein funktionieren-
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des Wirtschaftssystem und eine stabile Rechtsordnung verlassen können“ (a.a.O., 36). Auch kooperative Handlungszusammenhänge (bspw. eine Genossenschaft, eine Selbsthilfegruppe oder ein Quartiersprojekt) können unter Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht auf Austauschbeziehungen zu anderen Subsystemen verzichten. Die Reproduktion gemeinschaftlicher Selbstorganisation hängt selbst von der Zufuhr externer Ressourcen (wie Geld, Informationen, Räumlichkeiten etc.) ab. Zudem repräsentieren kooperative Formen der Hilfe, soziale Initiativen und Projekte für wohlfahrtsstaatliche Institutionen relevante Leistungspotentiale und Steuerungsressourcen, deren Nutzbarmachung gerade angesichts spürbarer Grenzen staatlicher Problemregulierung naheliegt. In diesem Kontext spielt es auch eine Rolle, über Selbstorganisationen innovative Formen der Problembearbeitung zu generieren, die in staatliche Programme übernommen werden können. Darüber hinaus ist in den letzten Jahren das Verständnis dafür gewachsen, dass es bestimmte Tätigkeitsbereiche und gesellschaftliche Aufgaben gibt, für die formale Organisationsformen im Vergleich zu kooperativen Gestaltungsformen nicht oder weniger gut geeignet sind. Mit der Fokussierung auf korporative Akteure in gesellschaftlichen Teilsystemen grenzt man sich von Theorien ab, die über eine „Große Transformation“ oder einen Übergang in eine grundlegend andere Gesellschaftsordnung spekulieren. Während Polanyi (1968/zuerst 1944) die „Große Transformation“ als einen Entbettungsprozess bei der Einführung in „ein aus Märkten zusammengesetztes und ausschließlich durch Marktpreise gesteuertes Wirtschaftssystem“ (a.a.O., 330) beschrieb, geht es heute um die Gefährdung der natürlichen Ökosysteme, Finanzmarkt- und Wachstumskrisen, die von manchen Beobachtern ebenfalls als dynamische Entbettungen gesehen werden. Als empirische Belege dienen zumeist markante Kennziffern wie die globale Erhöhung der Temperatur oder auch die Proteste für eine nachhaltige Energie- und Klimapolitik, die sich in den letzten Jahren ausgebreitet haben. Allerdings ist vor voreiligen historischen Vergleichen zu warnen, denn trotz aller Krisenrhetorik spricht derzeit wenig für eine systemverändernde Transformation unserer Gesellschaftsordnung. Im Folgenden geht es deshalb bei Transformationen pragmatisch um „grundlegende Strukturänderungen in einem oder mehreren Teilbereichen, die letztlich auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlen“ (Benz/Czada 2019, 244). Bei den näher betrachteten Subsystemen oder Handlungsfeldern handelt es sich vorwiegend um soziale Dienste im weitesten Sinn, die stark von zivilgesellschaftlichen Strukturen geprägt sind. Besondere Beachtung kommt insofern der sozialen Infrastruktur und explizit den in Deutschland starken Nonprofit-Organisationen wie den Wohlfahrtsverbänden zu, die die Feldstrukturen durch ihren institutionell verfestigten
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Status („Subsidiaritätsprinzip“) prägen. Wenn von einem grundlegenden Wandel auf der Meso-Aggregationsebene gesprochen wird, rücken aber auch die relativ abgeschotteten Politikarenen („Silos“) in den Blick, die im Hinblick auf Transformationen überwunden werden müssen. Innovationen bedeuten, neue Formen organisierter Vernetzung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern20 bzw. Steuerungsformen zu etablieren, um die Potentiale zu nutzen. Streeck spricht im Zusammenhang einer Erneuerung der Infrastrukturpolitik und einer Revitalisierung der Fundamentalökonomie von neuen „Faktorkombinationen“, um kollektive Nutzensteigerungen zu erreichen (ders. 2019, 28). Die Nutzbarmachung von zivilgesellschaftlicher Solidarität und Selbstorganisationsfähigkeiten gilt nicht nur für soziale Infrastrukturen und soziale Dienste, sondern auch in anderen Politikfeldern wie etwa dem Klimaschutz, der Frage des Wohnens und der Sozialraumentwicklung, der Energie- und Wasserversorgung sowie generell Fragen der Daseinsvorsorge (vgl. hierzu die Beiträge in Neu 2009). Den nachfolgenden Überlegungen liegt ein Innovationsbegriff zugrunde, der über naturwissenschaftlich-technische Produkt- und Prozessinnovationen oder Marktinnovationen hinausgeht und auf die Neukonfiguration politisch-sozialer Arrangements zielt. Es handelt sich dann um eine soziale Innovation, wenn von einer bestimmten Gruppe von Akteuren eine intentionale Neukonfiguration sozialer Praktiken in bestimmten Regelungsfeldern mit dem Ziel stattfindet, Herausforderungen und Probleme sozialintegrativer (gemeinwohlorientierter) und zugleich effizienter zu lösen als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist. Innovationen können dabei marktvermittelt oder „nonprofit“ ausgerichtet sein. Die Fokussierung auf den heterogen zusammengesetzten Nonprofit-Sektor positioniert sich gut in die neue Schwerpunktsetzung der Innovationsforschung, die inzwischen von der Konzentration auf technische Innovationen abgerückt ist zugunsten sozialer Innovationen und insbesondere einem Mix von sozialen und technischen Innovationen. „Innovationspraxis ist geradezu prototypisch eine Praxis, die Brücken schlägt, Verbindungen herstellt, Verschiedenes verbindet, die 20 An dieser Stelle kann nicht auf die Unterscheidung zwischen der systemtheoretisch orientierten Ausdifferenzierung in Subsysteme und den auf unterschiedlichen Kapitalsorten basierenden Feldern in Anlehnung an Bourdieu eingegangen werden (vgl. Bourdieu 1982; zur Diskussion vgl. aus unterschiedlicher Sicht Barlösius 2011, 90ff, Fürstenberg 1995, Kieserling 2008 und Kühl 2018). Für die hier verfolgte Argumentation stehen die Parallelitäten zwischen gesellschaftlichen Systemen bzw. Subsystemen und Feldern bzw. Handlungsfeldern im Vordergrund. Dies gilt insbesondere für die Eigenlogik und Fähigkeit der Selbststeuerung der Felder. „Jedes Funktionssystem orientiert sich an eigenen Unterscheidungen, also an eigenen Realitätskonstruktionen, also auch an einem eigenen Code“ (Luhmann 1988, 346).
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aber auch Arenen der Verhandlung, des Konflikts und der Abgrenzung einrichtet“ (Passoth/Rammert 2016, 58; vgl. auch die weiteren Beiträge in Rammert et al. 2016 sowie Häußling 2019, Howaldt/Jacobsen 2010 und Howaldt et al. 2019). Eine derartige Schwerpunktsetzung zielt auf eine Korrektur der soziologischen Gegenwartsanalysen und Aussagen zur zukünftigen Gesellschaftsgestaltung ab. Dazu werden die zentralen Argumente der zeitgenössischen Studien reflektiert und ihre Lücken herausgestellt. Kurz zusammengefasst bestehen sie in einer mangelnden Berücksichtigung des Charakters der Solidarität als gesellschaftliche Substanz und real auffindbaren Leistungspotentialen im „Dritten Sektor“ (neben Markt und Staat), der die „Fundamentalökonomie“ der Gesellschaft bildet (vgl. Streeck 2019) und zentral für die soziale Ordnung ist, aber auch im Transformationsprozess in Richtung einer nachhaltigen Gesellschaft durch seine soziale Praxis bedeutsam ist. Diese Gestaltungs- und Steuerungspotenziale müssen aber systematisch freigelegt und in organisierter Form vernetzt werden. Eine Transformation geschieht nur über eine gesteuerte Neukombination der Steuerungsprinzipien von Staat, Markt und der Solidarität als gemeinnützige Struktur. Man könnte auch von der Notwendigkeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag sprechen, um die grundlegenden Umsteuerungsnotwendigkeiten zu verdeutlichen. Sowohl die einseitige Fixierung auf staatliche (hierarchische) Steuerung als auch das Vertrauen in das freie Spiel der Marktkräfte haben als Gestaltungsmodell abgedankt. Auch in wirtschaftswissenschaftlichen Debatten wird zunehmend von einer Pluralität der Ökonomik und unterschiedlichen Wirtschaftsstilen und -formen gesprochen. Nicht-marktliche und jenseits staatlicher Planwirtschaft angesiedelte Wirtschaftsformen wie etwa Genossenschaften oder auch die im deutschen Sozialsektor dominierenden freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbände geraten so wieder in den Blickpunkt ökonomischer Analysen und wirtschaftspolitischer Strategien. „Der Preismechanismus (nichts anderes ist die unsichtbare Hand im freien Spiel der Kräfte) mag in unproblematischen Märkten ein Mechanismus sein, der tatsächlich über Wettbewerb nicht nur zu guten Lösungen, sondern auch zu erschwinglichen Preisen führt – als Modell für die gesamtgesellschaftliche Dynamik taugt er freilich kaum“ (Nassehi 2015, 292; vgl. auch Mason 2019, 59ff. und Tranow/ Schnabel 2019). Der Sozial- und Gesundheitssektor eignet sich besonders für einen Diskurs zur Neujustierung der Steuerungsformen, denn hier bietet sich vielfältiges Anschauungsmaterial dafür, dass der Staat allein immer weniger in der Lage ist, die Ereignisse und Prozesse derjenigen Teilsysteme, in die interveniert wird, unter Kontrolle zu bringen. Es geht vielmehr darum, Formen der relationalen Steuerung zu entwickeln, die Rahmenbedingungen dafür bereitstellen, die in den Teilsystemen vorfindlichen Handlungslogiken miteinander zu verknüpfen. Im
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wohlfahrtsstaatlichen Feld werden solche Varianten der Kontextsteuerung21 insbesondere bei dem Einbezug der Adressaten in sozialpolitische Maßnahmen sowie der Beteiligung verschiedener Nonprofit-Organisationen bei der Formulierung und Umsetzung staatlicher Sozialpolitik deutlich. Es ist daher kein Zufall, dass die Implementationsstruktur im Sozial- und Gesundheitssektor ein höchst komplexes Gebilde verschachtelter Teilzuständigkeiten und interdependenter Steuerungsebenen und Trägern darstellt. Von Ferber sprach mit Blick auf sozialstaatliche Institutionen von einer Systemvielfalt, die „eine soziologische Bearbeitung unter der Blickrichtung des Sozialsystems (erschwert), als daß sie sie erleichtert“ (ders. 1977, 14). Oft werden diese bedarfs- und personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen in einer intermediären Sphäre verortet und als hybride Systeme bezeichnet, die Prinzipen von Markt, Staat und Gemeinschaft miteinander (oft nicht konfliktfrei) verknüpfen (vgl. die Beiträge in Klatetzki 2010). Solche Verflechtungszusammenhänge betreffen nicht nur die gestuften Zuständigkeiten für sozialpolitische Aufgaben entlang des vertikalen Instanzenzuges vom Bund bis hinunter zu den Kommunen, sondern sie beziehen sich insbesondere auch auf die wechselseitigen Beziehungsstrukturen zwischen öffentlichen Institutionen einerseits sowie Nonprofit-Organisationen andererseits. In der Sozialpolitikforschung wurde schon früh auf die verbandsgesteuerten Aktivitäten und ihre Verknüpfung mit den sozialstaatlichen Institutionen hingewiesen: „Sozialpolitik ist ihrer historischen Entwicklung ebenso wie ihrer gegenwärtigen Gestalt nach ein Aktionsgebiet von Verbänden“ (von Ferber 1977a, 383).22 In diesem 21 Nach Willke gibt es drei idealtypische Mechanismen der Ordnungsbildung: Hierarchie, Netzwerk und Markt. Die strukturelle Koppelung, die auf die Notwendigkeit einer Öffnung der Geschlossenheit hinweist, um Steuerungsoptionen zu gewinnen, wird als Kontextsteuerung bezeichnet. „Entscheidend ist, dass strukturell gekoppelte Systeme ihre eigene Autonomie erhalten und durchhalten können, also vor allem die Tiefenstruktur ihrer Selbststeuerung selbst definieren und genau darin – und nur darin – ihre Identität, ihre Unabhängigkeit von externen Faktoren, ihre spezifische Logik und ihre operative Geschlossenheit begründen“ (ders. 2014a, 52; vgl. auch ders. 2020). 22 Die große Bedeutung der zentralen sozialpolitischen Organisationen (wie den Wohlfahrtsverbänden) wird allerdings weiterhin in sozialwissenschaftlichen Analysen nicht hinreichend reflektiert. Wenngleich konstatiert wird, dass Verbände „ein konstitutives Element von Wohlfahrtsstaatlichkeit in westlichen Demokratien“ sind und „wohlfahrtsstaatliche Politik ohne Verbände nicht denkbar (ist)“ (Klenk 2019a, 86), werden sie bspw. in dem ansonsten grundlegenden Sammelband von Obinger/Schmidt (2019) zur Sozialpolitik nicht berücksichtigt. Da in allen westlichen Ländern rund die Hälfte der Staatsausgaben auf die soziale Sicherung entfällt, überrascht es generell, wie wenig die wohlfahrtspolitische Arena wissenschaftlich erforscht wird. „Deutschland befindet sich bei den Sozialausgaben im Mittelfeld, was mit der These einer Politik
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Kontext kommen Steuerungsinstrumente wie die rechtliche, ökonomische, aber auch pädagogische Interventionsform in Betracht (vgl. Kaufmann 2002). Neben diesen Formen ist für den folgenden Argumentationsgang ein weiteres Steuerungsinstrument zentral: die Steuerung durch Verhandlungssysteme, die in vielen Sektoren seit Mitte der 1970er Jahre erheblich an Bedeutung gewann und in denen der Staat als „Architekt“ die jeweils spezifisch relevanten kollektiven Akteure moderierte. „Steuerung durch Verhandeln statt durch Anordnen und Umsetzen war die Parole, und die Theorie dazu hieß nun akteurzentrierter Institutionalismus“ (Streeck 2015, 72). Im Wohlfahrtssektor war diese Form der Steuerung nicht gänzlich neu, sondern hat historische Vorläufer: zentrale Akteure wie die Wohlfahrtsverbände gehören zu den inkorporierten Strukturen im Feld sozialer Dienste. Hinsichtlich der sozialrechtlichen Stellung der Wohlfahrtsverbände bildet hier das Subsidiaritätsprinzip den Ordnungsrahmen, wobei deutliche Parallelen zum Neokorporatismus als Modus gesellschaftlicher Steuerung unübersehbar sind. In sozial- wie machtpolitischer Hinsicht ist hierin die Vorrangstellung der Wohlfahrtsverbände ein wichtiger Ankerpunkt und wurde in den Debatten um neokorporatistische Verhandlungssysteme in den 1970er Jahren wiederentdeckt (vgl. die Beiträge in Heinze 1986 sowie Heinze/Olk 1981). Die privilegierte Stellung der Wohlfahrtspflege leitete sich auch daraus ab, dass sie eine größere Nähe zu den persönlichen Lebensumständen der Bürger für sich reklamierten. Die Formel vom Vorrang „freier“ Träger spielte bereits in den Kontroversen um das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 und die Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1924 eine prominente Rolle. In diesen Gesetzgebungen wurden die Wohlfahrtsverbände nicht nur zum ersten Mal erwähnt, sondern es wurde ihnen auch ein besonderer Gestaltungsstatus eingeräumt, die in der Praxis darauf hinauslief, keine öffentlichen Einrichtungen einzurichten, soweit verbandliche vorhanden waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die Diskussionen um die Stellung der „freien“ und „öffentlichen“ Träger fort und es wurde in den verschiedenen gemischt besetzten Gremien verhandelt, wie im Zuge wachsender Regulierungsverantwortlichkeiten des Wohlfahrtsstaates die Aufgaben zweckorientiert koordiniert und implementiert werden. Über die sektorale Kontextsteuerung kann das komplexe System sozialer Dienste angemessener operieren und eher sicherstellen, dass die auseinanderstrebenden Akteursinteressen gemeinsame Organisationsformen finden. Dabei geht es allerdes mittleren Weges in Einklang steht. Auf der Finanzierungsseite weicht Deutschland hingegen mit seinem historisch bedingten hohen Sozialbeitragsanteil deutlich vom internationalen Durchschnitt ab“ (Obinger 2019, 556; vgl. zu den unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatsregimes auch Manow 2019a).
2.2 Von der Hierarchie zur Vernetzung: Kontextuelle Steuerung
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dings nicht um die Aufhebung des Spannungsfeldes zwischen den Steuerungsimperativen der politischen Akteure und der verbandlichen Selbstorganisation, vielmehr um die konstruktive Gestaltung struktureller Kopplungen.
2.2
Von der Hierarchie zur Vernetzung: Kontextuelle Steuerung
Eine derartige Problemsicht läuft auf eine Neuordnung der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Steuerungszusammenhängen Markt, Hierarchie und Solidarität (bzw. Netzwerke) hinaus. Es geht darum, die zivilgesellschaftlichen Hilfepotenziale dort zu fördern, wo sie sinnvoll sind, und dies bedeutet vor allem dort, wo die freiwillige Bereitschaft und auch die Mittel zur selbstorganisierten Hilfe entweder bereits existieren oder durch neue Formen der Kontextsteuerung etabliert werden können. In der hier näher betrachteten wohlfahrtspolitischen Arena spielen Verbände und andere Sozialorganisationen eine zentrale Rolle und haben eine subsystemspezifische Selbststeuerung etabliert, die sich durch Autarkiebestrebungen kennzeichnen lässt. Dies heißt aber nicht, dass sie sich völlig separiert haben und nur noch einer Eigenlogik folgen, vielmehr sind gerade Wohlfahrtsorganisationen wechselseitig mit staatlichen Institutionen verknüpft (ein neokorporatistisches Koordinations- und Verhandlungssystem). „Wie alle komplexen dynamischen Systeme sind auch Organisationen oder Verbände durch Selbstreferenz, Rekursivität und operative Schließung gekennzeichnet, aber dies ist kein Argument gegen bestimmte Möglichkeiten der Beeinflussung von außen“ (Willke 2020, 23). Allerdings muss jede Form von Kontextsteuerung (in Deutschland etwa prominent nach dem Subsidiaritätsprinzip) berücksichtigen, dass sich kooperative Handlungsstrategien mit den organisierten Akteuren der Zivilgesellschaft unter anderen Motivations- und Institutionalisierungsformen aufbauen als sie für die marktliche Ordnungsbildung oder die hierarchische Logik politisch-administrativer Systeme gelten. Zudem gilt explizit für das sozialpolitische Handlungsfeld, die Gestaltungsmacht zurückzugewinnen, denn das wohlfahrtsstaatliche Institutionensystem kennzeichnet eher Erstarrung als Dynamik. „In den ausgebauten Wohlfahrtsstaaten des globalen Nordens wurde Sozialpolitik weitgehend zu einer Sache der Bestandserhaltung staatlicher Bürokratien, der Wählerattraktion von Volksparteien, der Pflege der Pfründen von Interessenverbänden und Wohlfahrtsorganisationen, und der Urteile einer Sozialgerichtsbarkeit, die den sozialpolitisch positiv Privilegierten als Mittel der Besitzstandswahrung dient. Verteilungskonflikte finden nur noch innerhalb der Sozialpolitik statt. Es ist deshalb alles
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2 Beschleunigungsdynamiken, Politikstagnation und …
andere als zufällig, dass „Pfadabhängigkeit“ zum dominanten Erklärungsmodell wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen aufgestiegen ist. Sozialpolitik wird kaum mehr als Instrument einer rationalen, sich soziale Ziele setzenden Gesellschaftspolitik gesehen, genau so wenig wie sich Soziologie noch als sozialpolitische Produktivkraft verstehen würde. Der Kontrast zur historischen Formierung von Soziologie und Sozialpolitik könnte kaum größer sein“ (Rieger 2019, 55; vgl. auch Voigt 2019). Erstarrungstendenzen zeigen sich im politisch-administrativen System pointiert hinsichtlich der Gestaltung des demografischen Wandels. Inzwischen hat die Politik zwar dieses Gestaltungsfeld entdeckt, allerdings bleibt die Frage offen, inwieweit es sich primär um symbolische Politik handelt oder ob es schon zu einem grundlegenden Politikwandel gekommen ist. Die Folgewirkungen der Alterung der Gesellschaft waren bereits spätestens seit Mitte der 1970er Jahre bekannt, dennoch leiteten die politischen Akteure keine strategische Neuausrichtung ein. Kaufmann (2002a) spricht mit Blick auf das Sozialleistungssystem in Deutschland von „demografischer Blindheit“. Diese Feststellung ist auch heute noch weitgehend zutreffend. Es ist unbestreitbar, dass in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er Jahren in den Ruhestand gehen und die Zahl der jüngeren Erwerbstätigen zurückgeht (heute kommen auf 100 potenzielle Beitragszahler 37 Senioren, im Jahr 2040 werden es 53 sein), so dass grundlegende Strukturreformen notwendig sind. Dis Diskussion darüber wird aber nicht offen geführt, die derzeitige große Regierungskoalition hat wieder eine Rentenkommission eingesetzt, allerdings wohl eher nicht, „um das Sozialsystem zu retten – sondern um die Regierung zu retten“ (Schmergal 2020). Dies führt folgerichtig zu offenen Konflikten (von Denkverboten und Blockaden ist die Rede), weil die Wissenschaftler trotz unterschiedlicher Schulen und Disziplinen gar nicht so weit auseinander liegen. Allerdings weist schon die Besetzung der Kommission mit nur wenigen Wissenschaftlern nicht unbedingt auf Vertrauen in wissenschaftlich untermauerte Fakten und ein nachhaltiges Rentenkonzept hin. Am Ende der Kommissionsarbeit eskalierten die Auseinandersetzungen, bspw. hinsichtlich der grundlegenden Frage, ob nicht mit steigender Lebenserwartung auch die Altersgrenze angehoben werden muss (was automatisch geschehen könnte, um diese Frage aus dem Diskurs der politischen Parteien und ihren Ängsten, von den immer älter werdenden Wählern abgestraft zu werden, heraus zu nehmen). Derzeit würde eine solche richtungsweisende Entscheidung seitens der Bundesregierung sicherlich auch Widerstände aktivieren, je länger man aber diese Strukturentscheidung hinausschiebt, desto größer werden schon aufgrund der demografischen Entwicklung die Widerstandskräfte. Von einem Zukunftskonzept für die soziale Sicherung ist aber derzeit nicht mehr sprechen, eher
2.2 Von der Hierarchie zur Vernetzung: Kontextuelle Steuerung
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wird man wohl ein tendenzielles Politikversagen konstatieren müssen, wenngleich sich in der sozialpolitischen Arena durchaus noch Gestaltungsoptionen für eine nationale Regierung befinden, während diese in der globalisierten kapitalistischen Wirtschaft nur noch sehr begrenzt vorhanden sind. Im Folgenden geht es trotz aller Erfahrungen mit unzureichenden politischen Planungs- und Implementationsprozessen um die Aufrechterhaltung eines gestalteten Wandels, der sich absetzt von bloßer Evolution, „also ein Handeln mit anspruchsvollen, sich deutlich vom Status quo absetzenden Zielsetzungen, das in zeitlicher Hinsicht weit über den üblichen Zukunftshorizont des Tuns hinausschaut, sich in sachlicher Hinsicht um eine möglichst umfassende Informationsverarbeitung bemüht und in sozialer Hinsicht nach möglichst großem Konsens über Ziele und Wege dahin strebt“ (Schimank 2014, 230). Bevor ein solches Gestaltungshandeln in Form einer Kontextsteuerung im Wohlfahrtssektor skizziert werden kann, müssen zunächst die Leistungspotentiale dieses Sektors umrissen werden. Dabei stehen die formellen Organisationen des Nonprofit-Sektors, insbesondere die Wohlfahrtsverbände, die in Deutschland die wesentlichen Pfeiler im Feld der sozialen Dienste darstellen sowie die gemeinnützigen Genossenschaften im Mittelpunkt. Damit sind die Potentiale der Zivilgesellschaft nicht ausgeschöpft, es gibt zudem ein breites Spektrum sozialen Engagements, das eine eigenständige Quelle der Wohlfahrtsproduktion darstellt und sich traditionell in Verbänden und Vereinen organisierte, nun aber fluider geworden ist und sich zunehmend neben den Sozialorganisationen platziert (vgl. als Überblick die Beiträge in Krimmer 2019). Dieser Prozess des Organisierens ohne Organisationen wird vorangetrieben durch die umfassende Digitalisierung, die neue Spielräume für selbstorganisierte Beziehungsnetze eröffnet hat. Der Wandel des sozialen Engagements, der auf Strukturverschiebungen in der Arbeitsgesellschaft, Wertverschiebungen und den demografischen Wandel (mit steigenden Zeitkontingenten für die älter werdende Bevölkerung) zurückzuführen ist, wird ebenfalls näher beleuchtet. Die verschiedenen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements gehören konstitutiv zur „Ökonomie des Alltagslebens“ (vgl. Foundational Economy Collective 2019) und könnten durch eine Neuvernetzung weitaus nutzenbringender zur Anwendung kommen. Die Nutzung der Zeit als Ressource darf aber nicht Instrumentalisierung im Rahmen einer Ökonomisierungsstrategie des Sozialen bedeuten, denn dann würden die spezifischen Leistungen letztlich eingeengt und an Wirkung verlieren. Die hinter der Konzentration auf wesentliche Elemente des „Dritten Sektors“ und neue Vernetzungsformen stehende These lautet: es gibt in Deutschland trotz aller Diskurse zur „Landnahme“ und eine „ökonomisch-ökologische
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Zangenkrise“ (Dörre 2019) einen relativ großen Sektor gemeinnütziger NonprofitOrganisationen und auch ein hohes Maß an sozialem Engagement. Diese plural zusammengesetzte soziale Basis in ihrer Verknüpfung mit öffentlichen Institutionen bietet einer transformativen Demokratie Entfaltungsspielräume und kann auch auf andere Subsysteme wie den Energie- und Mobilitätsbereich ausstrahlen. Es ist der politisch-administrativen Ebene inzwischen hinreichend bewusst, dass die Verbesserung der Kooperation und der Aufbau neuer Netzwerke, d. h. das bessere Zusammenwirken von öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Akteuren immer wichtiger wird, weil zukunftsträchtige Innovationen nur noch zustande kommen, wenn Ressourcen und Potentiale aus unterschiedlichen Funktionsbereichen miteinander verknüpft werden. Dabei könnte sogar die Fokussierung auf Nonprofit-Organisationen neue Impulse freisetzen, denn der Verbandstypus Genossenschaft23 bietet sozialintegrative Lösungen, indem er die unterschiedlichen Handlungslogiken der sozialen Institutionen (Markt, Beruf, Organisation, soziale Netzwerke wie Familien etc.) integriert: „die Netzwerklogik unspezifischer Reziprozitätserwartungen, die Marktlogik spezifischer Reziprozität und individueller Nutzenmaximierung, die Normen von Berufsehre und -ethos, die Organisationslogik spezifischer und begrenzter Normen, Loyalität und Reziprozität sowie die generalisierte Normen- und Regelorientierung des staatlichen Zwangs“ (Pries 2019, 100). Da die Reichweite hierarchischer Steuerungsmethoden allein zurückgeht, wird auch in international vergleichender Perspektive explizit von einer kontextuell aus23 Um die gerade in letzter Zeit auftretende Vielfalt einzufangen (manche selbstorganisierten Initiativen nennen sich Genossenschaften, obwohl sie rechtlich keine sind), wird von folgender breiten Definition ausgegangen: „Genossenschaften weisen spezifische Merkmale auf, die sie von anderen Unternehmenstypen abgrenzen. Von ihrem Charakter her sind Genossenschaften Selbsthilfeorganisationen mit eingerichtetem Geschäftsbetrieb. Ihre Mitglieder unterhalten gemeinsam einen demokratisch geführten Geschäftsbetrieb, dem bestimmte betriebliche Funktionen der rechtlich und wirtschaftlich eigenständig bleibenden Mitglieder zur Ausführung übertragen werden. Die Mitglieder kaufen entweder bei dem genossenschaftlichen Geschäftsbetrieb ein, setzen als Lieferanten über den genossenschaftlichen Geschäftsbetrieb ab oder arbeiten als Kapitalgeber und zugleich Beschäftigte im genossenschaftlichen Geschäftsbetrieb. Man spricht in diesen Fällen vom Identitätsprinzip der Genossenschaft, d. h. von der Identität eines Mitglieds als Kapitalgeber und Kunde, als Kapitalgeber und Lieferant oder als Kapitalgeber und Beschäftigter. Anhand des Identitätsprinzips können Fördergenossenschaften und Produktivgenossenschaften unterschieden werden. Während bei Fördergenossenschaften die Kapitalgeber zugleich Kunden und/oder Lieferanten sind, liegt bei Produktivgenossenschaften eine Identität von Kapitalgebern und Beschäftigten vor“ (Blome-Drees et al. 2015, S. 19; vgl. auch Walk 2019).
2.3 Wandel und Kontinuität der Arbeitsgesellschaft
53
gerichteten, sensiblen und experimentell angelegten neuen Form von „tentative“ Governance gesprochen; bspw. in der regionalen Struktur- und Innovationspolitik (vgl. Heinze et al. 2019c und Kuhlmann et al. 2019). In der Techniksoziologie spricht man von einem Transition Management als ein „dritter Weg zwischen zentraler Steuerung (Staat beziehungsweise Hierarchie) und dezentraler Koordination (Markt), der durch eine Kombination von langfristigen Visionen und kurzfristigem experimentellem Lernen geprägt ist. Das Modell ist zudem dezidiert als Politikinstrument konzipiert, das Ansatzpunkte für eine gezielte Steuerung des soziotechnischen Wandels zu identifizieren sucht“ (Weyer 2019, 151). Gefragt ist eine subsystemspezifisch und dezentral vernetzte Kopplungsstrategie, die auf einem gemeinsamen Entwicklungsszenario mit verschiedenen Akteuren beruht und je nach Bedarf über administrative Grenzen hinausgehen muss. Die Attraktivität kontextueller Steuerungsmodelle leitet sich aus den endogenen Potentialen ab, die von einer zentralen Politikstrategie nicht mehr erfasst werden können. Überwunden werden müssen dafür die in vielen Sektoren aufzufindenden dominanten Eigendynamiken, klarer formuliert: Versäulungen. Dass über derartige auf die Vermischung unterschiedlicher Steuerungsmedien ausgerichtete Problemlösungsformate in den soziologischen Diskursen der Gegenwart kaum nachgedacht wird, liegt an der Fixierung und Ausschmückung des „systemischen Zwangs zu fortwährenden Landnahmen, zu Akkumulation und Marktexpansion“ (Dörre 2019, 28).
2.3
Wandel und Kontinuität der Arbeitsgesellschaft
Die soziologischen Gesellschaftsdiagnosen der letzten Jahre konzentrieren sich auf eine „Abstiegsgesellschaft“ oder thematisieren das „erschöpfte“ Selbst als gesamtgesellschaftliches Phänomen (vgl. Nachtwey 2015 sowie Ehrenberg 2011). Diese Deutungen sind allerdings zumeist relativ pauschal und verallgemeinern oft verschiedene sozioökonomische Wandlungsprozesse. So wird seit geraumer Zeit auch für Deutschland vermutet, dass sich die kollektive Aufstiegsdynamik, wie sie sich in der Prosperitätsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet und ausgebreitet hat, abgeschwächt hat und es besonders in der gesellschaftlichen Mitte zur Ausbreitung kollektiver Abstiegsängste und Gefühle von Kontrollverlusten kommt. Der mediale „Zeitgeist“ entspricht diesem Gefühl und thematisiert auf breiter Front soziale Abstiegsprozesse (vgl. auch Münkler/Münkler 2019, 173ff.). Eine solche Sichtweise ist allerdings verengt und verkennt die gegenläufigen Entwicklungen, die das Abstiegsnarrativ relativieren. „Insgesamt ist der Lebensstandard fast aller Bevölkerungsgruppen in einem von niemandem vorher-
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2 Beschleunigungsdynamiken, Politikstagnation und …
gesehenen Ausmaß gestiegen und hat damit alle seit Jahrhunderten gewohnten Lebensverhältnisse der breiten Masse der Bevölkerung von Grund auf umgewälzt. Diese ständige Besserstellung der Lebenslagen war gerade nicht, wie immer wieder zu lesen ist, begleitet von einer ebenso ständigen Erhöhung der Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient der Nettoäquivalenzeinkommen beläuft sich heute auf ca. 0,3, ein Wert, den er auch Anfang der 1960er-Jahre des letzten Jahrhunderts hatte“ (Berger 2019, 89f.; vgl. hierzu auch aus unterschiedlicher Sicht Butterwegge 2019, Niehues/Orth 2018 und Stockhausen/Niehues 2019). Deutschland liegt hinsichtlich der sozialen Ungleichheit im internationalen Vergleich seit Jahrzehnten im Mittelfeld; skandinavische Länder sind etwas besser platziert, während insbesondere die USA und Großbritannien, aber auch südliche Länder schlechter abschneiden. Bezüglich der nationalen Ungleichheiten hat sich die Situation in Deutschland Ende der 1990er Jahre (bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit) verschlechtert, aber schon seit 15 Jahren hat sich der Gini-Koeffizient kaum verschoben. Allerdings liest man weiterhin von einer Verschärfung sozioökonomischer Spaltungen und dies scheint bei vielen Deutschen auf fruchtbaren Boden zu fallen. „In kaum einem Industrieland ist die Sorge vor sozialer Ungleichheit so ausgeprägt wie in der Bundesrepublik. Laut den Marktforschern von Ipsos, die weltweit Menschen nach ihren größten Sorgen fragen, teilten 2019 rund 47 Prozent der Bundesbürger diese Beklemmung“ (Heuser 2020, 21). Empirische Daten, die auf den gesteigerten Wohlstand und die Verbesserung der individuellen Lebensqualität (der Mehrzahl der Deutschen, allerdings nicht aller) hinweisen, werden nicht adäquat wahrgenommen, Spaltungs- wie Krisenrhetoriken dominieren eher den gesellschaftspolitischen Diskurs. „Schaut man sich an, wie lange, gesund, sicher, zufrieden und wohlhabend Deutsche durchschnittlich leben, findet man kaum einen Indikator, der nicht eine Verbesserung anzeigt. Das heißt nicht, dass alles gut ist, aber es heißt, dass das meiste, was Menschen im Leben wichtig ist, heute viel besser ist, als es in der Vergangenheit war“ (Schröder 2018, 7; vgl. auch Delhey/Lübke 2019, Lengfeld 2019 und Lübke 2019 hinsichtlich der Skepsis gegenüber voreiligen, empirisch nicht fundierten Studien zu einer zunehmend angstbestimmten Gesellschaft zudem Hüther/Diermeier 2019). Diese Fakten, die neben der Hervorhebung ungleicher Ressourcenverteilungen (insbesondere im Bildungssektor) und auch anderer sozioökonomischer Deprivationen eben auch zur sozialstrukturellen Realität gehören, werden kaum wahrgenommen, eher macht sich Pessimismus breit und in manchen strukturschwachen Regionen fühlen sich die Menschen verlassen und abgehängt. Neuere empirische Untersuchungen sprechen von fast einem Viertel „Wütenden“ (23 %) und einem „unsichtbaren Drittel“ der deutschen Gesellschaft (konkret: 30 %), die „sozial und politisch nicht eingebunden sind“ (Krause/Gagné 2019, 8f.). Generell
2.3 Wandel und Kontinuität der Arbeitsgesellschaft
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spielen Emotionen sowohl in der Öffentlichkeit als auch der Politik wieder eine größere Rolle – viele fühlen sich nicht verstanden, skandalisieren soziale Ungleichheiten und sind extrem kritisch vor allem gegenüber politischen und auch wissenschaftlichen Eliten. Dazu gehört auch eine starke Sensibilisierung für das Thema Ungleichheit in der Bevölkerung. Nach verschiedenen Umfragen sieht eine deutliche Mehrheit die Verteilungsverhältnisse als ungerecht an, macht sich große Sorgen um das Thema Armut und hält die soziale Ungleichheit für zu hoch (vgl. Diermeier/Niehues 2020). Diese gefühlte Repräsentationslücke liegt auch in der selektiv wirkenden staatlichen Politik der letzten Jahrzehnte begründet. „Die Entscheidungen des Bundestags haben in den letzten dreißig Jahren sehr viel häufiger mit den Präferenzen von Menschen übereingestimmt, die hohe Einkommen haben oder denen es insgesamt besser geht. Sehr viel seltener gab es Übereinstimmungen mit den Präferenzen der Ärmeren. Und diese Diskrepanz ist dann besonders groß, wenn Arm und Reich verschiedene Dinge wollen“ (Schäfer 2020, 15f.; vgl. auch ders. 2015 sowie Elsässer et al. 2017 und Kurtenbach 2019). Parallel zur emotionalen Berührtheit für die Themen Armut und soziale Ungleichheit (insbesondere mit Blick auf Altersarmut) sind radikale Gesten sind wieder auf dem Vormarsch: „Lange Zeit war die Radikalität, abgesehen von den realen Protestbewegungen der Sechziger- und dem Terrorismus der Siebzigerjahre, eher eine theoretische Größe. […] Es folgte über Jahrzehnte hinweg eine Politik, auch international, die sich um Verständigung, um Kompromisse und den Erhalt von Bündnissen bemühte. Seit einem halben Jahrzehnt ist vieles davon verschwunden. Neue radikale Politikerfiguren inszenieren, grell und wie überzeichnet, das Ende von Übereinkünften und ziehen Applaus und Unterstützung aus einer schon längst nicht mehr paritätisch gestimmten, sondern nach Einzelinteressen und Einzelkümmernissen aufgesprengten Gesellschaft“ (Klute 2020, 49). Emotionen prägen zunehmend die politische Kultur, wissenschaftliche Wahrheiten werden demgegenüber bezweifelt, subjektive Wahrheiten breiten sich aus. Man kann von einer „Transformation der Emotionskultur“ seit den 1970er Jahren sprechen. Während die Kontrolle von Emotionen im Industriezeitalter dominant war, wurden sie in den letzten Jahrzehnten nicht nur legitim, sondern werden „in vieler Hinsicht auch gesellschaftlich als das Zentrum eines gelingenden Lebens dargestellt“ (Reckwitz 2020). Über sozioökonomische Fakten sind diese Verunsicherungen kaum zu erklären, sozialpsychologische Erklärungsversuche sind hinzuzufügen. Pörksen (2018) spricht von einer „Zeit der Empörungskybernetik, in der miteinander verschlungene, sich wechselseitig befeuernde Impulse einen Zustand der Dauerirritation und der großen Gereiztheit erzeugen“ (a.a.O., 7). Verantwortlich dafür sind neben der veränderten Medienlandschaft und den neuen digitalen Optionen sicherlich die Globalisierungsprozesse und die vielfältigen
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ökologischen Gefährdungen, aber auch Migrationsströme intensivieren Kontrollverluste, die sowohl Individuen als auch Organisationen treffen können und deren Strategiefähigkeit einschränken. Wie vernetzt inzwischen die Weltwirtschaft ist und welche Bedeutung China als Handelspartner einnimmt, ist Anfang 2020 anhand der Ausbreitung des Coronavirus zu studieren, der weitreichende ökonomische Folgewirkungen zeitigte und nicht nur die Börsen erschütterte. Neben den negativen Auswirkungen auf die Konjunktur, die auf die Fragilität der globalen Verflechtungen und die Krisenanfälligkeit der Ökonomie hinweisen24, werden hierdurch Ängste vielfältiger Art geschürt und die Politik in einen Dauermodus der Erregung versetzt, der andere entscheidungsbedürftige Themen verdrängt. Medienberichte mit reißerischen Titeln wie bspw. „Wenn die Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird“ (Der Spiegel v. 1.2.2020) bewirken weitere subjektive Verunsicherungen und bestätigen die These, dass die Furcht „als Merkmal unserer Gesellschaften“ (Ehrenberg 2011, 20) bezeichnet werden kann. Die rasende weltweite Verbreitung des neuartigen Virus unterstützt eine ohnehin vorhandene diffuse Zukunftsskepsis und reiht sich damit in das gegenwärtig dominierende Narrativ über die Stimmungslage der Bevölkerung ein. Einerseits sind diese Diagnosen einer „erschöpften“ Gesellschaft mit vielen individuellen Überforderungssymptomen ernst zu nehmen, andererseits sollte man sich vor vorschnellen Katastrophen- und Zusammenbruchszenarien hüten (vgl. Heinze 2011 und Grünewald 2013). Solche Gesellschaftsdiagnosen haben allerdings inzwischen den akademischen Raum verlassen und tauchen im Alltagsbild vieler Menschen auf. Immer öfter ist vom Abstieg der Mitte, von einem neuen digitalen Proletariat oder einer ethnischen Unterschichtung die Rede. Rosa leitet daraus die allgemeine Diagnose ab, „dass sich die moderne Sozialformation in der Situation eines „rasenden Stillstandes“ befindet – und auch selbst so wahrnimmt –, in der die progressiven Steigerungsleistungen und die daraus resultierenden Veränderungen nicht mehr als Teil einer Fortschrittsgeschichte in eine gestaltbare 24 Derzeit (im Frühsommer 2020) sind die ökonomischen Folgen der Corona-Krise noch nicht exakt auszumachen. Nach den relativ schnell aufgetretenen Nachfrageeinbrüchen in bestimmte Branchen wie den Tourismus, das Messewesen oder Fluggesellschaften kommt es in vielen Bereichen zu Produktionsausfällen, die auf die globalen Wertschöpfungsketten und die exponierte Stellung Chinas in ihnen zurückzuführen sind. Wenn auch Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre, wie sie von manchen Kommentatoren geäußert werden, voreilig sind und die markanten historischen Unterschiede ausblenden, dürfte die durch einen Virus ausgelöste ökonomische Krise nicht nur eine Delle in der Konjunktur hinterlassen, sondern auch zu einer neuen Debatte über die internationale Arbeitsteilung und die Bedeutung lokaler Versorgungsicherheit führen.
2.3 Wandel und Kontinuität der Arbeitsgesellschaft
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Zukunft verstanden werden, sondern als Kampf gegen den Niedergang und das Abrutschen in den furchterregenden Abgrund des individuellen oder systemischen Zusammenbruchs. Die historischen Rolltreppen laufen gleichsam rückwärts, und Politiker wie Eltern werden von der Überzeugung getrieben, dass sie alles, was sie nur können, dafür tun müssen, damit es den Kindern bzw. den kommenden Generationen nicht schlechter geht als uns Heutigen“ (ders. 2019, 44). Angesichts der politischen Turbulenzen bei der Regierungsbildung in Thüringen Ende 2019/Anfang 2020 und insbesondere den daraus mit resultierenden internen Konflikten in der CDU – einer Partei, die für sich die „Mitte“ beansprucht und dies historisch auch in der bundesrepublikanischen Geschichte weitgehend eingelöst hat – wird auch wieder vehement in der Öffentlichkeit auf die gefährdete Mitte verwiesen (vgl. aus empirischer Sicht dazu Zick et al. 2019). Die „Zeit“ titelte am 13. Februar 2020 „Die Mitte wankt“ und sah die traditionell stärkste deutsche Volkspartei noch nie so zerstritten und desorientiert. Da auch die andere große Volkspartei, die SPD, seit Jahren unter Führungs- und Orientierungsschwäche leidet, bahnt sich ein Ende der jahrzehntelang die politische Landschaft prägenden Regierungsbildungen an. Ob mit dem Niedergang der beiden großen Volksparteien schon automatisch eine Gefahr für das Land verbunden ist, wie manche Kommentatoren meinen (vgl. etwa di Lorenzo 2020), scheint überzogen zu sein. Klar ist aber, dass stabile Regierungsmehrheiten wohl der Vergangenheit angehören, was auch ein Blick in die Nachbarländer bestätigt. In allen westlichen Ländern wurde ein erhebliches Misstrauensvotum gegenüber dem politischen System deutlich, politische Repräsentationslücken haben sich ausgedehnt, in die populistische Bewegungen stoßen. Auch wenn man nicht so weit gehen will, dass der Populismus die Politik des 21. Jahrhunderts revolutioniert und daher vom „siècle du populism“ gesprochen werden kann (Rosanvallon 2019), ist eine Zäsur in der politischen Kultur westlicher Länder festzustellen, der sich auch in den Affekten des Rechtspopulismus manifestiert. „Die Wutbürger reagieren auf die Beobachtung, dass eine entmutigte politische Klasse auf die gewachsenen Ansprüche an die Gestaltung ihrer sozialen Lebensgrundlagen mit Resignation antwortet. Im Schrumpfen der sozialdemokratischen Parteien verkörpert sich, weil man von diesen noch am ehesten politisches Handeln erwartet, der ganze Jammer einer politischen Klasse, die sich von der tatsächlich gewachsenen gesellschaftlichen Komplexität einschüchtern lässt; sie gibt ihren kleinteiligen Opportunismus der Machterhaltung als Pragmatismus aus, beschränkt sich auf das Klein-Klein der additiven Befriedigung von Gruppeninteressen und verzichtet auf eine Gestaltungsperspektive, die die wachsende Konkurrenz der Einzelinteressen einer immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft übergreift. Zulauf haben im Augenblick die beiden Parteien, die den globalen Kampf gegen den Klimawandel
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beziehungsweise die regressive Beschwörung der nationalen Identität als ein alles andere überragendes politisches Ziel propagieren“ (Habermas 2020, 9). Die Krise der traditionellen Volksparteien ist Symptom für eine insgesamt „gereiztere“ Gesellschaft, die nicht nur an den Rändern aggressiver wird. Die „Wutbürger“ sind allerdings in der Phase der Coronapandemie kaum noch zu hören, denn das alles bestimmende Narrativ ist das Virus. Es bleibt abzuwarten, wie lange die Verdrängung anderer Themen und Konflikte von der politischen Bühne anhält. Auch wenn derzeit den Regierungsparteien bei der Bekämpfung der Pandemie erhebliches Vertrauen entgegengebracht wird, wird sich dieser Zustand – je nachdem wie lange das Virus die Gesellschaft infiziert hält – aber auch wieder wandeln. Das Misstrauen gegenüber den politischen Eliten war vor der Coronapandemie deutlich gewachsen und äußerte sich in vielen westlichen Ländern im Wahlverhalten (etwa in den USA mit der Wahl eines populistischen Außenseiters zum Präsidenten). Aber nicht nur der Rechtspopulismus ist in verschiedenen Ländern (großteils stärker als in Deutschland) gewachsen; ebenso gewinnen autoritäre Regierungsformen weltweit an Bedeutung (vgl. Leggewie 2020). Es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen die Demokratie nicht mehr für so wichtig halten und aufgeschlossen gegenüber autokratischen Regierungsformen sind. Manche sprechen schon von „postfaktischen“ Zeiten, in denen eher Gefühlen als Fakten vertraut wird. Das Schlagwort „Postdemokratie“ macht die Runde. In diesem Kontext wird auch diskutiert, inwieweit die horizontale Konfliktlinie von rechts gegen links in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften abgelöst wurde – zugunsten der vertikalen Konfrontation von unten gegen oben. Die jüngsten französischen Protestbewegungen bieten dafür Anschauungsmaterial: „Gemeint ist die Kombination sozialer und räumlicher Fragmentierungen. Die Spaltung in Metropolen und Umland, und innerhalb der Metropolen in gute und schlechte Gegenden. Die Spaltung zwischen denjenigen, die der Einwanderung entstammen, und den Alteingesessenen. Zwischen jenen, die auf der Globalisierungswelle surfen, und den anderen, die sich darin untergehen sehen. Das sind mehrere Raster, übereinandergelegt, und es ergeben sich daraus Inseln, die jede für sich existieren. Verschwunden ist die eine bestimmende Matrix, nach der sich das Land organisiert hatte: der althergebrachte Gegensatz zwischen den katholischen Milieus, die politisch konservativ waren, und dem Block des linken Republikanismus, dessen Kern über lange Zeit kommunistisch geprägt war“ (Fourquet 2020, 5; vgl. auch ders. 2019 und Latour 2018).25 25 In der Coronakrise haben sich die räumlichen Fragmentierungen in Frankreich verschärft: während der Nordosten und insbesondere Paris stark betroffen ist, blieb der Südwesten eher verschont (vgl. Klimm/Pantel 2020).
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Derartige politische Achsenverschiebungen werden auch in Deutschland etwa bei der Analyse populistischer Strömungen konstatiert. So sind mentale Verfasstheiten ein wesentlicher Erklärungsfaktor für den Rechtspopulismus; es sind nicht nur die Globalisierungsverlierer oder wie im Fall Ostdeutschlands die Wendeverlierer, die zu den Aktivposten dieser Bewegungen gehören und bspw. die AfD wählen. Sicherlich begünstigen sozioökonomische Deprivationen solche Strömungen, Gefühle der Zurücksetzung und Nichtanerkennung sind aber ebenfalls maßgebliche Erklärungsgründe. Bei vielen Ostdeutschen herrscht durch die Wendeerfahrungen ein „Gefühl der sozialen Verwundbarkeit und ontologischen Unsicherheit“ (Mau 2019, 246; vgl. auch Bergmann et al. 2018, Kurtenbach 2018 sowie aus international vergleichender Perspektive Ther 2019 und Wuthnow 2018). Die derzeitigen Verunsicherungen sind in Deutschland vor dem Hintergrund eines erfolgreichen Wohlfahrtsstaates zu sehen, der einen historisch einmaligen Aufstieg für viele Menschen ermöglicht hat. Allerdings mehren sich die Zweifel, ob zukünftig das Wohlfahrtsniveau gehalten werden kann und viele stellen sich die Frage, ob das Land nicht überfordert sei. Der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (B. Lutz) wird für immer mehr Bürger unsicherer – dennoch ist Deutschland „Hoffnungsland“ für viele Menschen, die gern einwandern würden. Abschottungs- und Diskriminierungstendenzen breiten sich vor diesem gefühlten Bedrohungshintergrund aus, was auch am Wachstum rechtspopulistischer Gesinnungen sichtbar wird (vgl. Heitmeyer 2018). Dadurch gewinnen auch kulturpsychologisch orientierte Gesellschaftskonzeptionen an Bedeutung: „Es ist nicht der Einzelne, der gestresst ist, wir leben in einer Kultur, die in sich fragmentiert, zerrissen, anstrengend, eben unruhig ist, in einer Gesellschaft, die sich als ruheund rastlos präsentiert“ (Konersmann 2017; vgl. auch ders. 2015.). Vor diesem Hintergrund kann auch die wieder neu aufflackernde Sehnsucht nach Heimat eingeordnet werden, denn sie bietet scheinbar Sicherheit in einer komplexen und sich rasant wandelnden Welt, die für immer mehr Menscheneine Erosion des sozialen Zusammenhalts und Orientierungslosigkeit bedeutet und deshalb die Suche nach einem „festen Grund“ forciert (vgl. Grünewald 2019). Diese innere Zerrissenheit manifestiert sich nicht nur in gewachsener kultureller Vielfalt, sondern auch in einer (Wieder)-Belebung rechtsextremer Einstellungen, die insbesondere in gewissen sozioökonomisch „abgehängten“ Regionen auftreten. Sozialforscher warnen bereits länger vor der gewachsenen Fremdenfeindlichkeit, die sich in den letzten Jahren durch die Flüchtlingsströme hochschaukelte. Eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die nicht nur bei gesellschaftlichen Randgruppen vorkommt, sondern die auch in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt ist, wurde explizit schon vor einigen Jahren in den empirischen Studien zu „Deutsche Zustände“ thematisiert. Als wesentliche Hintergründe der gereizten
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Stimmung oft gepaart mit dem Wunsch nach „starker“ Führung werden soziale Desintegrationstendenzen genannt, weil die Integration in den Arbeitsmarkt nicht gelungen ist oder Anerkennungsdefizite vorliegen (vgl. Heitmeyer 2012, 2018 sowie Manow 2018).26 Schon vor der Coronapandemie herrschte deshalb eine gute Konjunktur auf dem Markt der Abstiegsdiagnostiker, denn Ängste um den Statuserhalt und Desintegration prägten schon länger die soziale Atmosphäre, während die andere Seite der Moderne, bspw. die erheblich gestiegene Lebenserwartung, kaum thematisiert wird. Anstatt die ausgebauten und im internationalen Maßstab vorzeigbaren sozialen Sicherungssysteme erfolgreich zu sichern, ergeht man sich oft in Schilderungen, wie die deutsche Wirtschaft einem Kollaps entgegensteuert und die Säulen des traditionellen Wohlfahrtsmodells bröckeln. Diese Schilderungen verblassten allerdings aufgrund der Erfahrungen mit dem im internationalen Vergleich funktionsfähigen deutschen Gesundheitssystem, das gerade in der Bekämpfung des Virus relativ gut abschneidet. Andererseits befeuert die Coronakrise die Empörungsdiskurse und Untergangsphantasien, weil sie auf massive Kontrollverluste nicht nur im Wirtschaftssektor verweisen können. Die global organisierten Märkte sind unbeherrschbarer geworden, wie es die Finanzkrise und die aktuelle Pandemie exemplarisch vorführen. Mit den ökonomischen und gesundheitlichen Irritationen geraten auch die sozialinstitutionellen Arrangements der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme ins Wanken. Verunsicherungsphänomene werden folglich auch in Gesellschaftstheorien verstärkt thematisiert, wobei der Fokus auf strukturell erzeugten Unsicherheiten liegt, die sich auch in der Erosion traditioneller kollektiver Teilhabe- und Schutzformen niederschlagen. Ein Indikator sind die nachlassenden Gewerkschaftsbindungen, die aber auch andere Großorganisationen treffen. „Obwohl die Erwerbstätigkeit in Deutschland ein Rekordniveau erreicht hat, liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad nur noch bei etwa 18 % der abhängig Erwerbstätigen. Im europäischen Vergleich ist das ein mittlerer Wert. Während der Organisationsgrad in Schweden noch etwa 67 % beträgt, ist er in zahlreichen Ländern unter die 20-%-Marke gesunken. In Frankreich sind nur noch 8 % der abhängig Erwerbstätigen gewerkschaftlich organisiert. Parallel dazu ist auch die Tarifbindung der Unternehmen in den meisten EU-Ländern rückläufig“ (Dörre 2019, 22: vgl. auch Streeck 2013).
26 Vgl. zu den sozialräumlichen Spaltungsprozessen in den USA und insbesondere die Situation in den abgehängten, unter Anerkennungsdefiziten leidenden Regionen im Süden auch die explorative Studie von Hochschild (2018).
2.3 Wandel und Kontinuität der Arbeitsgesellschaft
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Als zentrale Pfeiler der Statusverunsicherungen werden neben den Verdrängungs- und Rationalisierungseffekten auf dem Arbeitsmarkt tiefgreifende ökologische Gefährdungen ausgemacht, die eine breite Debatte zum Klimawandel, der Zerstörung natürlicher Ressourcen und der Artenvielfalt etc. ausgelöst haben. „Die Menschheit scheint vor einer Zäsur im 21. Jahrhundert zu stehen. Entweder geht es ökonomistisch so weiter wie bisher, dann besteht die Gefahr, dass die Biosphäre der Erde irreparabel zerstört wird, wodurch eine Zuspitzung ökologischer Verteilungskämpfe droht, die vielleicht zu finalen Ausscheidungskämpfen um die letzten Inseln der Bewohnbarkeit werden. Oder aber es gelingt, ökologisch und politisch zur Vernunft zu kommen und zu einem Wirtschafts-, Gesellschafts- und Lebensführungsmodell zu finden, das umwelt- und sozialverträglich für alle Bewohner der Erde ist. Selbst dann wird sehr viel an Askese, Disziplin und Maßhalten notwendig sein, also Bescheidenheit und Demut, um ein erfolgreiches Zusammenleben auf der klein gewordenen Erde zu ermöglichen“ (Müller 2019a, 552). Solch eine global anzusetzende und auf kollektive Vereinbarungen angewiesene Steuerungsaufgabe ist aber schwer in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ zu realisieren, wobei Singularisierung über die These der Individualisierung hinausgeht, die sich auf die gewachsene Selbstverantwortung bezieht. „Singularisierung meint aber mehr als Selbständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist“ (Reckwitz 2017, 9; vgl. auch Passoth/Rammert 2019, 162ff.). Wenn sich diese These nur ansatzweise bestätigt, hat dies immense Folgewirkungen auf die Steuerungsfähigkeit der Politik und Gesellschaftsgestaltung insgesamt, denn Singularisierung bedeutet, dass selbstgewählte Kollektive, die zumeist kulturelle Begründungsmuster (etwa Lebensstile) haben, zur zentralen Vergesellschaftungsform werden. „Singulare Kollektive stellen sich damit generell als Sozialitäten mit intensiver Affektivität dar, die nicht nur Praktiken, sondern auch Narrative und Imaginationen teilen“ (a.a.O., 62). Damit werden die zentralen Steuerungsformen, wie sie derzeit in Form von traditionellen Organisationen bestehen, tendenziell ausgehebelt. Die Logik des Besonderen stellt die Organisationsidentität und -praxis sowohl der politischen Parteien als auch der Interessenverbände vor erhebliche Steuerungsprobleme. Diese werden allerdings von manchen populistischen Strömungen einfach ignoriert und sogar Versprechungen in Richtung eines traditionell starken Staates gemacht, die vielfach als naiv und nostalgisch bewertet werden können. „Die rechte Nostalgie in den USA, in Frankreich oder in Deutschland verherrlicht das damals noch gültige traditionelle Familien- und Geschlechtermodell, die konservative Moral und die vermeintliche kulturelle Homogenität. Die linke Nostalgie sehnt sich nach der
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größeren sozialen Gleichheit, der starken Industriearbeiterschaft und dem Wohlfahrtsstaat der alten Industriegesellschaft. Die Nostalgie aus der Mitte schließlich blickt wehmütig zurück auf eine Ära der Volksparteien und integrierenden Verbände, des breiten Mittelstandes und des vermeintlich gemächlicheren Lebenstempos“ (Reckwitz 2019, 14f.). Aber nicht nur bei populistischen politischen Akteuren – sei es in Deutschland die AfD oder auf internationaler Ebene verschiedene nationale Regierungen – wird eine Revitalisierung eines „starken“ Staates beschworen. Generell breiten sich politische Strömungen aus, die als „Neodirigismus“ umschrieben werden können. „Neodirigismus zeichnet sich durch die folgenden Charakteristika aus: Erstens besteht ein geringes Vertrauen in die Fähigkeit von Märkten, Preismechanismen und Wettbewerb, wirtschaftliche Probleme zu lösen. Stattdessen wird staatlichen Institutionen zugetraut, durch steuernde Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen bessere Ergebnisse zu erzielen. Zweitens gehört zum Neodirigismus die Vorstellung, dass ökonomische Anreize für wirtschaftliche Entscheidungen keine zentrale Rolle spielen. Daraus folgt drittens die These, dass der Staat durch Preisregulierungen, Sozialtransfers oder Steuern Einkommen umverteilen kann, ohne dass größere Ausweichreaktionen und schädliche Nebenwirkungen zu befürchten sind“ (Fuest 2020). Der Blick in den Rückspiegel (in diesem Fall auf die Wirtschaftspolitik der 1960er und 1970er Jahre) auf angeblich „heile“ Zeiten kann als Symptom gesellschaftlicher Spannungszustände verstanden werden mit der Hoffnung, in Zeiten dynamischer Umbrüche darüber wieder Sicherheit zu gewinnen. Rückbesinnungen mögen zwar kurzfristig auch Gefühle in gewissen Bevölkerungsteilen bedienen und von der Notwendigkeit neuer strategischer Lösungen ablenken können, sie werden aber schon mittelfristig das Misstrauen der Bürger gegenüber einer in alten Denkfiguren operierenden Politik nicht beseitigen können. Ein Preis der ideologisch motivierten Diskurse um einen starken Staat ist allerdings die weitere Zersplitterung der Gesellschaft in immer stärker abgeschottete Teilgesellschaften. Neuerdings wird in soziologischen Diskursen in diesem Kontext der Begriff der gesellschaftlichen Frakturen verwendet. Sie sind „als Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs (zu) verstehen, die zu Fehlstellungen führen können. Anders als bei Knochen ist die Wahrscheinlichkeit für eine – noch ein Medizinerwort – vollständige `Reposition´ oder Ausheilung gesellschaftlicher Brüche sogar unwahrscheinlich“ (Mau 2019, 13). Auch wenn diese Gesellschaftsdiagnose primär auf Ostdeutschland bezogen ist, sind Tendenzen zur frakturierten Gesellschaft unübersehbar (vgl. auch Levin 2016). Mit Blick auf eine Politik des sozialen Zusammenhalts ergeben sich hieraus erhöhte Blockaden, denn bei wachsenden subjektiven Verunsicherungen zieht man sich eher aus assoziativen Zusammenhängen zurück. Repräsentative Befragungen konstatieren auch den Rückzug vieler
2.3 Wandel und Kontinuität der Arbeitsgesellschaft
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Menschen in kleine Kokons („Vermächtnis-Studie“).27 „Sie haben oft wenige Verbindungen zu Menschen aus anderen Schichten, keine Netzwerke mit ihnen, da ist kein Austausch über feste Familien- und Freundeskreise hinaus. Insbesondere Menschen mit einer niedrigen Bildung sind oft nur in diesen Kokons unterwegs“ (Allmendinger 2019, 70). Forciert werden solche Rückzüge in geschlossene Teilgesellschaften durch die digitalen Medien und die dort produzierten „Blasen“, die den Blick auf gesamtgesellschaftliche Dynamiken wie soziale Ungleichheiten verengen, wenn nicht sogar verzerren. Die Öffentlichkeit wird so weiter fragmentiert, indem sich die Personen in ihre eigenen „Blasen“ zurückziehen und primär in Netzwerken von Usern anstelle von sozialen Gemeinschaften agieren. „Aggregatoren mit ihren Algorithmen liefern individuell personalisierte Inhalte. Diese Informationen und Meinungsäußerungen passen perfekt zu den Interessen, Einstellungen und Weltbildern ihrer Nutzer – ohne dass diese allzu viel dafür tun müssen oder sich dessen wirklich bewusst sind. Denn Aggregatoren merken sich alle Suchanfragen, Präferenzen, Weiterleitungen und Kommentare eines Nutzers und zeigen später nur Passendes an. Dass die konkreten Funktionsweisen der Algorithmen generell unbekannt sind und viele Plattformanbieter den Datenschutz stiefmütterlich behandeln, ignorieren die meisten Nutzer gern. Was für Nutzer attraktiv ist und Facebook, Google/YouTube und die anderen Angebote populär macht, ist aus gesellschaftlicher Perspektive ein Problem: Denn in den Filterblasen der Aggregatoren bleiben unterschiedliche Geschmacksmilieus und Meinungslager unter sich“ (Schweiger 2017, 184; vgl. auch Mau 2017, Pörksen 2018 und Weigand 2017). Die durch die Digitalisierung gewachsene soziale Zerrissenheit ist für politische Steuerungsambitionen (auch wenn sie nicht mehr hierarchisch, sondern kontextuell und tentativ konzipiert sind) eine große Herausforderung. Dies sollte aber nicht zur Resignation führen und das gesellschaftliche Selbstgestaltungspotential völlig abschreiben, vielmehr gilt es, neue innovative Steuerungsformen zu entwickeln, die nicht mehr als Masterplan zu konzipieren sind, sondern eher an einem strategischen „muddling through“ und auf die Neuvernetzung von Steuerungsprinzipien setzen. Nicht umsonst taucht in gesellschaftspolitischen Diskursen die Formel „deal“ oder „new deal“ (etwa ein „green deal“) als zukunftsweisendes Konzept auf. Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Sektoren (bspw. in den Feldern Mobilität, Stadtentwicklung und Energie) und neue Koppelungen gewinnen an Aktualität. Auch die Kombination von Ökonomie mit Sozialem in Form der 27 Die Daten entstammen der „Vermächtnis-Studie“, die gemeinsam vom WZB, der ZEIT und Infas durchgeführt wird. Dazu wurden 2015 und 2018 über 2000 Interviews durchgeführt.
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2 Beschleunigungsdynamiken, Politikstagnation und …
Sozialwirtschaft oder der Solidarökonomie weist auf neue Organisationsmodelle hin, die kreative Antworten auf die derzeitigen Herausforderungen (manche Beobachter nennen sie existentielle Krisen) geben können. „Nie gab es in den westlichen Gesellschaften mehr Gruppen, Initiativen, Genossenschaften, Kollektive, die sich anderen Wirtschafts- und Lebensstilen verschrieben haben, als heute – aber eben nicht in Gestalt großer Theoriegebäude, Manifeste und Symbole, sondern in praktischer Arbeit vor Ort“ (Welzer 2019, 19; vgl. auch Wright 2017). Wenn solche Innovationsprojekte aus der Gesellschaft selbst kommen sollen, muss man diese allerdings genau kennen, was allerdings, wie bereits gesagt, in den aktuellen soziologischen Diskursen zur „Großen Transformation“ (vgl. die Beiträge in Dörre et al. 2019) als auch in den Studien zur Fundamentalökonomie (Foundational Economy Collective 2019) nicht geschieht. So wird bspw. die Spezifik der deutschen Solidarökonomie bzw. der gemeinnützigen sozialen Infrastruktur bislang nicht hinreichend wahrgenommen. Wenn auch vereinzelt von einem neu zu gestaltenden Gemeinwesen die Rede ist, das stark auf die Strukturen der Lebenswelt bezogen sein muss (Rosa 2019), werden die real existierenden dezentralen Selbstorganisationsformen jenseits von Markt und Staat kaum reflektiert. Insofern schließe ich mich der Einschätzung von Weyer an, der den Rückzug vieler Soziologen auf die individuelle Mikroebene problematisiert und den Fokus auf die „Mesoebene des koordinierten Handelns in Organisationen“ (ders. 2019, 163) richtet. Ohne eine „Vermessung“ der Leistungspotentiale der traditionellen und neuen zivilgesellschaftlichen Organisationsformationen und deren Grenzen (hervorgerufen etwa durch Ökonomisierungsdynamiken) kann jedoch weder die Soziologie eine gesellschaftskritische Praxis begründen noch ist ein Aufbruch in Richtung lokaler Demokratie oder fundamentalökonomische Erneuerungen bzw. einer neuen Infrastrukturpolitik möglich. Und auch wenn man dem Steuerungsnarrativ skeptisch gegenübersteht, ist es ratsam zu wissen, welche Leistungspotentiale in diesen Sektoren schlummern.
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Von der abstrakten Gestaltungsoption zur Umsetzung
Generell ist es ratsam, sich in Deutschland auch in den Sozialwissenschaften aktiver der Gestaltungsoption zu widmen. Dies erfordert aber komplexe Analysen zur Reichweite politischer Steuerung, da Strukturveränderungen (bspw. der Ausbau der lokalen Infrastrukturen in Richtung Nachhaltigkeit) nicht über das traditionelle Regieren gelingen wird, sondern eines dezidierten innovativen Anstoßes benötigt und stärker zivilgesellschaftliche Kräfte mit einbeziehen muss. Sektorenübergreifende Governance-Strategien sind gefragt. Für die Gesellschaftsteuerung bedeutet dies
2.4 Von der abstrakten Gestaltungsoption zur Umsetzung
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die Abkehr von Detailregulierungen und die Verstärkung von Moderation und Koordination. „Moderation bezieht sich auf das Management der negativen Externalitäten der Funktionssysteme, insbesondere eine Zügelung ihrer systemischen Risiken. Koordination zielt auf die Ermöglichung von positiver Koordination in dem Sinne, dass weitere Entwicklungsmöglichkeiten für die Gesellschaft freigelegt werden“ (Willke 2014, 146; vgl. auch ders. 2016 sowie Rosanvallon 2017). Hier stößt man allerdings auf ein Dilemma: einerseits erfordern gerade die ökologischen Herausforderungen einen „starken“ Staat, der klare Regelungen setzt und insbesondere Grenzen zieht und überwacht. Andererseits weisen sozialwissenschaftliche Analysen zum Staatshandeln darauf hin, dass solch kollektiv verbindlichen Entscheidungen darüber kaum noch zu realisieren sind. Gerade in sozioökonomischen Umbruchphasen werden Unsicherheitszonen systematisch erzeugt, die vor allem für die Regierungspolitik zu einer wachsenden „Qual der Wahl“ führen. Das Umfeld wird für sie immer turbulenter, auf die klassische Konfliktvermittlung durch organisierte Interessen ist immer weniger Verlass, die Zahl der Interessenvertreter wächst und wird unübersichtlicher und nicht vorhersehbare Dynamiken und Konstellationen werden häufiger. Zugleich wird aber rasches Handeln von der Politik erwartet, obwohl sich die Formen der Interessenvertretung und der Legitimität politischer Entscheidungsverfahren vervielfältigt haben. „Neben demokratischen Verfahren sind es expertisebasierte Beratungsund Entscheidungsgremien sowie informelle Verfahren. Legitimität wird nicht mehr primär auf Volkssouveränität zurückgeführt, sondern wird mit anderen Bedingungen verbunden: Partizipation, Teilhabe, Gleichheit, Inklusion, Transparenz, Gemeinwohl, Unparteilichkeit, Bestreitbarkeit, Rechenschaftspflichtigkeit, Verantwortlichkeit und Evidenz. Lobbying wird damit zu einem Teil legitimitätspolitischer Strategien. Expertise und Evidenz werden inzwischen von professionellen Lobbyorganisationen beigebracht, ohne dass es noch einer Rückbindung an Mitglieder bedürfte“ (Zimmer/Speth 2015, 46; vgl. auch Heinze 2002). Blickt man auf das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts zurück, dann haben sich die externen Turbulenzen für die Politik sogar noch gesteigert und Strategien der „reflexiven Modernisierung“, wie sie etwa Beck (1993) aufgrund der damaligen ökologischen Risiken empfohlen hat, greifen immer weniger. Nun weisen weitere Indikatoren (bspw. dauerhaft ansteigende Temperaturen, Intensivierung des Artensterbens durch intensivierte Landwirtschaft etc.) auf drohende Gefahren hin und in diversen Publikationen sowie politischen Statements wird eine grundlegende Wende von der Politik eingefordert. Dieser Druck ist auch für die politischen Akteure spürbar und die bei ihnen beliebte Strategie des Abwartens und Vermeidungsverhaltens reicht nicht mehr aus; das traditionelle Prinzip „Legitimation durch Verfahren“ absorbiert nicht mehr die politischen Konflikte.
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2 Beschleunigungsdynamiken, Politikstagnation und …
Bereits vor einiger Zeit wurde diese generelle Überforderung der Politik auf die gewachsene Themengeschwindigkeit in einer massenmedial geprägten Gesellschaft und die strukturellen Unsicherheiten und Rückkoppelungen, die die politischen Institutionen insgesamt herausfordern, zurückgeführt. Mit dem Internet und der Digitalisierung, die vor 25 Jahren noch keiner im Blick hatte, wurden die Beschleunigungsdynamiken durch die starke Ausbreitung sozialer Medien befeuert. „Es gibt nicht mehr nur den letztzuständigen Staat, der nur darauf achten muss, durch seine Politik in der Bevölkerung keine Unruhen auszulösen. Eine Vielzahl anderer politischer Organisationen, von politischen Parteien, politisch agierenden Wirtschafts- und Berufsverbänden bis zur politischen Presse sorgen für ein unkoordinierbares Wirrwarr von Impulsen, die Reaktionen herausfordern. Das System produziert unter diesen Bedingungen eine ständig wachsende Zahl restriktiver Regulierungen, die ihrerseits als Problemlösungen zu Problemen, als Output zum Input werden. Allein das mag inzwischen genügen, um eine Eigendynamik zu erzeugen, die sich mehr und mehr von der ohnehin nicht kontrollierbaren Umwelt ablöst und selbstläufig Politik treibt“ (Luhmann 2000, 142f.; vgl. aus aktueller Sicht Schimank 2019, 2019a). Lange dominierte in sozialwissenschaftlichen Diskursen die Diagnose einer überlasteten Politik, die kaum noch Gestaltungsoptionen umsetzen und sogar zur Ausbreitung von Dystopien führen kann. Den politischen Institutionen wurde in immer breiteren Kreisen der Öffentlichkeit immer weniger Vertrauen entgegengebracht und es kam sogar vermehrt zu Anfeindungen, die auch keinen Halt machen vor persönlichen Angriffen auf Politiker auf allen Ebenen des politischen Systems. Mit der umfassenden Regulierung der Viruskrise wird nun der Staat anders wahrgenommen und seine Autorität wenigstens im Krisenmodus nicht in Frage gestellt. Abwägende Argumente zu möglichen Gestaltungsoptionen sind nun wieder besser zu platzieren. Sozialwissenschaftliche Studien zur Handlungsfähigkeit des Staates und die Bedeutung korporativer Akteure und Verhandlungssysteme unterhalb oder neben der Staatsebene (im Schatten der Hierarchie und des Marktes) als Steuerungsressourcen kommen wieder vermehrt ins Blickfeld. Insbesondere die Kombination von staatlicher und gesellschaftlicher Regulierung in Form einer Kontextsteuerung scheint eine höhere Wirksamkeit zu erlangen, wenngleich diese Alternativen in den politischen Alltag bislang kaum vorgedrungen sind. „Die Kernkompetenz der Gesellschaftssteuerung umfasst dann drei wesentliche Aufgaben: das Management struktureller Kopplungen, das Management systemischer Risiken und Kontingenzen sowie die Koordination der Funktionssysteme durch Kontextsteuerung“ (Willke 2014, 146). In Anlehnung an diese Fokussierung auf kontextuelle, sektorenspezifische Steuerungsoptionen wird im Folgenden die Vielfalt sozialer und sozioöko-
2.4 Von der abstrakten Gestaltungsoption zur Umsetzung
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nomischer Steuerungspotentiale jenseits von Markt und Staat betrachtet, die wenn auch oft relativ unbemerkt von den „großen“ Gesellschaftstheorien, nach wie vor vorhanden sind bzw. durch soziale Innovationen revitalisiert oder inszeniert werden können. In neueren soziologischen Studien werden über den traditionellen Dualismus von Staat und Markt hinausgehende Steuerungskonzepte verstärkt als Option diskutiert. „Es wurden innovative Lösungen propagiert und erprobt, die die Verflechtung mehrerer Handlungsebenen in den Blick nehmen und auf die Koordination der gesellschaftlichen Akteure setzen. Zudem sind die Konzepte von einem verhaltenen Optimismus geprägt, dass Steuerung grundsätzlich möglich ist, wenn man sie anders als bisher konzipiert, nämlich als das intelligente Zusammenspiel von zentraler Planung und dezentraler Koordination. Wie dieser neue Governance-Modus konkret funktioniert und welche Chancen und Risiken er mit sich bringt, kann man in Feldversuchen und Pilotprojekten oder aber mithilfe von Simulationsexperimenten herausfinden“ (Weyer 2019, 152f.). Gegenwärtig ist auch ein gesteigertes Interesse an verschiedenen Formen öffentlicher Güterproduktion bemerkbar, die sich zumeist durch einen hybriden Charakter und eine Kombination verschiedener Steuerungsmechanismen auszeichnen. Explizit eingegangen wird dabei auf Nonprofit-Organisationen und andere organisierte Akteure der Zivilgesellschaft, die traditionell zum deutschen Modell der Wohlfahrtsproduktion gehören. „Deutschland ist ein Paradebeispiel für einen Wohlfahrtsstaat neo-korporatistischer Prägung, in dem zivilgesellschaftliche Akteure eine wichtige Rolle im sogenannten Welfare Mix spielen. Das bedeutet, dass hierzulande nicht nur staatliche Behörden und öffentliche Einrichtungen für die Produktion, Finanzierung und Regulierung der Sozialleistungen verantwortlich zeichnen, sondern in die verschiedenen Tätigkeitsfelder des Wohlfahrtsstaates auch Verbände, lokale Vereine, Stiftungen und andere gemeinnützige Organisationen eingebunden sind“ (Freise/Zimmer 2019, 11; vgl. zur Wohlfahrtsstaatsforschung die Beiträge in Obinger/Schmidt 2019). Inhaltlich anknüpfen kann die Argumentation an die transformationstheoretisch skeptischen Einschätzungen von Wiesenthal, der ebenfalls den „Blick auf die alternative Möglichkeit dezentrierter, mosaikartig verteilter Evolutionsprozesse gelenkt“ hat (ders. 2019, 379) und institutionelle Innovationen als Leitbilder für gelungene Transformationsprozesse skizziert. Bevor auf die Leistungspotentiale der selbstorganisierten Projekte und allgemein des Nonprofit-Sektors näher eingegangen wird, soll kurz die Konzentration auf den gemeinnützigen Sektor (manche sprechen auch von der Fundamental- oder Solidarökonomie) erläutert werden. Der wesentliche Grund liegt in der Nichtbeachtung dieses Sektors in den einschlägigen Debatten um eine „Große Transformation“, obwohl er zu den Kerninstitutionen wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und der sozialen Ordnung zählt.
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Demgegenüber soll das Schattendasein ein wenig erhellt und sowohl das Leistungspotential der Nonprofit-Organisationen als auch der partizipative Beitrag der selbstorganisierten Projekte (seien es Bürgerinitiativen oder auch Vereine und Stiftungen) eingeschätzt und gewürdigt werden. Der Hinweis auf die Potentiale ist aber nicht als Aufforderung zu verstehen, die verschiedenen Varianten der Zivilgesellschaft für Modernisierungspolitiken zu nutzen und damit „Löcher“ in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu stopfen, vielmehr sollen über innovative Neuvernetzungen strukturelle Defizite überwunden werden. Ähnlich wie soziale Bewegungen als Treibstoff für gesellschaftliche Transformationen in einzelnen Subsystemen aufzufassen sind, können die zivilgesellschaftlichen Potentiale problemlösend wirken. „Es geht nicht mehr um das Ganze. Die gesamtgesellschaftlichen Utopien sind verblaßt. All dies spiegelt sich auch in der erstaunlichen Fragmentierung der Konfliktlinien. Mit fortlaufenden sozialen Differenzierungsprozessen vervielfachen sich die issuespezifischen Ansatzpunkte sozialer Bewegungen. Vorherrschend ist das Muster der kampagnenbezogenen Kooperation, der projektorientierten Mobilisierung und der weak ties, welche eine erstaunliche soziale und sachliche Kombinatorik erlauben“ (Rucht 1999, 19.f; vgl. aus unterschiedlicher Sicht auch Reißig 2014 und 2019 sowie die Beiträge in Grundmann 2018). Während noch in den 1980er Jahren die Transformationsdynamik von politisch-sozialen Akteursgruppen (etwa die Ökologie- und Frauenbewegung) getragen wurde, „so beruhen die heutigen Transformationen vor allem auf Aggregatwirkungen des Handelns ökonomischer Akteure und internationaler Institutionen, die sich zum erheblichen Teil staatlicher Kontrolle entziehen“ (Wiesenthal 2016, 189). Die Globalisierungsprozesse in Verkoppelung mit der Digitalisierung haben unmittelbare Auswirkungen auf die aktuellen Transformationsdiskurse in allen westlichen Gesellschaften und beschleunigen den Wandel, der sie ohnehin schon seit der Industrialisierung prägt. „Das gilt für den Umfang der CO2-Emissionen, den Wandel der Arbeitsnachfrage, das technologische Innovationstempo, die Migrationsdynamik und selbst für das traurige Schicksal der großen Wildtierarten. Kein Zweifel, wir erleben die Transformation der Weltgesellschaft“ (a.a.O., 189; vgl. auch Pries 2008). Ohne näher auf diese Dimensionen eingehen zu können, erlauben sie Rückschlüsse auf die Reichweite nationalstaatlicher Politik, die immer weniger in der Lage ist, zielgerichtet zu steuern und in der Gefahr steht, angesichts der beschleunigten Risikoproduktion auf eine Strategie des Abwartens zu setzen. Diese Haltung zeigte sich in Deutschland zunächst auch hinsichtlich der Behandlung Covid-19 Virus Anfang 2020. Doch spätestens seit Mitte März 2020 hat die Politik auf allen Ebenen mit einschneidenden Maßnahmen versucht, die Ausbreitung dieses global agierenden Virus zu verlangsamen.
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Dennoch soll kein Steuerungspessimismus gepredigt werden, eher geht es um ein konstruktivistisch-relationales Verständnis von der schwieriger gewordenen Koordination von Vielfalt. Hierfür müssen zunächst die Selbstorganisations- und Gestaltungspotentiale identifiziert und durch eine inszenierte Neujustierung entfaltet werden. Ob solche Pfadwechsel in einzelnen Handlungsfeldern oder Subsystemen wie etwa dem Sozialsektor immer gelingen, kann nicht von vornherein beurteilt werden. Allerdings scheint die Fokussierung auf die Umgestaltung von Teilstrukturen mit spezifischen Akteursgruppen erfolgversprechender zu sein als der Blick auf die „Große Transformation“. Aber wenn auch nur in Teilsystemen eine Gesellschaftsgestaltung gegenwärtig realistisch erscheint, so gehört dazu zentral eine Schnittstellensteuerung als innovative Weiterentwicklung bestehender institutioneller Regulierungsformen. Gerade weil die traditionellen politischen Steuerungsregimes ausgezehrt wirken, könnte hierüber die Problemlösungskompetenz gesteigert werden. Die Beiträge für eine erweiterte Steuerung der gegenwärtigen Gesellschaftsformation werden sich nur dann produktiv entfalten, wenn die Selbstreferenz und Geschlossenheit der Teilsysteme überwunden werden zugunsten einer angemessenen Verknüpfung dieser. Hierfür bietet das weite Feld des Nonprofit-Sektors genügend Anschauungsmaterial und kann auch als Labor für die subsystemspezifische Kontextsteuerung herangezogen werden. Es wird sich zeigen, dass es nicht automatisch zu einer positiven Koordination der Akteurssysteme kommt, durchaus abgekoppelte Versäulungen fortbestehen und deshalb ein systematisches Schnittstellenmanagement erforderlich ist. Allerdings sind die Zeithorizonte der Risiko- und Transformationsdiskurse zu bedenken, denn so aktuell manche Krisendiagnosen (etwa zur Klimakrise oder den Bedrohungen durch fossile Energien oder der Atomenergie) auch klingen mögen, werden sie auch schon länger thematisiert.28 Gerade in der Soziologie wurden die Gefahren etwa der Kernenergie, der steigenden Emissionen bis hin zu der Knappheit der Wasserressourcen vor über 30 Jahren diskutiert. Und über „Grenzen des Wachstums“ wurde ebenfalls bereits in den 1970er Jahren heftig diskutiert, ohne dass es allerdings zu einem grundlegenden Energiewandel gekommen ist. Transformative Politikwenden scheinen in der Praxis ein anspruchsvolles Unterfangen zu sein, die auch bei einem Konsens über die grundlegende Richtung (etwa 28 Dies gilt nicht für das Coronavirus, das in seinen globalen Dimensionen und hinsichtlich der gesundheitlichen Risiken eine neue Qualität darstellt und als Beleg für eine „Weltrisikogesellschaft“ begriffen werden könnte, wobei Beck (2007) seine Analyse primär auf die drei Risikokonflikte der ökologischen Gefahren, globalen Finanzkrisen und terroristische Anschläge fokussierte. Die heutige Pandemie gehört allerdings, anders als die von uns selbst geschaffenen Risiken, als Seuche den an sich schon als überwunden geglaubten Katastrophen der Vergangenheit an.
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hinsichtlich der Überwindung fossiler Energieformen) nicht automatisch zum Erfolg führen. Analysen zur Energiepolitik konstatieren viel Wenderhetorik, die operative Umsetzung wird demgegenüber „weiterhin im Stil einer fragmentierten regulativen Reform- und distributiven Förderpolitik (betrieben), ohne gewahr zu werden, dass Wendepolitik einen eigenständigen Politiktyp darstellt, dessen Erfolg eine handlungsleitende Definition von Zielen und Inhalten, den operativen Konsens aller am Vollzug beteiligten korporativen Akteure und die Entwicklung geeigneter Organisationsformen, Verfahren und Instrumente voraussetzt“ (Czada 2019, 413).29 Werden die energiepolitischen Herausforderungen, ganz zu schweigen von den darüberhinausgehenden Forderungen zum Schutz der Erdatmosphäre zum Maßstab genommen, ist folglich eher Desillusionierung das Gebot der Stunde. Sie sollte aber nicht zu Steuerungspessimismus hinsichtlich einer Gesellschaftsgestaltung führen, wenngleich bei der Umsetzung transformativer Politiken in allen westlichen Ländern nicht nur erhebliche Defizite unübersehbar sind, sondern darüber hinaus illiberale, autoritäre (oft nationalistisch) gesonnene Politikakteure erhebliche Machtzuwächse in den letzten Jahren erzielen konnten. Die von Experten erarbeiteten konkreten Vorschläge bspw. zur Reduzierung fossiler Energienutzungen, die das transformative Potential durch Umstiege in eine nachhaltige Politik durchaus hätten entfalten können, werden nun sogar als Ideologie gebrandmarkt und es wird explizit auf die Strategie des „Weiter so“ gesetzt. Auch soziologische Zeitdiagnosen haben sich oft von einer Gestaltungsperspektive verabschiedet. Dies impliziert jedoch, den Wandlungsprozessen als Getriebene ausgesetzt zu sein und die Konfusionen nur zu beobachten. Man kann die Desillusionierung aber auch als Chance begreifen: „Das Ende der Illusionen muss jedoch nicht zwangsläufig in allumfassenden Pessimismus münden. Illusionslosigkeit kann eine Tugend sein, die einen nüchternen Realismus ermöglicht und den Raum für die Analyse öffnet. Jenseits dystopischer und nostalgischer Stimmungen gilt es, eine undogmatische und differenzierte Perspektive zu entwickeln, die kritisch ist, ohne in eine haltlose Generalabrechnung mit der Gegen29 Diese skeptische Sicht auf die Energie- und Klimawende wird auch von Politikinsidern wie dem ehemaligen Umwelt- und Wirtschaftsminister Gabriel explizit geteilt: „Als Fazit bleibt festzuhalten, dass für die im Klimaschutzgesetz formulierten ambitionierten Ziele für 2030 und die Zeit danach mit der fehlenden Umsetzung das Fundament fehlt. Weder werden die ökonomischen Rahmenbedingungen für einen marktwirtschaftlichen Klimaschutz geschaffen noch die Voraussetzungen für einen zielführenden Ausbau der erneuerbaren Energien. Im Gegenteil: Bei der Windkraft an Land wird es zu einem Einbruch kommen, wenn die geplanten Abstandsregelungen greifen“ (ders. 2020, 144).
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wart abzudriften. Hier kommt nun die Soziologie ins Spiel, weil sie genau eine solche nüchterne Gegenwartsanalyse leisten kann“ (Reckwitz 2019, 15). Eine Sozioanalyse setzt allerdings eine gewisse Distanz zu den auch in soziologischen Kreisen beliebten Konflikt- und Zusammenbruchszenarien und den Hoffnungen auf bewegte Zeiten durch Basisproteste voraus. Dazu zählt ebenso die Achtsamkeit gegenüber vorschnellen spektakulären Beschreibungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. So ist es bspw. schwierig aus wissenschaftlicher Sicht festzustellen, ob sich gegenwärtig grundlegende Kontinuitätsbrüche abzeichnen oder ob es langfristige Wandlungsprozesse sind, von denen einzelne Symptome verabsolutiert in einem alarmistischen Ton interpretiert und gern in den Medien aufgegriffen werden. Dies gilt auch für die beliebte Formel der Beschleunigung, die durchaus reale Wandlungsprozesse zum Ausdruck bringt, oft aber auch vermischt wird mit gefühlter Beschleunigung. Aber auch eine solche Deutung zeitigt Wirkungen, denn nach dem „Thomas-Theorem“ (wonach das Verhalten maßgeblich von der Situationsdefinition geprägt wird) führt sie etwa in Fragen des Klimawandels zu durchaus beeindruckenden Protesten, die nicht nur in Deutschland gerade in 2019 aufhorchen ließen. Manche Beobachter erinnerte dies schon an die 1968er Demonstrationen. In ganz Europa sind soziale Bewegungen mit dem Motto „Recht auf Stadt“ aktiv und fordern als „Commons“ die kollektive Wiederaneignung und Organisation öffentlicher Ressourcen in den Sektoren Energie, Wasser, Wohnen, Gesundheit und Pflege. In diesen Protesten spiegelt sich auch ein anderer Umgang mit der Zukunft wider, indem nicht mehr den institutionalisierten Politikformen vertraut wird, sondern alternative soziale Praktiken (re)vitalisiert werden. „Die Ungewissheit der Zukunft wird nicht mehr nur als Bedrohung, sondern auch als Möglichkeit, als Chance der Wertschöpfung begriffen und entsprechend genutzt. Probleme und Herausforderungen werden gezielt formuliert und dann durch Innovationen gelöst“ (Hutter 2019, 7; vgl. auch die Beiträge in Howaldt et al. 2019). Vorangetrieben werden die Protestbewegungen insbesondere durch Studien zur gefährdeten Stabilität des Klimasystems, die der Industriegesellschaft in der bestehenden Form keine Zukunftsfähigkeit attestieren. Interdisziplinär zusammengesetzte Wissenschaftlergruppen wie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) fordern angesichts des „fossilnuklearen Metabolismus“ den doppelten Ausstieg aus der nuklearen und fossilen Energieversorgung und im Ganzen eine „Große Transformation“ in Richtung einer klimaverträglichen, nachhaltigen Gesellschaft, die auch einen neuen globalen Gesellschaftsvertrag beinhalten müsste. Aus soziologischer Sicht wurden die ökologischen, ökonomischen und sozialen Gefährdungen analysiert, aber auch darauf hingewiesen, wie schwierig Grenz-
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werte für ökologische Großrisiken festzulegen sind, da es in vielen Fällen nicht „die“ objektiven Definitionen gibt. Dennoch setzt vor allem die Kumulation von verschiedenen Problemlagen die Gesellschaft unter neue Spannungszustände. „Unstrittig ist, dass die fortschreitende Kommodifizierung gesellschaftlich hergestellter Natur und die Externalisierung ökologischer Risiken Ursachen für das Überschreiten planetarischer Belastungsgrenzen sind. An vorindustriellen Normwerten gemessen, befinden wir uns zumindest beim Klimawandel, bei der Artenvielfalt, dem Stickstoffkreislauf und der Landnutzung bereits jenseits einer roten Linie potentiell irreversibler Destabilisierungen. Übersäuerung der Ozeane, Ozonmangel, Frischwasserverbrauch und atmosphärische Aerosolaufladung bewegen sich nach den vorliegenden Daten mit hoher Geschwindigkeit auf die Belastungsgrenzen zu. Destabilisierung bedeutet jedoch nicht, dass ökologische Katastrophen quasi im Selbstlauf eine Endkrise des Wachstumskapitalismus herbeiführen. Für die komplexen Mensch-Natur-Interaktionen gilt eine „unendliche Ungewissheit“ in den Vorhersagen. Offenkundig sind Normwerte und Kipppunkte immer auch wissen- und definitionsabhängig“ (Dörre/Rosa 2015, 5; vgl. auch die Beiträge in Dörre et al. 2019). So wichtig die Mahnung vor voreiligen Zusammenbruchszenarien ist, so hat sich dennoch als Narrativ unserer Gegenwart eine oftmals beschriebene Beschleunigungsdynamik durchgesetzt, die so wirkungsmächtig ist, dass sie schon ihre eigene Gegenbewegung produziert hat. Die dementsprechenden Trends lauten Resilienz und Achtsamkeit, um den beschleunigten Zeitstrukturen und dem Alltagsstress zu entweichen. Demnach ist Vorsicht geboten hinsichtlich epochenartiger historischer Umbrüche, allerdings sollte dies nicht dazu verführen, Strategien des „Weiter so“ oder des Abwartens zu favorisieren, denn die Verkoppelung von verschiedenen Problemlagen wie Klima, Digitalisierung, Globalisierung, soziale Spaltungen, Demografie und Migration, um die zentralen Herausforderungen kurz zu benennen, bietet genug Anlass für grundlegende Reflektionen über die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaftsformation. Ob es zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation kommt, kann nicht abschließend beurteilt werden. Klar ist nur, dass eine solche globale und alle gesellschaftlichen Gruppen potentiell lebensbedrohende Virusgefährdung eine tiefgehende gesellschaftliche Zäsur bedeutet und deutliche Spuren hinterlässt. So werden etwa die staatlichen Regulierungskompetenzen und ein funktionsfähiges Gesundheitssystem wieder weitaus höher geschätzt. Manche sehen – wie bereits thematisiert – auch die gesellschaftliche Solidarität und eine generelle Entschleunigung deutlich im Aufwind, aber diese Paradigmenverschiebungen oder auch Pfadwechsel setzen sich nicht naturwüchsig um, sondern werden durch die jeweiligen institutionellen Strukturen gefiltert. Zweifelsohne haben aber die Er-
2.5 Zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen
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fahrungen mit einer Welle von Hilfsbereitschaft den Weg für eine Neujustierung von Solidarität, Staat und Markt geebnet.
2.5
Zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen
Im Folgenden geht es nicht um eine Bewertung der vorgetragenen Krisenphänomene, ob bspw. die Pandemie überwunden ist, die in 2020 das gesellschaftliche Leben beherrschte oder bereits der Kipppunkt bezüglich des Klimawandels erreicht ist, die konstatierte Beschleunigung wirklich alle Gesellschaftsmitglieder erfasst, oder es nicht genügend Nischen und Ausweichmöglichkeiten gibt (vgl. Esser 2019 und Müller 2019a). Gerade hinsichtlich ökologischer Bilanzierungen sollten Sozialwissenschaftler vorsichtig sein, vor allem wenn diese mit dem Nachweis von öffentlichkeitswirksamen Kontinuitätsbrüchen verknüpft sind. Der ökologische Protest war aber sicherlich ein zentraler Nährboden für die Ausbreitung selbstorganisierter Alternativprojekte in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren (von der Energieversorgung über Mobilitäts- und Wohnungskonzepte bis hin zu sozialen und gesundheitsbezogenen Diensten) und lenkte den Blick auf die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Akteure und gesellschaftliche Selbststeuerung. Angesichts der sich in der Gegenwart auftürmenden komplexen Problemlagen – von der Klimakrise, Finanzkrisen, Globalisierungsschüben bis hin zu den alle gesellschaftlichen Sphären tangierenden Digitalisierungsprozessen, die die Beschleunigungsprozesse intensivieren – werden die Wünsche nach einer Überwindung der etablierten Top-Down-Politik in Richtung einer assoziativen Demokratie immer lauter und artikulieren sich in Protestbewegungen. Betrachtet man diese, dann deutet einiges darauf hin, dass trotz aller Unterschiede in den Zielen (bspw. gegen den Klimawandel durch die „Fridays for Future-Bewegung“ oder für mehr Demokratie und gegen Korruption) sich quantitativ eine neue Protestkultur ausgebreitet hat, die es seit Ende des Zweiten Weltkriegs so nicht gab. Nachdem die Öffentlichkeit, die Spitzenpolitiker und auch wissenschaftliche Beobachter ob des Erfolges der „Fridays for Future-Bewegung“ überrascht waren (Hundertausende gingen auf die Straße und es entstand innerhalb kurzer Zeit fast ein Hype um diese Jugendbewegung) (vgl. Sommer et al. 2019), ebbten die Proteste Anfang 2020 ab. In einigen Städten wurden die Freitagsdemonstrationen abgesetzt, was nicht das Ende der größten Jugendbewegung in der Geschichte Deutschlands signalisiert, aber auf die Ausdifferenzierungsprozesse in diesem offenen Netzwerk hinweist. Manche der jugendlichen Demonstranten machen in diesen fluiden Bewegungsstrukturen weiter, andere ziehen sich zurück und weitere radikalisieren sich (ma-
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chen gezielt Proteste etwa gegen einzelne Unternehmen) oder engagieren sich in politischen Parteien. Mit Blick auf die globalen Proteste kann von einem „Zeitalter des Zorns“ (Mishra 2017) gesprochen werden. Dafür sind aber nicht nur ökonomische Ungleichheiten, ökologische Gefährdungen, Abbau demokratischer Grundrechte oder das Comeback bzw. Erstarken nationalistischer und populistischer Strömungen verantwortlich, sondern auch die neuen digitalen Kommunikationsformen, die es ermöglichen, breite Personenkreise schnell anzusprechen und so auch ohne klare Führungsstrukturen soziale Bewegungen zu konstituieren. Damit ist zwar nichts über die Stabilität der Protest- und Bewegungsformationen gesagt, allerdings zeigen Beispiele, wie effizient Proteste digital koordiniert und damit politische Instabilitäten ausgelöst werden können. Wie allen sozialen Bewegungen stellt sich auch der „Fridays for Future-Bewegung“ die Frage der Formalisierung des Netzwerkes, denn bei aller Medienwirksamkeit der Aktivisten stellt die Offenheit des Netzwerkes ein Problem dar, da die Strukturen fragil bleiben. Es droht die Gefahr, dass die Unverbindlichkeit und Unübersichtlichkeit auch zur Diffusion führen kann, zumal die meisten Fakten zur Erderwärmung, die in den Protesten präsentiert werden, schon länger bekannt sind. Der Erfolg der stark emotional wirkenden Bewegung liegt in der Protestform, der „letztlich den nervus rerum dieses Problems ziemlich genau trifft, nämlich die strukturell bedingte Überforderung der Gesellschaft“ (Nassehi 2019, 61). Aus soziologischer Sicht kann erklärt werden, warum der Klimawandel, auch wenn er eine existentielle Bedrohung darstellt, kein gesellschaftspolitisches Handeln „aus einem Guss“ bewirkt, denn aufgrund gesellschaftlicher Differenzierung gibt es keine gesamtsystemische Führung mehr – auch wenn dies die Politik oft noch für sich beansprucht. Sicherlich waren die „Fridays for Future-Proteste“ aber der Generator für die (Re)thematisierung und Kommunikation eines zentralen Problems, das nun wieder die Agenda der Politik erreicht hat. Gleichwohl steht die Protestbewegung wie alle Netzwerkorganisationen vor dem Organisationsproblem. Nach einer ersten Welle des Engagements an Freitagen, die in der offiziellen Politik im Herbst 2019 erhebliche Reaktionen auslöste, steht die Bewegung vor der Herausforderung, das Auseinanderfallen zu verhindern. Aus systemtheoretischer Sicht kann dies so formuliert werden: „Die Formalisierung der Organisation zielt darauf, Verhaltenserwartungen sachlich, zeitlich und sozial zu generalisieren. Nur so entstehen jene „Rollen“ und „Institutionen“, auf die man sich verlassen können muß, um kontrafaktisch bestimmte Normen der Behandlung von Sachfragen, der Einhaltung von Dienstwegen und der zeitstabilen Beherrschung von Routinen durchsetzen zu können“ (Baecker 2004, 87; vgl. bereits Luhmann 1964).
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Durch die massenhafte Verbreitung digitaler Technologien, die die Dynamik der Bewegungen erheblich steigern können, werden auch die Organisationsbildungsfragen spontaner Bewegungen relativ rasch zu einer massiven Herausforderung und erfordern systematische strategische Überlegungen. Auch in anderen westlichen Ländern sind diese Netzwerkaktionen zu beobachten und die Organisationsfrage stellt sich dort ebenfalls. So startete die „Gilets Jaunes“-Bewegung (Gelbe Westen Bewegung) Anfang 2018 in Frankreich mit einem Aufruf bei Facebook, der in wenigen Tagen 80.000 Follower fand und am 27. Januar 2018 in mehreren Demonstrationen in verschiedenen Orten in Frankreich mündete (damals nannte sich die Bewegung noch „Colère“ = Zorn). Während sich anfangs der Protest gegen die Erhöhung der Lebenshaltungskosten (bspw. der Kraftstoffsteuer oder Sozialabgaben für Rentner) richtete, schlossen sich innerhalb weniger Monate andere Protestgruppen an (vom Verband „wütender Motorradfahrer“ bis hin zu Mitarbeitern des Einzelhandels und sozialer Dienste sowie Kleinbauern). Ende 2018 hatten bereits über eine Million die Petition unterschrieben; Ende November 2018 wurde eine neue Facebookseite mit dem Titel „La France énervée“ (Das genervte Frankreich) etabliert und die Proteste gingen 2019 weiter und zielten weiterhin primär gegen die zentralstaatliche Politik und explizit gegen den Staatspräsidenten. Wie abzusehen ist es jedoch schwierig, aus den spontanen Empörungen eine organisierte Bewegung mit klaren Zielen zu formieren und es bleibt verschwommen, wie der Wunsch „aus dem Kapitalismus herauszukommen“ bewältigt werden soll. Erkennbar werden aber in der provinziellen Wut gegen die Eliten die von immer mehr Menschen empfundene Randständigkeit (prägnant in den stagnierenden oder sogar schrumpfenden ländlich-kleinstädtischen Regionen) und das Gefühl, abgehängt zu werden. „Die Bewegung hat das Frankreich der Verlierer der Globalisierung sichtbar und hörbar gemacht, die Working poor, die kleinen Beamten, die Krankenschwestern, Altenpfleger, Zeitarbeiter, Rentner, alleinerziehende Mütter, Arbeitslose, verschuldete Kleinunternehmer und Ich-AGs. Aber dadurch, dass sie jede Form der Repräsentation in Frage stellen, dass sie jetzt selbst das Wort ergreifen, vom Niemandsland der Verkehrsinseln ins Fernsehen gelangen, dass sie sich selbst organisieren und politisieren, ohne auf traditionelle Organisationen zurückzugreifen, verweigern sich diese neuen Sansculotten der Opferrolle, die ihnen zugewiesen worden war. Sie sind unregierbar und werden damit zwangsläufig zu Akteuren ihres eigenen Schicksals“ (Farbiaz 2019, 52f.; vgl. auch die weiteren Beiträge in Wahl 2019). Wenngleich sich in Deutschland solche Protestformen wie in Frankreich nicht abzeichnen (wie auch schon Ende der 1960er/1970er Jahre), so gibt es doch gewisse Parallelitäten. Zum einen spielen bei der Protestmobilisierung digitale Medien
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eine große Rolle und zum anderen setzen sie sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen, die sich in der Enttäuschung etwa über die Nichtbeachtung ökologischer Risiken in der Regierungspolitik, die Bedrohung des erreichten Lebensstandards oder generell einem Unbehagen in der Moderne einig sind, aber in ihren Forderungen oft noch diffus bleiben. Das Gefühl, übersehen zu werden, liegt aber auch am konkreten Rückzug des Staates in vielen Infrastrukturbereichen, der auch im Alltag vieler Menschen spürbar ist. Kaputte Straßen, verfallene öffentliche Gebäude oder geschlossene Schwimmbäder und unterversorgte Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen verdichten sich zum Narrativ des Staatsversagens. Neuere empirische Erhebungen (z. B. von der Initiative „More in Common“/gut 4.000 repräsentativ Ausgewählte) sehen wohl auch deshalbrund 30 % der Menschen in Deutschland in großer Distanz zur Politik und ihren Mitmenschen: „Vor allem das unsichtbare Drittel, bestehend aus den Pragmatischen und den Enttäuschten, verdient Aufmerksamkeit, findet es doch in unserer Gesellschaft am wenigsten Halt. Dies ist ganz wortwörtlich zu verstehen: Während 30 Prozent aller Befragten sagen, dass sie einsam sind, ist dieses Gefühl im unsichtbaren Drittel überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Zugleich ist der Glaube, das eigene Schicksal selbst in der Hand zu haben, bei den Pragmatischen und den Enttäuschten besonders schwach. Doch nicht nur im persönlichen Leben fehlt es an Einbindung, auch das demokratische System gibt ihnen weniger Halt als anderen. Kategorien wie „Links“ und „Rechts“ geben dem unsichtbaren Drittel deutlich weniger Orientierung, und der Bezug zur Politik fällt insgesamt merklich schwächer aus“ (Krause/ Gagné 2019, 14). Trotz einer florierenden Wirtschaft, die die Zahl der Arbeitslosen (2,27 Millionen) im Jahr 2019 auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung reduzierte und steigender Erwerbsquoten (insbesondere bei Frauen) gibt es eben auch in Deutschland Globalisierungs- und Modernisierungsverlierer. In manchen Argumentationen sind diese Verlierergruppen Träger des aufgeflammten Rechtspopulismus. Allerdings werden real die populistischen Proteste vornehmlich nicht von den ökonomisch marginalisierten Gruppen getragen, „also den Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und geringfügig Entlohnten (Arbeitsmarktoutsider). Der Protest käme vielmehr wesentlich von einer sich in erster Linie kulturell bedroht sehenden unteren Mittelschicht. Drohender Statusverlust sei insofern wichtiger als tatsächlich bereits vollzogener Abstieg“ (Manow 2019, 35; vgl. auch ders. 2018, Müller 2019 und Rodríguez-Pose 2018). Ohne an dieser Stelle tiefer auf die konkurrierenden Interpretationen einzugehen, ob es sich eher um eine soziokulturelle oder eine sozioökonomische Konfliktlinie handelt, kann festgehalten werden, dass die Konfliktdynamiken stark von den jeweiligen Problemlagen der Länder abhängen (in Europa bspw. von der stark differierenden Jugendarbeitslosigkeit,
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die unterschiedliche Protestpotentiale produziert oder der Flüchtlingskrise, die Deutschland als eher universell ausgerichteten Wohlfahrtsstaat stärker als manch andere EU-Länder betrifft). Neben der Berücksichtigung der „Varieties of Capitalism“ sollten bei den Erklärungsversuchen der Erfolge politischer Protestgruppen, die sich primär nur auf ökonomische Benachteiligungen oder identitätspolitische Konflikte konzentrierenden Erklärungsmuster überwunden werden zugunsten einer Verschränkung sowohl ökonomischer als auch kulturell-psychologischer und räumlicher Dimensionen. Nur über eine solch mehrdimensionale Analyse könnten auch die in 2019 aufgeflackerten Proteste der Bauern in Deutschland interpretiert werden, die Ende des Jahres zu einer der größten Bauerndemonstrationen in Berlin mit über 10.000 Teilnehmern führte (die Veranstalter meldeten sogar 40.000, die Polizei zählte 8.600 Trecker/sh. Tagesspiegel v. 6.12.2019). Der Protest richtete sich dabei einerseits gegen die herrschende Agrarpolitik und speziell gegen die geplanten schärferen Vorgaben zum Insekten- und generellem Umweltschutz und weiteren Düngebeschränkungen zum Grundwasserschutz, andererseits wandte man sich empört gegen das aus ihrer Sicht pauschalisierte negative Bild der Landwirtschaft in der Öffentlichkeit (wie es sich vor allem in den Städten darstellt). Gefühle, wie mangelnde Wertschätzung, Respektlosigkeit und insgesamt Ressentiments gegenüber ihrer Berufsgruppe wurden öffentlich nicht nur bei der zentralen Demonstration problematisiert, auch an verschiedenen Orten gab es Ende 2019 unkonventionelle Aktionen wie „Trecker-Flashmobs“ die ebenfalls auf die neuen digitalen Kommunikations- und Mobilisierungsformen hinweisen. Verschiedene Gruppierungen in den sozialen Medien wie etwa bei Facebook (z. B. „Land schafft Verbindung“) belegen die neuen Kommunikationsstrukturen, die sich jenseits des traditionell starken Bauernverbandes ausgebreitet haben und auch nicht mehr in ihrer klassischen parteipolitischen Heimat (der CDU/CSU) ihre primäre politische Einflussschneise sehen. Es ist sicherlich nicht von einer Bauernrebellion zu sprechen, vielmehr eher von aufflackernden Protesten, die sich vornehmlich gegen die aktuelle Agrarpolitik, aber auch gegen das schlechte Image richten, ohne allerdings auf die ökologischen Folgewirkungen der industrialisierten Landwirtschaft einzugehen, die zu den Umweltauflagen geführt haben, gegen die man sich jetzt wendet (bspw. der Düngemittelverordnung, über deren Berechtigung wohl kaum gestritten werden kann und die nach EU-Recht in Deutschland einzuhalten ist). Der Strukturwandel allein, der die Zahl der Bauern in allen europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten in erheblichem Maße reduziert hat (in Deutschland ist nur noch einer von 100 Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig), kann nicht das ausschlaggebende Motiv für die Proteste sein, denn er zieht sich über einen längeren Zeitraum hin, so
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dass nach rationalen Kriterien vielen jungen Leuten auf dem Land schon klar sein müsste, dass ihre berufliche Zukunft nicht in der Landwirtschaft liegt. Die bei den Protestaktionen formulierten Existenzängste haben deshalb auch ökonomische Hintergründe, weitere Triebkräfte sind aber die Nichtanerkennung und Ressentimenterfahrungen, die auch nicht mehr von der traditionellen Schutzmacht des Deutschen Bauernverbandes und den Volksparteien (insbesondere der CDU/CSU) geleistet werden können. Konkret kommen bei den Bauernprotesten im Jahr 2019/20 die öffentlich breit kommunizierten ökologisch motivierten Forderungen an eine naturverträgliche Landwirtschaft hinzu, die sich in einzelnen Bundesländern sogar zu Volksbegehrensverfahren ausgeweitet haben (in Bayern und Baden-Württemberg 2019 in der Initiative „Rettet die Bienen“). Viele Bauern fühlen sich dadurch in einen ökologischen Umbau der Landwirtschaft gedrängt, was ihnen oft missfällt, weil hierüber ihre hoch geschätzte Autonomie als „Selbstständige“ tendenziell geschwächt werden würden. Der Umbau ist sicherlich für manche landwirtschaftlichen Betriebe auch mit Risiken verbunden, dennoch verkennen viele die ökonomischen Chancen, die eine nachhaltig produzierende Landwirtschaft bietet. Zum anderen neigen die Protestgruppen zu Forderungen gegenüber „Anderen“ und beharren auf der Fortführung ihres Berufsstatus. Dies wird aber schwierig zu realisieren sein, denn konventionelle landwirtschaftliche Produkte gehören nicht zu den Reputationsgütern (oder dem „Singularitätskapital“), dass als wertvoll und unterstützungswürdig gilt. „Die qualifizierten Wissensberufe, die kulturelle Singularitätsgüter verfertigen, können in der Spätmoderne Legitimität, Status und Ressourcen beanspruchen, während die funktionalen, ‚profanen’ Arbeiten an Legitimität, Status und Ressourcen verlieren“ (Reckwitz 2017, 109). Die auf biologische Landwirtschaft setzende Option wurde allerdings vom Bauernverband nur am Rande propagiert, dieser setzte eher auf die großbetrieblich organisierte und weitgehend industrialisierte Landwirtschaft (vgl. Heinze 1990 sowie Leibfried 2017) und deshalb ist auch nicht überraschend, dass dieser Lobbyverband in die Defensive gerät und auch die Verunsicherungen unter den Bauern nicht mehr abfangen und in politisch realistische Forderungen ummünzen kann. Nicht nur biologisch produzierende Bauern, deren Zahl in den letzten Jahren gewachsen ist, wenden sich deshalb ab und suchen nach neuen Möglichkeiten, die allerdings bei Beibehaltung der traditionellen Produktionsweise begrenzt sind, was sich am fortlaufenden Höfesterben zeigt. Demgegenüber dürfte der Markt für Bioprodukte expandieren, denn hierüber werden die neuen Konsumbedürfnisse nach umweltverträglichen und authentischen (weil nachvollziehbar produzierten) Lebensmitteln befriedigt.
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Am Beispiel der Bauernproteste zeigt sich wie schwer es ist, einen eindeutigen Kristallisationspunkt für die vorgetragene Unzufriedenheit zu identifizieren, dennoch spricht vieles dafür, dass die Intensität der Klimadebatte und die breite Diskussion über die ökologischen Folgeschäden der traditionellen Produktion zentrale Verursacher waren. Es enthüllen sich aber darüber hinaus allgemeine Symptome des Unbehagens an einer auseinanderdriftenden Gesellschaft. Die vielfältigen Proteste wirken zudem ansteckend und erreichen immer mehr Gruppen, was auch an der Digitaltechnik liegt, denn hierüber lassen sich im Kontrast zu früheren Zeiten Proteste leichter organisieren. Es wird nicht allzu viel Mobilisierungsund Organisationsarbeit benötigt, um über die sozialen Medien Aufmerksamkeit im politischen Alltag zu erregen. Je häufiger sich solche Protestkonstellationen (auch von traditionellen Verbandsorganisationen) entfalten, desto stärker besteht allerdings die Gefahr, dass sich die politisch verantwortlichen Akteure daran „gewöhnen“ und die Wirksamkeit zurückgeht. Gegenwärtig ist allerdings eine erhöhte Sensibilisierung in der Politik etwa hinsichtlich einer Klimakrise unübersehbar, was auch mitbegründet ist im Protestverhalten der „Fridays for Future“-Bewegung. Schwierig dürfte sich jedoch die Suche nach einem politischen Kompromiss gestalten, denn „die elementare psychologische Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz (hat) im gegenwärtigen Debattenklima mit seinen klaren Freund-Feind-Unterscheidungen einen schweren Stand“ (Reckwitz 2019, 16; vgl. auch Rucht 2019). Wenn sich auch in den verschiedenen Protestformen eine Erschütterung des Vertrauens in staatliche Regulierungen oder marktliche Wettbewerbsmechanismen manifestiert, sind klar konturierte politische Handlungsstrategien nur in Ansätzen erkennbar. Eine geordnete Transformationsdynamik zeichnet sich noch nicht ab, dennoch lassen sich etwa in der Landwirtschaft oder auch im Energiesektor bereits Einstiege in eine nachhaltige Produktion und Lebensweise ausmachen. Daraus könnten sich institutionelle Innovationen entfalten, die eine neue Balance von Staat, Markt und dem Dritten Sektor (der Daseinsvorsorge oder der Ökonomie des Alltagslebens) hervorbringt. Denn neben der Ablehnung der eingeschliffenen Politikroutinen breiten sich Projekte wie Bürger-, Sozial- und Seniorengenossenschaften, Social-Entrepreneurship-Projekte, lokale Selbsthilfeinitiativen, selbstverwaltete Unternehmen, Tauschringe und andere selbstorganisierte Projekte aus. Sie sind „eine partizipative Organisationsform kollektiver Leistungserbringung zum Zweck gemeinschaftlicher Daseinsbewältigung. Eine so organisierte Fundamentalökonomie wäre demokratisch nicht nur im liberalen Sinn individuell frei gewählter Meinungen und Lebensweisen, sondern auch in Bezug auf die praktische Gestaltung tatsächlicher Lebensverhältnisse und die Gewährleistung sozialer Solidarität bei der Arbeit an gemeinsamen materiellen wie ideellen Interessen“ (Streeck 2019, 19).
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Vielfalt solidarökonomischer und sozialer Verflechtungen jenseits von Markt und Staat
Verschiedene soziologische Studien weisen auf die gewachsene soziale Vielfalt hin, die auch Formen sozialen Zusammenhalts und kollektiven Handelns betreffen und insgesamt das Feld zivilgesellschaftlicher Partizipation bereichert haben (vgl. die Beiträge in Pries 2013). Gemeinhin zählen dazu sowohl klassische Vergemeinschaftungsformen wie Vereine (von denen es in Deutschland gegenwärtig rund 600.000 gibt), aber auch Selbsthilfegruppen, Stadtteilprojekte und weitere Sozialorganisationen (wie gemeinnützige Wohlfahrtsverbände), die unter der Kategorie Nonprofit-Organisationen (NPOs) zusammengefasst werden. Da die Konzepte aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen kommen, ist die Begriffsvielfalt nicht überraschend und weist durchaus Verbindendes auf „Trotz unterschiedlicher Traditionen besteht dennoch ein enger Nexus zwischen den Konzepten Zivilgesellschaft und Nonprofit-Sektor. NPOs sind insofern zivilgesellschaftliche Organisationen, als sie Möglichkeiten der Partizipation, Beteiligung und Selbstorganisation eröffnen. In gewisser Weise bilden sie in Form von Parteien, Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften, Initiativen und Projekten die Infrastruktur für belastbares gesellschaftliches und soziales Engagement jenseits kurzfristiger Proteste, Sit-ins und Demonstrationen“ (Simsa/Zimmer 2014, 12; vgl. auch bereits Heinze/Olk 1982). In der heterogen strukturierten Zivilgesellschaft und explizit dem NonprofitSektor liegen Potentiale, die bis zur Coronakrise sowohl in den wissenschaftlichen als auch in den politischen Diskursen kaum zur Kenntnis genommen wurden, obwohl gerade sie die solidarökomische Basis der Gesellschaft bilden und auch für die politische Steuerung bedeutungsvoll sind. „Starke korporative Akteure © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_3
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in Teilsystemen mit hoher Selbststeuerungsfähigkeit können zu nützlichen Kooperationspartnern der Politik werden. Sie entlasten die Politik durch ihre Fähigkeit, Interessen zu bündeln und Mitgliederinteressen zu beeinflussen“ (Braun 1993, 219). Diese Entlastungsfunktion durch Nonprofit-Organisationen kann nachhaltig anhand eines aktuellen Beispiels sozialinvestiver Politik, der Kinderbetreuungsinfrastruktur, nachgewiesen werden. Der Reformbedarf bei der U3-Betreuung ist in Deutschland unübersehbar und könnte ohne die Wohlfahrtsverbände nicht bewältigt werden. Hier werden nun die klassischen Prinzipien der Verflechtungen zwischen staatlichen Institutionen und den Spitzenverbänden praktiziert. Obwohl das Sozialgesetzbuch letztlich den Kommunen und Regionen die Verantwortung für die Umsetzung zuschreibt, greifen diese auf die verbandlichen Kapazitäten zurück. „Lokale Kirchengemeinden und andere Träger der freien Wohlfahrtspflege (bieten) neben kommunalen Einrichtungen den Großteil der Kinderbetreuung an und sind somit maßgeblich für die Gestaltung hinsichtlich Qualität und Bildung verantwortlich. Im Zuge der Expansion der U3-Kindertagesbetreuung hat sich ihre Rolle noch weiter gefestigt; sie verdoppelten ihr Angebot und bieten 2016 fast 400.000 Plätze an. Die öffentlichen Träger weiteten ihre Plätze um 80% aus und bieten halb so viele Plätze an“ (Schönert/Freise 2019, 75; vgl. auch Schneiders 2020, 30ff.). Obwohl sich die Trägerlandschaft auch in dem für deutsche Verhältnisse relativ neuen Feld der U3-Kinderbetreuung pluralisiert hat und sich gegenüber selbstorganisierten lokalen Initiativen und kommerziellen Unternehmen öffnet, spielen die organisierte Zivilgesellschaft und konkret die Wohlfahrtsverbände weiterhin eine zentrale Rolle und stellen nicht nur Angebote zur Verfügung, sondern treten auch als Themenanwalt auf. Durch die sich ausdehnende Vielfalt verschwimmen die klassischen Abgrenzungen und es kommt zu hybriden Organisationsstrukturen, die kommerzielle und freigemeinnützige Angebote kombinieren. Neben der Familie, dem Markt und dem Staat als basale Säulen gelten die sozialen Dienstleistungsorganisationen inzwischen auch als Basisinstitutionen der Wohlfahrtsproduktion. Den Wohlfahrtsverbänden liegt ein spezifisches „Produktionsregime“ zugrunde, das folgende Vielfalt von Arbeitsformen umfasst: „• ehrenamtliche Führungsrollen im Rahmen der oben skizzierten Assoziationslogik, d. h. nach Maßgabe von diskursiv verhandelten bzw. kollektiv – unter Einfluss des politischen Systems oder spezifischer Trägermilieus (z. B. Kirchen- oder Bewegungseliten) – abgestimmten Entscheidungen über Ziele und Mittel des organisationalen Handelns; • hauptamtliche Leitungspositionen, deren Inhaber (im Grundsatz) auf diese Entscheidungen verpflichtet werden, und die vielfach an Personen ‚mit Stallgeruch‘ (z. B. langjährigen Engagementkarrieren) vergeben werden – wobei das ent-
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sprechende Mandat oft weitreichende Interpretations- und Implementationsspielräume eröffnet; • Stellen für (nicht selten im betreffenden ‚Organisationsmilieu‘ sozialisierte) Berufstätige, die sich an professionellen Standards orientieren und deren Mitgliedschaftsrollen bzw. Kompetenzgrenzen relativ offen gehalten sind; • Tätigkeiten für freiwillig Engagierte, die (mehr oder weniger) lose an den hauptamtlichen Apparat gekoppelt sind, tendenziell sachzielorientiert tätig werden und dabei (wenigstens diffus) den Kernzwecken der Organisation folgen; • Beschäftigungsverhältnisse im ausführenden Bereich, die sich insofern nicht von ihren Pendants beim Staat oder in der gewerblichen Wirtschaft unterscheiden, als für sie extrinsische (Arbeits-)Anreize und inhaltlich stark eingegrenzte Mitgliedschaftsrollen maßgeblich sind“ (Bode 2018, 808).
Aus dieser intermediären Sphäre können sich innovative Alternativmodelle herausbilden, die gerade in jüngster Zeit im Rahmen der Transformationsdiskurse thematisiert werden. In soziologischen Debatten betont dies Wright (2017, 2019), der Alternativprojekte untersucht hat, deren Ziel darauf gerichtet ist, direkt Bedürfnisse zu befriedigen, anstatt Profit zu erzielen: ein genossenschaftliches Unternehmen wie Mondragon in Spanien, aber auch Wikipedia oder der Rat für Sozialwirtschaft von Quebec mit der Tagesfürsorge für Ältere, Zentren der beruflichen Weiterbildung und Sozialwohnungen. Weltweit expandiert die solidarische Wirtschaft: „Genossenschaften beschäftigen mehr Menschen als alle internationalen Konzerne zusammen“ (Scholz 2017, 72). Burawoy spricht mit Blick auf selbstorganisierte Initiativen von einer „molekularen Transformation der Zivilgesellschaft – kleinräumige Visionen von Alternativen wie Genossenschaften, Bürgerhaushaltsverfahren und allgemein gesichertes Grundeinkommen, die sich gegen die Markttyrannei auf der einen und die staatliche Regulierung auf der anderen Seite wenden“ (ders. 2015, 51f.). In den folgenden Kapiteln werden die Chancen für den Aufbau von derartigen selbstorganisierten Experimentierräumen diskutiert, aber auch auf die fundamentalökonomische Basis der sozialen Infrastruktur in Deutschland verwiesen, die die Vielfalt der Sozialformation kennzeichnet und erheblich zur Stabilität der Gesellschaftsordnung beiträgt (vgl. auch Löw 2014). Bevor näher auf die Nonprofit-Organisationen als eine zentrale Säule des deutschen Wohlfahrtssystems eingegangen wird, soll ein kurzer Blick das Leistungspotential der Zivilgesellschaft umreißen:
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„■ Vereine sind die am häufigsten genutzte Rechtsform der organisierten Zivilgesellschaft. 2016 gab es 603 886 eingetragene Vereine in Deutschland ■ Stiftungen sind mit einem Bestand von 22 274 (Ende 2017) die Rechtsform der organisierten Zivilgesellschaft mit den größten Wachstumsraten in den letzten 20 Jahren ■ In 2014 waren nach den Daten des Freiwilligensurveys 43,6 Prozent der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig engagiert. ■ Von 1999 bis 2014 sank der Anteil des organisationsgebundenen Engagements von 55,8 auf 52,1 Prozent (Freiwilligensurvey). Dafür stieg der Anteil des Engagements in „individuell organisierten Gruppen“ ■ Von 2007 bis 2016 stieg der Anteil der beschäftigten MitarbeiterInnen (sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte) von 2,9 auf 3,7 Millionen (IAB Betriebspanel). Der Beschäftigungsanstieg im gemeinnützigen Sektor überstieg damit den allgemeinen Beschäftigungsanstieg ■ Mit 61 Prozent entfällt der größte Anteil der Beschäftigten auf den Bereich „Sozial- und Gesundheitswesen“ ■ 51 Prozent der Vereine in Deutschland arbeiten mit einem jährlichen Budget von weniger als 10 000 Euro ■ Im Jahr 2016 haben nach Daten des GfK Charity*Scope (Auswertung für den Deutschen Spendenrat) 33 Prozent der deutschen Bevölkerung an eine gemeinnützige Organisation oder Kirche Geld gespendet ■ Die Hochrechnungen für das jährliche Spendenvolumen in Deutschland schwanken zwischen 3,7 Milliarden und 8,0 Milliarden Euro. Das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) kommt für 2014 auf ein Gesamtvolumen von 6,7 Milliarden Euro ■ Wertorientierungen und Kirchgangshäufigkeit weisen nach Daten des ALLBUS einen starken Zusammenhang mit der Vereinsmitgliedschaft von BürgerInnen auf ■ Mit (Häufigkeit der) Ausübung eines freiwilligen Engagements steigt nach Daten des SOEP die individuelle Lebenszufriedenheit“ (Krimmer 2019, 5).
Trotz ausgiebiger Debatten über die Pathologien moderner (post)industrieller Gesellschaften scheint die Zeit der Systemdebatten vorüber zu sein, es geht eher um pragmatische Korrekturen (auch wenn sie transformatorischen Charakter haben können) und die Entfaltung innovativer Umsteuerungen. Anstatt nach dem Muster „entweder – oder“ zu agieren (bspw. Markt versus Staat), werden neue Balancen zwischen den verschiedenen Steuerungsformen gesucht. „Statt allein auf politische Reformen oder revolutionäre Umwälzungen setzt das Konzept auf demokratischegalitäre Projekte, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen und gesellschaftliche Strukturen schrittweise qua Diffusion verändern. Eine entscheidende Rolle spielen dabei staatliche Akteure, da eine grundlegende gesellschaftliche Transformation nicht gegen, sondern nur mit dem Staat gelingen könne“ (Adloff/Neckel 2019, 175). Dies bedeutet auch zwingend, über die gegenwärtig nicht nur in der deutschen Regierungspolitik festzustellende Strategie des Abwartens hinauszukommen und konkrete Schritte in Richtung Gestaltung zu gehen.
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Gerade weil sich der Staat aufgrund der in den 1990er Jahren auch in Deutschland favorisierten Marktfixierung von vielen Aufgaben zurückgezogen hat bzw. die öffentliche Infrastruktur nur unzureichend gepflegt hat, wird nun von manchen Experten und Politikern ein starker sichtbarer Staat gefordert. Schon seit dem Finanzcrash 2008/2009 ist Ernüchterung hinsichtlich der marktlichen Selbstregulierung eingetreten (und diese ist aktuell durch die gigantische Marktmacht der Internetkonzerne noch stärker geworden), allerdings werden damit die bereits länger konstatierten und kommunizierten Defizite der staatlichen Problemlösungskompetenzen nicht obsolet. Auch wenn derzeit die Rufe nach dem Staat wieder lauter geworden sind, werden dadurch die staatlichen Handlungsspielräume nicht größer; Fiktionen über einen wiedererstarkten Staat scheinen eher blauäugig zu sein und suggerieren analog zum Fußball, dass eine Kanzlerin oder ein Kanzler als Libero oder Regisseur agiert und hierarchisch steuert. Aber auch in der Politik ist das Spiel flexibler und schneller geworden und verlangt ein kreatives Management im Umgang mit Unsicherheiten bzw. ein „Learning by Monitoring“. Im deutschen Fußball hat es einige Zeit gebraucht, bis die neuen Herausforderungen kreativ aufgegriffen wurden. Die Politik spielt aber offensichtlich eher noch mit einer Defensivtaktik und bewegt sich in vielen Zukunftsfragen im Zeitlupentempo, anstatt den reaktiven und fragmentierten Organisationsmodus zu überwinden und die Selbststeuerungskompetenzen der gesellschaftlichen Sektoren zu nutzen. In diesem Kontext wäre auch die öffentliche Daseinsvorsorge neu aufzustellen und könnte produktiv die bislang unausgeschöpften Potentiale des Nonprofit-Sektors erschließen. Der „Mehrwert“ der zivilgesellschaftlichen Organisationen liegt nicht nur in der Bereitstellung sozialer Angebote und gemeinwohlorientierter Wirtschaftsformen, sondern diese können durch ihre vielfältigen Funktionen auch sozialinnovatorisch wirken: Als „Organisatoren öffentlicher Debatten, „Watchdogs“, die Staat und Wirtschaft auf die Finger schauen, Träger von Versorgungsleistungen und Angeboten, ohne die das Sozialsystem nicht komplett wäre, und oft auch [als] Pioniere innovativer Konzepte und Lösungen“ (Evers/Leggewie 2018, 35). Dabei sollte nicht auf „wishful thinking“, sondern auf Pragmatismus sowie experimentelle Settings gesetzt werden. Anhand einzelner primär wohlfahrtsstaatlicher Sektoren wird im Folgenden exemplarisch aufgezeigt, wie eine Innovationsdynamik über die Nutzung der verschiedenen solidarökonomischen Alternativen jenseits von Markt und Staat und deren Verknüpfung (in einem hybriden Wohlfahrtsmix) realisiert werden könnte. „Die Maxime staatlichen Handelns kann dann nicht sein, top town hierarchische Entscheidungen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern durchzusetzen, sondern horizontale Formen der Governance zu erproben, bei denen Akteure aus Politik und Verwaltung und Akteure der
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Zivilgesellschaft und der Wirtschaft auf der Grundlage gegenseitigen Respekts gemeinsam Lösungen aushandeln und in einem arbeitsteiligen Ko-Produktionsprozess umsetzen. Dieser kooperative Politikstil würde allerdings auch den Akteuren der Zivilgesellschaft einiges abverlangen. Bereichsspezifische Formen der Kommunikation und Vernetzung müssten überwunden und bereichsübergreifende Formen der Kommunikation und Vernetzung verstärkt werden. Gerade dies – also die Überwindung der Branchengrenzen zwischen Kultur, Wohlfahrtspflege, Sport, Umweltschutz etc. – hat in Deutschland noch keine lange Tradition und stellt eine der zentralen Baustellen dar“ (Klein/Olk 2014, 443f.). Die Ursprünge der derzeit thematisierten sozialökologischen Einstiegsprojekte liegen in vielen Fällen in Deutschland bereits in den 1980er Jahren und demonstrieren nachhaltig, dass Strategien sozialer Innovationen einen „langen Atem“ brauchen, um umgesetzt zu werden. Wiesenthal hat diese nicht zu unterschätzende Zeitspanne anhand der Einführung sozialstaatlicher Sicherungssysteme in Westuropa untersucht und zieht mit Blick auf aktuelle Transformationsprojekte folgendes Fazit: „Die Transformation der in vielerlei Hinsicht heterogenen und differenzierten (Post-)Industriegesellschaft ist kein übersichtliches und uno actu absolvierbares Projekt, sondern allenfalls – sofern sie denn eines Tages ex post factum konstatiert werden könnte – das kumulative Resultat zahlreicher, je für sich arbiträr anmutender, asynchroner und nur lose verkoppelter Veränderungen von begrenzter Wirkung. Folglich ist sie auch nicht als Abarbeitung eines Masterplans vorstellbar, sondern – zumindest in ihren Anfängen – als eine Serie von Experimenten mit der sozialen Wirklichkeit zu verstehen“ (ders. 2019, 381). Basierend auf dieser Einschätzung scheint es lohnenswert zu sein, einmal in die 1980er Jahre zurückzuschauen und die schon damals angestellten Überlegungen für eine neben der haushaltlichen Selbstversorgung und der marktlichen bzw. administrativen Fremdversorgung ergänzende eher assoziativ ausgerichtete Steuerung durch selbstorganisierte Kooperationsringe zu resümieren. Exkurs
Zeit als Ressource – Kooperationsringe als nutzenbringende Netzwerke
Ausgangspunkt des Modells Kooperationsring und der Untersuchung war die Suche nach Bedarfsausgleichssystemen, die es Individuen für bestimmte Kategorien von Gütern und Dienstleistungen ermöglichen, Zeitkontingente produktiv zu gestalten (vgl. Offe/Heinze 1990). Nach einer Analyse der Versorgungsstrukturen von Individuen und Haushalten und einem auch internationalen Überblick über solche Tauschnetze wurde explorativ eine spezifische Variante
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(der Kooperationsring) entwickelt und durchgespielt, wie ein solches experimentelles Projekt in der bundesrepublikanischen Gesellschaft umgesetzt werden könnte. Bei den Kooperations- oder Tauschringen ging es also nicht um den Versuch der Transformation einer Wirtschaftsordnung, sondern vielmehr um Ergänzungen und Kompensationsmechanismen, die im Rahmen der reformpolitischen Spielräume liegen, die der staatlichen Politik zur Verfügung stehen. Bislang sind unter den sozial- und wirtschaftsstrukturellen Bedingungen, wie sie in Deutschland und anderen vergleichbaren Ländern vorliegen, die Möglichkeiten einer produktiven Zeitnutzung am Geldmedium vorbei stark eingeschränkt, wenn sie auch nicht völlig fehlen. Diese Beschränkungen führen einerseits zu der ökonomisch irrationalen, zumindest suboptimalen Brachlegung von Faktoren gesellschaftlicher Wohlfahrt und mithin zu einem geringeren Versorgungsniveau. Sie führen andererseits zu dem unter politisch-moralischen Gesichtspunkten kaum akzeptablen Befund, dass gerade diejenigen Bevölkerungsgruppen, bei denen ungenutzte, aber nutzbare Zeitressourcen verfügbar und die aufgrund ihrer allgemeinen Versorgungslage am dringlichsten darauf angewiesen wären, diese verfügbare Zeit auch in „Gebrauchswerte“ umzusetzen, dazu am wenigsten in der Lage sind (z. B. Arbeitslose). Ein funktionsfähiges Institutionensystem der nicht-monetären gesellschaftlichen Zeitnutzung könnte deshalb neben den Vorschlägen zur monetären Umverteilung von Einkommen eine Perspektive auf eine gerechtere Verteilungsstruktur der Lebenschancen eröffnen. Solche sozialökonomischen Institutionen könnten als neue „soziale Technologien“ durch neue Weisen der Verwertung verfügbarer Ressourcen die Nutzung brachliegender Tätigkeitspotentiale und damit die qualitative und quantitative Verbesserung von Versorgungslagen erlauben, und zwar außerhalb der staatlichen Ebene einerseits und oberhalb der Ebene des engen haushaltlichen bzw. familialen Leistungsaustausches andererseits. In Deutschland hat sich im Feld der personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen etwa im Gegensatz zu Frankreich bis heute auch kein formeller Markt entwickelt, „obwohl aus demographischen Gründen wie der Alterung der Bevölkerung und der wachsenden Erwerbstätigkeit der Frauen die Nachfrage nach externen Dienstleistungen für private Haushalte wächst. Der internationale Vergleich zeigt dabei, welche Parameter entscheidend sind: Es gibt insbesondere in Frankreich oder Belgien sehr stark steuerlich subventionierte Gutscheinmodelle, die auch haushaltsnahe Dienstleistungen durch Unternehmen mit eigenem Personal am Markt wettbewerbsfähig machen. Durch die Bezuschussung werden die Arbeitskosten, insbesondere die Lohnnebenkosten, aus Sicht der Nutzer auf ein im Vergleich zum Schwarzmarkt wettbewerbsfähiges Maß reduziert, so dass
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ein zentrales Hemmnis für die Entwicklung eines Marktes für haushaltsnahe Dienstleistungen im formellen Sektor weitgehend entfällt“ (Eichhorst/Spermann 2015, 14). Hier liegen deshalb auch noch gegenwärtig Potentiale brach, aber zur Lösung dieses gesellschaftspolitischen Problems scheint es erforderlich zu sein, für an selbstorganisierten Projekten interessierte Bürger neue Institutionen wie Kooperationsringe zu inszenieren, welche eine gewisse Vergesellschaftung über das Zeitmedium erlauben. Zeit müsste wie Geld behandelt, ohne dennoch gegen Geld gehandelt zu werden. Die dezentrale Logik der Zeit wäre quasi großräumig und flächendeckend zur Geltung zu bringen. Eine Lösung für dieses Problem, die seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder vorgeschlagen und in vielen, oft utopisch und naiv anmutenden praktischen Versuchen erprobt worden ist, besteht in der Einführung einer Zeitwährung oder eines „Stundengeldes“, das allein in ihrem zeitlichen Aufwand gemessene Leistungen miteinander austauschbar und so die Zeit zirkulationsfähig machen sollte. Auf diese Weise könnte es möglich werden, Leistungen zwar nicht zu ihrem marktbestimmten Geldwert, aber doch zwischen einander „fremden“ Personen, zwischen verschiedenen sachlichen Kategorien von Waren und zwischen verschiedenen Zeitpunkten zu übertragen. Schon in den 1980er Jahren konnten nicht nur strukturelle Engpässe der Wohlfahrtsproduktion konstatiert werden, sondern es deuteten sich Gegenbewegungen in Richtung einer wachsenden Attraktivität des Bedarfsausgleichs durch selbstorganisierte Versorgungsformen an. Für derartige Tätigkeiten stand und steht gegenwärtig – noch mehr – aufgrund insgesamt sinkender Anteile der Erwerbszeit an der Lebenszeit, die Ressource „Zeit“ zur Verfügung. Dabei lassen sich vielfältige Formen nützlicher Tätigkeiten aufzählen, die in modernen Gesellschaften außerhalb der Sphäre betrieblich organisierter Erwerbsarbeit oder staatlicher Angebote vorkommen. Sie sind zumeist als hybrid zu kennzeichnen, weil sie unterschiedlichen Rationalitätskriterien folgen bzw. diese verknüpfen und liegen deshalb in einer Grauzone zwischen Markt und Staat einerseits und haushaltlicher Selbstversorgung andererseits. Trotz der Vielfalt der Aktivitäten außerhalb der Familie, der jedoch weiterhin im Hinblick soziale Hilfen und Unterstützung eine hervorragende Bedeutung zukommt, sind die Leistungspotentiale der Nachbarschafts- und Verwandschaftsbeziehungen sowie der Selbsthilfegruppen und des ehrenamtlichen Engagements beschränkt. Als Gründe für die geschrumpften und sozial selektiven Kapazitäten für selbstorganisierte Nachbarschaftshilfe können u. a. die abnehmende Größe und Instabilität der Haushalte genannt werden.
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Als eine neue Quelle der Wohlfahrtsproduktion schlugen wir deshalb eine Kombination von Steuerungsprinzipien vor, um so geeignete assoziative Kontexte für nicht nur moralisch oder politisch, sondern auch rational zu begründete Solidaritätspraktiken zu schaffen. Im Modell des Kooperationsrings ist vorgesehen, „die überhaushaltliche Kollektivierung von Selbstversorgungseinrichtungen weder gemeinschaftlich noch administrativ, sondern marktförmig zu organisieren, allerdings mit den beiden Besonderheiten, dass (a) der Leistungsaustausch nicht über das allgemeine Medium des Geldes, sondern über Leistungsgutscheine als eine Parallelwährung läuft, welche nur im Kreis der Teilnehmer und nur für den Zweck des Leistungsverkehrs zwischen einer lokal abgegrenzten Zahl von Haushalten Geltung haben, und dass (b) das Zustandekommen und der Bestand eines derartigen, durch eine nicht-konvertible Eigenwährung ausgegrenzten Marktes öffentlich subventioniert wird, und zwar ebenfalls nicht monetär, sondern durch die Bereitstellung von Räumen, Geräten, Sachleistungen und Humankapital. Dies hätte den Vorteil, derartige überhaushaltliche Arrangements von der Voraussetzung begrenzt wirksamer und immer anfälliger Solidaritäts- und Reziprozitätsbeziehungen abzukoppeln, aber andererseits auch den Ausweg einer schematisierenden und standardisierenden Kollektivversorgung mit ihren qualitativen Mängeln zu vermeiden. Anders gesagt: Teilnahme- und Leistungsmotiv der Beteiligten wäre damit weder die unbestimmte Aussicht darauf, dass die „jetzt“ Begünstigten die empfangene Hilfe irgendwann einmal erwidern würden, und ebenso wenig der Umstand, dass man sich etwas „Besseres“ (einstweilen) nicht leisten kann, sondern das rationale Kalkül eines möglichst effizienten Bedarfsausgleichs. Gleichzeitig wäre ein solcher zwischenhaushaltlicher Markt für Güter und Dienstleistungen der Selbstversorgung vom allgemeinen Markt durch die Tatsache abgekoppelt, dass hier nicht mit Geld, sondern mit Gutscheinen gezahlt wird. Deren Einführung hat den Sinn, dass Leistungen von anderen Haushalten nur aufgrund vorausgegangener Leistungen an andere Haushalte bezogen werden können (und nicht aufgrund von Markteinkommen), und dass das Tauschmittel nicht zum Ausgangspunkt von Akkumulationsprozessen und Ausbeutungsverhältnissen werden kann: Man kann mit den durch eigene Leistungen erworbenen Gutscheinen nichts anderes unternehmen, als sie wiederum für Leistungen anderer teilnehmender Haushalte auszugeben“ (Offe/Heinze 2018, 208/ zuerst 1986; vgl. ausführlich Offe/Heinze 1990 sowie die Beiträge in Heinze/ Offe 1990). In der Praxis könnte ein Kooperationsring beispielsweise so aussehen: Der handwerklich begabte Werkzeugmacher A ist dem Englischlehrer B bei Anstreicharbeiten am Haus behilflich. Als Gegenleistung erhält er Leistungs-
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gutscheine, die es ihm später ermöglichen, seinen Lohnsteuerjahresausgleich von der Sparkassenangestellten C erledigen zu lassen. Diese wiederum nutzt die dabei erworbenen Gutscheine, um ihr Wirtschaftsenglisch durch Nachhilfeunterricht bei dem Englischlehrer aufzufrischen. Voraussetzung für das Funktionieren eines derartigen Kooperationsringes ist zum einen, dass man die verschiedenen Arbeiten nach einem leicht überschaubaren Index bewerten kann und zum anderen müsste die Koordinationsaufgabe sowie eine Mindestausstattung mit Räumen, Geräten usw. von der öffentlichen Hand auf lokaler Ebene übernommen werden. Leistungspotentiale aus dem zivilgesellschaftlichen (oder fundamentalökonomischen) Sektor können nur entfaltet werden, wenn die öffentlichen Infrastrukturen Unterstützungsangebote bieten. Dies war und ist auch gegenwärtig zentral für die Problemlösungskapazität von Kooperations- oder Tauschringen. Durch die Digitalisierung werden nun die eher gewachsenen Wünsche nach guten nachbarschaftlichen Kontakten und Austauschbeziehungen sogar in Form von Nachbarschaftsportalen vereinfacht. So bietet bspw. Zwopr (angelehnt an das englische Wort swop = tauschen) die „Neuinterpretation“ eines Tauschringes und fokussiert wie im von uns skizzierten Kooperationsmodell auf eine Vergütung über Zeit anstatt über Geld. Seit Frühjahr 2019 existiert das Netzwerk und jeder der (bislang) 7000 aktiven Benutzer (zum großen Teil in München) verfügt über ein Zeitkonto, in dem seine Aktivitäten angezeigt werden. „Wer sich anmeldet, muss sich bislang nicht verifizieren, was sich künftig aber ändern soll. Im Profil wird immerhin angezeigt, wie oft jemand bereits geholfen hat“ (Simon 2020, 46). Derzeit finanziert sich das Startup über Eigenkapital und ist primär im unmittelbaren Sozialraum aktiv; das zentrale Motto lautet: Aufgabenerledigung per Zeittausch.30
30 Die Kontaktaufnahme erfolgt bei Zwopr nach folgendem Muster: „1. Du holst dir bei der Registrierung automatisch dein Startguthaben über 8 Zwopr Stunden. Du findest diese in deinem Zeittank auf deiner eigenen Profilseite. Aus Gründen der Transparenz siehst du auch bei anderen Mitgliedern, wie viel Zeit sie im Tank haben. Für die ersten vier Freunde, die du über die Einladefunktion in der App auf Zwopr einlädst, erhältst du je eine weitere halbe Stunde. Wenn du alles richtig gemacht hast, startest du also mit 10 Zwopr Stunden! Auf geht’s zur Hilfesuche! 2. Du findest jemanden, der dir helfen könnte. Das geht entweder direkt über die Suche, dann kannst du den infrage kommenden Personen einfach eine Chat-Nachricht senden. Oder du erstellst ein Hilfegesuch und wartest, dass Helfer auf dich zu kommen. Am besten startest du beides gleichzeitig, du wirst sehen, wie leicht das geht! 3. Wenn dir jemand geholfen hat, legt ihr fest, wie lange das gedauert hat und du sendest ihm/ihr einfach von ihrem bzw. seinem Profil auf über den „Zeit senden“ Button den Zeitbetrag“ (https://zwopr.com/das-zeitkonto/ abgerufen am 20.2.2020).
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Dieser digital unterstützte Tauschring mit eigener App ist von der Organisationslogik am nächsten an dem skizzierten Modell des Kooperationsrings. Darüber hinaus gibt es weitere, nicht so stark am Tauschprinzip orientierte und zumeist ebenfalls digital gut aufgestellte Nachbarschaftsportale in verschiedenen Städten in Deutschland, von denen am erfolgreichsten Nebenan.de mit rund 1, 5 Millionen Nutzern im Frühjahr 2020 in rund 7000 Nachbarschaften (vorwiegend in Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln oder Frankfurt) ist. Die Plattformen sind sehr unterschiedlich organisiert; auf manchen sind verschiedene Nachbarschaften in ganz Deutschland registriert, deren Nutzer jedoch nur mit Personen aus ihrem Wohnumfeld kommunizieren können. Andere Quartiersplattformen richten sich nur an die Menschen in einem Ort, manche haben nur Angebote für bestimmte Zielgruppen oder Themen. Da die digitalen Nachbarschaftsplattformen erst seit kurzem existieren, weiß man noch relativ wenig über die konkreten Auswirkungen auf die Vergemeinschaftungsprozesse vor Ort. Erste Erfahrungen über digital vernetzte Nachbarschaften weisen durchaus auf Potentiale hinsichtlich des Abbaus von Anonymität, mehr Kommunikation und dadurch mehr Nachbarschaftshilfe hin (vgl. die Beiträge in Heinze et al. 2019). Die bislang eher auf selektive Partizipation beschränkten Tauschringe könnten also durch die Digitalisierungsprozesse gestärkt werden und die Ressource Zeit stärker zur Entfaltung bringen.
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Am Beispiel der Kooperationsringe oder Tauschnetzwerke auf lokaler Ebene, die sicherlich nicht den Charme großer gesellschaftstheoretisch begründeter Transformationsprojekte haben, sollte gezeigt werden, wie sich gesellschaftliche Problemlösungsressourcen durch den Einbezug zivilgesellschaftlicher Aktivitäten erhöhen können. Bei dieser sozialen Innovation kann man sich auf die Überzeugungskraft kleiner Schritte verlassen, die von verschiedenen Wertpositionen aus unterstützt werden kann. Das Modell kann auch noch auf dem Weg zum angestrebten Ziel revidiert und umgesteuert werden und sollte deshalb im Rahmen der Diskussion um eine experimentelle Politik auf dezentraler Ebene eine größere Rolle spielen. Aus heutiger Sicht erscheint es als pragmatischer Versuch jenseits nostalgischer Rückblicke auf „heile“ Gemeinschaften oder umfassende sozialstaatliche Planungen und könnte auch im Rahmen eines „eingebetteten Liberalismus“ realisiert werden. „Die spätmoderne Gesellschaft ist keine Gemeinschaft, kein homogenes Kollektiv und wird es auch niemals sein. Sie ist in Lebensstilen pluralisiert, in Klassen stratifiziert und multiethnisch. Die Herausforderung liegt vielmehr in der Konstitution eines gesellschaftlichen Allgemeinen, das sich inmitten der sozialen Unterschiede und kulturellen Heterogenitäten zu behaupten vermag. Im Unterschied zur ‚Gemeinschaft’ gibt es in der spätmodernen ‚Gesellschaft’ keine verbindliche und von allen geteilte Lebensform, und die Individuen sind je irreduzibel besonders – trotzdem oder gerade deshalb ist sie auf Regeln und deren Durchsetzung angewiesen und bedarf Anerkennungsformen, welche die Einzelnen in ihrer, ab er auch trotz ihrer Unterschiedlichkeit tragen“ (Reckwitz 2019, 290). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_4
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Gerade in einer singularisierten Gesellschaft könnten Kooperations- und Tauschringe die Steuerungsprobleme und Leistungsdefizite des Systems öffentlicher Dienstleistungsproduktion ein Stück weit korrigieren, weil sie ohne gemeinschaftliche und/oder ideologische Bindungen auskommen. Dabei könnte man sich eine Größenordnung von wenigen Dutzend bis einigen Hundert beteiligter Haushalte vorstellen, was dazu führen würde, dass es sich einerseits um ein durchaus lokales Arrangement handelt, das zwar hinter dem Verteilungsradius regulärer Märkte weit zurückbleibt, andererseits aber doch geeignet sein könnte, die betriebswirtschaftlichen Nachteile moderner Haushalte in einigen Aspekten zu neutralisieren. Der Tausch folgt dem Äquivalenzprinzip, wird jedoch nicht durch Geld vermittelt, sondern durch eine Spezialwährung von Gutscheinen, die nicht in Geld konvertierbar sind. Das Äquivalenzprinzip macht Transaktionen auch zwischen Fremden möglich, sie entfalten sich zwischen privaten Haushalten. Dieses Merkmal impliziert einerseits, dass haushaltsinterne Versorgungsleistungen ausgeklammert und so die Bedürfnisse nach Abschirmung der Privat- und Intimsphäre unbeeinträchtigt bleiben. Wichtiger ist aber, dass andererseits auch nur Haushalte, also nicht etwa Unternehmen oder andere juristische Personen, Teilnehmer werden können, so dass die bei ihnen zu unterstellenden Gewinninteressen aus dem Tauschsystem ferngehalten werden können. Die Wahl der Zeitbasis für die Währung hat eine Reihe von praktisch relevanten und auch normativ attraktiven Implikationen. Neben der Eindämmung von Preisbildungsmechanismen und erwerbswirtschaftlichen Gewinnmotiven wird mit der Stundenbasis der Zweck verfolgt, in der Marktökonomie und auf dem Arbeitsmarkt aufgebaute materielle Ungleichheiten in gewissem Maße umzukehren. Die Währung und das Tauschnetz eignen sich für den Austausch von Leistungen, deren Verwendungsort der Haushalt und das nähere Wohnumfeld sind. Bei dieser sachlichen Schwerpunktsetzung kann erwartet werden, dass die erforderlichen Einrichtungen und Qualifikationen in gewissem Umfang bereits vor Ort vorhanden sind. Das Ziel ist also ein breites und flexibel anpassbares Spektrum von „Jedermanns-Diensten“. So angelegte Kooperations- oder Tauschringe entsprechen den sozialstrukturellen und soziokulturellen Verhältnissen, die in städtischen Wohngebieten unterschiedlicher sozialer Zusammensetzung typischerweise angetroffen werden können. Damit sind Verhältnisse mit einer gewissen Anonymität und Mobilität, aber auch gemeinsamen Problemen des Haushalts-, Zeit- und Konsummanagements gemeint. Da die Beteiligung an einem Kooperationsring und jede einzelne Transaktion in ihm auf freiwilliger Entscheidung beruht, handelt es sich um moralisch relativ „anspruchslose“ Interaktionsbeziehungen, die unter solchen Bedingungen gerade deswegen als adäquat erscheinen, weil unter stark individualisierten Lebens- und Gesellschaftsverhältnissen mit traditionellen Formen
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der Gemeinschaftsbildung und Pflichtbindung kaum noch zuverlässig zu rechnen ist. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass sich derartige Tauschringe auf breiter Basis spontan bilden und erhalten, und zwar vor allem in den Bevölkerungsgruppen nicht, wo ein erheblicher wohlfahrtssteigernder und egalitärer Effekt von solchen nichtmonetären haushaltsnahen Tauschsystemen erwartet werden könnte. Daraus folgt, dass Kooperationsringe sich nur als Ergebnis stützender, fördernder politischer Initiativen entwickeln und ausbreiten können, sie müssen inszeniert werden. Als wir dieses Modell Ende der 1980er Jahre konzipierten und auch die Erfahrungen mit Tauschringen im Ausland analysierten (vgl. die Beiträge in Heinze/ Offe 1990), gab es neben den wissenschaftlichen Reaktionen durchaus vereinzelt Interesse bei politischen Akteuren, solch konzeptionellen Vorschläge experimentell zu überprüfen. Durch die Wiedervereinigung in Deutschland und den damit verbundenen Stress bei allen politischen und gesellschaftlichen Institutionen gerieten solchermaßen alternative Optionen aber aus dem Blickfeld bzw. bildeten sich nur vereinzelt aus. Die Übernahme der traditionellen Politik-, Verbände- und Verwaltungsstrukturen in den neuen Bundesländern verhinderte eine intensivere Debatte über alternative Muster gesellschaftlicher Entwicklung, die zentral auf Steuerungsleistungen jenseits von Markt und Staat setzen. Sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in den neuen Bundesländern, die besonders stark von der Beschäftigungskrise betroffen waren und die sozialen Folgeprobleme und Pathologien des rapiden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses eindringlich gespürt haben (wie in den letzten Jahren auch zahlreiche südeuropäische Länder), haben sich allerdings solche Tauschringe nur begrenzt spontan gebildet. Es gibt zwar in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Kommunen (vorwiegend im städtisch-alternativen Bereich) Vorstöße für die Gründung solcher Tauschsysteme, allerdings bleiben solche experimentellen sozialen Arrangements, für die es genügend historische und internationale Erfahrung gibt, weitgehend die Ausnahme. Am Beispiel des digital organisierten Tauschrings Zwopre zeigt sich aber, dass durch neue soziotechnische Optionen netzwerkartige und nachbarschaftlich orientierte Formen der Selbstorganisation wieder erstarken können. Auch andere Initiativen (etwa Formen selbstorganisierter Landwirtschaft) weisen auf diesen Bedeutungszuwachs auf lokaler und regionaler Ebene hin. Neben dem Interesse an einer klimaschonenden und nachhaltigen Wirtschaft sowie der Digitalisierung als Beschleuniger für solche Kooperationsnetzwerke wirkt auch in manchen Regionen, zumeist denen, die sich schon länger mit regionalautonomen Gestaltungsansätzen befassen, die Coronapandemie. Beispielhaft kann dies in den österreichischen Tourismusregionen studiert werden, die besonders von der Virenseuche infiziert waren (etwa im Pillerseetal in Tirol). Dort wurde sogar die regio-
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nale Währung des PillerseeTalers revitalisiert und diese ist in rund 70 Betrieben der Region als Zahlungsmittel anerkannt (zudem wird er auch als Geschenk angeboten und in der aktuellen Krise auch rege nachgefragt). Mit dem PillerseeTaler, der von einem Verein organisiert wird, soll die Kaufkraft in der Region gebunden und neue Umsätze generiert werden. Durch die Kooperation mit dem Tourismusverband werden ebenso die regionale Identität und Marketingaktivitäten gestärkt (http://www.regio-tech.at/page.cfm?vpath=regionalentwicklungs-gmbh/der-pillerseetaler---regionswaehrung1). Diese regionalen Selbstorganisationsformen dürfen nicht überschätzt werden, dennoch können sie als Gegenbewegungen zur Mainstream-Globalisierung gedeutet werden, deren Aktionsradius aber begrenzt bleiben wird. Sie stehen eher für Symptome für das Unbehagen an einer durchrationalisierten und primär auf Effizienz getrimmten Wachstumsstrategie, erreichen mit ihren Wertvorstellungen inzwischen jedoch nicht nur Randgruppen, sondern werden auch in der gesellschaftlichen Mitte akzeptiert. Die Ausbreitung selbstorganisierter Initiativen verläuft in räumlicher Perspektive unterschiedlich und weist auf einen Trend zur Heterogenisierung der regionalen Lebensverhältnisse hin.31 Dennoch können sie sich in einigen Regionen oder Stadtquartieren entfalten und auch ausstrahlen. Eine flächendeckende Resonanz ist deshalb nicht zu erwarten, weil im Zuge des umfassenden Modernisierungsprozesses und der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas) die soziokulturellen Kompetenzen in vielen Bevölkerungsgruppen weitgehend verloren gegangen sind, die für die Inszenierung von Formen solidarischer Selbsthilfe benötigt werden. Der noch immer relativ hohe Lebensstandard für breite Bevölkerungsgruppen und die eingeschliffenen (wenn nicht bereits 31 Die deutsche Gesellschaft driftet nicht nur sozial auseinander, sondern auch regional. Die regionalen Differenzen sind zwar noch nicht so erheblich wie in anderen vergleichbaren Ländern, was bereits im Zusammenhang mit dem Erstarken populistischer Bewegungen (etwa in Frankreich) angesprochen wurde, dennoch sind sie trotz aller Debatten über eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der deutschen Politik in den letzten Jahren gewachsen. Einzelne Aspekte dieser regionalen Heterogenisierung, denen auch stark kulturelle Diferenzen innewohnen, werden in den Diskursen zu den Unterschieden zwischen den global agierenden, gut gebildeten und zumeist in Metropolen wohnenden Bevölkerungsgruppen und den in traditionellen Milieus lebenden sozialen Schichten inzwischen auch in der Öffentlichkeit debattiert. Diese wachsende Verschiedenartigkeit der Regionen kann durch traditionelle (polarisierende) Raumabgrenzungen wie etwa „Stadt“ und „Land“ nicht mehr adäquat abgebildet und interpretiert werden. Sowohl die allgemeine Bezeichnungen Land als auch Stadt sagen kaum noch etwas über die konkreten Lebensverhältnisse vor Ort aus. Die teilräumlichen Differenzierungen haben sich vertieft (vgl. Danielzyk et al. 2019, Heinze et al. 2019c sowie die Beiträge in Hüther et al. 2019).
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verkrusteten) politisch-institutionellen Verfahrenswege bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Problemlagen tun ihr Übriges, um potenziell vorhandene Kreativität oft lahmzulegen. Deshalb überrascht auch nicht die relativ geringe Zahl von Tauschinitiativen in Deutschland gegenüber den lokalen Tauschsystemen in anderen Ländern (derzeit dürften einige Hundert Tauschringe bei uns bestehen), dennoch scheint diese Idee zunehmend auch aktive Befürworter zu finden (vgl. zum Stand der aktuellen Debatte u. a. die Beiträge in Seidl/Zahrnt 2019). Ein weiterer Grund für Skepsis gegenüber den Tauschringmodellen liegt in einem Einwand, der insbesondere von Teilen der Frauenbewegung vorgetragen wurde. Hier wird befürchtet, dass eine staatliche Unterstützung der informellen Arbeit diese zwar für Frauen unter dem Gesichtspunkt der sozialen Sicherung etwas weniger riskant macht, trage jedoch dazu bei, die Festlegung von Frauen auf traditionelle Geschlechtsrollenstereotype zu verfestigen. Dennoch ist bspw. die Anrechnung von Tätigkeiten in Kooperationsnetzwerken und Selbsthilfegruppen durchaus im Rahmen der Alterssicherung weiterhin bedenkenswert. Denn schließlich werden die familialen und verwandtschaftlichen Pflege- und Unterstützungsaktivitäten ebenfalls ohne sozialpolitische Absicherung realisiert, auch wenn dies aufgrund der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen immer weniger der Fall ist. Investitionen in die oft vergessene informelle Seite des Sozialstaats könnten sich durchaus als soziale Innovationen „bezahlt“ machen. Angesichts der vielfach beklagten Effektivitätsprobleme bürokratisierter sozialer Dienste dürften in der Vernetzung des professionalisierten und des freiwilligen Bereichs des Helfens wichtige Ansatzpunkte für eine Qualitätsverbesserung liegen. Macht sich die Arbeits- und Sozialpolitik die Förderung von Arbeit jenseits von Markt und Staat zu eigen, wagt sie sich auf bislang kaum begangene Pfade. Allerdings könnte am Ende des Weges ein zusätzlicher Wohlfahrtsgewinn entstehen. Vor allem wenn es gelingt, neue nicht auf Geld basierende Kooperations- und Tauschsysteme aufzubauen, würde für viele Menschen der Zwang zu Überstunden und lebenslanger, ununterbrochener Erwerbstätigkeit ein wenig gemildert. Allerdings gilt es über geeignete staatliche Unterstützungsangebote abzusichern, dass sie auch den notwendigen Anforderungen an Sicherheit und Qualität entsprechen. Nach der kurzen Erörterung eines hybriden, gemischten Modells der Wohlfahrtsproduktion, das neue Spielräume für eine bessere Versorgung mit haushaltsnahen Dienstleistungen eröffnen könnte, wird bereits deutlich, wie schwierig es ist, die verschiedenen Tätigkeitsformen unter einem Begriff zu subsummieren. In dem Modell geht es primär um Eigenarbeit und Selbsthilfe im Haushalt, aber auch der Nachbarschaft. Sie könnte in vielen Fällen auch über den Markt erledigt werden, was aber soziale Spaltungsprozesse noch intensivieren würde. In eine ähnliche
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Richtung zielen die bereits seit Jahrzehnten bestehenden Genossenschaften, die ebenfalls neben dem Markt und dem Staat eine gemeinwohlorientierte Solidarökonomie darstellen, die verschiedene Formen der Daseinsvorsorge abdecken und gerade heute wieder als Bürgergenossenschaften an einzelnen Orten revitalisiert werden. Diese sollen „zugleich unterschiedliche Aufgaben unter einem Dach verbinden: Energie- und Nahversorgung, Pflege und Begleitung, Mobilität oder Kultur“ (Klie et al. 2018, 10). Solcherart gemeinnützige Organisationen und alternative Steuerungsmodelle um „kollaborative Gemeingüter“ (Besitz statt Eigentum), eine „shared economy“ bzw. eine „Wirtschaft des Teilens“ (Rifkin 2014), wie sie sich auch in Carsharing-Modellen oder den wachsenden kooperativ gemanagten Internetplattformen ansatzweise zeigen, spielen eine wichtiger werdende Rolle in der sozialen Infrastruktur vor Ort. In diesen Diskussionen wird jedoch oft vergessen, dass in Deutschland bereits seit über einem Jahrhundert ein ausgebauter Sektor gemeinwohlorientierter Organisationen existiert. Manche dieser Organisationen scheinen unmodern zu sein, wenngleich bspw. Genossenschaften durchaus als eine moderne Antwort auf Marktdefizite und ausschließliche Profitorientierung gelten können: sowohl für klassische soziale Fragen wie sicheres Wohnen (das derzeit wieder in manchen Metropolregionen hochaktuell ist) als auch andere gegenwärtige Probleme wie etwa im Energiesektor. Deshalb muss eine Analyse der Solidar- oder Gemeinwohlökonomie die bunte Vielfalt des Dritten Sektors sowie die Hemmfaktoren für eine Ausbreitung als Experimentierräume der Transformation problematisieren (von Bürokratisierungsphänomenen bis hin zu kulturellen Erstarrungen, nichttransparenten Verflechtungen sowie generell die Akzeptanz selbstorganisierter Hilfen in einer singularisierten Gesellschaft). Sowohl in den aktuellen soziologischen Diskursen zur „Großen Transformation“ als auch in Studien zur öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastrukturdefiziten wird die Spezifik der sozialen Infrastruktur in Deutschland und die Realität gemeinnütziger Organisationen wie bspw. Wohlfahrtsverbänden (mit rund 120.000 sozialen Einrichtungen und über 1,9 Millionen hauptamtlich Mitarbeitenden) nicht hinreichend wahrgenommen. „Als intermediäre Akteure verfügen Wohlfahrtsverbände über eine besondere Art und Weise der Steuerung und Koordination beziehungsweise Governance, die sie von Staat und Markt unterscheidet: Weder Hierarchie noch preisvermittelter Markttausch steuern und koordinieren das Handeln in Non-Profit-Organisationen, sondern vielmehr solidarisch-reziproke Formen, denen dezidierte sozialmoralische Vorstellungen zugrunde liegen. Erfahrungs- und vertrauensbasierte Erwartungen auf Gegenseitigkeit bilden die sozialkulturellen Grundlagen von Non-Profit-Organisationen. Dementsprechend wird ihnen – etwa im Unterschied zu staatlichen Organisationen und privatwirtschaft-
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lichen Unternehmen – zugeschrieben, dass sie in der Lage sein sollen, die sozialkulturellen Grundlagen moderner Gesellschaften, von denen insbesondere Staat und Wirtschaft „zehren“, fortlaufend neu zu erzeugen“ (Backhaus-Maul 2019, 88f.; vgl. auch die Beiträge in Heinze et al. 2018 sowie Hohendanner et al. 2019). Diese produktive Gestaltungsrolle der Nonprofit-Organisationen jenseits von Markt und Staat wird jedoch in den derzeitigen soziologischen Diskursen kaum gewürdigt, wenngleich bspw. die Vielfalt sozialer Dienste ohne die Wohlfahrtsverbände gar nicht vorstellbar ist. „Die besondere Rolle und Funktion der Wohlfahrtsverbände im deutschen Sozialstaat gilt als Paradebeispiel für die Inkorporierung kollektiver Identitäten bzw. für assoziative Demokratie“ (Simsa/Zimmer 2014, 14; vgl. bereits Heinze/Olk 1981). Die bereits skizzierte vielfältige Organisationslandschaft im Gesundheits- und Sozialsektor erzeugt aber zweifelsohne Definitionsschwierigkeiten und diese sind eben nicht zufällig, sondern bilden die Heterogenität und Unübersichtlichkeit der selbstorganisierten Initiativen jenseits marktlicher und staatlicher Steuerung ab, zu denen auch traditionelle Organisationen wie Vereine, analoge und digitale Nachbarschaftsnetzwerke und eben auch Wohlfahrtsverbände zählen. Eine Möglichkeit, die verschiedenen sozialen Aktivitäten zu bündeln, besteht in der Negativabgrenzung gegenüber Staat und Markt und der Definition eines breitgefächerten „Dritten Sektors“, als dessen Steuerungsmodus Solidarität fungiert und zu dem dann auch die verschiedenen Varianten der Eigenarbeit und die familiären sowie verwandtschaftlichen Netzwerke gehören. Da es in diesem Buch primär um die organisierten, überhaushaltlichen Formen der Selbstorganisation geht, erscheint es sinnvoller, von Nonprofit-Organisationen zu sprechen, die sich abgrenzen lassen von öffentlichen Behörden und erwerbswirtschaftlichen Unternehmen und nicht primär vom Gewinnstreben geleitet werden. Aus arbeits- und wirtschaftssoziologischer Sicht ist es interessant, wie sich schon in Begriffen wie Solidarökonomie oder Sozialwirtschaft Spannungsfelder auftun, etwa wenn Solidarität mit Wirtschaft verkoppelt wird. „Theoretisch wie praktisch interessieren die Relationen zwischen den unterschiedlichen Perspektiven, Kompetenzen und Interessen von Wirtschafts- und Sozialunternehmen, von Anteilseignern (shareholder) und Anspruchsvertretern (stakeholder), von freien Trägern (provider), sozialen Berufen (professions) und freiwillig Engagierten (volunteers), aber auch von den kooperativ und partizipativ bei der (Ko-)Produktion sozialer Dienste mitwirkenden Adressaten (user) mit ihren oft verdrängten Bedürfnissen und Bereitschaften. Entsprechend vielschichtige und mehrpolige Interessenkonstellationen lassen sich kaum koordinieren über eindeutig und geradlinig ausgerichtete Apparate. Gefordert sind komplexere Konstellationen von Kooperations-Netzen, Kompetenz-Clustern und intermediären Feldern“ (Pankoke 2008, 431).
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Vor diesem Hintergrund gibt es keine eindeutige Definition für den im weitesten Sinn umfassenden sozialen Infrastrukturbereich. Zudem unterscheiden sich die sowohl in wissenschaftlichen wie politischen Diskursen verwandten Begrifflichkeiten länderspezifisch. Deshalb klingen Bezeichnungen wie Fundamentalökonomie oder „Ökonomie des Alltagslebens“ (Foundational Economy Collective 2019) in Deutschland etwas seltsam, wenngleich der Fokus auf Selbstorganisation und Selbstregierung durchaus zu der deutschen Sozialwirtschaft mit starken Wohlfahrtsverbänden und Genossenschaften passt. Im Folgenden wird deshalb relativ abstrakt von einem Nonprofit-Sektor gesprochen, um insbesondere auch die starken Sozialorganisationen in Deutschland in der Argumentation zur Geltung kommen zu lassen. Neben der Thematisierung und Aufbereitung gerade der gemeinnützigen Organisationsstrukturen geht es um die Aufbereitung und innovative Formen der Verknüpfung und Kooperation zwischen den einzelnen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion. Inhaltlich kann die Debatte um gemeinwohlorientierte Organisationsformen gut anknüpfen an die derzeitigen soziologischen und politischen Diskussionen um tiefgreifende sozioökonomische Wandlungsprozesse (Globalisierung, Digitalisierung, ökonomisch-ökologische Gefährdungen). Vermutet wird, dass der Nonprofit-Sektor als ein relevanter Baustein für gesellschaftliche Transformationen gesehen werden kann. Relativ abstrakt werden die lokal ansetzenden Alternativprojekte auch als molekulare gesellschaftliche Transformation gedeutet (Burawoy 2015), allerdings fehlt eine differenzierte Analyse dieses Sektors in Deutschland, der eben nicht nur aus kleinräumigen, solidarisch organisierten Sozialgemeinschaften, sondern auch aus etablierten und teilweise bürokratisierten Sozialorganisationen besteht. Es soll allerdings nicht argumentiert werden, dass die Organisations- und Governancestrukturen im Sozialsektor vornehmlich als Beharrungskräfte für gesellschaftliche Transformationen wirken, vielmehr soll eruiert werden, wie sich aus der Verkopplung alter und neuer Organisationen innovative Entwicklungspfade ergeben können. Dadurch könnten sich „autonome Initiativen von Individuen, Verbänden und Gebietskörperschaften sowie Sozialund Wirtschaftsunternehmen als bahnschaffende, dynamische Stimuli weiteren Wandels erweisen“ (Wiesenthal 2019, 380). Gefragt sind dafür auf breiter Front flexible, experimentelle Steuerungsformen, die sich nicht einer bürokratischen Logik unterwerfen, sondern vielmehr von den Fähigkeiten der Akteure zu Selbststeuerung und „Organisationslernen“ ausgehen. Für eine solche Innovationsstrategie existiert kein exakter Bauplan, deutlich werden aber die institutionellen und kulturellen Voraussetzungen einer kooperativen Regulationsstruktur. Entsprechende Infrastrukturstrategien können deshalb nicht nur lokal/regional ansetzen, sondern benötigen Entfaltungsräume und müssen zentral auf der Bundes-
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ebene gefördert werden: „keine Dezentralisierung ohne zentrale Ermöglichung“ (Streeck 2019, 28). In Deutschland sind bspw. Genossenschaften als eine Form gemeinnützigen Wirtschaftens keine Novität, sondern durchaus traditionelle Organisationen, die aber angesichts des Markt- und Staatsversagens in einzelnen Infrastrukturbereichen eine neue Bedeutung erlangen. Collier spricht in diesem Kontext von einem moralischen Pragmatismus, „der einen politischen Kurswechsel inspirieren konnte: weg von polarisiertem Versagen hin zu kooperativen Bemühungen, die Spaltungen in unseren Gesellschaften zu überwinden“ (ders. 2018, 291). Sichtbar wird dieser Pragmatismus schon anhand der Revitalisierung der Genossenschaftsidee, die dazu führte, dass der lange anhaltende Schrumpfungsprozess in Deutschland nicht nur zum Stillstand gekommen ist, sondern es wurde sogar ein Nettoüberschuss erzielt. „Seit Beginn des 21. Jahrhunderts kommt es allgemein nun wieder vermehrt zu Genossenschaftsneugründungen und diese betreffen – neben den verschiedenen Formen der Energiegenossenschaften – häufig auch solche Genossenschaften, die innerhalb und im Umfeld der Sozialwirtschaft bzw. der lokalen Daseinsvorsorge zu verorten sind. Besonders zahlreich waren dabei zunächst die Genossenschaftsgründungen im Gesundheitssektor, später kamen Dorfläden und genossenschaftlich organisierte Wohnformen, aber auch Kino-, Gaststätten-, Schwimmbadgenossenschaften u. ä. hinzu. Schon in den 1990er Jahren gründeten sich – nicht zuletzt auch aufgrund des Modellprojektes der Landesregierung von Baden-Württemberg – Seniorengenossenschaften zur Vermittlung alltagsnaher Dienstleistungen zwischen den Mitgliedern“ (Schmale 2017, 12f.). Vor allem nach der Finanzkrise haben die Grundwerte der Genossenschaften wie Selbstverantwortung und Nachhaltigkeit wieder an Aktualität gewonnen. Diese Werthaltung zeigt sich bspw. im Vertrauen in Genossenschaftsbanken, aber auch generell haben sie sich nach Meinung vieler Bürger gerade in der Finanzkrise bewährt, was sicherlich an ihren Werten und bestimmenden Organisationsprinzipen (die Mitgliederfokussierung und das auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Geschäftsmodell) liegt. Vor dem Hintergrund der finanziellen Notlage mancher Kommunen in Deutschland bei gleichzeitigem Anstieg sozialer Problemlagen bietet sich das Genossenschaftsmodell ebenfalls in anderen Feldern der öffentlichen Daseinsvorsorge an. „Von der Nahversorgung über Pflege und Kinderbetreuung bis hin zur Schaffung medizinischer und sozialer Infrastrukturen oder altersgerechter Wohnformen lassen sich Ziele gemeinsam umsetzen, die ansonsten von der öffentlichen Hand allein organisiert würden. Genossenschaften können hier als Steuerungsinstrument für die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen effizienzsteigernd wirken. Davon profitieren auch die Städte und Gemeinden, wenn sie mit Genossenschaften zusammenarbeiten oder selbst Mitglied sind“ (Ott/Landsberg 2018, 3).
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Die Gründung von gemeinnützigen Organisationen wird zur Behebung eines sozialen und/oder infrastrukturellen Missstands oder zur Befriedigung eines Bedarfs einer bestimmten Gruppe von Individuen vor allem dann interessant, wenn passende „Lösungen“ am Markt oder durch staatliche Intervention auf sich warten lassen oder der Staat sich aus entsprechenden Feldern zurückzieht (etwa dem Wohnen). Hier ist es in den vergangenen Jahren verstärkt zu Neugründungen gekommen, da im Zuge wachsender Wohnungsnot aber auch angesichts fehlender Sonderwohnformen z. B. für ältere Menschen in vielen größeren Städten andere Alternativen kaum verfügbar sind. Einen anderen großen Bereich der Nonprofit- oder Sozialwirtschaft in Deutschland stellt die Wohlfahrtspflege dar, was in den internationalen Diskursen etwa zur Fundamentalökonomie oft nicht hinreichend registriert wird (vgl. u. a. Foundational Economy Collective 2019). Generell zeichnet sich die Wohlfahrtsproduktion in Deutschland historisch dadurch aus, dass sie weder vom Staat noch vom Markt oder von Familiennetzwerken allein getragen wird. Der deutsche Entwicklungspfad hebt sich von anderen westeuropäischen Wohlfahrtsstaatstypen dadurch ab, dass sich eine spezifische Koevolution von Wohlfahrtsverbänden und Wohlfahrtsstaat etabliert hat. Aufgrund der intermediären Rolle werden die Wohlfahrtsverbände ebenfalls als Organisationen des Dritten Sektors bezeichnet, die sich durch die Inkorporierung in den letzten Jahrzehnten aber in wachsendem Maße von öffentlichen Geldern abhängig gemacht haben. Trotz dieser Restriktionen gibt es mittlerweile auch in politischen Kreisen schon fast einen Konsens, dass über den Markt viele fundamentale Infrastrukturaufgaben (etwa Theater, Museen oder Schwimmbäder, ganz zu schweigen von sozialen Betreuungsformen) nur begrenzt oder gar nicht ohne gemeinnützige Träger organsiert werden können. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip sind Wohlfahrtsverbände in Deutschland die zentralen sozialen Dienstleistungsanbieter und haben sozialrechtlich und in der sozialpolitischen Praxis eine Vorrangstellung. Charakteristisch ist jedoch auch eine enge Beziehung zum Staat (sektoraler Korporatismus). Sie unterscheiden sich von anderen Anbietern aber dadurch, dass sie als institutionell abgesicherte Spitzenverbände nicht nur Träger sozialer Dienste sind, sondern auch Aufgaben der Sozialanwaltschaft übernehmen und mit ihren pluralen Strukturen eine spezifische Wohlfahrtskultur prägen. Nach den Indikatoren Einrichtungen, Betten/ Plätze sowie Beschäftigte erfolgte ein kontinuierliches Wachstum der Freien Wohlfahrtspflege. 2016 sind 118.623 Einrichtungen mit 4.166.276 Betten/Plätzen sowie über 1.9 Millionen hauptamtlich Mitarbeitende zu verzeichnen (BAGFW Gesamtstatistik 2018). Gut 650.000 Menschen arbeiten bspw. beruflich in den rund 25.000 Einrichtungen und Diensten der Caritas; damit ist dieser Wohlfahrtsverband auch eine zentrale Größe auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Insgesamt ist die
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Wohlfahrtspflege ein „Motor“ der Sozialwirtschaft, der nicht nur in den letzten Jahrzehnten erhebliche Beschäftigungsgewinne erzielte, sondern auch eine konstante Wachstumsdynamik aufweist, die zukünftig durch die anhaltende Nachfrage bestehen bleiben wird. Auch in anderen vergleichbaren Ländern sind NonprofitOrganisationen im Sozial- und Gesundheitssektor eine zentrale Größe und haben sich in den letzten Jahren durch die Übertragung staatlicher Dienste ebenfalls ausgedehnt (z. B. in Großbritannien) Die Größe und Bürokratisierung der Wohlfahrtsverbände, aber auch die engen Verflechtungen mit staatlichen Institutionen haben anderseits die Frage aufgeworfen, ob dieser Nonprofit-Sektor wirklich eine Alternative zur staatlichen Steuerung darstellt oder ob er nicht ein öffentlich gefördertes „Kartell“ ist, das interne Konkurrenz zwischen den Verbänden durch Marktaufteilung tendenziell ausschaltet. Diese Kartellhypothese kann je nach Diskurskonjunktur in eine eher links-alternative und eine ordnungspolitisch-marktliberale Spielart unterschieden werden. Aus alternativer Sicht wird insbesondere der Ausschluss kleinerer Bürgerinitiativen, sozialer Bewegungen und Selbsthilfegruppen thematisiert. Die ordnungspolitisch-wirtschaftsliberale Kritik (u. a. von der Monopolkommission der Bundesregierung) kritisiert wettbewerbsverzerrende Aspekte des faktischen Oligopols der Wohlfahrtsverbände und den Ausschluss privatgewerblicher Anbieter. Unterschiedlich ist die Position dahingehend, ob eine solche Öffnung durch Marktmechanismen oder eine gezielte Aktivierung und Anerkennung gemeinschaftsorientierter Ressourcen, die sich jenseits der verbandlichen Wohlfahrtspflege gebildet haben, erfolgen soll. Eine solche Kritik an den Wohlfahrtsverbänden bekommt nicht nur Nahrung durch undurchsichtige Geschäftsbeziehungen und überhöhte Gehälter der Führungszirkel in einzelnen Wohlfahrtsverbänden. Ende 2019 steht der AWO Bezirksverband Hessen-Süd unter dem Verdacht der nicht sachgerechten Abrechnung öffentlicher Gelder, fragwürdiger Stellenbesetzungen, Verflechtungen von Aufsicht und Führung und der Selbstbereicherung einzelner Führungskräfte (der Spiegel Nr. 51/2019 spricht von „Genossenwohlfahrt“, die Frankfurter Rundschau vom „AWO-Skandal“). Zudem haben sich nach Ansicht vieler Mitarbeiter die konkreten Arbeitsbedingungen verschlechtert. Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis werden seit einiger Zeit konstatiert und öffentlich kritisiert (von „Lohndumping“ durch Ausgliederungen, Werkverträge etc. ist die Rede). Wie auch in anderen Feldern des Dritten Sektors haben sich Niedriglöhne ausgebreitet (vgl. Dahme et al. 2012). Die normativen Postulate der freigemeinnützigen Verbände und die Empirie gehen scheinbar immer stärker auseinander. Insgesamt sind die Arbeitsbeziehungen im Dritten Sektor fragmentiert und unübersichtlich; man kann durchaus von „institutionellen Sklerosen“ sprechen (vgl. Evans/Hilbert
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2015). Die Ökonomisierungsverläufe im Sozial- und Gesundheitssektor haben die eher auf Absicherung des Status quo denn auf Innovationen setzenden Strategien in den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege sicherlich begünstigt. „Um die Marktstellung zu halten, konzentrieren sich Dienstleister im Sinne einer ‚Selbstbeschaffungs‘-Strategie auf bestandssichernde und ‚profitable‘ Produktlinien und haben weniger Potentiale, in innovative Dienstleistungsangebote zu investieren“ (Langer 2018, 122). Trotz dieser in vielen Fällen berechtigten Kritik an dem Verhalten einzelner Untergliederungen der Wohlfahrtsverbände zählen sie dennoch weiterhin zu den Säulen des deutschen Sozialstaates. Weil sie aber als gemeinnützige Organisationen weitgehend mit öffentlichen Mitteln wirtschaften (z. T. mit globalen Zuweisungen der einzelnen Bundesländer), müssen die Arbeitsbedingungen fair gestaltet und die Finanzierungspraxis transparent sein. Ansonsten droht ein Imageschaden und Legitimationsverluste, die sich auf die anderen Wohlfahrtsverbände ausdehnen und sich sowohl in der Spendenbereitschaft der Bürger nachteilig bemerkbar machen als auch die Motivation der ehrenamtlichen Mitarbeiter empfindlich beeinträchtigen. Wenngleich es Einzelfälle sein mögen, so gilt es hier rasch für Aufklärung zu sorgen und transparente Finanzierungs- und Führungsstrukturen zu etablieren, damit die Imageverluste nicht noch größer werden und sich insgesamt auf den Sektor der Solidarwirtschaft beziehen. Schon die in einzelnen Verbandsuntergliederungen in letzter Zeit an die Öffentlichkeit gekommenen Verfehlungen belasten das Bild der freigemeinnützigen Wohlfahrtspflege, die ohnehin wie auch andere Großorganisationen vor erheblichen Herausforderungen steht. Den oft institutionell eingebundenen Verbänden wird nicht mehr quasi automatisch eine Organisationsvitalität zugeschrieben. Deshalb überrascht es auch nicht, wenn viele dieser traditionellen Sozialorganisationen entweder kaum (vor allem von Jugendlichen) oder eher als „verkrustet“ wahrgenommen werden. Der fehlende Nachwuchs entwickelt sich immer mehr zu einem zentralen Organisationsproblem. Generell hat das eingespielte Zusammenwirken von Staat und Wohlfahrtsverbänden in den letzten Jahren Legitimationsverluste erlitten. Trotz mancher kritischen Einschätzungen und der pluralisierten GovernanceKonstellationen hat sich das System der Wohlfahrtspflege aber nicht nur relativ stabil gezeigt, sondern expandiert weiter. Mit der Vielzahl von Einrichtungen und Beschäftigten sind sie weiterhin prägende Akteure im Feld sozialer Dienste und genießen im Sozialsektor „systemische“ Bedeutung. Fundamentalkritik an den etablierten Sozialorganisationen wird ebenfalls dadurch befördert, dass neue Anbieter sozialer Dienste in die Arena eingetreten sind, die sich nach außen öffentlichkeitswirksam als „Entrepreneurs“ definieren. Sie siedeln sich unter dem Label „Sozialunternehmen“ jenseits der tradi-
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tionellen Wohlfahrtsverbände an und sehen als ihre primäre Motivation ebenso wie die Wohlfahrtspflege nicht die Gewinnerzielung an. Bislang verfügen die Social-Entrepreneurship-Projekte zwar im Vergleich zu den etablierten Akteuren über nur geringe Kapazitäten und bedienen vor allem sozialpolitische Nischen (niedrigschwellige Betreuungsangebote, Organisation ehrenamtlicher Unterstützungsangebote im Bildungs- und Kulturbereich etc.), weisen jedoch eine hohe Innovationskraft insbesondere in den Bereichen Sozialmarketing sowie Einbindung ehrenamtlichen Engagements auf (vgl. Grohs et al. 2014, Obuch/Grabbe 2019 sowie die Beiträge in Jansen et al. 2013). Sie entsprechen zumeist dem gerade bei Jüngeren oft formulierten Wunsch nach Gestaltungsfreiheiten sowie Autonomie im Rahmen sozialen Engagements. Die in solchen „Sozialunternehmen“ Engagierten möchten ihre Aufgaben eigenständig interpretieren, ausfüllen und gestalten können. Hierarchische Top-Down-Organisationsstrukturen und Fremdbestimmung werden mehrheitlich abgelehnt und dieses Image haben viele traditionelle Verbände. Ähnlich den arbeitssoziologischen Diagnosen einer intensivierten Subjektivierung von Arbeit lässt sich auch in Bezug auf soziales Engagement ein Subjektivierungsprozess beobachten, der traditionelle Organisationen unter Veränderungsdruck setzt. Gerade vor dem Hintergrund sozioökonomischer Umbrüche und damit ausgelöster individueller Verunsicherungen werden lokale Lösungen und Identitäten in der Nachbarschaft gesucht. Vor diesem Hintergrund kommen Facetten der Gemeinwohl- oder Solidarökonomie in verschiedenen Infrastrukturfeldern auf die politische Tagesordnung. Nicht nur in Deutschland zielen deshalb strategische Überlegungen zur Erneuerung der Ökonomie des Alltagslebens bzw. einer neuen Infrastrukturpolitik in diese Richtung. Benötigt werden dazu „Hybridorganisationen und fundamentalökonomische Bündnisse, in denen entweder lokale/regionale Verwaltungen oder intermediäre Institutionen die Führung übernehmen, um die Politik zu einer Erneuerung der Fundamentalökonomie zu bewegen“ (Foundational Economy Collective 2019, 233). Interessant ist das breite politische Spektrum in Deutschland, das sich für eine Öffnung gegenüber solidarökonomischen Strategien ausspricht und nahezu alle politischen Strömungen umfasst. Auf EU-Ebene wird ebenfalls die Revitalisierung des Solidar- und Genossenschaftsgedankens im Rahmen der Debatte um soziale Innovationen angestrebt. Um den oft noch fragilen Zustand dieser neuen Organisationsformen zu beschreiben, könnte man von einem demokratischen Experimentalismus auf dezentraler Ebene sprechen (vgl. Sabel 2012 sowie Sabel et al. 2017), der sich in Reaktion auf die wachsenden Globalisierungstendenzen und das Versagen hierarchischer Governance in einzelnen Bereichen herausgebildet hat und eher interaktive Steuerungsformen präferiert.
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Auch die Regierungspolitik sieht inzwischen die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit und ist in vielen Fragen auf die Koproduktion und selbstverantwortliche Eigenleistung individueller wie kollektiver gesellschaftlicher Akteure angewiesen. Dies wird deutlich sichtbar bei der Übertragung öffentlicher Aufgaben auf alternative Organisationsformen – etwa Genossenschaften. Da über den Markt viele Aufgaben (z. B. Theater, Museen oder Schwimmbäder, ganz zu schweigen von sozialen Betreuungsformen) nur begrenzt oder gar nicht organisiert werden können, dürften solidarökonomische Organisationsformen zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen. „So ein Thema wie dezentrale Energieselbstversorgung ist ein zunehmendes Thema. Wasserversorgung ist ein Thema der Bürgerselbstverwaltung. Da sieht man aber die Achillessehne im Kapitalaufwand. Dieser scheint ein zentrales Thema zu sein, aber ich glaube in dem Bereich soziale Dienstleistung, also Gesundheit, Alter, Soziales, Kindheit und Jugend, da wird die Frage, wie man PPPs unter Einbezug verschiedener Formen bürgerschaftlichen Engagements forciert, sicherlich zunehmen. Da wird man sich fragen, ob dies genossenschaftliche oder auch genossenschaftsähnliche Lösungen sind“ (SchulzNieswandt 2017, 352f.). Auch wenn sowohl in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen als auch der Öffentlichkeit der reale Machtstatus der Sozialwirtschaft nicht immer gesehen wird, so wird ihr Beitrag zur Sozialintegration schon beachtet und anerkannt. Nach den Ergebnissen der aktuellen Gemeinwohlstudie billigen die Deutschen den sozialen Hilfsorganisationen den größten Beitrag zum Gemeinwohl unter allen Institutionen zu (vgl. https://www.gemeinwohlatlas.de/atlas/ abgerufen am 7.3.2020). An der Spitze der auf einer repräsentativen Umfrage basierenden Rangliste liegen die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk und das Deutsche Rote Kreuz. Die großen Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie, die Arbeiterwohlfahrt und die Caritas liegen alle unter den ersten 15 Institutionen und belegen und untermauern damit die Wertschätzung in der Bevölkerung. Demgegenüber klafft zwischen der Bevölkerung und deutschen Unternehmern eine Vertrauenslücke. Generell sind 85 % der Befragten besorgt bis sehr besorgt, dass das Gemeinwohl in Deutschland zu wenig beachtet wird. Trotz der Anerkennung zivilgesellschaftlicher Assoziationen haben sich neue Formen einer nachhaltigen lokalen Solidarökonomie bislang nur in Modellprojekten in einzelnen Feldern ausgebreitet. Es wäre auch eine Aufgabe von wissenschaftlicher Seite her stärker zu erforschen, wie es um die Gelingensbedingungen institutioneller Innovationen steht. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verunsicherungen und des Transformationsdrucks kommt gemeinnützigen Organisationsformen eine neue Bedeutung zu und sie kommen auch in verschiedenen Feldern der Daseinsvorsorge und der Infrastrukturausstattung auf die politische Tagesordnung. Genossen-
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schaften als Organisationen der Selbsthilfe und als Wertegemeinschaft können bspw. neuen Halt bieten, da sie sich von anderen Rechtsformen darin unterscheiden, dass die Mitglieder sowohl Kunden als auch Miteigentümer sind und dadurch bspw. lebenslanges Wohnrecht und Mitsprachemöglichkeiten besitzen. Generell schwingt das Pendel von einer radikalen Marktorientierung wieder um in Richtung einer Renaissance öffentlicher oder „gemischtwirtschaftlicher“ Regulierungen. Dabei richtet sich der Blick explizit auf den Nahbereich der Versorgung mit Alltagsgütern und es geht um die aktive Gestaltung eigener assoziativer Sozialräume und die Mobilisierung von Eigenproduktivität. In dieser Hinsicht kommt es auch zu einer Renaissance von Nachbarschaften; sowohl traditionellen sozialräumlich strukturierten als auch zu digitalen Nachbarschaftsnetzwerken. Digitale Nachbarschaftsplattformen können ebenfalls Anknüpfungspunkte für soziales Engagement bieten und dann zu Antriebsmotoren und Beschleunigern für Selbsthilfeinitiativen und lokale Netzwerke werden. Vor dem Hintergrund einer Pluralisierung von Organisationsformen abseits etablierter Verbände und Vereine ist allgemein die Bedeutung digitaler Medien gewachsen und kann die Organisationskraft kleinerer Communities steigern. Auf individueller Ebene zeigen sich gestiegene Selbstverwirklichungsansprüchen und es geht nicht primär darum, irgendetwas zu machen, sondern die Aufgaben und Tätigkeiten im Rahmen des Engagements nach eigenen Vorlieben zu gestalten. Über WhatsApp organsierte Netzwerke sozialen Engagements (bspw. in der Flüchtlingshilfe), E-Mobility-Initiativen etc. verweisen auf die gewachsene innovative Verschmelzung von lokaler und digitaler Orientierung. Auch wenn manchmal der Eindruck vorherrscht, als sei das digitale Netz ohne Verankerung im Sozialraum, finden sich dennoch auch hier Nachbarschaftsgruppen und es gibt Plattformen, die zur digital gestützten lokalen Vergemeinschaftung und damit sozialen Integration beitragen. Die aktuelle Fokussierung auf gemeinnützige Organisationen darf nicht den Blick dafür verstellen, dass der Staat schon immer auf die selbstverantwortliche Koproduktion gesellschaftlicher Akteure angewiesen war. Insbesondere in Deutschland hat sich auf Basis des Subsidiaritätsprinzips eine vielschichtige Soziallandschaft gemeinnütziger Organisationen etabliert – allen voran die gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände. Sozial- und Gesundheits- aber auch die Energie- und Wasserversorgung sind ohne die gemeinwirtschaftlichen Organisationen nicht denkbar. Als korporative Akteure verfügen sie über ein nicht zu unterschätzendes Selbstgestaltungspotential, dass die Steuerungsmöglichkeiten des Staates ergänzt. In den aktuellen internationalen politischen Debatten spielen alternative Modelle zur Förderung gemeinnütziger Dienste inzwischen eine wichtige Rolle.
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Ein diskussionswürdiger Ansatz im Kontext der neuen Herausforderungen, aber auch Gestaltungsoptionen durch die Künstliche Intelligenz sei zitiert. Der chinesische Autor, einer der führenden Köpfe in der Internetwirtschaft, setzt sich mit den Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen sowie alternativ dazu mit einem Sozialinvestitionsgehalt auseinander und plädiert für eine Förderung sozial produktiver Tätigkeiten. Bei dem Sozialinvestitionsgehalt „handelte es sich um eine ordentliche staatliche Vergütung, die jene erhielten, die ihre Zeit und Energie in solche Aktivitäten investierten, die den Aufbau einer liebenswerten, mitfühlenden und kreativen Gesellschaft fördern. Diese Aktivitäten würden drei grob definierte Bereiche umfassen: Pflegearbeit, gemeinnützige Arbeit und Fortbildung. Sie würden die Grundpfeiler eines neuen Gesellschaftsvertrags bilden, der sozial nützliche Aktivitäten in gleicher Weise belohnte, wie wir heute wirtschaftlich produktive Tätigkeiten belohnen. Die Vergütung wäre kein Ersatz für das soziale Sicherungsnetz, das mit Sozial- oder Arbeitslosenhilfe sowie staatlicher Gesundheitsfürsorge die Grundbedürfnisse abdeckt, sondern würde jenen, die sich an diesen sozial produktiven Aktivitäten beteiligen, ein respektables Einkommen sichern“ (Lee 2019, 284f.). Auch wenn gegenüber Gesellschaftsentwürfen aus der Internetwirtschaft Vorsicht geboten ist, zumal sie nicht auf Basis ausgebauter wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme wie in Deutschland formuliert werden, wird man in den nächsten Jahren nicht umhin kommen, den Einstieg in die Förderung und Unterstützung von selbstorgansierten Tätigkeiten und die Entwicklung neuer sozialer Grundsicherungselemente als Ergänzung zum traditionellen wohlfahrtsstaatlichen System in Angriff zu nehmen. Die Debatte um eine soziale Grundsicherung bzw. ein bedingungsloses Grund- oder Basiseinkommen läuft nicht nur in Deutschland bereits seit den 1980er Jahren, ohne dass sich jedoch die Politik in dieser Frage bislang konstruktiv (bspw. durch breit angelegte Experimente in ausgewählten Kommunen) bewegt hätte (vgl. dazu die grundlegenden Beiträge in Kovce/Priddat 2019; zur aktuellen Debatte u. a. Bach/Schupp 2018, Cremer 2019, Ketterer 2019, Straubhaar 2019 und Schupp 2020).
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Wohlfahrtsverbände als prägende Gestaltungsakteure des deutschen Systems sozialer Dienste
Die Freie Wohlfahrtspflege, deren Träger in den sechs Spitzenverbänden Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Diakonisches Werk, Deutsches Rotes Kreuz, der Paritätische und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden organisiert sind, deckt mit ihren Mitgliedsorganisationen ein breites Spektrum sozialer Arbeit ab und wirkt zudem sozialintegrierend. Gegenüber 1970 hat sich die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten in ihren Einrichtungen und Diensten auf über 1, 9 Millionen Mitarbeitenden fast vervierfacht. Insgesamt werden rund drei Viertel der sozialen Dienstleistungen in Deutschland von den Wohlfahrtsverbänden angeboten (vgl. die Beiträge in Heinze et al. 2018); damit stellen sie das zentrale Gerüst der dezentralen sozialen Infrastruktur in Deutschland dar. Allerdings sind Wohlfahrtsverbände keine in sich geschlossenen Organisationen, sondern in der Regel Netzwerkorganisationen mit mehr oder weniger selbstständigen Mitgliedern. Dabei unterscheiden sich die Verbände in ihrer Organisationsstruktur untereinander erheblich – sowohl strukturell als auch in ihren regionalen Abgrenzungen. „Organisationssoziologisch betrachtet, lassen sich Wohlfahrtsverbände als multifunktionale und intermediäre Akteure beschreiben und analysieren. In funktionaler Hinsicht sind sie zugleich Assoziationen, Interessenverbände und Dienstleistungsbetriebe, während sie sich als intermediäre Non-Profit-Organisationen, durch eine „eigene Handlungslogik“ auszeichnen. Als multifunktionale Organisationen haben Wohlfahrtsverbände – mit je nach Aufgabenfeld und Organisationsform unterschiedlichen Akzent- und Schwerpunktsetzungen – assoziative, interessenverbandliche und betriebliche Funktionen“ (Backhaus-Maul 2019, 87f.). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_5
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Der zahlenmäßig größte Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege ist der Deutsche Caritasverband. Diesem „sind 24.391 Einrichtungen mit 1.060.410 Betten bzw. Plätzen angeschlossen. In diesen Einrichtungen sind mehr als 617.000 voll- und teilzeitbeschäftigte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig. Rund 500.000 Menschen engagieren sich freiwillig bzw. ehrenamtlich“ (BAGFW 2018, 42). Die Diakonie, mit ca. 31.500 ambulanten und stationären Diensten, an denen über 525.00 Mitarbeiter/innen und rd. 700.000 Freiwillige engagiert sind, ist der soziale Dienst der evangelischen Kirche. Zu den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege zählt weiterhin die Arbeiterwohlfahrt (AWO), welche mit 333.121 Mitgliedern, fast 212.000 Beschäftigten und in 3.514 Ortsvereinen tätig ist. Mit 13.000 Einrichtungen und Diensten in allen Bundesländern ist die AWO wie auch die konfessionellen Wohlfahrtsverbände breit aufgestellt, was auch für den Paritätischen Wohlfahrtsverband als Dachverband von über 10.000 eigenständigen Organisationen, Einrichtungen und Gruppen im Sozial- und Gesundheitsbereich gilt. Das Deutsche Rote Kreuz zählt ca. 165.000 hauptberufliche Mitarbeiter/ innen und 400.000 Ehrenamtliche sowie knapp drei Millionen Mitglieder in ganz Deutschland. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden hat im Jahr 2017 fast 100.000 Mitglieder und ist die Dachorganisation für 17 Landesverbände und sechs selbstständige Gemeinden. Aufgrund ihrer Multifunktionalität (Sozialanwaltschaft und Dienstleistungsanbieter) und nicht-erwerbswirtschaftlichen Orientierung galten die Wohlfahrtsverbände lange Zeit als Instanz für einen optimalen Interessenausgleich. Nicht hinreichend thematisiert wurde hierbei die wachsende Professionalisierung und Bürokratisierung auch der verbandlichen Wohlfahrtspflege, die sich in manchen Punkten – gerade auch im Urteil der Klienten – kaum noch von der staatlichen und kommunalen Wohlfahrtspflege unterscheidet. Ständestaatliche (paternalistische) Vorstellungen im traditionellen Subsidiaritätsverständnis wurden oft dazu genutzt, die Nachrangigkeit staatlicher Hilfe zu rechtfertigen. Demgegenüber wurde jene Interpretation, die auf die Notwendigkeit staatlicher Vorleistungen hinwies, weniger beachtet. Dass die mit dem Subsidiaritätsbegriff geführten ordnungspolitischen Debatten um das Nachrangigkeitsprinzip der staatlichen Sozialpolitik sich durchaus im Sinne der „freien“ Träger entwickelten, zeigt sich sowohl im Bundessozialhilfegesetz als auch im Jugendwohlfahrtsgesetz aus den 1960er Jahren. Gleichzeitig wies das Bundesverfassungsgericht 1967 der „freien“ Wohlfahrtspflege nicht schlechthin einen Vorrang vor der öffentlichen Hilfe zu, vielmehr soll eine partnerschaftliche Zusammenarbeit gewährleistet werden. Die Partnerschaftsformel, die sowohl das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen als auch das Selbstgestaltungsrecht der „freien“ Träger bestätigt, ist die bis heute
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gültige Norm der Zusammenarbeit zwischen „öffentlichen“ und „freien“ Trägern (zum Wohlfahrtskorporatismus vgl. Heinze/Olk 1981 und Olk/Heinze 1981). Real ist allerdings bereits seit den 1960/70er Jahren die Relevanz des Subsidiaritätsprinzips als formales Regelungsmuster zurückgegangen. Dies liegt vor allem in der Expansion sozialstaatlicher Dienste begründet. Da die Behörden letztlich für die Sicherstellung eines Grundangebots sozialer Leistungen verantwortlich sind und auch bei ihnen die Planungskompetenz liegt, haben die öffentlichen Institutionen selbst Einrichtungen im Sozialsektor geschaffen. Parallel hierzu hat sich auch das Beziehungsmuster zwischen staatlichen und verbandlichen Trägern verändert. An Stelle einer formalen Rangordnung haben sich wechselseitige Abhängigkeitsund Kooperationsverhältnisse etabliert, die in der Literatur als neokorporatistische Verflechtungen gekennzeichnet wurden. Generell werden in sozial- und gesundheitspolitischen Fragen eher relationale Steuerungsvarianten präferiert, denn staatliche Interventionen sind immer weniger in der Lage, die Ereignisse und Prozesse derjenigen Teilsysteme, in die interveniert wird, unter Kontrolle zu bringen (vgl. bereits Luhmann 1981). Es ist daher kein Zufall, dass die Implementationsstruktur im deutschen Sozial- und Gesundheitssektor ein höchst komplexes Gebilde verschachtelter Teilzuständigkeiten verschiedener Träger darstellt, von denen markant die Wohlfahrtsverbände herausragen. Wer über Subsidiarität spricht, hat quasi automatisch die Wohlfahrtsverbände im Blick – gerade im internationalen Vergleich hat die verbandlich organisierte Wohlfahrtspflege eine bedeutsame Position. Die Verbände werden deshalb oft als „staatsnah“ und bürokratisiert klassifiziert, die sich als professionalisierte Großorganisationen in einem „Quasi-Markt“ bewähren müssen. In manchen Analysen wird die Wohlfahrtspflege deshalb nicht mehr primär als kooperativ organisierte Selbsthilfeeinrichtung eingeordnet, vielmehr haben sich demnach auch im Nonprofit-Sektor „Sozialunternehmen“ herausgebildet. „Abstrakt formuliert ist die frei-gemeinwirtschaftliche Nonprofit-Wirtschaft, sei es in diakonisch-caritativer oder in nichtkonfessioneller, mitunter dann allerdings oftmals anders weltanschaulich gebundener Form, ‚organisierte Liebesarbeit’, aber eben im Wettbewerb stehend und den jeweiligen Marktbezügen unterworfen“ (Schulz-Nieswandt/Köstler 2011, 104). Aufgrund der Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen, insbesondere der vorhandenen Informationsasymmetrie über die Notwendigkeit und Qualität von Leistungen, der für einen Erfolg erforderlichen Ko-Produktion durch den Kunden bzw. Klienten sowie weiterhin wirkende korporatistische Strukturen entzieht sich der Sektor in vielen Bereichen marktlichen Steuerungsmechanismen. Es handelt sich daher allenfalls, wie bereits erwähnt, um „Quasi-Märkte“, d. h. ein politisch folgenreiches Dreiecksverhältnis zwischen öffentlichen Gewährleistungs- und
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Kostenträgern, Klienten und freigemeinnützigen Leistungsträgern. Dies gilt vor allem für Beratungs- und Unterstützungsleistungen, denen neben der Beseitigung bzw. Reduzierung individueller Probleme auch eine gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion innewohnt. Auch wenn in Teilbereichen eine Umsteuerung der Sozialpolitik angestrebt wurde (bspw. durch persönliche Budgets in der Behindertenhilfe), ist es dadurch bislang kaum gelungen, die Zielgruppen in ihrer Handlungsautonomie und Selbstbestimmung zu stärken und sie somit zumindest partiell in die Rolle von „Marktteilnehmern“ zu konvertieren. Vielmehr haben sich wohlfahrtsverbandliche Angebote flexibel auf die neuen Governancestrukturen eingestellt und insgesamt ihre herausragende Stellung behauptet. Es ist nicht zu einer „Landnahme“ (vgl. Dörre 2009) des sozialen Dienstleistungssektors gekommen (höchstens in einzelnen Sparten), eher ist von einer gewissen Pluralisierung und Regulierung der Trägerlandschaft und einer Binnendifferenzierung der etablierten Wohlfahrtsverbände zu sprechen. Zusammenfassend lässt sich das neokorporatistische Beziehungsgeflecht im Sozialsektor weiterhin folgendermaßen umreißen: Der Staat bzw. die Kommune beziehen eine begrenzte Anzahl mächtiger Wohlfahrtsverbände in die Formulierung und vor allem Umsetzung sozialpolitischer Programme ein und verzichten so auf einen Teil ihrer wohlfahrtsstaatlichen Gestaltungsautonomie. Auf diese Weise werden die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen in die Lage versetzt, ihren hohen Bedarf an Konsens gerade im Bereich nur begrenzt technisierbarer, multifaktoriell bedingter, rasch veränderlicher und diffuser Problemlagen, wie sie für diesen Aufgabenbereich typisch sind, zu sichern und zudem im Rahmen fachlicher Konsultierung die Ressourcen der Verbände zu nutzen. Darüber hinaus entlasten die Verbände den Staat im subsidiären Rahmen auch auf fiskalischer Ebene, da sie aufgrund ihrer besonderen Organisationsweise zusätzliche Ressourcen (in Form von Spenden, ehrenamtlichen Tätigkeiten, Mitgliedsbeiträgen, Sammlungen etc.) mobilisieren können. Demgegenüber sichern sich die verbandlichen Träger durch die Übernahme quasi-öffentlicher Funktionen stabile Zugangsrechte zu bestandsnotwendigen Ressourcen und machen sich vom schwankenden Zufluss freiwillig erbrachter Zuwendungen ein Stück weit unabhängig. Vergegenwärtigt man sich den hohen Anteil von verbandlich organisierten sozialen Einrichtungen und Diensten sowie das Ausmaß des ehrenamtlichen Engagements, das die Wohlfahrtsverbände (wenigstens bislang) mobilisieren, wird leicht erkennbar, dass sie im Sozialsektor ein erhebliches Leistungspotential bereitstellen, Wie bereits betont, sind die eingespielten Kooperationsbeziehungen zwischen öffentlichen Instanzen und etablierten Trägern der Freien Wohlfahrtspflege schon seit einigen Jahren in Bewegung geraten. War es in den 1970er und 1980er Jahren die Entstehung und Verbreitung selbstorganisierter Initiativen und Selbsthilfe-
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gruppen, sind heute die Herausforderungen für die verbandliche Wohlfahrtspflege weiter angewachsen. Sie reichen vom Wandel des sozialen Engagements über die Ökonomisierungsprozesse im Sozialsektor, generell veränderte Governancestrategien im Wohlfahrtssektor, bis zum Auftreten neuer privatgewerblicher Anbieter und Formen von „social entrepreneurship“ (vgl. die Beiträge in Heinze et al. 2018). Trotz vieler Herausforderungen in einer komplexer gewordenen Umwelt stellt die Wohlfahrtspflege weiterhin die zentrale Säule der sozialen Infrastruktur in Deutschland dar und insbesondere zeigt sich eine enorme Wachstumsdynamik (sh. Abbildung 1). Allerdings wird dieser Beschäftigungs- und Wirtschaftsfaktor der Wohlfahrtspflege nicht nur in sozialwissenschaftlichen Diskursen zumeist unterschätzt. Generell wird die Arbeit bei Nonprofit-Organisationen in der Arbeits- und Organisationssoziologie kaum behandelt.
Abbildung 1
Beschäftigte der Freien Wohlfahrtspflege 1970 – 2016 (Eigene Darstellung mit Daten aus der BAGFW Gesamtstatistik 2016 (2018)) .
Manche Sozialwissenschaftler wähnen die Wohlfahrtsverbände auf ihrem expansiven Weg in die Sozialwirtschaft relativ stark an betriebswirtschaftlichen Kalkülen orientiert, die auch mit der Ausbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse einhergehen würden (vgl. zusammenfassend Dahme/Wohlfahrt 2015 und Wohlfahrt 2017). Von einer umfassenden Ökonomisierung der sozialen Dienste kann aber nicht gesprochen werden, wenngleich sich auch in den Wohlfahrtsorganisationen flexiblere Beschäftigungsformen ausgeweitet haben, die von
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den traditionellen „Normalarbeitsverhältnissen“ abweichen. Allerdings heißt Ökonomisierung nicht automatisch, dass damit ein Profitstreben der einzelnen Akteure verbunden sein muss, es kann sich auch um einen Wandel zu mehr Wettbewerb handeln, der im Ergebnis eine Vermarktlichungskultur hervorbringt. Allgemein gilt weiterhin die Multifunktionalität der Wohlfahrtsverbände. Sie „vertreten sowohl anwaltschaftliche als auch unternehmenspolitische Interessen. Dies ergibt sich aus ihrer Doppelrolle. Sie nehmen zu sozialpolitischen Herausforderungen Stellung, setzen sich für die Absicherung oder den Ausbau sozialstaatlicher Sicherung ein, vertreten die Belange von Gruppen mit besonderer Schutzbedürftigkeit. Gleichzeitig vertreten sie zwingend auch unternehmerische Interessen. Es muss sie die Frage umtreiben, wie das breite Angebot an sozialen Dienstleistungen gesichert werden kann“ (Cremer 2019, 40). Im Folgenden ist die Aufteilung der Einrichtungen insgesamt und nach Bereichen aufgeführt. Darin wird deutlich, welche Vielzahl an Personen in den diversen Arbeitsbereichen tätig ist. Tabelle 1 Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege 2016 (Daten aus der BAGFW Gesamtstatistik 2016 (2018)). Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege 2016 nach Arbeitsbereichen EinBetten und VollzeitTeilzeitrichtungen Plätze beschäftigte beschäftigte Gesundheitshilfe 7.763 181.045 235.453 178.039 Jugendhilfe 41.884 2.252.074 173.175 245.764 Familienhilfe 4.787 41.733 6.207 18.614 Altenhilfe 19.515 579.255 146.230 362.528 Behindertenhilfe 19.071 628.360 162.315 220.555 Hilfe für Personen in 10.486 123.937 19.766 24.866 besonderen Situationen Weitere Hilfen 13.426 263.050 47.058 43.604 1.691 96.820 14.589 13.901 Aus-, Fort- und Weiter bildungsstätten für soziale und pflegerische Berufe Gesamt 118.623 4.166.276 804.795 1.107.870
Die Zahlen belegen, dass der Sozialsektor bzw. soziale Dienstleistungen in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Wachstumsbereich geworden sind. Allerdings ist eine genauere Quantifizierung angesichts der unübersichtlichen definitorischen Situation schwierig. Die Wohlfahrtsverbände sind dadurch fast heimlich zu zentralen Institutionen im deutschen Sozialstaat geworden und gehören zu den „inkorporierten sozialen Strukturen“ (Bourdieu 1982, 171ff.). Gerade auf-
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grund der besonderen Prägung des Sozialsektors und der erworbenen Wissensvorräte, also des „Gewohnheitswissens“, konnten sie die Strukturen vieler Felder des Sozialwesens wesentlich mitgestalten und besitzen genügend Kapitalarten (etwa das inkorporierte soziale Kapital in Form von eigenen Bildungs- und Qualifizierungsgängen oder die privilegierten politischen Kooperationsbeziehungen), um sich behaupten zu können. Die Freie Wohlfahrtspflege erlebt seit dem Ausbau des deutschen Sozialstaates – relativ unabhängig von Regierungswechseln – ein kontinuierliches und zugleich dynamisches Wachstum. Sie sind zusammengefasst einerseits ein bedeutsamer Beschäftigungsfaktor und gleichzeitig eine zentrale Säule der Zivilgesellschaft, der eine Sozialrendite für die Gesellschaft vor Ort erbringt. „Sie bestehen selbst aus Netzwerken und vernetzen sich mit anderen privaten, gemeinnützigen und staatlichen Gestaltungsakteuren, ebenso wie mit Initiativen und Projekten. Auch wenn Wohlfahrtsverbände bzw. ihre Dienstleistungsunternehmen in wachsendem Maße in Konkurrenz zueinander und zu anderen stehen, so gehört der Modus der Kooperation zu ihrem Selbstverständnis. So sind die Wohlfahrtsverbände insbesondere auch Partner der Kommunen, in denen die meisten sozialen Dienstleistungen ihre Wirkung entfalten“ (Strünck 2018, 129f.). Wenngleich der Beitrag zur kommunalen Daseinsvorsorge unbestritten ist, wird die oft von den Verbänden vorgebrachte These, man pflege eine bestimmte Werteorientierung und Kultur des Umgangs miteinander, die auch die sozialrechtliche Sonderstellung der Spitzenverbände begründen, durch die immer wieder aufflackernden Organisationsskandale in Einzelfällen ernsthaft in Zweifel gezogen. Dennoch sind sie aus dem Blickwinkel aller Akteure strategisch nicht nur eine wesentliche Säule des Systems sozialer Sicherung, sondern prägen das soziale Zusammenleben vor Ort, das über die konkreten Hilfsangebote für vulnerable Gruppen längst hinausgeht. „Das Soziale ist nicht mehr die Reparatureinrichtung des Arbeits- und Finanzmarktes. Das Soziale hat an Eigenständigkeit und Fachlichkeit gewonnen und zielt auf eine gelingende Lebensführung, deren finanzielle Seite Sache des Sozialstaates ist, aber dessen Ausfüllung ein Gestaltungsauftrag ist, der permanent Einmischung, Vernetzung und die Klärung eigener Wertepositionen erfordert. Wie der Zusammenhalt der Gesellschaft und eine Atmosphäre der Ermutigung gelingen kann, ist eine Frage, die über die Anwaltsfunktion für ‚Schwächere‘ hinausgeht. Das Sozialstaatsprinzip meint heute strategisches Handeln hinsichtlich der individuellen und kollektiven Gestaltung von Lebensbedingungen, womit das unmittelbare Helfen und die Notlagenarbeit als Alleinstellungsmerkmal in den Hintergrund rücken“ (Hummel/Timm 2020, 20; vgl. auch Welskop-Deffa 2020). Gerade mit Blick auf die Beschäftigungswirkungen ist der massive Ausbau der wohlfahrtsverbandlichen sozialen Dienste in den letzten Jahrzehnten allerdings
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von besonderer Bedeutung. Dadurch zählen die Verbände zu den „Hidden Champions“ auf dem Arbeitsmarkt, was aber erst in der letzten Zeit registriert wurde. Ihnen kommt ein öffentlicher Status zu, was sich auch im Selbstverständnis widerspiegelt: Sie sehen sich als „Sozialpartner“, die umfangreich an der Gestaltung des Soziallebens beteiligt sind. Schon aufgrund der in Tabelle 2 ausgewiesenen volkswirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Bedeutung ist in der Öffentlichkeit aus dem „Sozialwesen“ in vielen Bereichen die bereits genannte „Sozialwirtschaft“ geworden. Diese Begrifflichkeit ist zwar nicht neu, hat sich aber erst im Umfeld der Neuausrichtung des deutschen Wohlfahrtsstaates in den letzten Jahren etabliert. Manche Beobachter sehen in der Berücksichtigung ökonomischer Leitlinien eine „Entbettung“ der Organisationsbasis und insgesamt eine kaum noch zu steuernde verbandliche Vielfalt (vgl. etwa Bode 2014). Wenngleich einzelne Beobachtungen aus dem Innenleben der Wohlfahrtsverbände die These einer schwindenden Organisationsidentität fallweise stützen können, fehlen bislang hierzu systematisch angelegte empirische Untersuchungen. Die wachsende Differenzierung der Verbändelandschaft trifft zudem auch auf die in den letzten Jahrzehnten oft thematisierte Zivilgesellschaft zu. Auch diese „befindet sich derzeit in einem massiven Wandlungsprozess von einer schön nach gesellschaftlichen Gruppen geordneten und neo-korporatistischen Veranstaltung hin zu einem offenen, pluralistischen Arrangement unterschiedlicher Akteure, die zum Teil miteinander in Konkurrenz stehen“ (Anheier 2014, 10). Diversifizierung und Ausdifferenzierung bewirken nicht die Auflösung der durch die Wohlfahrtspflege repräsentierten organisierten Solidarität. Zudem führt mehr Wettbewerb mit privaten Anbietern in Teilbereichen des Sozial- und Gesundheitssektors (etwa in der Altenpflege) nicht zwingend zur Erosion frei-gemeinnütziger Strukturen. Allerdings ist von einem Spannungsverhältnis zu sprechen. „Wir haben im Bereich der sozialen Arbeit und Dienstleistungen (auch) Marktbeziehungen. In diesen Märkten bewegen sich auch nicht frei-gemeinnützige Anbieter, das ist offensichtlich. In der Altenhilfe haben privat-gewerbliche Anbieter mittlerweile etwa 50 % Marktanteil. Auch diese Anbieter bewegen sich im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses. Im Ergebnis führt das zu mehr Wettbewerb und zu mehr Angeboten zur Realisierung des Wunsch- und Wahlrechtes für die Menschen, die diese Angebote nutzen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Nutzer ist für die Freie Wohlfahrtspflege ein ganz wesentlicher Punkt“ (Timm 2019, 80).
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Tabelle 2 Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege 1970 – 2016 (Daten aus der BAGFW Gesamtstatistik 2016 (2018)). Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege 1970 – 2016 Arbeitsbereiche Stand Einrichtungen Betten/Plätze Beschäftigte 1. Gesundheitshilfe 1970 1.205 227.794 153.861 1990 1.086 219.975 251.919 2000 1.227 220.507 317.516 2016 7.763 181.045 413.492 2. Jugendhilfe 1970 19.377 1.298.105 97.512 1990 24.701 1.347.159 148.203 2000 33.974 1.835.231 256.732 2016 41.884 2.252.074 418.939 3. Familienhilfe 1970 13.077 59.324 31.646 1990 9.509 79.765 49.453 2000 9.453 58.757 89.447 2016 4.787 41.733 24.821 4. Altenhilfe 1970 6.416 335.462 49.970 1990 9.584 418.252 138.734 2000 15.212 481.495 237.577 2016 19.515 579.255 508.758 5. Hilfe für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen 1970 1.527 81.369 19.011 1990 8.122 248.562 96.659 2000 12.449 344.819 157.711 2016 19.071 628.360 382.870 6. Aus-, Fort-, und Weiterbildungseinrichtungen 1970 1.604 5.800 9.472 1990 1.441 108.322 10.625 2000 1.568 114.310 16.425 2016 1.691 96.820 28.490
Die gewachsene Bedeutung privatgewerblicher Anbieter zeigt sich neben den ambulanten Altenpflegediensten zunehmend insbesondere bei den Krankenhäusern. „Waren 1991 nur 14,8 % der Krankenhäuser privat-gewerblich, waren es 2015 bereits 35,8 %. Zurückzuführung ist diese Entwicklung auf Veränderung der Sozial-
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gesetze ab Anfang der 1990er Jahre, die eine teilweise Rücknahme des Subsidiaritätsprinzips beinhalteten. Seitdem sind NPOs mit privatkommerziellen Anbietern sozialer Dienstleistungen in Vergabeverfahren nahezu gleichgestellt. Es ist daher nur noch bedingt richtig, den Bereich der Sozialwirtschaft mit den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtpflege gleichzusetzen. De facto handelt es sich heute bei der Sozialwirtschaft um einen Quasi-Markt, dessen Finanzierungsmodalitäten für alle Leistungsersteller gleich sind und Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände bzw. NPOs gegenüber der privat-kommerziellen Konkurrenz kein Vorrang mehr eingeräumt wird“ (Zimmer/Paul 2018, 107; vgl. auch Boeßenecker 2018). Trotz der auch politisch induzierten Wandlungsprozesse in der Sozialwirtschaft bleibt das spezifisch deutsche sozialrechtliche „Dreiecksverhältnis“ als Ordnungsmodell für die Wohlfahrtsproduktion bestehen, obwohl durch gesetzliche Vorgaben in Teilsektoren der Markt für private Anbieter geöffnet und auch das Selbstkostendeckungsprinzip aufgehoben wurde. Durch sozialrechtliche Vorgaben steuert der Staat den Zugang zu sozialen Diensten, „tritt aber in der Regel nicht selbst als Leistungserbringer auf, sondern schließt mit privaten Leistungserbringern (bzw. ihren Zusammenschlüssen) öffentlich-rechtliche Versorgungsverträge ab. Diese regeln insbesondere den Leistungsinhalt, die Vergütung sowie die Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle und bilden die Grundlage dafür, die Leistung zu vergüten, die leistungsberechtigte Bürger von Leistungserbringern auf der Grundlage privatrechtlicher Verträge erhalten. Dieses aus drei Rechtsbeziehungen gebildete Dreiecksverhältnis ist eine Marktordnung, die eine subsidiäre Erbringung sozialer Dienstleistungen bei Wahrung staatlicher Verantwortung ermöglicht“ (Cremer 2019, 34; vgl. auch Heinze 2019). Der Sozialsektor (oder auch das Sozialwesen) hat ebenfalls in anderen vergleichbaren westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten einen beträchtlichen Bedeutungsgewinn erfahren. „In fast allen Ländern der EU sieht es ähnlich aus, denn auch dort nimmt im Hinblick auf die Zahl der Beschäftigten und auf das Arbeitsvolumen die Bedeutung des Sozialwesens zu. In manchen Staaten, namentlich in Skandinavien und in Teilen Westeuropas spielt dieser Wirtschaftsbereich bereits eine viel größere Rolle als in der Bundesrepublik. Wenig überraschend ist, dass nahezu überall das Sozialwesen eine enorm hohe Arbeitsintensität vorweist und zugleich aufgrund relativ geringer Entlohnung die statistisch gemessene Arbeitsproduktivität gering ist“ (Brenke et al. 2018, 313). Die quantitative Ausweitung der Beschäftigung im Feld der sozialen Dienste über die letzten Jahrzehnte hinweg wurde in wohlfahrtsstaatlichen Diskursen schon seit einigen Jahren festgehalten, wobei sich die Wachstumsdynamik noch weiter fortsetzte. Gerade im Hinblick auf die arbeitsmarktpolitische Bedeutung der Dienste kommt zudem der Unterscheidung zwischen dem formellen und dem
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informellen Sektor eine erhebliche Bedeutung zu, da die Bandbreite der Überschneidungen beider Sektoren traditionell hoch ist. Die gängigen Statistiken erfassen allerdings nur solche Tätigkeiten und Personen, die formell als Erwerbsarbeit organisiert bzw. als sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer registriert werden. Wenn nun eine bestimmte Tätigkeit, beispielsweise die Kinderbetreuung, die bislang von den Erziehungsberechtigten in Eigenarbeit geleistet wurde, in einem Kindergarten (also durch erwerbstätige KindergärtnerInnen) erbracht wird, dann kann der Dienstleistungssektor statistisch einen Zuwachs verbuchen. Diese Wanderungsbewegungen zwischen dem (statistisch erfassten) formellen Sektor und dem (statistisch nicht erfassten) informellen Sektor sind vor allem bei den Dienstleistungen häufig zu beobachten, weil dort eher als bei der Warenproduktion Substitutionsprozesse möglich sind. Vor allem gilt dies, wie erwähnt, für die Kinderbetreuung oder die häusliche Pflege. In der folgenden Übersicht wird deutlich, wie in den letzten Jahren die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung anstieg: Tabelle 3 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich der Bundesrepublik (Daten vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), 2019: Berufe im Spiegel der Statistik http://bisds.iab.de/). Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich der Bundesrepublik 2013 – 2017 2013 2014 2015 2016 2017 Medizinische Gesund2.083.168 2.145.359 2.199.170 2.253.421 2.308.006 heitsberufe darunter: Arzt- und Praxishilfe 514.133 528.370 541.236 554.261 565.846 881.922 901.935 917.443 934.344 952.935 Gesundheits- und K rankenpflege, Rettungsdienst und Geburtshilfe Human- und Zahnmedizin 222.540 233.504 243.229 253.500 263.669 Pharmazie 128.795 133.479 137.064 140.648 134.896 Altenpflege Erziehung, Sozialarbeit, Heilerziehungspflege
421.258 1.142.307
441.290 1.204.662
463.509 1.264.915
484.598 1.351.561
507.498 1.408.079
Aggregiert Gesundheitsund Pflegeberufe
2.807.447 2.904.934
3.001.660
3.102.559
3.194.739
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Nimmt man die Gesundheits- und Sozialwirtschaft zusammen, dann werden die wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeutung und vor allem die Dynamik dieser Sektoren offensichtlich. Verschiedene Studien sprechen davon, dass hier knapp 15 % der Beschäftigten erwerbstätig sind (vgl. zusammenfassend die Beiträge in Dahlbeck/Hilbert 2017; speziell zur Seniorenwirtschaft Heinze/ Schneiders 2019). Hinzu kommt die bereits erwähnte starke regionale Einbettung in die Wirtschaftsstrukturen vor Ort; d. h. die Einkommens- und Investitionsimpulse verbleiben fast vollständig dort und schaffen Beschäftigungsverhältnisse in anderen Branchen (etwa im Handwerk, der Wohnungswirtschaft und dem Einzelhandel).
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Angesichts der Trägerkapazität von bundesweit rund zwei Dritteln der sozialen Einrichtungen sind die Wohlfahrtsverbände nicht nur in sozialpolitischer Hinsicht mächtige Gestaltungsakteure, ohne deren Kooperation und Ressourceneinsatz viele soziale Dienste nicht angeboten werden könnten. Sie sind eben auch in beschäftigungspolitischer Sicht eine tragende Säule des Arbeitsmarktes, die in den letzten Jahren noch an Bedeutung gewonnen hat. Und dies gilt auch in traditionellen Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet, wo sich in den letzten Jahrzehnten Beschäftigung primär nur im Dienstleistungssektor und hier insbesondere in der Gesundheitswirtschaft und im Hochschul- und Forschungssektor aufbaute (vgl. zusammenfassend Bogumil et al. 2012 sowie Bogumil/Heinze 2019). Für das Stadtgebiet Dortmund haben die Freien Wohlfahrtsverbände im Dortmunder Branchenbericht 2006 (Basis 2005) zum ersten Mal die Zahl der Mitarbeiter in den sozialen Diensten der Wohlfahrtspflege quantifiziert: demnach waren insgesamt 13.221 Menschen hier beschäftigt. Wenn die Beschäftigten bei den städtischen Eigenbetrieben (etwa dem Klinikum Dortmund) und privaten Anbietern sozialer Dienste hinzugezählt werden, wird die Zahl der Arbeitsplätze im sozialen Dienstleistungssektor auf weit über 20.000 geschätzt. Zum Stichtag 31.12.2012 wurde eine weitere Vollerhebung bei den Mitgliedern der Freien Wohlfahrtspflege durchgeführt. Gefragt wurde schwerpunktmäßig nach den sozialversicherungspflichtigen und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen sowie dem jeweiligen Frauenanteil. Zum genannten Stichtag waren 13.913 Menschen in den unterschiedlichen Diensten der Freien Wohlfahrtspflege in Dortmund tätig. Ähnlich wie auf Bundesebene liegt der weibliche Beschäftigtenanteil bei rund 80 %. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_6
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Während der Anteil geringfügig Beschäftigter bei der Betrachtung aller Wirtschaftszweige in Dortmund bei rund 22 % liegt, macht er innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege in Dortmund nur 9,2 % aus und liegt damit weit darunter. Dies wird als Beleg für die fachliche Qualität der erbrachten Leistungen interpretiert. Die niedrige Quote der geringfügigen Beschäftigung weist auch darauf hin, dass sich die Tendenz des deutlichen Anstiegs der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland in der Wohlfahrtspflege nicht wiederfindet. Im Vergleich zur Erhebung im Jahr 2005, wo sie bei 10,5 % lag, ist sie sogar rückläufig (vgl. Stadt Dortmund 2013, 31). Insgesamt ist die Zahl der Beschäftigten in der Wohlfahrtspflege in Dortmund in den letzten Jahren weiter angestiegen. So sind nach Angaben der jeweiligen Wohlfahrtsverbände im Jahr 2019 über 17.500 Mitarbeitende in Voll- und Teilzeit beschäftigt. Tabelle 4 Beschäftigte der Wohlfahrtsverbände in Dortmund Stand der Daten: 2019 Übersicht der Mitarbeiterzahlen der Wohlfahrtsverbände in Dortmund Caritasverband und weitere katholische Träger Paritätischer Wohlfahrtsverband Diakonisches Werk und weitere evangelische Träger Arbeiterwohlfahrt (AWO) Deutsches Rotes Kreuz (DRK) Zentralwohlfahrtsstelle der Juden Gesamt
7.502 5.760 2.707 1.553 199 4 17.725
Mit über 7.500 Mitarbeitenden ist die Caritas, nach der Stadt Dortmund, der größte Arbeitgeber. Darauf folgt der Paritätische Wohlfahrtsverband mit rd. 5.760 Beschäftigten. Die diakonischen Träger beschäftigen rd. 2.700 Mitarbeitende in Dortmund, wobei davon ca. 500 allein auf das Diakonische Werk entfallen. Die AWO zählt insgesamt über 1.500 Beschäftigte allein in Dortmund. Bei dem Deutschen Roten Kreuz sind fast 200 Mitarbeitende in Voll- und Teilzeit beschäftigt. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden beschäftigt vier Mitarbeitende in Dortmund. Welchen Stellenwert die Beschäftigung durch die Wohlfahrtspflege einnimmt, wird insbesondere durch einen Vergleich mit anderen Arbeitgebern der Stadt deutlich. Die Stadtverwaltung Dortmund ist selbst der größte Arbeitgeber und beschäftigt im Jahr 2018 9.660 Mitarbeiter/innen insgesamt (vgl. Stadt Dortmund 2018). Die Technische Universität Dortmund zählt im Frühjahr 2019 rd. 6.300 Beschäftigte. Die Wohlfahrtsverbände sind somit als Arbeitgeber für die Stadt ein entscheidender Faktor, der zunehmend auch von allen öffentlichen Akteuren anerkannt wird.
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Die Wohlfahrtspflege wirkt darüber hinaus aber auch durch die hohe Anzahl an Ehrenamtlichen, welche im Rahmen der Verbände tätig sind, sozialintegrativ. Die neuen Governancestrategien und der Wandel der Solidarkulturen vor Ort bewirken aber bei ihnen die Suche nach modernisierten Leitbildern, da die eigenen Handlungslogiken unter Effizienz- und Legitimationsdruck stehen. Interne Reorganisationsstrategien (etwa die Verbetrieblichung) können die Organisationsprobleme abmildern, aber nicht lösen. Wohlfahrtsverbände werden generell vor dem Hintergrund neuer Steuerungsmodelle stärker als sozialwirtschaftliche Dienstleistungsträger gesehen. Die Integration betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente hat bspw. dazu geführt, dass die Wohlfahrtsverbände unter Druck geraten sind, ihrerseits ökonomische Rationalitäten in der Leistungserstellung abzubilden. Dabei geht es nicht nur um den viel diskutierten Sozialabbau, sondern oft um ein „mismatch“ von „sozialen Problemlagen auf der einen sowie den Institutionen und Lösungsstrategien auf der anderen Seite“ (Schmid 2017, 200) – also das Veralten der etablierten Wohlfahrtsarrangements. Aber auch wenn die Sozialgesetzgebung keine „freien Träger“ mehr kennt, sondern nur noch Leistungserbringer, dann ist damit nicht das Ende der Verbändewohlfahrt programmiert, vielmehr hat sich in vielen Feldern auf dezentraler Ebene ein neues Beziehungsgeflecht zwischen privaten, öffentlichen und wohlfahrtsverbandlichen Trägern entwickelt, das durchaus in manchen Aspekten in Richtung quasi-marktförmiger Regulierungen geht. Durch die zunehmende Ökonomisierung kann hierdurch aber die Integrationskraft der Wohlfahrtsverbände beeinträchtigt werden. Auch wenn sie versuchen, an der formalen Struktur der Organisationen durch veränderte institutionelle Rahmenbedingungen nun Anpassungen vorzunehmen, drohen Legitimationsverluste, denn es kann zu wachsenden Diskrepanzen zwischen den offiziellen Wertvorstellungen der Wohlfahrtspflege und den realen Beschäftigungsstrukturen und der Qualität der Arbeit kommen (vgl. u. a. Langer 2018 und Siegler 2018). Aufgrund dieser Konvergenzen sahen manche Wissenschaftler schon vor einigen Jahren den Wohlfahrtskorporatismus über seinem Zenit. Durch die Entstehung von Wohlfahrtsmärkten sei ein disorganisiertes System sozialer Dienste entstanden, dass die traditionelle Partnerschaft zwischen Staat und Verbänden beenden würde. Studien in verschiedenen Bundesländern bestreiten allerdings diese Sicht und verweisen auf ein Fortbestehen korporatistischer Strukturen, jedoch sind diese stärker durch Regulation charakterisiert. Die Staat-Wohlfahrtsverbändebeziehungen haben sich demnach in den vier untersuchten Bundesländern zwar verändert und modernisiert, aber es bleibt weiterhin bei den korporatistischen Grundprinzipien – allerdings „in einer angepassten, stärker regulierten Form. Genauer gesagt lässt sich die aktuelle Konstellation am treffendsten als
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regulierter Wohlfahrtskorporatismus beschreiben“ (Reichenbachs 2018, 123). Die Auswirkungen neuer netzwerkförmiger Steuerung variieren nach den spezifischen Merkmalen und Feldern der lokalen Wohlfahrtsproduktion: während in der Altenpflege pluralisierte Strukturen an Bedeutung gewonnen haben, ist dies im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nur begrenzt der Fall. Das Kontraktmanagement sowie weitere neue Steuerungsformen fördern nicht automatisch den Ausbau pluralistischer Strukturen, in denen kleine Träger oder marktliche Anbieter Aufgaben der Wohlfahrtsproduktion übernehmen. Ein „Wohlfahrtspluralismus“ mit Wettbewerb und Wahloptionen für auf Hilfe angewiesene Bürger (bspw. pflegebedürftige alte Menschen) ist nur in einzelnen Sektoren (explizit bei der Altenhilfe) angekommen, Deprivilegierungstendenzen von Wohlfahrtsverbänden sind nicht flächendeckend festzustellen. „Während in einigen Leistungsbereichen wie z. B. im Krankenhausbereich und der Altenhilfe/ Pflege ein Nebeneinander von gewerblichen und gemeinnützigen Trägern gegeben ist, agieren in der Behindertenhilfe sowie der Jugendhilfe (noch) überwiegend gemeinnützige Anbieter. Auch in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft wurden durch staatliche Steuerung die Wettbewerbsbedingungen in den Leistungsbereichen verstärkt und die Markteintrittsbarrieren gesenkt. Wenn auch die Politik mit der Einführung der Marktsteuerung (nur erst) selektiv und begrenzt vorgestoßen ist, so wurde doch der Anpassungs- und Innovationsdruck auf die Anbieter intensiviert – wenn auch in den einzelnen Leistungsbereichen recht unterschiedlich. Die in manchem Bereich der Sozialwirtschaft noch komfortabel anmutende Wettbewerbssituation beinhaltet jedoch auch Risiken. Selbst erfolgreiche Sozialunternehmen, die ihre Aktivitäten konsequent an den Bedarfen ihrer Kunden ausgerichtet haben, laufen Gefahr zu scheitern, wenn sie mit gravierenden Umwälzungen ihres Umfeldes konfrontiert werden und diese nicht bewältigen können“ (Bernshausen/Löbler 2020, 11). Konsens besteht darin, dass die Expansion der sozialen Dienste seit einiger Zeit begleitet wird von einem Ökonomisierungsdruck auf alle gesellschaftlichen Subsysteme, der auch den sozialen Dienstleistungssektor trifft – ebenso wie andere, bislang nicht an privatwirtschaftlichen Effizienzsteigerungskriterien orientierte Sphären wie die Wissenschaft, die Kunst oder das Gesundheitswesen (vgl. Schimank/Volkmann 2018 sowie Heinze/Schneiders 2014). Vor dem Hintergrund von beschränkten öffentlichen Ressourcen bei gleichzeitig stabilen bzw. steigenden Bedarfen ist die Sozialpolitik zunehmend aufgefordert, die vorhandenen Ressourcen nicht nur effektiv (d. h. wirkungsvoll), sondern auch effizient (d. h. mit möglichst geringen Mitteln wirkungsvoll) und somit stärker nach dem ökonomischen Prinzip zu verwenden. In den letzten Jahren hat sich auch hier der Aufmerksamkeitshorizont gewandelt und zielt nun stärker auf die Perspektive
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der Wirkungsmessung. „Während die Evaluation stark Output-orientiert ist, das Qualitätsmanagement einen Klienten- und Tätigkeits-zentrierten Fokus hat, und das New Public Management stark auf betriebswirtschaftliche Methoden abhebt, ist die Wirkungsmessung Outcome/Impact-orientiert, ganzheitlich aufgestellt und einer volkswirtschaftlichen Perspektive verpflichtet“ (Mildenberger et al. 2020, 139). Die sozialunternehmerisch ausgerichtete Integration betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente hat auch im deutschen Sonderweg erhebliche Spuren hinterlassen, wobei insgesamt zu konstatieren ist, dass sich die relevanten Akteure inzwischen auf die neuen Rahmenbedingungen eingestellt haben und nostalgische Blicke zurück in die „alten“ Zeiten eines geordneten Sozialkorporatismus nur noch vereinzelt zu sehen sind. Die Einschnitte im Organisationshandeln waren dennoch nicht unerheblich. So wurden durch die neuen Governancestrukturen (exemplarisch die Pflegeversicherung, die den Markt der Altenhilfe für private Anbieter öffnete) das Selbstkostendeckungsprinzip ausgehebelt, das die Finanzierungspraxis der Wohlfahrtspflege über Jahrzehnte durchzog. Es wurde mehr und mehr durch Leistungsentgelte ersetzt. Hinzu kommen öffentliche Ausschreibungen, die insgesamt die Verbände verstärkt unter Wettbewerbsdruck setzen. Die Basis, auf der die Wohlfahrtsverbände agieren, hat sich vom Status zum Kontrakt gewandelt. „Die objektbezogene Finanzierung wurde seitens der öffentlichen Leistungsträger zugunsten subjektbezogener Finanzierungsformen zurückgefahren oder ganz aufgegeben. Dadurch stieg die Abhängigkeit der Leistungserbringer von den Wahlentscheidungen der Leistungsnutzer. In der Summe bewirkten diese Änderungen, dass die wirtschaftlichen Risiken für die bis dahin dominierenden frei-gemeinnützigen Leistungserbringer deutlich stiegen und diese als im Markt stehende gemeinnützige Unternehmen geführt werden mussten. Entsprechend ist die Nutzung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente deutlich ausgeweitet und ist die Rolle von Aufsichtsgremien gestärkt worden“ (Cremer 2019, 33). Das Kontraktmanagement hat auf die Wohlfahrtspflege je nach Arbeitsbereich unterschiedliche Auswirkungen. In Kommunen, in denen sich Vernetzungen zwischen lokaler Sozialpolitik und den Wohlfahrtsverbänden auch in Krisensituationen halten (wie etwa in der Jugendhilfe) wirken sie sich nicht negativ für die Verbände aus. Kommunen mit losen Arrangements favorisieren eher Wettbewerbselemente wie Ausschreibungen von sozialen Diensten. Die Kehrseite neuer Steuerungsmodelle für die Verbände ist jedoch, dass sie Unstimmigkeiten und finanziellen Anpassungsdruck weitgehend selbst zu verantworten haben. Die Konfliktregelung wird in die Organisation verschoben und kann zu internen Restrukturierungen führen, die aber auch Innovationen freisetzen können. „Ein offensiver Umgang mit den Anforderungen neuer Steuerungsmodelle und Sozialmanagement kann auch
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Spielräume für eine pragmatische Anpassung der Instrumente an die fachlichen Anforderungen eröffnen. In Zukunft wird die soziale Arbeit und Sozialwirtschaft nicht umhinkommen, Rechenschaft über ihren Ressourceneinsatz, die Qualität ihrer Angebote und die erreichten Wirkungen abzulegen, ob dies unter dem Etikett „Management“ firmiert oder einem anderen“ (Grohs 2018, 99). Wenn auch Ökonomisierungstendenzen alle Lebensbereiche durchdringen, sind die Wohlfahrtsverbände nach wie vor von großer Bedeutung, allerdings erfordern gewandelte Umwelten modernisierte und an die neuen Rahmenbedingungen angepasste Verbandsstrategien, um den Status zu erhalten. Der historisch vorgegebene Entwicklungspfad wird also trotz einiger Modifikationen und Pluralisierungstendenzen in einzelnen Handlungsfeldern nicht verlassen. Dennoch sind die im klassischen Subsidiaritätsprinzip immer mitgedachten hierarchischen Verantwortungszuschreibungen (manche sprechen auch vom „Paternalismus“) aufgrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und kultureller Pluralisierungen zu relativieren und neu zu justieren. Dies bedeutet die Aushandlung eines neuen „Wohlfahrtsmix“ zwischen den verschiedenen Akteursgruppen (Individuum, Familie, Vereine und Verbände, Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen, aber auch Kommunen oder die Bundesebene), wobei die Schnittstellen besser verzahnt werden müssen (vgl. auch Hennecke 2019 und Küppers 2019). Dies gilt insbesondere im Feld der Altenhilfe, in dem weiterhin ein großer Teil der Pflege durch informelles Engagement geleistet wird. Über 90 % der Personen im Alter von über 65 Jahren lebt in privaten Wohnungen, nur knapp 4 % der Personen über 65 in institutionellen Kontexten von Alten- und Pflegeheimen, wobei der Anteil jenseits des 80. Lebensjahres auf rund 11 % ansteigt (vgl. Oswald/Wahl 2016). Im Umkehrschluss heißt das, dass fast 90 % privat wohnen (und dies gilt auch für viele chronisch Kranke oder an Demenz Erkrankte, die ebenfalls zu rund 75 % nicht in einem Heim wohnen, sondern in der eigenen Immobilie). Dies impliziert die Schaffung von öffentlichen wie selbstorganisierten Begegnungsstätten mit diversen Unterstützungs- und Hilfsangeboten; nur über einen organisierten Wohlfahrtsmix ist diese durch den demografischen Wandel immer bedeutsamere Aufgabe der Daseinsvorsorge anzugehen. Ein Markenzeichen der deutschen Wohlfahrtspflege ist die Gewinnung und Organisierung freiwilligen sozialen Engagements durch die Verbände und auch hier gibt es neue Herausforderungen durch einen beschleunigten sozialen Wandel, der langfristig wirkende Vertrauensbeziehungen, wie sie sich im ehrenamtlichen Engagement abgebildet haben, tendenziell untergräbt. Parallel zu sozioökomischen Transformationsprozessen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen hat das freiwillige soziale Engagement in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise einen Strukturwandel vollzogen. Als Referenzfolie kann hier das „klassische“ Ehrenamt
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dienen, welches zumeist in (Groß-)Organisationen wie Wohlfahrtsverbänden seine Wirkungsstätte fand. Diesem Ehrenamt wird hierbei ein zeitlich dauerhafter Charakter und eine hohe Organisationsbindung zugeschrieben, d. h. ehrenamtliche Arbeit wurde vorwiegend über einen langen Zeitraum in ein- und derselben Organisation geleistet. Demgegenüber werden in den Debatten um den Wandel des freiwilligen Engagements vermehrte Entstrukturierungs- und Pluralisierungsprozesse diagnostiziert. Das Engagement umfasst heute mehr als das vertraute traditionelle Ehrenamt, und zwar auch Tätigkeiten in der Selbsthilfe sowie Bürgerinitiativen und (z. T. temporäre) Projekte aller Art (vgl. die Beiträge in Olk/Hartnuß 2011 sowie Heinze et al. 2017). Die gewachsene Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen und Lebensstile führt zu einer verflüssigten Sozialstruktur, die neue Autonomie-, aber auch Risikospielräume eröffnen. Die Lebensstile sortieren sich zu neuen sozialen Milieus, die sich nicht mehr in erster Linie über Beruf, Bildung und Einkommen definieren und damit auch traditionelle Verbandsbindungen erschweren, wenn nicht sogar erodieren lassen. „Abstrakte Sozialversicherungssysteme und etablierte wohlfahrtsverbandliche Großorganisationen (mit einem gewissen bürokratisch-formalisierten Charakter) stehen dem stark gewachsenen Bedürfnis nach Graswurzel-Engagement gegenüber. Im Übrigen verändert Individualisierung und Pluralisierung auch die Präferenzen und Bedürfnisse der Klienten und die Angemessenheit von großen Trägern sozialer Dienste. Der „Stammkunde“ stirbt aus – sowohl als Mitglied, als Ehrenamtlicher und als Klient“ (Schmid 2018, 44f.). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Wohlfahrtsorganisationen gerade in Krisenzeiten (bspw. bei der Coronakrise im Frühjahr 2020) nicht noch immer über ein erhebliches Reservoir an freiwilligen Helfern verfügen, dass sich lokal für die besonders betroffenen Gruppen (wie Kranke, Hochaltrige oder Risikopatienten) spontan einsetzte und unbürokratisch Unterstützung leistete. Vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung des Engagements ist es nachvollziehbar, dass sich die großen Wohlfahrtsorganisationen zurzeit vergewissern, wo sie gerade mit Blick auf die von ihnen immer wieder betonte besondere Ressource des Engagements stehen. Hier liefert eine empirische Studie in verschiedenen Landesverbänden des „Paritätischen“ Hinweise zum Status und zu Perspektiven des Engagements (vgl. Backhaus-Maul et al. 2015). Zunächst wird die These vom „Aussterben des Stammkunden“ relativiert und auf die nach wie vor vorhandenen verbandlichen Engagementformen verwiesen. Eine generelle Erosion des freiwilligen Engagements ist nicht zu verzeichnen; ohne die vielfältigen Tätigkeiten der Engagierten könnte der Wohlfahrtsverband viele Aufgaben gar nicht wahrnehmen. Neben der inhaltlichen Bedeutung ist deshalb auch der finanzielle Nutzen nicht zu unterschätzen. Parallel zu anderen Untersuchungen wird der Schwerpunkt
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der Tätigkeitsfelder der Engagierten bei der Organisation und Durchführung von Veranstaltungen und praktischen Arbeiten gesehen. Auffallend ist die große Bandbreite des Engagements: es gibt nicht „den“ Engagierten, vielmehr ist eine Vielfalt zu konstatieren – was sich auch in der Studie zum Engagement in der Caritas bestätigte (vgl. Becker et al. 2019). Knapp zwei Drittel sind kontinuierlich aktiv; dies bestätigt die Sichtweise, der zufolge verbandlich organisiertes Engagement vielfach dauerhaft angelegt ist. Dies gilt vor allem für die (schon aus demografischen Gründen) wachsende Gruppe der über 45-Jährigen, während sich jüngere Menschen stärker projektbezogen engagieren, worauf auch die neuere Engagementforschung hingewiesen hat (vgl. bspw. Heinze et al. 2019a). Deshalb sollten alle Sozialorganisationen für die strategische Relevanz dieser Thematik sensibilisiert werden, um das noch immer in Teilbereichen unausgeschöpfte Engagementpotential zu aktivieren. In manchen Organisationen gibt es aber auch noch Vetopositionen, die alles „beim Alten“ lassen wollen oder eine Strategie der Problemverschiebung präferieren. Viele Akteure haben aber die neuen Herausforderungen angesichts der sozioökonomischen Wandlungsprozesse und speziell der Ausbreitung individualistischer Lebens- und Konsumformen erkannt und versuchen dementsprechend auf diese neuen Verhaltensmuster zu reagieren. Insofern bestätigt sich die These, dass es nicht allein von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen abhängt, wie erfolgreich die Engagementpotentiale genutzt werden, sondern die organisationale Handlungspraxis zentral mitverantwortlich ist. Organisationales Lernen ist also gefordert, welches manchen Großorganisationen zwar schwerfällt, aber möglich ist. In den Publikationen der Wohlfahrtspflege wurde seit einigen Jahren von gut 2,5 Millionen ehrenamtlich und freiwillig Engagierten gesprochen. In der neuesten, Ende 2018 veröffentlichten BAGFW Gesamtstatistik 2016, wird sogar von ca. 3 Millionen Engagierten gesprochen, die sich freiwillig und ehrenamtlich in der Freien Wohlfahrtspflege, ihren Hilfswerken sowie in den ihnen angeschlossenen Selbsthilfegruppen engagieren. Diese Schätzung überrascht ein wenig und sie ist auch nicht methodisch anspruchsvoll empirisch ermittelt worden. Solch global ansetzende quantitative Aussagen sind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren. Wichtiger ist für die Wohlfahrtspflege der Wandel des Ehrenamtes und des Engagements allgemein. Das klassische Ehrenamt mit seiner relativ festen Bindung an die Organisationen schwindet. Das „neue“ Engagement verträgt keine unbegrenzte Verpflichtung mehr, wie es gerade die klassischen Verbände und Sozialorganisationen vorgesehen haben, vielmehr muss der inhaltliche und zeitliche Umfang der Aufgabe variabel gestaltbar sein und biographisch „passen“. Auch in der verbandlichen Engagementlandschaft sind zudem die Folgewirkungen der Digitalisierung spürbar. Die Digitalisierung der Kommunikation im virtuellen
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Raum des Internets tangiert z. B. direkt das Engagement; es bilden sich hierdurch neue digitale Gruppen. Dies bestätigt sich u. a. beim Engagement für Flüchtlinge, wo es zu diversen Organisationsformen abseits etablierter Verbände gekommen ist. Eine Antwort auf die Ausbreitung von individualisierten Engagementstrukturen und digitalen Netzwerken ist die Entwicklung spezifischer Organisationskulturen in den Nonprofit-Organisationen, um darüber Identifikationsmöglichkeiten zu bieten. Solche Lösungen sind allerdings schon schwer in Unternehmen zu realisieren, werden oft als Modewelle eingeschätzt (vgl. Kühl 2018) und dürften auch in Wohlfahrtsverbänden nur punktuell geeignet sein, um den Erosionsprozess traditioneller Sozialverbände zu stoppen. Dadurch würde perspektivisch die politische Mobilisierungskraft der Wohlfahrtsverbände geschwächt, die sich traditionell durch die Akquisition und Stabilisierung sozialen Engagements auszeichnen und darüber direkt zur Stärkung der Demokratie beigetragen haben. „Die Freie Wohlfahrtspflege bietet freiwillig Engagierten die Möglichkeit, unmittelbar oder mittelbar an der Verwirklichung der Verbandsziele mitzuwirken und in unterschiedlichster Weise Verantwortung zu übernehmen. Dadurch entsteht eine Vielzahl von sozialen Netzwerken, die auch der sozialen Einbindung der Engagierten dient und oft zentrales Motiv der Mitwirkung ist. Die hierbei ermöglichte wirksame Mitgestaltung von Gemeinwesen durch die Engagierten und ihre Mitwirkung in partizipativ angelegten Entscheidungsstrukturen in den Verbänden ist darüber hinaus ein Aspekt gelebter Demokratie“ (Steinke/Bibisidis 2018, 270f.; vgl. auch die Beiträge in Hummel/Timm 2020 sowie allgemein zu sozialen Netzwerken Fuhse 2016). Um die sozialintegrativen und wirtschaftlichen Leistungen der Wohlfahrtspflege zu erhalten, wäre eine innovationsorientierte, nachhaltige Dienstleistungspolitik hilfreich (vgl. u. a. Evans/Ludwig 2019). Ordnungspolitische Weichenstellungen werden dabei auf Bundesebene gelegt (etwa hinsichtlich der Arbeitsbedingungen in der Pflege sowie Normsetzungen für die Personalbemessungen), manches kann aber auch in der Region bzw. auf kommunaler Ebene angestoßen werden. Dies gilt vor allem für die weitere Profilierung der Kooperation sowohl zwischen Politik und Verwaltung sowie der Wohlfahrtspflege als auch zwischen den Wohlfahrtsverbänden und anderen Gestaltungsakteuren aus der Wohnungswirtschaft, Technik- und Serviceanbietern und Forschungseinrichtungen. Eine Neuakzentuierung der subsidiären Kooperationsbeziehungen muss die gewandelten Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege zur Kenntnis nehmen (vgl. hierzu die Beiträge in Heinze et al. 2018) und die Kooperationsstrukturen hinsichtlich des Akteurfeldes erweitern. Die Verbände müssen sich zudem ökonomisch motivierter Kritik an ihrer Position und Leistungsfähigkeit stellen, während noch vor einigen Jahren die Selbst-
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hilfebewegung das sozialpolitische Selbstverständnis herausforderte. Der Druck hat sich von der Legitimation hin zur Organisation der Wohlfahrtsverbände verschoben. Forderungen einer Nichtdiskriminierung anderer Leistungserbringer und ein ungehinderter Marktzugang machten die Runde. In manchen Feldern wurde durch die betriebswirtschaftlichen Modernisierungsprozesse der Unterschied zwischen privatgewerblichen und verbandlichen Trägern sozialer Dienste nahezu eingeebnet, was wiederum nicht nur in den konfessionellen Verbänden zu Konflikten führte. Hier prallen unterschiedliche Organisationskulturen aufeinander (Mitgliedschafts- versus Dienstleistungslogik). Wenn diese Güterabwägung bspw. zwischen einer theologischen Programmatik und den betriebswirtschaftlichen Ansprüchen einer konfessionellen Einrichtung zuungunsten der Einrichtung ausgeht, ist sogar ein Ausscheiden aus diesem Handlungsfeld denkbar, um den normativen Ansprüchen zu genügen. „Solch eine Exit-Option ist im Bereich der kirchlichen Wohlfahrtspflege vereinzelt schon gezogen worden. Zumeist wurde das nur deshalb nicht auffällig, weil Einrichtungen und Handlungsfelder dann an „befreundete“ und d.h. andere kirchlich gebundene Einrichtungen – auch über Konfessionsgrenzen hinweg – „abgegeben“ wurden“ (Möhring-Hesse 2017, 151; vgl. auch Bode 2018). Da die wechselseitigen Beziehungen seit Jahrzehnten bestehen und einen stabilen Verlauf haben, dürfen einzelne Friktionen nicht in Richtung Auflösung interpretiert werden. Man kann einen Vergleich mit einem Ameisenhaufen anstellen: während der von außen in der Zeitdimension stabil bleibt, gibt es intern eine hohe Dynamik (vgl. Schmid 2017). Alles in allem zeichnet sich das Gesamtsystem auch im internationalen Vergleich durch eine hohe Stabilität aus. Kennzeichen ist aber auch in vielen Organisationen eine relative Geschlossenheit, die den Herausforderungen einer singularisierten Gesellschaft nicht mehr adäquat entspricht. Eine innovative steuerungstheoretische Rekonstruktion mit einer besseren komplementären Vernetzung der Steuerungsressourcen würde deshalb nicht mehr allein die Vorrangstellung der traditionellen Wohlfahrtsverbände festigen, sondern offensiv für eine Neukombination und neue Balance zwischen den verschiedenen Ressourcen eintreten. In die gleiche strategische Richtung zielen in anderen Politikfeldern Überlegungen zu strukturellen Kopplungen oder im politischen Jargon „new deals“ – sei es ein „New Green Deal“ oder ein New Deal zwischen landwirtschaftlicher Produktion und gesellschaftlicher Nachhaltigkeit.
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Der Begriff der Innovation hat in den letzten Jahren Karriere gemacht und wird auch im Kontext der Debatten um eine „große Transformation“ oft verwendet. Innovationen zielen auf die Neukonfiguration sozialer Arrangements bzw. sozialer Praktiken in Handlungsfeldern – mit dem Ziel, soziale, ökologische oder technische Probleme (sei es Bildungsarmut oder den Klimawandel) besser zu lösen als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken und Versäulungen möglich ist. Somit wird der Blick auf heterogene Akteure, Interdisziplinarität und Reflexivität gerichtet. Derzeit werden auch die bereits thematisierten Relevanzverschiebungen und neue institutionelle Verschränkungen zwischen den Steuerungsformen Solidarität, Staat und Wirtschaft mit dem Innovationsbegriff assoziiert (vgl. Mau 2020). Es gibt inzwischen zwar – ausgehend von den konzeptionellen Diskursen – einige Beispiele für die Umsetzung sozialer Innovationen, dennoch ist vor zu viel Optimismus zu warnen. Bei nüchterner Betrachtung kommt man nicht umhin, im Gebrauch des Begriffs sozialer Innovation eine gewisse Modewelle zu konstatieren – vor allem, wenn er im politischen Kontext genutzt wird. Wenn auch die Politik das Innovationsthema entdeckt hat, bleibt die Frage offen, inwieweit es sich primär um symbolische Politik handelt, oder ob es schon zu einem grundlegenden Politikwandel gekommen ist. In der Forschung zu sozialen Innovationen wird die erforderliche „Befähigung“ der zentralen wohlfahrtsstaatlichen Akteure für eine innovative, übergreifende Gesellschaftspolitik noch skeptisch eingeschätzt (vgl. die Beiträge in Jansen et al. 2013). Dies gilt auch für die Option der politischen Gesellschaftsgestaltung insgesamt, die schon kritisch erörtert wurde. Der Resonanzverlust der politischen Großorganisationen macht das Regieren in „unsicheren“ Zeiten © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_7
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schwieriger, da sie nur langsam Lernfortschritte machen. „Demokratie ist stark darin, sich kleinschrittig und kontinuierlich an evolutionäre Veränderungen anzupassen. Sie hat sich im Laufe von zwei Jahrhunderten historischer Lernprozesse zweifelsohne zu einem intelligenten System entwickelt – intelligent genug für graduelle Veränderungen. Dagegen sind die Fähigkeiten zum Lernen des Lernens (reflexives Lernen oder Lernen 2. Stufe) und zum strategischen Lernen (reflektiertes Lernen oder Lernen 3. Stufe) wenig ausgeprägt“ (Willke 2014a, 139). Innovationspolitisch orientierte Szenarien für eine neue Landkarte positiver Wohlfahrt werden dementsprechend in der Regierungspolitik kaum behandelt, obwohl über eine Expansion von Dienstleistungen die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft erhöht werden könnte. „Zum einen zeigt sich schon jetzt, dass klassische Dienstleistungsbranchen wie ‚Bildung‘ und ‚Gesundheit‘ in besonderer Art und Weise Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften übernehmen. Zum anderen liegen die Chancen von Dienstleistungsinnovationen gerade in der sektor- und systemübergreifenden Gestaltung von Dienstleistungsprozessen, wodurch neue Handlungs- und Gestaltungsfelder in das Zentrum einer Dienstleistungspolitik rücken. Beispiele hierfür sind hybride Leistungsangebote, bei denen die Produkt- und Dienstleistungsbestandteile hoch integriert angeboten werden oder die Erbringung komplexer Systemdienstleistungen, bei denen sich Gestaltungsoptionen erst durch die Betrachtung der gesamten, branchenübergreifenden Wertschöpfungskette ergeben“ (Ganz et al. 2011, 9; vgl. auch Evers et al. 2011, Cremer et al. 2013 und Schneiders 2020). Anhand der demografischen Herausforderungen (konkret: des Wohnens im Alter) soll kurz auf die Potentiale verkoppelter Versorgungsformen eingegangen werden. Die absehbare deutliche Steigerung des Anteils der älteren Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten macht jedoch die Entwicklung integrierter Versorgungsformen und damit verbunden auch neuer altersgerechter Produkte und Dienstleistungen zu einer dringenden Notwendigkeit, die auch erhebliche ökonomische Chancen bietet (vgl. Heinze et al. 2011). Da die große Mehrzahl der Älteren (auch viele Hochbetagte) möglichst lange im gewohnten Wohn- und Lebensumfeld verbleiben wollen, sind innovative Verbundlösungen zwischen sozialen Diensten, medizinischen Einrichtungen und technischen Assistenzsystemen gefragt, die helfen können, den Lebensalltag in der gewohnten Wohnumgebung zu bewältigen. Die ausgeprägte institutionelle Segmentierung und Differenzierung von Politikfeldern mit spezifischen Spielregeln und Diskursformen erschwert allerdings eine ressort- und sektorenübergreifende Konsensbildung, wie sie für eine nachhaltige, demografisch informierte Pflegepolitik notwendig wäre. Das Feld des „vernetzten Wohnens“ bietet deshalb eine gute Illustration dafür, wie schwierig ein solcher Politikwandel zu realisieren ist.
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Erforderlich wäre im Sinne sozialer Innovationen eine Entgrenzung der traditionellen Altenpolitik, die eng mit der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Wohnungsund Gesundheitspolitik kooperieren müsste. Dies wiederum würde auch eine Transformation der traditionellen Staatlichkeit bedeuten, die nicht mehr von einem „Herrschaftsmonopolisten“ gesteuert werden kann, sondern eine neue, integrierte „Governance“ verlangt. Aufgrund der Pfadabhängigkeit im Feld wohlfahrtsstaatlicher Sicherung sind diese Prozesse allerdings konflikthaft und benötigen Zeit sowie „political entrepreneurs“, ohne die auch nur geringfügige Pfadwechsel nicht zu realisieren sind. Hindernisse werden aber auch bei Innovationen in anderen Subsystemen sichtbar, denn Innovationen implizieren auch immer Unsicherheiten. „Innovation fordert den Abschied von Bewährtem und die Inkaufnahme von Risiken. Innovation ist mit Angst, mit erlebter Unsicherheit verbunden. Blockaden gegen Innovationen sind insofern verständlich und normal. Erfolg in der Vergangenheit ist oft der größte Feind der Innovation. Je erfolgreicher ein Unternehmen in der Vergangenheit war, desto mehr steht auf dem Spiel, desto größer ist das Risiko, dass die Neuheit nicht zum gleichen Erfolg führt. Innovation verlangt die Aufgabe altbewährter Erfolgsregeln und Gewohnheiten“ (Simon 2011, 202). Diese Einschätzung kann direkt auf den Sozialsektor übertragen werden; hier wirken die Beharrungskräfte auf Grund begrenzten Wettbewerbs noch stärker und deshalb sind Kontinuitätsbrüche in der Entwicklung der deutschen Sozialpolitik selten zu verzeichnen und wenn, werden sie zumeist „in der Folgezeit wieder eingehegt und in ihrer Wirkung begrenzt“ (Nullmeier 2019, 19). Theorien zur Policyforschung und auch organisationssoziologische Studien haben Hinweise dafür liefern können, dass Politikentscheidungen in nahezu allen Politikfeldern eben nicht so rational ablaufen wie klassische politische Theorien meinen. „Die angesprochenen Elemente des Entscheidungsprozesses (Entscheidungsgelegenheiten, Probleme, Lösungen und Teilnehmer) befinden sich in keinem festen Zusammenhang mehr, der Entscheidungsprozess weist anarchische Züge auf. Entscheidend ist nicht die sachliche Erfordernis der Problemlösung, sondern der Kontext des Entscheidungsprozesses, also welche und wie viele Entscheidungsgelegenheiten sich bieten, mit welchen Problemen es die Organisation gerade zu tun hat, welche Lösungen sich gerade anbieten, wie die Teilnehmer ihre Aufmerksamkeit und ihre Zeit auf verschiedene Entscheidungen verteilen und wie viel Zeit zur Verfügung steht. Die Koppelung der Elemente des Entscheidungsprozesses kann damit eher als zufälliges Zusammenfließen relativ unabhängiger Ströme beschrieben werde. Dies bedeutet jedoch keine völlige Regellosigkeit, sondern diese vier Ströme werden insbesondere durch Organisationsstrukturen und die soziale Struktur der Gesellschaft kanalisiert“ (Schmid 2011, 329). So geht etwa der „Multiple-Streams-Ansatz“ davon aus, dass es keine systematische Verknüpfung
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zwischen einem Problem und einer bestimmten politischen Entscheidung geben muss; Politik ist deshalb weitaus weniger rational programmiert und liefert auch nicht unbedingt problemlösende Entscheidungen. Es sind verschiedene „Ströme“ (multiple streams) zu unterscheiden, wobei die Ströme relativ autonom agieren und ihre eigene Dynamik und Antriebskräfte haben (vgl. Rüb 2009, Bandelow/Vogeler 2019 sowie die Beiträge in Straßheim/Ulbricht 2015). Folgende zentrale Ströme sind zu unterscheiden: • der Problemstrom mit speziellen focussing events (beispielsweise die demografischen Verlaufsprozesse oder ökologische Gefährdungen) • der Policystrom (oder Optionsstrom), in dem Ideen getestet und mit Interessenorganisationen und Experten diskutiert werden • der Political Stream (Politics-Strom); hier kommt der Zeitgeist dazu, nationale Konfliktkulturen, Machtverteilung der organisierten Interessen, Ideologie der Regierungspartei etc.; zusammengenommen: Bargainingprozesse) Insgesamt ergibt sich das Bild einer tendenziell überforderten Politik, die von verschiedenen Ereignissen getrieben wird und nicht rational und möglichst autonom Probleme löst. Zufälligkeiten (etwa der richtige Zeitpunkt: die „windows of opportunity“) haben in politischen Entscheidungsprozessen eine große Bedeutung. Hat man diese Handlungskontingenzen vor Augen, dann sind auch in der Politik positive Rahmenbedingungen für innovative (weil evidenzbasierte) Resultate eher eine Ausnahme denn die Regel. Sie können zumeist nur gelingen, wenn ein Gelegenheitsraum zur Verfügung stand und „political entrepreneurs“ die Entscheidungen klug vorbereitet und umgesetzt haben. Denn in allen westlichen Ländern gibt es eine Vielzahl von Vetospielern, die „Ziele und Maßnahmen der politischen Steuerung verhindern, weshalb sie oft in Kompromissen abgeschwächt werden. In Phasen des politischen Prozesses, angefangen von der Definition der Agenda bis hin zur Implementation, können an verschiedenen Vetopunkten immer neue Hürden auftreten. Im Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit und Wählerstimmen tendieren Parteien dazu, kurzfristige Interessen zu unterstützen, selbst wenn dies langfristigen Zielen entgegenwirkt“ (Benz/Czada 2019, 246). Aus Sicht der „Multiple-Streams-Ansätze“ oder von Ansätzen zu mikropolitischen Anarchien werden die in den meisten politischen Organisationsstrukturen noch immer dominierenden Vetopositionen besser verständlich. Dies soll nicht heißen, Veränderungen generell auszuschließen, allerdings sind Ermöglichungsräume und oft auch „politische Unternehmer“ erforderlich, um diese durchzusetzen. Es werden auch einige Regeln genannt, um die Erfolgsaussichten strategischer Interventionen zu erhöhen, etwa die Zahl der diskursiven Veto-
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Elemente und die Distanz zwischen ihnen zu verringern (vgl. Nullmeier 2008, 165). Bevor Überlegungen zur strukturellen Schwächung von Vetopositionen vorgetragen werden, die gerade in einer „frozen welfare state landscape“ (EspingAndersen 1999) wie dem deutschen Sozialstaatsmodell angebracht sind, sollen zunächst die Vielfalt und Funktionsweisen der gemeinnützigen Sozialformationen analysiert werden. Auch Hemmfaktoren sind zu problematisieren, wozu neben bürokratischen Regulierungen auch die Frage zählt, wie die Akzeptanz selbstorgansierter, gemeinwohlorientierter Initiativen in einer singularisierten Gesellschaft erhöht werden kann. Wenn auch die netzwerkartige Verkoppelung unterschiedlicher Steuerungsmodi neue Problemlösungskompetenzen freisetzen kann, soll damit nicht ein Rückzug des Staates eingeläutet werden. Es geht vielmehr um die Komplementarität zwischen einer ermöglichenden Politik, einer verantwortungsbereiten und nachhaltigen Wirtschaft und kollektiv-solidarischen Organisationsformen, die die Thesen zur Notwendigkeit einer neuen Infrastrukturpolitik konkretisieren kann. Eine solche nutzensteigernde Schnittstellendynamik zwischen dem Staat und außerstaatlichen Akteuren bildet sich bislang nur in Konturen ab, allerdings besteht angesichts einer zunehmenden Skepsis gegenüber simplen Ökonomisierungsstrategien derzeit die Chance, solche sozialinvestiven, nutzensteigernden Strategien stärker in die politischen und wissenschaftlichen Diskurse einzubringen. Die Ausbreitung ist jedoch bislang kein Selbstläufer, sondern braucht politische Unterstützung. Angesichts der offensichtlichen Blockaden der ritualisierten Politik werden derzeit auch alternative Politikmodelle nicht nur in den Protestbewegungen gefordert und es gilt deshalb, einerseits die Lösungspotentiale gemeinwirtschaftlich ansetzender Konzeptionen zu demonstrieren als auch Brücken zu der offiziellen Politik zu bauen. Hier kann an dem Wandel des Typus politischer Steuerung in den letzten Jahren angesetzt werden; staatliche Akteure nutzen bewusst und intensiver die selbstregulativen Potentiale in den einzelnen Sektoren. Politiktheoretische Argumentationen sprechen in diesem Kontext von einer „Zerfaserung“ der Staatlichkeit; private Verantwortungsstrukturen treten neben den Staat (vgl. Heinze 2009). Sichtbar wird ein kooperativer Verhandlungsstaat, der durch die Einbeziehung gesellschaftlicher Institutionen neue Steuerungsressourcen und damit Handlungsoptionen zu erschließen hofft. Insbesondere vor dem Hintergrund der öffentlichen Verschuldungen und dem Trend zum „Konsolidierungsstaat“ (Streeck 2013) sind solche Handlungsoptionen bedeutsamer geworden. Derartige auf kollektive Nutzensteigerung hin orientierte Innovationen zeigen sich zumeist erst in hybriden Organisationskonzepten (vgl. Grohs et al. 2014) und sind experimentell ausgerichtet. Es ist daraus zwar noch kein neues Leitbild entstanden, aber es entwickeln sich so „im Schatten“ strategische Lösungen für selbststeuernde Gemein-
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schaften (wie Bürger- und Energiegenossenschaften, Freiwilligenagenturen, Dorfläden und Quartiersbüros, Mitmachhäuser, Bürgerstiftungen etc.), die insgesamt dem sozialen Wandel ein neues Gesicht geben. Da in Deutschland der Erwerbsstatus bei der Absicherung sozialer Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder auch im Alter weiterhin die zentrale Rolle spielt, sind hybride Erwerbsformen allerdings strukturell benachteiligt. Folglich stellt sich die Frage, wie diese neuen Erwerbsformen institutionell besser geschützt und in die Systematik der sozialen Sicherung einbezogen werden können. „Die Herausforderung liegt in einer institutionellen Unterstützung von Bewältigungspraxen diskontinuierlichen Erwerbs, welche die Risiken von Handlungsoptionen im Kontext von Haushaltsbezug und biografischer Entwicklung systematisch reduziert, ohne das Gestaltungsspektrum auf die normativen Leitvorstellungen der Normalitätstypen von Arbeitnehmer- oder Unternehmertum zu beschränken. Die Aufgabe liegt im Entwurf einer institutionellen Gestaltungsperspektive von Erwerbstätigkeit, welche die Gesamtheit der Erwerbsformen umfasst, auf ihre jeweiligen Besonderheiten abgestimmt ist und zugleich die Möglichkeit ihrer synchronen oder diachronen Kombination unterstützt“ (Pongratz/Bührmann 2018, 72; vgl. auch Fachinger 2018). Aber nicht nur die Arbeitslandschaft wird zunehmend durch Zersplitterungen geprägt, die eine kollektive Steuerung erschweren. Als ein wesentlicher Motor für die Erosion kollektiver Arbeitsbeziehungen kann die Digitalisierung gekennzeichnet werden und diese dringt über digitale Netzwerke wie Facebook und WhatsApp immer stärker in die Alltagskultur vieler Menschen ein. Dass die Digitalisierung nicht nur zu einer Vertiefung der Singularisierungen und einem „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2018), sondern auch zu einer Revitalisierung kooperativer Netzwerke führen kann, demonstrieren allerdings die Open-SourceInitiativen (etwa Tauschbörsen), die die digitalen Techniken nutzen, um damit die gesellschaftliche Ordnung (manchmal unbewusst) in Richtung kooperativ organisierter Formen des Zusammenhandelns zu verändern. Die digitalen Vergemeinschaftungsformen sehen sich allerdings zumeist als Zweckverbünde, die je nach Bedarf über digitale Medien auf einen Pool an Engagierten zugreifen und hierbei auf eingespielte Muster der digitalen Koordination zurückgreifen können. Durch die gegenseitige Durchdringung von Individualisierungs- und selbstreferentiellen Digitalisierungsprozessen droht deshalb die Gefahr der Vereinzelung, wenn nicht sogar Vereinsamung. Die sich sozial gebenden Netzwerke (wie bspw. Facebook) sind eben nicht global villages, sondern eher Sonderwelten, die sich jenseits der traditionellen Organisationsstrukturen ausdehnen. Allerdings sollten diese Tendenzen näher empirisch überprüft werden, denn neben den Isolationsgefahren gibt es auch viele Hinweise auf eine Steigerung des sozialen Zu-
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sammenhalts durch digitale Medien. Polarisierende Einschätzungen helfen hier nicht weiter, es ist auf die Notwendigkeit der Forschung hinzuweisen. Zudem sollten die Wirkungsmächte der neuen Medien nicht verabsolutiert werden, sondern in den historischen Rahmen eines Strukturwandels der Öffentlichkeit integriert werden. „Der Buchdruck hat alle Nutzer zu potenziellen Lesern gemacht, auch wenn es noch drei bis vier Jahrhunderte gedauert hat, bis im Prinzip alle lesen konnten. Nun haben die sogenannten ‚neuen Medien’ alle Nutzer zu potenziellen Autoren gemacht – und wie die Nutzer der Presse erst lesen lernen mussten, muss auch die Nutzung des neuen Mediums gelernt werden. Das wird vergleichsweise sehr viel schneller gehen, aber wer weiß, wie lange es dauern wird“ (Habermas 2020, 27). Manche Soziologen sprechen in diesem Kontext von einer Neuvermessung der Gesellschaft, die sich zunehmend granularisiert und durch Sensoren und Netzwerke ein „hochaufgelöstes“ Gesellschaftsbild produziert. „Die Granularisierung sorgt dafür, dass wir sozial neu sortiert, bewertet, verglichen – und durchschaut werden. Denn im zu den feinauflösenden Daten ist unser Leben ziemlich grobkörnig, was es erlaubt, präzise Vorhersagen über unser Verhalten zu treffen. Wir werden nicht mehr wie in der Moderne ausgebeutet, sondern ausgedeutet“ (Kucklick 2015, 11). Diese subtilen Formen der Kontrolle wurden in westlichen Gesellschaften zumeist im Feld der Selbstvermessung (Lifelogging) angewandt. Die durch die Digitalisierung vorangetriebenen feinkörnigen Vermessungen können zwar einerseits individuelle Risiken aufspüren und maßgeschneiderte Diagnosen und Therapien anbieten, andererseits werden durch die Granularität und mögliche Datenauswertungen auch vielfältige Kontrollmöglichkeiten eröffnet (etwa für Krankenkassen, die genaue Informationen über den Lebenswandel ihrer Versicherten erhalten, die sie sicherlich in neue Tarifstrukturen einfließen lassen werden). Solche statistischen Diskriminierungen sind in Deutschland zwar gesetzlich verboten, dennoch weisen sie auf grundlegende sozialstrukturelle Wandlungsprozesse hin, die in Richtung einer vertiefenden Fragmentierung laufen. „Damit setzt sich ein defizitorientiertes und primär quantifizierendes Organisationsprinzip des Sozialen durch: Durch die Allgegenwart von Vermessungsmethoden kommt es zu ständiger Fehlersuche, sinkender Fehlertoleranz und gesteigerter Abweichungssensibilität anderen und uns selbst gegenüber. Große Bereiche des Lebens, die sich nur in qualitativen Dimensionen abbilden lassen und zugleich die Grundlage für positive soziale Wahrnehmungen sein könnten, geraten in den Hintergrund. Der ganze Mensch und seine Würde geraten aus dem Blick. Menschen werden insgesamt zu numerischen Objekten. Im statistischen Universum gibt es weder eine handelnde noch eine leidende Persönlichkeit. Was dann passiert, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir sind Zahl. Mathematische Metho-
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den zerreißen den organischen Zusammenhang des Lebens“ (Selke 2016, 325; vgl. auch Mau 2017). Der mit dem Self-Logging verbundene Aspekt der Ressourcensteigerung durch digitale Techniken ist sicherlich als ein weiterer Schritt zur „Verdinglichung des Selbstverhältnisses“ zu markieren, allerdings erlauben die neuen Sensortechniken in Verbindung mit der Verknüpfung von Technologie und Biologie bzw. Biochemie aber auch neue Wege zur effizienten Prävention und zu besseren Behandlungsmethoden (etwa wenn bei Diabetikern durch eine Kontaktlinse der Blutzuckerspiegel gemessen wird oder die Messung der Vitalwerte bei kritischen Zuständen schnelle Hilfe ermöglicht). Diese Ambivalenzen gekoppelt mit der Flut an neuen digitalen Optionen verunsichert einerseits viele Menschen; und deshalb ist es kein Wunder, dass immer stärker vom „erschöpften“ Selbst als gesamtgesellschaftliches Phänomen und einer risikoscheuen Gesellschaft gesprochen wird. Andererseits erlebt die Digitalisierung eine starke Resonanz in der Bevölkerung und vor allem in den Medien, weil sie auch spektakuläre Innovationen präsentieren kann. „Eine schlaue Digitalisierung kann neue Geschäftsfelder erschließen in der Marktwirtschaft wie in der Tauschwirtschaft, kann die Produktivität steigern, Arbeitsplätze schaffen für Millionen von Leuten. Und eine grüne, ökologische Gesellschaft implementieren“ (Rifkin 2015; vgl. auch ders. 2014). Im Krisenmodus, wie er mit der Pandemie 2020 verbunden war, wurden die Ambivalenzen der Digitalisierung ebenfalls deutlich: neben den positiven Effekten hinsichtlich digitaler Bildungsangebote und telemedizinischer Verfahren wurden nun auch die Kontrollmöglichkeiten von der Regierungspolitik in manchen Ländern genutzt, um bspw. Bewegungsprofile auszuwerten. Diese Beispiele verweisen auf die mit der Digitalisierung und der damit verbundenen Granularisierung möglich gewordenen Vulnerabilitäten (Verletzbarkeiten), aber auch den Optionssteigerungen sowohl in der Wirtschaft als auch bei der Bewältigung von Krankheiten und Epidemien. „Diese Orientierung an feiner und kleiner gekörnten Besonderheiten ist keinesfalls mit Individualisierung, Personalisierung oder Vereinzelung deckungsgleich: An die Stelle von Ähnlichkeiten, allgemeinen Mustern oder Standardmodellen treten Zuschnitte unterschiedlicher Granularität von der Orientierung an der Losgröße 1 für Produkte smarter Industrien über einzigartige Krankheitsprofile bis zu variablen Clustern fein figurierter Bewegungs-, Konsumoder Meinungsprofile“ (Passoth/Rammert 2019, 153). Das Bild bleibt ambivalent, klar ist die Richtung: Das Persönliche gewinnt immer mehr an gesellschaftsgestaltender Kraft. „People are focused on personal health, spiritual health, wellness, diet, living longer and the vast related matter of the health of the planet. Zen, yoga and the soul have trumped the means of production. Of course, wellness raises the issues of climate change and energy
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consumption, questions that have political content but are not political at their core. The political century has given way to the personal century” (Cohen 2015, 2; vgl. auch Heinze/Hilbert 2016). Nach Streeck führen insbesondere die neuen digitalen sozialen Medien „zu einer Art sozialer Integration, die ein kombiniertes Gefühl individueller Einzigartigkeit und kollektiver Identität in einer Gemeinschaft von Kunden entstehen lässt, die durch den Konsum kontinuierlich ‚verbesserter’ individualisierter Waren vereint sind. So gesehen tritt der Konsumerismus ebenso wie der Karrierismus an die Stelle der traditionellen, im Prozess der Landnahme erfolgreich diskreditierten Statuszuweisungen außerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft“ (ders. 2019a, 36). Die widersprüchlichen Aussagen zu den gesellschaftlichen Folgewirkungen der Digitalisierung beherrschen die Debatte in Deutschland, die zumeist entweder Technikoptimisten („digitale Revolution“) oder Pessimisten („digitale Diktaturen“) kennt. Abwägende Studien, die Vor- und Nachteile der neuen Digitalisierungswelle untersuchen, die inzwischen nicht mehr primär als „Hype“ zu bezeichnen ist, sondern alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche durchdringt, sind kaum aufzufinden. Dennoch sind die sozialstrukturellen Folgen neuer digitaler Geschäftsmodelle wie etwa Airbnb (also der digitalen Vermittlung von Unterkünften abseits der Hotelszenerie) schon heute spürbar32, indem Wohnraum- und Stadtstrukturen verändert werden. Und auch im politischen Raum bilden sich neue digitale Netzwerke (oft in Verbindung mit sozialen Protesten), die auf politische Entscheidungsprozesse einwirken. Man denke sowohl an die „Fridays for Future“-Bewegung als auch an weitere Proteste für einen schnelleren Energiewandel oder die Bauernproteste im Herbst 2019/Winter 2020, die stark über digitale Medien organisiert wurden. Da es sich bei der Digitalisierung um fundamentale und alle Bereiche umfassende Veränderungsprozesse handelt, die zudem langfristige Folgewirkungen zeitigen, ist die Politik aufgerufen, diese Wandlungsprozesse, wenn nicht zu steuern so doch für sie Leitplanken einzuziehen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht die Gefahr einer systemischen Überforderung der Politik besteht, da das politische Steuerungsregime ohnehin durch die wachsenden gesamtgesellschaftlichen Individualisierungsansprüche geschwächt ist. Am Thema „Flüchtlinge“ zeigt sich, wie eine gereizte „Empörungsgesellschaft“ mit neuen Herausforderungen um32 „Zwei Unterscheidungen digitaler Marktplätze sind hierhilfreich: Einerseits lassen sich grob digitale Marktplätze für „Arbeit“ und für „Kapital“ unterscheiden. Marktplätze für Arbeit bieten Plattformen für Anbieter spezifischer Aufgaben, wie beispielsweise Uber, mytaxi, TaskRabbit oder Foodora. Marktplätze für Kapital sind Plattformen auf denen Eigentum verkauft oder vermietet wird, wie beispielsweise eBay oder Airbnb, aber auch Booking.com“ (Kirchner 2019, 9); vgl. zur digital aufgerüsteten Sharing Economy auch Busch et al. 2019.
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geht. In dieser „nervösen“ Gesellschaft geht die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen gerade durch das Internet zurück; in Blogs werden zumeist nur Überzeugungen ausgetauscht. Für die Steuerung solcher Gesellschaften bedeutet dies, dass klassische hierarchische Ordnungsprinzipien immer weniger greifen und neue Organisationsarchitekturen (Netzwerke, flache Hierarchien, teilautonome Gruppen) an Bedeutung gewinnen. Damit werden zentrale Fragen nach der Steuerungsfähigkeit nicht nur sozialer Infrastrukturen, sondern insgesamt einer politischen Gesellschaftsgestaltung aufgeworfen. Nach Ansicht vieler Beobachter hat sich die deutsche Gesellschaft seit Jahren fast unmerklich in eine „Stagnationsgesellschaft“ gewandelt, in der sich Rationalitätsversagen und Organisationsblockaden anhäufen und damit kreative Steuerungsversuche vor erhebliche Probleme stellen. „Eine Generalstrategie der Abwendung oder Auflösung von Organisationsblockaden gibt es nicht. Vielmehr müssen sich die in eine Blockadekonstellation verstrickten Akteure, unter Mithilfe von außen, durch vielerlei situativ angemessene Praktiken problembezogenen Copings zu helfen versuchen, wobei zur Erfolgswahrscheinlichkeit nur so viel gesagt werden kann: Sie ist zumindest größer als Null“ (Schimank 2011, 177). Da es gerade bei dem hoch entwickelten, aber fragmentierten und passiv ausgerichteten deutschen Wohlfahrtsstaatsmodell bei Reformbemühungen um politische Gewichtsverschiebungen geht, sind die Verteidiger des Status quo schnell zu organisieren. Kollektive Rationalität im Sinne von Zukunftsfähigkeit herzustellen, wird für die politischen Akteure immer schwerer. Reformsemantiken, die seit Jahren die politische Bühne beherrschen, wirken sogar demobilisierend. Hinzu kommt das Phänomen der Übersteigerung von Risiken; anstatt einer nüchtern-rationalen Problemabwägung neigt die deutsche Öffentlichkeit eher zu panischen Diskursen, was sicherlich auch an den digitalen sozialen Medien liegt, die vor allem bei Risikothemen enorme Wirkungen erzeugen können. Deshalb besteht die Gefahr, dass wir uns zunehmend in Richtung einer Gesellschaft des Abwartens und „Nurnoch-Coping“ bewegen: Was die Akteure „zu vermeiden suchen, sind Entscheidungen, die den Status quo auf riskante Weise weitreichend verändern. Sie ‚verwalten’ – wie es unberechtigterweise abschätzig heißt – den deplorablen Status quo, weil sie entweder nicht wissen, wie ein besserer Zustand aussähe, oder sie keinen halbwegs sicheren Weg dorthin kennen“ (Schimank 2019, 206).33 Diese Beschreibung ist für extreme Gefahrensituationen, wie sie etwa mit 33 Streeck sieht vor dem Hintergrund mangelnder Systemintegration eine wachsende Überforderung der Individuen, die eigene Lebensgestaltung zu organisieren, zumal die kollektiv-solidarische Handlungsfähigkeit obsolet geworden ist. „Coping verbindet sich mit einer sozialen Konstruktion des Lebens als fortgesetzte Prüfung von Aus-
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der Ausbreitung des Coronavirus Anfang 2020 verbunden sind, zu relativieren. Hier hat die Regierung drastische Maßnahmen unternommen, um die Ausbreitung zu reduzieren. Obwohl die Vielzahl und Intensität der Disziplinierungsmaßnahmen das öffentliche Leben in vielen Bereichen auf die häusliche Gemeinschaft zurückfuhr, um die gesundheitlichen Risiken einzudämmen, zeigte sich kaum Kritik an der staatlichen Autorität. Sogar die Einschränkung von Grundrechten wurde in der ersten Phase hingenommen, ohne dass sich „Wutbürger“ positionierten, die sonst bei weitaus weniger Zumutungen zum Protest aufrufen. Je länger der Ausnahmezustand anhält, umso schneller wird aber die konfliktfreie Zeit zu Ende gehen. Sowohl die Rückbesinnung auf das soziale Nahumfeld als auch die Nutzung digitaler Optionen können jedoch insofern Lernprozesse auslösen, als dass eine Phase der Entschleunigung mit experimentellen Gestaltungsformen die Sinnhaftigkeit traditioneller Pfade der Lebensgestaltung zur Disposition stellt. Wir haben eingangs schon auf die Revitalisierung von Solidarität, aber auch die Ausbreitung von Home-Offices hingewiesen. Hierüber können neue Handlungsspielräume für eine bessere Work-Life-Balance laborhaft erfahren werden (aber auch notwendige Rahmenbedingungen) – allerdings zeigen sich deutliche soziale Unterschiede und in einigen Fällen sogar eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Vor dem Hintergrund der denkbaren Optionssteigerungen ist nicht mehr pauschal von einer unbeweglichen Politik und einem starren Gestaltungspessimismus zu sprechen, vielmehr können sich graduelle Transformationen herauskristallisieren. Allerdings helfen dabei keine Masterpläne oder die Abarbeitung von Partei- und Wahlprogrammen, sondern institutionelle Innovationen, die aus Experimenten hervorgehen können. Nicht nur die Krisenerfahrungen, sondern auch die sozialen Proteste sowie ein in letzter Zeit intensivierter Parteienwettbewerb und neue variable Koalitionsmuster, könnten auch wieder die als verkrustet beschriebenen Volksparteien dadurch auf sich aufmerksam machen, dass wenigstens innovative programmatische Entwürfe in der Öffentlichkeit platziert werden. Im Feld der sozialen Sicherung würde dies bedeuten, eine aktive Umgestaltung anzustreben, um diesen Systemen – als eine Antwort auf die durch den gesellschaftlichen Wandel fortschreitenden Individualisierungs- und Entkollektivierungsprozesse – mehr Flexibilität zu verleihen („Flexicurity“). Das gleiche gilt für die Herausforderungen des Klimawandels oder des demografischen Wandels, die in der Politik bislang z. T. nur schemenhaft aufgegriffen werden (etwa in dauer, Ideenreichtum, Erfindungsgabe, Geduld, Optimismus und Selbstvertrauen – einer selbstkultivierten Fähigkeit, dem gerecht zu werden, was zu einer gesellschaftlichen Verpflichtung geworden ist: aus eigener Kraft und unentwegt frohgemut mit Widrigkeiten zu kämpfen“ (ders. 2019a, 33).
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demografischen Fragen) oder zu Gesetzgebungen führen, wie bei der Energie- und Klimathematik, die kaum real umgesetzt werden. Gemeint ist hier jedoch nicht die üblicherweise periodisch anstehende Erarbeitung eines Parteiprogramms, sondern eher das, was früher unter einer politischen Utopie verstanden wurde. „Narrationen erzählen vom Weg, den man geschafft hat, von dem, was man noch schaffen will und was unmöglich ist, weil die Kosten zu hoch und die Verluste zu groß sind. Sie vermitteln zwischen Sein und Sollen, Herkunft und Zukunft, rationaler Argumentation und emotionaler Berührtheit. Sie können motivieren und mitreißen, enthusiasmieren, jedenfalls berichten, welche Hindernisse man überwunden hat und welche noch vor einem liegen“ (Münkler 2010, 55; vgl. auch Münkler/Münkler 2019). Die Einbringung solch konstruktiver Ideen zur Revitalisierung der Parteien ist mehr als angebracht, zumal weiterhin trotz aller Verlagerung politischer Proteste und des tendenziellen Verlustes traditioneller Legitimationsverfahren Parteien die entscheidenden Hebel in politischen Auseinandersetzungen bleiben werden. Narrative Erzählungen können sicherlich mithelfen, das kreative Steuerungspotential von Politik wieder zu entfalten, um so einen Resonanzboden für eine politische Reformkommunikation aufzubauen. Jede Reformpolitik erfordert eine größere Vision, um politisch umsetzbar zu sein. Gerade wenn die Domänen der jeweiligen am Reformprozess beteiligten Organisationen bedroht sind, breiten sich nicht sofort kreative Lernprozesse aus, eher beharrt man auf alten Ansichten. Hinzu kommt, dass Reformen gegenwärtig nicht nur in Deutschland mehrheitlich kritisch gesehen werden, der gesamtgesellschaftliche Minimalkonsens hinsichtlich der Reformbedürftigkeit hat sich merklich abgekühlt. Das Vertrauen in die staatliche Reformpolitik ist in der Bevölkerung weitgehend verschwunden, Reformenttäuschung hat sich in vielen Fällen ausgebreitet. Dies mag schon vor der Coronapandemie an der gewachsenen Verunsicherung gelegen haben, die durch die globale Finanzkrise erlebt wurde. Wenn zudem andere existenzielle Erschütterungen und Ungewissheiten subjektiv immer näher rücken und die bisherige staatliche Reformpolitik in vielen Fällen bürokratisch gängelnd wirkt, verblassen Reformdiskurse schnell. Hinzu kommt, dass Reformen zumeist – gerade in Großen Regierungskoalitionen – nicht als große Entwürfe präsentiert werden können, da sie stark durch Kompromisse geprägt sind. So verblassen dann auch manche Reformen aus der letzten Legislaturperiode, obgleich sie durchaus vorzeigbar wären. „Die Jahre 2013 bis 2017 waren keineswegs von Reformstau geprägt, es wurde durchaus eine ganze Reihe von zentralen Reformen durchgesetzt – etwa in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, man denke an den Mindestlohn, oder der Rechtspolitik, etwa in Form der Ehe für alle und der Anpassungen bei der doppelten Staatsbürgerschaft“ (Zohlnhöfer 2019, 651).
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Dennoch sollte der Versuch unternommen werden, einerseits die Wurzeln der Fundamentalökonomie in Deutschland wieder hervorzuheben und andererseits diese Steuerungspotentiale mit den neu entstandenen partizipatorischen Institutionen und der gewachsenen Zivilgesellschaft zu verknüpfen. Wenngleich durchaus Abweichungen von den klassischen gemeinnützigen Organisationen festzustellen sind, wachsen vor dem Hintergrund der globalen Transformation selbstorganisierte Bewegungen und Alternativprojekte. Solidarökonomische Ideen gewinnen an Überzeugungskraft und es finden sich in vielen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesen, der Energie- und Wasser- sowie der Lebensmittelversorgung neue kooperative und zumeist dezentral ansetzende Lösungen. Insofern hat sich das Repertoire dynamischer Optionen für eine gesellschaftliche Kontextsteuerung in den letzten Jahren durchaus erweitert. Im nächsten Kapitel werden die Ressourcen der Zivilgesellschaft anhand des feststellbaren Engagements und dessen Wandel näher diskutiert.
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In den letzten Jahren erlebten sowohl das reale Engagement als auch die Diskurse darüber einen Aufschwung. Neue selbstorganisierte Initiativen breiteten sich aus, die Organisation des Gemeinwesens differenzierte sich so insgesamt aus und neben die Bühnen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie traten „Gegen-Demokratien“. Rosanvallon kritisiert in diesem Kontext den „Mythos vom passiven Bürger“ (ders. 2017, bes. 23ff.), wobei sich die partizipativen, „gegen-demokratischen“ Formen zumeist als Gegenmodell zu den etablierten Routinen der traditionellen politischen Organisationen verstehen, denen vorgeworfen wird, inhaltlich und organisatorisch in vielen gesellschaftlichen Themenfeldern „ausgehöhlt“ zu sein. Kritik an den traditionellen politischen Organisationen kommt aber auch von anderer Seite. Derzeit wird am Beispiel des Rechtspopulismus in allen westlichen Ländern ein erhebliches Misstrauensvotum gegenüber dem politischen System deutlich. Diese verminderte Ausstrahlungskraft der Parteienpolitik ist nicht nur über die Erosion der soziokulturellen Milieus zu erklären, sondern auch auf die Entstandardisierung und Prekarisierung von beruflichen Lebensläufen zurückzuführen. Immer mehr Individuen (gerade jüngere Erwerbspersonengruppen) – auch aus der gesellschaftlichen Mitte – stehen unter dem permanenten Zwang, Ökonomisierungslogiken gerecht zu werden. Erwartungssicherheiten und Optionen für eine Beteiligung an politischen Organisationen gehen zurück, während neue Anforderungen durch die Globalisierung und Flexibilisierung der Arbeit an das Selbstmanagement und die Kontrollfähigkeit wachsen. Wenn es zur Aufgabe der Individuen gehört, sich selbst zu managen, geht das Vertrauen in die traditionellen Politikinstitutionen zurück. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_8
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Demgegenüber wächst das Engagement in überschaubaren, dezentralen Gruppen, die sich explizit eine Gemeinwohlorientierung auf die Fahnen schreiben und auf eine Politik der sozialen Integration und ökologischer Nachhaltigkeit setzen. Verbunden damit ist eine abnehmende Bereitschaft zur Übernahme eines langjährigen und verpflichtenden Ehrenamtes in den traditionellen Sozialorganisationen zu konstatieren. Das traditionelle Ehrenamt wird zunehmend ergänzt und zum Teil sogar abgelöst durch spontanes, kurzfristiges, situatives, organisationsungebundenes und projektförmiges Engagement, das subjektiv sowohl Sinn stiften als auch Spaß machen soll. Zwar weisen empirische Daten (u. a. des Freiwilligensurveys: Simonson et al. 2016) auf eine konstant hohe Engagementquote hin (rund 44 % der deutschen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren sind demnach in irgendeiner Form freiwillig engagiert), jedoch ist eine Ausdifferenzierung der Engagementlandschaft zu beobachten. So kann von wachsendem Engagement bspw. in Vereinen ausgegangen werden; aktuelle Surveys (etwa „Zivilgesellschaft in Zahlen“) sprechen von rund 600.000 Vereinen in Deutschland, die ein Zentrum bürgerschaftlichen Engagements bilden. Fast jeder Zweite ist damit in Deutschland Mitglied in einem Verein und jährlich kommen neue zivilgesellschaftliche Organisationen hinzu. Trotz Schrumpfungen in einzelnen Sparten des Vereins- und Verbändewesens demonstriert diese Entwicklung eine hohe Dynamik in anderen Feldern sozialen Engagements. Vieles spricht dafür, dass der Zivilgesellschaft und dem Nonprofit-Sektor „eine wichtige Rolle zukommt, und zwar zum einen als Raum sowohl des Protests über Missstände als auch des Diskurses über alternative Wege sowie zum anderen als „Labor“ zur Erprobung neuer Ideen und Ansätze der sozialen Dienstleistungserstellung, die zunächst „im Kleinen“ bzw. in der Zivilgesellschaft im Hinblick auf ihre Praxistauglichkeit und Skalierbarkeit ausprobiert werden“ (Freise/Zimmer 2019, 5; vgl. zur Entwicklung und den Wirkungen des „Dritten Sektor“ in verschiedenen europäischen Ländern die Beiträge in Enjolras et al. 2018 ). Diese sozialintegrative Funktion zivilgesellschaftlicher Organisationen soll nicht die „dunkle“ Seite der Zivilgesellschaft ausblenden; Walter (2018) spricht von der „Janusköpfigkeit“ und verweist auf antiliberale Strömungen, wie sie sich etwa bei Pegida zusammenfanden. Auch historisch firmieren unter dem Label der Zivilgesellschaft antidemokratische Organisationen, die in der Endphase der Weimarer Republik den Aufstieg des Nationalsozialismus unterstützten. Dies soll nicht bestritten werden, allerdings sind die direkten Parallelen zu den selbstorganisierten Initiativen von heute und die Beschwörung von Gefährdungen für die Demokratie überzogen. „Die Addition von einzelnen Selbstorganisationen kann auch eine tribalistische, eine ganz und gar ungleichzeitige, höchst spannungsreiche, in Krisenzeiten gar antagonistisch gespaltene Gesellschaft hervorbringen,
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in der selbständige Bürgerzusammenschlüsse sich in rivalisierender Konkurrenz einander gegenüberstehen, sich möglicherweise brüsk befehden, aber keineswegs den vielzitierten, von allerlei Stiftungen und Ministerien herbeigewünschten „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ garantieren“ (Walter 2018). So wichtig der Verweis auf die Schattenseite der Zivilgesellschaft ist, so überzogen werden hier mögliche Gefahren konstruiert. Und auch der Hinweis auf die angeblich „unsichtbare Hand des selbstorganisierten dritten Sektors“ bei den Protagonisten („Bürgergesellschaftern“) suggeriert Bedrohlichkeit, ist allerdings real in den Argumentationsmustern zivilgesellschaftlicher Organisationen kaum aufzufinden. Zudem wurde auf die Schattenseiten und Ambivalenzen der Zivilgesellschaft auch von anderen Sozialwissenschaftlern explizit hingewiesen und hervorgehoben, wie wichtig die normative Orientierung der gesellschaftlichen Akteure und deren soziale Einbettung ist. Gleichzeitig wird die Ausweitung und Politisierung der Zivilgesellschaft, die sich in den letzten Jahren auch in Deutschland beobachten lässt, betont (vgl. Grande 2018). Über dieses Sozialkapital wurde zwar historisch in vielen Konstellationen der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt, aber es gibt auch Beispiele, wo der Rückzug in geschlossene Milieus die Demokratie gefährdete. Deshalb sollte genau beobachtet werden, ob und wie zivilgesellschaftliche Organisationen wie bspw. die Feuerwehr oder Sportvereine durch rechtspopulistische Akteure unterwandert werden. Beispiele aus anderen Ländern und auch ein Rückblick in die Weimarer Republik weisen auf die Zerklüftungen der Zivilgesellschaft hin, in deren Nischen auch rechtsradikales Gedankengut aufzufinden ist. Und auch hier ist wieder auf die sozialräumlichen Fragmentierungsprozesse hinzuweisen, die Unterwanderung in die traditionellen zivilgesellschaftlichen Organisationen gelingt dort am besten, wo es sich um „abgehängte“ Sozialräume handelt. „Wenn Verwaltungs-, Verkehrs- und Gesundheitsleistungen ausgedünnt wurden (und man kilometerweit zum nächsten Rat- und Krankenhaus fahren muss), wird das Feld dafür bereitet, dass in analogen wie digitalen Echokammern das Ressentiment blüht. Die Reparatur dieser Infrastrukturen im Hinterland wie in abgehängten Zentren ist eine wesentliche Voraussetzung für die Bewahrung und Wiedergewinnung von Zivilität“ (Leggewie/Evers 2020). Neben der Vielgestaltigkeit sind in vielen Formen zivilgesellschaftlicher Initiativen und auch des informellen sozialen Engagements soziale Selektivitäten unübersehbar. Hinsichtlich der zivilgesellschaftlichen Teilhabe belegen bspw. unsere empirischen Ergebnisse zum sozialen Engagement im Ruhrgebiet soziale Ungleichheiten: Personen mit einer höheren Ausstattung an Ressourcen – sprich einem höheren Bildungsabschluss oder einem höheren Einkommen – sind häufiger sozial engagierter als Personen, deren Ressourcenausstattung vergleichsweise
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schlechter ausfällt (vgl. Beckmann et al. 2019). Vor dem Hintergrund der sozialen Selektivitäten (man kann dies durchaus als Schwachstelle der Zivilgesellschaft bezeichnen) kann die These formuliert werden, dass dem sozialen Nahraum eine wichtige Bedeutung zukommt, da sich für die Unterschicht fast ausschließlich hier Anknüpfungspunkte für Engagement und Aktivität finden. Insgesamt zeigt sich über alle Milieus hinweg, dass die Aktivitäten im nahräumlichen Umfeld deutlich höher sind als „formale“ Engagementstrukturen. Damit werden die Thesen zum Strukturwandel des Engagements, die schon vor 20 Jahren formuliert wurden (vgl. die Beiträge in Heinze/Olk 2001), empirisch bestätigt. Das Engagement ohne festgefügte und auf Langfristigkeit programmierte Organisationen wächst, während viele der traditionellen Vereine und Sozialorganisationen über Mitgliederverluste klagen. Die Erfolgsaussichten für gesellschaftliche Integration liegen in eher informellen Teilhabestrukturen deutlich höher als über „klassische“ Organisationen wie politische Parteien, Verbände und Vereine. Die gerade in letzter Zeit sich formierenden Protestbewegungen, insbesondere auch unter jungen Leuten, demonstrieren, wie schwierig es ist, aus aktuellen Umfragen und daraus abgeleiteten Zustandsbeschreibungen (etwa zu Fragen der politischen Partizipation) generelle Trends abzuleiten. So wurden noch vor kurzem wachsende Rückzüge in den Privatbereich durch die massenhafte Verbreitung digitaler Medien konstatiert, die einerseits bei vielen (gerade jungen) Personenkreisen zur Angst führt, etwas zu verpassen. Andererseits schien die „Dauervernetzung“ aber auch immer stärker zur Belastung zu werden und man sehnte sich nach intimeren, authentischen Beziehungen. Nicht umsonst macht sich bspw. auch in Deutschland ein Hype um „Hygge“ (Wohlbefinden) oder einen Rückzug in Behaglichkeit breit. Auch in der neuen Shell Jugendstudie wird den jungen Leuten eine wieder stärkere Orientierung an den Familiennetzwerken attestiert. Die Familie sowie soziale Beziehungen (vor allem Freundschaften mit Gleichaltrigen) sind die wichtigsten Werte, die für fast alle Jugendlichen gelten – zentraler auch als Unabhängigkeit. So gehören Freizeitunternehmungen mit der Familie für 23 % der Jugendlichen 2019 zu den häufigsten Aktivitäten und sind gegenüber 2002 deutlich gewachsen. Diese Orientierung an sozialen Nahbeziehungen geht einher mit ebenfalls gesteigerten Ansprüchen an die Zukunftsgestaltung und beinhaltet ein stärkeres Engagement in den Feldern Klima- und Umweltschutz (vgl. Albert et al. 2019 sowie weitere Beiträge in Shell Deutschland Holding 2019). Nimmt man die verschiedenen Befunde zusammen, ist es unstrittig, dass die Engagementlandschaft in Deutschland vielgestaltiger, aber auch unübersichtlicher wird. Generell scheint das Engagement nach verschiedenen empirischen Studien noch immer zu wachsen. Das Sozio-Oekonomische Panel (SOEP) erhebt seit 1985 Daten zum gegenwärtigen ehrenamtlichen Engagement der in Deutsch-
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land lebenden Bevölkerung ab 17 Jahren (dabei handelt es sich um eine freiwillige, nicht auf Entgelt ausgerichtete Tätigkeit im Rahmen von Vereinen, Verbänden oder sozialen Diensten). Während 1990 rund 27 % der Befragten ehrenamtlich aktiv waren, waren es 2017 bereits 32 % (was hochgerechnet eine Gesamtzahl von 22 Millionen Engagierten ergibt). Hier muss auf die unterschiedlichen Befunde zum quantitativen Ausmaß des Engagements hingewiesen werden, denn im Freiwilligensurvey sind es 44 % anstatt 32 % wie im SOEP und damit 30,9 Millionen Menschen anstatt 22 Millionen. Aufschlussreich sind die Daten für die verschiedenen Generationen, denn scheinbar variiert das Engagement je nach Lebensphase. „Im mittleren Lebensalter von 30 bis 59 Jahren zeigen sich insgesamt die höchsten Engagementquoten. Auffallend ist zum einen der steigende Trend bei den jungen Erwachsenen. Unter den 17–29-Jährigen erhöhte sich der Anteil der Engagierten von 26 Prozent im Jahr 1990 auf nunmehr ein Drittel. Die wesentlichen Steigerungen in dieser Altersgruppe erfolgten dabei bereits im Jahr 2009 – also deutlich vor dem Aussetzen der Wehrpflicht im Jahr 2011. Zum zweiten fallen die Steigerungen der ältesten Altersgruppen ins Auge. Die Engagementquote der 60–76-Jährigen, also jenen Personen, die unmittelbar vor dem Ruhestand stehen oder gerade das Alter der gesetzlichen Regelaltersgrenze überschritten haben, erhöhte sich im Beobachtungszeitraum um über zehn Prozentpunkte auf 33 Prozent. Selbst für die – aufgrund steigender Lebenserwartung – wachsende Gruppe von Personen, die 77 Jahre oder älter und bereits lange im Ruhestandsalter angekommen ist, erhöhte sich der Anteil seit 2009 um 14 Prozentpunkte auf nunmehr 23 Prozent. Insgesamt zeigt sich, dass sich insbesondere die Personen über 65 Jahre heute stärker engagieren als noch vor 20 bis 30 Jahren. Dies schlägt sich in einem Anstieg von drei Millionen Engagierten im Jahr 1990 auf sieben Millionen Engagierte im Jahr 2017 nieder“ (Burkhardt/Schupp 2019, 769; vgl. auch Generali Altersstudie 2017 sowie Erlinghagen/Hank 2019). Die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement ist also weiterhin vorhanden und wird durch den demografischen Wandel sogar eher noch gefördert, denn ältere Menschen sind heute länger gesund und bringen sich zunehmend in verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft ein. Diese Potentiale müssen aber auch gefördert werden; d. h. möglichst flexible und niedrigschwellige Angebote müssen vorgehalten und es sollten Verbindungen zu den bestehenden Sozialorganisationen hergestellt werden, um Doppelstrukturen zu vermeiden und einen Wohlfahrtsmix zu generieren, der Formen digitalen Zeitengagements enthalten sollte. Aber auch die jüngere Generation (1983 bis 1999 Geborene) engagiert sich nach den SOEPDaten stärker als vorangegangene Generationen im gleichen Alter und relativiert damit manch skeptische Aussagen über die angeblich stärker egozentrisch orien-
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tierten jungen Leute, die sich um das Gemeinwohl kaum noch kümmert. Demgegenüber sind sie überdurchschnittlich engagiert und dürften damit neben der älteren Generation, die in den nächsten Jahren erheblich anwächst, insgesamt das Potential für gemeinnützige Aktivitäten erheblich vergrößern. Gleichzeitig wandeln sich die qualitativen Ansprüche, die vor allem jüngere Kohorten an ihr freiwilliges Engagement formulieren. So haben wir in einem empirischen Projekt zum sozialen Engagement im Ruhrgebiet (insbesondere in der Flüchtlingshilfe) neue Subjektivierungsakzentuierungen festgestellt (vgl. Heinze et al. 2017). Auf individueller Ebene der Engagierten ist die Zentralität von Selbstverwirklichungsansprüchen zu beobachten. Zudem zeigt sich eine hohe Präferenz für das Einbringen persönlicher Interessen und Fähigkeiten. Es geht für einen großen Teil der Befragten nicht primär darum, „irgendetwas“ zu machen, sondern die Aufgaben und Tätigkeiten im Rahmen des Engagements nach eigenen Vorlieben zu gestalten. Vorgaben zur konkreten Tätigkeit seitens der Organisation werden nicht gewünscht – was im Übrigen nicht bedeutet, dass sich die Engagierten einer Planbarkeit und Verlässlichkeit des Engagements zu entziehen versuchen. Vielmehr wird der dialogische Charakter im Zusammenspiel mit der Organisation betont. Organisationen, die ganz maßgeblich auf die ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen sind, sollten sich deshalb auch die Bedeutung der digitalen Sichtbarkeit klarmachen. Die Ergebnisse aus der Befragung im Ruhrgebiet zeigen, dass das Internet gerade für jüngere Menschen die zentrale Informationsquelle für freiwilliges Engagement ist. Folglich ist für Organisationen wie Wohlfahrtsverbände, aber auch losere Assoziationsverhältnisse und Initiativen die digitale Sphäre unerlässlich, um für das Engagement zu werben, auf Projekte aufmerksam zu machen und Engagementinteressierte anzusprechen. Auch hier gilt jedoch: Digitales ergänzt (nicht: ersetzt) Analoges. Zusätzlich zu den digitalen Kanälen dürfen auch die klassischen analogen nicht einfach verschwinden. Die Ursachen für diese Neujustierungen des sozialen Engagements sind vielfältig und vor allem in gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu finden. Zuvorderst sind hier die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung und die Pluralisierung sozialer Milieus zu nennen. Hiermit einher geht nicht nur eine Zunahme individualistischer Grundhaltungen, sondern auch eine Abnahme traditionaler Organisationsbindungen und -verpflichtungen. Angesichts der Diagnose wachsender sozialer Risse und Orientierungskrisen gibt es dennoch einen Konsens: gemeinschaftsorientierte Organisationsformen und öffentliche Orte der Begegnungen werden immer wichtiger, um die Menschen aus den oft abgeschotteten familiären und sozialen Netzwerken miteinander in Kontakt zu bringen. Und hier haben die Sozialorganisationen als eine Säule der Zivilgesellschaft über Jahrzehnte „Sozialkapital“ aufgebaut, das zwar auch wie in allen Großorganisationen
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in manchen Aspekten erschöpft ist, dennoch können sie weiterhin sowohl Hilfen in sozialen Problemlagen als auch individuelle Mitwirkungsmöglichkeiten anbieten. Diese sozialen „Leitplanken“ sind nicht nur wichtige Beschäftigungsträger in einer Kommune, sie erfüllen Schutzbedürfnisse und können partizipatorische Lernprozesse auslösen. Gerade vor dem Hintergrund des großen Misstrauens gegenüber politischen Parteien, die kaum noch Orientierung und Halt in einer „zerbröckelnden“ Gesellschaft geben können, sind solche gruppenübergreifenden Organisationen gefragt, die zudem Vertrauen in der Bevölkerung besitzen. Der Wandel des Engagements bedeutet jedoch keine generelle Erosion der Unterstützungs- und Hilfspotentiale in der Zivilgesellschaft, die Engagementquote in Deutschland bleibt hoch, wie sich auch anhand der neuesten SOEP-Daten belegen lässt, obwohl die zur Verfügung stehenden Zeitressourcen durchaus zusammengeschmolzen sind (wenigstens für junge Leute, während die Zeitpotentiale Älterer deutlich zugelegt haben). Viele Erwerbstätige erleben die Arbeitswelt als stark „konkurrenzdominiert“, der Effizienzdruck ist gewachsen und hier kann das Engagement neue Erfahrungsräume eröffnen. Dies geschieht aber immer weniger in traditionellen Großorganisationen, sondern in sozialen Nahbeziehungen auf Quartiers- und Nachbarschaftsebene. Trotz aller digitalen Beziehungsnetzwerke oder vielleicht gerade wegen dieser „abstrakten“ Kommunikationsweise gibt es eine Suche nach sinnstiftenden Beziehungen vor Ort – sei es in städtischen Quartieren oder in den Dörfern. In der Soziologie wird von neuen „Resonanzräumen“ (Rosa 2016) gesprochen, die sich allerdings nicht in traditionellen Nonprofit-Organisationen ausbreiten, sondern in „sozialen Nahbeziehungen und kleinen Gemeinschaften, aber darüber hinaus auch in der Kunst (im Tanz und in der Musik, in der Malerei oder beim Töpfern), in der Religion oder in der Natur (an der Mulde oder am Lagerfeuer)“ (Beetz et al. 2014, 390). Hier zeigen sich neue Vergemeinschaftungsformen, die sich nicht nach Lebenslagen, sondern nach kulturellen Mustern und Lebensstilen sortieren. Allerdings sollte man die Verbreitung solcher Sozialgemeinschaften nicht überschätzen, die sozioökonomischen Lebenslagen bleiben weiterhin wichtige Weichensteller für kulturelle Praktiken und Lebensstile. In der Coronakrise wurden zwangsförmig solche Resonanzräume errichtet, indem Menschen angehalten waren, sich zuhause und im Nahraum aufzuhalten und den Kontakt zu Menschen möglichst zu reduzieren. Eine solche „Zwangsentschleunigung“ kann Resonanzhaltungen aufbauen und zu Relevanzverschiebungen zugunsten der sozialen Nahbeziehungen führen. Dies ist die optimistische Sichtweise der Folgewirkungen der Coronakrise34, der zwangsweise Rückzug in das Private und die 34 Pointiert hat dies El-Maafalani formuliert: „Vielleicht sind es winzig kleine Viren, die uns zeigen, dass wir alle im selben Boot sitzen und von systematischer Kooperation
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damit verbundenen Gestaltungsoptionen etwa der eigenen Zeitstruktur kann aber auch „zu einer Destrukturierung unseres Alltags“ führen und „massive Irritationen erzeugen“ (Rosa 2020, 8). Die Gelingensbedingungen für die Überführung der erzwungenen Entschleunigung in die Alltagskultur sind sozialstrukturell und kulturell ungleich verteilt und deshalb werden auf Selbstorganisation und solidarische Hilfe im sozialen Umfeld zielende Relevanzverschiebungen sich eher bei sozioökonomisch abgesicherten Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Die Aufhebung des Beschleunigungszwangs für einige Wochen dürfte darüber hinaus aber auch Lernprozesse in der gesellschaftlichen Breite generiert haben, wozu auch gehört, den Wert etwa der gesundheitsbezogenen Dienstleistungsberufe neu zu definieren. Krankenhäuser und andere Organisationen der Pflege und Betreuung können nicht nur unter dem Aspekt der kurzfristigen Effizienz strukturiert werden, sondern brauchen Bewegungsspielräume, was sich gerade in Krisenzeiten massiv bemerkbar macht. Hoffentlich werden diese Erkenntnisse nicht nach der Bewältigung des Ausnahmezustandes wieder vergessen und führen auch zu einer spürbaren Verbesserund der Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Sozialsektor, über die schon länger gestritten wird, aber vor dem Hintergrund der Krisenerfahrungen nun endlich umgesetzt werden könnten. Empirische Studien demonstrieren, dass sich soziale Nahbeziehungen durchaus positiv auf die soziale Integration auswirken können und die Bereitschaft der Bürger anspornen, das eigene Lebensumfeld mitzugestalten. „Auf dem Lande hatte das subsidiäre, eigenverantwortliche Handeln immer einen hohen Stellenwert. Der fürsorgliche Staat, der in den Zentren die U-Bahn fahren lässt und für eine Rundumversorgung vom Kindergarten bis zum Krankenhaus sorgt, hat in den Dörfern so nie existiert. Deshalb sind aus reiner Notwendigkeit schon früh Selbsthilfestrukturen entstanden, von Genossenschaften bis zur freiwilligen Feuerwehr, die Versorgungslücken gar nicht erst haben entstehen lassen. Diese Strukturen funktionieren z. B. im Emsland bis heute und sie werden getragen von verschiedensten Sport-, Heimat- oder Schützenvereinen, von der Nachbarschaftshilfe und von den Kirchen, insbesondere der katholischen, die dort stark vertreten ist. Diese Zivilgesellschaft, die anderswo immer wieder als wichtige Stütze der Gesellschaft angemahnt wird, ist im Emsland fest verankert. Sie bindet die Menschen zusammen, absorbiert auch viele Zugezogene und sorgt für ein Verantwortungsgefühl, das auch die Jungen anspricht“ (Berlin-Institut 2017, 5; vgl. zur Bedeutung soziokultureller Faktoren für die Regionalentwicklung auch die vergleichende Studie von Danielzyk et al. 2019). abhängig sind. Vielleicht hilft diese Erfahrung auch für die Bewältigung der Klimakrise. Grundlegende Änderungen erscheinen plötzlich nicht mehr unrealistisch“ (ders. 2020).
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Hier zeigen sich gesellschaftliche Werte wie Solidarität und eine konkrete Orientierung am Gemeinwohl. Notwendig ist aber auch eine Unterstützung „von oben“, von den Kommunen, Landkreisen und dem Bundesland bzw. dem Bund, um die Infrastrukturen für die Entfaltung der Selbstorganisation zu gewährleisten. Gerade die lokale Ebene gilt allerdings im deutschen Föderalismus als strukturell benachteiligt, was jedoch nicht alle Kommunen gleichermaßen trifft, sondern primär diejenigen in strukturschwachen Regionen. Infrastrukturen können hier als spezifische Form der Sozialität verstanden werden, die Vorleistungen erbringt für die „Ermöglichung sozialer Integration und Vergesellschaftung“ (Barlösius/Spohr 2017, 235; vgl. auch van Laak 2017 und Winkelmann 2018). Dazu werden jedoch innovative Gestaltungsakzente benötigt, die bislang hierzulande nur in einzelnen lokalen Projekten sichtbar sind. Blickt man auf komplementäre Steuerungs- und Selbstregelungskapazitäten, dann sind insbesondere diese Humanpotentiale, wie sie sich in den Daten zum Engagement abbilden, bislang in der Politik nicht hinreichend aufgegriffen worden, wenngleich gerade von hier wachsende Impulse ausgehen können. So ist bspw. auch die Nachbarschaftshilfe im Zuge von Modernisierungsprozessen nicht verschwunden, sondern zeichnet sich durch eine zunehmende Gestaltbarkeit nach individuellen Vorlieben aus, worin sich eine Entwicklung hin zu neuen und vielfältigeren Erscheinungsformen dieser Beziehungen begründet. Die Diversität wird vorangetrieben durch die umfassenden Digitalisierungsprozesse, die eine Transformation sozialer Lebenswelten eingeleitet haben, die auch das Ehrenamt und andere Formen freiwilligen sozialen Engagements zentral berühren und insbesondere in letzter Zeit auch in den Sozialorganisationen aufgegriffen werden (bspw. in Diskursen zum „Verein 4.0” oder dem „Ehrenamt 4.0”). Sowohl das traditionelle Ehrenamt wie auch neue selbstorganisierte und/oder digital gestützte Engagementformen haben – allerdings oft im Stillen – an Fahrt gewonnen und sollten adäquat in eine neue Architektur sozialer Dienste integriert werden. Wenngleich es unter den Bedingungen einer globalisierten und flexibilisierten Erwerbsgesellschaft immer schwieriger wird, dauerhafte soziale Beziehungen und vor allem Verpflichtungen zu realisieren, steigen dennoch die sozialen Aktivitäten und könnten lokale Gemeinschaften weitaus stärker als heute bereichern. Dies liegt auch an den gewachsenen Zeitkontingenten bei der älteren Generation, die sich nach dem Renteneintritt verstärkt engagiert. Allerdings werden zur Mobilisierung und produktiven Nutzung sowohl eine zentrale Förderung als auch Kompetenzverlagerungen nach „unten“ und „soziale Technologien“ der Inszenierung von Selbstorganisation benötigt, was bereits im Kontext der Kooperationsringe thematisiert wurde.
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Trotz des Aufschwungs verschiedener Formen der Selbstorganisation und generell zivilgesellschaftlicher Aktivitäten darf nicht vergessen werden, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Narrative in Richtung einer Ökonomisierung der Daseinsvorsorge bewegten. Historisch betrachtet wurden soziale Dienstleistungen wie die Armenfürsorge, aber auch andere Formen der Daseinsvorsorge, wie eine geregelte Wasserversorgung und -entsorgung, zunächst auf kommunaler Ebene vor allem aus gesundheits- bzw. ordnungspolitischen Motivationen durch die öffentliche Hand erbracht. In den letzten Jahrzehnten setzte sich jedoch gerade im Feld der Infrastrukturen eine breite Privatisierungswelle durch, die derzeit aber kritisch hinterfragt wird. Nach der „markteuphorischen“ Phase wird insbesondere seit der Finanzmarktkrise das Steuerungsparadigma des „Marktes“ in vielen Fällen als eine Ursache der Defizite in der Infrastrukturausstattung gesehen. Dies betrifft sowohl die materielle Infrastruktur (etwa die Verkehrswege und Mobilitätsangebote) als auch die soziale Infrastruktur. Anstelle von „einfachen“ Marktlösungen kommen nun öffentliche und gemeinwohlorientierte Organisationsformen als Alternativen wieder zur Geltung, was sich auch in der aufblühenden Landschaft der Infrastrukturgenossenschaften zeigt, die sich vielfach als soziale Stabilisatoren vor Ort erweisen. Der Stärkung der Selbstorganisationsfähigkeit und Eigenverantwortung auf dezentraler Ebene wird inzwischen auch in der Politik eine größere Bedeutung beigemessen. Hier richtet sich der Blick explizit auf den Nahbereich der Versorgung mit Alltagsgütern (der Ökonomie des Alltagslebens). Bei der Erledigung der Daseinsvorsorge und der Erstellung von Leistungen ist der Staat aufgrund seiner geschrumpften Handlungsfähigkeit vermehrt auf die Koproduktion und selbstverantwortliche Eigenleistung individueller wie kollektiver gesellschaftlicher Akteure angewiesen. Dass Genossenschaften aufgrund ihrer Organisationsprinzipien „punkten“ können, weil sie einen sozialintegrativen Beitrag leisten, ist an sich nicht überraschend. Sie erfüllen idealtypisch die Anforderungen, die ein moderner Staat an Organisationen der Zivilgesellschaft stellt, weil sie die Eigenorganisation unterstützen, Sicherheit bieten und in geeigneter Weise ein öffentliches Gut produzieren. „In theoretisierender Absicht, so wird hier argumentiert, können Neugründungen von Genossenschaften im sozialen Bereich als eine Antwort auf den Ökonomisierungsdruck in der sozialen Daseinsvorsorge verstanden werden. Angesichts angespannter kommunaler Kassenlage und zunehmend wettbewerblich organisierter Steuerung, stellen Genossenschaften eine unternehmerische Rahmung, die es ermöglicht, soziale, kulturelle und gesellschaftliche Belange zu verfolgen und zugleich wirtschaftlichen Aspekten Beachtung zu schenken. Morphologisch dem Verein ähnlich, bieten sie das Potenzial autonomieerhaltend und partizipationsorientiert soziale Ziele zu verfolgen“ (Ahles 2017, 130; vgl. auch weitere Beiträge in Schmale/Blome-Dress 2017 sowie Kluth 2019).
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Insgesamt kommt es zu einem öffentlichen Diskurs über eine Neufassung der Rolle von Unternehmen (insbesondere um die Einbindung in den öffentlichen Raum) in einer Gesellschaft, die einerseits immer stärker von Ökonomisierungstendenzen, andererseits immer weniger von einer strategischen Führung durch den Staat und damit der Politik geprägt wird. Corporate Social Responsibility (CSR)Aktivitäten gehören inzwischen zum selbstverständlichen Bestandteil deutscher Unternehmenspolitik (vor allem gilt dies für Großunternehmen). Die Wiedergewinnung von Vertrauen als existenzielles Merkmal einer erneuerten sozialen Marktwirtschaft ist allerdings ein schwieriger und langwieriger Prozess. Über CSR lassen sich jedoch neue Verknüpfungen zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in Form von „shared values“ umsetzen (vgl. die Beiträge in Hüther et al. 2015), die für eine „Resozialisierung“ der Unternehmen stehen. Gerade für die Zeit nach der Coronakrise mit ihren wirtschaftlichen Einbrüchen sind solche Allianzen von großer Bedeutung und sie würden auch an den kulturellen Wandlungsprozessen vor der Krise anknüpfen. Es gab bereits eine breit gefasste Debatte um die Neujustierung des Verhältnisses zwischen der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und dem Staat, wobei gefragt wurde, wie das Gemeinwohl (der stakeholder-value) neu definiert und wie es bewahrt werden kann. Exemplarisch zeigt sich die Neuorientierung in Richtung einer gemeinwohlorientierten Ökonomie u. a. in der Ausbreitung von Sozialunternehmen und sozialinnovativen Netzwerken, die sich mit ihren Aktivitäten als Gegenmodell zu den etablierten Routinen der Wirtschaft und auch der traditionellen Sozialorganisationen verstehen, wobei von den Initiativen betont wird, dass sie nicht die professionelle Arbeit ersetzen, sondern nur unterstützen können: „Sie organisieren und unterstützen Aktive, Betroffene und interessierte Gruppen in einem speziellen Lebens- und Politikbereich (Selbsthilfekontaktstellen, Seniorenbüros, Mütterzentren), sprechen die Bevölkerung in bestimmten Räumen an (Quartiersbüros, Mehrgenerationenhäuser, soziokulturelle Zentren), oder sie richten ihre Angebote als Entwicklungs-, Vermittlungsagenturen und ,Mitmachzentralen‘ auf die Förderung von Aktivbürgerschaft ganz allgemein (Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen)“ (Evers, 2017, 239). Empirische Studien zeigen einen breiten Radius der Freiwilligenorganisationen, die sich auch in benachteiligten Stadtquartieren ausgebreitet haben und auf eine Politik der sozialen Integration und ökologischen Nachhaltigkeit setzen. Die organisationalen Felder, inhaltlichen Bezugspunkte und Erscheinungsformen solcher sozialen Innovationen und speziell innovativer sozialer Dienstleistungen sind dabei sehr vielfältig (vgl. Kopf et al. 2015 sowie die Beiträge in Jaeger-Erben et al. 2017). Indes handelt es sich bei diesen Initiativen keineswegs immer um gänzlich neue oder einzigartige Akteure im Feld der gemeinwohlorientierten Organisatio-
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nen. Auch in der etablierten Sozialwirtschaft wird in letzter Zeit intensiv über die Notwendigkeit innovatorischer Veränderungen diskutiert und verschiedene Vorhaben dazu wurden eingeleitet. Dies liegt primär an den gewandelten Governancestrukturen, konkret an dem verstärkten Wettbewerb sowie an den veränderten Beziehungen zu den Leistungsempfängern, die zusammenfassend 2019 im Bundesteilhabegesetz geregelt wurden. Da die verbandliche Wohlfahrtspflege kein einheitliches Konglomerat ist und sich zudem die äußere Komplexität gesteigert hat, ist es schwierig, eine einheitliche Innovationsstrategie zu implementieren. „Die äußeren Anforderungen an Unternehmen zur Innovation wie auch die internen Voraussetzungen, diesen zu begegnen, sind bei vielen Unternehmen in der Sozialwirtschaft sehr heterogen. Oft bedienen sie mehrere Leistungsbereiche mit je spezifischen Gestaltungsräumen und unterschiedlichen Herausforderungen, die Innovationen induzieren können. Des Weiteren gibt es Unternehmen/Unternehmensbereiche, die um relativ konstante Leistungsprozesse herum organisiert sind und jene, die in höherem Maße flexibel aufgestellt sind, weil sie ihre Leistungen häufiger auf wandelnde Problemlagen/Bedarfslagen einstellen müssen. Unterschiede in Bezug auf Innovation hängen auch davon ab, ob ein Unternehmen aufgrund seines Leistungsauftrags bzw. seines Selbstverständnisses Dienstleistungen „abliefert“ oder diese eher in Koproduktion mit dem Kunden bzw. mit anderen relevanten externen Stakeholdern erstellt“ (Becher/Hastedt 2019, 10; vgl. auch die weiteren Beiträge in dies. 2019). Aus soziologischer Sicht zeigt sich in den Innovationsprozessen in den Wohlfahrtsverbänden wie auch in den neu entstandenen Sozialprojekten ein Suchprozess aus der Krise der Ökonomie und insbesondere der Staatsfinanzen. Gesucht wird nach einer neuen Komplementarität zwischen gemeinschaftlicher Handlungsfähigkeit, sozialrechtlichen und -politischen Erfordernissen sowie organisatorischer Effizienz und nachhaltiger Wirkung. Dies zeigt sich exemplarisch an den Sozial-, Bürger- und Seniorengenossenschaften, die auf dezentraler Ebene neue Organisationsformen einer alternden Gesellschaft darstellen und innovative Versorgungskonzepte aufbauen. Die Gestaltung des Wohnumfeldes ist gerade für ältere Menschen von erheblicher Bedeutung für Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe. Mit Blick auf die wachsenden Herausforderungen im Bereich des Wohnens im Alter und der Pflege ist es eine zentrale Aufgabe des Staates, auf dezentraler Ebene „sorgende Gemeinschaften“ aufzubauen. In dem intelligenten und effizienten Zusammenwirken von Angehörigen, Freunden, professionellen sozialen Dienstleistungsanbietern und bürgerschaftlich Engagierten liegt die Zukunft einer gelingenden Sorge für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Zudem gilt es, eine quartiersbezogene Infrastruktur inklusive der Versorgung mit Einkaufs- und sonstigen Dienstleistungsangeboten aufzubauen. Integrierte Wohnstrukturen, die
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ein individuelles und selbstbestimmtes Leben für ältere Menschen mit Hilfe-, Pflege- und Unterstützungsbedarf im eigenen Quartier ermöglichen, bieten viele Vorteile. So können Bewohner ihr Leben (in Abhängigkeit vom Hilfebedarf) selbstbestimmt gestalten und in einer Gemeinschaft mit stabiler Nachbarschaft leben. Eine quartiersbezogene Versorgungsstruktur (die auch vernetzte technische Assistenzsysteme beinhalten kann) impliziert allerdings einen erheblichen politischen Handlungsbedarf, der auf den unterschiedlichen Ebenen des politischen Systems ansetzt. Eine vernetzte Versorgung bedeutet das Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen und Unterstützungsformen, was wiederum impliziert, die starren Sektorenabgrenzungen zu lockern und verschiedene Professionen zu vernetzen. Konkret bedeutet dies bspw. die Kooperation sozialer Dienste (eines Wohlfahrtsverbandes), eines Kostenträgers (Kranken- und Pflegeversicherung) und der Wohnungswirtschaft. Um integrierte Versorgungslösungen realisieren zu können, muss ein Klima der Innovationsbereitschaft erzeugt werden. „Die Politik muss innovativer denken; die sozialwirtschaftlichen/sozialunternehmerischen Anbieter der Einrichtungen müssen die Möglichkeiten nicht-stationärer Konzepte als Modernisierung ihres nicht nur architektonisch-wohnkonzeptionellen Designs, sondern auch ihrer normativen Handlungslogik begreifen und willentlich akzeptieren“ (Schulz-Nieswandt et al. 2012, 117f.; vgl. auch die Beiträge in Hüther/Naegele 2013). Ohne neue Initiativen des Bundes und auch der Länder dürfte dieser Policywechsel kaum gelingen. Wenn auch die sozialräumliche Dimension sozialer Versorgung insbesondere bei älteren Menschen erkannt wird und „Community Building“ ein Schlüsselwort für neue Kooperationen zwischen sozialen Diensten, Netzwerken, Kommunen und anderen Trägern (bspw. der Wohnungswirtschaft) geworden ist, bleiben noch viele Handlungsvorschläge im Konzeptionellen stecken. Dennoch hat sich eine lebendige Praxis vernetzten, altengerechten Wohnens in einigen Regionen entwickelt, die zunehmend auch von der Politik aufgegriffen wird. Für soziale Aufgabenfelder wie das „vernetzte Wohnen“, die quer zu den etablierten Strukturen liegen, ist es jedoch schwierig, adäquate Finanzierungsstrukturen aufzubauen. Im deutschen System der sozialen Dienste existiert ein hoher Regulierungsgrad entlang der Säulen der Sozialgesetzgebung und deshalb stoßen neue integrative Angebote auf zahlreiche institutionelle Hürden. Es existiert für sie häufig keine klare öffentliche Finanzierungsverantwortung. Vor dem Hintergrund einer abgeschotteten Politiksegmentierung ist es somit keine leichte Aufgabe, auf lokaler Ebene kleinteilig vernetzte Versorgungsstrukturen zu etablieren, die es älteren Menschen ermöglichen, notwendige Versorgung und Dienstleistungen einschließlich Pflege und Betreuung innerhalb ihres Quartiers zu erhalten (vgl. Heinze 2013).
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Generell stellt sich einer wohlfahrtssteigernden Politik die Aufgabe, Angehörige, Nachbarn, Bekannte und ehrenamtlich Tätige dabei zu unterstützen, sich in sozialen Netzwerken auf Quartiersebene, in denen ältere Menschen eingebunden sind, zu engagieren. Hier gilt es, entsprechende Gelegenheits- und Ermöglichungsstrukturen zu schaffen. Bereits bestehende Erfahrungen aus der sozialräumlichen Quartiersgestaltung, die auch entsprechende Dienstleistungsstrukturen und Plattformen für bürgerschaftliches Engagement einschließt, zeigen, dass durch die Einrichtung von Begegnungsstätten wie auch durch eine gute Pflege- und Dienstleistungsstruktur ein wichtiger Beitrag zur sozialen Kohäsion im Quartier wie auch zur Netzwerkbildung geleistet werden kann (vgl. die Beiträge in Schubert 2019). Ohne eine aktivierende staatliche Politik (die vor allem auf dezentraler Ebene ansetzen muss) sind diese sozialintegrativen Fragen nicht zu lösen. Das neue Interesse an bürgerschaftlichen Aktivitäten birgt also auch Risiken. Einmal aus dem Schatten des Expertendiskurses herausgetreten, steht es nun in der Gefahr, als kostengünstiger Lückenbüßer für minimalstaatliche Sparstrategien instrumentalisiert zu werden. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass dieses „Schicksal“ bereits seit einiger Zeit bspw. die traditionellen Wohlfahrtsverbände bzw. einzelne ihrer Untergliederungen trifft, wo sich neue Sparstrategien im Sozialsektor ausgebreitet haben. „Vor allem aus Sicht der öffentlichen Verwaltung werden die Organisationen inzwischen überwiegend in ihrer Funktion als Erbringer von sozialen Dienstleistungen wahrgenommen. Damit laufen sie Gefahr, in turbulenten Krisenzeiten zum Lückenbüßer für staatliche Aufgabenwahrnehmung zu werden. Die Sonderstellung gemeinnütziger Organisationen, die sich aus ihrem weltanschaulichen Profil oder breiteren gemeinwohlorientierten Zielstellungen (z. B. sozialintegrativer oder partizipativer Natur) ableitet, kann dabei ins Hintertreffen geraten. Die traditionelle subsidiäre Einbindung geht mehr und mehr in ein Dienstleistungsmodell über, in dessen Zentrum das Verhältnis zwischen Kostenträgern, Leistungserbringern und Leistungsempfängern steht“ (Droß 2013, 10). Aber auch andere Gestaltungsakteure wurden in die Konsolidierungsstrategien der öffentlichen Haushalte im Rahmen der Austeritätspolitik einbezogen. Demgegenüber geht es in der in diesem Buch verfolgten Argumentation nicht um einen Rückzug des Staates und Privatisierungsstrategien, sondern um die partizipative Einbindung außerstaatlicher Akteure, die der „Supervison“ durch die Politik unterworfen bleiben (Willke 1997). Dieses Konzept setzt sich sowohl von etatistischen Vorstellungen eines Maximalstaates, der die individuelle und gesellschaftliche Wohlfahrt durch „mehr Staat“ zu erhöhen beabsichtigt, ab wie von neoliberalen Minimalstaatsvorstellungen, die auf die Maxime „immer weniger Staat“ hinauslaufen. Aber auch die Fokussierung auf netzwerkförmige Governanceformen besitzt ihre Risiken. Entgegen manchen Mythenbildungen sind auch sol-
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che Steuerungskonzepte erstens oft schwer zu inszenieren, zweitens hinsichtlich einer effizienten Steuerung schwierig zu „managen“. Sie können also schwerlich als „Allzweckwaffe der Politikwissenschaft für jede Art von gesellschaftlichen Regelungsproblem“ (Grande 2012, 565f.) dienen. Der Staat spielt in diesen „gemischten“ Sphären weiterhin eine wichtige Rolle, aber eher als Aktivator und Moderator, der zudem die Infrastruktur zur Nutzung von mehr eigeninitiierten und selbstorganisierten Regelungsräumen bereithält. Gesellschaftspolitisches Ziel ist eine Aktivierung der Bürger und der traditionellen Sozialorganisationen und Verbände. In Zukunft wird die Frage nach Kooperation, Vernetzung und mehr Wettbewerb und Management sozialer Dienstleistungen auf kommunaler Ebene die Schlüsselfrage im Bereich der Sozialpolitik sein. Dabei spielt eine besondere Rolle, wie es um die Potentiale freiwilligen sozialen Engagements außerhalb der Familie bestellt ist und wie bestehende und sich neu entwickelnde Potentiale praktischer Solidarität genutzt und stabilisiert werden können. Der deutschen Mentalität scheint es schwer zu fallen, diese Verunsicherungen kreativ aufzugreifen, solange noch die sozialen Sicherungsmechanismen funktionieren. Die ökonomischen und sozialen Desorganisationsprozesse werden jedoch weitergehen und noch manche Sicherheiten erschüttern, ohne dass es zu einem neuen politischen Gesellschaftsvertrag kommt, der an die „alten“ wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen heranreicht. Der Staat wird sich von seiner herausgehobenen Verantwortungsrolle nur schwer trennen können, ohne dass eine Regierung die vielfältigen Probleme ursachenadäquat lösen könnte. Angesichts der massiven Erschütterungen, die weit bis in die Mitte der Gesellschaft ausstrahlen, sehnt sich die Mehrheit jedoch nach Sicherheit und nicht nach Innovationen. Da die Regierungspolitik über Jahrzehnte nicht offen die Herausforderungen bspw. für die sozialen Sicherungssysteme oder in der Klimapolitik und in Migrationsfragen benannt, geschweige denn entschiedene Reformen eingeleitet hat, ist ein Wandel der Steuerungsphilosophie auch mit Risiken verbunden, zumal in der Bevölkerung noch immer eher überzogene Erwartungen an die staatliche Politik dominieren. Diese Erwartungen werden wohl nicht abnehmen, weil sich Abstiegsängste breit gemacht haben und sich die gesellschaftliche Mitte in ihrer Stabilität gefährdet sieht (vgl. Heinze 2011, Lengfeld et al. 2019 sowie die Beiträge in Schöneck/Ritter 2018). Zivilgesellschaftliche Akteure könnten sich hier in ein intelligentes Schnittstellenmanagement gut einbringen, denn „das Soziale kann weder vom Staat als übergeordnetem Akteur noch von den Einzelnen in freier Assoziation geschaffen werden“ (Bude 2010, 943; vgl. auch ders. 2019). Einzelne Sozialorganisationen wie Wohlfahrtsverbände haben dies historisch auch bewiesen und könnten sich deshalb auch heute diese Rolle wieder verstärkt aneignen. Zudem ist die Vielfalt
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im Nonprofit-Sektor gewachsen und hat auf dezentraler Ebene eine Szene von kleineren selbstorganisierten Projekten entstehen lassen. „In der breiten und oft kleinteiligen Vereinslandschaft haben Formen der Beteiligung, der Unterstützung und Selbsthilfe an Bedeutung gewonnen, die traditionelle Orientierungen, kulturelle Muster und Verantwortungszuschreibungen infrage stellen (Umgang mit Umwelt, Gesundheit, Alter, alten und neuen sozialen Einrichtungen); staatliche und kommunale Versorgungsysteme werden immer öfter durch komplementäre Leistungen der Bürgerinnen und Bürger (z. B. Fördervereine) stabilisiert und de facto mitgetragen. Posttraditionelle Formen von Engagement haben vielfach außerhalb des herkömmlichen integrierenden Verbandswesens Form und Gestalt gewonnen, sind allerdings auch als Fermente des Wandels in den Wohlfahrtsorganisationen, Kirchen, Jugendverbänden und Gewerkschaften zu beobachten“ (Evers 2017, 239; vgl. auch Evers/Ewert 2010). Um diese verschiedenen sozialen Aktivitäten und Akteure zu bündeln, wird eine organisierte Vernetzung auf dezentraler Ebene benötigt. Dabei sollten sowohl die traditionellen Sozialorganisationen, aber auch Nachbarschaften und die neu entstandenen Engagementformen mit einbezogen werden (ein erneuerter „Wohlfahrtsmix“). Gefragt ist deshalb ein konsistenter Politikansatz, der ressort- und politikfeldübergreifend organisiert sein muss und die lokale Politik zu einem Labor für eine experimentell ausgerichtete Sozialpolitik macht. Allerdings sollten die zu aktivierenden Potentiale zivilgesellschaftlicher Vergemeinschaftungsformen (etwa Bürgerengagement) auch nicht überschätzt werden. Die Zivilgesellschaft ist keine „Zauberformel“ zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Problemlagen, vielmehr durchläuft sie derzeit ebenfalls einen Wandlungsprozess in Richtung von mehr Pluralität, aber auch Konkurrenz. Wenn auch von einer relativ hohen Bereitschaft zum Engagement auszugehen ist, ist die öffentliche Infrastruktur auf diese fluiden zivilgesellschaftlichen Potentiale noch nicht hinreichend eingestellt. Deshalb stellt sich schon die Frage, ob die zweifellos vorhandenen Zeitpotentiale auf lokaler Ebene real genutzt werden. Vieles spricht dafür, dass trotz aller Debatten um neue Zeitverwendungsmuster oder Sozialkapital die Möglichkeiten einer am Gemeinsinn orientierten Zeitnutzung weiterhin nur begrenzt aufgegriffen werden. Bislang konnten sich noch keine geeigneten institutionellen Formen posttraditionaler Gemeinschaftsbildung in der Breite durchsetzen. Die Coronapandemie wird von einigen Soziologen nun als Einfallstor für derartige Sozialexperimente gesehen, denn gerade durch die globale Verbreitung der Seuche, die vor keiner Grenze Halt macht, wird eine ganzheitliche Wahrnehmung ermöglicht, die eine neue, positive Perspektive auf die Welt eröffnet und das utopische Denken beflügelt. „Vor allem aber ist Kooperation statt Konkurrenz die Grundsubstanz für den Wandel – Grundlage einer gerechten Gesellschaft
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ist gegenseitige Unterstützung. Irgendwo im Leben von Individuen muss etwas existieren, das die Rettung ganzer Gemeinschaften bewirken kann, sonst ist das Experiment Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Das Ego des Einzelnen muss sich den Bedürfnissen der menschlichen Gemeinschaft unterordnen“ (Selke 2020). Ob sich allerdings aus der Krise eine umfassende Kultur der Kooperation und Solidarität entwickelt, kann noch nicht abschließend geklärt werden, ambivalente Entwicklungen sind möglich und Verallgemeinerungen sind daher vorläufig, denn es gibt neben innovationsbereiten auch immer beharrende Gestaltungsakteure, die am Erhalt des Status quo interessiert sind. Sicherlich können aber solche Utopien mithelfen, den Katastrophenalltag, wie ihn manche Menschen konkret derzeit in der Coronakrise erleben, besser zu bewältigen. Utopien können „Haltegriffe“ in einer verunsicherten Welt sein, sie benötigen aber auch ein Transformationsdesign und Gestaltungsakteure, die die Disruption als Katalysator für einen Zivilisationswandel nutzen.
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Es wurde bereits auf die Pluralisierung der Trägerlandschaft Sozial- und Gesundheitssektor hingewiesen. Ein Beispiel hierfür wären regionale Gesundheitsnetzwerke, die im Rahmen der integrierten Versorgung ausgeweitet werden können (um kommunale Körperschaften, Wohlfahrts- und Patientenverbände). Gefragt sind neue Allianzen und die Überwindung der Silos zwischen dem Gesundheitsund Sozialsektor (vgl. auch Ewert 2019). Bislang sind sie allerdings nur vereinzelt umgesetzt worden, da das grundsätzliche Dilemma weiterhin darin besteht, heute investieren zu müssen, den Ertrag aber erst „morgen“ realisieren zu können. Forderungen nach mehr Kooperation und besserer Integration können deshalb als das „unvollendete Projekt des Gesundheitssystems“ (vgl. die Beiträge in Brandhorst et al. 2017) bezeichnet werden. Von Interesse sind deshalb nicht nur temporäre Förderungen, sondern langfristig angelegte kooperative Lösungen und neue Finanzierungsmodelle wie beispielsweise Sozialraumbudgets. In diesen werden öffentliche Mittel in einem „definierten Praxisfeld für einen abgegrenzten Raum (Sozialraum) in einem Budget zusammen(geführt). Der Einsatz erfolgt über ein Steuerungsgremium aus Vertretern des öffentlichen Kostenträgers und des oder der Budgetnehmer. Es kann flexibel sowohl für fallbezogene als auch für fallunabhängige soziale Arbeit verwandt werden“ (Cremer et al. 2013, 221). Insgesamt hat sich die gesellschaftspolitische Debatte wieder in Richtung öffentlicher Güterproduktion und der Revitalisierung solidarischer Grundmuster gedreht. Der Verlust der ökonomischen Deutungshoheit in zentralen gesellschaftlichen Steuerungsfragen hat damit auch wieder Raum geschaffen für sozialwissenschaftliche Analysen, die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht in dem engen Kor© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_9
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sett einer auf Nutzenmaximierung beruhenden Kapitallogik beschreiben, sondern auf die Wechselwirkungen zwischen der Ökonomie und sozialen und politischen Strukturen eingehen. Organisierte Netzwerke im sozialräumlichen Kontext (zum Beispiel „Pflege im Quartier“) werden zukünftig an Bedeutung gewinnen und werden derzeit auch politisch favorisiert. Es ist eine wichtige Aufgabe, den öffentlichen Raum so zu gestalten, dass Kontakte und Hilfeleistungen zwischen den Menschen erleichtert werden. Informelle soziale Netzwerke sollten jedoch nicht als „die“ Lösung gepriesen werden, benötigt wird ein pluraler Wohlfahrtsmix, der sowohl informelle wie professionelle Hilfe benötigt. In den letzten Jahren hat sich die Debatte um altengerechte Assistenzsysteme in Deutschland ausgeweitet. Allerdings zeigt sich eine schleppende Umsetzung, wenngleich die Weiterentwicklung technisch-sozialer Innovationen erhebliche Potenziale besitzt, positiv auf Autonomieerhalt und Lebensqualität im Alter einzuwirken. Die derzeit angebotenen Lösungen zum vernetzten Wohnen überzeugen technisch zumeist, allerdings fehlt noch die Umsetzung in die Regelversorgung. Empirische Ergebnisse zeigen zudem, dass die neuen technischen Lösungen oft als unpersönlich wahrgenommen werden und deshalb die Assistenzsysteme nicht zu technikzentriert sein dürfen. Für die Zukunft sollte stärker die Maxime gelten: Die Technik muss den älteren Bewohnern dienen und sich auf das konzentrieren, was notwendig und auch bezahlbar ist (vgl. Heinze 2016 sowie Schelisch 2015). Ausschließlich individuelle oder wohnungsbezogene Aktivitäten greifen hinsichtlich einer integrierten Versorgung jedoch zu kurz; es reicht nicht, Bestandswohnungen zu altengerechtem Wohnraum umzubauen oder ganze Seniorenwohnanlagen neu zu errichten. Vielmehr ist eine Aufwertung des gesamten Wohnumfeldes und die aktive Mitgestaltung der Kommunen erforderlich. Beispielsweise gehört dazu die Einrichtung eines Beratungsbüros im Quartier oder die Aktivierung des Bürgerengagements. Es gibt keine Alternative dazu, im Wohnquartier komplementär zum erforderlichen altersgerechten Umbau zusätzlich soziale Unterstützungsnetzwerke aufzubauen und das nahe Wohnumfeld als Pflege- und Kontaktstützpunkt bei Bedarf zu nutzen. Insgesamt nehmen allerdings die sozialräumlichen Differenzierungen in Deutschland zu und Quartiere entwickeln sich unterschiedlich. Einige Quartiere boomen, andere haben ihren hohen sozialen Status erhalten und wieder andere zeigen problematische Entwicklungsprozesse (vgl. u. a. Helbig/Jähnen 2018 sowie Schräpler et al. 2020). So entstehen städtische Verarmungsviertel, die sich insbesondere in ökonomisch schlecht gestellten Großstädten ausbreiten. Hier sind die Kommunen gefordert, denen ein größerer Einfluss bei der Ausgestaltung der Daseinsvorsorge eingeräumt werden sollte. Die ausgeprägte institutionelle Segmentierung erschwert allerdings eine über mehrere Politikebenen und sektoren-
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übergreifende Aufgabenbewältigung. Wenn auch vor allem die Kommunen und Landkreise hier gefordert sind, können die erforderlichen „Sorgestrukturen“ nicht nur von dezentraler Ebene her aufgebaut werden. Der Bund und die Länder stehen in der Verpflichtung für die Daseinsvorsorge und auch die Potentiale der Zivilgesellschaft können produktiv genutzt werden. Deshalb ist auch an quartiersfördernde Einrichtungen in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft (zum Beispiel Bürgerstiftungen, Nachbarschaftszentren) zu denken. Es gibt jedoch keinen einfachen Schlüssel dafür, wie eine solchermaßen lokale Pflegekultur zur gesellschaftlichen Praxis wird. „Es liegen noch wenig systematische Erkenntnisse und so gut wie keine evidenzbasierten Studien darüber vor, wie es gelingt, derartige Versorgungsstrukturen aufzubauen und in einer Weise zu verankern, sodass sie maßgeblichen Einfluss auf die Pflegekultur einerseits und die Verteilung der Versorgungssettings andererseits gewinnen“ (BMFSFJ 2016, 189). Unbestritten ist, dass ein großer Bedarf an derartigen neuen Formen gemischter Sorge- und Pflegearrangements besteht (etwa ambulant betreute Wohngemeinschaften oder Tagesbetreuung und -pflege in geteilter Verantwortung). Modellprojekte könnten aufzeigen, „dass derartige Formen geteilter Verantwortung sowohl in Städten als auch in ländlichen Bereichen möglich sind“ (a.a.O.). Hier kann eine neu ausbalancierte Architektur der sozialen Dienste in Deutschland ansetzen, muss allerdings die bewährten Ressourcen der Wohlfahrtsproduktion ergänzen und rekombinieren. Kooperation, Partizipation, Vernetzung und besseres Case-Management sind die Schlüsselfragen im Bereich sozialer Dienste. Die bisher nebeneinanderstehenden Einrichtungen müssen neu vernetzt werden, so dass Reibungsverluste verhindert und Ressourcen gebündelt werden in Richtung des Aufbaus einer dezentralen sozialen Infrastruktur. Ob diese neue Architektur eine solche organisatorische Stabilität erreicht wie der traditionelle Wohlfahrtskorporatismus, muss bezweifelt werden, innovative subsidiär orientierte Lösungen sind heterogener, situationsbezogener und eher als hybride Lösungen aufzufassen. Ob sich solche Formen eines subsidiären Wohlfahrtsmix erfolgreich ausbreiten, ist nicht endgültig entschieden. Das alte Ordnungsmodell hat sich zwar entgrenzt und forciert neben problematischen Ökonomisierungseffekten auch experimentelle Antworten, allerdings ist es vor dem Hintergrund einer abgeschotteten Politiksegmentierung keine leichte Aufgabe, auf kommunaler Ebene kleinteilig vernetzte Versorgungsstrukturen zu etablieren. Eine steuerungstheoretische Rekonstruktion des Subsidiaritätsprinzips würde nicht mehr allein den Vorrang der traditionellen Wohlfahrtsverbände festigen, sondern offensiv für eine Rekombination und neue Balance zwischen den verschiedenen Typen von Eigenhilfe und Fremdhilfe und eine sektorenübergreifende (integrierte) Versorgung eintreten.
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Der erste Schritt innerhalb einer solchen am Subsidiaritätsprinzip orientierten Gestaltung ist die Entwicklung entsprechender dialogischer Diskussionsund Planungsformen, um ausgehend von einer Bestandsaufnahme der sozialen Potentiale (von den bürgerschaftlichen Aktivitäten bis hin zu den Ressourcen der traditionellen Verbandsakteure) eine Bündelung und Ausbalancierung der Ressourcen auf dezentraler Ebene voranzutreiben. Durch die Vernetzung würden Synergieeffekte angestoßen und darüber könnten neue innovative Projekte in verschiedenen Sozialfeldern generiert werden. Vor dem Hintergrund der sich durch die Notprogramme weiter ausweitenden öffentlichen Verschuldungen, und hohen Einnahmeausfällen der Kommunen bei steigenden Kosten, sind politische Aktivitäten in dieser Richtung jedoch generell schwieriger umzusetzen. Die Verantwortungsübernahme durch organisierte Akteure der Zivilgesellschaft ist ohne die Daseinsvorsorge durch den Staat bzw. die Kommune nicht denkbar. Die drohende kommunale Finanznot könnte so ambitionierte Vorhaben einer integrativen Versorgung ausbremsen. Wenn sich auch soziale Unterstützung von unten aufbauen kann, so ist sie doch elementar auf eine öffentliche Infrastruktur angewiesen, die zum Gelingen der Subsidiarität erheblich beiträgt – und auch dafür sorgt, dass nicht nur die „starken“ Interessen versorgt werden. Es geht um die „sozialpolitische Gestaltung gesellschaftlicher Kohäsion“ (Kersten et al. 2019, 15; vgl. auch Foundational Economy Collective 2019). Innerhalb eines neu gestalteten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements muss gewährleistet werden, dass sich die Stärken und Schwächen der verschiedenen Träger sozialer Dienste optimal ergänzen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels muss der Subsidiaritätsgrundsatz zudem neu durchdacht werden. Der von der katholischen Soziallehre ausdifferenzierte, an dem Bild konzentrischer Kreise von Verantwortlichkeiten ausgerichtete Ansatz, ist auf die neuen sozialstrukturellen Bedingungen hin weiterzuentwickeln. Durch gesellschaftliche Trends wie der Alterung der Gesellschaft kommt es bspw. zu einem Wandel traditioneller Versorgungsstrukturen: Wurde die Pflege älterer Angehöriger früher primär durch Familienangehörige übernommen, können diese Leistungen heute oft nicht mehr gewährleistet werden. Helfende und sorgende Angehörige sind immer häufiger berufstätig, so dass die Pflege und Betreuung nicht mehr allein durch die Familie sichergestellt werden kann und auch die „traditionellen“ Netzwerke in der lokalen Gemeinschaft erodieren. Die Bereitstellung entsprechender Pflege- und Betreuungsangebote geschieht deshalb durch kommunale oder wohlfahrtsverbandliche Einrichtungen. Allerdings wünscht die große Mehrheit der Älteren, möglichst lange in der eigenen Immobilie zu verweilen (auch bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit), so dass neue miteinander verknüpfte (integrierte) Versorgungsstrukturen aufgebaut werden müssen. Und es
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finden sich in vielen Regionen inzwischen auch am Subsidiaritätsgedanken orientierte Projekte, die aktiv auf die neuen Herausforderungen reagieren. Hier zeigen sich konkret Gegenmodelle zu der immer dominanter werdenden Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitswesens sowie der ausgeprägten sozialadministrativen und bürokratischen Steuerung sozialer Sicherung, die Prinzipien der Subsidiarität verletzen können. Vielfach stehen nicht mehr Selbstorganisationsfähigkeiten der Menschen, die Stützung nachbarschaftlicher Gemeinschaft und die Fokussierung auf lokale Ressourcen im Vordergrund, sondern zentralistische Qualitätsvorgaben und Aushandlungsprozesse dominieren die sozialstaatliche Steuerung. Zukünftig wird es im Sozialsektor immer stärker um das Ineinandergreifen unterschiedlicher Hilfen und Unterstützungsformen gehen. Sektorenabgrenzungen müssen gelockert, verschiedene Professionen vernetzt werden. Eine sozialintegrierte Versorgung setzt aber ein strategisches Umdenken der zentralen Gestaltungsakteure, neue Kooperationen zwischen sozialen Diensten, Netzwerken, Kommunen und anderen Trägern voraus. Aus dem Prinzip der Subsidiarität lässt sich aber keine konkrete Aussage darüber ableiten, wer, wann, wie und wofür zuständig ist. Es geht um Verantwortungsteilung und Aushandlung unter der Zielsetzung einer passfähigen Unterstützung und Hilfe – aufbauend auf einer tragfähigen Infrastruktur. Soziale Unterstützung hat sich, soweit das möglich ist, von unten her aufzubauen (aus den kleinen Kreisen). Es gilt, die Selbstorganisationsfähigkeit der Einzelnen und der Familien auch in neuen Familienformen zu stärken und so die Vorstellung der Institution „Familie“ um die „Wahlverwandtschaften“ zu erweitern. Wo dies aber nicht gelingt und solange dies nicht gelingt, ist die nächste Ebene von Verantwortlichkeit gefragt. In den wissenschaftlichen Diskursen zur Zukunft des Wohlfahrtsstaates werden die Legitimationsverluste der traditionell institutionalisierten Formen der Repräsentation und Beteiligung in Verbänden und Gremien kritisch thematisiert und zunehmend auf die neu entstandenen Engagementformen verwiesen (etwa Quartiersprojekte). „Aus den entsprechenden lokalen Aufbrüchen und Suchbewegungen haben sich aber bislang kaum generalisierte Modelle entwickelt. Sie können aber nicht am grünen Tisch oder im Rahmen akademischer Konzeptbildungen entstehen, sondern nur entlang von Prozessen des Suchens und demokratischen Experimentierens. Lokale Politik könnte eine Art Labor für erfahrungsgestützte Prozesse der Suche nach post-korporativen Formen der Zusammenarbeit und Aufgabenteilung sein“ (Evers 2017, 248; vgl. auch Strünck 2017). Diese neuen Organisationsformen geteilter Verantwortung sind zentral auf soziales Engagement angewiesen. Dabei sollte allerdings das formalisierte Engagement nicht überschätzt werden. Gerade im Alter spielen die unmittelbaren, auch nachbarschaftlichen Beziehungen, innerhalb derer man Verantwortung über-
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nimmt, eine wichtige Rolle. Da sowohl das familiäre als auch das ehrenamtliche Engagement vorwiegend von Frauen geleistet wird, ergibt sich auch mit Blick auf die Subsidiarität als Ordnungsrahmen die Notwendigkeit, Genderfaktoren explizit mit anzusprechen. Viele Frauen müssen durch ihr soziales Engagement berufliche Benachteiligungen hinnehmen und weisen dadurch bspw. im Alter oft Sicherungslücken auf. Allerdings haben sich in den letzten 30 Jahren nach den SOEP-Daten die Geschlechterunterschiede in den Engagementquoten weiter angenähert (vgl. Burkhardt/Schupp 2019). Dennoch sind Schritte zur Überwindung dieser Benachteiligungen gefordert. Es ist auch zu fragen, wie Männer vermehrt und gezielter für soziales Engagement (etwa in der Pflege) angesprochen werden können. „Vor diesem Hintergrund muss der Ermöglichung der Sorgearbeit gesellschaftsund wirtschaftspolitisch größere Aufmerksamkeit zukommen. Für Männer und Frauen muss die Vereinbarkeit auch anspruchsvoller Berufswege mit Sorgearbeit und außerfamiliärem Engagement gleichermaßen selbstverständlich werden. Dazu gehört auch, dass den Einbußen eigener Altersabsicherung für diejenigen, die diese Arbeit leisten und dafür zum Teil ihre Erwerbstätigkeit reduzieren, stärker als bisher entgegengewirkt werden muss“ (BMFSFJ 2016, 49).
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Genossenschaften als gemeinwirtschaftliche Partizipationsinstrumente
In Deutschland gehören derzeit rund 19,7 Millionen Menschen den über 5.500 Genossenschaften unter dem Dach des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbandes (DGRV) an. „Praktisch jeder Landwirt ist Mitglied einer oder mehrerer Genossenschaften. 60 % aller Handwerker, 75 % aller Einzelhandelskaufleute, 90 % aller Bäcker und Metzger sowie über 65 % aller selbständigen Steuerberater sind Genossenschaftsmitglieder. Die Wohnungsbaugenossenschaften umfassen 3,2 Mio. Mitglieder und bewirtschaften ca. 10 % der Mietwohnungen in Deutschland“ (DGRV: https://www.dgrv.de/de/genossenschaftswesen.html/Abfrage: 2.1. 2020). Fünf Sektoren können unterschieden werden: • Kreditgenossenschaften (915 mit gut 18,5 Millionen Mitgliedern und fast 200.000 Beschäftigten) • Raiffeisengenossenschaften (2104/ländlich orientiert) mit über 100.000 Beschäftigten • Gewerbliche Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften (1342 mit fast 650.000 Beschäftigten) • Energiegenossenschaften (862) • Konsum- und Dienstleistungsgenossenschaften (379) Bereits seit einiger Zeit werden vor dem Hintergrund der Kritik an einer zu einseitigen Ökonomisierung der Daseinsvorsorge in den Medien auch die Genossenschaften als Erfolgsmodell diskutiert, das auch nach 150 Jahren noch eine Wertegemeinschaft darstellt und zukünftig wieder eine stärkere Rolle einnehmen könnte. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_10
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„Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung ist ein anreizkompatibles Element der genossenschaftlichen Governance: Das Streben nach einzelwirtschaftlichem Erfolg durch die genossenschaftliche Zusammenarbeit induziert gleichzeitig positive Wirkungen, die darüber hinausgehen. Gesellschaftliche Verantwortung ist also der genossenschaftlichen Kooperation inhärent und bedeutet nicht eine Korrektur ihrer Strategie oder ihrer einzelwirtschaftlichen Zielsetzungen. Einzelwirtschaftliche Effizienzziele und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung sind nicht widersprüchlich, sondern sie harmonieren“ (Theurl 2013, 93). Bei aller Euphorie, die in manchen öffentlichen Debatten aufflammt, sollte man allerdings bedenken, dass es sich bei den Genossenschaftsgründungen nicht um eine kleine „Graswurzelrevolution“ handelt, zumal viele eher als Unternehmensform gegründet werden. Deshalb muss man „nüchtern feststellen, dass die Genossenschaft in Deutschland nur noch eine randständige Unternehmensform ist. Trotz leicht ansteigender Gründungszahlen in den letzten Jahren wurden im Jahr 2012 bei insgesamt ca. 311.000 Unternehmensgründungen nur 209 Genossenschaften gegründet, dagegen ca. 42.000 GmbHs und knapp 10.000 Unternehmergesellschaften (haftungsbeschränkt). Existierten 1970 noch gut 18.000 Genossenschaften, sind es heute noch circa 9.500. Aktuell ist die Rechtsform Genossenschaft offenbar für Existenzgründer nur selten attraktiv“ (Philipps 2014, 2). Das Wirtschaften nach genossenschaftlichen Werten ist ein stabiler gesamtwirtschaftlicher Faktor und bietet den Menschen Sicherheit (gerade im Feld elementarer Grundbedürfnisse wie dem Wohnen). Da sowohl marktliche Lösungen als auch die traditionelle Politik von einer Vertrauenskrise betroffen sind, kommen – wie bereits erwähnt – alternative wirtschaftlich-soziale Organisationsformen wie die Genossenschaften wieder in die Diskussion. Auch wenn nicht immer der Begriff „Genossenschaft“ gewählt wird, gewinnt die Idee auch vor dem Hintergrund der Kritik an der Externalisierung sozialer und ökologischer Effekte (vgl. Lessenich 2016) neue Bedeutung. „Es geht um neue Formen der Organisation und Verteilung von Erwerbsarbeit sowie die Förderung lokaler Wertschöpfung durch die Verbindung von lokaler Produktion und lokalem Konsum, um die systematische Verknüpfung von Bedürfnissen und Potenzialen, lokal-regionale Netzwerke oder Primär- und Sekundärgenossenschaften zur Sicherung und Bewirtschaftung von Gemeingütern“ (Elsen 2017, 137; vgl. auch Mori 2014 sowie die Beiträge in Jaeger-Erben et al. 2017). So gesehen erfüllen Genossenschaften alle Anforderungen an pragmatische Visionen, wie sie derzeit oft eingefordert werden. Sie sind nicht nur als lokale Selbstorganisationsmodelle zu verstehen, sondern können auch Großunternehmen sein. So ist in Deutschland die genossenschaftlich organisierte Edeka-Gruppe der größte Verbund im deutschen Einzelhandel mit über 350.000 Mitarbeitenden.
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In den letzten Jahren konnten die Genossenschaften in verschiedenen Feldern der lokalen und regionalen Infrastruktur wieder stärkere Bedeutung erlangen; insbesondere zwischen 2009 und 2013 kann von einem regelrechten „Gründungsboom“ im Energiesektor gesprochen werden. Die jährlichen Neueintragungsraten in den Genossenschaftsregistern erreichten ihren Höhepunkt 2011, nehmen seitdem allerdings wieder ab. „Vor dem Hintergrund der mit der Energiewende einhergehenden Subventionierung erneuerbarer Energien ist die Zahl der Energiegenossenschaften in Deutschland in den letzten Jahren stark angestiegen. Für den Anstieg der Gesamtzahl sind Energiegenossenschaften maßgeblich verantwortlich, die sich in unterschiedlicher Form ausgebreitet haben: „1. Energie-Erzeuger-eG produzieren und vertreiben aus Primärenergieträgern (Wasser, Wind, Sonne, Biomasse) Sekundärenergie. 2. Energie-Verbraucher-eG versorgen ihre Mitglieder mit Sekundärenergie (durch einen gemeinsamen Energieeinkauf bei den Energieerzeugern). Häufig betreiben sie auch eigene Netze, über die sie die Energie regional verteilen. 3. Energie-Erzeuger-Verbraucher-eG umfassen die gesamte Wertschöpfungskette (von der Erzeugung, über den Handel, Transport bis zum Konsum). 4. Dienstleistungs-eG unterstützen alle zuvor genannten Energie-eG mit Serviceleistungen in den Bereichen Beratung, Kapitalvermittlung, ggf. Wartung“ (Walk 2019, 137).
Begünstigend wirkte sich die Novellierung des Genossenschaftsgesetzes im Jahr 2006 aus, die unter anderem Gründungen erleichterte (da seitdem nur noch drei statt sieben Personen zur Gründung benötigt werden) und Förderungszwecke sozialer, gesundheitlicher, kultureller und ökologischer Natur für zulässig erklärte. Nachdem die gesetzlich garantierte Einspeisevergütung vor allem für Strom aus Photovoltaik-Anlagen durch Novellierungen des EEG abgesenkt wurde, kam auch die Gründungsdynamik mehr und mehr zum Erliegen. Erstmals seit einigen Jahren sind die Energiegenossenschaften nicht mehr der dominierende Bereich in der Gründungsstatistik, dennoch kommt ihnen als Einstiegsprojekten in den transformatorischen Wandel des Energiesektors eine wichtige Rolle zu. Im Gründungstrend liegen ebenfalls Dienstleistungsgenossenschaften (derzeit entfällt jede dritte Neueintragung auf diesen Bereich), wobei die Bandbreite der Dienstleistungen groß ist. Sie reicht von IT- oder Personaldienstleistungen für die Mitgliedsunternehmen, über betriebliches Gesundheitsmanagement, Ärzteund Familiengenossenschaften bis hin zu Angeboten aus dem gemeinnützigen Bereich (Jugendbetreuung oder Seniorenpflege, Integration von Zugewanderten etc.). So gründeten bspw. im September 2015 15 Personen (darunter der Bürgermeister, Vertreter aller im Gemeinderat vertretenen Fraktionen, der katholischen und der
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evangelischen Kirche und des lokalen Wirtschaftsverbandes) in Sögel/Emsland die Bürgergenossenschaft „Willkommen in Sögel eG“. Dort wurden rasch zentrumsnah Wohnunterkünfte für Geflüchtete mit insgesamt 23 Wohnungen errichtet, um die soziale Integration zu erleichtern. Inzwischen gibt es mehr als 260 Mitglieder, die vielfältige Aktivitäten entfalten (vgl. Newsletter genossenschaften.de, Ausgabe 1/2018). Generell sind in den letzten zehn Jahren rund 2.000 Genossenschaften gegründet worden; unter ihnen in verschiedenen Orten Genossenschaften des Gemeinwesens. „Von den insgesamt 315 neu gegründeten Genossenschaften des Gemeinwesens sind mehr als ein Drittel im Bereich der Nahversorgung entstanden, mehrheitlich Dorfläden im ländlichen Raum. Aber auch Gasthäuser, Erzeuger-Verbraucher-Kooperationen und Weltläden (vor allem im städtischen Bereich). Mehr als ein Viertel dieser Genossenschaften wurden im Bereich der Sozialwirtschaft gegründet, die sich zum Teil auch mit staatlichen Geldern finanzieren und an denen beispielsweise Unternehmen oder Wohlfahrtsverbände beteiligt sind. Dazu zählen Genossenschaften Erwerbsloser, Behindertenwerkstätten, Palliativ- und Pflegeeinrichtungen sowie genossenschaftliche Kindergärten und Schulen. Einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten auch viele Genossenschaften im Bereich der Raumentwicklung, die beispielsweise Bürgerhäuser erhalten, Denkmalschutz betreiben, regionale Wirtschaftskreisläufe durch Regionalwährungen stärken oder Ackerflächen in Gemeinschaftseigentum überführen. Jede zehnte Genossenschaft stellt Leistungen in den Bereichen Freizeit und Kultur bereit, zum Beispiel Sport einrichtungen wie Schwimm- und Turnhallen, Theater, Kino und andere Kultureinrichtungen“ (Thürling 2018). Obwohl Genossenschaften gerade in Feldern der Daseinsvorsorge (der Fundamentalökonomie) eine bedeutsame Rolle spielen und auch aktuell bspw. im Feld des Wohnens soziale Probleme lösen können, sind sie bspw. nur wenigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen überhaupt bekannt. In einer InWIS-Befragung unter RUB-Studenten (rd. 2400) in 2014 hatten 80 % keine Erfahrungen mit Wohnungsgenossenschaften, 40 % kannten sie überhaupt nicht (Bölting et al. 2015). Es zeigte sich aber auch, dass genossenschaftliche Prinzipien durchaus beliebt sind, allerdings ist nicht bekannt, dass sie mit Genossenschaften zu tun haben. Teilweise war sogar Gleichgültigkeit oder Abneigung zu spüren – Genossenschaften wurden im Wohnungswesen wie normale Anbieter wahrgenommen, hohe Genossenschaftsanteile und lange Kündigungsfristen sogar als „unseriös“. Man könnte daraus schlussfolgern, dass ein Bewerben der genossenschaftlichen Idee bei jungen Menschen nicht zielführend sei. Allerdings zeigt sich auch, dass die Prinzipien, wenn „die Genossenschaft“ einmal verstanden ist, positiv bewertet werden. Dies zeigen auch empirische Untersuchungen bei „jungen“ Mitgliedern von Wohngenossenschaften (die übrigens gegenüber den traditionellen
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Genossenschaftsmitgliedern besser gebildet sind und ein höheres Einkommen aufweisen): „Da die jungen Genossenschaften als Wohnprojekte konzipiert wurden, besteht hier unter den Befragten ein engeres Nachbarschaftsverhältnis und die Zufriedenheit mit der Nachbarschaft im Haus bzw. in der unmittelbaren Umgebung wird positiver bewertet als in den Traditionsgenossenschaften. Während für die Bewohner/innen traditioneller Genossenschaften die Wahl der Wohnung und die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft überwiegend aus ökonomischen Gründen erfolgte, war für die Bewohner/innen der jungen Genossenschaften insbesondere das gemeinschaftliche, das barrierefreie und das ökologische Wohnen relevant“ (Spellerberg 2018, 186). Die Ideen des gemeinschaftlichen Wohnens und der Selbstorganisation stehen also, wenngleich sozial selektiv, noch immer relativ hoch im Kurs. Deshalb sollten Genossenschaften weiter daran arbeiten, sich als eigenständige Akteure zu präsentieren. Vorteile und Wirkungen ihrer am Gemeinwohl orientierten Prinzipien sollten plakativ und mehrwertbezogen dargestellt werden. „Für die breite Diffusion der Kenntnis über die Genossenschaft spielt Bildung eine besondere Rolle. Interaktive Projekte wie Schülergenossenschaften helfen, ein Bewusstsein für kooperatives Wirtschaften zu schaffen, das in diesem Umfang unmöglich per Lehrplan vermittelt werden kann. […] Ein großes Problem stellt gegenwärtig die mangelnde Präsenz der Genossenschaft in der Bildung derer dar, aus denen sich der Nachwuchs für spätere Berater und andere Multiplikatoren rekrutiert, also vor allem in der Hochschulbildung. Man kann heutzutage einen Master in Betriebswirtschaftslehre abschließen, ohne einmal von der Rechtsform der Genossenschaft gehört zu haben“ (Blome-Drees et al. 2015, 320). Inzwischen gibt es bereits manche Schülergenossenschaften, aber das gesamte Bildungssystem muss sich stärker mit dem Thema beschäftigen, gleichzeitig müssen die Genossenschaften sich stärker dem Nachwuchs widmen. Auch wenn die Genossenschaft in Deutschland trotz steigender Gründungszahlen in den letzten Jahren nur noch eine „randständige“ Unternehmensform ist, ist sie auch nach 150 Jahren noch eine attraktive „lebendige Wertegemeinschaft“. Vor dem Hintergrund wachsender Unsicherheiten und angesichts der Finanzkrisen der letzten Jahre könnte sie zukünftig vielleicht sogar eine noch stärkere Rolle als „Aktivierungs- und Steuerungsinstrument“ (Kluth 2017) einnehmen. Die derzeit wieder oft entdeckte wachsende Bedeutung von Nachbarschaften und Selbsthilfenetzwerken und der Wunsch nach Engagement und Mitwirkung entsprechen den genossenschaftlichen Prinzipien (vgl. die Beiträge in Heinze et al. 2019b). Gerade Wohngenossenschaften (die rund drei Viertel der Bevölkerung bekannt sind) können soziale Sicherheit in unruhigen Zeiten bieten: „Genossenschaften sind identitätsstiftend. Die Genossenschaftsgründer haben mit ihrem Engagement eine
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vielschichtige Leistung für unsere Gesellschaft erbracht. Diese reicht von der Verbesserung der Wohnsituation bis hin zu Errungenschaften wie Kindergärten und Kinderspielplätzen, die in die genossenschaftlichen Anlagen integriert wurden. Dass sie damit vielen Menschen die Perspektive eröffneten, durch Selbsthilfe die Lebenssituation zu verbessern, ist ein Umstand, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Genossenschaftliches Wohnen sorgt damals wie heute für soziale Stabilität in unserem Land“ (Martens 2012, 46; vgl. auch ders. 2015). Wie oben bereits erläutert, kann daher auch die Neugründung von gemeinschaftlichen Wohnprojekten und Wohngenossenschaften als Alternative gesehen werden. Zwar gibt es hier einen Anstieg in den vergangenen Jahren, doch schon wegen der – auch für Genossenschaften – bestehenden Schwierigkeiten, z. B. ausreichend Grundstücke zu akzeptablen Preisen akquirieren zu können, ist eine Gründungswelle bislang nur begrenzt zu beobachten. Vor dem Hintergrund der offensichtlichen Probleme auf dem Wohnungsmarkt in einigen Metropolregionen und für gewisse Bevölkerungsgruppen sollten diese Selbstorganisationsmodelle stärker thematisiert und gefördert werden. Die neu geschaffenen Optionen selbstgestaltenden Wohnens demonstrieren nachhaltige Akzeptanz. „Der Vergleich traditioneller und neuer Genossenschaften hat ergeben, dass die genossenschaftlichen Ideale bei beiden Formen hoch im Kurs stehen: die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens, die Selbstorganisation, die Selbstverwaltung und die Selbstbestimmung. Von einem weiteren Bestehen oder sogar einer Steigerung der wohnungspolitischen Bedeutung von Genossenschaften und Wohnprojekten ist vor diesem Hintergrund auszugehen“ (Spellerberg 2018, 194; vgl. auch Beuerle 2019 und Möller 2019). Wohngenossenschaften könnten bspw. nicht nur für vorwiegend ältere Menschen eine sichere Daseinsvorsorge, sondern auch Vermieter für junge Menschen sein, die sich einbringen und selbst in ihrer Nachbarschaft mitbestimmen möchten. Dadurch könnte auch der „Veralterung“ der Wohnungsgenossenschaftspopulation entgegengewirkt werden. Insbesondere hinsichtlich der Mitbestimmung haben sich jedoch die Bedürfnisse gerade junger Menschen geändert. Heute steht weniger der Wunsch nach einer langfristig orientierten, formalisierten Mitbestimmung im Vordergrund. Auch das Interesse an „Posten“ bzw. Ämtern ist oft nicht so stark ausgeprägt. Vielmehr sind es junge Leute gewohnt, sich anlassbezogen bei Themen, die sie interessieren einzubringen, erwarten dann aber auch möglichst zeitnah konkrete Änderungen bzw. Effekte. Vorbild ist das Internet, wo es Interaktivität in vielfacher Hinsicht gibt. Übertragen ließe sich das durch Beteiligungsstrukturen, die auf Freiwilligkeit basieren und Anreize schaffen (Treffen nicht am traditionellen Stammtisch, sondern in modernem Ambiente), eine Entformalisierung von Sitzungsstrukturen und die Förderung von projektbezogenem Engagement.
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Generell bekommen familienübergreifende soziale Netzwerke, Nachbarschaften etc. durch den demografischen und sozialen Wandel größere Bedeutung – und davon können auch Genossenschaften profitieren. „So ermöglichen beispielsweise Sozial- und Gesundheitsgenossenschaften bedarfsspezifische Lösungen, die kosteneffizienter als ihre marktwirtschaftlichen Konkurrenten arbeiten, da keine Ressourcenabflüsse an Investoren oder Overheadkosten an Unternehmen der Wohlfahrtsindustrie abgeführt werden. Auch im Fall öffentlicher Förderung garantieren Genossenschaften optimale Ressourcennutzung, Transparenz und die demokratische Mitsprache der Nutzer/-innen. Genossenschaftsgründungen im Bereich sozialer und gesundheitlicher Dienste reagieren zudem auf neue soziale Bedürfnisse und Selbstvertretungsansprüche Betroffener“ (Elsen 2012, 88; vgl. auch Schröder/Walk 2014). In diesem Sinn sind Sozial- oder Seniorengenossenschaften ein Bestandteil von neuen netzwerkartigen Formen organisierter bürgerschaftlicher Selbsthilfe, wobei aus den selbst gewählten Bezeichnungen nicht immer auf den Inhalt und die Rechtsfigur geschlossen werden kann. Wir haben es sowohl mit unterschiedlichen Mitgliederstrukturen zu tun als auch mit unterschiedlichen Aufgaben. In diesem Sinn sind sie aber „Orte der Rollenorientierung, Identitätsstiftung und sinngebenden Personenwerdung“ (Köstler/Schulz-Nieswandt 2010, 13) mit dem Ziel der Bearbeitung und ggf. Lösung sozialer Probleme. Ein konkretes Beispiel mag dies anhand der Seniorengemeinschaft Kronach Stadt und Land e.V. verdeutlichen, die 2015 mit einem Pflegepreis des Städte- und Gemeindebundes ausgezeichnet wurden, obwohl sie gar keine Pflege, sondern nur Alltagshilfen außerhalb des Pflegegarde leisten. „In Kronach in Oberfranken hat eine junge Frau eine Seniorengemeinschaft gegründet, weil sie selbst auf Nachbarschaftshilfe angewiesen war und niemand kam. Mit öffentlichen und anderen privaten Mitteln und einem Anteil des Generali Zukunftsfonds hat sie einen Verein gegründet, der inzwischen 887 Mitglieder hat, die sich gegenseitig unterstützen mit mehr als 30.000 geleisteten Stunden Nachbarschaftshilfe: Vom Rasenmähen über Wäschewaschen, Begleitung zum Rathaus oder zum Arzt usw. Die Aktiven bekommen dafür ein Taschengeld von den Betreuten (und führen einen Teil an den Verein ab, um die Koordination zu bezahlen). Wer kein Geld nimmt, dem wird die Stunde auf einem Zeitkonto gutgeschrieben, das er später selbst in Form von Dienstleistungen abrufen kann, wenn er Hilfe braucht, ohne dafür zu zahlen. Wenn das richtig gemacht wird, könnte das zu einer vierten Säule der Altersvorsorge führen, gerade für diejenigen, die wenig Geld haben und in den anderen Säulen (gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge) nicht viel zu erwarten haben. Das Modell ließe sich auf andere Gemeinden übertragen“ (Sittler 2018, 13). Auf der politischen Bühne werden solche dezentralen Initiativen verstärkt beachtet und auf Länderebene neue Förderprogramme hierfür aufgelegt. In Bayern
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begann man bspw. schon 2013 mit dem Aufbau von Sozialgenossenschaften. „Im Unterschied zu „Seniorengenossenschaften“ haben „Sozialgenossenschaften“ nicht nur Hilfeleistungen für die älteren Menschen im Fokus. Zielgruppen können hier nicht nur Seniorinnen und Senioren sein, sondern z. B. auch bedürftige Familien, Alleinerziehende, Arbeitslose, von Diskriminierung Betroffene etc.[..] Bei „Sozialgenossenschaften“ liegt der Fokus mehr auf der sozialen Integration verschiedener Gruppen miteinander, bei „Seniorengenossenschaften“ können zwar auch jüngere Mitglieder dabei sein (im Sinne einer Altersvorsorge), der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Leistungserbringung für ältere Menschen“ (Rosenkranz/ Görtler 2013; vgl. auch die Beiträge in Beyer et al. 2015 sowie Göler von Ravensburg 2015). Nach dieser groben Definition dürften derzeit in Deutschland über 200 Seniorengenossenschaften bestehen (vgl. Kremer-Preiss 2019). Angesichts der neuen Herausforderungen (etwa durch den demografischen Umbruch) können sie als Netzwerk Leistungen erbringen (bspw. Hilfen im Haushalt oder Fahr- und Begleitdienste) und Älteren auch das Gefühl geben, gebraucht zu werden. Hinzu kommt, dass – trotz der nachvollziehbaren Gründe für eine stärkere Beachtung des Genossenschaftsgedankens und einiger Initiativen in ausgewählten Sektoren – bislang keine allzu breite Resonanz für die Thematik in der Bevölkerung erkennbar ist. Dies kann auch im veränderten sozialen Engagement begründet liegen, das – wie bereits gezeigt – in den vergangenen Jahrzehnten einen schrittweisen Strukturwandel vollzogen hat. Aber auch wenn das Engagement subjektiver und tendenziell instabiler geworden ist, scheinen sich viele junge Menschen angesichts der gewachsenen Mobilität ebenfalls nach lokaler Identität zu sehnen. Sozialgenossenschaften und genossenschaftlich betriebene Einrichtungen der Alten- oder Kinderbetreuung weisen auf diesen Trend zu Infrastrukturgenossenschaften hin. 2017 wurden ähnlich wie 2016 knapp 100 Genossenschaften unter dem Dach des Verbandes gegründet; mehr als die Hälfte in den Feldern Energie und Dienstleistungen (Wohnprojekte und Dorfläden zusammen 18). Schrittweise breiten sich so genossenschaftliche Lösungen auch in innovativen Feldern wie Elektromobilität, Generationenwohnen oder Ärzteversorgung auf dem Land aus und signalisieren damit, dass hierüber partizipative Gestaltungsspielräume geschaffen werden können. Durch ihre lokale Verbundenheit sind sie die adäquate Adresse für solche Organisationsformen und schaffen auch Wertschöpfungsketten. Trotz einzelner positiver Beispiele für die Erhaltung oder Schaffung einer Identität vor Ort (auch in infrastrukturschwachen Regionen) bleiben solch lokale Lösungen eher noch Inseln und müssen stärker gefördert und in der Öffentlichkeit kommuniziert werden. Die große Bedeutung von Infrastrukturgenossenschaften zeigt sich exemplarisch anhand der Emschergenossenschaft im Ruhrgebiet, die als Vorreiter und
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federführende Instanz des ökologischen Umbaus gilt. Sie zielt mit ihrer integrierten, präventiv ausgerichteten Wasser- und Stadtentwicklungspolitik auf eine gemeinwohlverträgliche Gestaltung des Strukturwandels und unterstützt die Quartiere bei der Gestaltung der unterschiedlichen Herausforderungen zur Sicherung und Verbesserung ihrer Standortattraktivität (auch für Unternehmen) und Lebensqualität. Für das Ruhrgebiet geht es um die Schaffung moderner Urbanität, die Zugänge zu Kultur, Familienfreundlichkeit und Freizeitmöglichkeiten bei gleichzeitig vorhandener Gesundheits- und Versorgungsinfrastruktur bietet (vgl. Bogumil et al. 2012 sowie die Beiträge in Farrenkopf et al. 2019 und Polivka et al. 2017). Vorreiterprojekte können hierbei nicht nur Innovationspotentiale „vor Ort“ freisetzen, sondern auch eine positive Signalwirkung für andere Kommunen entfalten und Spill-Over-Effekte anstoßen. Die Emschergenossenschaft wurde 1899 als Reaktion auf den sich ausbreitenden Steinkohlebergbau mit all seinen Folgewirkungen (gewerbliche Abwässer und durch die Bevölkerungszunahme ebenso wachsende häusliche Abwässer) von Vertretern der anliegenden Städte und Kreise, des Bergbaus und der Industrie gegründet und weist somit eine spezifische Pfadabhängigkeit auf. In der über 100-jährigen Geschichte ist aber nicht nur hervorzuheben, wie erfolgreich aus historischer Sicht die Wasserwirtschaftsgenossenschaft gewirkt hat und aus der Revierkloake in den letzten 30 Jahren eine neue Wasserlandschaft formte, sondern dass sich über diese Infrastruktur auch eine regionale Vernetzung ergeben hat, die man in moderner Terminologie als „Regional Governance“ bezeichnen würde und die gerade heute als Gestaltungsinstrument genutzt werden kann. Bezogen auf eine nachhaltige Wasserwirtschaft hat sie sich als äußerst zukunftsfähiges Modell zum effizienten Umgang mit Wasser und weiteren Infrastrukturen erwiesen. Diese sozioökonomischen Folgewirkungen (etwa für die Stadtentwicklungen), der „Mehrwert“ der Genossenschaft, wird allerdings in den einschlägigen Debatten in der Öffentlichkeit noch zu wenig beachtet. Dabei könnten Nonprofit-Organisationen wie Genossenschaften gut integrierte Programme für benachteiligte Sozialräume auflegen, um deprivierte Stadtteile und Quartiere zusätzlich zu unterstützen. Inzwischen gibt es Konsens darüber, dass die Stärkung sozialer Bindungen auf Quartiersebene zur Bewältigung wichtiger gesellschaftlicher Herausforderungen von zentraler Bedeutung ist. Das Quartier als neuer „Ort“ für vernetzte Politiken gewinnt so an Bedeutung und schafft Räume für zivilgesellschaftliche Organisationsmodelle. Ebenso führen generelle Umbrüche in der Wirtschaftslandschaft zu einem „Reset“ des Quartiers: etwa der Rückgang der Industriearbeit, flexible Arbeitsverhältnisse, kleine projektförmige Unternehmen (z. T. Start-Ups) sowie generell die Digitalisierung („Arbeiten zuhause“) generieren neue Anforderungen an die lokale Infrastruktur. Die neuen
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Herausforderungen etwa im Feld Energieeffizienz, integrierte Gesundheitsversorgung oder alternative Mobilitätskonzepte erfordern einerseits branchenübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, anderseits eine starke Lokalorientierung, was wiederum die Gründung dezentraler Initiativen anregt. Quartiersinitiativen „von unten“ stoßen jedoch auf zahlreiche institutionelle Hindernisse. „BürgerInnen, die gemeinsam die eigene Straße beleben und verschönern wollen, werden zuerst mit einer Reihe Vorschriften konfrontiert statt von den Stadtverwaltungen unterstützt. In Deutschland gibt es kaum Spielräume für eine echte Selbstverwaltung und Autonomie im Lokalen, wie es z.B. in der Schweiz der Fall ist. Es braucht an dieser Stelle eine radikale Reform, die Governance von „unten nach oben“ organisiert (nach dem Prinzip der Subsidiarität) und Dezentralisierung mit Föderalismus und Mechanismen der gerechten Umverteilung kombiniert“ (Brocchi 2018, 177; vgl. auch Wendt et al. 2018). Hier besteht ein erheblicher Handlungsbedarf, der auf den unterschiedlichen Ebenen des politischen Systems ansetzen muss. Perspektivisch kann auf eine Strategie der aktivierenden Kooperation gesetzt werden, um die Akteure vom konkreten Mehrwert zu überzeugen. Ein weiterer entscheidender Faktor für erfolgsversprechende Zukunftsinitiativen ist in diesem Zusammenhang eine stärkere Vernetzung von Stadtentwicklungs-, Energie-, Wohnungs-, Bildungs- und Strukturpolitik. Solch zukunftsfähige Quartiersentwicklungen können auch wesentlich durch Genossenschaften mitgeprägt werden, wie es bspw. in der Schweiz in einem Modellprojekt „Lebendiges Quartier statt Siedlung“ geschieht (vgl. Baumgartner 2019 sowie die Beiträge in Reutlinger et al. 2017). In Zürich entsteht ein exemplarisches Genossenschaftsquartier, das Wohnen, Leben und Arbeiten verbindet. Energieeffiziente Gebäude und wenig Autos unterstützen einen umweltschonenden Lebensstil und demokratische Mitwirkungsrechte tragen zur sozialen Nachhaltigkeit bei. Trotz dieser positiven Wirkungsmöglichkeiten findet dennoch nur begrenzt eine Renaissance der Genossenschaften in Deutschland statt, obwohl hierüber der soziale Zusammenhalt vor Ort aktiviert und neue Gestaltungsfreiräume für Infrastrukturangebote erschlossen werden können. Dies hat verschiedene Gründe; hingewiesen wurde bereits darauf, dass Genossenschaften als Wirtschaftsund Rechtsform wenig bekannt sind. Und „auch das Wissen um das spezifische Potenzial der Rechtsform (wird) nicht vermittelt. Im Gegenteil werden die höheren formalen und inhaltlichen Anforderungen an die Gründung einer Genossenschaft als Nachteil im Vergleich zur flexiblen GmbH eingestuft und nicht als Garantie oder Unterstützung für bessere Geschäftsmodelle“ (Kluth 2019, 20). 2017 wurde durch eine weitere Reform des Genossenschaftsgesetzes die Gründung von kleinen Genossenschaften erleichtert, um dadurch die Nutzung der Rechtsform für zivilgesellschaftliches Engagement zu verbessern.
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Eine Option für den Gesundheitsbereich wären bspw. persönliche Datengenossenschaften. Es gibt auch eine Debatte zu „Platform-Cooperativism“; ein Konzept für neue digitale Eigentumsmodelle, um die profitorientierte Logik der Konzerne anzugehen, indem Plattformgenossenschaften aufgebaut werden. „Das Internet wurde 1969 als militärisch-wissenschaftliches Netzwerk von der DARPA entworfen. Zwischen 1990 und 1994 plante sie jedoch die Weitergabe der öffentlich finanzierten Internetinfrastruktur NSFNET an Privatfirmen, die 1995 offiziell erfolgte. Seitdem hat uns das Internet in fast allen Bereichen viel gebracht; die Frage des gemeinsamen Eigentums blieb jedoch unberührt. Plattformgenossenschaften in kollektivem Besitz könnten die ursprüngliche Idee der öffentlichen Plattform wieder zum Leben erwecken, ohne die dem Internet zugrunde liegende private Infrastruktur verändern zu müssen. Hier geht es nicht um Bilder von niedlichen Kätzchen in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Reddit, sondern um ein Internet, das seinen NutzerInnen gehört. Könnte es etabliert werden, würde es die Beziehung des Menschen zum World Wide Web grundlegend verändern“ (Scholz 2017, 82; vgl. auch Schneider 2019). Es werden auch konkrete digitalbasierte Genossenschaften vorgeschlagen: etwa die Gründung von kommunalen Plattformgenossenschaften, die ähnlich wie Uber als Transport- und Arbeitsvermittlungsunternehmen agieren oder in Anlehnung an Airbnb Räume an Reisende vermieten. An der Wikipedia-Plattform, die von 80 % der deutschen Internetnutzer ab 14 Jahren nach einer repräsentativen Befragung von Bitkom im Jahr 2016 benutzt wird (vgl. Janker/Urban 2019) zeigt sich, wie traditionelle Kooperativmodelle wie das Genossenschaftswesen durchaus auch im digitalen Zeitalter bestehen und über genossenschaftliche Plattformen nachhaltige, solidarische Infrastrukturen (man kann es auch altruistische Kollaboration nennen) realisieren können. Dabei werden für einen derartigen Plattform-Kooperativismus vier Grundprinzipien vorgeschlagen: • „Kollektive Eigentümerschaft, in der die Nutzerinnen und Nutzer sowie die Beschäftigten gleichzeitig Eigentümer sind, die Technologie, Algorithmen und Daten der Online-Plattform besitzen und somit steuern und kontrollieren können. Kollektive Eigentümerschaft bedeutet auch, für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen. • Demokratische Organisation, bei der die Nutzerinnen und Nutzer sowie die Beschäftigten die Plattform nach dem Prinzip „eine Person – eine Stimme“ selbst verwalten.
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• Co-Design der Plattform, bei der die Nutzerinnen und Nutzer sowie die Beschäftigten in das Design und die Erstellung der Plattform einbezogen werden, so dass die Software ihren Bedürfnissen entspricht. • Open-Source, so dass neue Genossenschaften das Rad nicht neu erfinden müssen. Zusammenfassend geht es darum, das technische Herz digitaler Plattformen in ein kooperatives Modell zu überführen“ (Scholz 2018; vgl. auch Morozov/Bria 2017). In Deutschland sind bislang gemeinnützige Digitalgenossenschaften und auch genossenschaftlich organisierte „Crowd-Economy-Projekte“ kaum aufzufinden, da die Mehrzahl der „Crowdworker“ soloselbstständig ist. Erst langsam mehren sich die Stimmen, die Alternativen zur „Zwangskollektivierung“ von Daten suchen. Ein Ausweg ist die „Aneignung von Produktionsmitteln, Datengenossenschaften, in denen Daten (zum Beispiel Verkehrsdaten) als öffentliche Güter behandelt und über offene Schnittstellen mit Bürgern geteilt werden“ (Lobe 2019a; vgl. auch Mason 2019, 309ff.). Gemeinwohlorientierten Strategien der Datennutzung muss deshalb verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im Projekt „Soziale Nachbarschaft & Technik“ (SoNaTe) soll bspw. „ein neuartiges digitales Kommunikationsnetzwerk entwickelt und wissenschaftlich evaluiert werden, das Kommunen und Regionen beim Aufbau sozialer Nachbarschaften unterstützt. Mithilfe des Netzwerks werden Personen, Personengruppen, Organisationen und Unternehmen des regionalen Sozial- und Wirtschaftsraumes miteinander verbunden, um alltagsnahe Interaktion, soziale Kommunikation, Dienstleistungen, Leistungen der lokalen Infrastruktur und auch Freizeitangebote zu erschließen“ (https://www.demografie-portal.de/SharedDocs/Handeln/DE/GutePraxis/SoNa Te.html). Das Augenmerk wird in diesem wie auch anderen Modellprojekten zu digital gestützten Gemeinschaftsbildungen insbesondere darauf gelegt, die Erkenntnisse aus den Bereichen Mensch-Computer-Interaktion mit den aktuellen Anforderungen an Barrierefreiheit zusammenzubringen (auch Datenschutz). Diese Aktivitäten sollten parallel zu dem „Boom“ von privat betriebenen digitalen Netzwerken wie Nebenan.de evaluiert werden, um daraus Rückschlüsse zu ziehen, wie eine zukunftsfähige gemeinwohlorientierte Strategie im Feld der Digitalisierung aussehen kann (vgl. auch Hilbert et al. 2018). Die Digitalisierung als Chance für Genossenschaften zu begreifen, etwa in der Form von selbstorganisierter digitaler Selbstständigkeit oder in Bezug auf die Verwaltung der eigenen Daten, die in den letzten Jahren zumeist von den Internetkonzernen digital gesammelt wurden, ist ein interessanter Ansatz für politische Innovationen, worauf bereits hingewiesen wurde. Die von den großen Internetkonzernen aufgebaute Marktmacht birgt nicht nur Gefahren hinsichtlich einer demokratischen Gesellschaft in sich (vor allem in der Verkoppelung mit der domi-
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nanten Algorithmenlogik), sondern kann auch wirtschaftliche Risiken befördern, denn Monopolbildungen verhindern kreative Existenzgründungen und vor allem deren Ausdehnung. So können wirtschaftliche Dynamiken geschwächt werden. Dies gilt verstärkt für selbstorganisierte Unternehmensformen, die nur in einem fairen Wettbewerb ihre Potentiale nutzen können. In den Diskussionen um eine Begrenzung der Macht der Internetkonzerne, die gerade in der Coronapandemie wieder nachdrücklich bestätigt wurde, werden auch Stimmen lauter, die nicht nur eine Regulierungsagenda der Digitalisierung auf EU- und Bundesebene fordern, sondern darüber hinaus lokale Experimente (Prototypen) in verschiedenen Städten vorschlagen, um konkret zu erproben, wie eine digitale öffentliche Infrastruktur und Ökonomie funktionieren kann (vgl. Morozov 2020). Derzeit sind zwar persönliche Gesundheitsdaten in Deutschland durch Datenschutzgesetze geschützt, allerdings haben die Patienten keine Kontrolle über die Datenverwendung. Eine aktive Beteiligung der Bürger in allen erhobenen Datenbereichen ist aber aus demokratietheoretischer und Verbraucherschutzsicht sinnvoll, da sich sonst der Trend zur „Algokratie“ durchsetzt. Eine Lösung für eine digitale Selbstbestimmung wäre eine Genossenschaft, die auch bereits in der Schweiz unter dem Namen. „Persönliche Daten Genossenschaft“ (MIDATA.COOP/ Verein „Daten und Gesundheit“) existiert. „Die Plattform wird von einer gemeinnützigen Genossenschaft betrieben, die als Treuhänderin der Datensammlung agiert und die Souveränität der Bürger über die Verwendung ihrer Daten garantiert. Die Bürger tragen einerseits als Nutzer der Plattform aktiv zur Forschung bei, indem sie Zugang zu Datensets geben, andererseits als Genossenschaftsmitglieder zur Kontrolle und Entwicklung der Genossenschaft. Die Statuten der Genossenschaft schreiben ihre Natur als Non-Profit-Organisation fest und verankern die Souveränität der Nutzer über ihre Daten und deren Verwendung (auch in anonymisierter Form). Zur Kontrolle der datenethischen Qualität der Dienstleistungen und angebundenen Projekte existiert eine genossenschaftsinterne Ethikkommission, deren Mitglieder von der Generalversammlung gewählt werden“ (Bignens/Steiger 2017). Folgende konkrete Ziele werden verfolgt (vgl. Hafen/Brauchbar 2014): • Sichere Aufbewahrung, Verwaltung und Teilen der persönlichen Daten • Bürger entscheiden, welche Daten sie mit wem, zu welchem Zweck und wann teilen und entscheiden, wie Gewinne aus der Zweitnutzung investiert werden. • Die Genossenschaft übernimmt gegenüber Mitgliedern die Verantwortung für Datensicherheit und Verwendung Genossenschaften könnten also auch in der Digitalisierungswelle eine wichtige Rolle spielen, da sie idealtypisch die Anforderungen erfüllen, die an Organisatio-
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nen der Bürgergesellschaft zu stellen sind. Sie produzieren öffentliche Güter in kooperativen Strukturen und leisten damit einen großen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft, der angesichts der gewachsenen sozioökonomischen Zerrissenheit und sozialen Fliehkräfte nicht zu unterschätzen ist. Und trotz der Ökonomisierungs- und Monopolisierungstendenzen etwa im Feld der Internetwirtschaft tauchen auch Alternativen zur renditeorientierten Privatwirtschaft auf: etwa soziale Netzwerke, die gemeinnützige Zwecke verfolgen (wie z. B. Wikipedia oder auch die Tageszeitung „taz“) bis hin zu anderen Formen der Selbstorganisation auf dezentraler Ebene und sogar Unternehmen. In Deutschland bleibt zwar im Gegensatz zu anderen Ländern die Zahl der Produktivgenossenschaften beschränkt, aber dennoch finden sich neue kollektive Unternehmensformen. „Insgesamt können wir ein Experimentieren mit Formen eines „kollektiven Selbsteigentums“ feststellen, dass sich sowohl vom konventionellen Privateigentum an Produktionsmitteln als auch gegenüber einem Staatseigentum ohne Selbstverantwortung abgrenzt. Möglicherweise werden wir in Zukunft feststellen, dass Demokratie im Unternehmen vor allem dort eine Chance besitzt, wo es gelingt, solche neuen Eigentumsformen bestandsfest zu machen“ (Dörre 2015, 106; vgl. aus internationaler Sicht Williams/ Satgar 2019). Zwar gehen nach wie vor die meisten Erwerbstätigen einer Beschäftigung nach, die dem sogenannten Normalarbeitsverhältnis entspricht, jedoch kommt es zur Herausbildung neuer Typen von Unternehmungen, die vom „Arbeitskraftunternehmer“ bis hin zu kollektiven Arbeitsformen (auch auf genossenschaftlicher Basis) reichen. Allerdings agieren nur „6 Prozent der Erwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 Jahren als Soloselbstständige. Die überwiegende Mehrheit sind Normalarbeitnehmer. Auch die breit definierte atypische Beschäftigung (Minijobs, Teilzeitbeschäftigung, befristete Beschäftigung, Praktika, Zeitarbeit, Ein-Euro-Jobs) umfasst lediglich ein Fünftel der Beschäftigten. Soloselbstständige und Freiberufler sind in ihrer Mehrheit Höherqualifizierte mit tertiärem Bildungsabschluss (43 Prozent) oder abgeschlossener Berufsausbildung (45 Prozent). Auch arbeiten Soloselbstständige und Freiberufler in ihrer Mehrheit als Führungskräfte, in akademischen Berufen oder als Techniker und gleichrangigen nichttechnischen Berufen. Zumindest lässt sich aus dieser Betrachtung nicht unmittelbar auf ein potenzielles Prekariat schließen“ (Eichhorst/Spermann 2015, 19; vgl. auch Beckmann 2019). Die Suche nach Selbstständigkeit ist kompatibel mit gewandelten Wertorientierungen bei jungen Menschen, die mit einem wachsenden Pragmatismus und dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung (nach der Formel „Mach dein Ding“) beschrieben werden. Deshalb kommt es auch bei hochqualifizierten Erwerbspersonen zur Gründung von Genossenschaften. „Genossenschaften in den IT-
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Dienstleistungen und in der Medizin verfolgen das Kerngeschäft von Agenturen, d.h. die Vermittlung von Aufträgen sowie die Aushandlung der Vergütung und versuchen, sich am Markt z.B. über die Steigerung der Vermittlungsqualität und Verringerung der Vermittlungsgebühren zu etablieren. Gleichzeitig verhandeln sie dezidiert im Interesse ihrer (solo-selbstständigen) Mitglieder und folgen demokratisch-kooperativen Organisationsprinzipien. Damit sind sie gewissermaßen Hybride zwischen membership-based und labor market intermediaries“ (Apitzsch et al. 2016, 492). Inzwischen haben sich weltweit kooperative Plattformen ausgebreitet, die eine Alternative zu den rein profitgetriebenen Internetkonzernen darstellen und sowohl auf die Qualität und Nachhaltigkeit der Arbeit als auch auf die Wünsche der Mitglieder bzw. Kunden setzen. Beispiele finden sich im Feld der sozialen Dienste wie auch im Medienbereich, der derzeit starke Umbrüche erlebt und in dem neben dem Niedergang manch traditioneller Medienunternehmen neue genossenschaftlich organisierte Plattformen (wie bspw. De Correspondent in den Niederlanden) reüssieren. Wenn auch Entwicklungschancen für die digitale Kooperativen bestehen, die sich bspw. durch eine höhere Überlebensrate auszeichnen, so müssen sie doch viele Hürden überwinden – von dem geringen Bekanntheitsgrad bis hin zur zentralen Lösung des Finanzierungsproblems und Marktzugängen. Hier ist auch der Staat gefordert, denn die privatwirtschaftlichen Plattformen gefährden lokale Unternehmen und wirken sich oft negativ auf die Infrastruktur vor Ort aus. „Eine strengere Regulierung der marktbeherrschenden Plattformen könnte sich auch positiv auf den Erfolg digitaler Genossenschaften auswirken, da die Wettbewerbsbedingung klarer wäre und der Marktzugang erleichtert würde“ (Thäter/ Gegenhuber 2020, 8). Die gewachsene Flexibilisierung im Arbeitsleben kann allerdings auch soziale Desintegrationstendenzen unterstützen, zumal wenn sie nicht solidarökonomisch organisiert ist (und dies ist nur ein kleiner Anteil). Der Aufstieg der Gig-EconomyPlattformen weist nachdrücklich darauf hin, wie weit der Arbeitsmarkt schon zersplittert ist. Am stärksten wird dieser Trend in den USA spürbar: „Wir leben in einer Welt der bröckelnden Loyalitäten, Berufstätige sehen eine Anstellung nur noch als Intermezzo, generell wird Personal abgebaut, und jeder möchte gern ein Gründer sein, am besten ist man Musiker/Programmierer/Möbeldesigner in einer Person. 40 Prozent der amerikanischen Arbeitnehmer kann man als befristet Beschäftigte bezeichnen“ (Heimans/Timms 208, 320; vgl. auch Hoose 2018 und Crouch 2019). In Ländern mit einem stärker flexibilisierten Arbeitsmarkt wie in den Niederlanden werden diese Folgewirkungen gegenwärtig öffentlich debattiert. Nach Angaben des niederländischen Statistikamtes CBS zeigt sich folgender Trend: „Demnach stieg von 2007 bis 2018 die Zahl der Soloselbständigen um
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260.000 auf 1,3 Millionen. Vor allem in der Pflege wächst der Anteil, und dort lägen die Einkommen – wie auch im Handel – relativ niedrig, so die Behörde. Die vielen Selbständigen und Zeitarbeiter schwächten die Ertragskraft des Landes, machten ganze Gruppen Werktätiger abhängig von unsicherer und schlechter Arbeit, urteilt die Borstlap Kommission. Das gefährde den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viel erörtert in der Öffentlichkeit ist seit langem, dass Jüngere sich von einem Zeitvertrag zum anderen hangeln – und bei zugleich rapide steigen den Immobilienpreisen immer weniger Chancen haben, eine Wohnung zu kaufen“ (Smolka 2020). Solche Segmentierungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt paaren sich nun mit den verbreiteten Gefühlen eines Kontrollverlustes und Desintegrationsängsten. Bis zum Frühjahr 2020 war eine relativ niedrige Arbeitslosigkeit in den meisten Regionen Westeuropas festzustellen (eher wurden Fachkräftedefizite konstatiert) und auch die monetäre Versorgung im Alter war stabil. Die temporären Beschäftigungserfolge und der noch funktionierende Generationenvertrag sorgten bei allen immer wieder aufflackernden Debatten zu sozialen Verteilungsfragen bislang für eine gesellschaftspolitische Stabilisierung. Diese Grundhaltung könnte nun allerdings durch die ökonomischen Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt kippen, wozu auch der schon vorher grassierende Populismus beitragen kann. Ein „Zeitalter des Misstrauens“ und der „Gegen-Demokratie“ (Rosanvallon 2017) scheint sich auszubreiten, indem neben den bislang dominanten Protestfronten auch Fragen aus dem Themenspektrum Arbeit und soziale Sicherung wieder stärker auf die politische Agenda kommen. Das Virus hat einige dieser Konflikte vorübergehend verblassen lassen, aber angesichts der sogar noch angestiegenen ökonomischen Risiken aufgrund der sprunghaft gewachsenen Verschuldungen durch die Staatshilfen – speziell in der Eurozone – werden diese Konflikte wieder aufbrechen.
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Es ist eingangs darauf hingewiesen worden, dass die Politik einen Übergang von der Reparatur zur Resilienz bewältigen muss, was von den etablierten politischen Institutionen erhebliche Lernprozesse verlangt, die aber trotz aller Organisationsblockaden möglich sind und durch die fundamentale Erschütterung durch die Coronakrise schrittweise vorangetrieben wurden. Die neuen Governance-Strukturen zeichnen sich abstrakt durch eine bessere Nutzung und Neujustierung der verschiedenen Steuerungsformen aus; es steht eine neue Komplementarität auf dezentraler Ebene im Vordergrund, um eine zu starke Fokussierung auf den einen oder anderen Pol (Verstaatlichung vs. Vermarktlichung) zu verhindern und die Potentiale zivilgesellschaftlicher Organisationsformen besser zu nutzen. Im internationalen Vergleich hat Deutschland durchaus einige Ressourcen und Gestaltungselemente, die für den Aufbau einer resilienten Politik erforderlich sind, aber von den politischen Führungen bisher nicht optimal aufgerufen werden. Allerdings wurden sie im Krisenmodus bei der Eindämmung der Coronakrise zwangsweise aktiviert und es besteht Hoffnung, dass vor dem Hintergrund vielfältiger Herausforderungen integrierte Problemlösungen etwa in der Daseinsvorsorge auch als programmatische Ziele anerkannt werden. „Nur mit integrierten Konzepten und einer Intensivierung der Wissensströme zwischen den verschiedenen Akteuren können diese Herausforderungen gemeistert werden. Da sich sowohl soziale Innovationen als auch wirtschaftlich nutzbare Innovationen immer stärker aus der Verknüpfung unterschiedlicher Themenfelder ergeben, müssen demnach interaktive Lernprozesse systemisch vernetzter Akteure angestoßen werden. Aus der Perspektive vieler sozialpolitischer Akteure vor Ort gelten eben nicht unbe© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_11
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arbeitete Probleme, sondern mangelnde Koordination in der Problembearbeitung als das Hauptproblem“ (Grohs 2018, 97f.). Hier sind alle tangierten Organisationen (von den Kommunen bis zu den Wohlfahrtsverbänden) aufgefordert, der in Deutschland ausgeprägten Gefahr der institutionellen Eigenlogiken zu begegnen. Zur Förderung integrativer Regelungsmodelle sind in den letzten Jahren viele Modellprogramme aufgelegt worden, allerdings bestehen weniger Wissens- denn Umsetzungsdefizite. „Bislang richten Kommunen ihre Vergabekriterien nur zum Teil auf nachhaltige Projekte, und zwar im Sinne einer sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Nachhaltigkeit. Auch die lokale Verankerung, die nachhaltige regionale Wertschöpfung fördert, kommt erst allmählich in den Fokus von Förderprogrammen. Hier wären Genossenschaften zweifelsfrei im Vorteil, denn in der Regel orientieren sich Genossenschaften mit ihren Geschäftsfeldern an lokalen Bedürfnissen und finden lokale Lösungen für lokale Probleme. Im Sinne eines solidarischen Miteinanders spielen die genossenschaftlichen Ansätze kollektiver Verantwortungsübernahme eine ganz besondere Rolle, da die Verantwortung nicht einzelnen Individuen übertragen und auch nicht dem Staat oder den Unternehmen zugeschoben wird, sondern Gruppen durch gemeinsame Aktivitäten und durch ein demokratisches Miteinander selbstverantwortlich tätig werden“ (Walk 2019, 140). Aktionsfelder für solche Netzwerke aus öffentlichen und privaten Organisationen gäbe es in der Daseinsvorsorge in verschiedenen Bereichen. So hat sich bspw. das Versorgungssystem in Deutschland auf die demografischen Herausforderungen bislang unzureichend vorbereitet und kein umfassendes Konzept für das Leben in der immer älter werdenden Gesellschaft entwickelt. Es gibt zwar einen medialen Hype um das Pflegethema, der auch die Regierungspolitik erreicht hat – allerdings um Jahre verspätet. Über eine gelingende Kooperation der zentralen Akteure im Hilfesystem und durch kluges Schnittstellenmanagement könnte ein selbstbestimmtes Altern vor Ort ermöglicht werden. Wer kann aber solche Formen experimenteller Sozialpolitik anstoßen? „Impulse für soziale Innovationen kommen in der Regel von nicht-staatlichen Akteuren. Das sind neben den Wohlfahrtsverbänden zahlreiche Initiativen, Stiftungen und Projekte, aber auch Firmen und soziale Unternehmen und natürlich Gemeinschaften wie Nachbarschaften und die Familie. Soziale Dienstleistungen sind meist in eine Art von „Wohlfahrts-Mix“ eingebettet. Staatliche Sozialleistungen ergänzen familiäre Hilfe und Pflege, Wohlfahrtsorganisationen steuern professionelle Angebote bei, und nachbarschaftliche Netzwerke sind eine Art Früherkennungs- und Nachsorgesystem“ (Strünck 2017, 318f.; vgl. auch Brandsen/Evers 2019, Kersten et al. 2019a sowie Becke et al. 2016).
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So können offene, plurale Kooperationsstrukturen entstehen, die aber nicht mehr die Sicherheit traditioneller Ordnungssysteme haben. Die Heterogenität von Gestaltungsformaten im Sozialsektor wächst damit, was auch die Wohlfahrtsverbände als klassische Anbieter sozialer Dienstleistungen unter Innovationsdruck setzt. Die derzeit schon aufzufindenden pluralen Formen zu sozialen Innovationen können aber auch ein Weg für die Wohlfahrtverbände sein, ihr Leistungspotenzial neu auszurichten. Dafür müssen sie sich stärker zum Gemeinwesen öffnen, neue Kooperationsstrukturen eingehen und auch intersektoral vernetzen. Dies fällt einigen Sozialorganisationen schwer, denn sie sind nicht auf Wandel programmiert, sondern eher auf Schwerfälligkeit. „Organisationen der Sozialwirtschaft gelten oft als veränderungsresistent. Strukturen und Haltungen sind oft auf Langlebigkeit ausgelegt. Allerdings zeigen zunehmend mehr dieser Organisationen die notwendige Flexibilität und Bewegung, um sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen. Die wirksame Planung, Umsetzung und Begleitung der Veränderung erfordert Mut und das Rüstzeug wirksamer Führung, beim Ansatz der Selbstorganisation der Selbstführung. Ein solcher Wandel muss nicht zwangsläufig radikal verlaufen, sondern wird oft über weiche Kanäle gesteuert“ (Kaegi/Zängl 2019, 121; vgl. auch Schröder 2017). Eine Modernisierung des Sozial- und Gesundheitssektors in Richtung eines ausbalancierten Akteursystems mit multiplen Funktionen und Vernetzungen kann gelingen, wenn die Reorganisation intern offen und nach außen transparent verläuft. Wohlfahrtsverbände können als Gestaltungsakteure eines integrierten Wohlfahrtsmix agieren und aktiv Verbindungsmanagement betreiben. Vernetzungen unter den Bedingungen fragmentierter Sozialverhältnisse setzen aber auch sie unter Reorganisationsdruck und deshalb werden auch nicht alle Wohlfahrtsträger Innovationspotentiale freisetzen können. Deshalb bleiben Bedenken hinsichtlich eines steuerungstheoretisch „geläuterten“ Wohlfahrtsmix bestehen. Da derzeit durchaus ein gesteigertes Interesse an Formen öffentlicher Güterproduktion zu erkennen ist, wird es für Wohlfahrtsverbände darauf ankommen, Teil von Innovationsallianzen zu werden. Erfolgreiche soziale Innovationen liegen erst dann vor, wenn sie die etablierten Institutionen mit ihren stark fragmentierten und oft auch hierarchisch-autoritativen Handlungslogiken zugunsten einer positiven Koordination überwinden. Allerdings ist eine breite Kommunikation zukunftsweisender Innovationsmodelle in einer durch neue Medien verstärkt parzellierten Öffentlichkeit noch schwieriger geworden. „Die klassischen Massenmedien konnten die Aufmerksamkeit eines großen nationalen Publikums bündeln und auf wenige relevante Themen lenken; das digitale Netz fördert die Vielfalt kleiner Nischen für beschleunigte, aber narzisstisch in sich kreisende Diskurse über verschiedene Themen. Die un-
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bestreitbaren Vorteile dieser Technik stellt niemand in Frage. Aber im Hinblick auf den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit interessiert mich der eine Aspekt: Sobald die zentrifugalen Kräfte dieser ‚Blasen’ bildenden Kommunikationsstruktur die Sogwirkung der inklusiven Öffentlichkeit aufwiegen, dürften sich konkurrierende öffentliche Meinungen, die für die Bevölkerung im Ganzen repräsentativ sind, nicht mehr ausbilden können. Die digitalen Öffentlichkeiten würden sich dann auf Kosten einer gemeinsamen und diskursiv gefilterten politischen Meinungs- und Willensbildung entwickeln“ (Habermas 2020, 28). Dass entscheidungsbedürftige Themen nicht mehr automatisch in die politische Öffentlichkeit und damit in den Aufmerksamkeitshorizont der Regierungspolitik gelangen, ist bereits im Rahmen der „Multiple-Streams-Konzepte“ behandelt worden und bekommt durch die digitalen Medien eine erhöhte Bedeutung. Rational ansetzende politische Strategien, wie der Aufbau eines steuerungstheoretisch geläuterten Wohlfahrtsmix in Richtung einer hybriden Netzwerkwirtschaft mögen deshalb noch so plausibel erscheinen, ihre Durchsetzungskraft ist damit aber nicht gesichert. Aufgrund der realen Herausforderungen und der nur selektiv wirkenden traditionellen Problemlösungsmuster wird diese Gestaltungsoption aber dennoch eines der Schlüsselthemen der nächsten Jahre sein. Inzwischen werden solchermaßen ausgerichteten Steuerungsformen auch in Wohlfahrtsverbänden erprobt (vgl. Steinke/Bibisidis 2018 sowie die Beträge in Becher/Hanstedt 2019) – sie werden jedoch von der Öffentlichkeit im Gegensatz zu den medial hochprofessionell agierenden „social entrepreneurs“ kaum wahrgenommen. Eine erhöhte Transparenz der verbandlichen Aktivitäten und eine verbesserte Kommunikationspolitik scheinen daher dringend erforderlich. Für den Umbauprozess in Richtung einer besseren Balance zwischen Staat, Markt und „aktiver“ Gesellschaft liegt jedoch bislang kein strategisch ambitioniertes Drehbuch vor, und wie schwierig sich die Vernetzung und Steuerung heterogener Akteure gestaltet, kann anhand der verschleppten und halbherzigen Reformen in verschiedenen Politikfeldern besichtigt werden. Die mit der Umsetzung eines Wohlfahrtsmix verbundenen Grenzüberschreitungen produzieren auch immer Konfliktzonen. Der Wandel der Organisationskultur hin zu möglichst betriebswirtschaftlich effizient geführten Sozialunternehmen hat traditionelle Leitbilder verunsichert, aber auch Spielräume für Pfadabweichungen geschaffen. Gefragt sind experimentelle Antworten und es hat sich inzwischen in Deutschland auch ein buntes Bild einer wachsenden Experimentierlandschaft aus zivilgesellschaftlichen Organisationen herausgebildet. Bei all diesen selbstorganisierten Projekten geht es darum, Fähigkeiten zu entwickeln, um Akteur der eigenen Veränderung sein zu können. Die Besinnung auf die eigene Kreativität und Autonomie sowie die Suche nach einer Selbstständigkeit in hybridartigen For-
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men können auch in den Kommunen und den Wohlfahrtsorganisationen Innovationen auslösen – bedacht werden müssen aber die institutionellen Besonderheiten der jeweiligen Handlungsfelder sowie kulturelle Faktoren und gesellschaftliche Leitbilder, die sich gegen Wandlungsprozesse zunächst manchmal sträuben. Viele innovative Projekte weisen bei der Innovationsumsetzung in die Regelversorgung einen hohen Bedarf an Feintuning auf. Um diese institutionellen Beharrungen zu überwinden, kommt es auf den richtigen Zeitpunkt für Innovationen an. Angesichts der gewachsenen Unsicherheiten auch im Feld der sozialen Dienste, die alle Gestaltungsakteure unter Reorganisationsdruck setzen, eröffnen sich auch Optionen für integrierte Versorgungslösungen. In sozialwissenschaftlichen Diskursen zeichnet sich eine Übereinstimmung um die Zukunftsfähigkeit wohlfahrtsstaatlicher Strukturen ab, wobei in allen europäischen Ländern die Lokalität als Versorgungs- und Mitwirkungsinstanz an Bedeutung gewinnt. Auch der demografische Wandel trägt dazu bei, dass die Daseinsvorsorge vor Ort wichtiger wird, da gerade die wachsende Zahl älterer Menschen eine starke Bindung an das Wohnumfeld hat. Hinzu kommen Umbrüche in der Wirtschaftslandschaft: Die Digitalisierung führt zu einer Dezentralisierung von Leben und Arbeiten. Wenn überall flächendeckend schnelles Internet verfügbar ist, lassen sich viele Tätigkeiten überall ausführen und damit können auch gemeinwirtschaftliche/genossenschaftliche Projekte vor Ort Aufwind bekommen. Eine neue Sozialökonomie kooperativer Arbeitsformen und vernetzter Versorgung entsteht aber erst langsam; noch dominiert die politisch-institutionelle Fragmentierung. Eine integrierte, institutionell-plurale Steuerung auf dezentraler Ebene ist nicht selbstverständlich, sondern muss entwickelt werden. Die Coronakrise mit ihrem Katastrophenmanagement hat hier – autoritär verordnet – sicherlich Lernfortschritte mit Blick auf das digital vernetzte Arbeiten von zuhause bewirkt und manche Bremser von der Option überzeugt. Letztlich kollidiert innovative Politik aber immer mit der Macht etablierter, Status quo orientierter Institutionen. Angesichts der inzwischen eingetretenen Skepsis gegenüber simplen Ökonomisierungsstrategien, die sich auch in Protesten etwa gegen die Wohnbedingungen in Großstädten äußert, steigt aber die Chance, sozialinvestive und nachhaltige Strategien durchzusetzen. Politische „Unternehmer“ für solch einen Umstrukturierungskurs können verschiedene Akteure sein, die als „Spinne“ im Sozialraum wirken und dialogorientierte intersektorale Handlungskonzepte umsetzen. Erneuerungsstrategien haben bislang nur „Inseln“ geschaffen: mehr „Talk“ als „Action“! Die negativen Folgewirkungen der sektoralen Aufgliederung des Gesundheits- und Sozialsystems werden inzwischen von vielen etablierten Akteuren auch problematisiert und es wird der These zugestimmt, diese durch organisierte Vernetzung über-
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winden zu können. Wenn auch der gemeinschaftliche Wert von Netzwerken oder allgemeiner Assoziationsverhältnissen zunehmend in der Politik erkannt wird, ist der Weg in die Regelversorgung dennoch mit vielen institutionellen Bremsen und kooperationsunwilligen Akteursgruppen ausgestattet und erfordert Zeit und Geduld. Kooperation, Vernetzung und Management sind aber zweifelsohne die neuen Schlüsselfragen in verschiedenen Politikfeldern – gerade vor dem Hintergrund wachsender Aufgaben bei begrenzten fiskalischen Spielräumen. Die bisher nebeneinanderstehenden Einrichtungen müssen intelligent vernetzt werden, so dass Reibungsverluste verhindert und Ressourcen gebündelt werden. Parallel zu allen Großorganisationen zeigen sich in den mächtigen Nonprofit-Organisationen nicht nur Traditionalisten, sondern es gibt einen organisationsinternen Riss zwischen den „Bewahrern“ und „Aktivisten“, die aus dem traditionellen Leitbild ausscheren und neue innovative Problemlösungen suchen. Das „Interesse an sich selbst“ wird aber in den Verbänden zu strategischen Debatten über die Zukunftsfähigkeit führen. Gleichwohl werden die Stimmen nicht leiser, die in den Wohlfahrtsverbänden oft nur noch Erfüllungsgehilfen für staatliche Vorgaben sehen. Allerdings treffen solche pauschalen Einschätzungen nicht die auch im Nonprofit-Sektor ablaufenden strategischen Debatten, die oft noch nicht in alle Untergliederungen und Einheiten vorgedrungen sind. „Gleichzeitig sind viele zivilgesellschaftliche Organisationen bemüht, Profil und Aktivitäten an einem Leitbild zu orientieren, das ihren Werten entspricht. Doch es gelingt bei weitem nicht allen, diesen Spagat zu meistern und unter Beibehaltung ihrer zivilgesellschaftlichen Identität sich in den inzwischen durchgängig durch Konkurrenz geprägten Bereichen der sozialen Dienstleistungserstellung zu behaupten“ (Freise/Zimmer 2019, 401). Die bisher umgesetzten modellhaften Lösungen für integrierte Projekte „von unten“ zeigen, dass zwischen den Akteuren der verschiedenen Sektoren durchaus neue Innovationsallianzen gelingen können, diese Strukturen jedoch nur in wenigen Fällen in den Regelbetrieb überführt werden konnten. Oftmals wurden während der Projektphase keine nachhaltigen Geschäftsmodelle entwickelt, die nach Auslaufen der Projektförderung die Weiterführung hätten sicherstellen können. Erforderlich wäre dafür eine Auflösung der traditionell in Deutschland voneinander abgeschotteten Politikfelder. „Um als Gesellschaft innovativ zu bleiben, müssen wir von Anfang an ‚lernen zu lernen‘ und auch vernetzt zu denken. Dann fällt es obendrein leichter, sich ein Leben lang neue Fähigkeiten anzueignen. In diesem Zusammenhang wäre es auch wichtig, die immer noch existierenden Barrieren zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft einzureißen, um einen regelmäßigen Austausch zwischen diesen Sektoren zu fördern“ (Allmendinger 2009, 7).
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Das Beharrungsvermögen und die Eigeninteressen der traditionellen Akteure dürfen also in den Diskursen zu sozialen Innovationen nicht unterschätzt werden. Wendeprojekte verlaufen nicht reibungslos, Max Weber sprach nicht umsonst vom „langsamen Bohren von harten Brettern“. Wenngleich sich in den letzten Jahren Schleichwege aus der traditionellen Pfadabhängigkeit zeigen, bewegen sich die institutionellen Innovationen noch langsam. Die offizielle Politik schreckt weiterhin vor größeren institutionellen Reformen zurück. Obgleich manche Autoren deshalb von einem „reformlosen Wandel“ sprechen, hat es durchaus erste Schritte zu einem Paradigmenwechsel in einzelnen Themenfeldern gegeben. Auch wenn man von einer schleichenden Transformation sprechen kann, gilt es nachdrücklich, die Detailversessenheit sowie übertriebene Regulierungsfreude in der Verwaltung zu überwinden. Ob damit aber die Ökonomisierung als grundlegendes Strukturprinzip der gegenwärtigen Gesellschaft wieder zurückgedreht werden kann, wie es manche Soziologen annehmen, kann bezweifelt werden. Dennoch kann einiges auch wieder revidiert werden, was in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund neoliberaler Leitbilder oft relativ schnell einzelnen Funktionsbereichen wie etwa den Hochschulen und sozialen Einrichtungen übergestülpt wurde. „Eine stärkere Berechenbarkeit bestimmter Grundvoraussetzungen des Lebens – etwa in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Wohnen und Bildung – qua Steuerung von staatlicher Seite (könnte) ebenso anvisiert werden wie Maßnahmen zur Minderung der starken Ausschläge sozialer Ungleichheit, die sich aus den polarisierten Arbeitsmärkten ergeben. Eine solche Entökonomisierung des Sozialen ließe sich im Übrigen auch unabhängig von staatlichen Instanzen von den Akteuren selbst in ihren persönlichen Beziehungen anstreben“ (Reckwitz 2019, 234). Es gibt aber keinen „one best way“ bei der Schaffung sozialer Innovationen; auf soziale Konfigurationen und den Eigensinn der beteiligten Akteure ist Rücksicht zu nehmen. Das Gelingen von Innovationsnetzwerken basiert auf institutionellen Voraussetzungen und dem Willen zur Kooperation, was allerdings in einem hoch fragmentierten System schwer zu realisieren ist. Ob die politisch neu akzentuierten Formen eines innovativen Wohlfahrtsmix in den verschiedenen Feldern akzeptiert werden und sich erfolgreich ausbreiten, ist damit noch nicht endgültig entschieden. Neue, nicht nur auf die klassischen Institutionen bezogene Governancestrategien sickern nur langsam in die politischen Entscheidungsprozesse ein. Es werden Impulse von außen benötigt, um die vielfältigen Blockaden und die Trennung der Funktionsbereiche in der Politik und den Verwaltungen kreativ anzugehen. „Die Kombination von autonomen Initiativen und staatlicherseits gewährten Entfaltungsbedingungen schüfe eine Startbasis für die Herausbildung neuer gesellschaftlicher Institutionen – nicht unähnlich dem Muster der „natür-
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lichen“ Evolution: Günstige Bedingungen für die Generierung testbarer Alternativen entsprächen dem Evolutionsmechanismus der Variation; der gesellschaftliche Attraktivitätstest von potenziell reproduktionsfähigen Formen würde dem Evolutionsmechanismus der Selektion gleichkommen; und die praktische Bewährung der gesellschaftlich akzeptierten Innovationen spiegelte den Evolutionsmechanismus der Retention wider“ (Wiesenthal 2019, 380). Antworten sind deshalb weder im Marktradikalismus noch in einer sozialstaatlichen Orthodoxie zu suchen; die alten Konfrontationen zwischen rechts und links sind verblasst, soziale Fragmentierungen gekoppelt mit räumlichen dominieren die Konfliktlinien. Gefragt sind nachhaltiger balancierte Verknüpfungen zwischen den Handlungslogiken von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, was einen grundlegenden Politikwandel und damit Lernprozesse erfordert. Damit wird prinzipiell eine Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen unterstellt, auch wenn es nicht eine Gesellschaftssteuerung ist, sondern „Steuerung in der Gesellschaft“ (Luhmann 1988, 338). Durch das intelligente Zusammenspiel selbstreferentieller Funktionssysteme, welches als Kontextsteuerung umschrieben wurde, können sich unter gewissen Rahmenbedingungen und Akteurskonstellationen durchaus „verhärtete“ Fronten tendenziell auflösen. Die Handlungsspielräume für strategische Veränderungen sind vor dem Hintergrund der beschleunigten Welt angewiesen auf situative Gegebenheiten und Zeitfenster, in denen die verschiedenen Ströme synchronisiert werden und Vetoelemente zurückgedrängt werden können. „Die Grundhypothese des Modells der Kontextsteuerung ist, dass die Selbststeuerung eines komplexen Systems angemessener und produktiver ist als der Versuch externer Steuerung, und dass nur die Absicht der Koordination autonomer Akteure externe Steuerung in Form einer Kontextsteuerung legitimiert, die als wechselseitige Abstimmung die Form eines Dialogs über die Verträglichkeit von Optionen annimmt“ (Willke 2014a, 66f.). Allerdings wäre es naiv zu glauben, die Regierungspolitik würde eingetretene Pfade nur aus sachlichen Erwägungen heraus verlassen. Die bisherigen Erfahrungen auch mit Krisen weisen auf Lernfortschritte hin, in vielen Fällen (etwa bei der Klima- und Energiewende oder der Pflegekrise) dominiert aber eher noch eine Wandelrhetorik, ohne dass sich Grundlegendes verändert hätte. Die Kosten für eine solche Ignoranz sind allerdings nicht nur hoch, sondern kräftigen die sich ohnehin ausgebreiteten Emotionsspiralen und schaffen damit weitere Konfliktzonen, anstatt rationale Diskurse zu den großen Herausforderungen zu organisieren.35 Wenn 35 Inzwischen gibt es allerdings in einigen Politikarenen solche neuen sektorenübergreifenden und alle zentralen Akteure einbeziehenden Governancestrukturen; bspw. in der Energie- und Klimapolitik mit der Agora Energiewende (https://www.agora-
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auch solche strategischen Räume mit einer die „Silos“ überwindenden Besetzung in Deutschland noch rar sind, werden sie sich aber durch den Nachweis ihrer Wirksamkeit auch in anderen Feldern etablieren. Deshalb müssen die Hoffnungen auf eine intelligente Kontextsteuerung und Gestaltungsdiskurse in einzelnen Handlungsfeldern nicht aufgegeben werden. Als Labor für die Erprobung alternativer Wege zivilgesellschaftlicher Partizipation wie auch der Erstellung sozialer Dienste wurde der vielschichtige Nonprofit-Sektor mit seinen zivilgesellschaftlichen Organisationen diskutiert. Diese werden auch als „Herzstück“ einer demokratischen Gesellschaft und konstitutiv für den gesellschaftlichen Zusammenhalt angesehen. Die Problemlösungskompetenzen können zur kollektiven Nutzensteigerung beitragen, was sich prominent bei der Behandlung der Coronakrise anhand der Mobilisierung solidarischer Hilfe zeigte. Solche Erfahrungen können mithelfen, einen strategischen Wandel in Richtung neujustierter Steuerungsstrukturen dauerhaft zu etablieren. „Diese Zivilgesellschaft ist der Grant für soziale Dienstleistungen und Solidarität, für die Sensibilisierung für ökologische Themen, für demokratische Prozesse und Proteste sowie für Innovationen jeglicher Art“ (Adloff/Busse 2020). Wenn auch Ausnahmezustände mit experimentellen Gestaltungsprozessen in zunächst hybriden Organisationskonzepten oft ein guter Nährboden für Innovationen sind, ergibt sich daraus nicht unmittelbar ein neues Leitbild gesellschaftsgestaltender Politik. Dennoch können sich im Rahmen der angesprochenen Kontextsteuerung neue Verbundsysteme entwickeln, die die traditionelle Abschottung überwinden und die sich in verschiedenen Praxisfeldern ausdehnen werden, wenn sie sich als lernende Systeme begreifen. Neben der Aufbereitung und Wirkungsmessung der Projekterfahrungen im Krisenmodus muss ebenso am Drehbuch für eine prospektive Gestaltungsperspektive gearbeitet werden. Es wäre naiv zu glauben, dass sich sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nahtlos in die gesellschaftspolitische Praxis umsetzen lassen. Sie können nur ein gewisses Maß an Orientierungswissen vermitteln, damit Irritationen auslösen und so Lernenergiewende.de/), die sich als Denk- und Politiklabor definieren und nicht nur wissenschaftliche Expertise liefern, sondern auch zentral auf die Umsetzung programmiert sind. Die strukturierte Zusammenführung unterschiedlicher Ebenen des politischadministrativen Systems, der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und in diesem Feld „sytemrelevanter“ Unternehmen, verkoppelt mit der Auswahl entscheidungsfähiger Personen im „Rat der Agora“, konnte wesentliche Innovationen für die Realisierung der Energiewende anstoßen. In die gleiche Richtung zielt auch die Agora Verkehrswende hinsichtlich der Umsetzung eines Mobilitäts- und Verkehrswandels. Diese Beispiele können gut verdeutlichen, wie komplexe Transformationsstrategien durch die Kooperation zentraler Akteure aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik in die Praxis umgesetzt werden können.
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prozesse inszenieren und beschleunigen. Konfuse Zeiten, die zunächst einmal hohe Ansprüche an ein politisches Problemmanagement stellen, erlauben unter den veränderten Situationsbedingungen auch neue Wege zu beschreiten, die über die Logik der „normalen“ Politik hinausweisen. Diese hatte schon vor der Coronakrise erhebliche Steuerungsprobleme und könnte nach der Krise durch die organisierte Vernetzung mit Organisationen der Zivilgesellschaft neue Handlungsressourcen erlangen. „Politische Systeme aller Art benötigen dringend kollektive Intelligenz, um ein höheres Maß an Resilienz zu erlangen. In der Praxis stellt sich daher die Frage, wie sich die Konzepte, Instrumente und Strategien politischer Entscheidungsfindung in hochkomplexen Gesellschaften verbessern lassen. Wenn das politische System die Kompetenzen und Expertisen zivilgesellschaftlicher Organisationen zu seinem Vorteil nutzen würde – und diese Organisationen ihren Beitrag zur Politik aktiv anbieten würden –, wäre ein erfolgversprechender Weg eingeschlagen. Damit kommt die gesellschaftliche Verantwortung der Verbände – beispielhaft Ärzt*innenverbände oder Lehrer*innenverbände – ins Spiel, eine Verantwortung, die im eigenen längerfristigen Interesse über das kurzfristige Eigeninteresse hinaus reichen sollte“ (Willke 2020, 19).
Demokratische Gestaltung im Stresstest Epilog
Es ist bereits zu Beginn des Buches auf die Intensität der Normalitätsbrüche durch die Pandemie hingewiesen worden, die zunächst einen Schockzustand auslösten und dann zu einer Zäsur führten, über deren Folgewirkungen und Deutungen zu diesem Zeitpunkt (im Frühsommer 2020) nur bruchstückhaft diskutiert werden kann. In Bezug auf die hier thematisierte Gestaltungsperspektive hat sich einiges grundlegend dadurch verändert, dass die aktuelle Krise aufgrund ihrer globalen Dimension und potenziell jeden treffenden Bedrohung unvergleichbar ist und Kontrollverluste für alle gesellschaftlichen Akteure bewirkte, die als überwunden galten. Wie es bei Katastrophen von solchem Ausmaß zumeist geschieht, kommt der Bruch unvermittelt, irritiert alle Funktionssysteme und Organisationen und führt zu neuen Priorisierungen in der Krisenregulierung, die dann aber eine Weggabelung für die Herausbildung einer neuen Balance zwischen Solidarität, Staat und Wirtschaft bedeuten kann. Die Rekonstruktion des sozialen Lebens und die Reparatur der ökonomischen Verwerfungen haben längst begonnen, werden jedoch dadurch, dass die gesamte Gesellschaft betroffen ist, längere Zeit dafür benötigen. Eingangs wurde bereits darauf verwiesen, dass bislang keine Erfahrungen vorliegen, welche gesellschaftlichen Entwicklungsverläufe mit der Rückkehr zur (neuen) Normalität nach der Phase des politischen Durchregierens zu erwarten sind. Bisherige Erfahrungen mit Krisen (etwa den Tschernobyl- und FukushimaAtomkatastrophen oder der Finanzkrise) belegen, dass sich die Grundarchitektur der gesellschaftlichen Ordnung jeweils nur begrenzt gewandelt hat. Organisationen versuchen nach einem Schock relativ schnell in den Normalmodus © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. G. Heinze, Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7_12
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zurückzukehren, verändern aber in diesem Suchprozess durchaus ihre Leitbilder und ihre Verkoppelungen mit anderen Organisationen und ihrer Umwelt. Durch einen Neustart nach dem Normalitätsbruch kann es deshalb gelingen, schon vorher dysfunktionale Entwicklungsmuster wie die Fragmentierung der Problembearbeitung, bürokratische Hürden, Innovationsschwächen (etwa hinsichtlich der Digitalisierung), übertriebenes Effizienzdenken, Fixierung der Mobilität auf das Auto, zu wenig Berücksichtigung energie- und klimapolitischer Ziele etc., bei der Rekonstruktion schrittweise zu überwinden. Krisen könnten dann als Knotenpunkte definiert werden, die auch Lernchancen eröffnen – allerdings sollte nicht zu utopisch gedacht werden. Synergien und Probleme zwischen verschiedenen Herausforderungen und Politikentwürfen scheinen nun unter dem Brennglas klarer auf und bieten so bessere Chancen für eine Neujustierung der Gesellschaftsgestaltung. Es gibt auch historische Beispiele, wie über die gemeinsamen Erfahrungen von gesundheitlichen und sozialen Gefährdungen und Krisen zentrale Bausteine moderner Gesellschaften (wie etwa die sozialen Sicherungssysteme) entstanden sind. „Wenn die gemeinsame Risikoerfahrung gesellschaftliche Solidarität mobilisieren kann, dann auch deshalb, weil sie ein anderes Verständnis für unverschuldete Existenzkrisen und gesundheitliche Risiken mit sich bringt“ (Mau 2020, 5). Um solch neue, außerhalb der traditionellen institutionellen Lösungsmuster agierenden Allianzen zu schmieden, wird über die derzeitige prekäre Situation hinaus Kreativität und Flexibilität bei den Akteuren für solch ein Kontingenzmanagement gefordert, denn es geht um mehr als die Optimierung der eigenen Organisation und Behandlungsabläufe. Nicht allein Organisationen müssen sich wandeln, vielmehr gilt es, nachhaltige, gemeinwohlorientierte Vernetzungen und dafür passende institutionelle Arrangements aufzubauen, die auch „Bremsen“ hinsichtlich der bislang relativ ungezügelten Globalisierungs- und Digitalisierungsprozesse beinhalten müssen. Neue Verkoppelungen, wie sie in den vorhergehenden Kapiteln etwa im Feld der integrierten Versorgung erläutert wurden, gilt es nun umzusetzen. Auch wenn das institutionelle Design für solche Umsteuerungen skizziert werden kann, ist die Überwindung etablierter Verfahrensformen und Assoziationsmuster immer ein schwieriger Prozess, vor allem wenn er mit Selbstbeschränkungen verbunden ist. Auch Vertrauen in die verantwortlichen Akteure – sowohl in den politisch-administrativen Gremien wie auch in den einzelnen Feldern – ist eine notwendige Handlungsressource für die Umbildung institutioneller Strukturen. „Positiv können solche – organisationspolitisch u.U. durchaus schmerzhaften – Umbildungen zu intern pluralisierten Netzen und Koalitionen führen, die sich selbst gegenüber jeder konkreten sozialen Basis „abstrahieren“, indem sie die Mischung von Motiven nicht nur zulassen, sondern fördern“ (Offe 1989, 773).
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Ein Paradigmenwechsel nach der Coronakrise wird aber wohl nur gelingen, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen sich nicht so stark eingeengt haben, dass für einen gewissen Zeitraum nur Notmaßnahmen möglich sind, um die soziale Ordnung wiederherzustellen und einen großflächigen ökonomischen Einbruch zu verhindern. Schon die absehbaren wirtschaftlichen Folgen für viele Beschäftigte und Selbstständige (insbesondere aus spezifischen Branchen des Dienstleistungssektors wie etwa der Gastronomie, des Tourismus und der Hotellerie) weisen auf vielfache Insolvenzen und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit hin. Existenzängste werden sich notgedrungen weiter ausdehnen und für viele Erwerbstätige gibt es keine Rückkehr zur Normalität, wenngleich staatliche Maßnahmen, wie sie in Deutschland eingesetzt werden, abmildernd wirken. Diese flexiblen Krisenhilfen (bspw. die Kurzarbeitsregelungen, Kreditprogramme oder spezifische Sozialleistungen) waren schon in der Finanzkrise im internationalen Maßstab relativ einmalig und auch 2020 zeichnet sich dieses Land durch den Einsatz maximaler Interventionen aus. Allerdings bleiben die meisten Maßnahmen temporär und können zwar in vielen Fällen existentiell helfen, sind aber nicht geeignet, um bestimmten Branchen das Überleben nach der Krise zu sichern. Gerade weil Deutschland in den letzten Jahren die Staatsverschuldung gesenkt hat, verfügt das Land über Reserven, die zur Regulierung und Abfederung der Krise eingesetzt werden können. Diese fiskalischen Kapazitäten und Einrichtungen im Gesundheitssystem haben andere Länder nicht und deshalb drohen diese noch stärker in einen Abwärtsstrudel zu versinken, was wiederum auch die deutsche Wirtschaft (und damit verknüpft das soziale Sicherungssystem) treffen würde. In der gegenwärtigen Phase sind deshalb die Kontextbedingungen für institutionelle Veränderungen ungünstig, da bislang – anders als bei anderen Katastrophen – aus wissenschaftlicher Sicht kein definitives Ende der Pandemie angegeben werden kann. So dürften auch die massiven und empirisch belegten Erwartungsunsicherheiten und Ängste bestehen bleiben. Damit fehlen die moralischen Kapazitäten und das Vertrauen in Wandlungsprozesse, was dazu führen kann, sich nur auf das eigene Subsystem und deren Überleben zu konzentrieren. Der mentalen Bewältigung der Coronakrise muss deshalb eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Handlungssysteme gelingt nur, wenn sich die im Krisenalltag gemachten Solidaritätserfahrungen und die Orientierungen am öffentlichen Interesse (dem Gemeinwohl) auch in der Überwindung der Krise fortsetzen und sich nicht Ängste, Pessimismus und auch apokalyptische Stimmungslagen weiter ausbreiten. In relativ kurzer Zeit hat sich bspw. die positive Stimmung mit Blick auf die wirtschaftliche und soziale Zukunft in Deutschland radikal von einer optimistischen Grundhaltung in Richtung Zukunftsängsten verändert. Zahlen des Allens-
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bacher Institutes für Demoskopie belegen, wie schnell durch eine Pandemie Stimmungen umkippen können. „Wie tief der Schock sitzt, zeigt die Messung des Hoffnungspegels der Bevölkerung. Seit 1949 beobachtet das Institut für Demoskopie, wie weit die Bürger den kommenden zwölf Monaten hoffnungsvoll oder pessimistisch gestimmt entgegenblicken. In diesen 70 Jahren gab es achtmal tiefe Einbrüche des Hoffnungspegels, insbesondere beim Ausbruch des Korea-Kriegs 1950, während der bei den Ölkrisen, nach den Anschlägen 2001 und beim Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Diesmal ist der Einbruch besonders heftig: Noch zum Jahresende 2019 sahen 49 Prozent der Bevölkerung dem Jahr 2020 voller Hoffnungen entgegen, weniger als ein Fünftel mit Befürchtungen. Diese Stimmungslage hielt sich bis in den Februar hinein; seither sind die Hoffnungen erdrutschartig auf 24 Prozent verfallen – so tief wie noch nie. 44 Prozent sehen nun den kommenden zwölf Monaten mit aus geprägten Befürchtungen entgegen, weitere 25 Prozent mit Skepsis“ (Köcher 2020, 8). Auch wenn diese Zahlen nur Momentaufnahmen sind und sich im Jahr 2020 Stimmungen ständig drehten, weisen sie auf existenzielle Sorgen hin, die so seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht zu verzeichnen waren. Die Coronapandemie wird subjektiv von den meisten Menschen als Bedrohung und Katastrophe verstanden und weil keine Deutungsfolien für die Bewältigung der Krise vorliegen, bleibt dem Einzelnen die Sorge, wie er wieder in die Normalität zurückfinden kann. Diese Unsicherheiten schlagen sich in der Bewertung von politischen Gestaltungsversuchen nieder; auch wenn die kurzfristigen und brachialen Einschnitte in das öffentliche Leben akzeptiert wurden, bedeutet dies nicht automatisch ein uneingeschränktes Vertrauen in staatliche Regulierungen. Nach einer Phase der Zustimmung werden sich einerseits die schon vorher nicht gelösten Problemlagen (Klimawandel, Artensterben, Dürre etc.) zurückmelden und anderseits müssen die weitgehend exekutiv durchgesetzten Zwangsmaßnahmen in eine demokratische Steuerung überführt werden. Wenn auch in Ländern wie Deutschland nicht in gleicher Weise die Gefahr einer autoritären Regierungsform droht, weisen andere Länder aus der EU (etwa Ungarn und Polen) auf die Gefahr hin, dass Katastrophen von politischen Eliten genutzt werden, um nicht nur Bürger- und Freiheitsrechte einzuschränken, sondern auch das gesamte parlamentarische System abzuwerten und deren Entscheidungsmacht über den Krisenmodus hinaus einzuschränken. Wie bereits in der Katastrophensoziologie hervorgehoben, produzieren Krisen eben nicht nur gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern können auch „schlechte“ Eigenschaften unterstützen und auf politischer Ebene zu einem Abbau von Demokratie führen. Wohlgemerkt fielen solche populistischen Strömungen in Deutschland schon vor der Coronakrise geringer aus und auch nach Ausbruch der Krise scheint sich
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das Pendel nicht stark in diese Richtung zu bewegen. Eher wird eine bereits vorhandene Grundstimmung, die u. a. mit Orientierungslosigkeit, Erschöpfung und der Suche nach einem festen Grund (z. B. Heimat) umschrieben wurde, weiter intensiviert. In den Zahlen zur Ausweitung der Hoffnungslosigkeit und Ängsten in einem nie zuvor bekannten Ausmaß wird sie sichtbar. Jegliche Versuche politischer Umsteuerung werden sich mit diesen Einstellungen auseinandersetzen müssen und auch in Deutschland gab es schon vor der Coronakatastrophe eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen, die eine starke politische Führung präferierten und diese Zahlen dürften nicht zurückgegangen sein, vielmehr könnten sie je nach Ausmaß der sozioökonomischen Betroffenheit ansteigen. Die in diesem Buch präferierte Gestaltungsstrategie über organisierte, flexible Verkopplungen benötigt Vertrauen und steht im Kontrast zu einer hierarchischen Steuerung, die in der Krise zwar Verhaltenssicherheit suggeriert, aber die komplexen zukünftigen Herausforderungen nicht lösen wird. Eine Relevanzverschiebung in Richtung einer Renaissance des Staates hat, wie bereits in der Regulierung der Finanzkrise, schon stattgefunden. Trotz aller Debatten um die Metamorphosen des Nationalstaates oder neue transnationale Formen des Regierens trägt der Nationalstaat weiterhin die Letztverantwortung und die Regierungen müssen schon um ihres eigenen Überlebens willen Handlungsmacht ausstrahlen. Ansonsten kann ihnen die Schuld angelastet werden, obwohl sie die Gefährdungen nicht verursacht haben. Wie immer in bedrohlichen Zeiten zeigt sich, welche Organisationen zentral für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit sind. Im Fall der Coronaseuche waren dies, neben den staatlichen Organen, primär die Gesundheitseinrichtungen, denen eine neue Wertigkeit als systemrelevante Organisationen zugekommen ist. Ob dies nur einer vorübergehenden Stabilisierung dient oder eine grundlegende Neubestimmung ankündigt, bleibt abzuwarten. „Ist die Krise vorbei, dauert es nur wenige Monate, bis die ersten Expertenberatungsfirmen und politischen Stiftungen sich mit der Forderung nach dem Abbau von Fettpolstern profilieren und ihre Unterstützung bei der Rationalisierung von Unternehmen, Verwaltungen und Krankenhäusern anbieten“ (Kühl 2020, 16). Diese Einschätzung mag provokatorisch klingen, sie ist jedoch durchaus erfahrungsgesättigt und beschreibt realistisch die oft rasche Wiederkehr der Normalität und deren Steuerungsroutinen. Allerdings unterliegt die Regierungspolitik dem Wahlmodus und dies heißt im Vielparteiensystem, auf den Bürger als Souverän wenigstens in Wahlzeiten Rücksicht zu nehmen und auf gesellschaftliche Grundströmungen einzugehen. Wenn etwa die von der Krise ausgelösten Verunsicherungen auch große Teile der Mittelschichten treffen, wird auch die Politik nicht umhinkommen, einige der im Krisenmodus manifest gewordenen Defizite endlich aktiv anzugehen. Die Interventionsbereitschaft dürfte aber nach
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Überwindung der Krise wieder geschmälert werden, was schon in den Funktionsmechanismen demokratischer Steuerung begründet liegt. Die gewonnenen Erfahrungen betreffen nicht nur die Erkenntnis, welche Organisationen systemrelevant sind, sondern liefern konkret Belege über die Fragilität von globalen, nur auf Effizienz ausgerichteten, Wertschöpfungsketten. Es ist sicherlich nicht zu erwarten, dass nun wieder im großen Maßstab Computer oder Smartphones in Deutschland produziert werden, allerdings könnte dies für einige systemrelevante Produkte im Gesundheitsbereich durchaus einen Schub für die heimische Produktion auslösen. Zudem werden die engen Kopplungen (die Just-in-Time-Produktion) hinterfragt und – wie es in der Organisationssoziologie schon seit längerem diskutiert wird – eher auf lose Kopplungen umprogrammiert werden. Die Krise hat hier mitgeholfen, einen Paradigmenwandel hinsichtlich der Gestaltung der Lieferbeziehungen anzuregen. Diese Chanceneröffnung durch krisenhafte Entwicklungen wird auch in anderen Bereichen zu Lernprozessen führen. Auch im Hinblick auf die Rolle der Politik zeigt sich ein Wandel des Leitbildes. Nach der Coronakrise muss der handlungsmächtige Bedeutungsgewinn des Staates in eine kontextbezogene, kooperative Steuerungsperspektive überführt werden. Mit Aufkommen der Krise hat der Staat eine neue Regulierungskraft demonstriert, die man als Abkehr vom neoliberalen Staatsparadigma bezeichnen könnte. Die Renaissance der Staatsautorität hat aber aus demokratietheoretischer Sicht auch Schattenseiten. Weitgehend diktierte die Exekutive in Absprache mit Medizinexperten das Geschehen und setzte relativ unvermittelt zentrale Grundrechte, wie das Recht auf Versammlungsfreiheit, die Gewerbe- oder Reisefreiheit außer Kraft, die einer offenen Gesellschaft widersprechen, aber dennoch unter dem Eindruck der Gesundheitsgefährdungen weitgehend akzeptiert wurden. Durch diese auf individuelle Verhaltensänderungen zielenden Eingriffe in die Alltagskultur der Menschen versucht die Politik gerade bei Ausnahmezuständen neue Steuerungsressourcen zu mobilisieren. Offe hat diesen veränderten Modus politischer Steuerung schon vor einiger Zeit analysiert und es überrascht nicht, dass er in fundamentalen Krisenphasen, in denen die Politik unter hohem Verantwortungsdruck steht, verstärkt zur Anwendung kommt. „Dementsprechend agiert staatliche Politik nicht nur durch Governance im Sinne informeller, voluntaristischer und netzförmiger Verhandlungs- und Regelsysteme zwischen sozialen Verbänden, sondern (wohl zunehmend) auch dadurch, dass sie die kognitiven und moralischen Kräfte der Bürger zu aktivieren versucht und diese als Ressource politischer Steuerung in Anspruch nimmt“ (Offe 2008, 75). Insbesondere weil die derzeitigen Erschütterungen mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik fundamental sind, ist es nicht überraschend, wenn das Pendel in der Frage, was der Staat leisten kann, wieder die Richtung verändert. Nach
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all den Jahren der Entstaatlichung in vielen Fragen der öffentlichen Infrastruktur und Einschnitten in öffentlichen Haushalten scheint Verstaatlichung wieder in Mode zu kommen, ohne dass dabei bedacht wird, dass sich der Staat in den letzten Jahrzehnten selbst strukturell gewandelt hat und gar nicht mehr das Herrschaftsmonopol ist, welches sich einige nun erträumen. Nach Phasen der Staatsentzauberung setzt offenbar wieder eine Phase neuer Staatsgläubigkeit ein. Doch dieser Glaube ist kaum mehr als ein Aberglaube. Von sozialwissenschaftlicher Seite wird das Paradigma des Staates als zentrale Herrschaftsinstanz schon länger relativiert, weil nichtstaatliche Akteure an der Politik beteiligt sind und auch die Nationalstaaten einen Teil ihres Herrschaftsmonopols abgeben mussten. Hinzu kommen die Verschlankungen des Staates in Richtung höherer Marktkonformität, die sich in den letzten Jahrzehnten als Modewelle durchgesetzt haben (allerdings in Deutschland weniger als in vergleichbaren Ländern). Auch die Demonstration von Macht im Krisenbekämpfungsmodus kann nicht über diese Kontrollverluste staatlicher Politik hinwegtäuschen. „Faktisch sind Politiker im Augenblick schwach, sowohl angesichts der Pandemie als auch angesichts der Kritik an ihrem Umgang mit der Notlage. Ganz offenkundig haben sie nicht mehr die Instrumente in der Hand, über die sie noch in der Ära vor der Austeritätspolitik und der massiven Diskreditierung kollektiven institutionellen Handelns verfügten. Und nachdem sie ihre vormaligen Werkzeugkästen eingebüßt – oder besser wohl: weggeworfen – haben, finden sie sich jetzt mit einer Vielzahl von Kritiken konfrontiert: der Kritik an der Zunahme staatlichen Verhaltensmonitoring von Seiten der Menschen- und Bürgerrechtler; der Kritik an der Zerstörung einer angeblich funktionierenden Wirtschaft aus Unternehmerkreisen; der Kritik an der Vernachlässigung der ohnehin benachteiligten sozialen Gruppen von Sozialverbänden und dergleichen mehr“ (Wagner 2020, 11). Diese realistische Einschätzung grenzt sich einerseits aus wissenssoziologischer Perspektive von dem von vielen Ökonomen gepredigten Staatsversagen und der gleichzeitigen Euphorisierung der Marktsteuerung ab, betont andererseits den Abschied vom klassischen, hierarchisch organisierten Staat, ohne aber von einer Marginalisierung der Staatlichkeit auszugehen. Vielmehr hat sich ein auf Kooperation angewiesener Staat herausgebildet, der gerade in der derzeitigen Krisensituation zwar als Entscheidungsträger mehr denn je gefragt ist, allerdings selbst mit Ungewissheiten konfrontiert wird. Deshalb nutzt er nicht nur in dieser akuten Frage sowohl wissenschaftliche als auch zivilgesellschaftliche Akteure, um hierüber neue Steuerungsressourcen zu gewinnen. In den staatstheoretischen Diskursen der letzten Jahre spielte der kooperative oder auch investive Staat eine zentrale Rolle als neues Leitbild. Schuppert setzt auf einen Gewährleistungsstaat, dem es darum gehen muss, „einerseits Gemeinwohlbeiträge staatlicher und nicht-
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staatlicher Akteure zu koordinieren, dabei andererseits aber die Eigenrationalitäten des staatlichen wie des privaten Sektors zu wahren, um auf diese Weise aus am individuellen Nutzenkalkülen orientierten Handlungsbeiträgen nicht-staatlicher Akteure Gemeinwohlbeiträge Privater werden zu lassen“ (ders, 2004, 9; vgl. auch ders. 2019). In dieser kontextuellen Verknüpfung wird die tragende Rolle der Zivilgesellschaft als sozialer Integrationsfaktor anerkannt. Die Potenziale der Assoziationen können aber nur dann sozialintegrativ wirken, wenn sie in einem staatlichen Rahmen (einem Gewährleistungsstaat) geschützt und gefördert werden: „Es gibt so etwas wie das Empfinden, dass wir doch den Staat brauchen. Wenn es wirklich darauf ankommt, können wir uns nicht auf den Voluntarismus der Zivilgesellschaft verlassen. Dann muss es eine Instanz geben, die für alle spricht, die für alle eintritt und auch sanktionsfähig ist gegenüber einzelnen, die nicht so denken wie die Mehrheit. Und zwar kein autoritärer Staat und nicht mal ein patriarchaler Staat. Diese Staatlichkeit, die wir in der großen Mehrheit für anerkennungsfähig halten, begründet sich daraus, dass wir sie aus dem Gefühl heraus brauchen –sonst können wir uns wechselseitig keinen Schutz bieten. Nicht, dass man sich dem Staat in die Arme wirft, sondern dass man die Notwendigkeit des Staates akzeptiert. Man könnte sagen, dass die Gesellschaft ihre eigene Staatsbedürftigkeit erkannt hat. Damit ist die Solidarität schon nicht mehr an meiner Tür zu Ende, sondern es ist eine Solidarität, die für ein ganzes Land gilt“ (Bude 2020b). Unabhängig davon unter welcher Flagge die modernen Staatsdeutungen behandelt werden, sie zeichnen sich durch die Transformation des Staatlichen aus. Eine Top-Down-Steuerung kann nur noch temporär (bspw. im Katastrophenmanagement) erfolgen, wenngleich autoritäre Versuchungen auch in manchen europäischen Ländern in letzter Zeit erfolgreich waren. Kluge staatliche Regulierungen setzen stärker auf die „gesellschaftliche Dynamik, ohne nostalgisch in die „formierte Gesellschaft“ der Nachkriegszeit zurückzuwollen. Die Alternative zum Populismus wäre also eine Art einbettender Liberalismus“ (Reckwitz 2020a). Ganz gleich, wie man das neue, sich herausschälende Paradigma nennen möchte, wichtig ist die Bereitschaft zum „Learning by Monitoring“, eine angemessene Kontextsteuerung und die Neubewertung zivilgesellschaftlicher Ressourcen. Die Coronapandemie hat bereits viele subjektive Verunsicherungen, soziale Probleme und sozioökonomische Verwerfungen ausgelöst, deren Folgewirkungen (bspw. auf dem Arbeitsmarkt) einige Jahre anhalten werden, sie hat aber auch ein Experimentierfeld geschaffen. So haben Formen des Gemeinsinns, die sich auch bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zeigten, nun weitere Teile der Zivilgesellschaft erfasst und können auch als Chance und Vorbote für eine besser ausbalancierte und nachhaltigere Gesellschaft begriffen werden. Allerdings gilt es auch aufgrund erster empirischer
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Befragungen, auf die Grenzen solidarischer Hilfepotenziale und die Notwendigkeit öffentlicher Infrastrukturen hinzuweisen. „Fraglich bleibt in unseren Gesprächen jedoch, wie belastbar die Unterstützungsleistungen auf Dorfebene dauerhaft sind. Möglicherweise besteht und funktioniert die große Hilfsbereitschaft nur bei kleineren Herausforderungen des Alltags und solange nur wenige von der Epidemie betroffen sind. Für die Stabilität sozialer Strukturen bleibt es daher wichtig, dass öffentliche Institutionen vor Ort handlungsfähig sind – von der Gemeindeverwaltung bis zur Caritas“ (Simmank/Vogel 2020, 2). Über welche Spielräume die zivilgesellschaftlichen Solidaritätsformen verfügen werden, hängt folglich neben der Dauer der Krise von der Aufrechterhaltung öffentlicher Infrastrukturen und der Sensibilität politischer Steuerung ab. Nach der Phase der sozialen Distanzierung wird es aber wohl einige Zeit benötigen, auch das durch die Abstandsregelungen und technische Kontrollmöglichkeiten geschaffene Misstrauen über den sozialen Nahraum hinaus abzubauen. Vertrauen aufzubauen benötigt mehr Zeit und auf die Gefahr, in eine „Ellenbogengesellschaft“ abzugleiten, ist bereits hingewiesen worden. Konsens besteht darin, dass die Gesellschaft digitaler wird, was auch impliziert, dass sie sich stärker granularisiert – mit all den nun erprobten Optionen wie auch Überwachungsmöglichkeiten. Die digitale Transformation setzt sich auch in der Wirtschaft fort, was anhand der Umsetzung der „Arbeit 4.0“ oder „Industrie 4.0“-Konzepte und im Feld der künstlichen Intelligenz zu beobachten ist. Ebenso werden die globalen Wertschöpfungsketten neu austariert, stärker Sicherheitspuffer eingebaut und auch ausgewählte Produkte im nationalen Rahmen vorgehalten werden. Dies gilt etwa für Medikamente, medizintechnische Geräte, Schutzbekleidungen etc. sowie für landwirtschaftliche Produkte. Eine solche (Re-)Regionalisierung der Produktion würde auch die Chancen für eine sozialökologische Transformation erhöhen und Raum schaffen für gemeinwohlorientierte Unternehmen wie etwa Genossenschaften oder Sozialunternehmen. Man könnte in diesem Kontext vom Aufbau resilienter (widerstandsfähiger) Strukturen sprechen, ohne sich damit aus der Globalisierung völlig zurückzuziehen. Allerdings werden die neuen Vernetzungen über eine rein quantitative Effizienzsteigerung hinausgehen müssen und zudem weitaus stärker sozial eingebettet sein. Eine Neubestimmung in dieser Richtung hat gute Umsetzungschancen, denn schon vor der Coronakrise wurde eine Erschöpfung der Globalisierung konstatiert und ein verstärkter Einbezug der Zivilgesellschaft als nachhaltige Revitalisierungsstrategie empfohlen. „Die systematische Einbindung der Zivilgesellschaft eröffnet neue transnationale Diskursräume und bietet die Chance, sowohl für eine nachhaltige betriebswirtschaftliche Strategie als auch die erschöpfte Globalisierung zu ertüchtigen“ (Hüther et al. 2018, 390).
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Dies erfordert eine globale Kooperation, die derzeit bei der Bekämpfung der Coronapandemie jedoch noch nicht einmal im europäischen Rahmen, geschweige denn durch supranationale Governancemuster, gelingt. Und das obgleich das Virus massiv wie nie zuvor veranschaulicht, wie eng die Welt inzwischen miteinander verflochten ist und, dass sich deshalb kein Nationalstaat abschotten kann. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Kooperation über Ländergrenzen hinweg ist bei der Bekämpfung der Seuche ein Zuwachs bei dem Austausch von Informationen zu beobachten, allerdings gilt dies eben nicht für die Regierungspolitik. Hier dominieren nationale Interessen und nur langsam entwickeln sich transnationale Kooperationen und solidarische Hilfsaktionen. Die Re-Nationalisierungstendenzen können als ein weiteres Puzzlestück für wachsende Heterogenisierungen (sowohl im nationalen Gesellschaftsrahmen als auch auf internationaler Ebene) anstatt gemeinsamer Konfliktlösungen aufgefasst werden. Die derzeit zu beobachtende Revitalisierung nationaler Gefühle verweist auf den Fortbestand spezifischer nationaler wie regionaler Kulturen, die gerade im Krisenschock leicht zu mobilisieren sind und auch solidarische Hilfspotenziale freisetzen. Wenn sie nicht von nationalpopulistischen Bewegungen instrumentalisiert werden, können sich hieraus auch internationale Solidaritätsformen entwickeln (vergleichbar etwa mit den Wiederaufbauprogrammen nach dem Zweiten Weltkrieg). Die in der Coronapandemie geweckten Gemeinschaftsgefühle können nicht pauschal als Beleg für einen Neustart in Richtung einer solidarökonomischen Transformation interpretiert werden, auch wenn sie auf revitalisierte Gemeinschaftsoptionen verweisen. Diese Formen der Solidarbeziehungen sind deshalb auch nicht als eine breite Gegenströmung zur singularisierten Gesellschaft zu interpretieren, sondern eher als ein Mosaikstein wachsender Vielfalt zu verstehen. Dies liegt nicht nur in der begrenzten Dauer des Krisenmodus, sondern auch in der Dissoziation der Bekämpfungsmaßnahmen bergründet. Die geforderte soziale Distanz hat zwar einerseits Vergemeinschaftungsprozesse bewirkt, andererseits bspw. manche Sharing-Economy-Projekte vor existentielle Überlebensprobleme gestellt – insbesondere, wenn sie letztlich nicht ohne Nahdistanz funktionieren. Dies gilt etwa für die ursprünglich nicht kommerziell betriebene Plattform Airbnb, welche 2008 in San Francisco gegründet wurde und inzwischen weltweit jeweils private Unterkünfte in mehr als 220 Ländern und über 100.000 Städten vermittelt. Die Idee verbreitete und kommerzialisierte sich sprunghaft und schuf ein Großunternehmen, das 2019 vom Umsatz her die Milliardenmarke übertraf und eine Börsenplatzierung plante. Parallel zu den massiven Einbrüchen der Tourismuswirtschaft und der Hotellerie schrumpfte auch der Umsatz von Airbnb weltweit und auch in Deutschland um über 50 %. Da Ungewissheit besteht, wann und wie Reisebeschränkungen aufgehoben werden und sich auch danach das Tourismus-
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verhalten wohl weniger dynamisch darstellen wird als vor der Coronapandemie, dürfte sich die Expansion dieses kommerziellen Dienstleisters so nicht fortsetzen. Erschwerend hinzu kommt, dass die eigene Wohnung unter anderen Schutzaspekten betrachtet wird als bspw. Hotelzimmer. Auch andere Unternehmen aus der Sharing Economy, die sich eher als gemeinnützige Sozialunternehmen definieren, so etwa Anbieter von Car-Sharing, sind sowohl von den aktuellen Einschränkungen als auch von den längerfristigen Wirkungen betroffen. Gerade zu dem Zeitpunkt, als manche der Car-Sharing-Unternehmen (sowohl solidarökonomische als auch konzernverbundene) die Gründungsphase erfolgreich überstanden hatten, die Digitalisierung die Ausbreitung und Akzeptanz vorantrieb und ihr Geschäftsfeld sich positiv entwickelte, sorgt das Virus für massive Rückgänge und erfordert ein verändertes Geschäftsmodell. Da ein anderes Hygiene- und Schutzverhalten, das auf mehr Abstand setzt, wohl über einen längeren Zeitraum erhalten bleiben wird, sind die Zukunftsaussichten prekärer geworden. Jedenfalls gilt dies für die Initiativen, die beim „Teilen“ nicht auf soziale Nähe verzichten können. Sicherlich werden einige Unternehmen auch nach der tiefgreifenden Krise überleben, weil sich ökologische Verhaltensweisen stärker als Ängste vor einem Virus bei einzelnen Gruppen erweisen, dennoch müssen sich die Sharing-Konzepte, die auf dem Sprung zu einem anerkannten Wirtschaftsfaktor waren, mit den neuen Paradigmen aktiv auseinandersetzen, um zu überleben. Diese wenigen Beispiele demonstrieren, wie differenziert die Wirkungen der Coronapandemie nicht nur in der etablierten Wirtschaft sind. Einige Branchen werden (fast) an den Abgrund gedrängt und es wird in manchen Bereichen zu Marktbereinigungen führen, während andere Branchen nach einer Erschütterung wieder zum Normalmodus zurückkehren oder nach der Anerkennung als systemrelevant sogar bessere Konditionen bekommen. Wenn auch den solidarökonomischen Aufbrüchen und Suchbewegungen durch die Krise und den kurzfristig präferierten Maßnahmen zum Wiederaufbau der Wirtschaft gewisse Energien entzogen werden, könnten sie langfristig profitieren. Es dürfte in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen eine Kultur der Vorsicht an Bedeutung gewinnen und Ernährungs- und Mobilitätsmuster sowie das Freizeitverhalten verändern, was letztlich auf wirtschaftliche Paradigmen ausstrahlt. Gerade über die individuellen und sozialen Wirkungen liegen allerdings bislang keine verlässlichen Studien vor und sie werden zentral von der Dauer der Coronapandemie tangiert sein, denn damit wachsen die ökonomischen und nachfolgend die sozialen Risiken. Auch wenn der Schockzustand sich langsam auflöst, bleiben die Erfahrungen der Ungewissheit, der Verwundbarkeit und des Kontrollverlustes im Bewusstsein aller gesellschaftlichen Akteure über einen längeren Zeitraum fortbestehen. Sie
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werden bei Menschen, die sich ohnehin schon erschöpft und frustriert vom politischen Geschehen fühlen, eher weitere Rückzugstendenzen auslösen – manchmal gekoppelt mit der Sehnsucht nach autoritären, entlastenden Politikstrategien oder „alten“, sicheren Zeiten (Nostalgie). Andere Personengruppen werden die Krise als historische Chance für einen sozialökologischen Aufbruch deuten und wieder andere (und dies dürfte die Mehrheit sein) wird keinen generellen Pfadwechsel anstreben, aber in manchen Fragen aus der Krise lernen. Dies könnte Innovationen in vielen Feldern anstoßen, die Pandemie würde dann wie ein „nudging“ wirken (vgl. Lamla 2019) und hätte Anstöße gegeben, neue Wege zu beschreiten. Ähnlich wie die gruppenspezifischen Reaktionen differenziert ausfallen, sind auch die gesellschaftlichen Funktionssysteme unterschiedlich von der Pandemie betroffen und es ergibt sich kein einheitliches Bild. Auf die Renaissance des (National)Staates, aber auch Bedeutungsgewinne für das Gesundheitssystem und die Wissenschaft (insbesondere die Seuchenforschung) ist bereits hingewiesen worden. Zu den bisherigen Verlierern gehören Funktionsbereiche wie der Sport oder die Kultur sowie große Teile des Unterhaltungs- und Freizeitsektors, die durch die Stilllegung des öffentlichen Lebens und die Kontaktverbote bzw. -beschränkungen in ihren Kernfunktionen tangiert werden und deshalb in vielen Fällen existenzbedrohende Situationen durchstehen müssen. Insgesamt dürften sich nach der Zäsur durch das Coronavirus die sozialen Ungleichheiten vertieft haben und zugleich sind währenddessen auch die Interdependenzen der Teilsysteme deutlich hervorgetreten. Deshalb gilt es umso mehr, die Suche nach sektorenübergreifenden und nachhaltigen Vernetzungen zu forcieren, um bspw. die demografischen Herausforderungen und den Klimaschutz endlich vorrangig zu behandeln. Eingangs wurde auf die seismographische Funktion einer Krise hingewiesen, die nicht nur das tektonische Bild einer Gesellschaft sichtbar macht, sondern auch Lösungswege für anstehende Herausforderungen aufzeigen kann. Es ist noch zu früh, beurteilen zu können, wie diese Lernprozesse ausgehen werden, denn die Coronapandemie kennt keine Vorbilder, ist einzigartig und deshalb sind die Folgewirkungen für einzelne Institutionen und die Gesamtgesellschaft erst nach einem längeren Zeitraum zu beurteilen. Streeck hat mit Blick auf die Finanz- und Fiskalkrise 2008/2009 davor gewarnt, zu unterstellen, „dass alles irgendwann wieder von selber in ein gutes Gleichgewicht kommen würde“ (ders. 2013, 8) und auf die Fragilität und Prekarität sozialer Ordnungen verwiesen. Was schon damals für die eingeleiteten Gegenmaßnahmen zur Überwindung der Krise galt, gilt heute umso mehr. Letztlich wurde Zeit gekauft und damit neue Handlungsoptionen zur Bekämpfung der Seuche. Die politisch-sozialen und ökonomischen Verwerfungen sind gegenwärtig allerdings größer und haben die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten Sicherheitsgefühle empfindlich berührt.
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Auch wenn Deutschland den Stresstest der Pandemie durch ein vergleichsweise funktionsfähiges Gesundheitssystem, eine funktionierende Administration und vor allem durch den Einsatz von sehr viel Geld derzeit im internationalen Vergleich gut meistert, bedeutet dies nicht automatisch die Rückkehr zu einer stabil wachsenden Ökonomie mit einem entspannten Arbeitsmarkt und langfristig stabilen sozialen Sicherungssystemen. So kann etwa die Kurzarbeit, die Ende April für über zehn Millionen Arbeitnehmer angezeigt wurde, zwar die Situation am Arbeitsmarkt etwas mildern, aber es bedeutet nicht, dass damit eine deutlich ansteigende Arbeitslosigkeit mit all ihren negativen Folgen für soziale Lebenschancen in der Post-Coronaphase verhindert wird. Perioden mit hoher Arbeitslosigkeit produzieren jedoch – so die Erfahrungen mit vorausgegangenen Rezessionen – soziale Abstiege und potenzieren ohnehin vorhandenes subjektives Unbehagen und fördern politische Radikalisierungen. Wenn persönliche Existenzkämpfe und Enttäuschungen das Alltagsleben determinieren, schrumpfen auch altruistische Hilfsaktionen bei vielen Menschen und beschleunigen eher eine Ellbogenmentalität. Die in der ersten Phase oft thematisierte Solidaritätsbereitschaft würde dann auf eine harte Probe gestellt, dennoch dürften anstehende Neujustierungen durch das Momentum der Krise Auftrieb gewinnen. Sie werden aber verpuffen, wenn sie nicht von nachhaltigen und die Fragmentierungen überwindenden politischen Gestaltungsstrukturen begleitet werden. Dies gilt auch mit Blick auf die Renaissance nationalstaatlicher Regulierungen, die den anstehenden Herausforderungen (wie dem Klimaschutz oder der Digitalisierung) nicht gerecht werden und durch internationale Regulierungen (allen voran auf europäischer Ebene) dringend ersetzt werden müssen. Ein zerfallendes Europa kann auch durch zivilgesellschaftliche Strukturen nicht kompensiert werden. Leuchtturmprojekte, die für mehr Solidarität und soziale Nähe in der Coronapandemie stehen, reichen allein nicht aus; erforderlich sind starke öffentliche Institutionen, ein breiter gesellschaftlicher Diskurs und neue Kooperationskulturen, um die Handlungsimpulse in der Breite zu nutzen. Ob eine solche demokratische Agenda Realität wird, ist noch nicht entschieden. Der wirtschaftliche Niedergang mancher Branchen gekoppelt mit wachsender Arbeitslosigkeit wird Konflikte provozieren und die traditionell starken Interessenverbände, etwa der Automobilindustrie, fallen gerade in Krisenzeiten zumeist in ihre alten Politikmuster zurück (so forderte bspw. die Autolobby erneut staatliche Kaufprämien). Vor dem Hintergrund des massiven Ausbaus von Förderprogrammen wird das Virus nicht zum Aufbruch in eine nachhaltige Mobilitätsund Verkehrswende genutzt, sondern dient kurzfristigen Überlebensstrategien einzelner Unternehmen (und ihrer Belegschaften). Die Renaissance staatlicher Autorität wird zudem durch Verschwörungstheorien herausgefordert, die die
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schon vor der Pandemie bestehende Gereiztheit für ihre Kampagnen nutzen. Der Resonanzboden für solche oft irrational agierenden Protestgruppen ist insofern fruchtbarer geworden, als dass nun neue Verlierer hinzugekommen sind. Deshalb sind Projektionen zweifelhaft, die die Solidaritätswelle aus der ersten Phase der Coronapandemie automatisch in die Zukunft verlängern. Bereits nach wenigen Monaten breiten sich auch in einem Land mit einer starken Zivilgesellschaft sozioökonomische Zersplitterungen und Pessimismus aus und können das zu Beginn der Krise gewachsene Vertrauen in die Risikopolitik wieder in Bedrängnis bringen. Eine neujustierte Staatlichkeit wäre ein Ausweg und es sprechen dafür nicht nur abstrakte Gerechtigkeitsvorstellungen und Nachhaltigkeitsargumente, sondern ebenso das vitale Interesse des Staates an seiner Fortexistenz. Wenngleich erste Erfahrungen für einen produktiven Umgang mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturverschiebungen in einzelnen Handlungsfeldern vorliegen, entziehen sie sich einer vorschnellen Verallgemeinerung. Anstatt einfache Rezepte zu formulieren, sollte deshalb noch mehr Energie in die Analyse der realen Wandlungsprozesse gesteckt werden.
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