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German Pages [401] Year 2013
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370254 — ISBN E-Book: 9783647370255
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann
Frühere Herausgeber Helmut Berding und Hans-Ulrich Wehler (1972–2011)
Band 202
Vandenhoeck & Ruprecht
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Karin Hausen
Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte
Vandenhoeck & Ruprecht
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Mit 13 Tabellen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37025-4 ISBN 978-3-647-37025-5 (E-Book)
Umschlagabbildung: Gregory Crewdson, »Untitled«, 2003–2005 © Gregory Crewdson. Courtesy Gagosian Gallery
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Bürgerliche Geschlechterordnung Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben . . .
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» … eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert . . . . . .
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Der Aufsatz über die »Geschlechtscharaktere« und seine Rezeption. Eine Spätlese nach dreißig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
II. Haushalt und Technik Technischer Fortschritt und Frauenarbeit. Zur Sozialgeschichte der Nähmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Große Wäsche. Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in Deutschland vom 18. bis ins 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Häuslicher Herd und Wissenschaft. Zur frühneuzeitlichen Debatte über Holznot und Holzsparkunst in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Arbeiten, Wirtschaften und Geschlechterdifferenz Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Funktion von Arbeits- und Sozialrecht für die Normierung und Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse . . . . . . . . . . . . . .
210
Arbeit und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
IV. Muttertag, Volkstrauertag und andere Antworten auf den Ersten Weltkrieg Mütter, Söhne und der Markt der Symbole und Waren: der »Deutsche Muttertag« 1923–1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Der Volkstrauertag. Ein Tag des nationalen Gedenkens an die getöteten deutschen Soldaten
303
Die Dankesschuld des Vaterlandes für die Witwen und Waisen der Kriegshelden des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
330
V. Theoretische und historiographische Herausforderungen Patriarchat. Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts für Frauenpolitik und Frauengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Geschlechtergeschichte war Anfang der 1970er Jahren noch eine Terra Incognita. Dieses Neuland zu entdecken, zu umreißen und zu erschließen, gelang nicht in einem Geniestreich oder als heroische Einzelleistung. Geschlecht als eine unverzichtbare Kategorie für soziale und historische Analysen durchzusetzen und Geschlechterverhältnisse nicht länger als natürliche anthropologische Konstante, sondern in ihrer Geschichtlichkeit zu begreifen, war ein langwieriges Unterfangen. An den Expeditionen in das noch unbekannte Terrain beteiligten sich zunächst nur Wissenschaftlerinnen in schnell wachsender Zahl. Sie waren angeregt durch die Neue Frauenbewegung, ausgerüstet mit unterschiedlichen disziplinären Ausbildungen, geprägt durch nationale akademische Traditionen. Das Vorgehen war anfangs eher tastend als zielgerichtet. Es galt, professionelle Widerstände zu überwinden, materielle und personelle Grundausstattungen zu erkämpfen und ebenso schwierige wie konfliktträchtige inhaltliche, methodische und theoretische Vorklärungen zu erarbeiten. Um 1990 aber war es gelungen, Geschlechtergeschichte in vielen Ländern als seriöse akademische Veranstaltung und ernst zu nehmende Herausforderung der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Sie als unverzichtbar für jegliche historische Gesellschaftsanalyse zu reklamieren, bedeutete allerdings noch lange nicht, ihr auch in den Entwürfen von breit ausgelegter Gesellschaftsgeschichte tatsächlich konzeptionell und forschungspraktisch bereits zu einem allgemein akzeptierten Platz zu verhelfen. Eine schnellere Akzeptanz der Geschlechtergeschichte und deren Anerkennung als weitreichende historiographische Innovation wäre durchaus denkbar gewesen. Dafür sprachen die Entwicklungen der Geschichtswissenschaften Westeuropas und Nordamerikas in den 1960er Jahren. Der Aufbruch zur Geschlechtergeschichte begann, als die Geschichtswissenschaften bereits damit befasst waren, die – vor allem in Deutschland und speziell in Westdeutschland noch stark ausgeprägte – Dominanz der Politikgeschichte alten Stils zu überwinden und mit so verschiedenen Ansätzen wie Sozial-, Wirtschafts-, Arbeiter-, Mentalitäts-, Bevölkerungs- und Familiengeschichte eine neuartige Gesellschaftsgeschichte durchzusetzen. Geschlechtergeschichte hätte, vorausgesetzt sie wäre schon ernst genommen worden, darin von Anfang an einen angemessenen Platz finden können. Im Kern ging es ihr um die Erforschung folgender Fragen: Was bedeudete es in Gesellschaften früherer Zeiten und Kulturen, zu einer Frau, zu einem Mann heranzuwachsen und in den jeweiligen städtischen oder dörflichen Milieus ihres Standes, ihrer Klasse oder Schicht, ihrer Ethnie oder Rasse zu leben, zu arbeiten und sich zu bewähren? Was bedeutete es umgekehrt für historische Gesellschaften insgesamt, dass die jeweils geltende Geschlech7
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terordnung kulturell, sozial, wirtschaftlich und politisch wirksam war und die gesellschaftlichen Verhältnisse institutionell und strukturell mitprägte? Und wie beeinflusste die dergestalt mehr oder weniger erfolgreich und dauerhaft in Menschen und Gesellschaften nach Maßgabe der herrschenden Geschlechterordnung verankerte Geschlechtlichkeit die Stabilität oder Fragilität von Gesellschaften im Prozess des historischen Wandels? Die Widerstände gegen das historiographische Projekt der Geschlechtergeschichte sind aus heutiger Sicht nur noch schwer nachvollziehbar. Entscheidend war, dass es in den 1970er und 1980er Jahren in der Geschichtswissenschaft wie auch in anderen Universitätsdisziplinen bei der Reaktion auf die ausschließlich von Frauen erhobenen Forderungen, Frauenforschung zuzulassen und auszustatten, zunächst weniger um fachspezifische Inhalte als um die Verteidigung disziplinärer und akademischer Hoheiten und Konventionen ging. Je exklusiver in Universitäten und Fachdisziplinen Wissenschaft als bezahlter Beruf auf Lebenszeit von Männern betrieben wurde, desto einfacher war es, mit der Macht von Geschlecht, Status und fachlicher Überlegenheit ein von Studentinnen, Doktorandinnen und befristet tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen gewagtes feministisches Aufbegehren und Fordern als unbotmäßig und unqualifiziert auszubremsen. In der Bundesrepublik bot es sich zusätzlich an, den bereits gegen Marxisten als Waffe erprobten Vorwurf unwissenschaftlicher Parteilichkeit nun auch gegen Feministinnen einzusetzen. Trotz einer solchen machtgestützten inneruniversitären Abwehr wirkte die von außen aufgenötigte Beunruhigung allerdings weiter. Die Neue Frauenbewegung brachte die Frauenfrage, um die es bis dahin still geworden war, nun vehement als eine an Männer adressierte Geschlechts- und Machtfrage in die Öffentlichkeit zurück und weckte – anfangs fast ausnahmslos bei Frauen – Interesse für die Geschichte der allzu lange als natürlich hingenommenen, Männer privilegierenden Geschlechterverhältnisse. Ebenfalls in die Schusslinie der Kritik geriet damit die jahrzehntelang übliche Praxis, bei wissenschaftlicher Analyse und Kritik die gesellschaftlich grundlegende Ordnung der Geschlechterverhältnisse kommentarlos auszusparen. Es fiel nun auf, wie stark den Forschungen über Frauen oder Männer in allen Disziplinen implizit das Vorverständnis natürlich-normaler Geschlechterverhältnisse unterlegt wird und wie selbstverständlich es ist, wenn über Menschen (Arbeiter, Politiker, Bürger, Jugendliche) geforscht wird, ausschließlich an Männer zu denken und stillschweigend von Frauen abzusehen. Feministische Wissenschaftlerinnen beantworteten diese wissenschaftlich nicht legitimierbaren Unterlassungen mit der Forderung, Geschlecht als eine grundlegende ana lytische Kategorie anzuerkennen, in der Forschungspraxis anzuwenden und zu prüfen, wie sich diese Innovation auf die bisherigen Fundamente des wissenschaftlichen Arbeitens und die vermeintlich gesicherten Ergebnisse auswirkt. Für gegenwartsbezogene ebenso wie für historische Sozial- und Kulturwissenschaften bedeutete das einen Angriff gegen bislang für selbstverständlich gehaltene Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens. Die bequemste Art, mit 8
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dieser Zumutung umzugehen, war konsequentes Ignorieren. Etwas aufwändiger war es, den Vorstoß lächerlich zu machen und ihm Qualifikationsdefizite und Unwissenschaftlichkeit zu unterstellen. Als wohlfeiles Entgegenkommen oder gezielte Eingrenzungsstrategie gab es außerdem das verführerisch-generöse Angebot, im hinteren Seitenflügel der Fachdisziplin einen Experimentierraum bereit zu stellen. Eher gemieden, da unter Fachkollegen argwöhnisch beäugt, wurde dagegen längere Zeit die Möglichkeit, sich der Herausforderung zu stellen und deren Stichhaltigkeit ernsthaft zu prüfen. Je erfolgreicher jedoch die seit Ende der 1960er Jahre international kommunizierenden feministischen Bewegungen ihre Forderungen nach umfassender gesellschaftlicher Transformation zugunsten von mehr Rechts- und Chancengleichheit für Frauen auf die politische Agenda setzte, um so wahrscheinlicher wurde es, dass auch die Geschlechtergeschichte allmählich immer weitere Bereiche der als seriös anerkannten akademischen Geschichtswissenschaft erreichen würde. Allerdings boten die nationalen Universitätslandschaften für eine solche Neuorientierung sehr unterschiedliche Entfaltungsmöglichkeiten. Entscheidend war, ob überhaupt und wie viele Wissenschaftlerinnen jeweils beruflich innerhalb der Universitäten, Fakultäten und Institute arbeiteten und über welche Bereitschaft und Chancen zur Einflussnahme sie dort verfügten, um Forderungen und Impulse der feministischen Bewegung in die Universitäten hineinzutragen und in akademische Lehre und Forschung umzusetzen. Nicht von ungefähr kamen daher entscheidende Antriebe und Pionierleistungen aus den USA und in engem Verbund mit diesen auch aus Großbritannien. Reger internationaler Austausch und intensiv praktizierte Interdisziplinarität gehörten von Anfang an auch in Deutschland zu den Wegbereitern der historischen Frauenforschung. Festzustellen, dass es bislang historiographisch für Frauen in der Geschichte offenbar keinen Platz gab, wies den Weg zu der Frage, warum und wie dieses unhinterfragt möglich war, und lenkte über kurz oder lang die forschende Neugier über die Frauengeschichte und die schlichte Programmatik, patriarchalische Männergeschichte entlarven zu wollen, hinaus in das Feld einer umfassenden Geschlechtergeschichte. Wer auszog, Frauen in der Geschichte historiographisch angemessen ins Licht zu rücken, kam auf Dauer nicht umhin, mit gleicher Aufmerksamkeit auch die Geschichte von Männern und Männlichkeiten zu erforschen. Erst mit dieser Erweiterung wurde es möglich, die bereits angedachte, normativ und institutionell männlich-weiblich choreographierte, auf Wechselseitigkeit angelegte Beziehungsgeschichte zwischen Frauen, Männern und Gesellschaft zu untersuchen und zu verstehen. In Ergänzung zur anfänglichen Fokussierung auf Frauen forschten bereits in den 1990er Jahren Wissenschaftlerinnen und bald auch Wissenschaftler vermehrt über Männer und Männlichkeiten in der Geschichte und verhalfen damit der schon in den 1980er Jahre angestrebten relationalen Geschlechtergeschichte zu einer breiteren und solideren Grundlage. Die historische Erforschung der Geschlechterverhältnisse begann mit dem anspruchsvollen Ziel, die Historiographie insgesamt neu zu vermessen. Das 9
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Projekt sah sich allerdings in der Forschungspraxis zunächst vor die Aufgabe gestellt, das Forschungsfeld empirisch, methodisch und theoretisch überhaupt erst von Grund auf zu erschließen. Die akuten Herausforderungen resultierten weniger als anfangs erwartet aus einem Mangel an Quellen. Um so schwieriger aber erwies sich die produktive Auseinandersetzung mit der im Zuge der Forschungen immer deutlicher zutage tretenden Komplexität und inneren Widersprüchlichkeit der in die Gesellschaften eingebetteten Geschlechterverhältnisse. Gefragt war angesichts dieser Herausforderung außer breiter historischer Informiertheit auch die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, mit diesen sensibel umzugehen und allen auf Eindeutigkeit zielenden Konzepten, Kategorien und Urteilen mit kritischer Distanz zu begegnen. Das bedeutete, die in der wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Kommunikation beliebten, da Klarheit signalisierenden, binären Kategorisierungen Allgemeines versus Besonderes, Natur versus Kultur, Öffentlichkeit versus Privatheit, Täter versus Opfer, Produktion versus Reproduktion in Zweifel zu ziehen und deren empirische Fragwürdigkeit und geschlechterpolitische Implikation herauszuarbeiten. Was heute als Linguistic Turn bekannt und verallgemeinert ist, wurde speziell im Hinblick auf Geschlechterforschung in unzähligen interdisziplinären feministischen Theorie- und Methodendebatten ausgelotet. Für die historische Geschlechterforschung hat erst die Einübung in Methoden der Dekonstruktion, die analytisch tiefer greifen, indem sie genauer an Sprache ansetzen, die zwingend erforderliche Radikalisierung der Quellenkritik ermöglicht. Die Erkenntnis, dass Sprache historische Wirklichkeiten gestaltet und produziert, ist für geschichtswissenschaftliches Arbeiten weitaus relevanter als die Kontroverse, ob Wirklichkeit so sehr an Sprache gebunden ist, dass es jenseits von Sprache keine Wirklichkeit gibt. Historische Quellen bringen Frauen als Akteurinnen der Geschichte sprachlich zum Verschwinden, wenn sie vom Streik der Textilarbeiter berichten, obwohl in Textilfabriken mehrheitlich Frauen arbeiteten. Die Rede vom allgemeinen Wahlrecht unterschlägt die noch für Jahrzehnte vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen. Den Mann als Ernährer und Beschützer der Familie sprachlich zu installieren, bedeutet zugleich, ihm die Frau als ernährungs- und schutzbedürftig und nicht als Ernährerin und Beschützerin der Familie zur Seite zu stellen. Die sprachliche Erschaffung von Privatheit und Öffentlichkeit als getrennte, männlich-weiblich unterschiedlich zugewiesene Bereiche wurde Wirklichkeit in Gestalt dauerhafter Verankerungen im Rechts- und Sozialsystem des 19. und 20. Jahrhunderts. Für die wissenschaftliche Analyse, Kritik und vielleicht auch aktuelle Begrenzung derartiger über lange Zeit wirksamer und auf eindeutige Zweigeschlechtlichkeit zielender Geschlechter-Konstruktionen hat sich Dekonstruktion als unverzichtbare Methode bewährt. Das Projekt der historischen Geschlechterforschung ist inzwischen in die Jahre und zu akademischem Ansehen gekommen. Um 1990 wurden Spezialzeitschriften und Publikationsreihen gegründet, und auch andere historische Fachzeitschriften zeigten nun vermehrt Interesse. Allein die Zahl der in deut10
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scher Sprache veröffentlichten Monographien, Sammelbände und Aufsätze ist inzwischen kaum mehr zu überschauen. Die Orientierung erleichtern heute Einführungen, Nachschlagewerke und international vergleichende Überblicke über den erreichten Stand der Forschungen und deren Relevanz im Kanon historiographischer Wissensgebiete.1 Geschlechtergeschichte hat sich empirisch und methodisch ohne Zweifel zu einem beeindruckend produktiven Forschungsgebiet entwickelt und erfreulicherweise darüber die Faszination des historiographischen Experimentierens nicht verloren. Um so größer ist das Wagnis, wenn ich nun als eine über Jahrzehnte an der Entwicklung der Geschlechtergeschichte in Deutschland beteiligte Akteurin ein Buch vorlege, das konsequent als rückschauende Dokumentation konzipiert ist. Es handelt sich um eine Auswahl von Aufsätze aus drei Jahrzehnten, die die Ergebnisse meiner langjährigen Erkundungen im Feld der Geschlechtergeschichte dokumentieren. Abgesehen von formalen Angleichungen und vereinzelter Korrekturen sind die Beiträge bewusst nicht überarbeitet und auf den heutigen Stand der Forschung gebracht worden. Eine solche Adjustierung wäre nicht nur sehr aufwändig, sondern auch unsinnig, denn sie würde eben das zerstören, was den Reiz dieser Sammlung ausmachen kann. Die zeitlich und thematisch breit gefächerten Studien befassen sich in der Hauptsache mit Deutschland in der Zeit vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Sie reflektieren und kommentieren Etappen der historischen Frauen- und Geschlechterforschung. Die Sammlung lädt zu einer Rückschau und dazu ein, am konkreten Beispiel der Aufsätze, die von ein und derselben Autorin zum Thema Geschlechtergeschichte verfasst worden sind, Historiographiegeschichte zu studieren. Drei mögliche Lektüren des Buches bieten sich an. Die Aufsätze können erstens als eine Art Begleittext zur Entwicklung der historischen Geschlechterforschung allgemein und speziell in Deutschland gelesen werden. Dafür spricht, dass die ausgewählten Texte im deutschsprachigen und, sofern übersetzt, auch im englischsprachigen Raum sehr breit rezipiert wurden und zum Teil weiterhin werden. Sie kamen vornehmlich in der historischen Frauen- und Geschlechterforschung, aber auch über die Geschichtswissenschaft hinaus in verschiedenen Fächern der Kultur-, Sozial-, Literatur- und Kunstwissenschaften zum Einsatz. Sie dienten als Einstieg in das Wissens- und Forschungsgebiet, als Hil1 Jüngst veröffentlichte Einführungen sind A. Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 2005; J. Martschukat u. O. Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt 2008; C. Opitz, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005; C. Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte, Frankfurt 2010. Zur Relevanz der Geschlechtergeschichte vgl. u. a. K. Hagemann u. J. H. Quataert (Hg.) Geschichte und Geschlechter. Revisionen der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt 2008, zuerst erschienen als: Gendering Modern German History. Rewriting Historiography, Oxford 2007; und A. Epple u. A. Schaser (Hg.), Gendering Historiography. Beyond National Canons, Frankfurt 2009. Zu aktuellen Entwicklungen siehe L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 18, Heft 2, 2007: Geschlechtergeschichte gegenwärtig; Jg. 19, Heft 2, 2008: Krise(n) der Männlichkeit?
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fen zur Orientierung, als Anregung für weiteres Arbeiten, als Herausforderung zu Auseinandersetzung und kritischer Abgrenzung. Für diese erste Lesart bietet insbesondere der eigens für diese Sammlung geschriebene Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte des Geschlechtscharaktere-Aufsatzes reichhaltiges Material. Eine zweite Lesart folgt den Spuren meiner Forschungsintentionen. Die Aufsätze erproben entweder einen noch unbekannten Zugang zur Geschlechtergeschichte, oder sie versuchen, bereits gewonnene Kenntnisse und Einsichten auszuwerten und Ausgangspositionen für weitere Forschungen zu systematisieren. Es handelt sich insgesamt um Versuche, Geschlechtergeschichte einzubetten in lang- und kurzfristige historische Entwicklungen. Es werden Bezüge hergestellt zu geschichtswissenschaftlich bereits mit Relevanz versehenen Ereignissen und längerfristig wirksamen gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen, leitenden Ideen und Vorstellungen. Zur Sprache kommen die Entwicklung moderner Familienhaushalte, die Herausbildung und Wirkung kapitalistischer Arbeits-, Produktions-, Vermarktungs- und Konsumverhältnisse, der Einsatz von Sozialpolitik zur Abmilderung systembedingter Risiken und Krisen, aber auch der Erste Weltkrieg und dessen dramatische Auswirkungen. Methodisch geht es um Forschungsansätze, die auf eine Verbindung von Politik-, Ideen-/ Mentalitäts-, Kultur-, Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte hinarbeiten und so ermöglichen, Geschlechtergeschichte als zentralen Bestandteil gesellschaftlicher Komplexität erkennbar und verstehbar zu machen. Die Aufsätze zeigen auch, wie allmählich das Verständnis dafür gewachsen ist, dass Geschlechtergeschichte stets mit drei, zwar wechselseitig verbundenen und aufeinander einwirkenden, gleichwohl systematisch unterscheidbaren Ebenen zu tun hat, die hier ohne Anspruch auf definitorische Präzision kurz als Ordnung, Verhältnisse und Beziehungen gekennzeichnet werden sollen: Die auf Dauer angelegte Geschlechterordnung bezieht als umfassende kulturelle Ordnung ihre Legitimation aus Religion, Natur oder unterstellter gesellschaftlicher Notwendigkeit. Sie formt in großen Zügen die erwünschte Anordnung und das aufeinander Bezogensein von männlichem und weiblichem Geschlecht sowie entsprechende Männlichkeiten und Weiblichkeiten. In westlichen Kulturen postuliert die Ordnung strikte Zweigeschlechtlichkeit und eine zugunsten des männlichen Geschlechts ausgelegte Geschlechterhierarchie. Auf der zweiten Ebene geht es um Geschlechterverhältnisse. Diese sind historisch jeweils spezifische, kulturell, institutionell und strukturell verankerte Übersetzungen der Geschlechterordnung; ihre konkreten Ausgestaltungen folgen den im historischen Wandel veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten und Erfordernissen. Auf einer dritten Ebene bezeichnen Geschlechterbeziehungen die Art und Weise, wie Frauen und Männer als Personen einzeln und in Gruppen handeln und wie sie im Wissen um die geltende Ordnung und in Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen ihre Beziehungen zu Menschen des eigenen und des anderen Geschlechts in ihrem Leben und ihrer Arbeit unter Nutzung der ihnen erreichbaren Spielräume tatsächlich ausgestalten. Auf diesen drei systematisch unterscheidbaren Ebenen entfalten die für historische Gesell12
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schaften charakteristischen Ungleichheiten der Zugänge zu Herrschaft, Macht, Ressourcen und Chancen ihre Wirkung. Die Kategorie Geschlecht muss deshalb stets im Verbund mit weiteren Ungleichheits-Kategorien wie Stand/Klasse und Ethnie/Rasse zum Einsatz kommen. In einer dritten Lesart können die hier vorgestellten Texte auch als Szenen einer für Deutschland entworfenen, gesellschaftsgeschichtlich orientierten Geschlechtergeschichte aufgenommen werden. Dieser Lesart kommt entgegen, dass die ausgewählten Texte nicht chronologisch nach dem Datum der Erstveröffentlichung, sondern thematisch gruppiert sind. Die erste Szene lenkt den Blick auf die bürgerliche Geschlechterordnung und bietet zugleich Platz für den frühesten und bekanntesten Aufsatz dieses Buches und für die aus heutiger Sicht nachgezeichnete Rezeption. Die »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« ist entstanden als Beitrag zur historischen Familienforschung und ein Versuch, die Verbreitung und normative Kraft eines geschlechtergeschichtlich wichtigen kulturellen Orientierungssystems vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert aufzudecken und historisch zu deuten. Eine wesentliche Ergänzung liefert der spätere Aufsatz über Ulme und Efeu mit Anhaltspunkten für eine langfristig ausgelegte Sozialgeschichte bürgerlicher Ehepaare und bürgerlicher Eheverhältnisse. Auch hier geht es nicht darum, Aussagen über je individuelle Erfahrungen, Identitäten, Identifikationen, Gefühle zu treffen, wie sie mit der historischen Anthropologie und der Quellengruppe der EgoDokumente zum Zuge gekommen sind. Statt dessen interessieren vornehmlich die in der Regel verfügbaren, durch sozio-kulturelle und materielle Ausstattungen zugemessenen Spielräume, innerhalb derer bürgerliche Frauen und Männer in Ehe und Familie für sich und ihre Nachkommen das Leben gestalteten. Die zweite Szene verbindet die häufig irreführend als traditionell oder privat qualifizierten Haushalte mit Entwicklungen von Wirtschaft und Technik. Auch in Haushalten werden Güter und Dienstleistungen produziert. Das geschieht in der Hauptsache für den eigenen Bedarf, aber in der Form von Heimarbeit oder Überschussproduktion auch für den außerhäuslichen Warenmarkt. Zum Einsatz gelangen in Haushalten unbezahlte Familienarbeit und selbst erzeugte Rohstoffe und Halbfabrikate ebenso wie entlohnte zusätzliche Arbeitskräfte und gegen Geld vom Markt erworbene Güter. Die Studien zur Geschichte der Nähmaschine und zur Geschichte des Waschens verdeutlichen das Verwobensein häuslicher Wirtschaften mit den zunehmend kapitalistisch funktionierenden Marktwirtschaften. Technische und wirtschaftliche Neuerungen haben auch für Haushalte und Hausarbeiten weitreichende Auswirkungen, die im eigenen Haushalt wohl häufiger Frauen als Männern erhebliche Anpassungsleistungen abverlangen. Der Aufsatz über die Holzsparkunst am häuslichen Herd untersucht die Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgte Abgrenzung der nun exklusiv Frauen zugewiesenen Hauswirtschaft vom allgemeinen Begriff Wirtschaft und die begriffliche und konzeptionelle Einengung von Wirtschaft auf Volkswirtschaft und unterstreicht die Notwendigkeit, Wirtschaft unter Einschluss von Hauswirtschaft heute von Grund auf neu zu denken. 13
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Die dritte Szene zeigt Arbeiten, Wirtschaften und Geschlechterdifferenz als einen in seiner Bedeutung kaum zu überschätzenden Verbund der Geschlechtergeschichte. Das Thema Arbeit und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung hat die Frauenbewegung ebenso wie die Geschlechterforschung als aktuelles Problem und offensichtliche Ursache für anhaltende Diskriminierung von Frauen über Jahre intensiv beschäftigt und beschäftigt sie noch immer. Arbeit ist der Bereich, in dem die Fragen nach Ursachen und Wirkungen am weitesten ausdifferenziert, sehr kreativ und kontrovers diskutiert worden sind. Es ist ein wichtiger erster Schritt, den ebenfalls verengten Arbeitsbegriff um die nicht marktförmigen unbezahlten Haus- und Familienarbeiten wieder zu erweitern. Nicht minder folgenreich ist die zweite Neuerung, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht nur ökonomisch, sondern auch als grundlegendes kulturelles Vehikel zu begreifen, welches überall und jeder Zeit die Regularien der Geschlechterordnung zur Anschauung bringt. Die Teilung der Arbeit nach Geschlechtern stellt klar, wo und wie Männer de facto anders als Frauen und Frauen anders als Männer arbeiten, um der Ordnung willen anders arbeiten sollen und entsprechend darauf vorbereitet werden müssen. Das Nachdenken über dieses natürlich und selbstverständlich erscheinende Wirtschaften mit der Geschlechterordnung lenkt die Aufmerksamkeit zum einen auf diese selbst im Prozess des beschleunigten Wandels ungemein widerstands- und anpassungsfähige Ordnung. Zum andern wird erkennbar, dass die im 19. Jahrhundert prekäre gesellschaftliche Stabililität ganz erheblich durch das Zusammenspiel zwischen der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit auf der einen Seite sowie dem System der männlich oder weiblich zugewiesenen und bewerteten Arbeiten auf der anderen Seite hergestellt und – besonders früh in Deutschland – zusätzlich durch eingreifende Sozialpolitik gestützt wird. Nicht zuletzt deshalb ist es noch heute schwierig, die alte, unter den Bedingungen kapitalistischer Marktwirtschaft für Frauen nachteilige Ordnung des Arbeitens konsequent aufzugeben und an deren Stelle völlig neue, nicht geschlechtsspezifisch festgelegte Muster des Arbeitens zu verallgemeinern. Die vierte Szene führt zu Deutschland in den Kriegs- und Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts. Berichtet wird hier über Kriegerwitwen des Ersten Weltkriegs und deren Schwierigkeiten, nach dem Kriegstod des Ehemannes für sich und die Kinder ein möglichst annähernd standesgemäßes Überleben zu bewerkstelligen. Als Ergänzung und Kontrast dazu werden der Muttertag und der Volkstrauertag vorgestellt. Beide sind neue, in den 1920er Jahren erfundene und durchgesetzte Sonntagsfeierlichkeiten; beide antworten auf das Desaster des verlorenen Krieges und das Ende des Kaiserreichs; hinter beiden stehen auf der einen Seite um sittliche Wiederaufrüstung bemühte und auf der anderen Seite an Vermarktung von Waren interessierte Kreise. Die für die Festgestaltungen in Umlauf gebrachten Materialien erlauben nachzuzeichnen, wie moderne Massenmobilisierung organisiert und erfolgreich wird, wenn es ihr gelingt, in aller Öffentlichkeit solche Bilder, Worte und Handlungen in Szene zu setzen, die etwas von dem aufzunehmen und anzusprechen vermögen, was sehr viele 14
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Menschen ohnehin schon bewegt. Beide Festivitäten schwören im Deutschland der Zwischenkriegszeit die Menschen darauf ein, je nach Geschlecht unterschiedliche Opfer zu bringen und Opfer entgegenzunehmen sowie für dargebrachte Opfer Dankbarkeit und Ehrung zurückzugeben, um damit letztlich auf Dauer sicher zu stellen, dass Männer als Soldaten und Frauen allgemein als Mütter und speziell als Mütter soldatischer Söhne auch in Zukunft zum Segen des Vaterlandes Opfer bringen werden. Die für die Aufsatzsammlung erläuterten drei möglichen Lektüren betonen Zusammenhänge und verweisen auf Gesichtspunkte, die die Auswahl der hier abgedruckten Aufsätze angeleitet haben. Die Entscheidung war nicht einfach, angesichts des vorgegebenen Seitenlimits weitere interessante Themenfelder nicht zu berücksichtigen und die ausgewählten Themen nur mit wenigen Texten auszustatten. Zu hoffen ist, dass die strikte Beschränkung auch Vorteile hat. Aufsätze, die bislang als heterogene Einzelstücke rezipiert worden sind, können im Neben- und Miteinander dieser Sammlung dazu anregen, die Geschlechtergeschichte als wissenschaftliches Experimentierfeld und historisches Wissensgebiet im Hinblick auf Kontinuitäten, verbesserte Tiefenschärfe und aktuelle Relevanz auf neue Weise zu überdenken. Anhaltspunkte liefern hierfür zwei weitere Aufsätze, die am Ende des Buches allgemeinere Überlegungen zur Diskussion stellen und die drei vorgeschlagenen Lesarten noch einmal überbrücken. Der erste Text ist interessant als damals aktuelle Intervention und skeptischer Kommentar zu den Versuchen, die während der stürmischen Zeit der neuen Frauenbewegung mobilisierende Parole »Kampf dem Patriarchat« in ein theoretisches Konzept sozialwissenschaftlicher Analyse zu überführen. Der zweite Text bündelt historiographische Überlegungen und weist in die Zukunft. Erörtert wird, wie Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte auf lange Sicht im historischen Erinnern einen angemessenen Platz besetzen kann, wie sie dafür beschaffen sein müsste und warum Geschichtswissenschaft zumindest für einige Zeit nicht umhin käme, frühere Allgemeinheitsansprüche noch weiter als bisher zurück zu nehmen. Für diese als Resümee platzierten Aufsätze gilt ebenso wie für das Buch insgesamt, dass die von mir entwickelten Fragen und Antworten zur Geschlechtergeschichte als Anregungen gedacht sind. Sie wurden und werden erneut veröffentlicht, um gelesen, kritisiert, verworfen, weiter entwickelt und durch Überzeugenderes ersetzt zu werden. Die optimistische Erwartung, dass es diese in meiner Vorstellung stets präsenten interessierten Anderen gibt und das vorgelegte Buch bei ihnen Anklang findet, hat mich während der Arbeit an dieser Veröffentlichung begleitet. Ganz in diesem Sinne werde ich auch demnächst im Feld der Geschlechtergeschichte weiter nach reizvollen neuen Themen Ausschau halten. Ein anderes Anliegen aber erhält an dieser Stelle Vorrang. Ich möchte hier und jetzt den vielen Menschen, die im Laufe der Jahre mit mir zusammen gearbeitet und mich auf vielfältige Weise angeregt, unterstützt und ermutigt haben, sehr, sehr herzlich danken. 15
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I. Bürgerliche Geschlechterordnung
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Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben * 1
I »Geschlechtscharakter«, dieser heute in Vergessenheit geratene Begriff bildete sich im 18. Jahrhundert heraus und wurde im 19. Jahrhundert allgemein dazu verwandt, die mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale zu bezeichnen. Ihrem Anspruch nach sollten Aussagen über die »Geschlechtscharaktere« die Natur bzw. das Wesen von Mann und Frau erfassen. Im folgenden wird der Versuch unternommen, die Herausbildung und Verwendung dieses dem Stichwort »Geschlechtscharakter« zugeordneten Aussagesystems nachzuzeichnen und zu interpretieren. Hinter diesem Versuch steht die Erwartung, dass über die Analyse familienrelevanter Normen ein Zugang gewonnen werden kann zu solchen qualitativen Aspekten des Familiengeschehens, die sich den heute vorzugsweise eingesetzten quantifizierenden Forschungszugriffen entziehen. Aussagen über den »Geschlechtscharakter« von Mann und Frau sind zwar zunächst normative Aussagen und als solche stehen sie in einem schwer zu erkennenden Verhältnis zur Realität. Aber ebenso sicher ist, dass Aussagen über das Wesen der Geschlechter im allgemeinen Erfahrungszusammenhang der sozio-ökonomisch realen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung entstehen und Geltung beanspruchen. Es ist deshalb anzunehmen, dass sie zumindest nicht im Widerspruch zum geltenden Modell der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung stehen. Weiterhin ist zu bedenken, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in erster Linie und traditionellerweise in Familie und Haushalt ein zentrales Organisations- und Funktionselement ist. Damit aber wirkt sie immer auch als entscheidender Faktor der kindlichen Sozialisation, deren Realisierung sowie Zielsetzung sie gleichermaßen nachhaltig prägt. Sozialisation aber ist, indem sie das spätere Verhalten und Handeln der Erwachsenen ausrichtet, als Wechsel auf die Zukunft eine unauflösbare Legierung aus materiellen und normativen, direkten und indirekten Erfahrungsmomenten. Dieser Hinweis auf das für die Familie als dem »natürlichen« Ort von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung offenbar besonders relevante dialektische Wechselspiel zwischen Realität und Normativität ist die eine Möglichkeit, * Zuerst erschienen in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393.
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die Beschäftigung mit familienrelevanten Normen als Beitrag zur historischen Familienforschung auszuweisen. Eine andere Möglichkeit, das Arbeitsvorhaben zu verdeutlichen, liefern die auf dem Rollenkonzept1 basierenden theoretischen und empirischen sozialwissenschaftlichen Forschungen. Mit dem umgangssprachlich assoziationsreichen Begriff »Rolle« und seinen Derivaten Rollenverhalten, -erwartung, -zuschreibung, -konfiguration etc. wird der Sachverhalt umschrieben, dass mit verschiedenen strukturell festgelegten sozialen Positionen bestimmte Verhaltensmuster gesellschaftlich vorgegeben sind, denen sich das tatsächliche Verhalten des Positionsinhabers nicht entziehen kann. Die Interaktion von Individuen wird weder jeweils situationsgerecht durch subjektive Verhaltensentscheidungen neu erfunden, noch durch materielle Sachzwänge total determiniert. Vielmehr orientiert sich soziales Verhalten an kulturell vorgegebenen Verhaltensmustern, deren Einhaltung durch sozialen Konsens oder Zwang kontrolliert wird. Das Rollenverhalten als tatsächlich gleichförmiges Verhalten und das von diesem Normalverhalten abweichende Rollenverhalten in einzelnen Gruppen oder bei bestimmten Individuen, das Ausmaß an Kongruenz bzw. Inkongruenz zwischen Rollenideal und normalem Rollenverhalten, also der Abstand zwischen idealer und realer Norm, schließlich das Erlernen und Durchsetzen von Rollen bei Rollenträgern sowie die soziale Position und normierende Kraft der Rollendefinierer sind u. a. Fragen, die die mit dem Rollenkonzept arbeitende empirische Forschung beschäftigen. Im Hinblick auf unsere Fragestellung ist es unbestreitbar ein Vorteil des Rollenkonzeptes, dass der durch die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Spezialdisziplinen Soziologie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse und Psychologie zergliederte Gegenstand in einem integrierenden Interpretationszusammenhang erfasst wird.2 Die nicht gering zu achtende Gefahr, dass bei Verwendung des Rollenkonzeptes das Verhalten von Menschen in eine endlose Zahl von mehr oder weniger beziehungslosen Rollen zerlegt zu werden droht, dürfte sich hingegen speziell bei der Analyse der gesellschaftlichen Situation der Geschlechter in Grenzen halten. Denn bei den geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern für Mann und Frau, Ehemann und Ehefrau, Vater und 1 Zum Rollenkonzept vgl. den Artikel »Rôle« von Th. R. Sarbin, u. R. H. Tuner, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 13, New York 1968, S. 546–557; A.-M. Rocheblave-Spenlé, La notion de rôle en psychologie sociale. Etude historico-critique, 2. Aufl., Paris 1969; dies., Les rôles masculins et féminins, Paris 1964; K. H. Bömmer (Hg.), Die Geschlechterrollen, München 1973. 2 F. Haug, Kritik der Rollentheorie, Frankfurt a. M. 1972, interpretiert in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen seit den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik entwickelten soziologischen Rollentheorien das Einschwören der Soziologie auf Rollentheorien als Versuch, Gesellschaftsanalyse auf eine Interaktionsanalyse zu reduzieren. Diese eher in den Formulierungen als in der Argumentation scharfe Kritik an Rollentheorien macht zwar auf gewichtige Defizite einzelner Theorien und des Ansatzes im Allgemeinen aufmerksam, überzeugt aber nicht dahingehend, nunmehr auf jegliche Orientierung am Rollenkonzept zu verzichten.
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Mutter handelt es sich erstens, da sie einem allgemeinen Muster der Arbeitsteilung zugeordnet sind, um Verhaltensmuster höchster Allgemeinheit, und zweitens, da sie bereits mit der frühkindlichen Sozialisation verankert werden, um Muster höchster Intensität. In der Sprache des Rollenkonzeptes formuliert, wird die folgende Analyse erstens die Frage aufwerfen, wie, von wem und mit welcher Autorität die mit den Ausführungen über »Geschlechtscharaktere« einsetzende Neudefinition eines Aspektes der Geschlechterrollen vorgenommen wird, und zweitens der Frage nachgehen, wie und bei wem diese Aussagen möglicherweise imstande waren, die Geschlechterrollen zu beeinflussen. Die anschließende allgemeinere Frage, aufgrund welcher Ursachen und in welcher sozialen Funktion speziell das Aussagesystem über »Geschlechtscharaktere« wirkungsmächtig werden konnte, geht hingegen über den vom Rollenkonzept gesteckten Rahmen hinaus. Sie zielt auf den Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischer Entwicklung und ideologischer Interpretation dieser Entwicklung und damit auf den ideologischen Gehalt der in der spezifischen Form der »Geschlechtscharaktere« erfolgten Zuschreibung von komplementären Geschlechterrollen. Das umrissene Programm ist anspruchsvoll und steht in mancher Hinsicht quer zum Trend der sich schnell entfaltenden historischen Familienforschung.3 Damit nicht genug, wird dessen tatsächliche Durchführung zusätzlich dadurch belastet, dass nicht bereits abgeschlossene Forschungen, sondern nur unter bestimmten Gesichtspunkten interessante Beobachtungen mitgeteilt werden. Diese vorläufigen Mitteilungen sollen zum einen auf ein m. E. wichtiges Problem in der Geschichte von Familie hinweisen, sie sollen zum andern die Diskussion darüber erneut anregen, wie die zu einer bestimmten Zeit gängigen, jedoch nicht direkt institutionell durchgesetzten normativen Aussagen und Überzeugungen hinsichtlich ihrer Entstehung und Wirkung sozial zu verorten sind, wie also Sozialgeschichte die Ideengeschichte einbeziehen kann und muss, ohne dabei Gefahr zu laufen, erneut in Ideengeschichte aufzugehen.4
3 Im Vergleich zu den quantifizierten Ergebnissen einer mit den Instrumentarien der historischen Demographie arbeitenden Familienforschung haftet den hier beabsichtigten noch nicht quantifizierten und evtl. überhaupt nicht quantifizierbaren Aussagen der Makel der Vorwissenschaftlichkeit an. Ein derartiger methodischer »Rückfall« ist m. E. allerdings wissenschaftlich weniger problematisch, als eine um des Kriteriums der Quantifizierbarkeit willen hingenommene Reduktion eines Sach- und Forschungsgebietes ausschließlich auf solche Phänomene, die der Quantifizierung zugänglich sind. 4 Vgl. die kritischen Bemerkungen von P. Laslett, über The History of Family Attitudes, in: ders. u. R. Wall, (Hg.), Household and Family in Past Time, Cambridge 1972, S. 10–13.
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II. In »Meyer’s Großem Konversationslexikon« heißt es 1904 unter dem Stichwort »Geschlechtseigentümlichkeiten« nach Ausführungen über die anatomischen und physiologischen Unterschiede kurz und bündig: »Auch psychische G. finden sich vor; beim Weib behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand; die Phantasie des Weibes ist lebhafter als die des Mannes, erreicht aber seltener die Höhe und Kühnheit wie bei letzterem.«5
Diese auf eine Kurzformel gebrachte Typisierung der »Geschlechtscharaktere« lässt kaum mehr vermuten, dass die Herausarbeitung und Abgrenzung der Geschlechtsspezifika seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis hinein ins 20. Jahrhundert mit anhaltender Intensität betrieben worden ist. Dieses lebhafte Interesse an der Abgrenzung ist ebenso wie die Selbstverständlichkeit, mit der diese vorgenommen wurde, eindrucksvoll dokumentiert in den zahlreichen Lexika des 19. Jahrhunderts unter Stichworten wie Frau, Weib, Geschlecht, Geschlechtscharakter, Geschlechtseigentümlichkeiten etc. Zur Illustration eines solchen Aussagesystems sei aus dem »Brockhaus« von 1815 zitiert. Hier wird der Geschlechtscharakter von Tier und Mensch definiert als in der Natur wirkende »Entgegensetzung zusammengehöriger und zu gemeinschaftlichem Produktionszweck wirkender Kräfte«. Bei den Menschen soll diese Entgegensetzung für Körper und Seele gleichermaßen gelten. »Daher offenbart sich in der Form des Mannes mehr die Idee der Kraft, in der Form des Weibes mehr die Idee der Schönheit … Der Geist des Mannes ist mehr schaffend, aus sich heraus in das Weite hinwirkend, zu Anstrengungen, zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehenden Plänen geneigter; unter den Leidenschaften und Affecten gehören die raschen, ausbrechenden dem Manne, die langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten dem Weibe an. Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muß erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte oder List. Jener gehört dem geräuschvollen öffentlichen Leben, dieses dem stillen häuslichen Cirkel. Der Mann arbeitet im Schweiße seines Angesichtes und bedarf erschöpft der tiefen Ruhe; das Weib ist geschäftig immerdar, in nimmer ruhender Betriebsamkeit. Der Mann stemmt sich dem Schicksal selbst entgegen, und trotzt schon zu Boden liegend noch der Gewalt; willig beugt das Weib sein Haupt und findet Trost und Hilfe noch in seinen Thränen.«6
Ähnlich wird 1848 im »Meyer« in einem zehnseitigen Artikel über »Geschlechtseigenthümlichkeiten« das »Männliche als das relativ vorzugsweise Individuelle, 5 Meyer’s Großes Konversationslexikon, Bd. 7, 6. Aufl., Leipzig 1904, S. 685. 6 Conversations-Lexikon oder Handwörterbuch für die gebildeten Stände, Bd. 4, 3. Aufl., Leipzig 1815, S. 211.
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das Weibliche als das relativ vorzugsweise Universelle« charakterisiert, wobei Individualität den Charakter der »Selbstheit, Selbständigkeit, der Kraft und Energie, der möglichsten Begrenzung und Abgeschlossenheit, des Antagonismus; – Universalität hingegen den der Abhängigkeit, Unbestimmtheit, Verschmelzung, Hingebung, der Sympathie« hat.7 Diese Charakteristika sollen nicht nur für die generell im Tierreich auffindbaren körperlichen Geschlechtsunterschiede, sondern auch für die »psychischen Äußerungen« der Menschen gelten. »Entsprechend dem mehr universellen Charakter im Weibe, ist die Empfindung in ihm vorherrschend, – das Weib ist mehr fühlendes Wesen; beim Manne herrscht hingegen wegen seiner größeren Individualität, die Reaktion vor, – er ist mehr denkendes Wesen … Gemäß der Universalität ist beim Weibe die Sympathie, die Liebe vorherrschend, beim Manne hingegen, wegen vorwaltender Individualität, der Antagonismus, der Haß, – und so ist denn jenes mitleidiger, mildthätiger, es ist sittlicher und religiöser, als der mehr rauhe, oft hartherzige, Alles vorzugsweise nach seinem Ich zu bemessen geneigte Mann. Er ist fest und beständig, sein Muth kühn und sein Entschluß bestimmt; er schwingt sich über das Kleinliche empor, hat weniger Eitelkeit als Stolz, und Letzteres bezieht sich hauptsächlich auf sein Handeln und Schaffen; einem Freund kann er Alles opfern. Der Charakter des Weibes ist mehr wankend, der Entschluß jedoch oft rascher; in Leiden ist es in der Regel gefaßter, und duldet im Allgemeinen die alleräußersten Drangsale und Widerwärtigkeiten mit größerer Standhaftigkeit als der Mann. Alles, was das Gemüth hauptsächlich in Anspruch nimmt, wirkt vorzugsweise auf das Weib ein, und dadurch kann es zur größten Selbstverleugnung getrieben werden … Das Wesen des Weibes ist Liebe, aber weniger zum eigenen, als vielmehr zum anderen Geschlechte und zu den hülfsbedürftigsten und zartesten Kleinen. Seine Tugend ist Unschuld der Seele und Reinheit des Herzens; innige Theilnahme und Mitleid seine Zierde. Hiernach wäre denn nun auch die allgemeine Bestimmung der Geschlechter für das äußere Leben überhaupt zu beurtheilen … Fortpflanzung ist nur durch Kooperation beider möglich, jedoch hat an dieser Operation das weibliche Geschlecht unverkennbar mehr Antheil, als das männliche … Während so das Weib hauptsächlich das innere Familienverhältniß begründet, der Mann mehr das äußere, ist er zugleich das Verbindungsglied zwischen Familie und Familie, er hauptsächlich begründet den Staat.«8
Die variationsreichen Aussagen über »Geschlechtscharaktere« erweisen sich als ein Gemisch aus Biologie, Bestimmung und Wesen und zielen darauf ab, die »naturgegebenen«, wenngleich in ihrer Art durch Bildung zu vervollkommnenden Gattungsmerkmale von Mann und Frau festzulegen. Den als Kontrastprogramm konzipierten psychischen »Geschlechtseigenthümlichkeiten« zu Folge ist der Mann für den öffentlichen, die Frau für den häuslichen Bereich von der Natur prädestiniert. Bestimmung und zugleich Fähigkeiten des Mannes verweisen auf die gesellschaftliche Produktion, die der Frau auf die private Reproduktion. Als immer wiederkehrende zentrale Merkmale werden beim 7 J. Meyer, Das große Conversations-Lexikon, 1. Abt., 12. Bd., Hildburghausen 1848, S. 742. 8 Ebd., S. 748 f.
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Manne die Aktivität und Rationalität, bei der Frau die Passivität und Emotionalität hervorgehoben, wobei sich das Begriffspaar Aktivität-Passivität vom Geschlechtsakt, Rationalität und Emotionalität vom sozialen Betätigungsfeld herleitet. Diese Hauptkategorien finden sich mit einer Vielzahl von Zusatzmerkmalen kombiniert, so dass jeweils eine Mischung traditioneller und moderner, physiologischer, psychischer und sozialer Eigenschaften das Wesen des männlichen und weiblichen Geschlechtes ausmacht. Ordnet man häufig anzutreffende Geschlechtsspezifika,9 so ergeben sich folgende Merkmalsgruppen: Mann
Frau
Bestimmung für Außen Weite Öffentliches Leben wirksam
Innen Nähe Häusliches Leben betriebsam, emsig
Aktivität Energie, Kraft, Willenskraft Festigkeit Tapferkeit, Kühnheit
Passivität Schwäche, Ergebung Hingebung Wankelmut Bescheidenheit
Tun selbständig strebend, zielgerichtet, wirksam erwerbend gebend Durchsetzungsvermögen Gewalt Antagonismus
Sein abhängig betriebsam, emsig bewahrend empfangend Selbstverleugnung, Anpassung Liebe, Güte Sympathie
Rationalität Geist Vernunft Verstand Denken Wissen Abstrahieren, Urteilen
Emotionalität Gefühl, Gemüt Empfindung Empfänglichkeit Rezeptivität Religiosität Verstehen
Tugend
Tugenden Schamhaftigkeit, Keuschheit, Schicklichkeit, Liebenswürdigkeit, Taktgefühl, Verschönerungsgabe Anmut, Schönheit
Würde
9 Außer diversen Lexika wurden medizinische, pädagogische, psychologische und litera rische Schriften ausgewertet.
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Physis und Psyche der Frau werden primär nach dem Fortpflanzungs- bzw. Gattungszweck und der dazu sozial für optimal erachteten patriarchalischen monogamen Ehe bestimmt, die des Mannes hingegen nach dem Kulturzweck. Marianne Weber brachte diese Beobachtung auf die zutreffende Formel, die Frau werde als das Geschlechtswesen, der Mann als der zur Kulturarbeit Bestimmte definiert.10 Derartige Charakter-Schemata, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Überzeugungskraft verlieren, werden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts »erfunden«. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bleiben die einmal eingeführten Zuordnungsprinzipien konstant und werden nicht zuletzt durch Medizin, Anthropologie, Psychologie und schließlich Psychoanalyse »wissenschaftlich« fundiert.11 Die Vorstellungen von dem eigentlichen Wesen der Geschlechter werden zugleich offenbar so erfolgreich popularisiert, dass immer größere Kreise der Bevölkerung sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Maßstab für das jeweils Männlich-Angemessene und für das jeweils Weiblich-Angemessene akzeptieren.12 Die bloße Tatsache der Kontrastierung von Mann und Frau ist historisch zunächst wenig aufschlussreich, waren doch in patriarchalischen Gesellschaften seit eh und je Aussagen über das »andere Geschlecht« gängige Muster der männlichen Selbstdefinition.13 Auf eine historisch möglicherweise gewichtige Differenzierung verweist jedoch die Beobachtung, dass mit den »Geschlechtscharakteren« diese Kontrastierung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine spezifisch neue Qualität gewinnt. Der Geschlechtscharakter wird als eine Kombination von Biologie und Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere der Menschen verlegt. Demgegenüber sind die älteren vor allem in der Hausväterliteratur und den Predigten überlieferten Aussagen Über den Mann und die Frau Aussagen über den Stand, also über
10 M. Weber, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung, (Tübingen 1907), Neudr. Aalen 1971, S. 300 f. Systematisch durchgeführt wurde diese Zuweisung von O. Weininger, Geschlecht und Charakter, Wien 1903 (25. Aufl., 1923, 28. Aufl. 1947). 11 Vgl. z. B. die vielzitierten Ausführungen des Mediziners K. F. Burdach, Der Mensch nach den verschiedenen Seiten seiner Natur. Anthropologie für das gebildete Publicum, Stuttgart 1837, S. 470–477; außerdem: V. Klein, The Feminine Character. History of an Ideology, 2. Aufl., London 1971; L. E. Tyler, Artikel »Sex Differences«, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 7, New York 1968, S. 207–213. 12 Vgl. R. Hofstätter, Männlich und weiblich, in: Wiener Archiv für Psychologie, Psychiatrie, Neurologie Bd. 6 (1956), S. 154–167, der die Verbreitung derartig stereotyper Vorstel lungen in Polaritätsprofilen empirisch erfasst. Noch Ende der fünfziger Jahre standen von 138 befragten Professoren und Dozenten 40 Prozent weiblichen Hochschullehrern bedingt negativ und 39 Prozent grundsätzlich ablehnend gegenüber, wobei zur Begründung am häufigsten der »Mangel an intellektuellen oder produktiv-schöpferischen Fähigkeiten« und der Satz »Der Beruf des Hochschullehrers widerspricht dem Wesen, der biologischen Bestimmung oder dem natürlichen Streben des Weibes« angeführt wurde, vgl. H. Anger, Probleme der deutschen Universität, Tübingen 1960, S. 23, S. 491. 13 Vgl. S. de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 1968.
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soziale Positionen und die diesen Positionen entsprechenden Tugenden.14 Im ersten Drittel des 18.Jahrhunderts ordnet Chr. Wolff die Männer und Frauen jeweils der ehelichen, väterlichen und herrschaftlichen Gesellschaft zu und bestimmt danach die erforderlichen Tugenden der Herrschaft bzw. des Gehorsams und der Tüchtigkeit des Wirtschaftens bzw. Arbeitens.15 Entsprechend heißt es 1735 im »Zedler«:16 »Frau oder Weib ist eine verehelichte Person, so ihres Mannes Willen und Befehl unterworfen, die Haushaltung führet, und in selbiger ihrem Gesinde vorgesetzt ist …« Über das weibliche Geschlecht im allgemeinen wird gesagt: »Ihr Humeur, Geist, Eigenschafft, Inclination und Wesen scheinet nach jeder Landes-Art und Beschaffenheit von einander unterschieden zu seyn.« Auch Krünitz nennt 1778 unter dem Stichwort »Frau« nicht Charaktereigenschaften, sondern die Rechte, Pflichten und Verrichtungen der Hausfrau und spezifiziert seine Aussagen für die Handwerks- und Kaufmannsfrau.17 Erst im »Adelung« von 1796/1801 ist der Hausstand nicht mehr das einzig verbindliche Bezugssystem. Im Vergleich zu der 1815 im Brockhaus wuchernden Definition der »Geschlechtscharaktere« bleibt jedoch die Anmerkung: »Das weibliche Geschlecht, welches bey Menschen auch das schöne Geschlecht, das schwächere Geschlecht und das andere Geschlecht genannt wird«,18 von spröder Spärlichkeit. Neuartig ist an der Bestimmung der »Geschlechtscharaktere« also offenbar der Wechsel des für die Aussagen über den Mann und die Frau gewählten Bezugssystems. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert treten an die Stelle der Standesdefinitionen Charakterdefinitionen. Damit aber wird ein partikulares durch ein universales Zuordnungsprinzip ersetzt: statt des Hausvaters und der Hausmutter wird jetzt das gesamte männliche und weibliche Geschlecht und statt der aus dem Hausstand abgeleiteten Pflichten werden jetzt allgemeine Eigenschaften der Personen angesprochen. Es liegt nahe, diesen Wechsel des Bezugssystems als historisch signifikantes Phänomen zu interpretieren, zumal der Wechsel mit einer Reihe anderer Entwicklungen korrespondiert. In erster Linie ist hier an den bislang vor allem ideengeschichtlich erfassten Übergang vom »ganzen Haus« zur »bürgerlichen Familie« zu denken,19 der seit der 14 Vgl. J. Hoffmann, Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«, Weinheim 1959. 15 Chr. Frh. v. Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen …, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1725, 1. Theil, 5. Kap. »Von dem Hause«. 16 J. H. Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 9, Halle 1735, Sp. 1767, 1782. 17 J. G. Krünitz, Ökonomisch-technologische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Haus- und Landwirtschaft und der Kunst-Geschichte, Bd. 14, Berlin 1779, bes. S. 789–795. 18 J. Chr. Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart, Bd. 2, 2. Aufl., Leipzig 1796, Sp. 610, vgl. auch Artikel »Weib«, Bd. 4, 1801, Sp. 1440. 19 Vgl. zum Folgenden D. Schwab, Artikel »Familie« in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 253–301.
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Mitte des 18. Jahrhunderts seinen begriffsgeschichtlichen Niederschlag darin findet, dass aus dem Familienbegriff sowohl die Erwerbswirtschaft als auch die der Herrschaft unterstellten Hausbediensteten als Sinnkomponente verschwinden.20 Vieles deutet darauf hin, dass im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts diese Entwicklung insgesamt als tiefgreifende Veränderung des sozialen Orientierungsfeldes Familie erfahren wurde. Nach Schwab wurde offenbar das Infragestellen des alten Familienbegriffs zwischen 1780 und 1810 theoretisch so weit getrieben, dass die »soziale Rolle der Familie« überhaupt zurückgedrängt zu werden drohte.21 Wenn es in der Folgezeit gelang, einen neuen, restaurativen Familienbegriff zu verfestigen, so dürfte dazu das Vehikel »Geschlechtscharaktere« von nicht unerheblichem Nutzen gewesen sein. Damit lässt sich das Interesse an der Herausbildung von »Geschlechtscharakteren« als Versuch interpretieren, ein die Verhältnisse stabilisierendes neues Orientierungsmuster an die Stelle des veralteten zu setzen. Eine solche Deutung gewinnt an Plausibilität, wenn man die »kritische« Situation zwischen 1780 und 1810 beleuchtet. Man wird ausgehen müssen von dem seit Humanismus und Reformation immer lebhafter werdenden Interesse für das Individuum und dessen innere und äußere Autonomie. Dieses Interesse galt zunächst problemlos allein dem Mann bzw. dem Hausvater; Mensch und Mann waren in der Naturrechtsdiskussion eine selbstverständliche Gleichsetzung22 und die Beanspruchung von Menschenrechten für den männlichen Menschen tangierte zunächst nicht die traditionelle, aus der Bibel legitimierte Position der herrschaftsunterworfenen Frau bzw. Hausfrau. Dieses änderte sich erst, als das gegen die theologische Legitimation staatlicher Herrschaft ins Feld geführte Modell des Gesellschaftsvertrages auch auf das System der Hausherrschaft angewandt wurde, was bei der traditionellen »Strukturanalogie von Staat und Familie«23 durchaus nahe lag. Vertragsrechtliche Prinzipien auf die Familie anzuwenden, aber bedeutete nicht mehr wie in der katholischen und protestantischen Tradition allein die Eheschließung, sondern die Ehe insgesamt als Vertrag zu konzipieren. Eine solche Deutung stellte das bisherige institutionelle Gefüge der Familie als hausväterliches Regiment und damit vor allem die Herrschaft des Ehemannes und Vaters, aber auch das Sexualmonopol in der Ehe und die prinzipielle Unauflösbarkeit der Ehe unter Legitimationszwang. Gleichzeitig und in deutlich erkennbarem Zusammenhang mit dieser Entwicklung der theoretischen Diskussion, die mit ihrer individualrechtlichen Deutung der Familie deren »politische 20 Ebd., S. 273. 21 Ebd., S. 271. 22 Diese selbstverständliche Gleichsetzung findet sich z. B. bei A. L. Schlözer, Allgemeines Statsrecht und Statsverfassungslehre, Göttingen 1793, S. 31. »Der Mensch war eher, als der Untertan und ehe er sich in eine Stats-Gesellschaft begab, oder hineingeriet, hatte er schon als Ehe-Mann, Vater, Haus-Herr, und Bürger, die Freuden und Leiden des geselligen Lebens gekostet.« 23 Schwab, Familie (wie Anm. 19), S. 280.
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Entpflichtung«24 einleitet, wird die Ehe, ehemals der Zusammenschluss von Mann und Frau zum Zwecke der Sexualität, der Kinderaufzucht, des Wirtschaftens und der gemeinsamen Religionsausübung, in der Epoche der Empfindsamkeit umgedeutet als die in der Liebe vollzogene, vor allem psychische Verschmelzung der Ehegatten. Wenn schließlich in der Romantik die Ehe primär und sogar ausschließlich in Liebe begründet und damit allein den einzelnen Mann und die einzelne Frau betreffend gedacht wird, lösen sich tendenziell Ehe und Familie als Institution auf.25 Diese deutlich nicht mehr dem Orientierungsmuster des »ganzen Hauses« verpflichteten Vorstellungen hatten vor allem hinsichtlich der Neuinterpretation der sozialen und häuslichen Position der Frauen weiterreichende Konsequenzen. Die eine Konsequenz war die Forderung nach Emanzipation der Frauen aus dem ehemännlichen bzw. väterlichen Regiment und deren mit den Männern gleichberechtigte Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Diese Forderung wurde im Zuge der Französischen Revolution erhoben und sogleich als Bedrohung der etablierten Ordnung und speziell der Familienverhältnisse eingeschätzt.26 Die andere Konsequenz, die gleichzeitig als Bestandteil der neuen Liebesauffassung und als Reaktion gegen unerwünschte Emanzipationsforderungen wirksam wurde, war die Suche nach einer neuen Form der Legitimation für den traditionellerweise auf die Familie eingeschränkten und dem Ehemann untergeordneten Aktionsspielraum der Frau. Es ging darum, im Falle der Frauen die postulierte Entfaltung der vernünftigen Persönlichkeit auszusöhnen mit den für wünschenswert erachteten Ehe- und Familienverhältnissen. Das Interesse an »Geschlechtscharakteren« entwickelte sich im Zusammenhang mit diesen Bestrebungen.27 Das gesuchte Legitimations- und Orientierungsmuster geschaffen zu haben, ist die Leistung der deutschen Klassik, der es gelingt, die heterogenen Denkansätze bei gleichzeitiger Vergeistigung der ursprünglich praktisch revolutionierenden Elemente zu integrieren. Dieser um die Jahrhundertwende erfolgreich durchgeführte Prozess der ideologischen Vergewisserung soll hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Es reicht, darauf hinzuweisen, dass in dieser Zeit die Geschlechts-, Ehe- und Familienverhältnisse aufmerksam beobachtet werden und alle Deutungsversuche darauf hinauslaufen, in diesen den vernünftigen Plan und Zweck der Natur zu 24 Ebd., S. 284. 25 Vgl. P. Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, 2. Aufl., Halle 1931. 26 1791/92 forderte A. Condorcet, Sur L’instruction publique, gleiche Bildung für beide Geschlechter, 1792 erschienen Th. G. v. Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, und M. Wolstonecraft, A Vindication of the Rights of Women, deutsch 1793/94. Vgl. K. M. Grass u. R. Koselleck, Artikel »Emanzipation«, in: Brunner (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 153–197, Abschnitt »Frauenemanzipation«, S. 185–191. 27 In der Terminologie von D. Riesman, Die einsame Masse, Reinbek 1958, ging es darum, jetzt auch für den Sozialcharakter der Frauen die Innen-Lenkung gegenüber der Traditions-Lenkung zu verstärken, vgl. bes. S. 56.
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entziffern. Ziel ist es, den nach der göttlichen Weltordnung für Mann und Frau verschiedenen Naturzweck und die dementsprechend von der Natur eingerichteten verschiedenartigen Naturbegabungen herauszuarbeiten. In diesem Sinne wird von Fichte28 1796 die Diskussion über das Eherecht weitergeführt, indem er den Ehezweck als die »vollkommene Vereinigung zweier Personen« und die Ehe als ein durch Natur und Vernunft bestimmtes Verhältnis herleitet. Für den Mann sei die Befriedigung des Geschlechtstriebes im Zeugungsakt vernünftig, da aktiv; für die im Zeugungsakt passiv gedachte Frau sei hingegen der aktive und damit vernünftige Naturtrieb allein die Liebe, d. h. der Trieb, »einen Mann zu befriedigen«. Liebe ist nach Fichte die völlige Hingabe der Persönlichkeit und konsequenterweise auch die Abtretung allen Vermögens und aller Rechte an den einen und einzigen Mann, der seinerseits durch die völlige Auslieferung der Frau zur Großmut und ehelichen Zärtlichkeit moralisch in die Pflicht genommen werde. Die direkt praxis-relevante, da auf Bildung abzielende Richtung der Argumentation liefert die in der pädagogischen Literatur auftauchende Formel von der »Bestimmung des Weibes zur Gattin, Hausfrau und Mutter«.29 Die in wenigen Jahren entworfene »polaristische Geschlechterphilosophie«30 leistet schließlich die theoretische Fundierung durch die Aufspaltung und zugleich Harmonisierung der von der Aufklärung als Ideal entworfenen vernünftigen Persönlichkeit in die unterschiedlich qualifizierte männliche und weibliche Persönlichkeit. Die Gleichrangig- und Gleichwertigkeit von Mann und Frau ausdrücklich betonend, wird folgenreich für die angemessene soziale Position die unterschiedliche Qualität der Geschlechter herausgearbeitet. Erst die Ergänzung der in der Frau zur Vollkommenheit entwickelten Weiblichkeit mit der im Mann zur Vollkommenheit entwickelten Männlichkeit soll die Annäherung an das Ideal der Menschheit ermöglichen. Die Annahme, dass die aus verschiedenen Richtungen zusammenfließenden Denkströmungen tatsächlich ein neues Orientierungsmuster schaffen, wird bekräftigt durch die gleichzeitige Entwicklung der philosophischen Anthropologie und Psychologie.31 Kant hält 1798 seine Vorlesungen über »Anthro28 J. G. Fichte, Grundlagen des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, I. Anhang: Familienrecht (1796), in: Werke, Auswahl in 6 Bdn., hg. von P. Medicus, Bd. 2., Leipzig 1908, S. 319; vgl. dazu Weber, Ehefrau (wie Anm. 10), S. 306–312. 29 Zu den mit dieser 1789 von J. H. Campe verwendeten Formel bezeichneten Vorstellungen, die direkt anknüpfen an die von J. J. Rousseau 1762 im fünften Buch des »Emile« entwickelten Prinzipien für die Erziehung der Sophie, vgl. E. Blochmann, Das »Frauenzimmer« und die »Gelehrsamkeit«. Eine Studie über die Anfänge des Mädchenschulwesens in Deutschland, Heidelberg 1966, S. 29–41. 30 Ebd., S. 44, dazu insgesamt S. 42–48. 31 Vgl. hierzu M. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie, 2. Aufl., Berlin 1902, vor allem S. 116–356. Die Art der im späten 18. Jahrhundert beschleunigten Entfaltung der psychologischen Wissenschaft bekräftigt die Vermutung, dass dem Pietismus für die Schaffung und Durchsetzung des neuen Orientierungsmusters erhebliche Bedeutung zukommt. Leider gibt es m. W. keine den Puritanismus-Forschungen vergleichbare Untersuchung dieses Problems.
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pologie in pragmatischer Hinsicht«, wobei dem »Charakter des Geschlechts« ein Teil seiner Ausführungen gilt und ihn das als pragmatisch interessiert, »was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, machen kann und soll.«32 Noch eindeutiger läuft Humboldts »Plan einer vergleichenden Anthropologie« von 1795 auf die Spezifizierung der »Geschlechtscharaktere« hinaus, die er ebenfalls mit dem Ziel betrieben wissen will, Kenntnis des Menschen, »wie er ist« und »wozu er sich entwickeln kann« zu gewinnen.33 Insgesamt scheint die Entwicklung der Charakterologie und der Geschlechterpsychologie direkt mit dem akuten Orientierungsbedürfnis zusammengehangen zu haben. Schließlich lässt sich auch das aufkommende Interesse für die Sittengeschichte des weiblichen Geschlechts in diese Strömungen einbeziehen.34 Diese Zuordnung wird zumindest in den Lexika des 19. Jahrhunderts eindeutig vorgenommen. Üblicherweise werden dort die Aussagen über den Geschlechtscharakter der Frau kombiniert mit einem Rückblick auf die Sittengeschichte des Weibes, um so auch geschichtlich nachzuweisen, dass der wahre und ursprüngliche Charakter des Weibes erst dann verwirklicht werden könne, wenn sich – wie bislang einzig in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert – die »würdige« und »hohe« Auffassung vom Familienleben durchgesetzt habe.35 Deutlich wird in allen diesen Argumentationen die Frau durch Ehe und Familie und Ehe und Familie wiederum durch die Frau definiert. Im Unterschied zu früher aber wird allein die Frau und nicht mehr der Mann durch die Familie definiert; und ebenfalls anders als früher stecken jetzt die Prinzipien bzw. Ergebnisse der Natur, Geschichte und Sittlichkeit zusammen den Rahmen ab, innerhalb dessen hohe Weiblichkeit sich auszubilden und bei Strafe der Unnatur den Übergang beider Charaktere ineinander zu vermeiden hat.36
32 Kant’s Gesammelte Schriften, Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 1907, S. 117. 33 W. v. Humboldt, Werke, hg. von A. Leitzmann, Bd. 1, Berlin 1903, S. 377–410, Zitat; zur selben Zeit erschienen in Schillers »Horen« Humboldts Aufsätze »Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur« und »Über die männliche und weibliche Form«, abgedruckt ebd., S. 311–334, 335–369. 34 Die erste Abhandlung dieser Art ist offenbar Chr. Meiners, Geschichte des weiblichen Geschlechts, 4 Bde., Hannover 1788–1800. 35 Besonders ausführlich fällt diese Argumentation aus in: J. S. Ersch u. J. G. Gruber, Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste, 1. Sect., 63. Theil, Leipzig 1856, S. 30–44; vgl. auch K. Biedermann, Frauen-Brevier. Kulturgeschichtliche Vorlesungen, Leipzig 1856, oder als Variante die Begründung einer »gesunden historisch aufbauenden Socialpolitik« von K. Bücher, Die Frauenfrage im Mittelalter, Tübingen 1882, S. 55–57, demzufolge ein »mächtiger Zug« der Geschichte dahin wirkt, »die Frau mehr und mehr von der schweren aufreibenden Mühsal des Erwerbs zu entlasten«. 36 So z. B. Ersch u. Gruber (wie Anm. 35), S. 40.
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III. Wenn die bisher mitgeteilten Beobachtungen nicht trügen, so handelt es sich bei den Aussagen über »Geschlechtscharaktere« um ein auffallend einheitliches, erstaunlich langlebiges und offenbar auch weit verbreitetes Aussagesystem der neueren Zeit. Eine so geartete Bestandsaufnahme legt die weiterführende Frage nahe, welche gesellschaftliche Funktion ein solches Aussagesystem zu erfüllen vermochte, welche Interessen, welches Selbstverständnis oder welche Formen der Selbstverständigung in diesen Aussagen zum Ausdruck gekommen sein mögen. Die Charakterbestimmungen dienten zweifellos zum einen der ideologischen Absicherung von patriarchalischer Herrschaft.37 Für diese These liefert nicht nur der Entstehungszusammenhang des Aussagesystems gewichtige Argumente. Auch später wird deutlich ausgesprochen, dass die Herausbildung der »Geschlechtscharaktere« im Dienste der weiteren Sicherung der rechtlichen Privilegierung der Männer steht. Beispielhaft ist hierfür die von Carl Theodor Welcker im Staatslexikon unter dem Stichwort »Geschlechtsverhältnisse« vorgetragene Argumentation.38 Welcker hält die durch das Menschenrecht begründete Gleichheit im bürgerlichen Recht im Hinblick auf die Frauen für problematisch; ist doch »so vielfache Ungleichheit zwischen dem Manne und der Frau, so große Verschiedenheit ihrer Lebensaufgaben und ihrer Kräfte, also auch ihrer Rechtsverhältnisse, schon durch die Natur selbst bestimmt«. Wohlwissend, dass die »Stimme der Natur nicht so ganz leicht verständlich für Alle spricht« und dass »die Gewohnheit bisheriger Zustände, Vorurtheile und die Interessen der Stärkeren hier, wie überall, bei despotischen und aristokratischen Verhältnissen das Urtheil auch der besten Forscher bestachen«, hält er es nur nach eingehender Prüfung für erlaubt, den Frauen die nach der naturrechtlichen Staatstheorie geforderte Rechtsgleichheit vorzuenthalten. So bemüht er »die Geschichte und das übereinstimmende Urtheil aller achtbaren Stimmen«, um erstens den Zusammenhang zwischen dem Fortschritt der Zivilisation auf der einen und der »gerechtere(n), würdigere(n) Behandlung der Frauen« und den »würdigere(n) Familienverhältnisse(n)« auf der anderen Seite zu konstatieren,39 dann die Realisierung dieses Zusammenhanges in der christlichen Kultur aufzuzeigen und schließlich auf »die Natur der beiden Geschlechter und ihres Verhältnisses einzugehen«, um dann zu folgern, dass die in der christlichen Kultur geschaffene Stellung der Frau und Familie »selbst auf der höchsten Stufe vernünftiger Civilisation«40 fortdauern müsse. 37 Diese in der jüngsten Zeit von der Frauenbewegung vorgebrachte Interpretation wurde u. a. ausgeführt von de Beauvoir (wie Anm. 13); S. Firestone, The Dialectic of Sex, New York 1970; K. Millett, Sexual Politics, New York 1970. 38 C. Welcker, Artikel »Geschlechtsverhältnisse«, in: C. Rotteck u. ders. (Hg.), Staats-Lexicon oder Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften, Bd. 6, Altona 1838, S. 629–665. 39 Alle vorstehenden Zitate ebd., S. 630–632. 40 Ebd., S. 635.
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»Kaum bedarf es nun wohl noch besonderer Beweisführungen, daß bei solchen Verschiedenheiten der Geschlechter, bei solcher Natur und Bestimmung ihrer Verbindung, eine völlige Gleichstellung der Frau mit dem Manne in den Familien- und in den öffentlichen Rechten und Pflichten, in der unmittelbaren Ausübung derselben, der menschlichen Bestimmung und Glückseligkeit widersprechen und ein würdiges Familienleben zerstören würde, daß dabei die Frauen ihrer hohen Bestimmung im häuslichen Kreise und für die Bildung der nachfolgenden Geschlechter, daß sie dem Schmucke und der Würde der Frauen, der wahren Weiblichkeit und ihrem schönsten Glücke entsagen und sich den größten Gefahren bloßstellen müßten … Jene Theorien, die gleichgültig gegen die Rechte der Frauen dieselben despotisch als Mittel für die Männer und ihren Verein mißbrauchten, mußten auf das edelste Gut für die Männer und den Staat, auf ein häusliches oder Familienleben und sittliche Familienerziehung der Kinder, verzichten. Die, welche, bei einseitiger Verfolgung einer abstracten Gleichheitsregel die Gesetze und Schranken der Natur übersehend, für die Frauen mehr Rechte in Anspruch nahmen, als diese nach jenen Gesetzen und Schranken nur wollen können, zerstören diese heiligste, festeste Grundlage menschlicher und bürgerlicher Tugend und Glückseligkeit auf’s Neue.«41
Zu den Letztgenannten zählt Welcker ausdrücklich die Verfechter der Frauenemanzipation und die Sozialisten und Kommunisten. Noch deutlicher tritt das Herrschaftselement im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zutage, als die natürliche Wesensbestimmung der Frauen mit großer Vehemenz gegen die konkreten Emanzipationsforderungen der jetzt organisierten Frauenbewegung ins Feld geführt wird. So wird beispielsweise die Forderung, Frauen zur Gymnasial- und Universitätsausbildung zuzulassen, als Gefährdung der Mutterschaft oder als Widersinn angesichts des physiologischen Schwachsinns des Weibes42 bekämpft. Die Ende des 18. Jahrhunderts betonte Gleichwertigkeit von Mann und Frau tritt in derartigen Argumentationen völlig zurück. Das hohe Ideal der Weiblichkeit nimmt über der Heftigkeit solcher Verweigerungskämpfe deutlich Schaden und die in der Romantik stilisierte »Mütterlichkeit« bedeutet dann häufig nichts anderes als das durch Brutpflege definierte Geschlechtswesen.43 41 Ebd., S. 644 f. 42 So P. Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle 1900. Die Diskussion über den »wahren« Beruf der Frau verschärfte sich seit den siebziger Jahren, wie vor allem das Pro und Contra zu der 1869 deutsch erschienenen Schrift von J. St. Mill, On the Subjection of Women, zeigt; vgl. M. Twellmann, Die Deutsche Frauenbewegung. Ihre Anfänge und erste Entwicklung 1843–1889, Bd. 1, Meisenheim 1972, S. 55–62. Der Zusammenhang zwischen dem seit 1890 insbesondere von der bürgerlichen Frauenbewegung intensivierten Kampf um Zulassung der Frauen zu Abitur und Studium auf der einen und der Verschärfung antifeministischer Polemik auf der anderen Seite wird angezeigt in der Bibliographie von H. Sveistrup u. A. v. Zahn-Harnack, Die Frauenfrage in Deutschland, Burg b. M. 1934, S. 202–218, S. 470–479. 43 Besonders taten sich in der Verteidigung ihrer Domäne die Mediziner hervor; vgl. z. B. A. Ander (Dr. med.), Mutterschaft oder Emancipation. Eine Studie über die Stellung des Weibes in der Natur und im Menschenleben, Berlin 1913, bes. S. 28; 1899 wurden auf Beschluss des Bundesrates Frauen zur medizinischen und pharmazeutischen Staatsprüfung zugelassen.
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Die Beispiele dafür, dass die »Geschlechtscharaktere« als Herrschaftsideologie entwickelt und benutzt wurden, lassen sich unschwer vermehren. Aber es wäre misslich, die Analyse auf diesen einen Aspekt einzuengen und dabei zu übersehen, dass die Herrschaftsfunktion nur eine Komponente des sehr viel komplexeren Aussagesystems ist und dass gleichzeitig darin Verweise auf weitere und qualitativ andere Elemente der Gesellschafts- und Familienverhältnisse enthalten sind. Eine historisch stärker differenzierende Interpretation kann über den Grundtatbestand der patriarchalischen Herrschaft hinaus signifikante Veränderungen dieses Herrschaftsverhältnisses in Gesellschaft und Familie konstatieren. Interpretationswürdig ist in dieser Hinsicht vor allem, dass die Hauptkriterien der normativen Positionszuschreibung für die Geschlechter nicht länger die Befähigung zur Herrschaft auf der einen und die zur Unterordnung auf der anderen Seite sind. Vielmehr wird bei häufig ausdrück licher Zurückweisung der Herrschaftsqualität mit den um die Merkmalsgruppen Aktivität-Rationalität für den Mann und Passivität-Emotionalität für die Frau gruppierten Eigenschaften der Mann eindeutig und explizit für die Welt und die Frau für das häusliche Leben qualifiziert. Damit wiederholt sich in den kontrastierten »Geschlechtscharakteren« die Polarisierung von »Heim« und »Welt«. Zugleich ist das Wesen von Mann und Frau so konzipiert, dass nur beide zusammen die Summe aller menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu realisieren vermögen. Mann und Frau sind nach Natur und Bestimmung auf Ergänzung angelegt und demgemäß ist es einem einzelnen Menschen unmöglich, sich zur harmonischen Persönlichkeit zu entwickeln. Diese in der Literatur der Klassik und Romantik hochstilisierte Idee der Ergänzung verallgemeinert und steigert den in der Sexualität angelegten Gattungszweck zur psychischen Verschmelzung in der Seelengemeinschaft. Für die Polarisierung der Geschlechtscharaktere scheint die Idee der Ergänzung der Definitionsgrund gewesen zu sein. Um noch einmal Welcker zu zitieren: »Denn das Wesen und die Bestimmung, die Vollkommenheit der höheren Menschheit, stellen sich in beiden [Geschlechtern] nicht etwa auf verschiedenen höheren oder niederen Stufen …, sondern nur in verschiedenen einander ergänzenden Richtungen dar. Sie werden also nur durch die Gemeinsamkeit beider, nur durch die Behauptung ihrer Besonderheit und zugleich durch ihre gegenseitige Verbindung und Ergänzung verwirklicht.«44
Da »die gegenseitige Ergänzung in der allgemeinen Naturbestimmung beider Geschlechter«45 angesiedelt und eben daraus die Chance zu höherer Humanität hergeleitet wird, erscheint es erstrebenswert, das unterschiedliche Wesen der Geschlechter als Voraussetzung für die erwünschte Ergänzung immer präziser herauszubilden.
44 Welcker (wie Anm. 38), S. 642. 45 Ersch u. Gruber (wie Anm. 35), S. 39 f.
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Im Sinne dieser Ergänzung ist es konsequent, wenn unabhängig davon, ob nun die psychischen Geschlechtsunterschiede als natürliche oder durch Erziehung und soziale Position bedingte erachtet werden, die Vermischung der »Geschlechtscharaktere« zum »Männling« oder »Weibling« als Herabsinken der Humanität eingestuft wird.46 »Vollendet ist in beiden Geschlechtern die Menschlichkeit, wenn sich die beiderlei Tugenden, die Männlichkeit und die Weiblichkeit miteinander vermählen, ohne dabei das Geschlecht zu verleugnen oder aufzuheben«.47 Unter dem Regulativ der Ergänzung wirkt die Entgegensetzung der Geschlechter nicht antagonistisch, sondern komplementär. Die Gegensätze ergänzen sich zur harmonischen Einheit. Die Idee der Ergänzung aber hält mit den Geschlechtern zugleich die jeweils für den Mann und die Frau als wesensgemäß erachteten sozialen Betätigungsfelder Öffentlichkeit und Familie in Harmonie zusammen. So wird es mittels der an der »natürlichen« Weltordnung abgelesenen Definition der »Geschlechtscharaktere« möglich, die Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben als gleichsam natürlich zu deklarieren und damit deren Gegensätzlichkeit nicht nur für notwendig, sondern für ideal zu erachten und zu harmonisieren. Die Harmonisierung der Tätigkeitsbereiche ist um 1800 zunächst in der Definition der »Geschlechtscharaktere« nur implizit als Zuordnung charakteristischer Eigenschaften enthalten. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte aber wird immer nachdrücklicher expliziert, dass die Ergänzung des vom Manne bestimmten öffentlichen Erwerbs- und Staatslebens durch das von der Frau gestaltete Ehe- und Familienleben unabdingbar ist, um den humanen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. »Ohne Weib wäre für jede feinfühlende Seele das heutige Leben nicht zu ertragen« schreibt Gervinus 1853; denn es ist das Weib, »das in der neuen Zeit die poetische Seite der Gesellschaft bildet …, weil das Weib heute, wie einst der griechische Bürger, den gemeinen Berührungen des Lebens entzogen, weil es den Einwirkungen des Rangsinnes, den Verderbnissen durch niedrige Beschäftigung, der Unruhe und Gewissenlosigkeit der Erwerbssucht nicht ausgesetzt, und weil von Natur schon das Weib mehr als der Mann gemacht ist, mit der höchsten geselligen Ausbildung den Sinn für Natürlichkeit und die ursprüngliche Einfalt des Menschen zu vereinen«.48
Das Bild des von des Tages Arbeit mühsam beladen heimkehrenden Mannes, der über die Schwelle des Hauses tretend von der Frau mit Liebe und Frieden bedacht wird, wie es u. a. L. von Stein benutzt,49 zeigt überdeutlich, wie mit der 46 Ebd., S. 40. 47 Kleineres Brockhaus’sches Conversations-Lexikon für den Handgebrauch, Bd. 2, Leipzig 1854, S. 557. 48 G. G. Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtkunst, Bd. 1, 4. Aufl., Leipzig 1853, S. 302, zustimmend zit. in: Ersch u. Gruber, (wie Anm. 35) S. 36. 49 Besonders explizit in: L. v. Stein, Die Frau, ihre Bildung und Lebensaufgabe (1. Aufl. 1851), 3. Aufl., Dresden 1890, S. 1–5, S. 33–35, S. 51–56; ders., Die Frau auf dem Gebiete der Nationalökonomie, 6. Aufl., Stuttgart 1886, S. 93 f., desgl. Biedermann (wie Anm. 35), S. 9:
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Haus-Ideologie eine Spaltung von feindlicher Welt und freundlichem Haus einhergeht. Trotz dieser zunehmend negativen Bewertung der Außenwelt hält man weiterhin daran fest, dass der »Geschlechtscharakter« des Mannes durch die Bestimmung für eben diese Welt definiert ist. Allerdings wird die anfangs emphatisch beschworene Harmonie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend prekär, als das Ideal der mütterlichen und liebenden Frau im Frieden des Hauses und damit im Windschatten der Gesellschaft immer weniger gedeihen wollte, zugleich aber das von der Frau kultivierte Refugium erstrebenswerter denn je erschien und die Welt des Mannes zunehmend kulturkritisch in Frage gestellt wurde. Prototypisch für dieses Problembewusstsein ist die zuerst 1887 erschienene Analyse »Gemeinschaft und Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies. Bezeichnenderweise fußen auch dessen Überlegungen auf den kontrastierten »Geschlechtscharakteren«, wenn er den weiblichen »Wesenswillen« eingehen lässt in die organische Gruppenverbindung der Kategorie Gemeinschaft und wenn er dieser die ideelle und mechanische Gruppenverbindung der Gesellschaft gegenüberstellt, die geprägt sein soll von der »Willkür« des Mannes. Für Tönnies verkörpert das Weib mit seinem unmittelbaren Verhältnis zu den Personen und Dingen den natürlichen, der Mann hingegen als der Berechnende den künstlichen Menschen, der in seiner fortgeschrittensten Ausprägung als Kaufmann selbst seine Mitmenschen wie Mittel und Werkzeuge zum Zwecke der Bereicherung einsetzt. Die von ihm diagnostizierte, im Zuge der Vergesellschaftung fortschreitende Zurückdrängung der Gemeinschaft bedroht jedoch auf lange Sicht die Familie und damit auch die fraulichen Qualitäten. Denn eine Frau, die wie eine Fabrikarbeiterin den Einflüssen der Gesellschaft direkt ausgesetzt ist, »wird aufgeklärt, wird herzenskalt, bewusst. Nichts ist ihrer ursprünglichen Natur fremdartiger, ja schadhafter.«50 Offenbar war die Orientierung an einem auf der Geschlechterpolarität aufbauenden Gesellschaftsmodell, wie es Tönnies ausformuliert hat, weit verbreitet. Aufschlussreich und zugleich ein Indiz für die mögliche soziale Relevanz solcher Vorstellungen ist die Tatsache, dass selbst die bürgerliche Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts diese Vorstellungen teilte. Ihre »Daß der Mann, so oft er, ermüdet, Erholung suchend, von seinen schweren Berufsgeschäften zum heimischen Herde zurückkehrt, hier auch wirklich Erholung finde, daß das Gefühl häuslichen Behagens, wohltuender Fürsorge für seine gewohnten Bedürfnisse, harmonischen Einklanges aller seiner Umgebungen ihn anmutend und erheiternd umfange und sich beruhigend über sein, oft verstimmtes, oft aufgeregtes Gemüt lege, wie Oel, in die stürmende Flut gegossen, daß er für seinen abgespannten Geist die heilsame und notwendige Anregung eines zugleich inhaltvollen und zutraulichen Gesprächs, für seine, draußen vielleicht verletzte Empfindung den Balsam freundlicher, aus tiefem Verständnis und sicherer Würdigung seines Wesens geschöpfter Zusprache, für seine mancherlei Berufs- und Lebenssorgen den tröstenden Beirat eines, das Leben mit einfach klarem, darum oft richtigerem Blicke anschauenden Frauengemüts nicht entbehre. Das zu leisten vermag nur ein gebildetes Weib.« 50 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 2. Aufl., Berlin 1912, S. 197.
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Forderungen nach bildungsmäßiger und politischer Gleichberechtigung begründeten diese Frauen seit Ende der siebziger Jahre damit, dass es die »Kulturaufgabe« der Frauen sei, in der inhumanen Männerwelt durch Weiblichkeit mehr Humanität zu verwirklichen. Ihres Erachtens hat das bislang allein im häuslichen Kreis der Familie wirkungsmächtige weibliche Wesen jetzt eine Mission in der menschenfeindlichen Welt zu erfüllen.51 Heute ist dieser Glaube an eine Harmonisierung der menschlichen Verhältnisse durch die Ergänzung von Welt und Heim, von Mann und Frau ebenso verschwunden, wie der an die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse qua Weiblichkeit entscheidend zu verbessern. Was allerdings geblieben ist, ist die Vorstellung, dass allein die Familie dem Individuum ein Refugium vor dem als feindlich erachteten Zugriff der Gesellschaft bereitstellen kann. In dieser Annahme treffen sich von ihren politischen Zielvorstellungen her so unterschiedliche Wissenschaftler wie Horkheimer und Parsons. Horkheimer charakterisiert Mitte der dreißiger Jahre die Familie nicht allein als Produzentin der gesellschaftlich erwünschten autoritären Charaktertypen. Er betont zugleich, dass Familie und Gesellschaft in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen und dass in der Familie die gesellschaftlich wirksamen Markt- und Konkurrenzbeziehungen zurücktreten zugunsten von Beziehungen, in denen der Einzelne »als Mensch zu wirken« imstande ist. Er sieht deshalb in der Familie »auf Grund der durch die Frau bestimmten menschlichen Beziehungen ein Reservoir von Widerstandskräften gegen die völlige Entseelung der Welt«.52 Die gleiche Beobachtung veranlasst Parsons dazu, zwar nicht den Antagonismus, aber die funktionale Ergänzung von Familie und Gesellschaft zu betonen. Im Prozess der fortschreitenden gesellschaftlichen Differenzierung hätten sich die Familienfunktionen zunehmend auf die »rein persönlichen Beziehungen der Mitglieder zueinander« konzentriert, nämlich auf »Sozialisation der Kinder und Spannungsausgleich (tensionmanagement) für ihre erwachsenen Mitglieder auf psychologischem oder Persönlichkeitsniveau«. Dementsprechend bedeute die Differenzierung der spezifisch weiblichen Rolle, dass die Frau zu »einem Spezialisten in ›human relations‹ und der Meisterung subtiler psychologischer Probleme ausgebildet wird.«53 51 Vgl. u. a. H. Lange, Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen, Berlin 1907, S. 118, oder das Programm des Bundes deutscher Frauenvereine in der Neufassung von 1919, abgedruckt in: Jahrbuch des Bundes Deutscher Frauenvereine, Bd. 12 (1928–1931), Leipzig 1932; dazu Twellmann (wie Anm. 42), Bd. I, S. 55–67. Noch 1928 wirbt G. Bäumer in ihrem Wahlaufruf für Ziele, »die aus dem Kulturideal der Frauen abgeleitet sind«, und damit für die Vertretung »objektiver Werte im sozialen Leben … Leben gegen Besitz-Menschentum gegen Sachgüter-Kultur, d. h. inneres Sein, gegen Zivilisation«, in: Die Frau, Bd. 35 (1928), S. 193; vgl. zur Argumentationsfigur im 20. Jahrhundert J. Zinnecker, Sozialgeschichte der Mädchenbildung, Weinheim 1973, S. 123–127. 52 M. Horkheimer, in: E. Fromm u. a., Autorität und Familie, Bd. 1, Paris 1936, S. 67; s. insges. S. 63–67, wo in diesem Zusammenhang Hegel interpretiert wird. 53 T. Parsons, Über den Zusammenhang von Charakter und Gesellschaft (1961), in: ders., Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt a. M. 1968, S. 269 f.
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Damit wird heute das als gesellschaftliche Funktion und Ziel von Ausbildung benannt, was früher Charaktereigenschaft des weiblichen Geschlechts hieß. Auch in so gearteter Vorstellung gilt nach wie vor allein die Familie als Ort zur Realisierung von Humanität, und innerhalb der Familie ist es die Frau, die dem aus der inhumanen Arbeitswelt heimkehrenden Mann und den schutzbedürftigen Kindern die ersehnte und notwendige Menschlichkeit angedeihen lassen soll. Nach den Ressourcen dieser Menschlichkeit aber wird nicht gefragt. Erst eine solche am Prinzip der Ergänzung ansetzende gesellschaftlich weit ausholende Interpretation macht einsichtig, warum das Orientierungsmuster der polarisierten »Geschlechtscharaktere« im Laufe eines durch erhebliche gesellschaftliche Strukturveränderungen gekennzeichneten Jahrhunderts an Attraktivität eher gewann als verlor. Ehe und Familie und die Frau als Personifizierung der speziellen familialen Qualitäten wurden in dem Augenblick anhand einer Reihe von erstrebenswerten Eigenschaften definiert, als in den sich herausbildenden außerfamilialen Gesellschaftsstrukturen und für den unter diesen Strukturen zum Reüssieren verpflichteten Mann eben diese Eigenschaften jeglichen Wert verloren und als Störfaktoren eliminiert wurden. Die exklusive Zuweisung der Eigenschaftskomplexe Rationalität-Aktivität für den Mann und Passivität-Emotionalität für die Frau ist demnach zu verstehen als Reaktion auf und zugleich Anpassung an eine Gesellschaftsentwicklung, die dem in der Aufklärung ausgearbeiteten Ideal der autonomen, harmonisch entfalteten Persönlichkeit zunehmend den Wirklichkeitsgehalt entzieht.54
IV. Im letzten Abschnitt wurde von sozialen Vorstellungen auf die soziale Realität geschlossen. Eine solche im Sinne der traditionellen Geistesgeschichte vorgenommene Interpretation stößt mit Recht auf Skepsis, da einerseits die möglicherweise nur partielle soziale Geltung überlieferter Aussagen verallgemeinert 54 Das Ineinssetzen von Familie und Frau und die Furcht, mit einer Veränderung der gesellschaftlichen Position der Frauen die Möglichkeiten von humanen Beziehungen bzw. die realen Anhaltspunkte für so gerichtete Wunschphantasien überhaupt zu verlieren, wird seit der Wende zum 20. Jahrhundert deutlich ausgesprochen. 1902 bekräftigt der Preußische Kultusminister Studt im Abgeordnetenhaus anlässlich des Vorhabens, Frauen zu Abitur und Studium zuzulassen: »Der deutschen Familie soll die eigenartig ideale Stellung der deutschen Frau nach Möglichkeit erhalten bleiben«, zit. nach Zinnecker (wie Anm. 51), S. 88. Die deutsche Frau in der deutschen Familie als Kontrastprogramm zum »Arbeits- und Berufsmenschentum« in der »Rücksichtslosigkeit und Brutalität des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes« wird, wenngleich weniger optimistisch als vor 1914, auch noch in den zwanziger Jahren beschworen, vgl. z. B. G. Steinhausen Geschichte der deutschen Kultur, Bd. 2, 2. Aufl., Leipzig 1913, S. 495, und ders., Deutsche Geistes- und Kulturgeschichte von 1870 bis zur Gegenwart, Halle 1931, S. 471–473.
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wird und zum andern Bewusstsein oder auch Wirklichkeitsdeutung allzu direkt als Ausdruck von Sein oder Wirklichkeitserfahrung genommen wird. Um diesen Einwänden Rechnung zu tragen, ist es notwendig, nachdrücklicher als bisher die Frage nach dem Realitätsgehalt und der Realitätsrelevanz der normativen und ideologischen Aussagen über die »Geschlechtscharaktere« zu stellen. Hierbei können die deutliche Trennung zwischen öffentlich-beruflichem und privat-familiärem Lebensbereich sowie die jeweils den Mann und die Frau charakterisierenden Eigenschaften als Orientierungshilfen dienen. Zunächst einmal dürfte die Annahme kaum auf Zweifel stoßen, dass sich die allgemeinen Aussagen über den Mann und die Frau im 18. Jahrhundert schwerlich auf Bauern bezogen haben; denn deren Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse wurden nach wie vor und noch auf lange Zeit mit der traditionellen Rollenzuschreibung adäquat erfasst. Interessanterweise wird im Anschluss an Beobachtungen von Riehl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar ausdrücklich festgestellt, dass beim Landvolk »der Beruf in vieler Hinsicht derselbe« ist und ›,Stimme, Gesichtszüge und Benehmen der beiden Geschlechter in dieser niederen Schicht sich sehr ähnlich sind, der charakteristische Unterschied also erst in der Atmosphäre der höheren Bildung sich auch schärfer ausprägt.«55 Weniger eindeutig lässt sich hypothetisch entscheiden, inwiefern die Charakterbestimmung der Geschlechter für die Lebensverhältnisse von Lohnarbeitern relevant werden konnte. Gewiss ist wohl, dass zu Zeiten des Hausgewerbes und im Übergang zur zentralisierten Industrieproduktion, als das Einkommen des Mannes allein nicht ausreichte, um den Familienbedarf zu decken, und deshalb weder Haus- noch Erwerbsarbeit geschlechtsexklusiv ausgeführt werden konnten, nicht nur die spezifische Kontrastierung der »Geschlechtscharaktere« irrelevant war, sondern selbst die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sich der festen Normierung entzog.56 Für eine eindeutigere Abgrenzung der Geschlechterrollen und damit für eine Rezeption der Wesensbestimmung von Mann und Frau waren die sozio-ökonomischen Voraussetzungen jedoch möglicherweise dann gegeben, als mit der Entwicklung des Industriekapitalismus die Industriearbeit räumlich und qualitativ eindeutig von der Hausarbeit getrennt und als zumindest im orientierenden Vorbild der Mann als Alleinverdiener der Familie betrachtet werden konnte. Einer Rezeption der Aussagen über »Geschlechtscharaktere« dürfte allerdings weiterhin entgegengestanden haben, dass immer auch Frauen und Töchter von Arbeitern Lohnarbeit, wenngleich eine von der Männerarbeit zunehmend unterschiedene Frauenarbeit, leisteten, und dass damit de facto von einer ausschließlichen Zuständigkeit der Frau für die Familie 55 So in K. A. Schmidt, u. a. (Hg.), Encyclopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, bearbeitet von einer Anzahl Schulmänner und Gelehrten, Bd. 2, 2. Aufl., Gotha 1878, S. 1018. 56 Vgl. H. Medick, Zur strukturellen Funktion von Haushalt und Familie im Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zum industriellen Kapitalismus: die protoindustrielle Familienwirtschaft, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 254–282, hier S. 279–281.
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niemals die Rede sein konnte. Immerhin hat es im 19. Jahrhundert nicht an Versuchen gefehlt, auch bei den Arbeitern den »richtigen« Familiensinn zu pflegen und vor allem die Frauen des »niederen« Volkes auf ihre »Bestimmung als Gattin, Hausfrau und Mutter« durch eine entsprechende psychologische und praktische Ausbildung vorzubereiten. Da in der Restabilisierung der Familienverhältnisse ein sicherer Weg zur Lösung der »sozialen Frage« gesehen wurde, ist anzunehmen, dass man besonders intensiv versuchte, die Lehre von den »Geschlechtscharakteren« als Kernelement der Vorstellungen vom wahren Familienleben bei den Arbeitern zu popularisieren.57 Mit Phänomenen der gesellschaftlichen Realität korrespondierte die Polarisierung der Geschlechter zunächst ganz offensichtlich einzig und allein dort, wo sie um die Wende zum 19. Jahrhundert entwickelt wurde, nämlich im gebildeten Bürgertum.58 Geht man davon aus, dass dessen Berufsfeld vorwiegend die staatliche bzw. die ständische Verwaltung, das Bildungswesen und die Seelsorge war, so gibt es eine Reihe von Anhaltspunkten, um diese Hypothese zu stützen. Zunächst einmal beziehen sich die der Frau zugeschriebenen Qualitäten zu einem großen Teil auf deren Fürsorge für die Kinder. Mütterlichkeit in diesem Sinne kann sich aber nur dort entwickeln, wo dem Nachwuchs bereits der Sonderstatus der Kindheit eingeräumt worden ist. Vor allem im Bildungsbürgertum aber erhielt die Kindererziehung entsprechend der vom Vater vorgezeichneten Berufsperspektive großes Gewicht.59 Ein weiterer Anhaltspunkt ergibt sich daraus, dass im Aussagesystem der »Geschlechtscharaktere« Öffentlichkeit und Familie, Erwerbsarbeit und Hausarbeit als Kontrast angesprochen werden. Die Trennung beider Bereiche aber hat sich wohl zuerst und am intensivsten bei der Gruppe der Beamten angebahnt. Gewiss zählten zu dieser Gruppe nicht nur Vertreter des Bürgertums, sondern vor allem in gehobenen Positionen auch solche des Adels. Eine ins Detail gehende Untersuchung hätte die Unterschiede und Berührungspunkte in der Lebens- und Berufssitua57 Die »niederen Klassen« in diesem Sinne auszubilden empfiehlt z. B. L. v. Stein, Die Frau auf dem socialen Gebiet, Stuttgart 1880, S. 125–128; vgl. auch das Vorwort zu: Das häusliche Glück. Vollständiger Haushaltungsunterricht nebst Anleitung zum Kochen für Arbeiterfrauen, 11. Aufl., Mönchengladbach 1882, Neudruck München 1975. Eine unter dieser Fragestellung durchgeführte Analyse des Volksschulwesens im 19. Jahrhundert dürfte aufschlussreich sein für die Popularisierung der bürgerlichen Normen. 58 Diese grobschlächtige Kategorie wartet noch auf ihre sozialgeschichtliche Spezifizierung; zur Problematik vgl. H. Henning, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung, 1860–1914, Teil 1, Wiesbaden 1972, S. 5–38; vgl. H. Möller, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert, Göttingen 1969, S. 2–8. Immer noch sehr gut H. Gerth, Die sozial-geschichtliche Lage der bürgerlichen Intelligenz um die Wende des 18. Jahrhunderts, Diss. phil., Frankfurt a. M. 1935. 59 Den Zusammenhang zwischen der Ausgrenzung von Kindheit und dem Interesse an formalisierter Ausbildung hat Ph. Ariès, L’enfant et la vie familiale, Paris 1960 (dt: Geschichte der Kindheit, München 1975) am französischen Beispiel herausgearbeitet. Zu der über Generationen durchgehaltenen Berufstradition der Akademiker und deren Verbürgerlichung vgl. H. Mitgau, Gemeinsames Leben, 1500–1770, Göttingen 1955, S. 6–75.
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tion von adeligen und bürgerlichen Beamten ebenso herauszuarbeiten, wie die je nach Stellung in der bürokratischen Hierarchie und Karriere zu verzeichnenden Besonderheiten.60 Aber für die hier versuchte Argumentation ist die allmählich durchgesetzte Trennung von Privatleben und Berufsarbeit von größerem Interesse.61 Diese Trennung wird um die Wende zum 19. Jahrhundert mit der verallgemeinerten Durchsetzung bürokratischer Prinzipien im Instanzenzug der Behördenorganisation und im Berufsbeamtentum erheblich beschleunigt. Neben der räumlichen Konzentration der Arbeit in der Behörde sind hier vor allem das Aufkommen fester Ausbildungs-, Prüfungs- und Laufbahnvorschriften und die Durchsetzung regelmäßiger, zunehmend ausschließlich in Geld ausgezahlter Einkommen und der Pensionsanspruch zu nennen.62 Für den Beamtenhaushalt bedeutet diese Entfaltung des bürokratischen Systems u. a., dass im Unterschied zu bäuerlichen und gewerblichen Haushalten Konsum und Erwerb voneinander getrennt erscheinen und beim Gelderwerb das Zusammenwirken der Eheleute prinzipiell nicht mehr vorgesehen ist. Gewiss ist noch im gesamten 19. Jahrhundert das von der Frau in die Ehe eingebrachte Vermögen bzw. ihre sparsame Hauswirtschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das »standesgemäße Auskommen« der Familie. Doch mit seinem sicheren und im Laufe der Karriere steigenden Gehalt weist sich der Mann als »Ernährer der Familie« aus; denn Staatsdienst ist als Quelle für den Gelderwerb exklusiv dem Manne vorbehalten.63 Eine weitere Beobachtung ist in diesem Zusam60 Vgl. für den immer noch am besten untersuchten Fall Preußen H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience, 1660–1815, Boston 1966; R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967, S. 78–115; zu sozio-kulturellen Aspekten vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, Bern 1969, S. 10–42. 61 So eine bei E. Weis, Montgelas, 1759–1799. Zwischen Revolution und Reform, München 1971, S. 180 zitierte Maxime von Montgelas: »strenge Trennung von Dienstlichem und Privatem«. 62 Zur Kategorie bürokratischer Verwaltung vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 124–127, S. 650–678; zur Entwicklung vom ständischen zum Berufsbeamtentum siehe O. Hintze, Der Beamtenstand (1911), in: ders., Soziologie und Geschichte, 2. Aufl., Göttingen 1964, S. 66–125; materialreich auch S. Isaacsohn, Geschichte des preußischen Beamtentums, 3 Bde., Berlin 1874–1884; bes. für das 19. Jahrhundert: W. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972. 63 Zur möglichen Haushaltssituation vgl. M. Freudenthal, Gestaltwandel der städtischen bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung des Typenwandels von Frau und Familie, 1. (einziger, K. H.) Teil: 1760–1910, Diss. phil. Frankfurt a. M. 1933, Würzburg 1934; auf die Ernährerfunktion des Mannes beziehen sich u. a. auch die seit dem 18. Jahrhundert übliche obrigkeitliche Ehebewilligung für Staatsbeamte und die späteren Eheverbote für Beamte im Vorbereitungsdienst, vgl. D. Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit, Bielefeld 1967, S. 198, 235. Der Heiratsaufschub bis zur Bekleidung eines Amtes, das den »standesgemäßen Unterhalt« einer Familie erlaubt, ist eine bekannte Erscheinung. Interessant ist folgender Kommentar eines Göttinger Professors zu der für Akademische Lehrer niedriger Herkunft besonders prekären Sorge für den Familienunterhalt: C. Meiners, Über die Verfassung und Verwaltung
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menhang interessant. Zur Kontrastierung von Erwerbs- und Familienleben in den »Geschlechtscharakteren« werden Aspekte der Kindererziehung und der Erwerbstätigkeit in Charaktereigenschaften umgesetzt, unberücksichtigt bleiben demgegenüber Aspekte der Hauswirtschaft, die immer ausschließlicher in den Zuständigkeitsbereich der Frau fällt. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass hauswirtschaftliche Arbeit in dem Moment nicht mehr als relevant erscheint, wie sie ihren direkten Zusammenhang mit der Erwerbsarbeit einbüßt. Eine daran anschließende Deutung, die stärker die im 19. Jahrhundert betonte Refugium-Funktion von Familie und Frau berücksichtigt, aber auch an explizierte Vorstellungen der deutschen Klassik anknüpfen kann, würde hervorheben, dass offenbar der Bereich der Arbeit mit seiner abverlangten Aktivität kontrastiert wird mit einem von Arbeit scheinbar freien Bereich des Lebens und dessen Entfaltung in Passivität. Den letzten und zugleich entscheidenden Hinweis auf das gebildete Bürgertum liefert die Kontrastierung von Rationalität und Emotionalität in den »Geschlechtscharakteren«. Rationalität muss als spezifisch menschliches Leistungsvermögen ausgebildet sein und als Wert erachtet werden, bevor es sinnvoll ist, Emotionalität als konträre Verhaltensweise davon abzugrenzen. Diejenigen aber, die bis zum 19. Jahrhundert den Luxus und die Mühsal der formalen außerhäuslichen Bildung kennen und schätzen gelernt hatten, waren, von Ausnahmen abgesehen, Männer aus Adel und Bürgertum. Lateinschulen, Akademien und Universitäten blieben den Frauen verschlossen.64 Mädchen wurden auch im 18. Jahrhundert weiterhin im Hause, in vermögenden Familien durch Hauslehrer und Gouvernanten, meistens aber durch sukzessive Übernahme häuslicher Aufgaben nach dem Vorbild der Mutter ausgebildet. Ziel und Ergebnis einer deutscher Universitäten, Göttingen 1801/02, Neudruck. Aalen 1970, Bd. 2, S. 12: »Die wenigsten Professoren besitzen oder erheirathen, oder erben ein beträchtliches Vermögen. Die Meisten dürfen daher ihr ganzes Leben durch nicht im unabläßigen Arbeiten nachlassen, weil sie sonst nicht im Stande seyn würden, die immer steigenden Bedürfnisse ihrer Familie zu bestreithen. Eine unausbleibliche Folge also der Bildung und Lage der meisten Professoren ist eine gewisse Einseitigkeit, vermöge deren nur ein Theil ihrer Selbst, nämlich ihr Geist auf Unkosten des Cörpers, des Herzens und der Anlagen für das gesellige Leben geübt, und gestärkt wird«. 64 Vgl F. Paulsen, Geschichte des Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1896/97; F. Eulenburg, Die Frequenzen der deutschen Universitäten bis zur Gegenwart, Leipzig 1904; W. Zorn, Hochschule und höhere Schule in der deutschen Sozialgeschichte der Neuzeit, in: K. Repgen u. S. Skalweit, (Hg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach, Münster 1964, S. 321–339; W. Roessler, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, Stuttgart 1961. Wie Überlegungen zur planmäßigen Erziehung ausschließlich den Jungen galten, zeigt sich bei J. A. Comenius, Pampaedia (1676/77), hg. v. D. Tschizewksy u. a., Heidelberg 1960, der einleitend zwar seine Pädagogik auf viri et feminae bezieht, dann aber nur über das männliche Kind spricht. Interessant ist hier auch die Beobachtung von Ariès (wie Anm. 59), S. 46, 54, dass der Kinderstatus zunächst allein den Jungen eingeräumt wurde.
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solchen Ausbildung konnte nicht »Rationalität« sein, wenn darunter das durch Schulung entwickelte Abstraktions- und Formalisierungsvermögen des Denkens und ein auf den Zweck hin kalkuliertes selbstbeherrschtes Verhalten zu verstehen ist. Die seit dem 16. Jahrhundert auf die Männer konzentrierten und speziell im Bürgertum als direkte Voraussetzung für die Berufsarbeit unternommenen Bildungsbemühungen haben mit größter Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass es im 18. Jahrhundert beim Bürgertum tatsächlich hinsichtlich der Rationalität zwischen Mann und Frau erhebliche, anerzogene Wesensunterschiede gab.65 Die auf traditionelle Weise im Hause sozialisierten Frauen hatten offenbar Verhaltensweisen konserviert, die als irrational, emotional, spontan, unbeherrscht etc. von denen der formal ausgebildeten Männer abstachen und in dem Moment, wo der Rationalismus sich als allgemeines Prinzip durchzusetzen begann, nicht mehr als Selbstverständlichkeit hingenommen, sondern als bemerkenswertes Phänomen hervorgehoben wurden. Bezeichnenderweise wird es seit dem späten 18. Jahrhundert bei den Gebildeten üblich, das eigene Verhalten als Mann zum Maßstab für Verhalten von Erwachsenen überhaupt zu nehmen und daran gemessen die Verhaltensweisen der Frau mit denen von Kindern oder auch Naturmenschen gleichzusetzen.66 Aber nicht nur aufgrund von Ausbildung, sondern auch durch ihre aktuellen Tätigkeitsbereiche entwickeln sich die Verhaltensweisen von Mann und Frau im 18. Jahrhundert deutlich auseinander. Charakteristisch für die in der Familie zentrierte generative und konsumtive Reproduktion ist die fortdauernde Vielseitigkeit der Arbeit und deren Konzentration auf die Bedürfnisbefriedigung der zu diesem Haushalt vereinigten Menschen. Demgegenüber wird dem Mann in der zunehmend spezialisierten Produktions-, Distributions- und Verwaltungstätigkeit ein immer nachdrücklicher durchgesetztes disziplinier65 Daß sich eine Verschiedenartigkeit von Mann und Frau in den sozialen Gruppen herausbildet, wo das seit der Renaissance zunehmend rationale Verhalten relevant wird, konstatieren auch M. Weber, Ehefrau (wie Anm. 10), S. 281 f., J. v. Ussel, Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft, Reinbek 1970, S. 50, und Firestone (wie Anm. 37), S. 200 f., die von einer seit dem 16. Jahrhundert zum Zuge kommenden Aufspaltung der Kultursphäre in eine ästhetische (weibliche) und eine technologische (männliche) ausgeht. 66 Von der Kindnatur der Frau sprechen u. a. 1821 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 165; 1851 A. Schopenhauer, Über die Weiber, 27. Kapitel von Parerga und Paralipomena, §§ 364, 366; A. Comte, Cours de Philosophie Positive, Bd. 4 (1. Aufl., Paris 1839), 5. Aufl., Paris 1893, S. 456 f. hält »une sorte d’état d’enfance« deshalb für das entscheidende Charakteristikum der Frauen, weil sie nicht wie die Männer imstande seien, die »facultés intellectuelles« auf Kosten der »facultés affectives« auszubilden. Entsprechend heißt es bei dem Radikalen J. Fröbel, System der socialen Politik, 2. Aufl., Mannheim 1847,Teil I, 3. Buch, S. 226, wenngleich mit entgegengesetzten, nämlich emanzipatorischen Schlussfolgerungen: »Dem Manne, welcher eben erst den Weg der Reflexion und der reflectiven Lebenspraxis betreten hat, muss das auf dem Standpunkt der Natürlichkeit verharrende Weib als bloßes Mittel, eines der Güter des Lebens, als Besitz oder Eigenthum erscheinen …« Firestone (wie Anm. 37), S. 99, verweist auf interessante Parallelen zwischen dem Mythos der Kindheit und dem der Weiblichkeit.
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tes und rationales Berufsverhalten »ohne Ansehen der Person« abverlangt. Die Verschiedenartigkeit der Betätigungsfelder für Mann und Frau dürften sich besonders scharf im Staatsdienst und dort vor allem in der Verwaltung ausgeprägt haben, wo die Rationalität des bürokratischen Prinzips seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verstärkt zum Zuge kommt und die Pflichterfüllung für ein größeres und damit abstrakteres Ganzes der Motor zu der in der Karriere honorierten Leistung wird. Ob zu diesem Zeitpunkt eine solche Kontrastierung der Arbeitsgebiete auch im gewerblichen und kaufmännischen Großbürgertum zutrifft, bleibt zu prüfen. Ein wichtiges in diese Richtung weisendes Indiz wäre es, wenn es zutrifft, dass mit der seit dem 14. Jahrhundert einsetzenden Trennung von Geschäfts- und Familienbudgets die Ehefrauen ihre Geschäftsfähigkeit und damit ihre Zuständigkeit für das am Markt orientierte Wirtschaften verloren haben.67 Aber prinzipiell bleibt anders als für die Beamten das Zusammenwirken der Eheleute im Geschäft möglich und im Kleinhandel und Kleingewerbe bis ins 20. Jahrhundert hinein eine ökonomisch notwendige Realität. Wann und wie sich der für das späte 19. Jahrhundert bekannte »Luxus«, die Frau allein auf den Tätigkeitsbereich der Familie zu beschränken bzw. sie wie im Adel jeglicher Zuständigkeit für Arbeit zu entheben und auf Müßiggang und Luxuskonsum zu verpflichten, im Großbürgertum durchgesetzt hat, ist bislang ebenso wenig untersucht wie das Vordringen eines solchen Prestigeverhaltens ins mittlere Bürgertum.68 Wenn im Laufe des 19. Jahrhunderts die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« im Bürgertum eine immer größere Verbreitung fand, so ist die Ursache hierfür nicht allein in den immer deutlicher ausgeprägten Unterschieden der häuslichen und außerhäuslichen Arbeitsbereiche zu suchen. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, ist der Umstand, dass gleichzeitig auch die Bildungspolitik darauf hinwirkte, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu vertiefen.69 Alles was zunächst offenbar unbewusst und planlos als verschiedenartige Verhaltensweisen von Mann und Frau zustande gekom67 Hinweise bei E. Manheim, Beiträge zu einer Geschichte der autoritären Familie, in: Fromm (wie Anm. 52), Bd. 2, S. 566 f. 68 Freudenthal (wie Anm. 63), S. 41 f. rechnet erst nach 1860 mit einer durch den Warenmarkt ermöglichten erheblichen Arbeitsentlastung bei reichen bzw. kinderarmen Bürgerhaushalten. Informativ für die Situation der Frauen in großbürgerlichen Haushalten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Memoirenliteratur der Frauenbewegung. Der 1883 veröffentlichte Erfolgsroman von J. Stinde, Die Familie Buchholz, dürfte zutreffend den im Mittelstand zwecks Vermehrung der Heiratschancen als Aufwandsnorm demonstrierten Luxus charakterisieren. Hierzu systematisch Th. Veblen, The Theory of the Leisure Class, New York 1899. 69 Einschlägig für folgendes: Blochmann (wie Anm. 29) und Zinnecker (wie Anm. 51). Bemerkenswert ist, dass bis ca. 1740 die Moralischen Wochenschriften auch für die Frau den Umgang nicht nur mit den schönen, sondern auch mit den nützlichen Wissenschaften als erstrebenswert erachteten und dass sie das Lernen aus Erfahrung ergänzt wissen wollten um das durch Wissen, vgl. W. Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 520–542.
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men war, wird seit dem späten 18. Jahrhundert immer bewusster als Bildungsziel proklamiert. Die Definition der »Geschlechtscharaktere« ist zugleich die Formulierung eines Bildungsprogramms. Als man daran ging, auch den Mädchen eine planvolle Ausbildung zukommen zu lassen, stand das Urteil über das »Wesen« der Frau bereits fest. Ausbildung zielte einzig und allein darauf ab, dieses Wesen eindeutiger herauszubilden und so die Frau besser ihrer Bestimmung zuzuführen. Für den Ausbau des Mädchenschulwesens, sofern es nicht um die notfalls auch koedukativen Volksschulen, sondern um die schulische Ausbildung der »höheren Töchter« ging, hatten diese Prämissen weitreichende Konsequenzen. Töchterbildung zielte darauf ab, zum einen die gesellschaftsfähige junge Dame mit Talent und Geschmack und zum andern, teilweise konkurrierend zu ersterem, die zu ihrem »natürlichen Beruf« bestimmte Frau mit den Qualitäten der »Häuslichkeit« und »Mütterlichkeit« auszubilden. Diese allein für den Ehe- und Familienzweck konzipierte Ausbildung galt als Familienangelegenheit ohne direktes öffentliches Interesse. Dementsprechend ließ die staatliche Institutionalisierung des höheren Schulwesens für Mädchen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf sich warten. Die für Bürgertöchter vorhandenen Schulen entstanden durch Privatinitiative als Wirtschaftsunternehmen oder Selbsthilfeeinrichtungen interessierter Bürger und z. T. auch Kommunen. In der bildungspolitischen Diskussion erschienen selbst diese Einrichtungen bisweilen als suspekter Notbehelf, wenn nämlich die für Mädchen einzig angemessene Ausbildungsstätte an der Seite der Mutter in der Familie gesehen wurde.70 Was die Bildungsinhalte anbelangt, so war die Meinung einhellig, dass von Mädchen strikt alles fernzuhalten sei, was der Emotionalität Abbruch tun könne. Unter dieses Verdikt fiel vor allem die Mathematik, da sie anstelle von Gemüt die Rechenhaftigkeit des Geistes befördere.71 Vermieden werden sollte außerdem jeglicher Anreiz für Leistungsstreben, was einer sicher nicht unwirksamen Vor70 Vgl. z. B. das Kapitel »Die Erziehung der Mädchen« bei K. v. Raumer, Geschichte der Pädagogik vom Wiederaufblühen klassischer Studien bis auf unsere Zeit, Bd. 3, 3. Aufl., Stuttgart 1857, S. 450–537. 71 Folgendes Stundenplan-Beispiel für eine höhere Mädchenschule gibt 1881 die »Encyclopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens« (wie Anm. 55), Bd. 4, S. 816: Mittelstufe Religion Deutsch Rechnen Französisch Englisch Geographie, Geschichte, Naturkunde Handarbeit Zeichnen, Gesang
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2 4 2 3 3 je 2 2 je 2
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kehrung zur Erhaltung »weiblicher Passivität« gleichkam.72 Der tatsächliche Erfolg dieser planvollen Ausbildung des weiblichen »Geschlechtscharakters« lässt sich bei dem derzeitigen Stand der Forschung nicht abschätzen. Berücksichtigt man aber, dass im 19. Jahrhundert parallel zur Erziehung der »höheren Töchter« die staatlich organisierte formale Ausbildung der Bürgersöhne rapide intensiviert und gemäß den Erfordernissen der Berufswelt spezialisiert wurde, so spricht manches für die Vermutung, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die Verschiedenartigkeit der »Geschlechtscharaktere« zumindest als Verhaltenszumutung eher verstärkt als vermindert wurde. Die Disponierung der Frauen für die Funktion als Gattin, Hausfrau und Mutter, also für ihren Einsatz »zur Vervollkommnung des Privatlebens«73 avancierte zum reflektierten Erziehungsprogramm, während bei der Ausbildung der Männer die spätere außerhäusliche Berufsfunktion immer perfekter die Funktion des Gatten, Hausherrn und Vaters überdeckte. Als Bekräftigung ebenso wie als Konsequenz dieser Kontrastierung von Mann und Frau dürfte es gewirkt haben, dass auf der einen Seite immer weniger Männer als häusliches Personal eingestellt wurden74 und auf der anderen Seite im Ausnahmefall der ökonomischen Notwendigkeit bürgerliche Frauen außerhalb des Hauses nur in den für Frauen als wesensgemäß und familienähnlich erachteten erzieherischen und pflegerischen Bereichen berufstätig werden konnten. Problematisiert wurde diese Ausgrenzung eines »weiblichen« Berufsfeldes erst, als sich am Ende des 19 Jahrhunderts zwischen den als weiblich erachteten Berufen und der als unweiblich verpönten Industriearbeit auf dem Arbeitsmarkt der neue Beruf der Angestellten für unverheiratete bürgerliche Frauen offensichtlich als attraktiv erwies.75 Nach dem bisher Gesagten war das Aussagesystem der »Geschlechtscharaktere« offensichtlich für bestimmte und wahrscheinlich im Laufe des 19. Jahrhunderts größer werdende Gruppen des Bürgertums von beträchtlichem Realitätsgehalt und von vermutlich zunehmender Realitätsrelevanz. Wie und mit welchem Erfolg diese sozialen Gruppen, deren Einfluss auf die Prägung, Durchsetzung und Verallgemeinerung ge-
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Dass die Unvereinbarkeit von Weiblichkeit und Mathematik eine auch heute noch wirksame Annahme ist, zeigt die empirische Untersuchung von E. Schildkamp-Kündiger, Geschlechtervorstellungen und Mathematikleistung bei Mädchen, Diss. phil., Saarbrücken 1973. Für die »höheren Töchter« endete die Schulbildung nach 8–10 Schuljahren im Alter von 14–16 Jahren; der Unterricht nach Jahrgangsklassen war nicht konsequent durchgesetzt und von dem für Jungenschulen maßgeblichen Berechtigungssystem waren die Mädchen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ohnehin ausgeschlossen. So R. v. Mohl, Die deutsche Policeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 1844, S. 484. Vgl. R. Engelsing, Das häusliche Personal in der Epoche der Industrialisierung, in: ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen 1973, S. 235. Deutlich wird die Schwierigkeit, die weiblichen Angestellten in das Weiblichkeitsschema einzuordnen, in den von der Frauenbewegung publizierten Schriften über Frauenberufe, vgl. z. B. J. Levy-Rathenau, Die deutsche Frau im Beruf, 5. Aufl., Berlin 1917 ( = Handbuch der Frauenbewegung, hg. v. H. Lange u. G. Bäumer, Teil 5).
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sellschaftlicher Normen gemeinhin als besonders hoch veranschlagt wird, eine Popularisierung des Orientierungsmusters in Gang gesetzt haben, ist eine sozialgeschichtlich wichtige Frage, der hier nicht nachgegangen werden soll.
V. In der bisherigen Analyse wurde für die Konstruktion der »Geschlechtscharaktere« die formale Bezeichnung »Aussagesystem« verwendet. Das machte es möglich, den einleitend angedeuteten Zusammenhang zwischen Aussagen über »Geschlechtscharaktere«, Definition von Geschlechterrollen und ideologischer Realitätsdeutung aufzuzeigen, eine weiterreichende Interpretation aber zunächst auszusparen. In diesem letzten Abschnitt soll nun versucht werden, diesen Zusammenhang im Hinblick auf das Verhältnis von Familie und Gesellschaft wenigstens in einigen Aspekten zu erläutern. Dabei geht es um die Frage, was es gesellschaftlich bedeutet, dass »Natur« und »Bestimmung« mit so großer Hartnäckigkeit ins Feld geführt werden, um mit Frau und Familie einen Bereich als Innenwelt auszugrenzen, der frei ist von den in der Außenwelt wirksamen und vom Mann verkörperten Prinzipien einer an Effizienz orientierten Rationalität und Aktivität. Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass das, was als »Geschlechtscharakter« gedeutet wird, sowohl die in der bürgerlichen Familie konstitutive prinzipielle Verschiedenartigkeit der geschlechtsspezifisch geteilten Arbeit, als auch die Dissoziation und Kontrastierung von Erwerbs- und Familienleben, von Öffentlichkeit und Privatheit bezeichnet. Diese Beobachtung gilt es jetzt auf die bürgerliche Familie als Typus zu beziehen. Deren kultivierte Intimität und Innerlichkeit wird meistens als das Spezifikum hervorgehoben, das die bürgerliche von den sozial offenen bäuerlichen und adeligen Familien unterscheidet. Man interpretiert die in Form der patriarchalischen Kleinfamilie entstehende bürgerliche Familie als »Ort einer psychischen Emanzipation«76 oder als Reaktion auf den Verlust der »densité sociale«.77 Ausgehend von den »Geschlechtscharakteren« liegt es nun nahe, die unterschiedliche Qualität der innerhalb und außerhalb der Familie geltenden Arbeitsnormen hervorzuheben. Seit dem 18. Jahrhundert zeichnet sich die gesellschaftlich organisierte Arbeit gegenüber der innerhalb der Familie verausgabten Arbeit immer eindeutiger dadurch aus, dass über ihre Art, ihren Umfang, Zweck und Wert nicht direkt die mit der Arbeit erzielbare Befriedigung der Bedürfnisse bestimmter Menschen entscheidet. Während die dergestalt objektivierte gesellschaftliche Arbeit gemäß Rentabilitäts- und Effizienzkri76 So J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962, S. 60, vgl. insgesamt zur Ausgrenzung der Privatsphäre S. 58–65 und S. 169–177. 77 So Ariès (wie Anm. 59), S. 460.
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terien fortschreitend rationalisiert und normiert wird, entzieht sich die direkt auf die Bedürfnisse der zur Familie gehörenden Menschen abzielende Arbeit innerhalb der Familie derartigen, mit gesellschaftlichem Prestige bedachten »Modernisierungs«maßnahmen. Hausarbeit, zunehmend ausschließlich von Frauen ausgeführt, bleibt traditionell und erscheint im Vergleich zu der nach Arbeitszeit und Arbeitsentgelt gemessenen Arbeit als unökonomisch und daher als Beschäftigung, die ihren Charakter als Arbeit zunehmend einbüßt. Die Tatsache, dass die vielfältigen Leistungen, die zur generativen, konsumtiven und psychischen Reproduktion der gesellschaftlich arbeitenden Menschen erforderlich sind, die ältere Form des Arbeitseinsatzes beibehalten, kann hier nicht auf ihre objektiven und subjektiven Gründe hin untersucht werden. Wichtig ist aber, dass zumindest für das Bürgertum diese Leistungen auch im Prozess der Verallgemeinerung von gesellschaftlich organisierter Arbeit dadurch sichergestellt werden, dass die Zuständigkeit für diese Arbeiten innerhalb der privat abgeschlossenen Familie und damit jenseits der gesellschaftlich herrschenden Zweckrationalität bei der Gattin, Hausfrau und Mutter festgeschrieben wird. Ideologisch wird diese spezifische Form der Aufteilung gesellschaftlich notwendiger Arbeit als natürliches Verhältnis interpretiert und die überantwortete Zuständigkeit für den einen oder anderen Leistungsbereich den Geschlechtern mit dem Natur-Argument gleich von Geburt her auf den Leib zugeschrieben. Das bedeutet zum einen, dass das Verhältnis der Geschlechter zueinander immunisiert wird gegen die gesellschaftlich verallgemeinerte Leistungskonkurrenz. Noch gewichtiger aber ist wohl zum andern, dass diese prinzipielle Zuständigkeit jeglicher individuellen Entscheidung enthoben und dementsprechend unter Vermeidung von Reibungsverlust »natürlich« tradierbar ist. Das Funktionieren dieser Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung wird durch familiale Sozialisation dauerhaft sichergestellt und evtl. sogar perfektioniert. Für die Binnenstruktur der Familie kann die Bedeutung der realen und zugleich ideologischen Polarisierung der Geschlechter nicht hoch genug veranschlagt werden. Was das Verhältnis der Gatten zueinander anbelangt, so ist entscheidend, dass die Ehe nicht mehr durch gemeinsame Wirtschaft, sondern durch Liebe konstituiert gedacht wird, und die gegenseitige Ergänzung der Ehegatten weniger an der Ergänzung der Arbeitsfunktionen als an den Kommunikations- und Verhaltensweisen festgemacht wird. Damit aber verklärt die Vorstellung von einer organischen Entfaltung des idealen Ehe- und Familienlebens dessen konkrete Realisierungschancen unter den Bedingungen des in den »Geschlechtscharakteren« gespiegelten, schwerlich harmonisierbaren Dualismus von Gesellschaft und Familie. Vor allem die Platzierung des mit seinen familieninadäquaten Männlichkeitsattributen aus der Welt in den ersehnten Hort der Familie heimkehrenden Mannes wirft gleichermaßen ideologische wie praktische Probleme auf. Am folgenreichsten hat die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« bis in unsere Zeit für das Verhältnis der Eltern zu den Kindern und damit für die kindliche Sozialisation gewirkt. Die frühkindliche Sozialisation fällt immer 47
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ausschließlicher der Mutter zu. Einzig die Mutter, wesensgemäß als Gefühl definiert, soll imstande sein – und de facto gibt es in der Regel für sie keine Alternative –, durch ihre Mutterliebe im Kinde die lebensnotwendigen Gefühlsbindungen zu erzeugen und damit die Existenz des Kindes zu stabilisieren. Die ausschließliche Verantwortung der Mutter für das Wohl der Kinder endet jedoch, sobald zumal für die Söhne das Training zur sozialen Durchsetzungsfähigkeit bzw. Realitätsgerechtigkeit auf dem Erziehungsplan steht. Jetzt tritt der Mann, wesensgemäß als Rationalität definiert, aktiv in die Vaterfunktion ein. An Stelle des mit der Mutter verbundenen Lustprinzips wirkt auf das Kind jetzt das mit dem Vater auftretende Realitätsprinzip ein. Dabei konzentriert sich die Aufmerksamkeit der väterlichen Autorität gemäß der zukünftigen Lebensaufgabe des Kindes stärker auf das männliche als auf das weibliche Kind. Die gesellschaftlich bedingte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Familie und Gesellschaft findet somit im familialen Erziehungsprozess in der »natürlichen« Mutter- und Vaterfunktion ihre Entsprechung und damit eine effiziente Form der generationsweisen Durchsetzung. Die Psychoanalyse, mit Freuds Theorie im Ursprung selbst Prototyp der zeitgenössischen Geschlechtspolarisierung, eröffnet für diesen Problemkomplex historisch relevante Interpretationsmöglichkeiten.78 Die zeitlich aufeinanderfolgende und als Kontrast konzipierte Einflussnahme zunächst der Mutter und dann des Vaters, ein von Parsons79 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit neuem Vokabular als notwendiges Funktionselement moderner Gesellschaft positiv bewertetes Auseinanderreißen der »expressiven« und »instrumentellen« Funktion im Sozialisationsprozess, hat offenbar das gesellschaftlich erwünschte Leistungsstreben der so erzogenen Männer stark gefördert. Legt man empirische Befunde der Gegenwart zugrunde, dann wohl nicht zuletzt deshalb, weil die von der Mutter ursprünglich vermittelte Emotionalität auf dem nur über das väterliche Vorbild erreichbaren Weg zu den gesellschaftlich anerkannten Werten mit Erfolg zurückgedrängt wurde.80 Unsere Ausführungen bezogen sich ausschließlich auf die in Deutschland beobachtbaren Phänomene. Nach dem zuletzt Gesagten aber ist mit den »Geschlechtscharakteren« ein für die bürgerliche Gesellschaft generell typisches 78 Die von der Psychoanalyse entscheidend beeinflusste moderne Sozialisationsforschung müsste für die Analyse dieser Zusammenhänge ebenso sozialgeschichtlich fruchtbar gemacht werden wie die von Freud vorgenommene Interpretation und theoretische Generalisierung klinischen Materials; höchst unterschiedliche Vorstöße in diese Richtung bieten E. Fromm u. M. Horkheimer, in: Fromm (wie Anm. 52), Bd. I; F. Weinstein u. G. M. Platt, The Wish to be Free. Society, Psyche, and Value Change, Berkeley 1969, bes. S. 137–196; Millet (wie Anm. 37), S. 233–268, mit ihrer historisch-gesellschaftlichen Deutung der Sexualtheorie von Freud. 79 Vgl. T. Parsons u. R. F. Bales, Family. Socialization and Interaction Process, London 1956, bes. S. 16 f., S. 45–54, S. 81–83. 80 Hinweise in diese Richtung bei F. Neidhardt, Schichtspezifische Vater- und Mutterfunktionen im Sozialisationsprozess, in: Soziale Welt, Jg. 16, 1965, S. 338–348.
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Funktionselement angesprochen. Stimmt das, so müssen Aussagesysteme, die den deutschen »Geschlechtscharakteren« vergleichbar sind, auch in bürgerlichen Gesellschaften anderer Nationalität anzutreffen sein. Viola Klein81 hat auf die am Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Verwissenschaftlichung und damit Internationalisierung erreichte Allgemeinheit und Ähnlichkeit der Charakterisierung von Mann und Frau aufmerksam gemacht. Im Zusammenhang der hier versuchten Interpretation wäre es darüber hinaus interessant, die für die Entstehungsphase wahrscheinlichen zeitlichen und kulturellen Unterschiede der bürgerlichen Geschlechterideologien herauszuarbeiten.82 Verwiesen wird man auf einen solchen Vergleich durch die Beobachtung, dass in Deutschland zu den Aussagen über ideale Weiblichkeit häufig vergleichende Bewertungen der Stellung der Frau in Frankreich und England gehören. Dabei schneidet immer die deutsche Frau wegen des zur höchsten Sittlichkeit emporgehobenen Familienlebens am besten ab, während die »galanten Damen« Frankreichs bis weit in das 19. Jahrhundert mit ausschließlich abfälligen Kommentaren bedacht werden. Um die keineswegs originelle Hypothese, dass Realität und Ideologie der bürgerlichen Familie ein Kernelement von bürgerlicher Gesellschaft sind, im Sinne unserer Analyse weiter fruchtbar zu machen, müssten die in der vorliegenden Untersuchung aufgeworfenen Fragen und häufig nur hypothetischen Antworten nicht nur detaillierter ausgearbeitet, sondern auch im Vergleich mit anderen Nationalitäten überprüft werden.
81 Klein (wie Anm. 11). 82 Interessant ist hierfür die Untersuchung englischer Verhältnisse von M. George, From »Goodwife« to »Mistress«. The Transformation of the Female in Bourgeois Culture, in: Science and Society, Jg. 37, 1973, S. 152–177, und die Studie amerikanischer Ideologien von B. Welter, The Cult of True Womanhood, 1820–1860, in: American Quarterly, Jg. 78, 1966, S. 151–174.
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» … eine Ulme für das schwanke Efeu« Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert*
Ein Sinnbild, der Natur entlehnt, stand im frühen 19. Jahrhundert hoch im Kurs, um sich einer grundlegenden, aber schwierigen Sozialbeziehung zu vergewissern. Frau und Mann seien zur Ehe aufeinander verwiesen wie Efeuranke und starker Baum. Ein irritierendes Bild: Denn dem Baum gereicht die immergrüne Pflanze allenfalls zur Zierde. Das kriechende Efeu aber würde Gefahr laufen, am Boden zertreten zu werden, könnte es sich nicht emporranken; wo es jedoch den Stamm in seiner ganzen Höhe zu erklimmen vermag, droht es, die Krone des Baumes zu überwuchern. Das Zitat entstammt dem 1855 veröffentlichten Buch »Aus dem Frauenleben«. Im zugehörigen Satzgefüge klingt Distanzierung an: »Nun wollte ich zwar einen Mann, wie ihn sich ein Mädchen denkt, männlich und fest, eine Ulme für das schwanke Efeu […]« Diese Worte sind Adele, der Tochter der verwitweten Frau Geheimen Oberfinanzrätin, in den Mund gelegt, die nach dem Willen der Schriftstellerin Ottilie Wildermuth als Pfarrfrau auf dem Lande kläglich scheitern musste, weil sie viel zu verzärtelt und romantisch erzogen worden war, um »dem Haushalt eine thätige, rüstige Frau« werden zu können. Als positives Gegenbild setzte die Autorin im selben Text die überaus tüchtige, entsagungsvolle und für ihre Mitmenschen sich aufopfernde Luise in Szene, um so den »junge[n] Fräulein aus der Stadt, die das Pfarrleben nur aus Voß’s Luise und aus ihren eigenen Illusionen kannten«, einen Einblick in das wirkliche Leben zu geben.1 Die im 19. Jahrhundert sehr erfolgreiche schwäbische Schriftstellerin Ottilie Wildermuth eroberte ihr Lesepublikum mit Geschichten aus dem Alltag, indem sie souverän gehandhabte normative Versatzstücke des bildungsbürgerlichen Ehe- und Familienlebens kombinierte mit lehrreichen Sentenzen und Detailbeobachtungen aus der sperrigen Alltagswirklichkeit. Dieses Erfolgsrezept wandten außer ihr zahlreiche andere Frauen an, die im 19. Jahrhundert versuchten, * Zuerst erschienen in: U. Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, Göttingen 1988, S. 85–117. 1 O. Wildermuth, Aus dem Frauenleben, Stuttgart 1855, Zitate S. 160, 213; zur Biographie vgl. A. Willms u. A. Wildermuth, Ottilie Wildermuths Leben. Nach ihren eigenen Aufzeichnungen zusammengestellt und ergänzt, Stuttgart o. J. (1888); V. Vollmer, Ottilie Wildermuth, Dichterin und Schriftstellerin, in: Schwäbische Lebensbilder, Bd. 5, Stuttgart 1950, S. 354–378; R. Wildermuth (Hg.), Ach, die Poesie im Leben … Ottilie Wildermuths Briefwechsel mit ihrem Sohn Hermann 1865–1877, Pfullingen 1979.
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mit schriftstellerischer Arbeit Geld zu verdienen. Doch anders als die ledigen, verwitweten oder geschiedenen Frauen, die Schriftstellerinnen wurden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, anders auch als diejenigen Frauen, die sich den Luxus des Schreibens als Zeitvertreib leisten konnten, war Ottilie Wildermuth in erster Linie die umsichtig tätige Gattin, Hausfrau und Mutter, ganz wie sie als Verkörperung einer Bestimmung so stereotyp im Bildungsbürgertum beschworen wurde. Als eine am Gelderwerb interessierte Autorin allerdings verließ Ottilie Wildermuth gleichzeitig eben diese ihr zugewiesene Rolle. Denn es stand im gebildeten Bürgertum einer Ehefrau nicht wohl an, ihren Ehemann in aller Öffentlichkeit zu unterstützen bei seiner Pflicht, für ein ausreichendes Familieneinkommen beruflich zu arbeiten. Auch sah sich ein Ehemann in einem eher unvorteilhaften Licht, wenn seine Ehefrau unabhängig von ihm öffent liche Anerkennung auf sich zog. Ottilie Wildermuth aber vollbrachte das Kunststück, als vorbildliche Hausfrau und erfolgreiche Schriftstellerin in Ehe, Familie und Gesellschaft schon zu ihren Lebzeiten – sie starb 1877 – voll akzeptiert zu werden. Bei genauerem Hinsehen weist auch die sonstige Lebensgeschichte von Ottilie Wildermuth einige hervorstechende Besonderheiten auf. Im Vergleich zu Pfarrerstöchtern zumal aus ländlichen Pfarrhäusern, die auch noch im 19. Jahrhundert zahlreich unter den Akademiker-Ehefrauen anzutreffen waren, konnte die 1817 geborene Ottilie in ihrem Elternhaus – der kulturbeflissene Vater war Oberamtsrichter in Marbach am Neckar – bessere und vielseitigere Bildungschancen nutzen. Zwar endete auch für sie der Schulbesuch mit der Konfirmation. Doch neben der Arbeit im elterlichen Haushalt und der Fortbildung in Tanz-, Näh- und Kochkursen fand sie weiterhin viel Zeit, Gelegenheit und Anregung, um innerhalb und außerhalb der Familie am Kulturgeschehen teilzunehmen. Als weiteres auffallendes Moment kommt hinzu, dass Ottilie erst mit 26 Jahren, also sehr spät, heiratete. Es war keine Liebesheirat nach langjähriger Verlobungszeit, doch eine von Ottilie gewünschte Ehe, die sie 1843 mit dem zehn Jahre älteren Johann David Wildermuth einging. Nicht der im Bürgertum durchaus übliche große Altersabstand der Eheleute war das Besondere an dieser Heirat, sondern das relativ hohe Alter der Braut und vor allem der Umstand, dass der Bräutigam eine für das 19. Jahrhundert seltene Karriere des sozialen Aufstiegs zurückgelegt hatte. Johann David stammte aus einer Kleinbauernfamilie und arbeitete sich über Lehrerseminar, Hauslehrerstellen, Universitätsstudium und Promotion schließlich hoch zum Gymnasialprofessor in Tübingen. Das Eheleben in Tübingen begann auch für Ottilie mit einer schnellen Folge von Schwangerschaften und Wochenbetten. Ihre Kinder brachte sie 1844, 1846, 1848, 1852 und 1856 zur Welt. Die 1846 und 1856 geborenen Söhne starben gleich nach der Geburt, die drei anderen Kinder überlebten die Eltern. Die 1844 geborene Tochter heiratete 1866 einen Pfarrer; die 1848 geborene Tochter blieb unverheiratet im Elternhaus; der 1852 geborene Sohn zog mit 14 Jahren auf das evangelisch-theologische Seminar in Urach und kehrte 1870 von dort 51
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ins Elternhaus zurück, um in Tübingen Medizin zu studieren. Zu den aufwendigen Haus- und Familienarbeiten Ottilies gehörten das sparsame Wirtschaften in einem überaus geselligen und offenen Haushalt ebenso wie das Knüpfen und Pflegen enger Familien-, Verwandtschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen. Eine wichtige Hilfe scheint es für Ottilie gewesen zu sein, dass ihre mit 51 Jahren verwitwete Mutter zur Tochter übersiedelte und von 1847 bis zu ihrem Tode 1874 in der Familie lebte. Johann David Wildermuth bezog als Gymnasiallehrer ein knapp bemessenes regelmäßiges Einkommen. Er gab zusätzlich Privatstunden und betätigte sich als Autor von Schulmaterialien, um die Haushaltskasse aufzubessern. Von ihrem Ehemann dazu ermuntert, begann Ottilie bereits 1847, kleine Texte zu schreiben und an Zeitschriften zu verkaufen. 1852 erschien ihr erstes Buch. Der überraschende Erfolg spornte sie an, in der neben Haushalt und Familie verbleibenden Zeit ihre schriftstellerische Arbeit fortzusetzen und auszudehnen.
1. Zwischenbemerkung Bunte Splitter aus Sinnbild, Trivialliteratur und dem Umriss einer Einzelbiographie erlauben es, das Thema »Ehepaare im Bildungsbürgertum« assoziativ zu umkreisen. Doch eine breit angelegte und methodisch reflektierte Analyse wäre erforderlich, um das für das Thema relevante, äußerst heterogene, reichhaltige Quellenmaterial systematisch zu erschließen und auszuwerten. Eine solche Analyse steht noch aus. Normen und »Essentials« des bürgerlichen Ehe- und Familienlebens waren Gegenstand einer anhaltend spannungsreichen öffentlichen Verständigung. Die lohnende Aufgabe ist bislang noch nicht angepackt worden, für Jahre und Jahrzehnte anhand von Texten der verschiedensten Literaturgattungen und anhand von bildlichen Darstellungen herauszuarbeiten, welches die jeweils ins Zentrum gerückten Harmonie-Hoffnungen und Disharmonie-Befürchtungen, welches die an die Adresse der einzelnen Frauen, Männer und die Gesellschaft insgesamt gerichteten Empfehlungen, Kritiken und Vorwürfe waren; welchem der Konfliktbereiche des ehelichen Lebens die diversen Regelungsvorschläge vornehmlich galten. Es ist zweifellos ein Fortschritt, wenn heute vorschnelle Charakterisierungen der Biedermeier-Zeit fragwürdig erscheinen. Doch eine überzeugende Neugruppierung und Zuordnung der auffallend demonstrativen Ehe- und Familienzentrierung dieser Epoche des Kulturschaffens steht nicht zuletzt deshalb noch aus, weil für die vorausgegangenen und nachfolgenden Epochen unsere Kenntnisse über das Thema Ehe und Familie allzu dürftig sind. Noch schlechter ist es um unser Wissen über die im Bildungsbürgertum tatsächlich gelebten Ehen bestellt, wenngleich dieses Defizit an Kenntnissen weitgehend überdeckt wird durch die verbreitete Neigung, ideologische Entwürfe als Wirklichkeit von Eheleben misszuverstehen. Auch hier dürfte eher die Über52
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fülle als der Mangel an Quellenmaterial das Forschungsunternehmen blockieren. Allerdings kommt hinzu – wie nicht zuletzt die derzeit anschwellende Flut deutscher Publikationen zur Geschichte des Bürgertums bestätigt –, dass auch der heutige Forschergeist weiterhin festhält an der mit Sicherheit falschen Prämisse, Ehe und Familie seien Nebenschauplätze in der Geschichte des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft.2 Selbst bei hohem Forschungseinsatz wird es allerdings kaum möglich sein, über Ehepaare im Bildungsbürgertum allgemein zutreffende Aussagen zu machen. Als erstrebenswertes Ziel galt schon immer, wenn überhaupt, dann in einer guten, ja glücklichen Ehe zu leben und eine schlechte, unglückliche Ehe tunlichst zu vermeiden. Doch die aus dieser Vorstellung abgeleiteten Maßstäbe und konkreten Erwartungen veränderten sich von Tag zu Tag und in der Perspektive eines langen Lebens und gingen nicht nur von kulturellem Milieu zu kulturellem Milieu, von Generation zu Generation, sondern auch zwischen Ehemann und Ehefrau weit auseinander. Zwar dürfte es gelingen, den sozialen Typus »bildungsbürgerliche Ehepaare« anhand von Merkmalen der Lebensverhältnisse und Lebensgestaltung genauer zu definieren und im Prozess des historischen Wandels zu charakterisieren. Doch die notwendige Suche nach einem solchen Typus muss zwangsläufig eine zentrale Wirklichkeit des Lebens in der Ehe verfehlen: dass nämlich eine Frau und ein Mann in ihrer Ehe immer auch versuchen, ihre ureigensten Möglichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche auszugestalten, und danach trachten, dabei die normativen, sozialen und wirtschaft lichen Rahmenbedingungen ihrer Ehe wo immer möglich als Gestaltungschancen zu nutzen und wo immer nötig als Hindernisse aus dem Weg zu räumen oder in ihrer Wirkung einzuschränken. Eben deshalb kann gerade die Singularität der Geschichten verschiedener Ehen und Eheleute historisch besonders aufschlussreiche Beobachtungen ermöglichen und uns dazu befähigen, das erarbeitete Konstrukt eines sozialen Typus »bildungsbürgerliche Ehepaare« auf die Vielfalt seiner historisch realisierten sozialen Konturen hin auszuleuchten. Meine folgenden Ausführungen können und sollen nicht ein vielschichtiges Forschungsgebiet mit bündigen Aussagen besetzen, sondern einzig und allein Forschungsmöglichkeiten andeuten. Die Mitteilungen basieren nicht bereits auf langwierigen, mit hinreichender Zeit und Konzentration ausgeführten Nachforschungen, sondern sind hervorgegangen aus einer Kombination von globalen Erkenntnissen, Einfällen beim zielgerichteten Herumlesen und dem probeweisen Balancieren auf möglichen Forschungspfaden. Meine Argumentation über einige Perspektiven des Themas sollte zunächst ausschließlich als Auftakt für eine Diskussion im kleinen Kreis spezialisierter Forscherinnen und Forscher 2 Es wäre einfach, die Prämisse und ihre Folgen an neueren Einzelforschungen und Überblicksdarstellungen zu demonstrieren, schwieriger aber, die Gründe für das hartnäckige Absehen von Ehe und Familie als zentralen Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft anzugeben.
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dienen. Nur zögernd habe ich den mündlichen Diskussionsbeitrag dem Automatismus der Verwertung überantwortet und ihm schließlich die vorliegende Form eines nachlesbaren Aufsatzes mit Werkstatt-Charakter aufgezwungen.3
2. »Häusliche Glückseligkeit« als Programm 1774 erschien anonym eine kurze Abhandlung »Über die Ehe«. Die Publikumsnachfrage scheint rege gewesen zu sein. Immerhin erhielt die Schrift 1775 eine zweite, 1792 eine dritte und 1793 eine vierte jeweils umgearbeitete und erweiterte Auflage. Erst posthum wurde bekannt, dass es sich bei dem Autor um den 1788 geadelten Theodor Gottlieb Hippel handelte, der als erfolgreicher Beamter und als Junggeselle 1796 im Alter von 55 Jahren in Königsberg gestorben war. Hippel stammte aus den ärmlichen Verhältnissen eines ländlichen Pfarrhauses und hatte, als er sein Ehebuch veröffentlichte, als Jurist in Königsberg bereits Karriere gemacht. Was Hippel über die Ehe mitteilte, entfernte sich von den herkömmlichen Lehren über den guten Hausvater und die gute Hausmutter. Statt sich ausführlich bei den Rechten und Pflichten der Eheleute aufzuhalten, erteilte Hippel den noch unverheirateten Jünglingen und jungen Mädchen Ratschläge und räsonierte darüber, dass der Zweck der Ehe sich wohl kaum im Zeugen und Aufziehen von Kindern erschöpfen könne, dass die Furcht vor Mesalliancen unsinnig und die Hierarchisierung der Ehefrauen gemäß Titel und Rang ihrer Ehemänner abwegig seien. Die Ehemänner ermahnte er, für den Witwenfall Vorsorge zu treffen, und provozierte vermutlich Einspruch mit seiner These, Wiederheirat nach dem Tod der Gattin komme Ehebruch gleich. Zwei ehrwürdige Grundpfeiler des Ehestandes, denen vor und nach Hippel auch zahlreiche andere Autoren des 18. Jahrhunderts nachdrückliche Worte widmeten, während ihrer im 19. Jahrhundert allenfalls noch beiläufig gedacht wurde, beschäftigten auch Hippel. Der erste Grundpfeiler war die eheliche 3 Diese Skizze knüpft an meinen früheren Aufsatz an: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393. Um die Vorläufigkeit meiner Skizze zu unterstreichen, verzichte ich auf einen gewaltigen Anmerkungsapparat. Von der neueren Literatur zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, zum Bildungsbürgertum, zur Familien- und Frauengeschichte, habe ich besonders viel profitiert von U. Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, und H. Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1982. Als Quellenmaterial dienten mir vor allem rund 50 Autobiographien; die wohl noch ergiebigeren Briefsammlungen und die Unterhaltungsliteratur musste ich leider unberücksichtigt lassen.
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Treue. Sie sei verbindlich für beide Eheleute, allerdings: »Wenn ein Mann ungetreu ist, so ist es unrecht, wenn es aber eine Frau thut, so ist es unnatürlich und gottlos«, denn die Frau würde ihrem Manne, der sie doch aus der Sklaverei der Eltern befreit habe, fremde Kinder aufbürden und ihm so an seinem Stande und seinem Eigentum schaden. Bei dem zweiten Grundpfeiler war der 53-jährige Hippel nicht mehr derselben Überzeugung, die der 33-jährige noch mit Verve vertreten hatte. 1774 stand für ihn außer Frage, dass das Hausregiment allein dem Manne gebühre. »Es ist unnatürlich, daß die Weiber regieren und unanständig, wenn sie es zeigen.« Dem Weibe seien in diesem Punkt die Grenzen gewiesen durch Schwangerschaften, Stillgeschäfte und die »monatlichen Erinnerungen der weiblichen Schwachheiten«.4 Offenbar unter dem Eindruck der Französischen Revolution dachte Hippel 1792 öffentlich »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber« nach und revidierte in seinem Ehetraktat das Kapitel über das Hausregiment. Jetzt plädierte er für gleiche Ausbildung und gleiche Rechte für Männer und Frauen und für die Aufhebung jeglicher Form von Vormundschaft über Frauen, also auch und in erster Linie von ehemännlicher Vormundschaft. Einer solchen an der Hausvater-Gewalt ansetzenden radikalen Neuordnung der Familienverhältnisse verweigerten selbst republikanisch gesonnene Zeitgenossen ihre Zustimmung. Einer von ihnen war der glücklose Staatsdiener und erfolgreiche Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796). Auch er versuchte, auf eine Verbesserung der Ehe- und Familienverhältnisse des mittleren Standes hinzuwirken. Dieses Ziel erhellt aus seiner berühmtesten Schrift »Über den Umgang mit Menschen« (1788) ebenso wie aus seinen belehrenden Romanen und Briefen, die er zwischen 1781 und 1794 in schneller Folge auf den Markt brachte, um damit u. a. auch den Lebensunterhalt für sich, seine 1773 geehelichte, drei Jahre ältere Frau und seine 1775 geborene Tochter zu verdienen. Bei Knigge heißt die anempfohlene ideale Qualität des Ehe- und Familienlebens »häusliche Glückseligkeit«, »frohe Ehe«, »häuslicher Friede«, »Glück eines ruhigen häuslichen Lebens«, »die stillen häuslichen Freuden«. Er erwartet den Sinn für »häusliche Glückseligkeit« nur im mittleren, nicht aber im vornehmen Stande, wo die Eheleute aneinander vorbeilebten.5 Auch im mittleren Stande sieht Knigge jedoch die Möglichkeit für »häusliche Glückseligkeit« an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden. Die wichtigste Vorbedingung sei, dass Braut und Bräutigam miteinander harmonieren und in der Ehe ein auf »gegenseitige Hochachtung, Pflicht, Bedürfniß und Dienstleistung gestütztes Band«6 knüpfen könnten. Denn »eine 4 Th. G. v. Hippel, Über die Ehe, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von W. M. Faust, Stuttgart 1972, Zitate S. 39, 48. 5 A. Freiherr v. Knigge, Sämtliche Werke, in Zusammenarbeit mit E. O. Fehn, M. Grätz, G. v. Hanstein, C. Ritterhof, hg. v. P. Raabe (fotomech. Nachdruck der Erstausgabe), Nendeln/ Liechtenstein 1978. 6 Knigge (wie Anm. 5), Bd. 2, Der Roman meines Lebens in Briefen herausgegeben, Theil 4, (1783) neue Paginierung, S. 315.
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Existenz herber Aufopferung«7 drohe in einer Ehe, in der nicht die freie Wahl des Herzens die Ehe gestiftet habe und nicht wechselseitiges Geben und Nehmen die Eheleute verbinde. Den im Fieber der leidenschaftlichen Liebe geschlossenen Ehebund hält Knigge allerdings für ebenso gefährdet wie das über die Köpfe der Kinder hinweg durch deren Eltern getroffene Ehearrangement. Dagegen sieht er weder in Mesalliancen noch im niedrigen Heiratsalter eine prinzipielle Gefahr für das Eheglück. In der Ehe müsse in jedem Fall respektiert werden, dass der Mann »von der Natur und der bürgerlichen Verfassung bestimmt ist, das Haupt, der Regent der Familie zu seyn …« Er habe die Pflicht zu schützen und die Gattin die Pflicht, seinen Schutz zu suchen. Er müsse dafür sorgen, dass jeder in seinem Wirkungskreis seine Pflichten pünktlich erfülle. Er habe die höchste Vollmacht für die Vermögensverwaltung. Beide Eheleute müssten gemeinsam auf eine gute, sparsame Hauswirtschaft hinwirken, denn diese sei die Grundlage des häuslichen Friedens, das Schuldenmachen dagegen dessen Ruin. Als Krisenbereich der »häuslichen Glückseligkeit« könnte sich, »wenn die erste blinde Liebe verraucht ist«, auch das tägliche Zusammenleben entwickeln. Zur Vorbeugung empfiehlt der Freiherr u. a. folgende Vorkehrung: »Sehr gut ist es desfalls, wenn der Mann bestimmte Berufs-Arbeiten hat, die ihn wenigstens einige Stunden täglich an seinen Schreibtisch fesseln oder ausser Hause rufen; wenn zuweilen kleine Abwesenheiten, Reisen in Geschäften und dergleichen, seiner Gegenwart neuen Reiz geben. Ihn erwartet dann sehnsuchtsvoll die treue Gattin, die indeß ihrem Hauswesen vorgestanden. Sie empfängt ihn liebreich und freundlich; die Abendstunden gehen unter frohen Gesprächen, bey Verabredungen, die das Wohl ihrer Familie zum Gegenstande haben, im häuslichen Cirkel vorüber und man wird einander nicht überdrüssig.«8
Jede ausschließliche eheliche Okkupation des Herzens sei als unerträgliche Sklaverei tunlichst zu vermeiden.9 Freunde und Freundinnen müssten immer willkommen bleiben. Allerdings sei Vorsicht geboten, damit die eheliche Treue keinen Schaden nehme und insbesondere jegliche überaus verwerfliche Ausschweifung von seiten der Gattin vermieden würde. Nicht durch Eifersucht, sondern durch »gegenseitiges uneingeschränktes Zutrauen« und generelle Vermeidung von »Ueppigkeit, Wollust, Weichlichkeit und Schwelgerey« lasse sich die eheliche Treue schützen.10 Knigge hat mit seinen Romanfiguren in immer neuen Variationen durchgespielt, wie verschlungen die Wege und Umwege zum »häuslichen Frieden« 7 Knigge (wie Anm. 5), Bd. 10, Über den Umgang mit Menschen, 5. Aufl., 1796, Theil 2, Kap. 3: Über den Umgang unter Eheleuten, neue Paginierung, S. 284–332 [identisch mit 1. Aufl. 1788, Theil 1, Kap. 4], nachfolgende Zitate S. 284, 303, 295 f. 8 Ebd., S. 282. 9 Ebd., S. 302. 10 Ebd., S. 306, 305.
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sind. Dabei lässt er übrigens Frauen ebenso häufig als Fluch wie als Hort der »häuslichen Glückseligkeit« auftreten. Sein Interesse gilt zwar vornehmlich den Lebensentwürfen von Männern, doch – hier ganz und ausdrücklich ein Anhänger Rousseaus – vergisst er darüber nicht, auch die Heranbildung der Frauen zu überdenken. Seine Erziehungsempfehlungen zielen für Knaben ebenso wie für Mädchen in erster Linie auf Charakterbildung. Bei Mädchen käme es im Hinblick auf deren zukünftige Position und Aufgaben in der Ehe darauf an, einen »weiblichen Charakter« auszubilden, in welchem Tugend, Unterwürfigkeit und Sanftmut ebenso zur Natur geworden seien wie Pünktlichkeit, Ordnung, Reinlichkeit, Sparsamkeit und Geduld.11 Für den Aufklärer Knigge war es selbstverständlich, dass die häusliche Glückseligkeit in der bürgerlichen Gesellschaft auf strikter, herrschaftlich organisierter Arbeitsteilung zwischen den einander in Liebe zugewandten Geschlechtern beruhe und dass dieses Ehearrangement tunlichst schon in der Bildung der kindlichen Charaktere planvoll herbeigeführt werden sollte. Nicht Hippel, sondern Knigge formulierte die für seine Zeitgenossen und die nachfolgenden Generationen offenbar unmittelbar einsichtigen Ehelehren samt den dazu passenden Charakter- und Erziehungsvorstellungen. Allerdings hatte er ganz offensichtlich unterschätzt, in welchem Maße der gebildete Bürger im 19. Jahrhundert um seiner selbst und seiner Kinder willen dazu übergehen würde, außer der Herzensbildung auch die Verstandesbildung seiner Braut hochzuschätzen. Noch deutlicher als Knigge dürfte Christoph Meiners, Professor in Göttingen und Polyhistor (1747–1810), seinen bürgerlichen Zeitgenossen aus der Seele gesprochen haben, wenn er 1800 mit Blick auf die Französische Revolution und Seitenhieben auf Mary Wollstonecraft und Theodor Gottlieb Hippel zur Forderung nach gleichen bürgerlichen Rechten für Frauen und Männer ausführte, »daß man entweder die Männer zu Weibern machen, oder die Weiber von ihrer gewöhnlichen und natürlichen Bestimmung ganz abbringen müßte, wenn sie gleiche Rechte mit den Männern ausüben, gleiche Ämter verwalten, gleiche Arbeiten verrichten sollten. Was würde aus der menschlichen Gesellschaft, was aus dem Glücke von Familien werden, wenn die Weiber, welche Kinder gebären, säugen, und erziehen, so wie das innere Hauswesen leiten sollen, wenn diese, Häuser, Kinder und Gesinde verlassen, und mit den Männern entweder Volksversammlungen besuchen, oder in Gerichten und anderen Collegien sitzen, oder gar in den Krieg ziehen wollten?«12
Wo Meiners praktische Probleme ins Feld führte, bemühten andere Diskutanten Prinzipien, um sicherzustellen, dass die patriarchalischen Ehe-, Familienund Geschlechterverhältnisse vom Umbau zur bürgerlichen Gesellschaft nicht allzu stark in Mitleidenschaft gezogen würden. Doch die Erörterung dieser 11 Vgl. Knigge (wie Anm. 5), Bd. 16, Briefe über Erziehung, 3. Brief, neue Paginierung, S. 54–65, und Bd. 17, Journal aus Urfstädt, neue Paginierung, S. 46–68, 549–555. 12 Ch. Meiners, Geschichte des weiblichen Geschlechts, 4. Theil, Hannover 1800, S. 314 f.
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Alternativen sozialer Gestaltung beherrschte keinesfalls allein die öffentliche Ehe-Diskussion. Vielleicht noch stärker dürften zunächst die empfindsamen, dann die romantischen Texte die Diskussion beeinflusst haben. Die gebildeten Kreise reagierten mit leidenschaftlicher Begeisterung oder Abwehr auf diese literarischen Versuche, die Liebe zwischen den Geschlechtern als beherrschende Macht neu zu konzipieren und damit offenbar kollektive Sehnsüchte und Ängste im Bildungsbürgertum zu thematisieren. Das ebenfalls neue Programm der bürgerlichen Gatten- und in deren Gefolge auch Elternliebe erlaubte dieser aufwühlenden Liebes-Macht, nur verstümmelt ihre neue Form zu finden. Bald nach der Wende zum 19. Jahrhundert verlor die öffentliche Auseinandersetzung über die bürgerliche Privatsphäre merklich an Aufgeregtheit. Das Programm der »häuslichen Glückseligkeit« schiffte in den ruhigeren Gewässern der nun erlangten bürgerlichen Gewissheit über die Richtigkeit und besondere Vorbildlichkeit der deutschen Ehe- und Familienverhältnisse. Diese waren nun so eingerichtet, dass nur noch Frauen und nicht mehr Männer von immer neuen und immer spezialisierteren Ratgebern darüber unterrichtet wurden, wie die beste Ausgestaltung dieser Verhältnisse zu erreichen sei.13
3. Eheleute und Kinder Das Programm hieß seit dem späten 18. Jahrhundert Liebes- oder zumindest Neigungsheirat. Was immer dabei unter Liebe verstanden worden sein mag, ganz offensichtlich ist, dass gebildete Eltern es nicht mehr für erstrebenswert hielten, ihre Tochter oder gar ihren Sohn in eine Ehe hineinzuzwingen. Einzig die Zustimmung der Eltern zur Heirat und zwar vor allem die der Braut-Eltern blieb weiterhin wesentlich. Die Töchter scheinen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer besser gelernt zu haben, auch ihre eigenen Vorstellungen bei der Entscheidung zur Ehe mit ins Spiel zu bringen und sich nicht mit dem ersten besten Heiratskandidaten zufrieden zu geben. Dennoch blieb ihre Wahlfreiheit deutlich beschränkt im Blick auf die vielbeschworene Gefahr, wegen zu hoch geschraubter Ansprüche schließlich das schreckliche Los der unversorgten »alten Jungfer« teilen zu müssen. Diese Zwangslage pervertierte für viele junge Frauen das Programm der Liebesheirat, und in den frühen 1840er Jahren erhoben radikale Kritikerinnen öffentlich den Vorwurf, junge bürgerliche Frauen zur Versorgungsehe zu zwingen, indem man ihnen die Alternative eines eigenen, standesgemäßen Erwerbs verwehre, heiße nichts anderes, als Frauen zur Pros13 P. Borscheid, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: ders. u. H. J. Teuteberg (Hg.), Ehe, Liebe, Tod, Münster 1983, S. 112–134, zur Liebes-Programmatik bes. S. 112–121; vgl. für die spätere Zeit F. Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 20–63.
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titution zu zwingen. Auch literarisch wurde das Leiden an einer nicht aus Liebe geschlossenen Ehe vor allem aus der Sicht der Frau dargestellt.14 Die Söhne blieben im Bildungsbürgertum sehr viel kürzere Zeit unter der direkten Kontrolle der Eltern als die Töchter. Noch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam es für einen Sohn oft schon mit 14 Jahren zur Trennung vom Elternhaus, wenn der Besuch des Gymnasiums in einer größeren Stadt die Unterbringung in einem Internat oder einer Kostfamilie erforderlich machte. Größere Bewegungsfreiheit erhielten die Söhne spätestens mit dem Besuch der Universität. Konkrete Heiratspläne schmiedeten sie im allgemeinen erst, wenn sie eine sichere berufliche Position erreicht hatten. Auf der nun akuten Suche nach einer Braut erinnerten sich dann einige eines jungen Mädchens aus dem Heimatort oder Verwandtenkreis, häufiger noch einer Schwester des Schul- oder Studienfreundes. Glaubt man den Autobiographien, so begannen viele überhaupt erst dann, wenn sie am Ziel ihrer beruflichen Wünsche angelangt waren, Ausschau zu halten nach einer passenden Braut, um die schnell Erwählte nach überaus kurzer Werbe- und Verlobungszeit zur Begründung des eigenen Hausstandes heimzuführen. Lange Verlobungszeiten waren offenbar sehr selten und bedeuteten für die Braut ein extrem hohes Risiko. War sie beim Scheitern der Heiratspläne bereits »überaltert«, hatte sie alle Heiratschancen verspielt. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich Frauen darauf einlassen, angesichts besserer Berufsmöglichkeiten dieses Risiko neu zu kalkulieren. In jedem Fall nutzte der Mann auf Freiersfährte die Gelegenheit, seine insgeheim erkorene Braut in ihrer häuslichen Umgebung zu beobachten. Dagegen hatten nur wenige Frauen ihren zukünftigen Ehemann vor der Ehe in seinem Elternhaus oder an seinem Arbeitsplatz gesehen. Eine Frau wird sich daher bei ihrer Entscheidung über einen Heiratsantrag in hohem Maße dem Urteil ihres Vaters oder Bruders anvertraut haben müssen. Die skizzierten Momente des Zustandekommens einer Liebesheirat rückt der folgende autobiographische Bericht eindrucksvoll zusammen. Der sechsunddreißigjährige Wilhelm Foerster, seit 1865 Direktor der Berliner Sternwarte, heiratete im April 1868 die zwanzigjährige Tochter von Geheimrat Paschen, des Leiters der mecklenburgischen Landesvermessung in Schwerin. Foerster hatte Paschen 1864 und 1867 bei internationalen Verhandlungen zur Vereinheitlichung von Messeinheiten kennengelernt. 1867 war Paschen dazu in Begleitung seiner zwei Töchter erschienen. Foerster schrieb 1910 über seine Brautwerbung: Ich traf »noch vor dem Ende des Jahres 1867 den Entschluß, mich um die jüngere dieser beiden Töchter zu bewerben, die ich zuerst schon bei einem Besuche im Hause ihres Vaters in Schwerin im Jahre 1865 in ihrem 17. Lebensjahr kennen gelernt hatte. Seitdem hatte mir wohl ihr Bild in meinen Zukunftsgedanken vorgeschwebt, aber 14 Diese Ansicht vertraten auch gemäßigtere gebildete Frauen; interessant hierzu: FrauenSpiegel. Vierteljahresschrift für Frauen. Unter Mitwirkung der geachtetsten Schriftstellerinnen hg. v. L. Marezoll, Bd. 1, 1840, S. 213–231: Ernestine, Welches sind die natürlichen Vertreter der Rechte der Frauen?
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die ersten beiden Jahre nach der definitiven Übernahme der Leitung der Sternwarte (1865–67) waren so erfüllt und beladen gewesen mit Arbeit und Verantwortung, daß mir die Ruhe für persönliche Entschließungen und die Muße für deren Weiterführung gänzlich fehlte … Ein mehrtägiger Besuch in ihrem Elternhause im Oktober 1867 erhöhte meine innige Zuneigung und mein tiefes Vertrauen zu ihr und ihren Eltern bis zu so froher Zuversicht, daß ich, nach Berlin wegen drängender Arbeit zurückgekehrt, für das Weihnachtsfest um die Zustimmung der Eltern zu meinem erneuten Besuche und zur Bewerbung um die Hand ihrer Tochter bitten konnte.«15
Von welcher Beschaffenheit der ideale Bräutigam oder die ideale Braut sein sollten, darüber wurden die schriftlichen Mitteilungen im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Maße einsilbiger, wie sich die Wünsche ausdifferenzierten. Der Wunschkatalog, den Justus Möser 1774 aufschrieb, war bündig und schlicht: »Ich wünsche eine rechtschaffene christliche Frau, von gutem Herzen, gesunder Vernunft, einem bequemen häuslichen Umgange und lebhaftem, doch eingezogenem Wesen, eine fleißige und emsige Haushälterin, eine reinliche und verständige Köchin und eine aufmerksame Gärtnerin.«16 Alle diese Merkmale der tüchtigen Hausfrau dienten auch noch im 19. Jahrhundert zur Abgrenzung vom eheuntauglichen Luxusweib. Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert aber rückten die Hochschätzung von Bildung, die zu mehr als nur zur oberflächlichen Konversation befähigte, und die Hochschätzung der Bereitschaft, auf die Bedürfnisse des Gatten und der Kinder verständnisvoll einzugehen, immer mehr in den Vordergrund. In den Augen einer Frau und ihrer Eltern musste ein Mann, um als Bräutigam akzeptabel zu sein, in erster Linie für ein sicheres Einkommen sorgen können. Ein Jünger der brotlosen Kunst konnte sich nur geringe Heiratschancen ausrechnen.17 Dagegen half eine anerkannte Laufbahn, den Makel der Schüchternheit und Unbeholfenheit ebenso auszugleichen wie den eines sehr hohen Lebensalters. Ein Witwer im vorgerückten Alter mit mehreren kleinen Kindern hatte im gesamten 19. Jahrhundert noch gute Chancen, eine zwanzigjährige Frau für seine zweite Ehe zu gewinnen. Mann und Frau wurden im Übrigen gleichermaßen darüber belehrt, dass weder Vermögen, Schönheit, noch Liebe allein als wertbeständiges Heiratsgut zu betrachten seien und dass eine schwache Gesundheit und ein eingeschränktes Arbeitsvermögen eine schlechte Basis für die Gründung einer Familie abgeben würden. De facto blieb es zwar selbst für einen höheren Beamten, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum in der Lage war, ohne eigenes Vermögen und allein mit seinem Gehalt die von ihm erwartete standesgemäße Lebenshaltung einer mehrköpfigen Familie zu finanzieren, immer noch überaus interessant und karrierefördernd, eine Frau mit Vermögen zu heiraten.18 Doch die Erheira15 16 17 18
W. Foerster, Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen 1832–1910, Berlin 1911, S. 92 f. Zit. nach H. Mitgau (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 155. Dazu interessant Sengle (wie Anm. 13), Bd. 3, S. 144–146. Näheres bei H. Henning, Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung 1860–1914, Wiesbaden 1973, bes. S. 301.
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tung von Vermögen gehörte nicht mehr zum Programm der Liebesheirat. Am Ende des 19. Jahrhunderts nahmen christliche Bürger die jüdische Geschäftemacherei beim Heiraten giftig aufs Korn, und Juden selbst begannen, ihre jüdischen Mitbürger aufzufordern, weniger die materiellen Interessen als die Zuneigung beim Heiraten zum Zuge kommen zu lassen.19 Aber trotz aller Liebe, die das Heiraten regieren sollte, wurde auch im christlichen Bürgertum fast ausschließlich allein innerhalb des bildungsbürgerlichen Milieus geheiratet. Vom Milieu her dürften Braut und Bräutigam daher einander relativ vertraut gewesen sein, auch wenn sie sich nicht bereits seit Jahren kannten. Doch der häufig extreme Altersunterschied markierte zumindest zu Beginn einer Ehe eine beträchtliche Distanz zwischen den Eheleuten. Adelheid von Nell kam mit ihrer Auswertung der niedersächsischen Geschlechterbücher für die als »weitere Bildungsschicht« zusammengefasste Gruppe zu folgenden Aussagen über das Heiratsalter:20 Das durchschnittliche Heiratsalter der Männer bei der Erstehe schwankte im Zeitraum von 1700 bis 1914 zwischen knapp 31 und gut 33 Jahren. Die niedrigsten Werte ergaben sich für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, die höchsten für die Zeit von 1850 bis 1874. Demgegenüber lag das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen in der Erstehe im 18. Jahrhundert bei gut 22 Jahren; es stieg jedoch im 19. Jahrhundert fast kontinuierlich an und erreichte schließlich in der Phase 1900–1914 fast 27 Jahre. Wahrscheinlich hängt dieses deutliche Hinauszögern der Ehe bei den Frauen direkt zusammen mit deren vermehrten Bildungs- und Berufsanstrengungen, der damit eröffneten Alternative zur Ehe und vielleicht auch mit der Bereitschaft zu einem größeren Verlobungsrisiko. Bei einer Umgruppierung dieser Zahlen für die Erstehen tritt die Entwicklung der Heiratsalter noch deutlicher zutage und verweist vor allem auf den überraschenden Zuwachs von Frauen, die mit über 30 Jahren erstmals heiraten. Prozentsatz der Eheschließungen (Erstehe) unter 25 Jahre Männer
über 30 Jahre
Frauen
Männer
Frauen
1700–1749
7
78
56
5
1750–1799
6
74
65
6
1800–1849
3
64
57
14
1850–1899
4
57
58
17
19 M. A. Kaplan, For Love or Money. The Marriage Strategies of Jews in Imperial Germany, in: Women and History, Nr. 10, 1985, S. 121–163. 20 A. v. Nell, Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart, Diss. phil. Bochum 1973, S. 69, 72–77.
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Um diese Durchschnittsberechnungen zu konkretisieren und einige Möglichkeiten der Dateninterpretation anzudeuten, sei mit dem Spielmaterial eines viel zu kleinen Samples, welches die Geburts-, Sterbe- und Heiratsdaten einer Gruppe von Bildungsbürgern (Beamte, Freie Berufe, Kaufleute, Unternehmer) erfasst, ein wenig experimentiert.21 Für das zumeist späte 18. Jahrhundert enthält das Sample insgesamt nur neunzehn Heiraten. Der Bräutigam war in zehn dieser Fälle zehn bis zwanzig Jahre älter als seine Braut, in vier Fällen fünf bis sieben Jahre und in drei Fällen zwei bis vier Jahre. Zweimal gab es einen Altersvorsprung der Braut von sechs bzw. sieben Jahren. Die 93 Heiratsfälle aus der Zeit von 1800 bis 1914 zeigen in nur sechs Fällen einen Altersvorsprung der Braut. Der extreme Altersvorsprung des Mannes von zehn und mehr Jahren kommt zwar mit 34 Fällen immer noch häufig vor, ist aber seltener vertreten. Gleichaltrig oder nur bis zu fünf Jahre älter ist der Mann in 25 Fällen, sechs bis neun Jahre älter in 28 Fällen. Das soziale Gewicht dieses Altersabstandes lastete umso schwerer auf dem Verhältnis der Ehegatten, als im 18. und auch noch im frühen 19. Jahrhundert die Mehrzahl der Frauen mit 17 bis 22 Jahren in die Ehe kam. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich das typische Heiratsalter mehr auf das 22. bis 24. Lebensjahr der Frau.22 Das Bedürfnis, sich eine Braut als noch kindliche Unschuld, als Engel, als erziehbares und anpassungsfähiges Mädchen vorzustellen, den Bräutigam aber als den erfahrenen, Schutz und Autorität verheißenden erwachsenen Mann und Lehrer, hat also möglicherweise im 19. Jahrhundert abgenommen und Raum gegeben für eine Ehe als Zusammenschluss zweier bereits erwachsener, wenngleich immer noch altersmäßig hierarchisch geordneter Menschen. Aber dennoch, in einer wohlangesehenen Ehe hatte der Mann bedeutend älter zu sein als seine Frau. Diese Norm scheint im späten 18. Jahrhundert im Bildungsbürgertum so selbstverständlich geworden zu sein, dass im 19. Jahrhundert schon ein geringer Altersvorsprung der Frau eine Diskussion über den Regelverstoß auslöste.23 Die noch während des ganzen 19. Jahrhunderts zu beobachtende Neigung von Witwern fortgeschrittenen Alters, sich in der zweiten Ehe mit sehr viel jün21 Die biographischen Daten wurden zusammengestellt aus: Chr. Ferber, Die Seidels. Geschichte einer bürgerlichen Familie, Stuttgart 1979; H. Mitgau, Gemeinsames Leben, Bd. 1, Göttingen 1955, Bd. 2, Hannover 1948, Bd. 3, Göttingen 1973; P. E. Schramm, Neun Generationen. Zweihundert Jahre deutsche Kulturgeschichte im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648–1948), 2 Bde., Göttingen 1963 u. 1964; außerdem: Biographien von Bildungsbürgern, sofern Heiratsjahr und Lebensdaten der Frauen angegeben waren, aus: O. Klose u. E. Rudolph (Hg.), Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 1, Neumünster 1970. Meine Daten beziehen sich fast ausnahmslos auf Norddeutschland. Eine süddeutsche Gegenprobe wäre erforderlich. 22 Anders als bei v. Nell sind hier nicht nur Erstehen berücksichtigt. 23 Der Altersvorsprung von nur zwei Jahren (er = 26, sie = 28) war Thema einer Erzählung in: Frauen-Spiegel, 1840, Bd. 2, S. 1–68; als die Liebe schließlich die Ausnahme von der Regel zuließ, verkündete die Braut im Happy End: »Du sollst mein Herr sein […] Fest wie das treue Epheu will ich mich an Dich schmiegen.«
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geren Frauen zusammenzutun, lässt auf Jungbrunnen-Erwartungen schließen. Doch in der Hauptsache dürfte mit dem höheren Alter des Mannes das leidige Problem der Hausvater-Autorität bearbeitet worden sein. Wir wissen wenig darüber, wie sich die tatsächliche Ausübung und Akzeptanz der noch im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 nachhaltig verfestigten hausväterlichen Autorität entwickelt hat, von der Riehl 1852 behauptete, »der frei geschlossene, die natürliche Superiorität des Mannes über das Weib ausgleichende Liebesbund« hätte im »modernen Bürgertum« deren Härten abgeschliffen.24 Gewalt in der Ehe gegen die Ehefrau, soviel stand im 19. Jahrhundert offenbar fest, hatte im bürgerlichen Milieu die Öffentlichkeit zu scheuen. Im übrigen wurde von der Mutter zur Tochter und auch über Ratgeber-Literatur den werdenden Ehefrauen immer wieder nahegelegt, nur ja den Schein der Unterwerfung vor allem vor Kindern und familienfremden Personen zu wahren und sich ansonsten durchaus listenreich der Autorität zu entziehen. Ein Beispiel solcher ehelichen Alltagskommunikation sei vorgeführt. Der dreißigjährige Pfarrer Heinrich Alexander Seidel hatte 1841 die achtzehnjährige Johanne Römer geheiratet. Nach zehn Ehejahren bewältigte Johanne einen ländlichen Pfarrhaushalt mit Ehemann, vier Kindern, drei Pensionären und einem Hauslehrer. 1852 wechselte der Ehemann auf ein Pfarramt in Schwerin. Von dort schlägt er seiner Frau brieflich vor, sie solle nach der Übersiedlung ein von der Frau Pastorin empfohlenes Dienstmädchen übernehmen. Sie verzichtet dankend auf das Angebot; er aber insistiert: »Habe mir keine ungehörlichen Bedenklichkeiten.« Daraufhin willigt sie ein. Das Dienstmädchen wurde im März eingestellt, aber schon im Herbst wieder entlassen.25 Das ungleiche Heiratsalter erfüllte noch eine weitere Funktion. Es stellte nicht zuletzt sicher, dass ein Mann auch im hohen Alter auf die Hilfe einer Ehefrau rechnen konnte und nicht als Witwer sterben musste. Zwar erhöhten sich die Überlebenschancen der jungen Ehefrauen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in dem Maße, wie sie sich seltener der Gefahr des Kindbettes auszusetzen hatten. Doch im 18. und auch noch im frühen 19. Jahrhundert war es ganz offensichtlich auch im Bürgertum üblich gewesen, dass ein Mann bereits wenige Monate nach dem vorzeitigen Tod seiner Gattin eine zweite oder dritte Ehe einging. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts scheint es häufiger geworden zu sein, dass ein Witwer lange Trauerjahre durchlebte. Während dieser Zeit nahm er die liebevollen Hilfsdienste einer unverheirateten Schwester, Schwägerin, Tante oder Mutter in Anspruch, um seine Kinder und seinen Haushalt versorgen zu lassen, solange eine Gattin fehlte. Entschloss sich der Witwer schließlich erneut zur Heirat, dann bevorzugte er als Braut eine mehr als zehn Jahre jüngere Frau. Die Wirksamkeit dieser Altersversorgung für Männer der gebildeten Kreise zeigt sich nicht zuletzt daran, dass rund drei Viertel aller in meinem Sample ge24 R. (W. H. Riehl), Die Frauen. Eine social-politische Studie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. 3, 1852, S. 236–296, Zitat S. 259. 25 Ferber (wie Anm. 21), S. 43 f.
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zählten Frauen lange Jahre der Witwenschaft durchlebten und in der Hälfte aller Fälle beim Tode ihres Mannes nicht älter als fünfzig Jahre waren. Das Heiratsalter der Frauen war im Bildungsbürgertum im Vergleich zu Bauern und Arbeitern extrem niedrig. Ganz offensichtlich wurde im Bürgertum das sonst als wirksamstes Regulativ der Familienplanung eingesetzte hohe Heiratsalter der Frauen niemals geschätzt. Im 19. Jahrhundert praktizierten bürgerliche Ehepaare ebenso wie die des Adels dennoch als erste effiziente Familienplanung. Sie verstanden es, die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu senken und mit nur geringer zeitlicher Verzögerung die Zahl der Geburten zu reduzieren. Adelheid von Nell errechnete für die bürgerliche Bildungsschicht – und hier speziell für diejenigen Ehen, in denen überhaupt Kinder geboren wurden, die Ehefrau bei der Heirat noch nicht 30 Jahre alt war und in dieser Ehe bis zu ihrem 45. Lebensjahr lebte –, dass bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dort im Durchschnitt 6,8 Kinder zu Welt kamen. Diese Zahl sank im Laufe des 19. Jahrhunderts und beschleunigt nach der Jahrhundertmitte, so dass um die Wende zum 20. Jahrhundert ein Durchschnitt von 2,8 Geburten pro Ehe erreicht war. Von allen geborenen Kindern starben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch knapp ein Viertel, ohne das Alter von 15 Jahren erreicht zu haben, bis 1824 dann nur noch ein Sechstel. Allerdings stieg danach die Säuglings- und Kindersterblichkeit auch in den Familien der bürgerlichen Bildungsschicht erneut wieder leicht an, bevor sie mit anhaltendem Erfolg seit den 1880er Jahren weiter abgesenkt werden konnte.26 Ehefrauen, die mit etwa 22 Jahren geheiratet hatten und im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts selten mehr als drei Kinder gebaren, waren also bereits im Alter von 30–35 Jahren über die Zeit des Gebärens, Nährens und Bemutterns von Kleinkindern hinausgewachsen. Noch um 1800 beanspruchten dagegen die häufig sechs und mehr Geburten die »Hausfrau, Gattin und Mutter« sehr viel intensiver und länger. Umgekehrt ist allerdings das Sinken der Säuglings- und Kindersterblichkeit auch ein Indiz dafür, dass vom Stillen bis zur allgemeinen Pflege und Krankenpflege der Aufwand, mit dem das einzelne Kind versorgt wurde, erheblich angestiegen sein musste und wegen der geringen Kinderzahl auch ansteigen konnte. Dies gilt insbesondere dort, wo das begrenzte Haushaltsbudget es nicht erlaubte, durch den Einsatz zahlreicher dienstbarer Geister die Mutter zu entlasten. Die in bürgerlichen Familien im 19. Jahrhundert offensichtlich erfolgreich praktizierte Familienplanung lenkt die Aufmerksamkeit zum einen auf die geborenen Kinder und deren standesgemäße Erziehung im bürgerlichen Hause und zum anderen auf die Sexualität in der Ehe und zwischen den Eheleuten. Das Abdrängen der Sexualität in die Intimität und die Tabuisierung des Redens über Sexualität sollten, das hat Peter Gay jüngst mit einer Vielzahl von Beispielen deutlich gemacht,27 nicht gleichgesetzt werden mit prinzipieller und tatsäch26 v. Nell (wie Anm. 20), S. 48, 63. 27 P. Gay, Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986.
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licher Sexualfeindschaft, wie sie dem prüden Viktorianismus unterstellt wurde. Doch die Beobachtung, dass dem über Sexualität verhängten Redetabu eine Besessenheit des indirekten Redens über Sexualität korrespondiere, löst noch keineswegs die Aufgabe, nun die zeitgenössische Diskussion über Prostitution, Doppelmoral, Geschlechtskrankheiten, Sittlichkeit, Inzest oder auch Frigidität, Frauenleiden usw. zu entschlüsseln als einen allgemeinen Diskurs über Sexualität und eheliche Sexualität im Bürgertum. Es wird überaus schwierig bleiben, die alten Themen der ehelichen Pflichten und der ehelichen Treue in den vielfältigen Brechungen dieser zum Ende des 19. Jahrhunderts hin intensivierten bürgerlichen Diskussionen abzuhorchen auf die Freuden und Leiden der ehelichen Sexualbeziehungen. Ein wichtiges Moment von mehr oder weniger dauerhaftem Einfluss auf die »ehelichen Umarmungen« blieb die im Laufe des 19. Jahrhunderts möglicherweise sogar noch gravierendere ungleiche Vorbereitung von Braut und Bräutigam auf die Brautnacht. Ungeachtet aller Erziehung zur höheren Sittlichkeit seit dem 18. Jahrhundert konnten junge Männer mit Weibergeschichten Erfahrungen sammeln und dennoch gute Heiratschancen behalten, während eine junge bürgerliche Frau wusste, dass ihr Heiratskapital der Tugendhaftigkeit durch vorehelichen Geschlechtsverkehr unwiederbringlich verspielt wurde. Ihre Sehnsucht sollte sich in dem einen und einzigen Ehemann erfüllen oder auch nicht. Georg Gottfried Gervinus schrieb im hohen Alter über seine leidenschaftliche Liebe zu dem kindlichen Mädchen, mit dem der 31-jährige Mann 1836 eine Ehe einging, nachdem es gerade seinen 16. Geburtstag gefeiert hatte: »Unsere Ehe ist durch den Mangel an Nachkommenschaft wesentlich eine Seelen- und Geistesehe geworden, über deren Recht und Geltung und Würde Milton so schön geredet hat.« Diese Gemeinschaft habe sich verewigt in dem Buch »Händel und Shakespeare«.28 In den Ehen des 19. Jahrhunderts lässt sich erfolgreiche Geburtenkontrolle, die wohl häufig eheliche Enthaltsamkeit bedeutete, auch als ein Zeichen intensiver ehelicher Gemeinsamkeit zumindest in diesem einen Punkt lesen. Nicht allein der Wunsch, die Kinderzahl beschränkt zu halten, auch die Todesfurcht, von der sich kaum eine Frau bei Schwangerschaft wird befreit haben können, und die mit der Angst vor Verlust auf Seiten des Mannes akzeptierte Verantwortung für das Leben seiner Frau mögen das Verhalten mitbestimmt haben. Ernst Dryander, der es selbst zum Oberhofprediger in Berlin gebracht hatte, berichtete über sein Elternhaus, dass seine Mutter, die 1837/38 Pfarrfrau geworden war, 1839, 1843, 1847 und 1849 ins Kindbett kam. Die ersten Kinder überlebten. Im letzten Wochenbett starb die Mutter und kurz darauf auch das Neugeborene. Der Vater heiratete erst im Dezember 1853 ein zweites Mal und zwar die Stiefschwester der ersten Gattin, die schon vorher die Kinder und den Haushalt des Witwers versorgt hatte. Die zweite Ehe blieb kinderlos.29 28 G. G. Gervinus, Leben von ihm selbst (1860), Leipzig 1893, S. 300–332, Zitat S. 326. 29 E. v. Dryander, Erinnerungen aus meinem Leben, Bielefeld 1922, S. 3–26 passim.
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Wie anders klingt dagegen, was der 1724 geborene Theologe und Schulmann Anton Friedrich Büsching über die ans Kinderzeugen gebundene Sinnenlust berichtete. Seine Autobiographie wurde 1789 zu einer Zeit veröffentlicht, als jugendliche Männer und Frauen den Entschluss fassten, nur bei wahrer und einzigartiger Liebe zu heiraten. Büschings Mutter, Jahrgang 1695, brachte in ihrer unglücklichen Ehe mit einem 1694 geborenen Advokaten neun Kinder zur Welt, von denen nur der 1724 geborene Sohn das Erwachsenenalter erreichte. Anton Friedrich studierte als bettelarmer Student in Halle. Bevor ihn 1749 eine Hauslehrer-Stelle nach Petersburg führte, so berichtet er rückblickend, »verspürte ich, daß in dem Alter, in welchem ich war, und bey dem Vorhaben, in die weite Welt zu gehen, es gut wäre, wenn ich zur völligen Sicherheit meines Herzens vor der heftigsten und gefährlichsten unter allen Leidenschaften, ausser den bisher gebrauchten und bewährt gefundenen Mitteln, noch dieses anwendete, und für mein Herz einen würdigen Gegenstand wohlgeordneter Liebe unter dem weiblichen Geschlecht suchte, mit dem meine geschäftslosen Gedanken sich unterhalten, und der allen Versuchungen vorbeugen könne.«
Er verlobte sich brieflich. Im Herbst 1750 hatte er Gelegenheit, seine »Herzensfreundin« aufzusuchen und seine »Herzensbindung« zu verfestigen. 1754 erhielt Büsching eine Anstellung in Göttingen, beschloss aber, mit der Heirat »noch bis auf das Frühjahr 1755 zu warten, um anderen jungen Leuten ein Beyspiel zu geben, wie man bey der größten Zärtlichkeit und Sehnsucht zu und nach einander, dennoch ausharrende Geduld, Zufriedenheit, Fassung, Enthaltsamkeit, und andere christliche Tugenden beweisen könne und müsse.« Nach der Hochzeit am 21.3.1755 brachte seine Ehefrau Christine bis 1770 sieben Kinder zur Welt, von denen nur zwei das Erwachsenenalter erreichten. Den Tod seiner Gattin im April 1777 erfuhr Büsching als das »Allerhärteste und Schmerzhafteste, was mir in meinem Leben auf Erden überhaupt … widerfahren …« Am 22.12.1777 heiratete Büsching in zweiter Ehe eine 29-jährige Frau. Das Ergebnis ihrer gemeinsamen ehelichen Lust war zunächst die traurige Folge von Totgeburt, Fehlgeburt und einer nur wenige Stunden überlebenden Frühgeburt, bevor ein im April 1791 geborenes Kind für gut zwei Jahre lebte und im September 1781 ein Sohn zur Welt kam, »der gottlob!, noch lebt«. Auch der 1784 letztgeborene Sohn starb gleich nach der Geburt.30 Die Ehen der Bürger sollten, so dachte man seit dem späten 18. Jahrhundert, in ihren Kindern einen festen Zusammenhalt finden. In der Tat bietet das 19. Jahrhundert vielfältige Zeugnisse dafür, mit wie viel Aufmerksamkeit Mütter und Väter ihre heranwachsenden Kinder in allen Entwicklungsphasen beobachtet haben. Eltern fühlten sich mit ihren Kindern emotional verbunden und sahen sich gleichzeitig in der Pflicht, an ihnen ein vernünftiges Erziehungs-
30 A. F. Büsching, Eigene Lebensbeschreibung in vier Stücken, Halle 1789, Zitate S. 131, 241, 596; die Beschreibung endet mit einer Auflistung der in 1. und 2. Ehe gezeugten Kinder.
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programm zu erfüllen. Das galt für die Mütter vermutlich noch stärker als für die Väter. Das vertraute Du zwischen Eltern und Kindern setzte sich nach 1800 allgemein durch. Körperliche Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen kamen in Misskredit. Doch auch der absichtlos-spielerische Umgang mit Kindern wurde den Erwachsenen schwerer gemacht. Das Miteinanderleben in der Familie entwickelte sich zum pädagogischen Vorhaben, dem auch die Eheleute ihre Bedürfnisse unterordneten. An die Stelle des Lernens durch Nachahmung und Mitarbeit trat stärker noch bei den Söhnen als bei den Töchtern das Lernen durch Belehrung und Spielmaterialien. Häufig finden sich Berichte, dass Väter, Mütter und andere Erwachsene in Mußestunden den Kindern kindgerechte Geschichten und Bücher vorgelesen haben. Doch die von Pädagogen empfohlene lückenlose Kontrolle über die Kinder wurde nicht realisiert. Allenfalls wohlhabende Eltern konnten mit Unterstützung von Erzieherinnen und Hauslehrern den dazu erforderlichen Aufwand betreiben. Die meisten Eltern hatten in Kauf zu nehmen, dass ihre Kinder für lange Stunden der Aufsicht entglitten, wenn sie vormittags und nachmittags ihre Schulwege allein zurücklegten und auf Straßen, in Höfen, Gärten und im offenen Gelände spielten. Der zugelassene Aktionsradius scheint jedoch generell für Mädchen erheblich enger bemessen worden zu sein als für Jungen. Gebildete Eltern mussten im Übrigen sehr daran interessiert sein, den schädlichen Einflüssen des falschen Umgangs vorzubeugen. Denn ihre Kinder hatten im 19. Jahrhundert nicht nur als Pfänder der Liebe das eheliche Zusammenleben zu dokumentieren, sondern auch die Pflicht, die bürgerliche Wohlanständigkeit der Familie und die Berufs- bzw. Geschäftsqualifikation des Vaters zu repräsentieren. Die Söhne erhielten als Erwartungsträger für die Zukunft und die Töchter als lebendige Belege für die Sittsamkeit ihrer Mutter einen abgezirkelten Platz innerhalb der Familie zugewiesen. Was immer es mit dem tatsächlichen Verhalten auf sich gehabt haben mag, die schnell vermehrten Erziehungs- und Anstandsbücher machen ebenso wie Romane und Memoiren deutlich, welch komplizierten Formen die hochgepriesene emotionale Zuwendung zwischen bürgerlichen Eltern und ihren Kindern zu gehorchen hatte. Die strikte Normierung der bürgerlichen Kindererziehung muss im 19. Jahrhundert das eheliche Zusammenleben nachhaltig beeinflusst haben, wenn die Kinder sich unter der direkten Obhut der Mutter entwickelten, der Vater aber für die Erziehung die Zuständigkeit beanspruchte. Die größten Anstrengungen galten der standesgemäßen Ausbildung der Söhne. Deren Laufbahn hatte über Gymnasium und Abitur zum Studium zu führen und war mit erheblichem finanziellem Aufwand verbunden. Witwen, die allein oder zusammen mit ihren Töchtern notfalls unter extremen Belastungen und mit angestrengter Erwerbsarbeit dieses ihnen angeblich vom sterbenden Gatten aufgetragene Vermächtnis erfüllten, hat es offenbar keineswegs nur vereinzelt gegeben.31 Von leichterer 31 Ein Beispiel für 1783 bei Mitgau (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 398 f.
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Hand ließ sich dagegen im gesamten 19. Jahrhundert die standesgemäße Ausbildung der Töchter abwickeln; denn bei Töchtern blieb für die Eltern der Spielraum für Ausbildungsentscheidungen und Investitionsbereitschaft erheblich größer. Zwang das Haushaltsbudget zu Alternativen, so stand fest, dass die Ausbildung der Töchter hinter der der Söhne zurückzustehen hatte. Auch scheint es völlig selbstverständlich gewesen zu sein, die Arbeitskraft einer Tochter im elterlichen Haushalt einzusetzen, um am Dienstpersonal zu sparen und die Sohnes-Ausbildung zu finanzieren. Doch ganz ohne Zweifel wuchsen im Laufe des 19. Jahrhunderts mit Reduzierung der Kinderzahl und bei etwas günstigeren Einkommensverhältnissen die Chancen der Töchter, eine bessere Ausbildung zu erhalten. Auch sei nicht vergessen, dass Mütter und Väter eigene, von der Norm abweichende Vorstellungen bei der Erziehung ihrer Töchter und Söhne verwirklichen konnten und dass die heranwachsenden Kinder sehr wohl auch mit ihren eigenen Ausbildungswünschen zum Zuge kamen. Eheleute waren im Bürgertum zweifellos bestrebt, das Familienleben um die Kinder zusammenzuschließen. Doch das Ziel des innigen Familienlebens musste nicht deckungsgleich mit der Wirklichkeit sein. Schon die täglichen gemeinsamen Mahlzeiten als Zentrum des Familiengeschehens auszugestalten, dürfte im Laufe des 19. Jahrhunderts schwieriger geworden sein. Die Kinder kamen zwar weiterhin während ihrer Mittagspause von der Schule nach Hause, doch immer mehr Männer gingen vor allem in Großstädten dazu über, ihre Mittagsmahlzeit fern von der Familie einzunehmen. Auch vermehrten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Verpflichtungen und kulturellen Ambitionen, was dazu führte, dass Eheleute den Abend nun häufiger ohne Kinder außer Haus verbrachten und auch auf die gemeinsame Abendmahlzeit verzichteten. Gleichsam als Gegengewicht gegen diese Tendenzen im alltäglichen Familienleben erhielten hervorgehobene Familienereignisse einen größeren Stellenwert. Weihnachten wurde offenbar schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als intimes Familienfest mit geschmücktem Weihnachtsbaum und Weihnachtsgeschenken in zahlreichen Familien gefeiert. Auch Geburtstagsfeiern für alle Familienmitglieder kamen in Mode. Familienspaziergänge, größere Familienausflüge, gemeinsame Aufenthalte in der Sommerfrische und schließlich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts größere Fernreisen der ganzen Familie wurden immer üblicher. Sie brachten die Familie zusammen bzw. demonstrierten den Familienzusammenhang für sich und andere. Je mehr der Vater und Ehemann in der familienfremden Berufswelt verschwand, um so stärker scheinen solche vereinzelten Demonstrationen und Ereignisse die späteren Erinnerungen der Kinder an ihr Elternhaus und die der Männer an ihr Ehe- und Familienleben geprägt zu haben.
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4. Hauswirtschaft, Wohnung und häusliche Geselligkeit Als im frühen 18. Jahrhundert in den gebildeten Kreisen Deutschlands das Lesen in Mode kam, steckte die allgemeine Lesesucht nicht nur Männer dauerhaft an, die ab der Jahrhundertmitte dazu übergingen, sich außerhalb ihrer vier Wände in Lesegesellschaften, Lesekabinetten, Leihbibliotheken zusammenzufinden. Zu Hause begannen auch ihre Frauen, der Leseleidenschaft zu frönen. Diese neuartige Bildungsbeflissenheit von Frauen rief alsbald Kritiker auf den Plan, die davor warnten, dass häusliches Romanelesen die Frauen dazu verführe, ihre täglichen Pflichten zu vernachlässigen. Beim allgemeinen Aufbruch zur bürgerlichen Bildung stießen Frauen mit ihrem Bedürfnis nach Leserecht und Lesemöglichkeit in der materiellen Enge des bildungsbürgerlichen Milieus schnell an die gebieterischen Schranken der arbeitsintensiven Hauswirtschaft. Der folgende zur Nachahmung empfohlene Vorschlag in einer der Moralischen Wochenschriften war wohlgemeint; er hält das Problem in einem kuriosen Bild fest: Der Ehegemahl sah »seine Ehegattin auf dem Spinnstuhle sitzen, und neben ihr stund ein niedriges Pult, auf welchem ein Buch aufgeschlagen lag«; er ist begeistert, »mit welcher Geschicklichkeit sie zugleich spinnen und lesen konnte.«32 In ihrer immer noch eindrucksvollen Dissertation hat Margarete Freudenthal 1934 versucht,33 anhand von qualitativen Quellen den Gestaltwandel u. a. der bürgerlich-städtischen Haushaltungen nachzuzeichnen und dabei jeweils einen wohlhabenden und einen beengteren bürgerlichen Haushalt für die Zeit um 1800, um 1860 und bis zur Jahrhundertwende als Typus zu charakterisieren. Je nach Höhe und Ausschließlichkeit des Geldeinkommens und nach Beschaffenheit und Erreichbarkeit des Marktangebotes entwickelten sich die bürgerlichen Haushalte im 19. Jahrhundert weit auseinander. Im wohlhabenden Bürgertum wurden die Ehefrauen immer stärker von der Arbeit in Familie und Hauswirtschaft entlastet und freigesetzt zur Muße, in den unteren Einkommensgruppen blieben die Frauen dagegen stark belastete, unabkömmliche Hausarbeiterinnen. Anders als noch im 18. Jahrhundert aber gehörten Mitteilungen über die Mühsal der Hauswirtschaft immer weniger, die über die Erziehung der Kinder dafür um so stärker zur publizierten bürgerlichen Selbstdarstellung. Wie zahlreichen seiner Kollegen im 18. Jahrhundert lag es auch dem Göttinger Professor Christoph Meiners noch um 1800 am Herzen, das hohe Lied der »echten Haushaltungskunst« zu singen. Anders als die meisten bürgerlichen Be32 Zit. nach W. Martens, Formen bürgerlichen Lebens im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, in: O. Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation, München 1981, S. 55–70, hier S. 62. 33 M. Freudenthal, Gestaltwandel der städtischen, bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft zwischen 1760 und 1910 (Diss. phil.Frankfurt a. M. 1933, Würzburg 1934) neu hg. v. K. Rutschky, Berlin 1986.
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rufsmenschen des späten 19. Jahrhunderts verfügte Meiners noch über hauswirtschaftliche Detailkenntnisse. Er hatte 1777 mit 30 Jahren die 25-jährige Tochter eines Göttinger Kollegen geheiratet, und da er nicht zu den Stars unter den Professoren gehörte, musste er sein niedriges Grundgehalt durch Hörergelder und Buchhonorare in dauernder Mühsal so gut es ging aufzubessern suchen. Dabei hatte er hinlänglich Gelegenheit, das prekäre Auskommen der bürgerlichen Häuslichkeit aus nächster Nähe zu studieren. In dieser Situation schrieb er in belehrender Absicht seinen Lobgesang auf die tüchtige Hausfrau: »Wie würden Hausväter, die bey mäßigen Einkünften eine zahlreiche Familie besitzen, und einen gewissen standesmäßigen Aufwand machen müssen, nur bestehen, wenn sie nicht durch die sorgfältige Haushaltungskunst ihrer Gattinnen vom Untergange errettet würden? An allen Orten also hängt selbst das Seyn oder die Wohlfahrt von Hunderten und Tausenden von Familien von der Klugheit und Sorgfalt von Hausfrauen ab.« Und weiter: »Bey den meisten Ehen wird vorausgesetzt, daß zu den Einkünften und dem Erwerb des Mannes, die sorgfältige Sparsamkeit der Frau hinzukomme, um mit Hülfe von Beiden anständig auszureichen.« Und deshalb eben blieben als Ausstattung zur Ehe »Schönheit und Tugend, Geist und Wissenschaft unzulänglich. Wenn eine Frau sich weder um Küche und Keller, noch um Speise- und Vorrathskammer; weder um Wäsche, noch um Hausrath, Küchengeschirr, usw. bekümmert; wenn sie nicht weiß, wann und zu welchen Preisen die für den Haushalt nöthigen Dinge eingekauft; wie und zu welchen Zeiten Gemüse, Früchte und andere Lebensmittel eingemacht und aufbewahrt; wie Haushaltungs- und Rechnungsbücher geführt und durchgesehen werden, usw. so entstehen aus einer solchen Unerfahrenheit, und Nachläßigkeit der Hausfrau so viele bald kleinere, bald größere Verdrießlichkeiten, daß die vollkommenste Schönheit der Frau, und die feurigste Liebe des Mannes auf die Länge nicht dagegen ausdauern können.«34
Im späten 18. Jahrhundert war vom Hausvater alten Typs im Bildungsbürgertum ganz offensichtlich noch so viel übriggeblieben, dass auch der gebildete Ehemann Interesse aufbrachte und aufbringen musste für die Kunst, den eigenen Haushalt bei kleiner Kasse wirtschaftlich und sparsam zu führen und unter Nutzung aller Ressourcen schuldenfrei zu halten. Am besten allerdings war er beraten, wenn er um seiner Berufsgeschäfte willen die Hauswirtschaft möglichst vollständig an seine zuverlässige und tüchtige Hausfrau delegieren konnte und sich niemals mit einer unzuverlässigen Haushälterin einlassen musste. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich der Ehemann dann offensichtlich sehr schnell von der eigentlichen Hauswirtschaft emanzipieren und die Familie und das Haus zur arbeitsfreien Idylle für sich umgestalten können, während die Ehefrau ihre Rolle im »Theater mit der Hausarbeit«35 als Spezialistin perfekt zu spielen lernte. Die gebildeten Männer verloren im 19. Jahrhundert das Interesse an der Entwicklung der Preise und Angebote auf dem schnell erweiterten Markt 34 Meiners (wie Anm. 12), S. 265, 267 f. 35 S. Meyer, Das Theater mit der Hausarbeit, Frankfurt a. M. 1982.
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der Güter und Dienstleistungen für den privaten Haushalt. Die Frauen dagegen wurden zur gewissenhaften Buchführung über ihre Ausgaben angehalten. Die zahlreichen für Frauen angebotenen Almanache und Taschenkalender des frühen 19. Jahrhunderts verbanden das Schöne mit dem Nützlichen und enthielten neben schöngeistigen Texten und Kupferstichen auch Formulare für das Soll und Haben im Haushaltsbudget. In Kindheitserinnerungen taucht das Bild der sparsam wirtschaftenden Mutter auf, der gegenüber sich der zumindest punktuell verschwenderische Vater profilierte durch leichtsinnige Sonderausgaben oder als Initiator einer kostspieligen Geselligkeit. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es dagegen einzig die Anschaffung teurer Bücher, durch die sich speziell ein Mann hervortat. Ehefrauen scheinen das wochen- oder monatsweise vom Ehemann zugeteilte Wirtschaftsgeld selbständig bewirtschaft zu haben. Ihr Einblick in die vom Manne verwalteten Einkommens- und Vermögensverhältnisse insgesamt blieb dagegen wohl eher begrenzt. Nicht leicht dürfte es beispielsweise für die junge Frau des Ingenieurs und Schriftstellers Heinrich Seidel gewesen sein, die von ihrem Ehemann in Einkommens- und Vermögensangelegenheiten beanspruchte Autonomie des Handelns auszuhalten. Bei der Heirat 1875 war er 33 und sie 19 Jahre alt gewesen. Fünf Jahre später gab er seinen Beruf als Ingenieur auf, der ihm nur während der Vormittagsstunden intensive Arbeit abverlangt und ein sicheres Einkommen garantiert hatte, um dann für die folgenden acht Jahre an seinem – am Ende tatsächlich gelungenen – Durchbruch als Schriftsteller zu arbeiten. Währenddessen lebte seine fünfköpfige Familie von der Hand in den Mund. 1895, als der wirtschaftliche Engpass längst überwunden ist, gibt er seiner Frau schriftlich eine Art Rechenschaftsbericht und gesteht darin: »Ich beging die Torheit, Dich in meine Pläne nicht einzuweihen, in der Meinung, die Sorge und Ungewissheit für mich allein zu tragen.« Jetzt allerdings sei die Zeit gekommen, auch ihr das Bankkonto zugänglich zu machen.36 Nicht nur die Hauswirtschaft, auch der Raum, in dem gearbeitet und gelebt wurde, veränderten sich noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts beträchtlich. Bürgerliche Wohnungen gewannen in dem Maße an sichtbarer Schönheit, Ordnung, Sauberkeit und Intimität, wie Vorratshaltung, Eigenproduktion und die früher fast ausnahmslos im Haushalt selbst, wenngleich unter Hinzuziehung kurzfristig gemieteter spezialisierter Arbeitskräfte, vorgenommenen Dienst- und Versorgungsleistungen zurückgingen und auch der berufliche Arbeitsplatz des Mannes aus der Wohnung ausgelagert wurde. Seit den 1830er Jahren ist zu beobachten, dass immer größerer Wert gelegt wurde auf moderne und gesunde Wohnungen. Dabei verallgemeinerten sich hohe und rasch steigende Aufwandsnormen für das Wohnen. Für Ehepaare, denen es an reichlichen Einnahmen mangelte, wurde es zunehmend schwerer, in ihrer häuslichen Lebensgestaltung wenigstens den Schein der Zugehörigkeit zum gebildeten Bür-
36 Ferber (wie Anm. 21), S. 144.
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gertum zu wahren.37 Dazugehören aber war besonders wichtig für Freiberufler und höhere Beamte, die noch am Beginn ihrer Karriere standen und wussten, dass sich ihre Berufschancen und ihr gesellschaftliches Ansehen in einem direkten Wechselverhältnis entwickeln würden. Die unverhältnismäßig hohen Investitionen, die dementsprechend zur Gründung eines Hausstandes erforderlich wurden, hätten zur Konsequenz – so klagten zeitgenössische Kritiker dieser Entwicklung im Kaiserreich –, dass Akademiker immer älter wurden, bevor sie sich dazu entschließen konnten, in den Stand der Ehe zu treten. Am längsten konservierten ländliche Pfarrhäuser den älteren Lebensstil.38 Auch noch im 19. Jahrhundert wurde der große Pfarrgarten zu Obst- und Gemüseanbau genutzt, während Tierhaltung offenbar schon verschwunden war und der Pfarrer sein Einkommen kaum mehr in Naturalien, sondern immer ausschließlicher in Geld erhielt. Die bürgerliche Idylle des ländlichen Pfarrhauses lockte nichtsdestotrotz auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den nostalgischen Besuch der städtischen Bürger an. Hermann Mitgau hat nach einem Güterverzeichnis von 1746 den Typ des älteren Pfarrhauses, in diesem Fall ein ehemaliges Bauernhaus mit zwei niedrigen Stockwerken, beschrieben.39 Im unteren Stockwerk war Raum für Küche und Stube, im oberen für Schlafgemache; unter dem Dach befanden sich Schlaf- und Vorratskammern. Scheune und Ställe grenzten den kleinen umbauten Hof ab. Zum Anwesen gehörten außerdem Küchengarten, Obstgarten und das schon im 18. Jahrhundert meistens in Pacht gegebene Pfarrland. Die Pfarrfrau, die noch im 18. Jahrhundert einer mehr oder weniger dürftigen, aber in jedem Fall vielseitigen Hauswirtschaft vorzustehen hatte, verwandelte sich im 19. Jahrhundert Zug um Zug in eine bürgerliche Hausfrau. Auch sie hatte nun genau zu kalkulieren, welche der am Markt angebotenen Waren und Dienstleistungen sie für die täglichen Bedürfnisse der Familie tatsächlich in Anspruch nehmen konnte, wo das vom Gehalt des Mannes knapp ausgestattete Haushaltsbudget strikte Sparsamkeit und den eigenen Kräften hohen Arbeitseinsatz auferlegte und ob nicht zusätzlich im Pfarrhaus die Unterrichtung und Versorgung von Schülern notwendig war, um überhaupt die bürgerliche Lebenshaltung finanzieren zu können. Das Gegenstück des städtisch-großbürgerlichen Wohnens und Wirtschaftens hat Percy Ernst Schramm am Beispiel des im 17. Jahrhundert erbauten und von 1703 bis zur Zerstörung durch Feuer 1842 im Besitz einer Familie gebliebenen Hauses eines Hamburger Großkaufmannes vorgeführt.40 Das Haus umfasste in zwei Stockwerken 18 Säle, Stuben, Kammern; im Dachgeschoss Lagerräume, im Keller Küche und Speisekammern; auf dem Hof standen 37 Siehe jüngst dazu H. Bausinger, Bürgerlichkeit und Kultur, in: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 121–142, bes. S. 129. 38 Informativ und anregend hierzu M. Greiffenhagen (Hg.), Das Evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984. 39 Mitgau (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 592. 40 Schramm (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 104, zum Landsitz S. 340–344.
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Waschküche, Torfkammer und eine Laube. Dieses Haus beherbergte, regiert vom patriarchalischen Hausvater, die Familie, zahlreiche sonstige Verwandte, Handlungsdiener und Lehrlinge und neben der gesamten Hauswirtschaft auch das Handelsgeschäft. Am Ende des 18. Jahrhunderts pflegten die Hamburger Großkaufleute zur Sommer-Erholung ihren Landsitz mit englischem Park und Kätnerhof plus kleiner Landwirtschaft vor den Toren der Stadt aufzusuchen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden statt dessen in diesen Kreisen die Vorstadtvilla als Dauerwohnsitz der Familie, das Geschäftshaus in der Stadt und die großen Erholungsreisen üblich. Diesen Extremen zwischengelagert waren die städtischen Bürgerwohnungen. Die räumliche Enge der teuren Mietwohnungen dürfte schon vor 1850 häufig dazu gezwungen haben, außerhalb der Haushalte ausgeführte Dienstleistungen, z. B. das Wäschewaschen, zu mieten. Solange in solchen Wohnungen bei Anwälten, Ärzten, Professoren und sonstigen Beamten auch noch ein Teil der Berufsarbeit ausgeführt wurde, scheinen der Lärm und die Unruhe der häuslichen Geschehnisse ein typischer Kristallisationspunkt für Familienkonflikte gewesen zu sein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts führte der für verbindlich erachtete Standard bürgerlichen Wohnens in unteren Einkommensgruppen des Bildungsbürgertums zu weiteren Nöten. Bürgerlich-standesgemäß zu wohnen, hieß nun nicht mehr nur, eine für die täglichen Familienbedürfnisse gesperrte »gute Stube« vorzuweisen, sondern auch noch ein Herrenzimmer und für die Töchter und Söhne von jungem Alter an getrennte Schlafzimmer einzurichten. Auch ein vom Wohnzimmer getrenntes Speisezimmer schien nun dringlicher als ein Damenzimmer oder getrennte Schlafzimmer für die Eheleute. Für das Alleinmädchen stand häufig überhaupt kein abgeschlossener Raum mehr zur Verfügung. Trotz der programmatisch schon im 18. Jahrhundert vollzogenen Trennung von den Dienstboten spielte sich auch noch im 19. Jahrhundert die Intimität der bürgerlichen Familien aller Einkommensniveaus mehr oder weniger direkt unter der wachen Anteilnahme der in den Familienhaushalten wohnenden, schnell wechselnden Dienstmädchen ab. Sie waren als Arbeitskräfte und für die komplizierten Repräsentationserfordernisse unverzichtbar; von großer Bedeutung aber war immer auch ihre aktive oder passive Intervention in das intim-familiale Spiel der Auseinandersetzungen und Koalitionen zwischen Familienmitgliedern.41 In den bürgerlichen Wohnungen des späten 19. Jahrhunderts waren die wenigen noch verbliebenen Wirtschaftsräume, vor allem die nach wie vor notwendige, aber kleiner gewordene Küche, an den Rand der Wohnung oder in den Keller verbannt worden, um möglichst unsichtbar zu bleiben. Ins Auge fallen sollte dagegen die größere Anzahl der für das Wohnen verfügbaren Räume und deren detaillierte Zweckbestimmung. Der demonstrative Wohnkomfort tat mit seinen zahlreichen schweren Möbeln, Teppichen, Vorhängen, Gemälden 41 Herausgearbeitet wurde dieser Aspekt von D. Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987.
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und sonstigen kostbaren Schmuckstücken ein übriges, um für jeden Raum eine spezifische Nutzung dauerhaft festzulegen. Die im Vergleich zu dieser lastenden Wohnpracht äußerst karge, funktionale und weniger kostbare Ausstattung der Wohnungen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Erinnerungen an die Wohnungen der Großeltern oder Eltern häufig hervorgehoben. Beliebt war dabei der Hinweis auf den Kontrast zwischen der Öllampe, die als einzige Lichtquelle Abend für Abend die ganze Familie um den runden Tisch zusammenzwang, und dem verschwenderisch hellen Licht der Gasbeleuchtung, welche der abendlichen Familienrunde ihre intime Traulichkeit und ihren zwingenden Grund nahm.42 Während sich die Wohnungen der Bürger mit Möbeln und Textilien füllten, reduzierte sich nach 1850 die Zahl der Menschen, die in den Zimmern anzutreffen waren. Immer mehr Männer verbrachten lange Stunden des Tages außerhalb ihrer Wohnung, wenn sie ihrer Berufsarbeit, ihrer Vereinsgeselligkeit und ihren immer breiter gefächerten politischen Aktivitäten nachgingen. Auch kam es nun seltener vor, dass die jüngeren Kinder innerhalb der Wohnung durch Gouvernanten und Hauslehrer unterrichtet wurden. Einzig die bürgerlichen Frauen verbrachten weiterhin die meisten Stunden des Tages in ihrer Wohnung. Ihnen zur Seite waren die heranwachsenden Töchter und das Dienstpersonal, das sich häufig genug auf das Alleinmädchen zu beschränken hatte. Selbst länger in der Familie lebende Verwandte und durchreisende Logiergäste erweiterten im Kaiserreich offenbar sehr viel seltener als noch in den Jahrzehnten davor die familiale Wohngemeinschaft. Parallel zu dieser Entwicklung veränderten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Formen der Familiengeselligkeit. Im 18. Jahrhundert war zur bürgerlichen Abgrenzung von der vornehmen Welt keineswegs nur das neuartige Vereinswesen entwickelt worden. Auch die betont unaufwendige Geselligkeit zwischen Verwandten und Freunden gehörte zur programmatischen Praxis der bürgerlich-gebildeten Familien in Stadt und Land. Die berühmt gewordene Salon-Kultur hatte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein in kleineren Städten und selbst Dörfern ihr weniger niveauvolles, aber gleichwohl für die beteiligten Bildungsbürger ebenso zentrales Pendant. Gebildete Bürger, die etwas auf sich hielten, begnügten sich nicht immer mit dem nur geselligen Zeitvertreib in der Familie, wie er für die Oberschicht der Mittelstadt Borna in der Nähe von Leipzig für etwa 1770 geschildert wurde.43 Die Familie des Kammer-Commissarius bildete mit drei bis vier Familien von etwa gleichem Vermögen einen Zirkel, und jede Familie lud die anderen zweimal pro Jahr zu einem Gastmahl ein, »bei dem es hoch herging« mit einem Konsum von rund sechzig bis achtzig Flaschen Wein. Doch darüber hinaus verabredete man häufig kurzfristige Abendbesuche nach Tisch, um von 19–22 Uhr ohne Aufwand zusammen Karten zu spielen. Die Kinder kamen mit und spiel42 So z. B. F. Eberty, Jugenderinnerungen eines alten Berliners, Berlin 1878, S. 9–21. 43 G. F. Dinter, Leben von ihm selbst beschrieben, Neustadt 1829, S. 17.
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ten untereinander. Auch die häufigen Besuche zur Teestunde oder in den Gärten, die Picknicks, Ausflüge und Schlittenpartien gehörten zu dieser Form der Geselligkeit, die die gebildeten Familien eines Ortes untereinander pflegten. Den kulturellen Ambitionen des Bürgertums kamen andere Geselligkeitsformen mehr entgegen. 1724 empfahl der »Patriot«, eine Hamburger Mora lische Wochenschrift, das folgende als Familiengesellschaft funktionierende Lesekränzchen zur Nachahmung: Vier Familien einschließlich der Kinder trafen sich jeweils bei einer Familie und brachten außer der Handarbeit für die Frau auch »eine zugerichtete Schüssel, eine Bouteille Wein, und ein Buch« mit. Der Gastgeber stellte »Tee, Kaffee, Tisch-Gerät und Gläser, aber kein Essen. Hierdurch wird alle Beschwerlichkeit der Hausfrau abgenommen.« Im Zentrum der geselligen Zusammenkunft standen das Vorlesen und die Diskussion über das Vorgelesene. Außerdem war eine halbe Stunde auch »von der Haushaltung und deren Verbesserung zu reden.«44 Über ähnliche gesellige Familienaktivitäten gibt es für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Berichten. Akademiker, die es mit ihren Familien nach der Ausbildung auf ein Dorf oder in eine Kleinstadt verschlug, suchten ihresgleichen, um gebildeten Umgang zu pflegen und sich immer erneut der Bildung zu vergewissern, indem z. B. die Eheleute mehrerer Familien Goethe oder Schiller mit verteilten Rollen lasen und besprachen oder sich auch nur nach der Arbeit gegen vier Uhr zum Tee zusammensetzten. Wie im 18., so waren auch im frühen 19. Jahrhundert die Stationen der reiselustigen Bürger und ihrer Gattinnen fast immer die Wohnungen der verwandten und befreundeten Familien. Die Familien waren darauf eingestellt, Besuch zu empfangen, ihn nach Maßgabe der verfügbaren Mittel zu versorgen und sich entschädigt zu sehen durch die Abwechslung und den Austausch von Neuigkeiten, den die Besucher in die Familie hineintrugen. Noch scheint die relative Dürftigkeit eines Haushaltes kein Makel gewesen zu sein, den es zu verbergen galt und der es später schwieriger machte, Gäste aufzunehmen bzw. sich als Besuch selbst einzuladen. Selbst in den Residenzen, Universitäts- und Großstädten, in denen die Zahl der zum Bildungsbürgertum gehörenden Familien groß war, waren diese auf die Familien bezogenen Geselligkeitsformen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch weit verbreitet.45 Im Kaiserreich verloren die vielfältigen unaufwendigen geselligen Aktivitäten zwischen den Familien offensichtlich ihre Bedeutung oder richtiger, sie veränderten ihre Form entscheidend. Auf der einen Seite nahm die Zahl der Kulturveranstaltungen in eigens dafür hergerichteten Bauten zu und damit die Gelegenheiten, sich das Bildungsgut von professionellen Spezialisten präsentieren zu lassen. Auch wurden die Wege aus der Peripherie zu den Zentren der 44 Zit. nach Martens (wie Anm. 32), S. 44. 45 Interessant hierzu Sengle (wie Anm. 13), Bd. 1., S. 20–24; dort wird K. Immermann als früher Kommentator der Neuerungen, die der Konzentrierung auf die Familie entgegenwirken, referiert.
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Kunst und Kultur kürzer. Auf der anderen Seite scheinen sich die Familien stärker auf sich selbst zurückgezogen zu haben. Dafür war sicherlich ein Grund, dass es insgesamt schwieriger wurde, unter den knapperen Zeiten des Zusammenseins das als Wert betrachtete Familienleben überhaupt in Gang zu halten. Ein noch wichtigerer Grund aber dürfte gewesen sein, dass nun auch die Familiengeselligkeit im Bildungsbürgertum am generell hohen Maßstab der Aufwandsnormen gemessen wurde und entsprechend der neuen Abschließungstendenz nach unten immer komplizierteren Formen des Geselligkeitsrituals zu gehorchen hatte. Die Berichte über Geselligkeit im Rahmen der Familie während des Kaiserreichs wurden in einem völlig anderen Tenor geschrieben. Die demonstrative Teilhabe des Ehepaares am öffentlichen Kulturleben auf der einen Seite und das Jahresereignis der extrem zeremoniellen und bedeutungsvollen Abendgesellschaft, zu der eine bürgerliche Familie zu bitten hatte, auf der anderen Seite beherrschten die zeitgenössischen Berichte ebenso sehr wie die aus der Erinnerung geschriebenen. Vom Geschick der Ehefrau hing es ab, ob der Gemahl bei solchen Gelegenheiten eine gute Figur machte, was wiederum für seine berufliche Stellung wichtig war. Das Herausputzen der guten Stube, wochenlange Vorbereitungen und Einsparungen, das Mieten einer Kochmamsell und evtl. eines Lohnkellners, des Geschirrs, der Tischwäsche usw., die Angst der Hausfrau, hinter der Kulisse könnte trotz aller fieberhaften Vorbereitungen etwas schiefgehen, während sie die gelassene Gastgeberin zu spielen hatte, diese eheliche und familiale Stresssituation wurde später entweder mit viel Ironie oder immer noch als Alptraum erinnert. Nicht die Bildung, sondern der Beruf des Mannes, der Söhne, der Schwiegersöhne hatte das Regiment über diese neue Form der Geselligkeit und Selbstvergewisserung des Bildungsbürgertums.
5. Ehe und Beruf Die Ehe war im Bildungsbürgertum in mehrfacher Hinsicht auf die Berufsarbeit des Mannes ausgerichtet. Kaum ein Akademiker verfügte in Deutschland über genügend Besitz oder Vermögen, um allein darauf seine Familie zu gründen. Die meisten Männer konnten an eine Heirat erst denken, wenn es ihnen gelungen war, sich mit sicherem Einkommen in einem Amt oder einem freien Beruf zu etablieren. Eine junge Frau, die ohne eigene Berufsausbildung auf Versorgung in der Ehe angewiesen war, war in dieser Situation gut beraten, wenn sie einem Mann ihr Ja-Wort nicht bereits im Hinblick auf seine vielversprechende Berufsaussicht und damit für eine unabsehbar lange Verlobungszeit gab. Nach der Eheschließung steckte der Beruf des Mannes die Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer das eheliche Zusammenleben einzurichten war. Zu denken ist dabei nicht nur an das anfangs zumeist schmale Haushaltsbudget und die Schwierigkeit, damit das standesgemäße Auskommen zu finanzieren. 76
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Die Braut musste sich auch darauf einstellen, dass ihr Bräutigam in den Anfangsjahren der Ehe, wenn sie in schneller Folge Kinder gebären würde, mit den Anforderungen seiner gerade begonnenen Berufskarriere besonders stark beschäftigt war. Wahrscheinlich würde auch bald nach der ersten Eingewöhnung am Berufsort des Mannes ein Ortswechsel fällig werden, wenn sich herausstellte, dass für die Ausübung eines freien Berufes andernorts günstigere Aussichten bestanden oder das Vorrücken in der Beamtenkarriere mit Versetzung verbunden war. Den Hausstand an einem Ort abzubauen, um ihn im nächsten wieder einzurichten, war nicht nur kostspielig, sondern auch arbeitsaufwendig und belastete offenbar besonders stark die Ehefrau. Der Beruf des Bildungsbürgers zwang seine Familie fast immer zur Mobilität. Das wiederum erschwerte den sorgfältig gepflegten Kontakt zu den Eltern und Geschwistern, wenngleich die schnelle Verbesserung der Transportmöglichkeiten die zunehmende Entfernung der Einsatzorte wieder ausgeglichen zu haben scheint. Wo dem neu zugereisten Ehepaar am Ort die Verwandtschaft fehlte und die Nachbarschaft noch unbekannt war, sahen sich die Eheleute stärker auf sich selbst sowie auf die Berufskollegen und deren Familien verwiesen. Vermehrte Intimität in der Ehe und berufliche Kontrolle in der Geselligkeit dürften die Folge gewesen sein. Der Mann, der mit der Ehe seinen eigenen Hausstand begründet hatte, wollte erwarten können, dass seine Ehefrau mit ihren eigenen Interessen seine Berufskarriere nicht behinderte, sondern nach Kräften unterstützte. Die erwünschte und häufig offenbar auch geleistete Unterstützung seitens der Ehefrau hatte viele Formen. Am häufigsten wurde gerühmt, die Frau habe alle Störung der Berufsarbeit von ihrem Ehemanne abgewendet. Bisweilen aber wurde auch ihre verdienstvolle direkte Hilfe bei der Berufsarbeit erwähnt. Ein sechzigjähriger Arzt setzte 1877 in seiner Lebenserinnerung der Gemahlin von Carl von Rotteck, die er während seines Studiums als Mutter seines Freundes um 1830 kennengelernt hatte, folgendes Denkmal einer »vollendeten Hauswirtin«: »Aller Fleiß der Biene, alle Sorglichkeit der Ameise, alle Anhänglichkeit des Rotkehlchens an seine Kleinen war in dieser Frau vereinigt … An ihrem Mann hing sie mit religiöser Begeisterung, sie und ihre Kinder umgaben ihn mit einem fast anbetenden Kultus.«46 Dagegen gedachte Karl Biedermann, der wegen politischen Auseinandersetzungen 1853 von seinem Lehramt suspendiert worden war, hohe Prozesskosten zu zahlen hatte und bis 1855 ohne Einkünfte blieb, mit besonderer Wärme der moralischen Unterstützung, die ihm während dieser Zeit des Elends seine Frau gewährt habe.47 Damit ist das Verhältnis von Ehe und Beruf noch in einer anderen Weise in den Blick gekommen. Welchen Stellenwert konnten und sollten Ehe und Familie im Leben des am Beruf orientierten Mannes erhalten? Diese Frage drängt 46 E. Kaiser, Aus alten Tagen. Lebenserinnerungen eines Markgräflers 1815–1875, Lörrach 1910, S. 143. 47 K. Biedermann, Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte, Bd. 2, Breslau 1886, S. 76 f.
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sich auf, nachdem deutlich geworden ist, in welchem Maße die Frau ihr Eheleben an den Berufserfordernissen ihres Mannes auszurichten hatte. Theodor Gottfried von Hippel notierte in seiner Autobiographie, er hätte seine Verwandten immer zur Ehe aufgefordert, obgleich er selbst nicht verheiratet gewesen sei. »Dieß und daß ich kein Geistlicher geblieben, hat mir oft traurige Stunden gemacht …« Dennoch blieb er ein Leben lang Junggeselle. Das Ideal eines Ehestandes glaubte er zwar »so unverfälscht, so paradiesisch rein … im Pfarrhaus« verwirklicht, wie er es bis zu seinem 15. Lebensjahr in der vom Schwiegervater auf den Vater übertragenen ostpreußischen Landpfarre hatte erleben können. Auch gedachte er seiner Mutter, der Predigerfrau Regine, die starb, als er 19 Jahre alt war, mit dem überschwenglichen Ausruf: »Welch ein Weib, welch eine Mutter, welch eine Gesellschafterin.«48 Er selbst aber zog vor, ledig zu bleiben, obgleich dieses dem reichen, angesehenen Beamten als unverständlicher Egoismus angekreidet wurde. Sogar in seiner Tageseinteilung wäre Zeit für eine Familie gewesen. Hippel stand zwischen 5 und 7 Uhr auf, erledigte bis Mittag seine vielfältigen Dienstgeschäfte, speiste dann in Gesellschaft und verbrachte den Nachmittag allein oder mit wenigen Freunden zu Hause oder auf seinem Landsitz vor den Toren der Stadt. Der Abend diente ihm zum Schreiben, Lesen oder Zuhören, sofern seine Nichten und Neffen ihm vorlasen.49 Warum also hat Hippel nicht geheiratet? Diese Frage stellten auch Zeitgenossen und versuchten, sie nach seinem Tode zu beantworten. Hippel habe nach Ämtern, Ehren und Erfolg gestrebt und sei darüber ein Hagestolz geblieben, indem er wohl sah, dass eine Frau und Familie ihm auf dem Wege zu beiden Zielen »mannichfaltig hinderlich sein könnten«.50 Ein junger Mann ging bei seiner Gedenkrede vor der Königsberger Brüdergemeinde 1796 noch weiter: »Ich glaube sogar, daß die Liebe zu raschen Dienstfortschritten die eigentliche Liebe in seinem Herzen unterdrückt und zur Subalternität gezwungen hatte; wenigstens hat er mündlich und schriftlich geäußert, ein Verheiratheter lebe nur halb für sich. Ob er recht gehabt hat? Sollten vielleicht Griechen und Römer es in der Staatskunst darum höher gebracht haben, weil sie im Genuß der feinen und herrlichen Glückseligkeit auf einer niedrigeren Stufe standen wie wir jetzt stehen? Muß der, der sein Haus recht verwalten und genießen will, sich nicht gewissermaßen isoliren? Sind nicht Staatsund Hausleben durch eine schwache Brücke verbunden, die dem unter den Füßen zu brechen droht, der Lasten aus dem einen ins andere Gebiet überzutragen wagt?«51
In der Rede bleiben diese Fragen unbeantwortet; dennoch dürften es keine rhetorischen Fragen gewesen sein. Denn auch andere würdige Männer beunruhigte die »schwache Brücke« zwischen »Staats- und Hausleben«. Hippel selbst 48 Th. G. v. Hippel, Biographie. Zum Theil von ihm selbst verfaßt. Aus Schlichtegrolls Nekrolog besonders abgedruckt, Gotha 1810, Zitate S. 72, 60. 49 Ebd., S. 290. 50 Ebd., S. 316. 51 Ebd., S. 374 f.
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hatte schon 1774 in seinem Traktat über die Ehe eine Frau klagen lassen: »Mein Mann ist mürrisch, und widmet seinen Geschäften mehr Zeit als mir«, und sie dann mit den Worten zurechtgewiesen: »Undankbare, die Zeit, die er seinen Geschäften aussetzt, ist auch ihnen gewidmet, denn nur um sie standesgemäß zu unterhalten, ist er beschäftigt.«52 Als die gebildeten Stände im 18. Jahrhundert ihre Distanz zur vornehmen Welt selbstbewusst bestimmten, war ein zentraler Punkt ihrer Kritik, dass in Adelskreisen die Ehegatten ohne Intimität fremd nebeneinander lebten. Doch sehr früh erkannten die gebildeten Bürger, dass auch ihr Gegenmodell des intimen bürgerlichen Ehelebens keineswegs gefeit war vor der Entfremdung und Vereinsamung der Ehegatten. Denn es stellte den Ehemann vor die kaum lösbare Aufgabe, seinen Ehe- und Familienpflichten ebenso intensiv nachzukommen wie seinen Amtspflichten. Im 19. Jahrhundert scheint mit der wachsenden Akzeptanz des einseitigen männlichen Berufsmenschen dieses Dilemma des bürgerlichen Lebensentwurfs allmählich aus dem Bewusstsein verdrängt worden zu sein. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde darüber noch öffentlich nachgedacht. Um sich im bürgerlichen Lebensentwurf zu bestärken, wurde nicht nur von Hippel das Ideal der innigen bürgerlichen Familie im Pfarrhaus gesucht, das bis in das 19. Jahrhundert hinein vielleicht sogar für die Mehrheit der Akademiker bzw. für deren Ehefrauen auch tatsächlich das Elternhaus gewesen war. Die Attraktivität dieses Modells beruhte ganz offensichtlich auf der engen Verzahnung von Amt und Familie, bei welcher sich das Leben im Pfarrhaus zentrierte und das vorbildliche Familienleben direkter Bestandteil der Berufsleistung war. Als Johann Heinrich Voß 1795 das Pfarrhausidyll mit seiner »Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen« auch für den Gebrauch der folgenden Jahrzehnte noch einmal kräftig aufpolierte – Ottilie Wildermuth setzte bei ihrem Publikum noch 1855 das Werk als bekannt voraus –, konnte er sich an einer schon über dreißig Jahre alten Tradition der »Landpfarrerliteratur« orientieren.53 Geflissentlich täuschten solche Pfarrhaus-Idyllen darüber hinweg, welche Probleme die bis in das 20. Jahrhundert zwingende und zwanghafte Deckungsgleichheit von vorbildlichem Amts- und Familienleben für die Familienmitglieder mit sich bringen konnte. Auch stand nicht zur Diskussion, wie die Geschlossenheit der bürgerlichen Pfarrfamilie auf Familien zu übertragen sei, in denen der Mann einen familien- und haushaltsfernen Beruf ausübte. Eine andere Art, sich mit dem schwierigen Verhältnis von Amtsdienst und Familienfreuden zu beschäftigen, ist in den – seit Anfang der 1780er Jahre geschriebenen – Romanen des Freiherrn von Knigge nachzulesen. Er zeigt uns einen mit Regierungsgeschäften beladenen Ehemann, der abends »ermüdet und herabgespannt durch die Menge der vollbrachten Geschäfte« heimkommt und 52 Hippel (wie Anm. 4), S. 43. 53 Vgl. F. Martini, Pfarrer und Pfarrhaus. Eine nicht nur literarische Reihe und Geschichte, in: Greiffenhagen (wie Anm. 38), S. 127–148.
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sich »nach Ruhe und Erholung« sehnt.54 Einen anderen Fürstendiener lässt er »im häuslichen Leben Ersatz für alle diese Unruhen« suchen und – o Ende aller häuslichen Glückseligkeit – bei seiner vergnügungssüchtigen Gattin nicht finden. Vergeblich erwartet er von ihr »Ermunterung zu großen Entwürfen, Trost bey widrigen Vorfällen, gutmüthigen Rath, liebreiches Zureden, nicht müde zu werden und getrost auf den bessern Ausgang zu hoffen.«55 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts findet sich diese Männer-Sehnsucht nach einem von der Ehefrau ausgestalteten Refugium zu floskelhaften Formulierungen geronnen in unzähligen normativen Schriften, Erzählungen, Autobiographien. Eine dritte Variante, das Dilemma zu bearbeiten, scheint schon um die Wende zum 19. Jahrhundert aufgegeben worden zu sein. Knigge führt einen (adligen) Jüngling nach einer Zeit der Ausbildung mit noch nicht 25 Jahren in den sicheren Hafen einer auf Liebe gegründeten Ehe. Der Gatte zieht sich daraufhin aus der großen Welt auf die Güter seines Pflegevaters zurück und widmet sich bald intensiv der Erziehung seiner drei Kinder. So ist es nach Knigge gerade recht; denn Männer, die meinen, »sie könnten, als Staatsmänner oder Richter, Hunderte beglücken, und lassen während dieser Zeit sechs Kinder verderben, die nachher Tausende elend machen«, handeln unverantwortlich.56 Berufsverpflichtungen lässt Knigge nicht als Entschuldigung gelten. »Sie haben Berufsgeschäfte, können nicht jede Stunde des Tages ihren Kindern widmen; und doch muß, wer Kinder erziehen will, darauf Verzicht thun, irgend etwas Anderes nebenher zu treiben.«57 Knigges radikale Forderungen konnten ausgedacht werden in einer Zeit, als die Karrierezwänge das Leben der gebildeten Männer erst in Ansätzen prägten und die später zu beobachtende, immer intensivere mentale und zeitliche Okkupation durch Berufsarbeit noch kaum entwickelt war. An der höheren Erziehungsmacht des Vaters wurde zwar auch im 19. Jahrhundert nicht prinzipiell gerüttelt, doch in Theorie und Praxis ging die Erziehung nicht nur der Töchter, sondern auch der Söhne immer umfassender auf die Mutter über. Dem Vater brachte darüber hinaus der Ausbau des höheren Schulwesens, mit dem der Hauslehrer allmählich verschwand und ein effizienterer Vater-Ersatz für die Sohnes-Erziehung institutionalisiert wurde, eine weitere Entlastung von seinen Familienpflichten. Seit der Jahrhundertmitte erscheint die den Männern schwierige Balance zwischen Beruf und Familie deutlich zugunsten der Berufspflichten verschoben. Immer ausschließlicher zeichnete allein die berufliche Existenz einen Mann aus, dessen Familienexistenz kaum mehr erwähnenswert scheint. Hierauf deu54 Knigge (wie Anm.5), Bd. 7, Das Zauberschloß, neue Paginierung, S. 472. 55 Knigge (wie Anm. 5), Bd. 5, Geschichte des armen Herrn von Mildenburg, neue Paginierung, S. 601. 56 Knigge (wie Anm. 5), Bd. 17, Journal aus Urfstädt, neue Paginierung, S. 49. Der Bildungsgang des Jünglings ist dargestellt in Werke, Bde 1 u. 2, Roman meines Lebens, zu dessen späterem Leben vgl. Bd. 3, Peter Clausen, neue Paginierung, S. 715–725. 57 Knigge (wie Anm. 5), Bd. 16, Briefe über Erziehung, neue Paginierung, S. 155.
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ten nicht nur die autobiographischen Selbstdarstellungen hin. Der 1875 erschienene erste Band der Allgemeinen Deutschen Biographie stellte Deutschlands Männer des 18. und 19. Jahrhunderts, die einer Würdigung für wert erachtet wurden, fast durchgehend als Männer jenseits des Ehestandes vor. Deren Ehe schien so selbstverständlich, dass sie selbst dann mit Stillschweigen übergangen werden konnte, wenn im Text später, um die Erblinie der Berühmtheit fortzusetzen, von dem Sohn oder den Söhnen die Rede war. Das Leben als Junggeselle, das kinderlose Sterben, der frühe Verlust der Ehefrau wurden dagegen häufig eigens vermerkt. Bei den wenigen Frauen, die um ihrer beruflichen Existenz willen Einzug in die Allgemeine Deutsche Biographie hielten, interessierten sich die Biographen allerdings immer auch für deren Familienexistenz. An der Rangordnung von Beruf und Eheleben ist gearbeitet worden, solange die konkurrierenden Elemente des bürgerlichen Lebensentwurfs Probleme bereiteten. Das Programm der auf Liebe basierenden Ehe beförderte die Hinwendung zu Gattin und Kindern. Doch die Anforderungen des beruflichen Reüssierens und immer nachdrücklicher auch des patriotischen Engagements standen einer solchen Hinwendung als Hindernis entgegen. Gustav Freytag registrierte in seinem kurzen biographischen Artikel über Ernst Moritz Arndt (1769–1860) die Entscheidung für eindeutige Prioritäten. Der Tod seiner Gattin, die nach einem Ehejahr bei der Geburt des ersten Kindes starb, und der bald darauf erfolgte Tod seines Sohnes hätten Arndt in tiefe Trauer gestürzt, die auch seine schriftstellerische Arbeit bestimmte. »Aus dieser contemplativen Vertiefung in das Familienleben riß ihn die Sorge um das Schicksal Europas zu politischer Arbeit.« In flammenden Appellen gegen Napoleon habe er verkündet, »die höchste Religion sei, das Vaterland lieber zu haben als Herren, Weiber und Kinder, die höchste Bestimmung des Mannes sei, für Gerechtigkeit und Wahrheit zu siegen oder zu sterben.«58 Den liebenden Gatten und Vater verweist nicht mehr nur der durch Arbeit und Leistung aufstrebende Bürger, sondern nun auch der militärische Mann in seine Schranken. Notfalls wird akzeptiert, dass ein angesehener Mann seine Bestimmung zur Ehe ganz und gar verpasste. So heißt es über einen Schulmann: »Die Schule blieb seine Braut und mit der Liebe eines Bräutigams hing er an ihr, lebte nur für sie.«59 Aber sicherer in der öffentlichen Wertschätzung durfte sich ein Professor wissen, der 1848 in seinem Lebensrückblick dankbar der »vereinten Wirkung des Doppelgestirns, Wissenschaft und Liebe« gedachte: »Mit der Genugthuung, in meinem Berufe nach Kräften gewirkt zu haben, war ich um so empfänglicher für den Genuß des häuslichen Glücks.« Das dafür erforderliche 58 G. Freytag, Ernst Moritz Arndt, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 1 (1875), Berlin 1967, S. 541–547, Zitate S. 542 f.; der Text von Freytag fällt völlig aus dem Rahmen der sonstigen Artikel dieses Bandes. 59 ADB, Bd. 1, S. 35; auch Gervinus (wie Anm. 28), S. 202, wählte dasselbe Bild: F. Ch. Schlosser »hatte bis zum fünfzigsten Jahre im Junggesellenstande seiner Wissenschaft allein gelebt und von einer anderen Braut nichts wissen wollen.«
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Zeitbudget nahm sich bescheiden aus: »Wenn sieben Achtel der Tageszeit den Arbeiten gewidmet waren, so blieb immer noch ein Achtel für die Freuden der Familie und Geselligkeit.«60 Als sich in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Berufssystem für Akademiker immer mehr verdichtete, scheinen immer mehr Ehemänner und Väter dazu bereit bzw. dazu gezwungen gewesen zu sein, ihre Zeit und Kraft so gut wie ausschließlich dem Dienst an der Allgemeinheit und damit ihrer beruflichen und persönlichen Karriere zu widmen. Die Brücke zur Familie scheint im Verlauf des 19. Jahrhunderts für viele Männer noch schmaler und brüchiger geworden zu sein. Mit einem theatralischen Schlussakt möchte ich das bürgerliche Eheleben im Zeichen der Berufsbesessenheit seiner Männer noch einmal grell ausleuchten. An einer bösartigen Intrige scheiterte 1895 der bis dahin überaus erfolgreiche Chirurg Hermann Seidel. In einer letzten Dienstbesprechung gab er zu seiner Verteidigung noch zu Protokoll, »daß er bis an die Grenze seiner Kräfte seinen Pflichten nachzukommen stets bemüht gewesen sei«. Dann beging er zu Hause Selbstmord, nachdem er seinen Freunden die Bitte niedergeschrieben hatte: »Rettet meine Ehre um meiner Kinder und meines Weibes willen vor der Öffentlichkeit.« Seine Ehe hatte dreizehn Jahre gedauert; die 34 Jahre alte Witwe Emmy Seidel versorgte von nun ab in eingeschränkten wirtschaftlichen Verhältnissen allein ihren achtjährigen Sohn, ihre siebenjährige und ihre einjährige Tochter. Solange sie dauerte, galt wohl auch diese Ehe am Ende des 19. Jahrhunderts als normaler Fall von Eheglück.61
60 K. F. Burdach, Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben, Leipzig 1848, S. 174. 61 Ferber (wie Anm. 21), S. 86–116, Zitate S. 116.
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Der Aufsatz über die »Geschlechtscharaktere« und seine Rezeption Eine Spätlese nach dreißig Jahren*
Die Verfallszeit wissenschaftlicher Arbeiten ist heute selbst in denjenigen Wissenschaften kurz, in denen es aus gutem Grund unüblich ist, die jeweils vorderste Front des wissenschaftlichen Fortschritts zu bestimmen. Wenn ich hier trotzdem nach mehr als dreißig Jahren die Karriere meines 1976 veröffentlichten Aufsatzes »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben« Revue passieren lasse, dann deshalb, weil diese Karriere für Entwicklungen der deutschsprachigen und hier insbesondere der historischen Frauen- und Geschlechterforschung aufschlussreich ist. Für das in den Kultur- und Sozialwissenschaften in den 1970er Jahren wachsende wissenschaftliche Interesse, die Geschichtlichkeit der scheinbar natürlichen, aber durch normative Zuschreibungen und soziale Platzierungen geordneten Geschlechterverhältnisse genauer zu erforschen, bot der Aufsatz geschichtliche Materialien, Argumente und Denkanstöße. Die Wirksamkeit von Lektüren kann zwar nicht vermessen oder gewichtet werden. Dennoch ist sicher, dass der Aufsatz, gleich ob er zustimmend, kritisch oder ablehnend gelesen wurde, bis heute viele Leserinnen und Leser zu weiterem Nachfragen und Forschen angeregt hat. Das lässt auf Interesse hoffen, wenn ich nun nach einleitenden Bemerkungen über Entstehung und Inhalt des Aufsatzes dessen Rezeption nachzeichne und kommentiere und schließlich die strittige Relevanz solcher öffentlich ausgetauschten normativen Redeweisen noch einmal anhand eines weniger komplexen Beispiels erörtere.1
* Originalbeitrag 1 Der Aufsatz wurde veröffentlich in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393. Die Rezeption dieses Aufsatzes war bereits 1993 Thema meines Eröffnungsvortrags in der von Christiane Eifert und Martina Kessel zusammen mit dem Projekttutorium Geschlechtergeschichte an der Freien Universität Berlin organisierten Universitäts-Vorlesung des Wintersemesters 1993/94. Unter Beibehaltung des Titels entstand daraus der Sammelband von C. Eifert u. a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1996. Dazu auch meinen Vortrag beizusteuern, hielt ich damals für verfrüht.
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1. Die Schreibsituation Zwei persönlich gehaltene Momentaufnahmen können den sozialen Ort meiner damaligen Arbeit umreißen. Die erste führt in meine Studienzeit zurück. Hans Anger hatte 1960 Ergebnisse einer von 1953 bis 1955 in der Bundesrepublik durchgeführten Befragung von 138 Professoren und Dozenten veröffentlicht. Auf die Frage, ob Frauen zum Beruf des Hochschullehrers geeignet seien, hatten damals 39 Prozent der befragten Männern prinzipiell ablehnend, weitere 40 Prozent bedingt negativ und nur 2 Prozent ohne Einschränkung positiv geantwortet. Sie begründeten ihre Ansicht damit, die Frau – der Singular meinte stets das weibliche Geschlecht insgesamt – sei für akademische Forschung und Lehre aufgrund ihres Wesens und ihrer Fähigkeiten prinzipiell ungeeignet. Die zugespitzte Antwort eines Professors lautete: »die akademische Tätigkeit ist eine vorwiegend abstrakte und liegt deshalb der Frau nicht so; auch die intellektuellen Beziehungsverknüpfungen liegen ihr nicht. Die Notwendigkeit der Autorität mag der Frau auch Schwierigkeiten bereiten.« Ähnlich formulierte ein noch nicht arrivierter Dozent: »Weil Frauen nicht denken können. … weil das abstrakte Denken der Frau nicht zu Eigen ist, und weil die Ausbildung erwachsener Männer ihr nicht liegt.«2 In der Studie von Hans Anger fand ich als Studentin viel von dem erklärt, was mir um 1960 an der Universität erheblich zu schaffen machte. Die in der Universität verbal oder averbal immer wieder ausgedrückten generellen Vorbehalte gegen das intellektuelle Leistungsvermögen, die Wissenschaftsbefähigung und selbst die entschiedene Berufsorientierung von Studentinnen hatten mich irritiert. Auch die wohlmeinende Zusicherung, Ausnahmen seien als Bestätigung der Regel durchaus zugelassen, war kaum hilfreich, denn wer will schon gerne innerhalb des eigenen Geschlechts eine solche Ausnahme sein. Die folgenreiche Behauptung, Eignung oder Nichteignung zu Wissenschaft und akademischer Lehre seien prinzipiell geschlechtsspezifisch verteilt, ist in Deutschland noch Jahrzehnte nach der überhaupt erst sehr spät erfolgten offiziellen Zulassung der Frauen zum Studium – das geschah in den deutschen Bundesstaaten erst zwischen 1900 und 1908 – weiterhin kultiviert worden und hat bis Ende des 20. Jahrhunderts die Rekrutierung des akademischen Personals nachhaltig beeinflusst. Die Studie von Anger verhalf mir zur Klärung meiner Erfahrungen. Der zugleich ironisch und ernst gemeinte Einwand: »Sei doch nicht so rational, Du bist doch eine Frau«, war ganz offensichtlich verankert in einem umfassenderen Zuordnungsschema, das Frauen und Männer auf vermeintlich naturgegebene unterschiedliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Zuständigkeiten festlegt. Die Geschichte dieser Zuschreibungen begann mich zu interessieren. Die zweite Momentaufnahme zeigt, wie der 1975 geschriebene Aufsatz zuerst als kurzer Diskussionsbeitrag für eine Tagung Gestalt annahm und dort kaum 2 Vgl. H. Anger, Probleme der deutschen Universität, Tübingen 1960, S. 489, 479, 480.
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Resonanz fand.3 Mich danach erneut zu einem Höhenflug am Schreibtisch aufzuschwingen, war schwierig. Aber noch schwieriger war es, als ungeübte Mutter einer knapp zweijährigen Tochter neben der üblichen Universitätsarbeit einer wissenschaftlichen Assistentin die erforderliche Zeit und Konzentration zu finden, um die schnell anwachsende Menge der möglicherweise interessanten Materialien zu sichten und darüber den roten Faden des Nachdenkens nicht zu verlieren. Zu diesem Bild von der vorderen Bühne des Geschehens gehörte als dessen düsterer Hintergrund das drohende Ende meiner befristeten Anstellung als Assistentin und das kaum zu verdrängende Wissen, dass an der Universität eine Wissenschaftlerin mit Kleinkind damals Seltenheitswert hatte und ich mich deshalb bisweilen als Paradiesvogel, häufiger aber als Stein des Anstoßes wahrgenommen sah.
2. Der Aufsatz Die Bemerkungen zur Schreibsituation müssen ergänzt werden um einen knappen Bericht über Inhalte und Thesen des Geschlechtscharaktere-Aufsatzes. Der Ausgangspunkt meiner Nachforschungen war die Erfahrung, dass es nach wie vor für individuelle Verhaltensweisen und gesellschaftliches Handeln relevante Vorstellungen darüber gab, was der Mann und die Frau zu sein und zu tun haben. Soziologie und Psychologie boten hierzu unter den Begriffen »Geschlechterstereotype« und »Geschlechterrollen« umfangreiche Untersuchungen. Diese dienten mir als Anregung. Doch meine Fragen formulierte ich als historische Fragen: Welche Vorstellungen darüber, was eine Frau, was ein Mann zu sein und zu tun hat, hat es zu je bestimmten Zeiten gegeben? Wie haben sich diese Vorstellungen entwickelt? Warum wurden sie so und nicht anders gestaltet? Wie passten sich diese Vorstellungen ein in die jeweils vorherrschende Ordnung der Geschlechterverhältnisse und der gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt? Ohne bereits vertraut zu sein mit den weiter fortgeschrittenen feministischen Forschungen in den USA4 und mit der von Michel Foucault entwickelten und wenig später breit rezipierten Diskursanalyse,5 interessierte mich die historisch 3 Die von Werner Conze geleitete internationale Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte zu Problemen der Familiengeschichte fand im April 1975 statt; die historische Familienforschung war in England, Frankreich und den USA bereits etabliert, im deutschsprachigen Raum jedoch erst in den Anfängen. Vgl. als Tagungsdokumentation Conze (Hg.), (wie Anm.1). 4 Besonders anregend wirkten M. Z. Rosaldo u. L. Lamphere (Hg.), Women, Culture, and Society, Stanford 1974; R. R. Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New York 1975. 5 M. Foucaults hierzu grundlegende Schriften lagen bereits in deutscher Übersetzung vor: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, 1966, deutsch 1971; L’archéologie du savoir, 1969, deutsch 1973; L’ordre du discours, 1971, deutsch 1974.
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bearbeitete Kultur der als Natur deklarierten Geschlechtertypisierungen, welche ich nicht als natürliche und schon gar nicht als biologisch erwiesene Tatsachen hinzunehmen gewillt war. Um diesen Fragen nachzugehen, unternahm ich geographisch für Deutschland und zeitlich für das 20. bis 18. Jahrhundert eine geistes- bzw. ideologiegeschichtliche Expedition in die Vergangenheit. Die Verwegenheit eines solchen Unterfangens war mir durchaus bewusst. Um die Gefahr des Scheiterns zu reduzieren, hangelte ich mich zunächst an einem einheitlichen Typ aussagekräftiger Quellen, nämlich an Lexika und Wörterbüchern, entlang. Konversationslexika waren im 18. und 19. Jahrhundert ein wichtiges Medium bürgerlicher Selbstverständigung. Sie unterbreiteten dem gebildeten Publikum das relevante Wissen der Zeit und zu viel diskutierten Themen auch Meinungen, die bereits verallgemeinert waren oder verallgemeinert werden sollten. Aus diesen Lexika suchte ich heraus, was unter den Stichworten Frau, Weib, Weiblichkeit, Mann, Männlichkeit sowie Geschlecht und dem mir vorher unbekannten Begriff »Geschlechtscharakter« nachzulesen war. Die folgenden drei Beispiele vermitteln eine ungefähre Vorstellung von diesen Texten. 1904 werden in Meyer’s Großem Konversationslexikon unter dem Stichwort »Geschlechtseigentümlichkeiten« zunächst die anatomischen und physiologischen Unterschiede erläutert und dann hinzugefügt: »auch psychische Geschlechtseigentümlichkeiten finden sich vor; beim Weib behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand; die Phantasie des Weibes ist lebhafter als die des Mannes, erreicht aber seltener die Höhe und Kühnheit wie bei letzterem.«6 Völlig anders lautet eine Eintragung von 1735 in Zedlers Universallexikon: »Frau oder Weib ist eine verehelichte Person, so ihres Mannes Willen und Befehl unterworfen, die Haushaltung führet und in selbiger ihrem Gesinde vorgesetzt ist.« An anderer Stelle heißt es dort: »Frauenzimmer« bezeichne das Geschlecht insgesamt, »so dem männischen entgegengesetzt« sei; eine nähere Wesens- oder Charakterbestimmung für das gesamte Geschlecht wird ausdrücklich als unmöglich abgelehnt.7 1747 wird unter dem Stichwort »Weib« ergänzt, ein Weib sei »von Gott gewidmet …, Kinder zu empfangen, zu tragen, zu gebären, zu säugen, zu warten, dem Hauß-Wesen vorzustehen …«8 Zwischen 1780 und 1830 wurde – so meine These 1976 – ein neuartiges Aussagesystem ausgearbeitet, allgemein verbreitet und der neue Begriff »Geschlechtscharakter« eingeführt.9 Ein Beispiel für das neue Aussagesystem liefert das 6 7 8 9
Meyer’s Großes Konversationslexikon, Bd. 7, 6. Aufl., Leipzig 1904, S. 685. J. H. Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 9, Halle 1735, Sp. 1767, 1782. Ebd., Bd. 54, Halle 1747, Sp.1. Vgl. den Artikel »Geschlechtscharakter« in: J. S. Ersch u. J. G. Gruber, Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste, 1.Section (A-G), 63. Theil, Leipzig 1856, S. 29–47, der den Begriff »sittengeschichtlich und psychisch-anthropologisch« erläutert. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts konnte »Geschlechtscharakter« in der Medizin die Geschlechtsmerkmale bezeichnen, vgl. R. Hofstätter, Unser Wissen über die sekundären Geschlechtscharaktere.
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Rheinische Conversationslexikon, das 1830 zum Stichwort »Weiblichkeit« ausführt, man könne darunter »alle Eigenschaften fassen, welche aus dem Naturwesen des Weibes hervorgehen und es vom Manne unterscheiden. Sie sind geistige und körperliche Unterschiede. … Im Ganzen ist der Charakter des Weibes ein hoher Grad Receptivität mit wenig Energie, und umgekehrt der des Mannes viel Energie mit wenig Sensibilität … Das Weib empfindet durchaus viel rascher, lebendiger und feiner als der Mann … Notwendigerweise werden daher die Frauen durch ihre Gefühle weit mehr ergriffen als die Männer; es ist für jene schwerer, ihren Gefühlen entgegen zu handeln, als den Männern, und diesen dagegen leichter, die Ruhe zu gewinnen, welche zur Ausbildung der Vernunft, zu einem ernsten und tiefen Nachdenken, zur Festhaltung allgemein gültiger Maximen und Befestigung des Charakters erforderlich sind.«
1827 heißt es im Artikel »Frauen« außerdem: Es sei »ihre Hauptbestimmung, als rein weibliches Wesen, die Forderungen der Natur und des Menschenlebens als Gattin, Mutter und Vorsteherin des Hauswesens zu verwirklichen.«10 Das neue Aussagesystem gehörte nach 1800 für mehr als hundert Jahre mit nur leichten Variationen zum Grundrepertoire eines jeden ordentlichen Lexikons. Dieser für mich überraschende Befund beflügelte meine forschende Neugier und forderte mich zur historischen Interpretation heraus. Meine Interpretationsversuche gingen in vier Richtungen: – Erstens sortierte ich die in den gesammelten Texten enthaltenen zentralen Begriffe und Aussagen. Dabei zeigte sich, dass diverse Merkmale, die aus älteren Traditionen der Geschlechtertypisierung stammten, allmählich zurücktraten oder verschwanden, während die zwei polar angeordneten Merkmalsgruppen Rationalität/Emotionalität und Aktivität/Passivität immer entschiedener in das Zentrum der definitorischen Anstrengungen rückten. – Zweitens verglich ich die Lexika-Eintragungen des 18. mit denen des 19. Jahrhunderts. Um die augenfälligen Unterschiede zu charakterisieren, kennzeichnete ich die älteren, stark auf die Position von Hausvater und Hausmutter bezogenen Geschlechtertypisierungen als ein »partikulares« Zuordnungsprinzip, um hervorzuheben, dass diese Typisierung am Ehe- und Hausstand und damit an einer spezifischen, keineswegs für alle Frauen und Männer erZusammenfassendes Überblicksreferat, in: Centralblatt für die Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie 16, 1913, S.37–418; zur Kombination von medizinischen mit sozio-kulturellen Bedeutungen vgl. u. a. R. Koßmann u. J. Weiß (Hg.), Mann und Weib. Ihre Beziehungen zueinander und zum Kulturleben der Gegenwart. Unter Mitwirkung von … volkstümlich dargestellt, 3 Bde., Stuttgart 1908, neu bearbeitete 2. Aufl., 4 Bde., 1927; auch noch A. RühleGerstel, Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz, Leipzig 1932, S. 82, unterschied verschiedene Frauentypen »je nach dem Geschlechtscharakter der Persönlichkeitsziele.« 10 Rheinisches Conversations-Lexikon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, Bd. 12, Köln 1830, S. 154–156; Bd. 5, 1827, S. 295–300, Zitat S. 296.
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reichbaren Standesposition ansetzte. Im Gegensatz dazu bezeichnete ich das spätere Aussagesystem als »universales« Zuordnungsprinzip, weil es beanspruchte, für das weibliche und männliche Geschlecht insgesamt, also für alle Frauen und Männer ohne Ansehen von Stand und Schicht, Aussagen zu machen. – Drittens stellte ich fest, dass das Aussagesystem mit seinen mehr oder weniger stereotypen Formulierungen über die »Geschlechtscharaktere« auch in wissenschaftlichen, literarischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Texten verstärkt seit den späten 1780er Jahren ein wichtiges Thema wurde und in der Folgezeit blieb. Die kulturelle Produktion der behaupteten Natürlichkeit der »Geschlechtscharaktere« erforderte also offensichtlich erhebliche Anstrengungen. – Schließlich gab ich viertens meiner Neigung nach, diesen auf einigermaßen sicherem Grund ermittelten Befund historisch zu deuten. Das war ein Wagnis, denn ich war weder Spezialistin für die Ideen- und Sozialgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, noch konnte ich für meine Fragen auf ausreichend differenzierte und gesicherte Forschungsergebnisse zurückgreifen. In dieser Situation begnügte ich mich mit einigen spekulativen Deutungen, die ich als solche ausdrücklich kennzeichnete. Meine spekulativen Deutungen liefen auf folgende Argumentationen hinaus: – Ich schlug erstens vor, die Produktion und Rezeption der im Aussagesystem der »Geschlechtscharaktere« modernisierten Geschlechtertypisierung seit dem späten 18. Jahrhundert sozialgeschichtlich im aufstrebenden Bildungsbürgertum zu verorten. Dafür sprach meines Erachtens, dass seit dem 17. Jahrhundert Rationalität für eine wachsende Zahl gebildeter Männer als Habitus und Verhaltensmaxime in Studium und Beruf zunehmend konsequenter ausgebildet wurde; dass die angeforderte Rationalität aber vermutlich von vielen Männern individuell und kollektiv noch lange als Zumutung und der gleichzeitig verlangte Verzicht auf Spontaneität und Emotionalität als ein Verlust erfahren wurde, der auf Kompensation drängte; dass diese Männer sich außerdem immer häufiger gezwungen sahen, ihren Beruf und Erwerb – gleich ledigen Männern und vermögenslosen Lohnarbeitern – aus dem direkten Verbund mit der eigenen Haushaltung und Familie herauszulösen. Die für das 18. Jahrhundert vieldiskutierte Intimisierung und Emotionalisierung der bürgerlichen Familie, in deren Zentrum die liebende Gattin, Hausfrau und Mutter eine neue Wertschätzung erfuhr, und auch das im Laufe des 19. Jahrhundert so lebhaft ausgeschmückte Bild des von der bösartigen Welt in den Frieden des häuslichen Kreises zurückkehrenden Mannes korrespondierte noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts am ehesten mit den Lebensverhältnissen des Bildungsbürgertums. – Bei meiner zweiten spekulativen Deutung ging es mir um die Frage, warum dieses einmal produzierte und für die Ordnung der Geschlechterbeziehungen in Umlauf gebrachte Aussagesystem der »Geschlechtscharaktere« jahrzehn88
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telang fast unverändert hoch im Kurs stand und sich bei Männern und Frauen unterschiedlichster politischer Einstellungen und Konfessionszugehörigkeit offenbar hoher Akzeptanz erfreute. Ich sah eine mögliche Erklärung darin, dass das Aussagesystem ein umfassendes Harmonisierungsangebot enthielt, welches erlaubte, die bis in die persönlichen Verhältnisse hinein konfliktreich erfahrene Dynamik je aktueller gesellschaftlicher Veränderungen abzuwehren oder zumindest auf versöhnliche Weise auszudeuten. Denn das Aussagesystem gruppierte sich um die Verheißung, es gebe eine dem historischen Wandel entzogene gottgewollte Naturordnung und diese stelle sicher, dass Mann und Frau in ihren »Geschlechtscharakteren« polar und dementsprechend nicht auf Konkurrenz unter Gleichen, sondern auf harmonische Ergänzung von Verschiedenartigem angelegt seien. Diese von mir vermutete gesellschaftspolitische Funktion spielte ich an zwei Beispielen durch. Zum einen verwies ich darauf, dass es im Zusammenhang der Naturrechtsdiskussion durchaus interessant war, die Natur der weiblichen Menschen als prinzipiell verschieden von der der männlichen Menschen auszuweisen, um die im naturrechtlichen Denken zwar angelegte, aber politisch nicht erwünschte Konsequenz einer Gleichberechtigung beider Geschlechter abzuwehren. Zum anderen erläuterte ich, dass das Aussagesystem der »Geschlechtscharaktere« sich im 19. Jahrhundert hervorragend eignete, um das von immer mehr Menschen krisenhaft erfahrene Auseinanderdriften von Familienhaushalt und Erwerbsbereich sowie die neuartige Gegenüberstellung von Privatheit und Öffentlichkeit mit Rückgriff auf die polare Zuordnung der Geschlechter zu deuten, zu überbrücken und gesellschaftspolitisch abzufedern.
3. Die Karriere Der bereits 1981 ins Englische übersetzte Aufsatz11 durchlief eine erstaunlich steile Erfolgskarriere. Seit Anfang der 1990er Jahre ruht er vergleichsweise sicher auf bereits erworbenen Lorbeeren und wird heute insbesondere in der historischen und sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung weiterhin als Grundlagentext in Erinnerung gerufen.12 Worauf gründete sich die für mich 11 K. Hausen, Family and Role-Division. The Polarization of Sexual Stereotypes in the Nineteenth Century. An Aspect of Dissociation of Work and Family Life, in: R. Evans u. W. R. Lee (Hg.), Social History of the Family in Nineteenth and Twentieth Centuries Germany, London 1981, S. 51–83. Bereits dieser Titel verweist auf eine erheblich umdeutende Übersetzung. 12 Gekürzter Abdruck in: S. Hark (Hg.), Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie. Lehrbuch zur sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2001, 2. Aufl. 2007, S.173–196; und in: U. Vogel (Hg.), Meilensteine der Frauen- und Geschlechterforschung. Originaltexte mit Erläuterungen zur Entwicklung in der Bundesrepublik, Wiesbaden 2007, S. 47–53. F. Schößler, Einführung in die Gender Studies. Reihe: Studienbuch Literaturwissenschaft, Berlin 2008, S. 26–28, referiert den Aufsatz ausführlich.
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überraschend breite und überwiegend zustimmende Rezeption? Der Erfolg ergab sich mit Sicherheit nicht einfach daraus, dass der Aufsatz ein großes Thema, interessante historische Quellen, eine gedanklich und sprachlich nicht schlecht konzipierte thesenreiche Argumentation vorstellte. Innerhalb der Geschichtswissenschaft könnte es die Rezeption unterstützt haben, dass der Aufsatz mit dem von Werner Conze herausgegebenen Sammelband in die renommierte Schriftenreihe »Industrielle Welt« des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte gelangte. Förderlich mag außerdem gewesen sein, dass dieser Sammelband mit zukunftweisendem Gestus über die Schwelle der eben erst in der Bundesrepublik geöffneten Tür zur internationalen historischen Familienforschung drängte. Allerdings wirkte es speziell in diesem Umfeld für eine breite Rezeption wohl eher hinderlich, dass ich bewusst gegen die im Aufschwung befindliche, mit seriellen Quellen arbeitende quantifizierende Familienforschung angeschrieben hatte. Ich wollte einen Platz offen halten für die damals politisch virulente qualitative Aussage, dass die Familienverhältnisse auch nach dem 18. Jahrhundert eine an Differenz festgemachte Geschlechterhierarchie zur Grundlage hatten und dass der innerhalb und außerhalb der Familie als Naturverhältnis legitimierte mindere Rechtsstatus des weiblichen Geschlechts zu den Konstruktionsprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft gehörte. Von Seiten der Geschichtswissenschaft war dafür – so dachte ich als Historikerin – eher Desinteresse oder Abwehr als kritische Auseinandersetzung zu erwarten. In der Tat blieb hier das Echo auf den Geschlechtscharaktere-Aufsatz zunächst gering. Was also begründete den Erfolg? Zunächst einmal kam dem Aufsatz die Gunst der Stunde zugute. Mit der Studentenbewegung war die Familie als zentrale Institution der bürgerlichen Gesellschaft in das Kreuzfeuer der Kritik geraten. In dieser Situation veröffentlichte die Soziologin Heidi Rosenbaum 1978 ihren viel benutzten Sammelband »Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur« und brachte darin in gekürzter Fassung den Geschlechtscharaktere-Aufsatz.13 Dieser Wiederabdruck ebnete dem Aufsatz den Weg zu Wissenschaftlerinnen aus den Sozial-, Literatur- und Kunstwissenschaften. Voraussetzung dafür war wiederum, dass nun auch an westdeutschen Universitäten Frauen, die sich der Neuen Frauenbewegung zurechneten, nachdrücklich nach Frauen, Männern und Geschlechterverhältnissen nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Vergangenheit fragten.14 1976 organisierten Wissenschaft lerinnen in der Freien 13 H. Rosenbaum (Hg.), Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, Frankfurt a. M. 1978, S. 161–191; der Geschlechtscharaktere-Aufsatz erschien darin gekürzt um die methodischen Überlegungen und die Lexika als Quellen, was folgenreich wurde für die Rezeption. 14 Breit rezipiert wurden die ersten feministischen Bücher zur aktuellen, teils geschichtlich hergeleiteten Situierung von Frauenarbeit in der Bundesrepublik: G. Brandt u. a., Zur Frauenfrage im Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1973; E. Beck-Gernsheim, Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt. Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen, Frankfurt a. M. 1976; K. Jurczyk, Frauenarbeit und Frauenrolle. Zum Zusammenhang von Familienpolitik und Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland von 1918–1975, Frankfurt a. M. 1976; I. Ostner,
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Universität Berlin die erste Sommeruniversität für Frauen. Viele Frauen kamen zusammen, viele Fragen und faszinierende Entdeckungen wurden ausgetauscht und überdeutlich war der Mangel an fundierten Antworten. Das sollte sich nun auch im Blick auf die Geschichte schnell ändern. Ebenfalls 1976 erschien zeitlich parallel zu meinem Geschlechtscharaktere-Aufsatz von Ulrike Prokop das Buch »Weiblicher Lebenszusammenhang. Von der Beschränktheit der Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche.«15 Der Titel wurde schnell zur Erkenntnis stiftenden Formel. 1977 veröffentlichte Barbara Duden im Kursbuch »Das schöne Eigentum«;16 im selben Jahr brachte die Dokumentation der ersten Sommeruniversität den Aufsatz von Gisela Bock und Barbara Duden mit dem eingängigen programmatischen Titel »Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus«, der bald zum Standard-Repertoire der Frauenforscherinnen aller Disziplinen gehörte.17 1978 legte Ute Gerhard ihr Buch »Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Recht der Frauen im 19. Jahrhundert« vor, und Claudia Honegger gab mit einer ausführlichen Einleitung den Band »Die Hexen der Neuzeit« heraus.18 1979 erweiterte Esther Fischer-Homberger mit ihren Studien zu »Krankheit Frau« das Angebot.19 Damit war innerhalb von knapp vier Jahren auch in der Bundesrepublik ein breites Fundament gelegt worden, um Fragen aus der aktuellen politischen Diskussion historisch informiert weiter zu denken und zu erforschen. Der Geschlechtscharaktere-Aufsatz teilte mit diesen wichtigen Publikationen über weite Strecken deren Rezeptions- und Erfolgsgeschichte. Die Gunst der Stunde lässt sich allerdings nur nutzen, wenn der in einer Publikation vorgestellte Inhalt auf Interesse stößt. Das von mir in seiner Entwicklungsgeschichte vorgestellte Aussagesystem der »Geschlechtscharaktere« reservierte Rationalität, Aktivität und Beruf für das männliche Geschlecht und
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Beruf und Hausarbeit. Zur Arbeit der Frau in unserer Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1978. Häufiger rezipiert wurden nun auch W. Thönnessen, Frauenemanzipation. Politik und Literatur der deutschen Sozialdemokratie zur Frauenbewegung 1863–1933, Frankfurt a. M. 1969; M. Twellmann, Die deutsche Frauenbewegung. Ihre Anfänge und erste Entwicklung 1843–1889, 2 Bde, Meisenheim am Glan1972/73; R. J. Evans, The Feminist Movement in Germany 1894–1933, London 1976. U. Prokop, Weiblicher Lebenszusammenhang. Von der Beschränktheit der Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche, Frankfurt a. M. 1976. B. Duden, Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Kursbuch 47, 1977, S. 125–140. G. Bock u. B. Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Berlin 1977, S. 118–199. U. Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert. Mit Dokumenten, Frankfurt a. M. 1978; C. Honegger (Hg.), Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1978. E. Fischer-Homberger, Krankheit Frau und andere Studien zur Medizingeschichte der Frau, Bern 1979.
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Emotionalität, Passivität und Familie für das weibliche Geschlecht und behauptete gleichzeitig, diese natürlich genannte Ordnung müsse durch Erziehung und Gesetze herangebildet werden, damit die Menschheit zu harmonischer Vervollkommnung gelangen könne. Diese Zuschreibung war denjenigen Frauen, die sich in den 1970er Jahren für Frauenforschung engagierten, wahrscheinlich aus eigener Erfahrung noch genau so präsent wie mir. Die damit gebotene Möglichkeit, das Gelesene unmittelbar mit eigenen Assoziationen zu verbinden, dürfte der Plausibilität meiner Argumentation direkt zu Gute gekommen sein. Noch ein zweites Moment kam ins Spiel. Was ich über »Geschlechtscharaktere« auf der eher trivialen Ebene großer Konversationslexika, also aus dem Material bürgerlich-gebildeter Selbstverständigung herausgefunden hatte, findet sich als Grundinformation ähnlich in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Insofern lud der Geschlechtscharaktere-Aufsatz dazu ein, den vorgestellten Befund als Anregung aufzugreifen und an hochkulturellen Zeugnissen des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts auszuarbeiten.20 Eine solche Übersetzung meiner Geschlechtscharaktere-Deutung auf andere Untersuchungszusammenhänge unternahm meines Wissens zuerst die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen 1979 in ihrer viel zitierten Studie über »Imaginierte Weiblichkeit«.21 Meine spekulativen Versuche, ideengeschichtlich beobachtete Entwicklungen sozialgeschichtlich einzuordnen, wurden allerdings nicht selten so rezipiert, als handele es sich um fundierte Aussagen einer Historikerin über geschichtliche Tatsachen. In den 1980er Jahren erlangte der Geschlechtscharaktere-Aufsatz an den Universitäten ganz offensichtlich in Lehrveranstaltungen verschiedener Disziplinen den gehobenen Status der Pflichtlektüre. Damit begann seine Karriere als gleichsam abonnierter Bestandteil von Literaturverzeichnissen zu eben der Zeit, als die Frauenforschung in den Fachdisziplinen an Boden gewann. Eine weitere Etappe der Aufsatz-Karriere kündigte sich um 1990 an mit der zwar ehrenvollen Aufwertung, aber auch entsorgenden Mumifizierung des Aufsatzes zum Klassiker.22 Die Klassiker-Stilisierung ist dem Text nicht immer gut 20 Vgl. z. B. R. Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815–1871, Göttingen 1984; G. Krell, Das Bild der Frau in der Arbeitswissenschaft, Frankfurt a. M. 1984; L. Steinbrügge, Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Weinheim 1987; G. Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, 2 Bde., München 1988; B. Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland 1500 bis 1800, München 1989; V. Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760–1830, Marburg 1989. 21 Vgl. S. Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979, S. 141 f., 144, 147 f., mit Zitaten aus dem versehentlich der Autorin Hansen und dem Jahr 1967 zugeordneten Geschlechtscharaktere-Aufsatz. 22 C. Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt a. M. 1991 S. 218, Anm. 3, nennt ihn »einen beinah schon klassischen Aufsatz«; für C. Garbe, Die »weibliche List« im »männlichen« Text. Jean-Jaques Rousseau in
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bekommen. Sie verweist ihn zum einen auf einen Platz, der den je aktuellen Interessen, Entwicklungen und Strömungen entrückt erscheint. Sie bedroht den Text zum anderen mit Beschädigungen, wenn es als schmückend gilt, auch ohne genaue und kritische Lektüre einen Klassiker zu zitieren und sich seiner zum Beleg kühner Behauptungen zu bedienen. Dem Geschlechtscharaktere-Aufsatz scheint im Übrigen häufig eben das zum Rezeptionsverhängnis geworden zu sein, was ihm vermutlich gleichzeitig den Weg zum Erfolg gebahnt hat, nämlich der eingängig formulierte Titel.23
4. Die Kritiken und weitere Forschungen Die Kehrseite der Klassiker-Stilisierung des Geschlechtscharaktere-Aufsatzes ist das weitgehende Ausbleiben kenntnisreicher Kritik. Ich hatte den Text zwar dort, wo ich mir meiner Sache nicht sicher war, sehr vorsichtig formuliert und damit gegen Kritik immunisiert. Aber die Unstimmigkeit zwischen dem als These formulierten Titel und den später überwiegend hypothetisch formulierten Ausführungen, die darauf Bezug nahmen, waren offensichtlich. Auffällig war auch meine Entscheidung, den ermittelten Befund nicht mit den etablierten, konzeptionell weit entwickelten Begriffen Rolle, Stereotyp, Ideologie zu benennen, sondern – in Ermangelung des erst seit Ende der 1970er Jahre konzeptionell etablierten Begriffes Diskurs – auf das unübliche Wort Aussagesystem auszuweichen, um eine Festlegung auf Vorab-Deutungen zu vermeiden. Beide Auffälligkeiten blieben in der Rezeption des Textes unkommentiert und schützten ihn nicht gegen vorschnelle Vereinnahmungen. Auch andere Angriffsflächen für Kritik, Korrektur und Ergänzung wurden erstaunlich wenig aufgegriffen. Viele meiner Beobachtungen und Überlegungen verlangten geradezu nach weiteren Nachforschungen.24 Wie hatte sich zum Beispiel im deutschen Sprachraum das von mir neuartig genannte Aussagesystem entwickelt und verallgemeinert? Welche Querverbindungen gab es zu der zeitlich parallelen Herder feministischen Kritik, Stuttgart 1992, S. 19, ist er der »inzwischen geradezu kanonische Aufsatz«; für D. Alder, Die Wurzel der Polaritäten. Geschlechtertheorie zwischen Naturrecht und Natur der Frau, Frankfurt a. M. 1992, S. 13, ist er »grundlegend«; R. Braun u. D. Guggerli, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914, München 1993, S.244, markieren ihn als »schon ›klassisch‹ gewordenen Aufsatz«. 23 Das vermerkt bereits Honegger (wie Anm. 22), S. 5. 24 Vgl. als anschließende Veröffentlichungen U. Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986; dies., Bürgerliche Meisterdenker. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988; dies., »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995.
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vorhebung von Freundschaft?25 Wann kam der Begriff »Geschlechtscharakter« auf, wie setzte er sich durch und wie lange blieb er in Gebrauch? Lässt sich die von mir behauptete hohe Akzeptanz des Aussagesystems für das 19. Jahrhundert tatsächlich differenziert nach sozialer Schicht und Geschlecht nachweisen? Können gezielte historische Untersuchungen die von mir hypothetisch vorgeschlagenen Deutungen untermauern, ergänzen oder zurückweisen? Gab es vergleichbare Aussagesysteme mit ähnlichen Entwicklungen auch in anderen europäischen Nationen? Als ich 1975 den Aufsatz schrieb, waren feministische Diskussionen über Themen von großer historischer und theoretischer Relevanz noch nicht weit entwickelt. Die Natur-Kultur-Debatte kam gerade erst in Gang. Öffentlichkeit und Privatheit wurden als gängiges Kategorienpaar erst ansatzweise infrage gestellt. Die politisch brisante Debatte über Gleichheit und Differenz betraf noch vornehmlich unmittelbar das politische Engagement. In der Bundesrepublik hatte die Wiederentdeckung der Alten Frauenbewegung zwar bereits eingesetzt, doch Wege zu fundierter historischer Frauenforschung waren noch kaum erkennbar. In dieser Situation war es für den Geschlechtscharaktere-Aufsatz nicht allzu schwierig, als Vorstoß in ein Niemandsland wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Im Rückblick nach dreißig Jahren intensiver Forschungen zur Geschlechtergeschichte wird zudem deutlich, wie unwegsam Mitte der 1970er Jahre das von mir angepeilte Forschungsfeld war.26 Für das, was mir während meiner Arbeit an dem Geschlechtscharaktere-Aufsatz wichtig war, fand ich kaum historisch fundierte, abrufbare Wissensbestände, kaum inspirierende Deutungen der im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts virulenten Denk- und Vorstellungswelten und kaum Erfolg versprechende Methoden für die geschichtswissenschaftliche Expedition in das noch unbekannte Terrain einer Geschlechtergeschichte.27
25 Vgl. W. Mauser u. B. Becker-Cantarino (Hg.), Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen 1991; S. Eickenrodt u. C. Rapisarda (Hg.), Freundschaft im Gespräch, Stuttgart 1998 (= Bd. 3 von Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung). 26 Informative Einblicke in Forschungsentwicklungen bieten H. Wunder u. G. Engel (Hg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Königstein/Taunus 1998; U. Weckel u. a. (Hg.), Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert, Göttingen 1998; C. Opitz u. a. (Hg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000; H. E. Bödeker u. L. Steinbrügge (Hg.) Conceptualising Woman in Enlightenment Thougt. Conceptualiser la femme dans la pensée des Lumières, Berlin 2001; U. Gleixner u. M. W. Gray (Hg.), Gender in Transition. Discourse and Practice in German-Speaking Europe, 1750–1830, Ann Arbor 2006. 27 Zu meinen Vorarbeiten siehe K. Hausen, Familie als Gegenstand historischer Sozialwissenschaft. Bemerkungen zu einer Forschungsstrategie, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 1, 1975, S. 171–209; für die Frühzeit der historischen Frauenforschung vgl. auch K. Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983, 2. Aufl. 1987.
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Nicht die erste,28 wohl aber die interessanteste Kritik meines Aufsatzes formulierte Brita Rang.29 Ihre auf dem Bonner Historikerinnentreffen 1985 vorgetragenen Einwände wurden 1986 veröffentlicht und tauchen seitdem häufig zusammen mit dem Geschlechtscharaktere-Aufsatz in Fußnoten auf. Brita Rang warnte zu Recht davor, Hausens Thesen kritiklos »auf die neueste Geschichte anzuwenden«. Ihr ist auch zuzustimmen, »daß der komplex-diffizile Zusammenhang von Mentalitätsgeschichte, ideellen Deutungsmustern, ideologischen Praxen auf der einen Seite, sozialer Geschichte auf der anderen … ein Forschungsfeld ist, auf dem nicht umstandslos Ergebnisse zu finden sind.«30 Besonders in zwei Punkten führte ihre Kritik weiter. Sie wies erstens meine Behauptung zurück, am Ende des 18. Jahrhunderts sei ein neues Aussagesystem der Geschlechtertypisierung »erfunden« worden. Über diese von mir mit distanzierenden Anführungsstrichen versehene Formulierung lässt sich streiten. Interessanter aber ist Rangs Gegenthese, dass es in der fraglichen Zeit darum gegangen sei, an »überalterten Mustern festzuhalten«, diese zu beschwören und zu verteidigen, eben weil sie nicht mehr selbstverständlich waren.31 Mit einer solchen Überlegung normative Quellen zu interpretieren, hat sich für unterschiedlichste Zusammenhänge bewährt; doch sollte im Blick bleiben, dass neben Abwehr von Veränderungen gleichzeitig auch experimentelle Zukunftsgestaltungen im Spiel sein können. Allerdings erledigt sich damit nicht die Aufgabe, den Befund, dass und wie in deutschen Landen an der Wende zum 19. Jahrhundert das Aussagesystem über die polaren Geschlechtscharaktere mit viel Aufwand neu zusammengesetzt wurde, historisch zu interpretieren. Für diese Aufgabe ebnen seit Ende der 1980er Jahre zahlreiche Studien den Weg zu weiter führenden Antworten.32 28 Eine frühere Kritik von A. Kuhn ist in ein grobmaschiges Gedankengebäude eingefügt und daher wenig präzis, vgl. A. Kuhn, Das Geschlecht – eine historische Kategorie? Gedanken zu einem aus der neueren Geschichtswissenschaft verdrängten Begriff, in: I. Bremer u. a. (Hg.), Frauen in der Geschichte IV, Düsseldorf 1983, S. 29–50, hier S. 41–46. 29 B. Rang, Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert, in: J. Dalhoff u. a. (Hg.), Frauenmacht in der Geschichte, Düsseldorf 1986, S. 194–204. 30 Ebd., S. 195. 31 Ebd., S. 198. 32 Vgl. u. a. Honegger (wie Anm.22), als wichtigste weiterführende Studie zur wissenschaftlichen und speziell medizinisch-anatomischen Fundierung der Geschlechterkonzepte im 18./19. Jahrhundert; M. Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1780–1815), Göttingen 1996, als systematische Auswertung einer großen Zahl biographischer Quellen; U. Weckel, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen 1998, über Präsenz und Handlungsautonomie von Frauen sowie Geschlechterkonzepte als Inhalt und Diskurs im öffentlichen Raum; K. Hagemann, »Mannlicher Muth und Teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002, zu Bearbeitung und Einsatz von Geschlechterbildern im Zuge der Mobilisierung für Krieg und Nation; A. Epple, Empfindsame
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Mit ihrem zweiten Einwand ging es Brita Rang um den Nachweis, dass der Geschlechterdualismus eine vorkapitalistische und frühbürgerliche Vorgeschichte habe. Ähnlich kritisierte 1984 Paul Münch, ich hätte »die vielfach bis in die Antike reichende topische Denktradition« übersehen.33. Ich hatte die alte Tradition der »Kontrastierung von Mann und Frau« zwar durchaus erwähnt,34 mich aber damals weder mit den frühneuzeitlichen Tugendkatalogen noch mit den von Brita Rang angesprochenen dualen Geschlechtercharakterisierungen in den von der Antikenrezeption beeinflussten humanistischen Diskursen und in der Querelle des Femmes näher beschäftigt.35 Die Geschichte dieser Traditionen gilt es zu berücksichtigen. Aber diese speziell auf meine Argumentation zu beziehen, ist nicht einfach, sind doch die älteren und die neuen Aussagesysteme nicht ohne weiteres vergleichbar. Zumindest müsste zusätzlich zur Feststellung, dass es parallel zur Standesdefinition von Hausvater und Hausmutter schon vor dem 18. Jahrhundert Geschlechtertypisierungen gegeben hat, herausgearbeitet werden, ob und wie diese beiden unterschiedlichen Typisierungen in der Frühen Neuzeit auf einander bezogen wurden. Wie wurden die in die Körper eingepflanzt gedachten Wesensmerkmale verbunden mit denjenigen Zuschreibungen, die an den Ehe- und Hausstand anknüpften? Erst wenn dieses geklärt ist, kann – im Hinblick auf die um 1800 zunehmend vom sozialen Status der Ehe abgelöste und für alle Frauen und Männer Gültigkeit beanspruchende Geschlechtertypisierung – die Frage nach Kontinuitäten alter Traditionen und in die Zukunft weisenden innovativen Veränderungen beantwortet werden. Nachfolgende Forschungen haben das Angebot an Kenntnissen, Einsichten und historischen Deutungsmöglichkeiten inzwischen auch für diesen kritischen Bereich der Kontinuitäten, Übergänge und tiefgreifenden Veränderungen eindrucksvoll erweitert. Für den erwünschten Abgleich mit meinem anhand großer Lexika ermittelten Befund haben sich allerdings die Probleme der Rekonstruktion entsprechender deutschsprachiger frühneuzeitlicher Aussagesysteme, die für einen solchen Abgleich tauglich sind, eher vergrößert als verringert. So hat Rüdiger Schnell überzeugend herausgearbeitet, wie entscheidend es von der jeweiligen Textsorte abhängt, dass selbst die für einen eingegrenzten Zeitraum überlieferten Geschlechterkonzepte höchst unterschiedlich, ja einGeschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln 2003, die für Deutschland von 1770 bis 1810 mit Rückgriff auf Verständigungen über Poetik die Entwicklung historiographisch relevanter Erzählmuster und deren geschlechterspezifisch unterschiedliche Zuweisung und Bewertung herausarbeitet; sie qualifiziert die frühen Arbeiten von Hausen, Frevert, Honegger aus heutiger Sicht als »überholungsbedürftig« (S.8). 33 P. Münch, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«, München 1984, S. 28. 34 Hausen, Polarisierung (wie Anm. 1), S. 361. 35 Vgl. G. Bock u. M. Zimmermann (Hg.), Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, Stuttgart 1997 (= Bd. 2 von Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung)
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ander widersprechend ausgelegt erscheinen.36 Zudem unterscheiden sich nicht nur Gattungen und Genres, sondern auch die Intentionen und Funktionen sowie das adressierte Publikum und die Produzenten einschlägiger frühneuzeitlicher Texte erheblich von denen, die ich untersucht habe. Inzwischen hat außerdem Heide Wunder auf Basis ihrer vielschichtigen Studien zur Geschichte von Ehe-, Familien- und Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit ausdrücklich erläutert, dass und warum die von Brita Rang ins Feld geführte lange Tradition dualer Geschlechterzuordnungen nicht dazu taugt, die These von der um 1800 neuartigen Polarisierung der Geschlechtscharaktere zu widerlegen. Auch andere geschlechtergeschichtliche Forschungen zeigen, dass in der Frühen Neuzeit die auf den Ehe- und Hausstand bezogene Standesdefinition vorherrschte, diese aber im späten 18. Jahrhundert zugunsten der Geschlechtscharaktere allmählich aufgegeben wurde.37 Anders als Brita Rang, die die zeitliche und räumliche Begrenzung meiner Untersuchung als Borniertheit kritisierte, halte ich es nach wie vor für wichtig, die Unterschiedlichkeit verschiedener Sprach- und Kulturkreise herauszuarbeiten und zu beachten, dass normative Geschlechterkonzepte mit ihrer Argumentation und Diktion der jeweiligen historischen Zeit und deren spezifischen Sprach- und Denkkultur nicht nur entsprechen, sondern diesen auch vorauseilen oder hinter diesen zurück bleiben können. Die deutschsprachige Verallgemeinerung des Aussagesystems der Geschlechtscharaktere an der Wende zum 19. Jahrhundert war zeitlich und inhaltlich keineswegs deckungsgleich mit entsprechenden Entwicklungen in den Niederlanden, England oder Frankreich. Darauf weisen nicht nur theoretische Verständigungen über Geschlechterplatzierungen in diesen Ländern hin, sondern auch die in verschiedenen Sprachen und Staaten sehr unterschiedliche Rezeption so allgemein diskutierter Theoretiker wie Jean Jacque Rousseau oder Mary Wollstonecraft.38 Kurz eingegangen sei schließlich noch auf die in der Zeitschrift »Historische Anthropologie« veröffentlichten Kritiken von Rebekka Habermas und AnneCharlott Trepp aus den 1990er Jahren. Beide Wissenschaftlerinnen schrieben ihre Kritik vor dem Hintergrund ihrer eigenen, vornehmlich anhand überlieferter Briefe und Tagebücher ausgeführten Forschungen über einzelne, als handelnde und reflektierende Personen erkennbare Frauen und Männer aus dem
36 Vgl. R. Schnell, Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998. 37 So H. Wunder, »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S.267; vgl. auch R. Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 112 f. 38 Vgl. G. Bock, Frauen in der Europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit, München 2000; L. Davidoff u. C. Hall, Family Fortunes. Men and women of the English middle class 1780–1850, London 1987; G. Fraisse, La raison des femmes, Paris 1992; die in Anm. 26 genannten Sammelbände bieten aufschlussreiche Beiträge zur unterschiedlichen Rezeption u. a. von Jean Jacque Rousseau und Mary Wollstonecraft.
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Bürgertum.39 Beider Kritik stand im Zusammenhang thematisch sehr viel breiter angelegter Ausführungen. Anne-Charlott Trepps Kritik von 1996 ist Teil der Einleitung zu ihrem Aufsatz über das Privatleben des Juristen Ferdinand Beneke, eines bürgerlichen Mannes um 1800.40 Ihre der historischen Anthropologie verpflichtete Studie stellt die Praxisrelevanz des dichotomischen Modells von Öffentlichkeit und Privatheit und dessen Geschlechtsspezifik in Frage. Einleitend kritisiert sie vornehmlich die Rezeption des GeschlechtscharaktereAufsatzes: »Neuaufgeladen und zementiert wurde das Geschlechterrollen-Modell in der deutschen historischen Frauenforschung durch das bis heute fast ungebrochen wirksame Entwicklungsmodell der ›Geschlechtscharaktere‹ von Karin Hausen. […] Ohne das Modell ausreichend auf seine realhistorische Relevanz hin zu überprüfen, wurde es immer wieder aufs Neue bestätigt, wurden Ideologie und Wirklichkeit unreflektiert gleichgesetzt.«41
So zutreffend diese Diagnose ist, so irritierend ist die anklingende Unterstellung, ich selbst hätte das Geschlechtscharaktere-Modell als »ein Abbild der sozialen Wirklichkeit« ausgegeben. Diese Formulierung ist möglicherweise eine Übersetzung der »Spiegelung« im Titel meines Aufsatzes. Meine Wahl dieses schillernden Wortes zielte jedoch auf eine andere Aussage: Was in einer Spiegelung wiedergegeben und welches Bild wahrgenommen wird, wenn jemand oder etwas sich spiegelt, ist wegen der Vieldeutigkeit dieser Wechselbeziehungen nicht zu entscheiden. Diese Unbestimmtheit gilt umso mehr, als in meinem Aufsatztitel das Wort »Spiegelung« eine kommunikative Beziehung herstellt zwischen zwei historischen Prozessen von langer Dauer, die selbst kaum eindeutig zu definieren sind. Rebekka Habermas geht es 1993 in ihrem ausführlichen Forschungsbericht zum Verhältnis von Geschlechtergeschichte und »anthropology of gender« zwecks Stärkung ihrer eigenen Argumentation hauptsächlich um eine pauschale Abwehr des Geschlechtscharaktere-Aufsatzes.42 Sie entwirft für die Bundesrepublik eine als Fortschritt bewertete Forschungsentwicklung. Diese habe in den 1960er Jahren mit der Frauengeschichte begonnen und sich unter dem Einfluss der »anthropology of gender« in den 1980er Jahren zur historischanthropologischen Geschlechtergeschichte empor gearbeitet. An Stelle des zu39 Vgl. A.-C. Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit, Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; R. Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 2000. 40 A.-C. Trepp, Anders als sein »Geschlechtscharakter«. Der bürgerliche Mann um 1800. Ferdinand Beneke (1774–1848), in: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag, Jg. 4, Heft 1, 1996, S. 57–77. Ich gebe hier dem deutschsprachigen Aufsatz den Vorzug vor dessen Vorläufer in: Central European History 27, 1994, S. 127–152. 41 Ebd., S. 61, und nachfolgendes Zitat S. 62. 42 R. Habermas, Geschlechtergeschichte und »anthropology of gender«. Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag, Jg. 1, 1993, S. 485–509.
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nächst »biologischen, statischen, ahistorischen Modells« sei demnach ein »kulturalistisches, dynamisiertes und historisiertes Modell« getreten, und erst dieses trage der »wandelbaren Welt des Sozialen und Kulturellen« und der Männergeschichte Rechnung.43 Wie haltbar diese für einen umfangreichen Forschungsbericht nützlichen Grenzziehungen auch immer sein mögen, zutreffend ist, dass der Geschlechtscharaktere-Aufsatz kein historischer Beitrag zu einer »anthropology of gender« ist und dieses auch nicht sein sollte. Um so irritierender ist, dass Rebekka Habermas in grob verzerrender Rezeption den Aufsatz präsentiert als typisches Beispiel der ahistorischen feministischen Unterdrückungsgeschichte, die Frauen ausschließlich als Opfer von Herrschaftsgelüsten männlicher Menschen wahrgenommen und nicht begriffen habe, dass Diskurse über »Geschlechtervorstellungen« und »Geschlechtsidentitäten« Ausdruck dynamischer Konfliktbearbeitung sind. Als Beleg für eine solche kurzschlüssige Deutung »patriarchaler Herrschaftsabsicherung« wird auf den Geschlechtscharaktere-Aufsatz verwiesen,44 jedoch geflissentlich unterschlagen, dass auf der zitierten Seite ausdrücklich eine doppelgleisige Argumentation angekündigt wird: »Die Charakterbestimmungen dienten zweifellos zum einen der ideologischen Absicherung von patriarchalischer Herrschaft.«45 Dieses »zum einen« belegte ich zunächst mit Zitaten aus Texten des 19. Jahrhunderts und reagierte damit historisch spezifisch, also kritisch, auf die damals aktuelle, universalistisch ausgerichtete politische Patriarchats-Debatte der Neuen Frauenbewegung. Gemäß dem angekündigten »zum einen« ließ ich knapp zwei Seiten später zum anderen auf vier Seiten Ausführungen darüber folgen, dass sich das untersuchte Aussagesystem mitnichten allein auf Herrschaftslegitimation beschränkte. Mindestens ebenso nachdrücklich sei darin die Idee der Ergänzung der Geschlechter und der damit verbundene Wunsch, wenn schon nicht als einzelner Mensch, dann doch als Mann-Frau-Paar sich dem Ideal einer harmonisch entfalteten Persönlichkeit anzunähern.46 Habermas spitzt wenig später ihre karikierenden Mitteilungen über die Anfänge der historischen Frauen- und Geschlechterforschung weiter zu. Mit Verweis auf den GeschlechtscharaktereAufsatz erläutert sie, Karin Hausen hätte Thesen von Rosaldo (die ich 1975 noch nicht kannte) »fruchtbar« gemacht, soll heißen »eine Vorstellung von ebenso geschlechts- wie zeit- und kulturlosen Erfahrungen und Bedeutungen« verbreitet und damit »Rosaldos Annahme, daß die Segregierung der Geschlechter in private und öffentliche Räume stets als eindeutiges Indiz für eine unterdrückte Stellung der Frauen angesehen werden muß, bestätigt …«47 Eine geübte Leserin konnte unschwer erkennen, dass ich bei meiner hypothetisch erörterten Frage, welche Relevanz das Aussagesystem »Geschlechts43 44 45 46 47
Ebd., S. 495 f. Ebd., S. 491, ähnlich S. 493. Hausen, Polarisierung (wie Anm. 1) S. 375. Ebd., S. 377–381. Habermas, Geschlechtergeschichte (wie Anm. 42), S. 500.
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charaktere« für gelebte Geschlechterbeziehungen und gesellschaftlich geprägte Geschlechterverhältnisse überhaupt hatte haben können, keineswegs von Deckungsgleichheit ausging. Mich leitete ganz im Gegenteil meine Überraschung, dass dieses meines Erachtens für alltägliche Orientierungen eher absurde Denkmodell trotzdem bis in das frühe 20. Jahrhundert weitergereicht wurde. Es lag mir fern, normative Vorstellungen mit gelebten Geschlechterbeziehungen und Eheverhältnissen gleichzusetzen. Wie Frauen und Männer sich tatsächlich verhielten, lässt sich historisch kaum klären und schon gar nicht davon ableiten, ob sie Kritik an den zugeschriebenen Geschlechtscharakteren äußerten oder nicht. Selbst die zumindest für eine kleine Gruppe von Frauen und Männern überlieferten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die als Quellen für historisch-anthropologische Genderforschungen besonders wertvoll sind, eröffnen schwerlich verlässliche oder gar »authentische« Zugänge zu Handlungen, Verhaltensweisen und Erfahrungen des alltäglichen Zusammenlebens von Frauen und Männern. Auch solche Niederschriften, die bekanntlich häufig Schreibkonventionen oder Schreibmustern folgen, sind durchwoben von situativen und intentionalen Zusammenhängen, die sich historisch kaum von Fall zu Fall rekonstruieren lassen.48 In Auseinandersetzung mit dieser schwierigen Forschungssituation habe ich zur eigenen Orientierung einige Grundannahmen, die mir in den 1970er Jahren wichtig waren, bis heute beibehalten. Diese lassen sich speziell für den Geschlechtscharaktere-Aufsatz in vier Sätzen zusammenfassen. Erstens: diskursiv bearbeitete normative Vorstellungen haben irgendetwas mit Lebenswirklichkeiten zu tun; aber mit dieser Annahme ist überhaupt nicht entschieden, welche Menschen sich in ihrem Alltagsleben in welcher Weise positiv oder negativ auf solche Normen beziehen. Zweitens: Erwachsene Menschen gleich welchen Geschlechts und welcher sozialen Zugehörigkeit waren schon immer bestrebt und dazu herausgefordert, sich aktiv ihr Leben unter welchen Bedingungen auch immer einzurichten und auszugestalten. Drittens: Die im 19. Jahrhundert intensiv bearbeitete und gesellschaftspolitisch sehr folgenreiche konzeptionelle Trennung und zugleich geschlechtsspezifische Zuweisung von Privatheit und Öffentlichkeit ist keine Abbildung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ein Ordnungsverfahren, das Trennschärfe suggeriert und zugleich die tatsächlich vielfältigen Überlagerungen und Durchmischungen der avisierten Bereiche unterschlägt. Viertens: Ungeachtet aller normativen Vorgaben ist auch für das 19. Jahrhundert davon auszugehen, dass es durchaus emotionale und passive Männer und rationale und aktive Frauen gegeben hat und dass es wohl schon immer eine Frage des Definierens war, wann Emotion rational und wann Rationalität emotional genannt wurde. 48 Vgl. hierzu beispielhaft U. Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005, insbesondere das Kapitel über »Pietistischbürgerliche Identität durch Schreiben und Lesen: Selbstdeutung, Zeugnis und Exempel«, S. 119–208.
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4. Der Ausblick auf Weiterungen Die Frage, wie das Verhältnis zwischen formelhaft kommuniziertem normativem Aussagesystem und tatsächlichen Verhaltensweisen zwischen je einzelnen Frauen und Männern zu denken oder gar zu bestimmen sei, durchzieht als Grundton und Anlass zu unterschiedlichen Antworten die Rezeption des Geschlechtscharaktere-Aufsatzes. Ich möchte deshalb zum Schluss auf dieses komplizierte Verhältnis noch einmal aus einer anderen Sicht zurück kommen. In meinem 1988 veröffentlichten Aufsatz » … eine Ulme für das schwanke Efeu«49 habe ich mich zu einer Sozialgeschichte bürgerlicher Ehepaare geäußert und einige, im Blick auf längerfristige Entwicklungen interessante Aspekte erläutert. Im Folgenden will ich nicht auf den Inhalt dieses Aufsatzes, sondern allein auf die Redeweise von der Ulme und dem Efeu, die ich zufällig in einer von Ottilie Wildermuth 1855 veröffentlichten Erzählung entdeckt und in den Titel des Aufsatzes übernommen habe, näher eingehen, nachdem mich freundliche Leserinnen mit weiteren Funden zu Efeu/Weinrebe plus Ulme/Eiche/ fester Stamm auf den offenbar populären Einsatz dieses Sinnbilds hingewiesen haben. Efeu und Weinrebe sowie Eiche und Ulme hatten als Sinnbilder je einzeln und in Kombinationen miteinander sehr unterschiedliche Bedeutungen. Deren bis in die Antike zurück reichende Tradition wurde in frühneuzeitlichen Texten und Bildern häufig bearbeitet. Im 16. und 17. Jahrhundert versinnbildlichte Efeu plus Mauer das wechselseitige Stützen und Gestütztwerden, während Efeu, der einen Baum umrankt, gemäß der Unterstellung, Efeu töte den Baum, ein Sinnbild für Undankbarkeit abgab.50 Im späten 18. Jahrhundert gewann das positiv besetzte Bild vom Baum als Mann und der Ranke als die mit ihm verbundene Frau an Bedeutung. Joachim Heinrich Campe erweiterte 1789 die übliche Redeweise von dem Mann als Oberhaupt und Beschützer und der Frau als dessen Gefährtin und Gehilfin um das Sinnbild: »er die Eiche, sie der Efeu, der einen Theil seiner Lebenskraft aus den Lebenskräften der Eiche saugt, der mit ihr in die Lüfte wächst, mit ihr den Stürmen trotzt, mit ihr steht und mit ihr fällt – ohne sie ein niedriges Gesträuch, das von jedem Vorübergehenden zertreten wird.«51
49 K. Hausen, » … eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: U. Frevert (Hg.), Bürgerinnen (wie Anm. 24), S. 85–117. 50 Vgl. A. Henkel (Hg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, S. 276f, 278 f. 51 J. H. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron, Braunschweig (1789), 2. Aufl. 1796, S. 23, dgl. 7. Aufl. 1809, S.26.
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Johann Wolfgang Goethe umspielte 1797 in seinem Gedicht »Amyntas« aus der Sicht eines von Efeu bewachsenen Apfelbaums die Genüsse und Qualen des in Liebe miteinander Verwachsenseins.52 Im 19. Jahrhundert entwickelten sich das Bild von Eiche/Ulme/festem Stamm mit rankendem Efeu offenbar zum bevorzugten Sinnbild für Mann und Frau in der Ehe. Zumindest deutet darauf die kritische Abwehr hin, mit der unter anderem Fanny Lewald 1843, Ottilie Wildermuth 1855, Eugenie Marlitt 1866 und Theodor Fontane 1894 in ihren Romanen dem geläufigen Sinnbild begegneten.53 Mit dem Bild zirkulierte die normative Botschaft, die Frau als die Halt suchende Ranke und der Mann als der feste Baum sollten in der Ehe liebend einander auf Dauer verbunden sein. Dieses Bild nahm sowohl das AufeinanderVerwiesen-Sein in Freundschaft und Treue als auch die Ambivalenz von Stärke und Schwäche auf, blendete aber aus, dass das Efeu auch dann noch frisch emporwachsen kann, wenn der morsch gewordene Stamm bereits zusammenbricht. Helene Lange urteilte 1921 im Rückblick auf das höhere Mädchenschulwesen der 1870er Jahre: »Und der uralte Schatz an Gleichnissen, Bildern und Sprichwörtern des Volkes, Lyrik und Epik, dieser Niederschlag männlicher Auffassung, hatte auch den Frauen selbst den rankenden Efeu am festen Stamm als Symbol für die Geschlechter fest eingeprägt.«54 An der Wende zum 20. Jahrhundert verlor das Efeu-Eiche-Sinnbild an Gebrauchswert. Aufschlussreich ist hierfür das 1908 erschienene populäre, von zwei Ärzten herausgegebene dreibändige, opulent ausgestattete Sammelwerk »Mann und Weib«. Im ersten Band schrieb Dr. phil. Josef Müller in seinem Artikel »Der Mann als Gatte« noch einmal nachdrücklich den Männern ins Stammbuch: der Mann »muß der feste Stamm sein, an dem sich die weibliche Ranke emporheben kann.« 190 Seiten später konterte Marie Stritt, damals Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, in ihrem Beitrag über »Das Weib als Gattin«, wenn in Zukunft Eheleute als »einander ergänzende Gefährten« in der Ehe zusammenleben, dann sei Schluss mit solchen unsinnigen Bildern: »Die materiell und geistig unabhängige Gattin wird … die altmodischen Bilder vom »Efeu und der Eiche«, vom »unbeschriebenen Blatt« und ähnliche aus der Welt schaffen …«55 Das von 52 J. W. Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 1, Zürich 1950, S. 202 f. 53 Vgl. ausführlicher hierzu U. Weckel, Was kann und zu welchem Zweck dient das Efeu?, in: B. Duden u. a. (Hg.), Geschichte in Geschichten. Ein historisches Lesebuch, Frankfurt a. M 2003, S. 78–83. Sie erläutert die verschiedenen im 18. Jahrhundert dem Efeu zugeschriebenen Bedeutungen und zitiert aus dem Roman »Jenny. Ein historischer Roman« von F. Lewald, aus der Erzählung »Die Verschmähte« von O. Wildermuth und dem Roman »Effi Briest« von T. Fontane. Auch E. Marlitt lässt in ihrem Roman »Goldelse« die tatkräftige Heldin sagen: »Ich habe von jeher das abgenutzte Bild von Efeu und der Eiche nicht leiden mögen …«, zit. nach der Ausgabe als Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1974, S. 53. 54 H. Lange, Lebenserinnerungen, Berlin 1921, S. 132 f. 55 R. Koßmann u. J. Weiß (Hg.), Zitate Bd. 1, 1908, S. 190 und S. 380 (wie Anm. 9).
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Wilhelm Rein herausgegebene grundlegende »Enzyklopädische Handbuch der Pädagogik« verwarf bereits 1897 das veraltete Sinnbild: »Das allbeliebte und viel mißbrauchte Bild von der Eiche, an der liebevoll der Epheu sich emporankt, hat seine Poesie in unsern Tagen eingebüßt: es fehlt die genügende Anzahl sicherer und starker Eichen in deutschen Landen. Dieses Loslösen der Frau vom Manne, diese Notwendigkeit, nicht bloß Blüte und Kranz, sondern selbstwirkender Faktor in der gewaltigen Arbeit unserer Zeit zu sein – es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen unserer Zeit, die unter Umständen freilich für unsere Frauen auch von großem Segen sein kann; denn auch für die Frauen gilt das Wort, daß Arbeit nicht bloß Mittel, sondern auch Zweck unseres Lebens sein soll.«56
Der Nachhall des im 19. Jahrhundert trivialisierten Sinnbildes reichte allerdings noch weit in das 20. Jahrhundert hinein. So ließ etwa Max Frisch 1957 im Roman »Homo Faber« den als Ingenieur weltweit tätigen Herrn Faber beim Nachsinnen über Frauen allgemein und speziell über seine ihm lästig gewordene Geliebte Ivy zum Schluss kommen: »Ivy heißt eigentlich Efeu, und so heißen für mich eigentlich alle Frauen.«57 Das sprechende Bild von Stamm und Ranke diente allerdings auch in anderen Bezugsfeldern der Sinngebung. Das Ehepaar-Sinnbild untermalte gleichsam die in Ahnentafeln abgebildeten, Generationen überdauernden Männer-Stammbäume, indem die unverzichtbaren weiblichen Linien nur als kurzzeitig angeheftete Ehe-Ranken an den mit seinen Verzweigungen hochragenden Stammbäumen gezeigt wurden. Eine andere Deutung des Sinnbildes benutzte der deutsche Kaiser Wilhelm II am 9. September 1894, als er in seiner Königsberger Rede den preußischen Adel »zum Kampfe für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes« aufrief und fortfuhr: »Wie der Epheu sich um den knorrigen Eichenstamm legt, ihn schmückt mit seinem Laub und ihn schützt, wenn Stürme seine Krone durchbrausen, so schließt sich der preußische Adel um mein Haus …«58 Diese Redefigur karikierte Heinrich Mann in seinem 1914 abgeschlossenen, 1918 veröffentlichten Roman »Der Untertan«. Er ließ Diederich Heßling bei dessen Rede zur feierlichen Enthüllung des KaiserWilhelm-Denkmals ausrufen: »Seine Persönlichkeit ist stark genug, daß wir allesamt uns efeuartig an ihr emporranken dürfen!«59 Während Wilhelm II das Bild von Eiche und Efeu als Sinnbild für Stärke, Treue und Schutz aufgeru-
56 W. Rein (Hg.), Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 4, Langensalza 1897, S. 648; ebenso 2. Aufl., Bd. 5, 1906, S. 728 f.; ich danke Christa Kersting für diesen Hinweis. 57 M. Frisch, Homo Faber. Ein Bericht, Frankfurt a. M. 1957, zitiert nach Ausgabe von 1965, S. 111. Im Zusammenhang ihrer Ausführungen über die durch Ideologien gestützte Rollen- und Aufgabenverteilung der Geschlechter zitierte 1932 auch die scharfsinnige A. RühleGerstel (wie Anm. 9), S. 147, noch den lapidaren Spruch: »Der Mann der Stamm, das Weib die Ranke.« 58 Zitiert nach G. A. Ritter (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914, Göttingen 1981, S. 287 f. 59 H. Mann, Der Untertan, Leipzig 1918, S. 501. Ich verdanke diese Hinweise Ulrike Weckel.
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fen hatte, unterlegte Heinrich Mann der Redefigur unübersehbar das EhepaarSinnbild und feminisierte damit das zur Huldigung des Kaiser-Denkmals versammelte Bürgertum. Im 19. Jahrhundert war das Aussagesystem der Geschlechtscharaktere offenbar zusammen mit dem Bild von Eiche und Efeu als viel benutzte Prägung zentraler Normen rege in Umlauf. Was allerdings mit dieser Prägung im individuellen Reden und Denken gemacht wurde, lässt sich an der Prägung selbst nicht ablesen. Erkennbar ist jedoch, dass beide Prägungen in dieser speziellen Form an der Wende zum 20. Jahrhundert an Wert verloren und allmählich aus der Zirkulation und Kommunikation verschwanden. Im 20. Jahrhundert gerieten das Wort »Geschlechtscharakter« und das Bild von Baum und Ranke in Vergessenheit. Das Verschwinden der Prägungen ist zweifellos ein Indiz für Veränderungen im stabilisierenden öffentlichen Bereden von Geschlechterordnung, Geschlechterverhältnissen und gesellschaftlich erwünschter Platzierung von Frauen und Männer. Doch das gesellschaftliche Programm der »natürlichen« Geschlechterdifferenz galt auch im 20. Jahrhundert weiterhin als unverzichtbar, wie unter anderem Debatten und Politiken zu Sittlichkeit, Ehe, Familie, Bevölkerung, Sexualität, Arbeitsmarkt, Bildungs-, Berufs- und Erwerbschancen zeigen. Zur öffentlichen Verständigung über das Differenzprogramm waren nun allerdings zeitgemäßere Redeweisen gefragt, die problemlos je nach Bedarf modernisiert und für spezielle Funktionsbereiche ausdifferenziert wurden und bis heute werden.60 Eine vor vielen Jahren an mich gerichtete normative Redeweise soll meinen persönlich gehaltenen Rückblick beenden. Ich erinnere mich lebhaft an folgende kleine Szene vermutlich aus dem Jahr 1947. Mittags aus der Volksschule zurückkommend stieg ich nach dem Klingeln vergnügt pfeifend die Treppen hinauf. Oben im Treppenhaus erwartete mich meine Großmutter. Sie lehnte über dem Treppengeländer, winkte mir zu und begrüßte mich lachend mit dem Spruch: »Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, den soll man bei Zeiten die Hälse umdrehen.«61 Die Brutalität dieser Redeweise ist mir erst sehr viel später aufgefallen. Damals habe ich etwas ganz anderes wahrgenommen und seitdem im Gedächtnis behalten. Ich hörte, dass sich das, was ich lange geübt hatte und nun stolz zum Besten gab, nämlich das Pfeifen mit dem Mund, nur 60 Ein interessantes Beispiel untersucht G. Krell, Gender Marketing: Ideologiekritische Diskursanalyse einer Kuppelproduktion, in: R. Diaz-Bone u. G. Krell (Hg.), Diskurs und Ökonomie, Wiesbaden 2009, S. 203–224. 61 Vgl. hierzu B. Nübel, Krähende Hühner und gelehrte Weiber. Aspekte des Frauenbildes bei Johann Gottfried Herder, in: Herder Jahrbuch, 1994, S. 29–50, die auf S. 49 aus einem Brief Herders vom 20.9.1770 an seine Braut Caroline Flachsland das »Arabische Sprüchwort« zitiert: »eine Henne, die da krähet, und ein Weib, das gelehrt ist, sind üble Vorboten: man schneide beiden den Hals ab!«; vgl. zu Nübel und Herder auch Epple (wie Anm. 32 ) S. 120; L. Röhrich, Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 2, Freiburg 1992, S. 988, erläutert das Sprichwort hinsichtlich Normbruch, Gefährlichkeit, Teufelslockruf, informiert aber nicht über dessen zeitliche und regionale Verbreitung.
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für Jungen schickt. Aber da meine Großmutter mir diese Lehre lachend und als Willkommensgruß erteilte, merkte ich mir nicht in erster Linie das Verbot, sondern ganz im Gegenteil die mir erwünschte Anerkennung meiner Kunst und ganz beiläufig die Maxime, dass es zwar gut ist, zirkulierende Normen zu kennen, man aber gegen diese auch verstoßen kann, ohne gleich Sanktionen zu riskieren.
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II. Haushalt und Technik
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Technischer Fortschritt und Frauenarbeit Zur Sozialgeschichte der Nähmaschine*
Das kleine Arbeitsinstrument Nähmaschine ist offenbar viel zu unscheinbar, als dass es im Prozess der industriellen Entwicklung eine nennenswerte Rolle gespielt haben könnte. Diesen Eindruck vermitteln zumindest Überblicksdarstellungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Nähmaschine, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnen. Einzig David Landes hat 1965 in seinem Beitrag für die Cambridge Economic History die technische, ökonomische und soziale Bedeutung der Nähmaschine unterstrichen und sie als »bedeutsamste Neuerung in der Produktion von Konsumgütern seit der Erfindung des mechanischen Webstuhls« bezeichnet.1 In der Tat zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass der Übergang vom Hand- zum Maschinennähen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs mit der Veränderung der Produktionstechniken erschöpft ist. Diese Entwicklung betrifft vielmehr zugleich die gesamte Arbeits- und Marktorganisation des Bekleidungsgewerbes, das in dieser Zeit von der handwerklichen bedarfsorientierten zur kapitalistischen marktorientierten Produktion übergeht. Darüber hinaus erhält auch der Bau von Maschinen und Werkzeugmaschinen mit der fabrikmäßigen Produktion von Nähmaschinen seit den 1850er Jahren zukunftsweisende neue Impulse. Schließlich entfaltet die massenhafte Verbreitung der Nähmaschine als Produktionsmittel und Konsumgut eine Dynamik, die bis hinein in die Haushalte der verschiedenen Klassen und Schichten die Mechanismen des kapitalistischen Waren- und Arbeitsmarktes wirksam werden läßt. Karl Marx hat das Auftreten dieser »revolutionären Maschine« als einen Knotenpunkt begriffen und daran den Prozess der kapitalistischen Produktions- und Marktentwicklung illustriert.2 Ich will im Folgenden die Anregung von Marx aufnehmen in der Erwartung, dass es in der Konzentration auf dieses kleine, im Prozess der Industrialisierung vergleichsweise unscheinbare Gerät besonders gut gelingt, Wirtschaft und Gesellschaft als Strukturzusammenhang und Prozess zu analysieren. Anders als Marx wähle ich die Nähmaschine allerdings nicht als ein relativ beliebiges Beispiel. Mich interessiert die Nähmaschine vielmehr deshalb als Ausgangspunkt einer Gesellschaftsanalyse, weil sie ein Zwitterding ist zwischen Hausrat * Zuerst erschienen in: Geschichte und Gesellschaft 4, 1978, S. 148–169. 1 Vgl. jetzt D. Landes, Der entfesselte Prometheus, Köln 1973, S. 277. 2 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, 13. Kap., Marx-Engels-Werke Bd. 23, Berlin 1969, S. 494–496.
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und Produktionsanlage und es von daher nicht zulässt, Hauswirtschaft und Erwerbswirtschaft wie sonst für das 19. Jahrhundert üblich, analytisch fein säuberlich zu trennen. Nähmaschinenarbeit ist in erster Linie Frauenarbeit und zwar Frauenarbeit, die auch noch in der konkreten Anwendungsform des späten 19. Jahrhunderts alle nur denkbaren Variationen von privat bis gesellschaftlich organisierter Arbeit aufweist. Die Realität dieser Frauenarbeit liegt quer zu solchen systematischen Kategorien der Nationalökonomie, die den Konsum- vom Produktionsbereich, die produktive von der unproduktiven Arbeit trennen und Schwierigkeiten haben, zwischen vermeintlichem Leistungslohn und Familieneinkommen, zwischen Familienwirtschaft und Industriewirtschaft eine Verbindung herzustellen. Mir scheint, dass man die gesellschaftliche Realität des Hochkapitalismus richtiger begreift, wenn man dem theoretischen und empirischen Niemandsland zwischen dem privaten Haushalt und der kapitalistischen Agrar- und Industriewirtschaft mehr Aufmerksamkeit schenkt als bisher. Damit habe ich den Rahmen abgesteckt, in den sich eine Sozialgeschichte der Nähmaschine einordnet. Im Folgenden werde ich am Beispiel der deutschen Verhältnisse für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg einige technik-, wirtschafts- und sozialgeschicht liche Aspekte einer solchen Geschichte der Nähmaschine diskutieren. Ein so großes Thema in gedrängter Form auf wenigen Seiten vorstellen zu wollen, ist gewiss nicht unproblematisch. Eine komprimierte Problem- und Materialskizze erlaubt es aber möglicherweise besser als eine in allen Details ausgefeilte Fallstudie, Informationen und Interpretationen zur Diskussion zu stellen und Anregungen weiterzugeben.
I. In Deutschland verbreitete sich die Kenntnis über die in den USA gebauten ersten funktionstüchtigen Nähmaschinen sehr schnell zwischen 1850 und 1855. Meyers Konversationslexikon, das 1852 noch keinen Artikel über die Nähmaschine brachte, holte das Versäumte bereits im Supplementband von 1854 ausführlich nach. Selbst im Kleinen Brockhaus heißt es 1855, die Nähmaschine sei »eine amerikanische Erfindung der neuesten Zeit, jetzt in Deutschland verbessert und vielfach in Anwendung, liefert eigentlich nur den sogen. Steppstich, aber diesen mit einer fast unbegreiflichen Gleichmäßigkeit und Schnelligkeit. Zu ihrer Bedienung bedarf sie einer Person, welche den Stoff in der Richtung der zu diesem Zwecke vorgezeichneten Naht zuführt und die Nadeln mit Fäden versieht«.3 Für die als Fachleute interessierten Techniker und Fabrikanten berichteten bereits seit der Londoner Weltausstellung von 1851 diverse Fach3 Kleineres Brockhaus’sches Conversations-Lexikon für den Handgebrauch, Bd. 3, Leipzig 1855, S. 700.
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organe4 detailliert über neu angemeldete Nähmaschinen-Patente. Dem staunenden Publikum wurden 1854 die ersten aus den USA importierten »Eisernen Näherinnen« auf den Jahrmärkten gegen Eintrittsgeld, auf Gewerbeausstellungen oder in Ladenschaufenstern vorgeführt.5 Es blieb allerdings nicht beim bloßen Staunen. Bereits in den 1850er Jahren bauten deutsche Handwerker die ersten eigenen Nähmaschinen, deren Mechanismus sie u. a. bei Reparaturarbeiten hatten studieren können.6 Der eigentliche Nähmaschinen-Boom setzte in Deutschland in den 1860er Jahren ein, als die ersten Nähmaschinen-Fabriken entstanden und die amerikanischen Firmen, allen voran die Singer Company, den deutschen Markt eroberten.7 Um das von Anfang an auffallend große Interesse an dieser Erfindung zu erklären, lohnt ein Blick auf die Innovationsgeschichte.8 Als Erfinder der Nähmaschine gilt Elias Howe. Er meldete 1846 in den USA ein Patent auf seine Nähmaschinenkonstruktion an, setzte jedoch sein Erstlingswerk gegenüber den um 1850 allenthalben auftauchenden finanzkräftigeren Nähmaschinen-Fabrikanten erst nach aufwendigen Patentstreitigkeiten durch. Howe als den Vater der Nähmaschine zu feiern, ist insofern richtig, als erst die Howesche Maschine den Durchbruch zum Maschinennähen brachte. Dennoch vereinfacht diese Zuschreibung. Denn wie bei allen anderen, so auch bei dieser Erfindung, bahnten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche Vor-Erfindungen den Weg von der zunächst vergeblich versuchten Nachahmung des Handnähens zur schließlich erfolgreichen maschinellen Anfertigung einer Naht. Die wichtigsten Etappen des Erfindungsprozesses waren die Verlagerung des Nadelöhrs an die Spitze der Nadel und die Befreiung des Nähens vom kurzbemessenen Faden, indem der Faden nicht länger bei jedem Stich ganz durch den Stoff gezogen wurde, sondern nur auf der Unterseite des Stoffes Schlaufen bildete, die von der jeweils nachfolgenden Schlaufe oder von einem zweiten Faden unterhalb des Stoffes verknotet wurden. Der Stofftransport und die Fadenspannung waren weitere technische Probleme, die erst über mehrere Zwischenerfindungen gelöst wurden. Die Nähmaschine von Howe ist daher auch keineswegs der Schlussstein der Erfindungsgeschichte, sondern ein Ausgangspunkt für eine Fülle von Zusatz- und Verbesserungserfindungen, die u. a. auch deshalb als Patent angemeldet wurden, um die Produktion von den Howeschen Lizenzen zu befreien. Die Verwendbarkeit der Nähmaschine hing nicht zuletzt von der Entwicklung eines Nähgarns ab, das den erhöhten Anforderungen des Maschinennähens gerecht wurde. Ein solches Maschinen-Baumwollgarn kam 4 Vgl. z. B. Dinglers Polytechnisches Journal; Der Arbeitgeber. Centralorgan für die Arbeiter und Unternehmer aller Stände, hg. von M. Wirth. 5 Vgl. R. Herzberg, Die Nähmaschinen-Industrie in Deutschland, Berlin 1863, S. 5 f. 6 Vgl. W. Köhler, Die Deutsche Nähmaschinen-Industrie, Leipzig 1913, S. 21–27. 7 Ebd., S. 28 f. 8 Zur Erfindungsgeschichte vgl. u. a. G. R. Cooper, The Invention of the Sewing Machine, Washington 1968. Eine sehr detaillierte Beschreibung der zur Lösung anstehenden technischen Probleme gibt H. W. Lind, Das Buch von der Nähmaschine, Teil 1, Berlin 1891.
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erst Anfang der 60er Jahre auf den Markt.9 Am Rande sei vermerkt, dass die Nähmaschine außer den zahlreichen Sparten der Stoffverarbeitung sofort auch die der Lederverarbeitung eroberte und selbst in der Buchbinderei Eingang fand, was wiederum die Entwicklung zahlreicher Spezialmaschinen beförderte und so das Feld für aussichtsreiche Zusatzerfindungen schnell ausweitete.10 Das Arbeitsinstrument Nadel dem Menschen aus der Hand zu nehmen, um es einem Mechanismus zu überantworten, ist jedoch ein Vorgang, der mehr umfasst als nur die Lösung der anstehenden technischen Probleme. Eine Maschine zum Nähen stand bereits seit der Jahrhundertwende auf der Tagesordnung und beschäftigte den Erfindungsgeist seit den 1830er Jahren mit zunehmender Intensität.11 Das offensichtlich günstige Innovationsklima kann kaum überraschen, wenn man bedenkt, dass gegenüber der seit dem 18. Jahrhundert erheblich gesteigerten Arbeitsproduktivität beim Spinnen und Weben die Endverarbeitung der Stoffe weit zurückgeblieben und immer noch auf zeitraubende Handarbeit angewiesen war. Die Grenze der Arbeitsproduktivität wurde um so spürbarer, als eventuell schon in den 1820er, gewiss aber in den 1830er Jahren der Handel mit wachsendem Erfolg begann, den Absatzmarkt nicht länger nur für Altkleider, sondern in großem Maßstab auch für neu verarbeitete Stoffe und Qualitätswaren zu organisieren. Neu gegründete Kleider- und Wäschemagazine eroberten nach dem lokalen den weiteren Inlands- und schließlich den Auslandsmarkt für Konfektionswaren. Diese Entwicklung des Warenmarktes sprengte langfristig die handwerkliche Produktion der Schneider ebenso wie die Haushaltsproduktion der weiblichen Familienmitglieder bzw. der auf Stör, d. h. in fremden Haushalten arbeitenden Näherinnen und verhalf der Konfektionsindustrie zum Durchbruch. In Deutschland begann die kapitalistische Warenproduktion im Bekleidungsgewerbe,12 als der Einzel- und bald auch der Großhandel sich nicht mehr da9 Ebd., S. 64. 10 Es wäre reizvoll, ausgehend von der technischen Innovation der Nähmaschine und deren unterschiedlicher Verwendung in der Leder- und Stoffverarbeitung eine vergleichende Analyse der sozioökonomischen Bedingungen und Folgen des technischen Fortschritts durchzuführen. 11 Weitgehend unabhängig voneinander wurden in England, Frankreich, Österreich und den USA Nähmaschinen erfunden, vgl. Cooper (wie Anm. 8), S. 4–16. Angewandt wurde allerdings allein die 1830 patentierte Kettenstichmaschine des Franzosen B. Thimonnier. Seine 1841 in der Pariser Uniformschneiderei eingesetzten 80 Maschinen fielen einer Maschinenstürmerei zum Opfer. Geldnot und die 48er Revolution hinderten den Erfinder an einer erneuten Nutzung seines Patents, bevor die besseren amerikanischen Maschinen den Markt eroberten, vgl. ebd., S. 137 f. 12 Vgl. G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen, (Halle 1870) Hildesheim 1975, S. 642–52; L. Baar, Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution, Berlin 1966, S. 73–85, gibt am Berliner Beispiel eine hervorragende Studie der aufkommenden kapitalistischen Warenproduktion. Die Geschichte speziell der Berliner Kleider- und Wäschekonfektion streifen J. Feig, Hausgewerbe und Fabrikbetrieb in der Berliner Wäsche-Industrie, Leipzig 1896,
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mit begnügten, Stoffe und Fertigwaren nur umzusetzen, sondern dazu übergingen, selbst Konfektion herzustellen bzw. deren Herstellung in Auftrag zu geben. Für die Wäschefabrikation war meistens der Leinwarenhandel die Ausgangsbasis. Offenbar zeigten sich die Leinwandkäufer schon in den 1820er Jahren daran interessiert, Wäsche nicht länger zu Hause zu nähen, sondern bei dem Leinwandgeschäft in Auftrag zu geben. Die gewünschten Stücke wurden zunächst in sogenannten Nähschulen,13 später von direkt bei der Handlung beschäftigten, meistens allerdings zuhause arbeitenden Näherinnen angefertigt. Anfangs erfolgte die Anfertigung nach Maß, bald aber ging die Branche zur Fertigung von Stapelware und zur Spezialisierung auf bestimmte Wäschestücke über. Wäschekonfektion erfolgte in großem Maßstab allerdings wohl erst in den 1860er Jahren. Die Entwicklung der Kleiderkonfektion lässt sich beispielhaft am Aufschwung der Berliner Industrie nachzeichnen. Berlin war nicht nur ein Pionier in dieser Branche, sondern behauptete auch noch im 20. Jahrhundert seine Vorrangstellung. Hier bildete sich als erstes die Damenmäntelkonfektion heraus. Dazu hatten in den 1830er Jahren Tuchhandlungen und Modebasare, die der Mode folgend mit dem Verkauf und der Anfertigung von Umschlagtüchern, Schals und Pelerinen begannen, den Auftakt gegeben. In den folgenden Jahrzehnten verbreiterte die Damenkonfektion fortlaufend die Palette ihres Angebots. Auf die Mäntel folgten Jacken und dicke Unterröcke, dann in den 60er Jahren Blusen und Schürzen und schließlich am Ende des Jahrhunderts Kostüme und Kleider. Gleichermaßen in Etappen entwickelte sich die Herren- und Kinderkonfektion. Bereits in den 1870er Jahren verfügte Berlin über eine leistungsfähige exportorientierte Konfektionsindustrie. Produktionstechnisch war diese Abkehr von der Maßschneiderei offenbar seit langem vorbereitet in der Uniform-Schneiderei mit ihrer zentralisierten Zuschneiderei, ihrer arbeitsteiligen Produktion unter Hinzuziehung unqualifizierter Arbeitskräfte und ihren genormten Größen und Modellen.14 Zum Zuge kommen konnte die Konfektionsindustrie jedoch erst, nachdem die Zunftbeschränkungen gefallen und der Waren- und Arbeitsmarkt freigesetzt waren. Die von der Konfektionsindustrie anvisierten Käufer rekrutierten sich zunehmend aus allen Schichten der Bevölkerung. Für die Arbeiter- und Landbevölkerung wurde billige Stapelware, für die wohlhabenden Kreise exklusive MaßS. 1–8; H. Grandke, Berliner Kleiderkonfektion, in: Schriften des Vereins für Sozialpolitik (zit. als SVSP), Bd. 85, Leipzig 1899, S. 129–389, dort S. 132 f.; E. Wittkowski, Die Berliner Damenkonfektion, Diss. phil. Berlin, Leipzig 1928, S. 3–8; B. Maurer, Die deutsche Herrenkonfektion, Jena 1922, S. 12–14; P. Arndt (Hg.), Die Heimarbeit im rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet, Bd. 3, Teil 1, Frankfurt a. M. 1913, passim. 13 Die »Nähschulen« sind Nachfahren der »Spinnschulen« des 18. Jahrhunderts, also weniger Schulen als Produktionsstätten. 14 Diesen Aspekt betont J. Krengel, Die Berliner Bekleidungsindustrie vor dem 1. Weltkrieg. Versuch einer Darstellung ihrer frühindustriellen Entstehung und ihres Wirtschaftswachstums, WiSo Dipl. Arb. FU Berlin 1975, S. 6–15.
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konfektion angefertigt. Insgesamt scheint sich das Konsumverhalten der Käufer und das Angebot der Konfektionäre gegenseitig hochgespielt zu haben. Die vermehrte Nachfrage dürfte weniger auf die vielgescholtene »Putzsucht« der Fabrikmädchen zurückzuführen sein, als auf das in allen Bevölkerungskreisen wachsende Bedürfnis, sich reichhaltiger und modischer mit Kleidern und Wäsche auszustatten.15 Bei der billigen Stapelware war zudem ein dauernder Kaufanreiz insofern einprogrammiert, als diese aus minderwertigen Stoffen mit heißer Nadel genähten Stücke nur eine kurze Lebensdauer hatten. Die Entfaltung eines kapitalistisch betriebenen und auf billige Näharbeit erpichten Bekleidungsgewerbes schuf die Voraussetzung für die Erfindung und schnelle Verbreitung einer funktionstüchtigen Nähmaschine. Angesichts der vor allem in den europäischen Großstädten16 und New York weit fortgeschrittenen Entwicklung des Konfektionsgeschäftes kann an der Erfindung der Nähmaschine eigentlich nur überraschen, dass es nicht schon vor 1850 gelang, eine technisch einigermaßen ausgereifte Maschine bereitzustellen.17 Denn die Erwartung bestand zu Recht, dass der Einsatz einer Maschine den Nähprozess um ein Vielfaches beschleunigen würde. Bereits die Howeschen Nähmaschinen mit ihren maximal 300 Stichen pro Minute besiegten in einem Wettnähen fünf geübte Handnäherinnen.18 Die weiterentwickelten Maschinen erreichten schon in den 1850er Jahren bei Fußantrieb eine Nähgeschwindigkeit von 600–1.000 Stichen pro Minute, also die zehn- bis zwanzigfache Leistung einer Handnäherin. In den 1880er Jahren gelang es, die Geschwindigkeit noch weiter auf maximal 3.500 Stiche pro Minute zu steigern, was allerdings Dampfantrieb voraussetzte.19 In den ersten zwanzig Jahren hatten außerdem bereits zahlreiche Zusatzerfindungen dafür gesorgt, dass einerseits immer handlichere Nähmaschinen mit leichterem Gang und größerer Nähpräzision und andererseits neben Gewerbe- auch Familiennähmaschinen und neben Vielzweck- auch Spezialnähmaschinen auf den Markt kamen. 15 Illustrierend dazu eine Meldung aus Breslau, in: Der Arbeitgeber (wie Anm. 4), 1857, S. 220: »es wird an Weißstickerei, an Leibwäsche, Unterröcken, Nachtjacken und Taschentüchern jetzt ein Luxus getrieben, der in’s Unsinnige geht und dem die Weißwarenhandlungen kaum Genüge zu leisten vermögen.« 16 Zur Situation in London vgl. die in E. P. Thompson u. E. Yeo (Hg.), The Unknown Mayhew. Selections from the Morning Chronicle 1849–1850, London 1971, S. 116–227, abgedruckten Reportagen; außerdem J. G. Eccarius, Die Schneider in London oder der Kampf des Großen und des Kleinen Kapitals (geschrieben 1850, ergänzt 1869), Leipzig 1876. Neuere Untersuchungen von H. A. Cobrin, The Men’s Clothing Industry. Colonial through Modern Times, New York 1970; J. Thomas, History of the Leeds Clothing Industry, Leeds 1955. C. H. Johnson, Economic Change and Artisan Discontent. The Tailor’s History, 1800–1848, in: R. Price (Hg.), Revolution and Reaction, London 1975, S. 84–114. 17 Die Gründe dafür liegen vermutlich in der sehr schmalen Kapitalbasis der Konfektionsbranche und in dem Überschuss an extrem billigen Arbeitskräften. 18 Vgl. Dinglers (wie Anm. 4), Bd. 130, 1853, S. 235; E. Lüth, Die Nähmaschinenfabrikation G. M. Pfaff AG Kaiserslautern, Leipzig 1936, S. 8. 19 Zur Nähgeschwindigkeit vgl. Lind (wie Anm. 8), Teil 2, S. 4.
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Von der schnellen Verbreitung der Nähmaschine vermitteln noch am ehesten die Produktionsziffern der USA einen Eindruck. Dort entstanden bereits 1850, 1851 und 1852 die führenden Nähmaschinen-Unternehmen J. M. Singer & Co., Wheeler & Wilson, Groover & Baker. Bis 1853 sollen dort 2.509 Nähmaschinen gebaut worden sein. Ende 1859 waren es bereits 104.000. 1860 lag die Jahresproduktion bei 55.000, 1870 schon bei 464.254 Stück.20 Deutschland, das bis zum Ersten Weltkrieg offenbar als einziges europäisches Land auf dem Weltmarkt mit den amerikanischen Unternehmen konkurrieren konnte, nahm eine nennenswerte Produktion überhaupt erst im Laufe der 1860er Jahre auf. Statt genauer Produktionsziffern gibt es hier allerdings nur Hinweise auf die fortschreitende Ausweitung der Produktionskapazität einzelner Nähmaschinenfabriken. Aus den Spitzenfirmen mit 20–30 Beschäftigten der 1860er Jahre entwickelten sich in den 1870er Jahren sprunghaft Großunternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten.21 1907 gab es unter den in der Gewerbestatistik gesondert gezählten 232 Hauptbetrieben der Nähmaschinenfabrikation immerhin 16 Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten. Für 1890 wird die gesamte deutsche Jahresproduktion auf ungefähr 500.000 Stück bzw. ein knappes Drittel der Weltproduktion, für 1907 auf ungefähr 1,1 Millionen Stück, damit etwas höher als die der amerikanischen Singer Company und wiederum ein Drittel der Weltproduktion geschätzt.22 Die bisherige Demonstration, dass sich die Nähmaschine bedingt durch den Nachfragesog der Bekleidungsindustrie sehr schnell verbreiten konnte, hat die sozialgeschichtlich entscheidende Frage vorerst unbeantwortet gelassen, in welcher Weise die Nähmaschine verbreitet wurde. Eine Teilantwort gibt hierauf die Art der industriemäßigen Nähmaschinenproduktion. In den USA war die Nähmaschine das erste zivile Gerät, welches nach den Handfeuerwaffen in Serienfertigung mit austauschbaren Teilen hergestellt wurde. Die Anwendung immer perfekterer Werkzeugmaschinen war die Basis dieses zunehmend leistungs20 Zahlen bei Cooper (wie Anm. 8), S. 19; 1870 produzierte die führende Singer Manufacturing Company allein 127.833 Stück. Die Zahlen erfassen immer auch andere als Stoffnähmaschinen. 21 Vgl. Köhler (wie Anm. 6), S. 55–59; vgl. auch F. Sagel, Die Altenburger NähmaschinenIndustrie, Diss. phil Jena, Altenburg/Sachsen 1910, S. 8 f. In Altenburg/S. begann die Nähmaschinenfabrikation 1871; pro Jahr wurden hergestellt: 1871 = 20, 1881 = 16.630, 1891 = 32.353, 1901 = 122.547, 1907 = 199.747; nach Lüth (wie Anm. 18), S. 12 f.; und Pfaff 1862– 1962, Jubiläumsausgabe Juni 1962, S. 13, nahmen die Pfaff-Werke 1862 mit 2 Leuten die Fabrikation auf. 1872 produzierten 30 Beschäftigte 1.000 Maschinen/Jahr, 1891 590 Beschäftigte 25.000 Maschinen/Jahr. H. Richard, Die Nähmaschine. Ihre geschichtliche Entwicklung, Construction und ihr jetziger Standpunkt, Hannover 1876, S. 47, übertreibt vielleicht, wenn er behauptet, dass die Fa. Cl. Müller Dresden 1872 pro Jahr 18.000, 1875 pro Jahr bis zu 80.000 Maschinen herstellte. 22 Lind (wie Anm. 8), Teil 2, S. 3, u. Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1908, S. 390. Nach Köhler (wie Anm. 6), S. 261, stiegen im deutschen Nähmaschinenexport der Gewichtsindex von 1885 = 100 auf 1911 = 365 und der Wertindex auf 1911 = 476.
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fähigeren Fertigungsverfahrens.23 Unter dem Druck der seit den 1860er Jahren aggressiven amerikanischen Konkurrenz lösten sich auch die deutschen Nähmaschinenfabriken allmählich von ihrer handwerklichen Basis.24 In den 1870er und 1880er Jahren wirkten diese Unternehmen in Deutschland vermutlich als Wegbereiter der amerikanischen Produktionsverfahren und Präzisionswerkzeugmaschinen.25 Im Vergleich zum Maschinenbau aus Meisterhand hat die Serienfertigung nicht allein den Vorteil, die Herstellungskosten beträchtlich zu senken;26 die Verwendung von austauschbaren Teilen, die sich beliebig ersetzen lassen, erleichtert darüber hinaus auch die Reparaturen.27 Serienfertigung ist allerdings nur bei Massenproduktion lohnend, wenn die sichere Nachfrage die hohen Investitionskosten für Maschinen rentabel macht. Nun eignete sich die Nähmaschine von vorneherein vorzüglich als Massenkonsumgut, beanspruchte sie doch wenig Platz und war mit dem einfachen Hand- bzw. Fußantrieb, also unabhängig von größeren Motoren, voll einsatzfähig. Die billigeren reparaturfähigen Maschinen, die in den USA schon in den 1850er Jahren auch als Haushaltsgeräte gebaut wurden, eroberten in der Tat als erstes technisches Massenkonsumgut den Markt. Ihnen folgten in den 90er Jah-
23 Vgl. N. Rosenberg, Technischer Fortschritt in der Werkzeugmaschinenindustrie 1840–1910, in: K. Hausen u. R. Rürup (Hg.), Moderne Technikgeschichte, Köln 1975, S. 216–242. 24 Sehr früh geschah dieses in den Berliner Nähmaschinenfabriken Frister & Rossmann und L. Loewe schon Ende der 60er Jahre, vgl. Baar (wie Anm. 12), S. 121. In Berlin drückt sich die aufeinander bezogene Entwicklung von Nähmaschinen- und Bekleidungsindustrie auch in der Standortwahl aus. Vgl. J. Thienel, Städtewachstum im Industrialisierungsprozeß des 19. Jahrhunderts. Das Berliner Beispiel, Berlin 1973, S. 68, 77. 25 Bei Pfaff erfolgte die Umstellung auf amerikanische Maschinen 1879 im Anschluss an eine zweijährige Bildungsreise des ältesten Unternehmersohnes in die USA, vgl. Pfaff 1862–1962 (wie Anm. 21), S. 13. Aufschlussreich ist die folgende Annonce: »Es ist anerkannt und der große Import beweist es täglich schlagend, daß die Fabrikation von Nähmaschinen in Deutschland noch nicht so technisch ausgebildet ist wie in Amerika. Dieses rührt wesentlich daher, daß in Amerika die Nähmaschinen-Theile alle mit Hülfe von Maschinen fabriziert werden. Unseren Bemühungen ist es gelungen, jetzt sämmtliche bei der Nähmaschinen-Fabrikation in Amerika angewandten Werkzeug-Maschinen liefern zu können. Wir liefern sämmtliche Maschinen, als Schraubschneide-Maschinen, Hobelstoß-Maschinen mit 6 Zoll Hub, Fräsmaschinen, Profil-Feinmaschinen, Bohrmaschinen mit 4 Spindeln, Excenter-Stanzmaschinen und Näherschneidmaschinen zu Fabrikpreisen«. Arbeitgeber Nr. 414, 5.2.1865, S. 4537. 26 Singer bot seine erste Familiennähmaschine 1858 noch für 100 Dollar, die verbesserte Auflage 1859 schon für 75 Dollar an, vgl. Cooper (wie Anm. 8), S. 47. In Deutschland kosteten die ersten selbstgebauten Steppstich-Gewerbemaschinen bis zu 350 Taler, vgl. Lind (wie Anm. 8), Teil 2, S. 2, entsprechende amerikanische wurden für die Hälfte angeboten, vgl. Dinglers (wie Anm. 8), Bd. 156, 1860, S. 73. 27 Lind (wie Anm. 8), Teil 2, S. 13 f., betont 1890, dass deutsche im Gegensatz zu amerikanischen Fabrikanten maschinengefertigte Einzelteile immer noch fest einpassen, was die Austauschbarkeit der Teile erschwert und zu schwerem Gang führt. Lüth (wie Anm. 18), S. 18–20, berichtet, dass das amerikanische Produktionssystem mit seiner Dequalifizierung der Monteure bei Pfaff erst nach 1900 zum Zuge kam.
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ren die Fahrräder, die die Nähmaschinenfabriken wegen der gleichgearteten Produktions- und Verkaufsanforderungen nicht von ungefähr häufig zur Diversifikation ihres Produktionsprogramms heranzogen.28 Der Siegeszug der Nähmaschine begann damit, dass sie durch Preis und Verkaufsmethoden als Massenartikel definiert wurde.29 Bahnbrechend wirkte hier seit 1850 Isaac Merrit Singer,30 der nicht nur als erster die Serienfertigung begann, sondern auch äußerst wirksame neue Verkaufsmethoden entwickelte. Ihm gelang es, den Bekleidungsindustriellen ebenso anzusprechen wie den privaten Interessenten, die Frau aus bürgerlichen Kreisen ebenso wie die Arbeiterin mit ihrem kaum das Existenzminimum sichernden Budget. Offenbar hat Singer nicht nur als erster eine riesige firmeneigene Vertriebs- und Reparaturorganisation aufgebaut, sondern vor allem auch – und das ist wohl ausschlaggebend für die Platzierung der Nähmaschine als Massenartikel gewesen – seine Maschinen durch das Ratenkaufsystem selbst an den ärmsten Kunden gebracht. In Deutschland kostete eine Haushalts-Steppstichnähmaschine in den 1860er Jahren immerhin 200 bis 300 Mark. Auch nachdem der Preis in der Folgezeit allmählich auf die Hälfte gesunken war, blieb die Anschaffung einer Nähmaschine für die meisten Interessenten eine kostspielige Angelegenheit.31 Dem Beispiel von Singer folgend, fand der Nähmaschinen-Handel auch in Deutschland Mittel und Wege, um immer neue Käufer zu mobilisieren.32 Neben dem Versenden von Preislisten und dem Inserieren in Zeitungen bewährte sich vor allem der Detailreisende. Zusätzlich zum Verkauf im Laden gegen Barzahlung kam auch in Deutschland mit dem Nähmaschinenhandel das Ratenzahlungsgeschäft in Blüte. Der Ratenkauf verteuerte zwar für den Käufer die Anschaffung beträchtlich,33 setzte ihn aber häufig erst instand, das dringend benötigte Arbeitsgerät zu erwerben. Dennoch war ein Ratenkaufvertrag ein nicht ganz ungefährliches Risiko. Zumindest bis zur gesetzlichen Regelung des Abzahlungs28 In Deutschland war vor allem Dürkopp/Bielefeld bekannt als Nähmaschinen- u. Fahrradfabrikant. Zum Phänomen der technologischen Konvergenz vgl. Rosenberg (wie Anm. 23), S. 224 ff. 29 G. v. Viebahn, Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschland, Bd. 3, Berlin 1868, S. 669, spricht von der »schnellen und ungeheuren Verbreitung in den Gewerben und im häuslichen Leben aller deutschen Länder«. 30 Vgl. R. Brandon, Singer and the Sewing Machine. A Capitalist Romance, New York 1977. 31 Verstreute Angaben u. a. bei Dinglers (wie Anm. 4), Bd. 152, 1859, S. 313 f.; Herzberg (wie Anm. 5), S. 22 f.; Köhler (wie Anm. 6), S. 43; Lüth (wie Anm. 18), S. 29; SVSP (wie Anm. 12), Bd. 65, Leipzig 1895, S. 148. 32 Lind (wie Anm. 8), Teil 2, S. 8–12; Köhler (wie Anm. 6), S. 220–57. 33 Einige Beispiele: In Elberfeld soll der Ratenkaufpreis 1887 um 150 Prozent über dem Wert der Maschine gelegen haben, eine Näherin zahlte auf Abzahlung 125 M, der Unternehmer ab Fabrik 57 M (Stenographische Bericht des Reichstags, 7. Leg. Per., 2. Sess., 1887, Bd. 3, Anlagen Bd. 1, Aktenstück 83, S. 714). 1895 soll eine Maschine im Wert von 90–120 M durch Ratenzahlung 140–160 M gekostet haben, SVSP (wie Anm. 12), Bd. 67, Leipzig 1895, S. 16 f. Eine Wäsche-Näherin im Frankfurter Raum zahlte 1907 140 M, Arndt (wie Anm. 12), S. 191.
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geschäftes im Jahre 1894 drohte häufig dem zahlungsunfähigen Käufer, schon wenn er nur bei einer Rate in Verzug geriet, mit dem Verlust der Nähmaschine auch der Verlust aller bis dahin gezahlten Raten.34
II. Wer sind nun die Nähmaschinenkäufer bzw. -käuferinnen und welche Bedeutung hat in ihrer Hand die Nähmaschine? Will man David Landes glauben, so wurde die Nähmaschine deshalb zum Verkaufsschlager, »weil sich die Frauen durch sie von einem langen Sklavendasein befreien konnten«.35 Landes Betonung der emanzipatorischen Kraft der Nähmaschine ist wohl nicht weniger irrig wie die Behauptung, die Erfindung der Schreibmaschine habe die Emanzipation der Frauen befördert,36 machen doch beide die Rechnung ohne den Wirt. Denn bekanntlich entscheidet erst der Verwendungszusammenhang über die positiven und negativen Auswirkungen einer technischen Neuerung, wenn es auch seit eh und je typisch für die ideologische Verklärung des technischen Fortschritts ist, von dessen Verwendungszusammenhang abzusehen. Im folgenden wollen wir in einigen Aspekten untersuchen, wie sich die Einführung der Nähmaschine tatsächlich in den verschiedenen sozialen Milieus speziell für die Frauen ausgewirkt hat. Für die Kunden aus dem bürgerlichen Milieu wurde die Nähmaschine ganz im Sinne des bürgerlichen Familien- und Frauenideals angepriesen als Gerät, das die Arbeit der Hausfrau erleichtere und verkürze und so die Mutter für die Erziehung ihrer Kinder und die Gattin für die Bildung freisetze. Das Berliner Frauen-Journal Bazar geht 1862 sogar noch weiter in der Einpassung des Arbeitsgeräts in die arbeitsfreie Idylle des bürgerlichen Familienideals, wenn es schreibt: »Wer könnte also läugnen, daß durch die Einführung der Nähmaschine in die Familie das Problem gelöst ist, die Arbeit nicht als drückende Last, sondern als spielenden Zeitvertreib und Vergnügen erscheinen zu 34 Vgl. V. Mataja, Artikel »Abzahlungsgeschäfte«, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 1, 3. Aufl. Jena 1909, S. 13–20. 35 Landes (wie Anm. 1), S. 276; diese Aussage ist umso bemerkenswerter, als Landes hinzufügt, Ausbeutung und Schwitzsystem hätten zwar noch zugenommen, aber die mühsame Arbeit mit Nadel und Faden hätte aufgehört. Offensichtlich wird hier ein Topos aus der Nähmaschinen-Reklame mitgeschleppt, der bei dem rührigen Propagandisten A. Daul, Das Buch von der Amerikanischen Nähmaschine, Hamburg 1864, S. 73, lautet: »die Erfindung der Nähmaschine, die ächt cosmopolitisch, human und alles Gute ist, was man nur immer sagen kann«. Ähnlich heute M. St. Parker u. D. J. Reid, The British Revolution 1750–1970. A Social and Economic History, London 1972, S. 162: »the crippling dependence on the hand worked needle was reduced, with great gains in human happiness«. 36 Vgl. dazu die Polemik bei G. H. Daniels, Hauptfragen der amerikanischen Technikgeschichte, in: Hausen u. Rürup (Hg.) (wie Anm. 23), S. 48 f.
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lassen.«37 Das Ansprechen gerade der gehobenen Gesellschaftskreise blieb in Deutschland allerdings weit hinter dem in den USA entwickelten Raffinement zurück. Trotzdem scheint es auch hier erfolgreich gewesen zu sein.38 Ungeachtet aller Ideologie spricht zudem manches dafür, dass auch in Familien mit mittleren und guten Einkommensverhältnissen die Nähmaschine ebenso wie das Angebot an Fertigkleidung weniger die Hausfrau von der Näharbeit befreite, als die ehemals zusätzlich herangezogene Arbeitskraft des Schneiders und der Näherin einsparen oder reduzieren half. Durchschlagender war daher wohl auch in bürgerlichen Kreisen die Empfehlung, den Töchtern statt des Klavierspielens das Nähmaschinennähen beizubringen, da dieses ein in allen Lebenslagen nützliches Instrument sei und den Frauen selbst in extremen Notlagen, wie sie der Tod des Ehemannes, aber auch Scheidung und Eheverlassenheit heraufführen könne, zum Gelderwerb verhelfe.39 Damit ist ein entscheidender Punkt angesprochen. Für den unteren Mittelstand war die Nähmaschine vor allem deshalb attraktiv, weil sie sich nicht allein für den Hausgebrauch, sondern auch für den hausindustriellen Gelderwerb, d. h. die fabrikferne Industrieproduktion eignete. Anders als die Frauenfabrikarbeit galt im kleinen und mittleren Bürgertum die Heimarbeit, zumal wenn sie nur die urweibliche Tätigkeit des Nähens weiterentwickelte, als durchaus stan37 A. Daul, Die Nähmaschine. Zum Gebrauche in Familien, in Handwerkstätten der Näherinnen und in der Industrie, Hamburg 1865, S. 38; vgl. auch S. 36. Ähnlich auch Herzberg (wie Anm. 5), S. 21. Zur arbeitsfreien Idylle vgl. B. Duden, Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Kursbuch 47. 1977, S. 125–40, bes. S. 132 f. 38 Vgl. die Abbildungen der verschwenderischen Verkaufs-Salons von Wheeler & Wilson u. J. M. Singer & Co. bei Cooper (wie Anm. 8), S. 2, 32; Daul, Amerikanische Nähmaschine (wie Anm. 35), S. 57–60, beschreibt zu Werbezwecken diesen amerikanischen Luxus. Singer warb 1858/59 für seine Familiennähmaschine u. a.: »a machine decorated in the best style of art, so as to make a beautiful ornament in the parlour or boudoir« zitiert bei Cooper (wie Anm. 8), S. 35. Die deutsche »Dame« musste dagegen 1859 noch »Unerhörtes« leisten: »Eine Dame, die es fast als erste in der Berliner Gesellschaft wagte, die Neuerung zu versuchen, entrollte mir ein Bild dieses Versuchs … Das neue Werkzeug wird zuerst forschend eine zeitlang an den Schaufenstern betrachtet: mit Zagen geht man daran, vom mühsam ersparten Taschengelde es sich auf eigene Gefahr anzuschaffen; lange Zeit wagt man gar nicht einzugestehen, daß man eine Maschine habe, ja im Laden geniert man sich Maschinengarn zu kaufen, und furchtbar langsam klären sich die Vorstellungen über die Sache. In der ersten Zeit kommt es vor, daß die Dame gefragt wird: ›Du hast eine Maschine? Muß man da eigentlich zu Hause sein, wenn die näht?‹ Von einem bestimmten Moment an aber strömen ihr dann plötzlich massenhaft Wißbegierige zu, um die Kunst zu lernen. Nun ist der Bann gebrochen und man beginnt allgemein, sich das neue Werkzeug anzueignen. Der Fabrikant weiß die Schwierigkeit der geleisteten Pionierarbeit zu schätzen, denn die Dame erhält die verbesserte Form der Maschine gegen eine kleine Nachzahlung, die beste endgültige Form schließlich als freies Geschenk von ihm.« L. v. Benda, in: SVSP (wie Anm. 12), Bd. 85, Leipzig 1899. S. 53 f. 39 So Daul, Amerikanische Nähmaschine (wie Anm. 35), S. 79, oder M. Pinoff, Reform der weiblichen Erziehung, Breslau 1867, S. 106.
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desgemäß. Maschinennähen ließ sich daher als »eine für Frauen überaus passende Arbeit«40 propagieren. Es schien problemlos selbst die Sorge der Frauen für den Unterhalt der Familie mit deren »Pflichten als Mutter und Weib«41 zu versöhnen und wurde daher speziell für Bürgerstöchter in privaten Schulen und Kursen unterrichtet. Noch häufiger gingen Töchter von kleinen Beamten und Handwerkern als Lehrmädchen in die Zwischenmeisterwerkstätten der Konfektionsindustrie, wo sie bis zu einem Jahr ohne Entgelt arbeiteten und auch später noch, falls ihnen der Aufstieg zu einer besser bezahlten Nähtätigkeit nicht gelang, bis zur Heirat gegen geringen Lohn weiterarbeiteten.42 Während diese Gruppe ihren Verdienst einzig als Nebenerwerb betrachten konnte, weil sie im Haushalt der Eltern weiterhin versorgt wurde, sah für andere Näherinnen aus dem bürgerlichen Milieu die Verdienstsituation sehr viel ernster aus. Schmoller schätzte 1870, dass keineswegs nur die Frauen der »unteren Stände« für die Konfektion arbeiteten. Auch »der ganze Überschuß von Töchtern aus dem Krämer-, Handwerker- und Beamtenstand, die nicht so glücklich sind, in den Hafen einer auskömmlichen Ehe einzulaufen, sehr viele Witwen sind froh, solche Beschäftigung zu finden«.43 Seine Beobachtungen galten auch noch für die folgenden Jahrzehnte. Waren solche Frauen darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt allein durch die Näharbeit zu verdienen, so führten sie ebenso wie die proletarischen Frauen einen hoffnungslosen Kampf um das Existenzminimum. Im proletarischen Milieu diente die Anschaffung der Nähmaschine wohl von vornherein ausschließlich Erwerbszwecken, sie blieb allerdings auch hier in erster Linie das Arbeitsinstrument der Frauen. Ein erster Grund hierfür liegt in der Entwicklung der Konfektionsbranche selbst. Traditionellerweise lernten Frauen, wenn überhaupt, dann für den Hausgebrauch nähen, sie blieben aber bis zur Einführung der Gewerbefreiheit vom zünftigen Handwerk ausgeschlossen. Als unqualifizierte Näherinnen konnten Frauen lange Zeit nur in fremden Haushalten ihren Unterhalt verdienen. Auch die Lockerung der Zunftbeschränkungen wirkte sich für die Frauen bis zu den 1850er Jahren nur dahin aus, dass sie nun auch in ihren eigenen Wohnungen Arbeit ausführen und so für die Kleider- und Wäschemagazine Heimarbeit leisten konnten. Während die Weißnäherei schon immer das Ressort der unqualifizierten Näherinnen war – sofern die Wäsche nicht vom Konsumenten selbst angefertigt wurde –, entwickelte sich die Kleiderkonfektion in direkter Konkurrenz zu den gelernten Damen- und Herrenschneidern. Das vom Kleiderhandel verlegte Handwerk vergrößerte zwar auf der einen Seite die Meisterwerkstätten; auf der anderen Seite erlaubte es aber immer mehr Gesellen, eine vom Meisterhaushalt unabhängige Existenz aufzubauen und für 40 Herzberg (wie Anm. 5), S. 18. 41 Ebd., S. 21. 42 Zahlreiche Hinweise dazu in: Reichstag 1887, Aktenstück 83 (wie Anm. 33), u. a. S. 700, 707, 711–13, 745. 43 Schmoller (wie Anm. 12), S. 648 f.
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die arbeitsteilige Produktion in immer größerem Umfang Frauen, die kaum ausgebildet waren, zum Nähen heranzuziehen.44 In den 1870er Jahren führte die stürmische Entwicklung der Branche dazu, dass qualifizierte Schneider nur noch bei der Musterherstellung und in der Zuschneiderei erforderlich waren. Den größten Teil der Näharbeit übernahmen un- oder angelernte Näherinnen. Für die dezentrale Massenproduktion in der Konfektion45 war es typisch, dass die »Fabrik« meistens außer dem Ein- und Verkauf nur die Musteranfertigung und eventuell das Zuschneiden sowie die letzte Aufbereitung der genähten Stücke zusammenfasste. Die Näharbeit wurde entweder direkt an Heimarbeiterinnen oder an sogenannte Zwischenmeister vergeben, die ihrerseits in ihrer Werkstatt Lohnnäherinnen und zusätzlich noch Heimarbeiterinnen in deren Wohnung nähen ließen. Dieses Zwischenmeistersystem – auch »Schwitzsystem« oder »Sweating System« genannt – erlangte zweifelhaften Ruhm durch seine katastrophalen Arbeitsverhältnisse. Die Werkstätten waren fast immer zugleich der Wohnraum der Meisterfamilie und zumal in der Saison, wenn die Zahl der Näherinnen erhöht und die Arbeitszeit extrem ausgedehnt wurde, völlig überlastet.46 Als Zwischenmeister fungierte anfangs wohl zumindest in der Kleiderkonfektion meistens ein Schneidermeister oder -geselle, der nach vorgegebenen Mustern selbst das Zuschneiden übernahm. In der Wäschekonfektion und bei fortgeschrittener Arbeitszerlegung verlangte nicht einmal mehr die Zwischenmeisterfunktion einen qualifizierten Schneider. Zwar blieben die Zwischenmeisterpositio44 Vgl. dazu u. a. Baar (wie Anm. 12), S. 74; J. Bergmann, Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, Berlin 1973, und einzelne Berichte in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie, in: SVSP (wie Anm. 12), Bde. 62–66, Leipzig 1895/96. 45 Zur Produktionsorganisation vgl. W. Sombart, Artikel »Verlagssystem«, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8, 3. Aufl., Jena 1911, S. 238 f.; Zusammenstellung der Ergebnisse der Ermittlungen über die Arbeitsverhältnisse in der Kleider- und Wäschekonfektion, Drucksachen der Kommission für Arbeiterstatistik, Erhebung Nr. 10, Berlin 1896, S. 8–14; außerdem: Feig, Grandke, Maurer, Wittkowsky (alle wie Anm. 12). 46 Grandke (wie Anm. 12), S. 202 f., gibt folgende Beispiele: Wohnung = 2 Stuben und Küche, davon 1 Stube und Küche = Werkstatt, darin arbeiten 5 Maschinennäherinnen, 2 Handnäherinnen, 1 Bügler, der Zwischenmeister als Einrichter, seine Frau als Knopfnäherin; produziert werden wöchentlich 280–300 Westen. Wohnung = 3 Zimmer und Küche, 2 Zimmer = Werkstatt, darin arbeiten 2 Bügler, 7 Maschinennäherinnen, 3 Handnäherinnen, das Zwischenmeisterehepaar. O. Olberg, Das Elend in der Hausindustrie der Konfektion, Leipzig 1896, S. 54, berichtet: »Die Zwischenmeisterwerkstätten sind nicht besser. In der fünften Etage in einem alten Hause der innern Stadt Leipzigs befindet sich eine solche, in der in der Saison fünf Mädchen bei einem Zwischenmeister arbeiten. Soweit sich ergründen ließ, wird Stapelware für ein Damenkonfektionsgeschäft hergestellt. Der Inhaber wie seine Frau ist fachmännisch ausgebildet und beide arbeiten mit, schneiden zu und bügeln in der einen Stube. Der Raum mißt 2,45 Meter in der Höhe, 3,60 Meter in der Breite und 4,30 Meter in der Länge, doch ist die eine Seitenwand bedeutend abgeschrägt, so daß das Zimmer wesentlich geringern Luftraum hat, als es nach diesen Zahlen erscheinen muß.«
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nen weiterhin überwiegend die Domäne von Männern, doch kamen diese jetzt häufig aus branchenfremden Berufen und dirigierten nur noch das Gewerbe ihrer Frauen und deren Hilfskräfte.47 Der Trend zur Zentralisierung der Produktion setzte sich offenbar zuerst bei der Herstellung von Kragen, Manschetten, Vorhemden etc. durch, welche zusätzlich zur sauberen Näharbeit mit dem Stempeln, Waschen, Stärken und Bügeln eine arbeitsintensive, zunehmend maschinisierte Nachbereitung erforderten. In anderen Produktionsbereichen kam es nur vereinzelt zur zentralen Aufstellung größerer Spezialmaschinen und schnellerer, mit Elektrizität angetriebener Nähmaschinen.48 Solange ein ausreichendes Angebot an extrem billigen hausindustriellen Werkstatt- und Heimarbeiterinnen zur Verfügung stand, blieben die erzielbaren Produktivitätsfortschritte wegen der höheren Kosten für Arbeitsräume und Maschinen für die saisonabhängige Konfektion unrentabel. Die Dequalifizierung der Arbeit erklärt nur zu einem Teil, wieso in der Bekleidungsbranche der wachsende Bedarf an Arbeitskräften ohne Schwierigkeiten bei extrem niedrigen Lohnkosten gedeckt werden konnte. Die Tatsache, dass bis 1914 zumindest die hausindustriell beschäftigten Näherinnen selten ein Jahreseinkommen erreichten, das auch nur die Kosten der dürftigsten Lebenshaltung gedeckt hätte,49 lässt auf eine schier unerschöpfliche weibliche Reservearmee schließen, die sich auf dem Arbeitsmarkt eine ruinöse, lohndrückende Konkurrenz lieferte. Wie aber kam diese Reservearmee zustande und warum wirkte sich für die Frauen der preissenkende Konkurrenzmechanismus ohne alle schonende Gegensteuerung aus? Offenbar spielten verschiedene Faktoren zusammen, um Frauen für diese Art von Erwerbstätigkeit freizusetzen bzw. sie in diese hineinzuzwingen. Die Bekleidungsindustrie, die als arbeitsintensive Konsumgüterindustrie nur bei niedrigen Arbeitskosten gewinnbringend ist, entwickelte sich seit dem Ende der 1850er Jahre sehr schnell und zwar als städtische Industrie. Alfred Weber50 47 Vgl. z. B. Grandke (wie Anm. 12), S. 167 f.; Arndt (Hg.) (wie Anm. 12), S. 197. In der Wäschekonfektion finden sich häufiger Frauen als Werkstattleiter, vgl. A. Lehr, Die Hausindustrie in der Stadt Leipzig und ihrer Umgebung, in: SVSP (wie Anm. 12), Bd. 48, Leipzig 1891, S. 84 f., 88–90, oder v. Stülpnagel, Über Hausindustrie in Berlin und den nächstgelegenen Kreisen, in: ebd., Bd. 42, Leipzig 1890, S. 15. 48 Hauptsächlich wurden um 1900 Arbeiter- und Sommerkonfektion (Elberfeld-Barmen u. Mönchen-Gladbach) sowie gestärkte Wäsche (Bielefeld u. a.) hergestellt; vgl. Zusammenstellung 1896 (wie Anm. 45), S. 8 f. Zentral aufgestellt wurden Knopflochmaschinen. 8–9 elektrische Nähmaschinen leisteten soviel wie 15 Tretmaschinen, vgl. Maurer (wie Anm. 12), S. 26 f. 49 Die Hungerlöhne in der Konfektionsbranche haben seit 1885, als die geplante Erhöhung des Nähgarnzolls – die Näherinnen mussten normalerweise Nähnadeln, Maschinenöl und Nähgarn selbst bezahlen – öffentlichen Protest provozierte, eine Vielzahl von Erhebungen in Gang gesetzt, in denen es u. a. um die Frage ging, ob entsprechend dem anrüchigen Beiklang von »Nähmamsell« Näherinnen zur Prostitution gezwungen seien. 50 A. Weber, Die Entwicklungsgrundlage der großstädtischen Frauenhausindustrie, in: SVSP (wie Anm. 12), Bd. 85, Leipzig 1899, S. XIII–LX.
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hat 1899 wohl als erster eine Verbindung zwischen der Entfaltung der Bekleidungsindustrie, der gleichzeitig beschleunigten Zentralisierung der Industrieproduktion und der Verstädterung gesehen. Die beiden letztgenannten Entwicklungen stellten die Familienwirtschaft der Arbeiter auf eine neue Grundlage und schufen so die Voraussetzung für die Herausbildung der Frauenhausindustrie. Die Fabrikarbeit löste den Hauptteil der Güterproduktion und damit des Geldeinkommens vom Familienhaushalt, im welchem sie bei Bauern, Handwerkern und Hausindustriellen verankert waren. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wichtiger werdende gewerbliche Lohnarbeit in zentralisierten Produktionsbetrieben blieb in erster Linie den Männern vorbehalten. Die neuen Industrien waren mit Ausnahme der Textilindustrie ausgesprochene Männerindustrien. Das gleiche gilt für das im Zuge des Städtewachstums stark ausgeweitete Bauhandwerk. Sofern aber weiterhin der Männerlohn als einziges Familieneinkommen nicht ausreichte – und das war aufgrund der steigenden Mieten selbst bei unteren Beamten häufig genug der Fall –, mussten die Frau und die Kinder zusammen oder je einzeln versuchen, die Subsistenzmittel zu vermehren.51 Die Tatsache, dass Eltern und Kinder nicht länger als Produktionseinheit das Familieneinkommen erarbeiten konnten, sondern einzeln auf den Arbeitsmarkt verwiesen wurden, scheint mir für die Arbeiterfamilien des späten 19. Jahrhunderts mindestens ebenso wichtig gewesen zu sein, wie die üblicherweise als Folge der Industrialisierung hervorgehobene Trennung von Wohnund Arbeitsplatz. Diese Trennung galt zwar für die ledigen und verheirateten Männer und teilweise auch für die ledigen Frauen. Aber ganz offensichtlich nicht für die verheirateten Frauen und schon gar nicht für Frauen mit kleinen Kindern. Noch heute pflegen Interpreten, wenn sie als Folge der Industrialisierung die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz hervorheben,52 zu übersehen, dass Arbeiterfrauen, die wegen ihrer unselbständigen Kinder nicht mehr imstande waren, durch außerhäusliche Arbeit Geld zu verdienen, weiterhin wie schon zur Zeit der alten Hausindustrie in ihrer eigenen Wohnung Erwerbsarbeit leisteten. Im Unterschied zur alten Hausindustrie ist nun allerdings die Hauswirtschaft und Kindererziehung sehr viel ausschließlicher allein auf sie abgewälzt. Diese Situation prägte sich besonders scharf in den Großstädten aus, wo die Möglichkeiten zu landwirtschaftlichem Nebenerwerb bzw. Gartenbau und Kleinviehhaltung entfielen und Frauen daher nur noch über Geldverdienst zum Familienunterhalt beitragen konnten. In den Städten scheint jedoch das Angebot an Frauenarbeitsplätzen fast bis zum Ersten Weltkrieg wenig attraktiv und sehr knapp gewesen zu sein. Arbeitskräftemangel gab es offenbar nur im Bereich der häuslichen Dienste, wo ausschließlich ledige Frauen 51 Zur Notwendigkeit des Zuerwerbs vgl. L. Schneider, Der Arbeiterhaushalt im 18. u. 19. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel des Heim- u. Fabrikarbeiters, Berlin 1967, S. 98–100. 52 Jüngst W. Conze, in: H. Aubin u. W. Zorn (Hg.), Handbuch der Deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 632 f., obwohl auf S. 621 Frauen-Zuerwerb und »Doppelbelastung« angesprochen werden.
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ohne Kinder unterkamen und extrem schlechte Arbeitsbedingungen herrschten. Diese Arbeitsmarktsituation kam der Konfektionsbranche zugute. Währen die halbwüchsigen Mädchen und unverheirateten Frauen aus proletarischem und kleinbürgerlichem Milieu gegen einen Hungerlohn direkt in den Konfektionsgeschäften und -fabriken oder in den Werkstätten der Zwischenmeister arbeiteten, um so dem elenden Dienstbotendasein auszuweichen, stellten die verheirateten Frauen für die Bekleidungsindustrie das Heer der am schlechtesten bezahlten Heimarbeiterinnen.53 Dabei profitierte die Konfektion davon, dass Frauenarbeit nach wie vor als Zuverdienst betrachtet wurde. Alle zeitgenössischen Beobachter sind sich einig, dass eine alleinstehende Frau nur dann von ihrem Verdienst kümmerlich leben konnte, wenn sie im Elternhaus oder bei Verwandten billige Unterkunft und Verpflegung erhielt. Die Nähmaschine war für diesen von der Konfektion beherrschten Arbeitsmarkt von Anfang an das entscheidende Produktionsmittel. In Deutschland wurden fast nur teure Spezialmaschinen wie die Knopflochnähmaschine zentral aufgestellt. Nicht die Konfektionäre, sondern die Näherinnen und Zwischenmeister finanzierten, indem sie sich ihre eigene Nähmaschine kauften, die maschinelle Ausstattung der Produktion. Bezeichnenderweise stellten Zeitgenossen in den 1850er und 1860er Jahren immer wieder mit Verwunderung 53 Verheiratete Frauen bzw. solche mit Kindern und Ledige verteilten sich signifikant unterschiedlich auf Heimarbeit, Werkstatt und Fabrik: ledig
verheiratet
verwitwet
eheverlassen/ geschieden
236 Werkstattarbeiterinnen
56, 8 %
26,3 %
15,3 %
1,3 %
138 Heimarbeiterinnen
25,4 %
55,8 %
18,1 %
–
Berliner Wäschekonfektion (Dyhrenfurth [wie Anm. 60], S. 20–22;
239 Heimarbeiterinnen
30,8 %
54,7 %
9,6 %
4,9 %
Berliner Wäschekonfektion (Feig [wie Anm. 12], S. 146 f.)
47 Fabrikarbeiterinnen nur Plätterinnen
85 %
15 %
Berliner Kleiderkonfektion (Grandke [wie Anm. 12], S. 267)
–
–
Das Lohngefälle in der Konfektion von Fabrik zu Heimarbeit nach: Reichstag 1887 (wie Anm. 33), (insgesamt wohl zu hohe Löhne), S. 748: in Hamburg verdienten Arbeiterinnen in der Fabrik bei 9 1/2 Std. tatsächlicher Arbeitszeit durchschnittlich 10 M/Woche; in der Werkstatt bei 10–10 1/2 Stunden nur 9, Heimarbeiterinnen 5 M; gleiches Lohngefälle bei Grandke (wie Anm.12), S. 253.
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fest, dass die »zünftigen Kleidermacher obwohl sie so sehr über Mangel an Arbeitskräften klagen, sich von ihren unzünftigen weiblichen Fachgenossen in der Anwendung musterhafter Maschinen haben überholen lassen.«54 Die offensichtlich größere Innovationsbereitschaft der unqualifizierten Näherinnen rührte wohl direkt von den in der Konfektion gezahlten Hungerlöhnen her. Um bei dem lohndrückenden Angebot an weiblichen Arbeitskräften das Existenzminimum und mehr zu verdienen, versprach das Maschinennähen gegenüber dem Handnähen einen Arbeitsvorteil, der sich in klingender Münze auszahlen musste.55 Möglicherweise konnten die Maschinennäherinnen, solange sie mit Handnäherinnen konkurrierten, anfangs genug verdienen, um einen Teil der Einnahmen in weitere Maschinen zu reinvestieren und dann in einer größeren Wohnung mehrere Lohnnäherinnen zu beschäftigen. Wenn 1863 ein Kenner des Nähmaschinenmarktes behauptete,56 dass sich 50 Prozent der verkauften Maschinen in Händen des Arbeiterstandes befänden, so ist zu vermuten, dass außer Schneidergesellen auch fachfremde Arbeiter in eine Nähmaschine Geld investierten, um ihre Frauen und Töchter für die Heimarbeit mit einem Produktionsmittel auszustatten oder auch selbst eine Werkstatt aufzumachen. Die mit der Nähmaschine erzielbare höhere Produktivität des unqualifizierten Nähens verallgemeinerte sich offenbar sehr schnell. Schon 1869 sahen Beobachter im »Maschinennähen die unerlässliche Vorbedingung zu lohnenden Konfektionsarbeiten«.57 Nach Aussagen von altgedienten Näherinnen sollen in den 1880er und 1890er Jahren die mit der Nähmaschine erzielbaren Stücklöhne kontinuierlich gefallen sein, was wohl nichts anderes bedeuten kann, als dass die Arbeitskonkurrenz auf der verallgemeinerten höheren Produktivitätsstufe erneut die Löhne senkte.58 Wenn die Frauen dennoch weiterhin für schlecht bezahlte Näharbeit zur Verfügung standen, so sicherlich in erster Linie in Ermangelung anderer Verdienstmöglichkeiten. Aber auch die einmal begonnene Investition in eine Näh54 Lt. Arbeitgeber (wie Anm. 4), 1858, S. 899, über Württemberg; ebd. auch über Trier; vgl. auch Herzberg (wie Anm. 5), S. 12, für 1863; Arbeitgeber 1865, S. 4713; Viebahn (wie Anm. 29), S. 669. In Erlangen soll der erste Schneider 1860 eine Nähmaschine besessen haben, auf der andere gegen Geld nähten. 1865 habe sie sich dann schnell verbreitet, vgl. SVSP (wie Anm. 12), Bd. 64, Leipzig 1895, S. 401 f. 55 Vgl. Herzberg (wie Anm. 5), S. 20. L. Otto, Das Recht der Frauen auf Erwerb. Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart, Hamburg 1866, S. 22, sieht wegen des hohen Nähmaschinenpreises »Tausende der armen Näherinnen in der Lage, in welcher die Handspinner gegenüber den Maschinenspinnern einst waren … Die Maschine wird als Feindin der armen Näherinnen betrachtet, sie macht ihnen Concurrenz«. 56 Herzberg (wie Anm. 5), S. 4. 57 Vierteljahresschrift für höhere Töchterschulen 3, 1869, S. 158 f. 58 Feig (wie Anm. 12), S. 51 f., 60, 62, berichtet für Berlin einen Rückgang des Stücklohns 1880–1895 um ⅓ bis ½. Klagen über Schleuderkonkurrenz der Berliner Konfektion und Lohnverfall in Bayern und dem Vogtland in: Reichstag 1887 (wie Anm. 33), S. 717 f. Möglicherweise liegt hier ein Grund dafür, dass von 1882 bis 1907 die Bedeutung der Zwischenmeisterwerkstätten wächst, die der Heimarbeit sinkt.
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maschine konnte zur Fessel werden. Während in der Stadt eine Frau mit kleinen Kindern ohne Nähmaschine kaum Verdienstmöglichkeiten hatte, schien der Besitz einer Nähmaschine das Familieneinkommen abzusichern. Also wuchs die Bereitschaft, dem Nähmaschinenvertreter gegen eine geringe Baranzahlung die Nähmaschine abzunehmen und dafür einen Ratenkaufvertrag einzuhandeln. Wie dieses Verkaufssystem auch im Einzelnen funktioniert haben mag, bei der hohen Mobilität des städtischen Proletariats muss für die Verkäufer das Risiko relativ hoch gewesen sein, dass der zahlungsunfähige Käufer zusammen mit der kaum abgezahlten Nähmaschine verschwand. Ausgleichende Gewinnspannen und Sicherheitsvorkehrungen stützten daher das Ratenkaufsystem vielfältig ab. Eine wirksame Form der Rückversicherung war es sicherlich, wenn ein Fabrikant gegenüber dem Nähmaschinenhändler für die bei ihm festangestellten Näherinnen eine Bürgschaft leistete, um so seine Arbeiterinnen instand zu setzen, nach ihrem Arbeitstag in der Fabrik für ihn zu Hause an der eigenen Nähmaschine weiterzuarbeiten.59 Wohl nicht selten begann gerade für die vermögenslose Näherin mit dem Kauf einer Nähmaschine auf Raten ein Teufelskreis: denn die Raten in Höhe von 50 Pfennig bis 1,50 Mark mussten wöchentlich bezahlt werden. Um diese hohe Belastung einschätzen zu können, lohnt es, den Ausführungen von Gertrud Dyhrenfurth60 zu folgen, die Mitte der 1890er Jahre als erste in einer empirischen Untersuchung über 200 Heim- und Werkstattarbeiterinnen aus der Berliner Blusen-, Unterrock- und Schürzenkonfektion erfasste. Die für diesen Zweig der Konfektion geeignete Singer-Maschine kostete im Ratenkauf 135 Mark. Sie hatte zwei Jahre Garantie und war bei starker Beanspruchung nach ca. fünf Jahren abgenutzt. Bei einer Wochenrate von 1,50 Mark zahlte die Näherin ihre Maschine in knapp zwei Jahren ab, vorausgesetzt, sie war über das ganze Jahr hinweg imstande, wöchentlich 1,50 Mark zu erübrigen. Vom Bruttoverdienst einer solchen Näherin gingen aber nicht nur Rate, Amortisation und Reparaturkosten ab, sondern auch noch eine weitere Mark für Maschinenöl und Maschinengarn, ganz zu schweigen von den Mietkosten für den Arbeitsraum, dessen Beleuchtung und Beheizung. Dyhrenfurth errechnete nun in 80 Fällen durch Abzug der Produktionskosten und bei Umrechnung des Stücklohns auf einen 10-Stunden-Tag ohne Sonntagsarbeit den Nettowochenverdienst von Heimarbeiterinnen. Sie kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Nettowochenlohn nur in 23,7 Prozent der Fälle über 7 Mark pro Woche lag. Die saisonalen Schwankungen,61 d. h., die 2–5 Monate ohne oder mit nur sehr geringen Aufträgen, sind in dieser Rechnung nicht einmal berücksichtigt. Bei einer solchen 59 Beispiel bei Feig (wie Anm. 12), S. 79. 60 G. Dyhrenfurth Die hausindustriellen Arbeiterinnen in der Berliner Blusen-, Unterrock-, Schürzen- und Tricotkonfektion, Leipzig 1898, S. 48 f., 56. 61 Am kontinuierlichsten war der Arbeitsanfall in der Wäschekonfektion; in der Herren- und Knabenkonfektion rechnete man mit 3, in der Damenkonfektion mit 4 bis 5 Monaten stiller Zeit im April-Juni und November-Dezember; vgl. Grandke (wie Anm. 12), S. 142–54; Lehr (wie Anm. 47), S. 75, 80; Stülpnagel (wie Anm. 47), S. 14, 16.
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Lohnsituation war eine Näherin kaum imstande, aus eigener Tasche eine Nähmaschine zu bezahlen, denn den 7 Mark Nettoverdienst pro Woche standen 6,35 Mark als feste Ausgaben für den Minimalbedarf einer alleinstehenden Frau gegenüber, die in ihrem Speisezettel keinen Fleischkonsum kannte und für den Ersatz von Kleidung keinen Pfennig aufwendete. Doch auch für eine Arbeiterfamilie mit knapper Haushaltskasse stand die Investition in eine Nähmaschine zu dem damit erzielbaren Gewinn in einem krassen Missverhältnis.62 Selbst für die meisten Zwischenmeister gestaltete sich das Verhältnis zwischen Produktionsaufwand und -effekt nicht günstiger. Wenn dennoch die Zwischenmeister und Näherinnen nicht aufhörten, sich selbst mit den Ausgaben für die Arbeitsmaschinen zu belasten, so dürfte dafür der entscheidende Grund in der familienwirtschaftlichen Einbindung der Produktion zu suchen sein. Die Konfektionsbranche verdankte diesem System ihre Prosperität. Im krassen Gegensatz stand dazu das anhaltende Elend der »armen Näherin«.63 Sobald alleinstehende oder zuverdienende Frauen darauf angewiesen waren, wöchentlich einen festen Betrag zu verdienen, blieb ihnen in der Saison nichts anderes übrig, als die Arbeitsintensität und möglichst gleichzeitig auch die Arbeitszeit aufs äußerste zu steigern. Solange Arbeit vorhanden war, musste bis zur Erschöpfung an der Nähmaschine gearbeitet und soweit nur irgend möglich das Familien- und Haushaltsgeschehen vernachlässigt werden. Nicht viel besser sah es in den berüchtigten Schwitzbuden der Zwischenmeister aus, die in meistens viel zu engen Wohnungen mehrere Nähmaschinen in Betrieb hatten, in der Saison die eigene Familie und die Lohnarbeiterinnen zu Höchstleistungen anspornten und häufig genug die Arbeitszeit über den gesetzlichen Maximalarbeitstag für Frauen hinaus auf 14 und 16 Stunden ausdehnten. Für nicht wenige Arbeiterfrauen dürfte die vermeintliche Versöhnung von Mutterpflichten und Erwerbsarbeit bzw. die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz realiter so ausgesehen haben: »Auch die Mutter einer vielköpfigen Kinderschar, die, in einem einfenstrigen Berliner Zimmer zusammengedrängt, schlief, schrie, spielte, arbeitete und krank lag, meinte: gegen die Unruhe und Unordnung in ihrem Haushalte sei ihr die ruhige und gleichmäßige Thätigkeit in der Fabrik, in der sie eine Weile beschäftigt war, eine wahre Erholung gewesen, sie habe sich oft kaum entschließen können, heimzukehren. Aber 62 Dyhrenfurth (wie Anm. 60), S. 59; bei 62 Prozent ihrer verheirateten Heimarbeiterinnen verdiente der Ehemann weniger als 21 M/Woche, so dass aus seinem Einkommen die Miete nicht zu bezahlen war (S. 33). Auch Grandke (wie Anm. 12), S. 142 f., 146 f. setzt Frauenlöhne zum Familieneinkommen ins Verhältnis. Vgl. auch bei Schneider (wie Anm. 51), S. 118, die Übersicht über die Größe und Verteilung von Arbeiterwochenverdiensten 1890. 63 Vgl. Reichstag 1887 (wie Anm. 33), passim; Zusammenstellung 1896 (wie Anm. 45), stark beschönigt; die Heimarbeit-Ausstellung von 1906 brachte eine Not-Dokumentation in Einzelfällen, vgl. C. Heiss u. A. Koppel (Bearb.), Heimarbeit und Hausindustrie in Deutschland. Ihre Lohn- und Arbeitsverhältnisse, hg. im Zusammenhang mit der Deutschen HeimarbeitAusstellung in Berlin vom Bureau für Sozialpolitik, Berlin 1906, S. 58–79, 180–205 Tabellen mit Wochenlohnangaben u. a. für Frauen.
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der Säugling sei von den Geschwistern immer überfüttert worden und dauernd elend gewesen, da habe sie die auswärtige Arbeit aufgeben müssen. Jetzt näht sie Blusen zu Haus und verdient bei ungleich längerer Arbeitszeit nur viel weniger. Dabei wird sie innerlich hin- und hergezerrt zwischen dem Wunsch, das Nötige zu erwerben, und dem Verlangen, für die Kinder zu sorgen, deren Bedürfnisse ihr jetzt immer vor Augen treten. Gereizt über jede Unterbrechung der Arbeit und andererseits von dem Zustand gepeinigt, in dem sie beim Aufblicken von der Maschine die Kinder und die Häuslichkeit sieht – immer genötigt, eine Pflicht über der anderen zu vernachlässigen – so wird das Leben zu einem so aufreibenden Vielerlei, ›daß ich immer morgens denke, du kannst nicht aufstehen und einen solchen Tag wieder beginnen‹.«64
Die vermeintliche Emanzipation durch die Nähmaschine erscheint bei näherem Hinsehen also in einem wenig rosigen Licht. Um die geschilderte Arbeitssituation richtig zu bewerten, wäre es unerlässlich, das genaue Ausmaß der Frauenlohnarbeit in der Konfektion zu kennen. In welcher Zahl Frauen als Näherinnen für die Bekleidungsindustrie, in Fabriken, Zwischenmeisterwerkstätten oder in Heimarbeit arbeiteten, ist statistisch jedoch leider nie genau erfasst worden. Zum einen waren die Kategorien der Berufs- und Gewerbezählung zu unscharf; zum anderen kam es zu einer hohen Dunkelziffer, weil die Beschäftigungsverhältnisse in der dezentralen Produktion äußerst unübersichtlich waren. Zusätzlich wurde die statistische Erfassung behindert durch die in dieser Branche übliche Saisonarbeit, die Einbeziehung der immer schwer zu erfassenden Gruppe der »mithelfenden Familienangehörigen« und die »verschämte« Heimarbeit bürgerlicher Frauen, die die Erwerbsarbeit für rufschädigend hielten und daher die Öffentlichkeit scheuten. Ohne die vorhandenen Zahlen hier im einzelnen diskutieren zu wollen, mag es dennoch seinen Nutzen haben, zumindest einige Orientierungsdaten mitzuteilen.65 1895 gab es rund 1,5 Millionen erwerbstätige Frauen in Gewerbe und Industrie, die wohl auch dann noch überwiegend als Arbeiterinnen einzustufen sind, wenn sie (nämlich als Hausindustrielle) zu den Selbständigen rechneten. Ein Drittel dieser Frauen verdiente ihr Geld als Näherin, Schneiderin oder Kleider- bzw. Wäschekonfektionsarbeiterin. Gewiss gehörten zu dieser Gruppe auch die wenigen Maßschneiderinnen und zahlreichen Hausnäherinnen, die weiterhin in der Hauptsache für den lokalen Bedarf arbeiteten. Dennoch dürfte die Mehrzahl dieser Frauen mehr oder weniger ausschließlich für die Konfektion gearbeitet haben. 1907 ergab die Berufszählung für diese Gruppe sogar fast 940.000 Frauen. Geht man nicht vom Beruf, sondern vom Bekleidungsgewerbe aus, so arbeiteten in der Sparte »Wäsche, Kleidung, Kopfbedeckung, Putz« inklusive der mithelfenden Familienangehörigen 1895 insgesamt 496.831 und 1907 bereits 584.783 Frauen, die zwar nicht alle, 64 Dyhrenfurth (wie Anm. 60), S. 67 f. 65 Die Zählung von 1882 blieb unberücksichtigt, weil sie die mithelfenden Familienangehörigen schlecht erfasste. Angaben aus: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 111, S. 207, Bd. 211, Anlage S. 57, Bd. 213, S. 260 f., Bd. 220/221, Anlage S. 118 f. Gute Kritik der statistischen Daten: R. Wilbrandt, Die Frauenarbeit. Ein Problem des Kapitalismus, Leipzig 1906, S. 94.
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aber doch wohl größtenteils Näharbeiten ausführten. Dieses gilt in jedem Fall für die Hausindustriellen unter ihnen, von denen 1907 rund 110.000 registriert wurden, aber nach Meinung aller Beobachter noch weit mehr zu veranschlagen waren. So ungenau diese Daten auch sind, sie vermitteln zumindest einen Eindruck von dem Ausmaß, in dem das Hand- und Maschinennähen im Deutschen Reich die Lebenssituation von Frauen mitbestimmt, wenn nicht gar geprägt hat. Bis zum Ersten Weltkrieg scheint es zu keiner nennenswerten Verbesserung der Arbeits- und Lohnverhältnisse in der Bekleidungsindustrie gekommen zu sein. Außer dem reichen Arbeitskräfteangebot wird die wichtigste strukturelle Ursache hierfür die dezentrale Produktionsorganisation gewesen sein. Die Anlage zentraler Großfabriken im Zuge von Elektrifizierung und Rationalisierung konzentrierte sich bis 1914 so gut wie ausschließlich auf die Wäschefabrikation. Das Vorherrschen von Werkstatt- und Heimarbeit vor allem in der Kleiderkonfektion bedeutete, dass die Schutzgesetzgebung an den dort arbeitenden Frauen weitgehend ebenso vorbeigegangen war wie die Absicherung durch die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung. Auch Lohnkämpfe blieben aufgrund der Arbeitsmarktsituation und der dezentralen Organisation der Produktion so gut wie aussichtslos.66 Schließlich war diese zwischen alter Hausindustrie und modernem Fabrikbetrieb angesiedelte Lohnarbeit mehrfach gepuffert. Zwischen die Konfektionäre und die Näherinnen schob sich der Zwischenmeister, der selbst halb Lohnarbeiter, halb aber auch wieder Unternehmer war. Der Nebenerwerb der unverheirateten »Haustöchter« aus dem Mittelstand und die »verschämte« Heimarbeit, die das wie immer geartete »standesgemäße« Auskommen und wohl nur in den seltensten Fällen das Existenzminimum absichern musste, erwiesen sich als wirkungsvolle Mittel, die Löhne zu drücken. Schließlich waren Werkstatt- und Heimarbeiterinnen nur schwer organisierbar. Nicht nur die verstreuten Arbeitsplätze und Arbeitgeber und die extreme zeitliche und körperliche Belastung dieser Frauen, sondern auch die familienintegrierte Erwerbsarbeit und bis 1907 das deutsche Vereinsrecht behinderten gemeinsame Aktionen und Organisationen.67 Im Bereich der Konfektion hatte die Maschinisierung der Näharbeit in Gestalt einer Haushaltsmaschine die elende Arbeitssituation also eher verfestigt als gesprengt, indem sie in großem Maßstab haushaltsintegrierte Erwerbsarbeit ermöglichte. Die vielzitierte Entlastung der privaten Haushalte von der Produktionsfunktion – eine gängige Floskel, die zur Interpretation der Veränderungen viel zu simpel ist, um zutreffend zu sein – lässt sich im Zusammenhang mit 66 Vgl. Grandke (wie Anm. 12), S. 341–78, über den Berliner Konfektionsarbeiterstreik von 1896. 67 1904 gab es insgesamt nur 4.186 bei den freien bzw. christlichen Gewerkschaften organisierte Frauen aus der Bekleidungsbranche; vgl. Wilbrandt (wie Anm. 56), S. 127 f. Zur Behinderung der Organisationsarbeit durch Polizeiaufsicht: A. Berger, Die zwanzigjährige Arbeiterinnenbewegung Berlins und ihr Ergebnis, Berlin 1889, S. 24–52.
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der parallelen Entfaltung der Bekleidungs- und Nähmaschinenindustrie als ein sehr komplizierter Prozess erkennen, von dem die verschiedenen Haushaltstypen unterschiedlich betroffen waren. An dem Aufblühen der Bekleidungsbranche einfach die Entlastung des privaten Haushalts von der Produktionsfunktion abzulesen, grenzt an Zynismus, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die angebotenen Waren zu einem beträchtlichen Teil in unterbezahlter Heimarbeit von proletarischen und kleinbürgerlichen Frauen in der eigenen Wohnung mit der eigenen Nähmaschine hergestellt wurden. Der Versuch, die Situation dieser Nähmaschinen-Näherinnen richtig einzuschätzen, führt hin zu dem bislang ungelösten Problem,68 Frauenarbeit zum einen als Haushalts- und Familienarbeit, zum anderen als haushaltsintegrierte Erwerbsarbeit und schließlich als entlohnte Werkstatt- und Fabrikarbeit zu unterscheiden und in den Griff zu bekommen. Dennoch ist es notwendig, diesen über dem Starren auf die Große Industrie in Vergessenheit geratenen Bereich gesellschaftlicher Arbeit näher kennenzulernen. Denn nur so lässt sich begreifen, wie eng auch noch im 19. Jahrhundert die vielfältigen Formen der gesellschaftlich oder privat organisierten, entlohnten oder nicht entlohnten und mehr oder weniger stark über den Markt vermittelten Arbeit miteinander verzahnt bzw. durchmischt waren. Die Einführung der Nähmaschine bedeutete in dieser Gesellschaftsformation sicherlich technisch und ökonomisch einen Fortschritt. Vorsicht ist allerdings gegenüber der Behauptung geboten, sie habe auch den sozialen Fortschritt befördert.
68 Trotz erster Ansätze dazu z. B. von J. W. Scott u. L. A. Tilly, Women’s Work and the Family in 19th Century Europe, in: Comparative Studies in Social History 17, 1975, S. 36–64; P. Branca, A New Perspective on Women’s Work. A Comparative Typology, in: Journal of Social History 9, 1975/76, S. 129–53; E. Plech, Two Worlds in one. Work and Family, in: Journal of Social History 10, 1976, S. 178–95.
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Große Wäsche Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in Deutschland vom 18. bis ins 20. Jahrhundert * 1
Große Wäsche – lebhaft ist meine Erinnerung an Mutters Wascharbeit für einen 7-Personen-Haushalt: Am Vorabend im Keller das Sortieren der Schmutzwäsche, das Einweichen. Schon am frühen Morgen den Kessel anheizen, die Waschküche voller Wasserdampf, das Umfüllen der kochendheißen Wäschestücke aus dem Waschkessel in die Flügelwaschmaschine mit Elektromotor, das erneute Umfüllen der Wäsche zum Spülen in die großen gemauerten Spülbecken, sofern nicht noch mit Stampfer, Waschbrett, Bürste und Seife besonders hartnäckigem Schmutz nachgeholfen werden musste, dann Stück für Stück durch die Wringmaschine drehen, den Wäschekorb voll nasser Wäsche die Kellertreppe hoch schleppen, im Sommer nach draußen, um Handtuch zu Handtuch, Unterhemd zu Unterhemd wohlgeordnet auf der Leine aufzuhängen, im Winter bis auf den muffigen Dachboden. Später das Recken und Legen der Bettwäsche und der Weg zur Heißmangel; das Einfeuchten und Bügeln der übrigen Wäsche, nicht einmal Handtücher wurden ausgespart. Die zusätzlich zur wöchentlichen kleinen Handwäsche alle vier Wochen oder gar vierzehn Tage fällige Große Wäsche war noch in den 1950er Jahren sichtbare Schwerstarbeit, die ohne das Zupacken einer zweiten Person, meistens eines größeren Kindes, nicht möglich war und als sichtbaren Ertrag schließlich Berge glatt gestapelter sauberer Wäsche hervorbrachte. Diese Große Wäsche gehört der Vergangenheit an. An ihre Stelle ist heute im Zeichen der vollautomatischen Waschmaschine, der synthetischen Waschmittel, der pflegeleicht ausgerüsteten Textilien und der kleinen Familien-Haushalte die Vielzahl der kleinen Wäschen getreten, die sich in kurzen Abständen wiederholen und mit der Waschmaschine in Küche oder Badezimmer »schnell mal nebenbei« erledigt werden, wie Hausfrauen sagen, und angeblich eine kinderleichte Nicht-Arbeit sind, wie die Reklame suggeriert. Die chemo-technische Revolutionierung des Wäschewaschens hat seit Ende der fünfziger Jahre auch in der Bundesrepublik im schnellen Siegeszug die privaten Haushalte aller Einkommensniveaus erobert. Es wäre eine interessante Aufgabe, herauszuarbeiten, wie die Waschmittelund Haushaltsgeräte-Industrie, deren Kunden die Familienhaushalte und wohl immer noch überwiegend die Hausfrauen sind, ihre Marktstrategien im Laufe der zurückliegenden vierzig Jahre verändert haben. Die Werbung der Super* Zuerst erschienen in: Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, S. 273–303.
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lative – das weißeste Weiß meines Lebens – ist heute suspekt geworden, und selbst die Gesundheitsvorsorge durch Wäschewaschen ist ins Zwielicht geraten. Energiesparen, Umweltschutz und die Abwehr synthetischer Stoffe vom Körper sind neue, in der Bevölkerung offenbar bereits so gut verankerte Standards, dass sich mittlerweile auch die Industrie darauf einstellt. Aufmerksamkeit verdient auch, wie nach den ersten alarmierenden Schaumbergen auf Gewässern und Kläranlagen eine enge Zusammenarbeit zwischen chemischer Industrie und Regierung begann und diese zuerst im Detergentiengesetz von 1961 ihren Niederschlag fand, dann im »Gesetz über die Umweltverträglichkeit von Wasch- und Reinigungsmitteln« von 1975, so dass inzwischen nur noch biologisch optimal, wenngleich keineswegs vollständig, abbaufähige waschaktive Tenside zum Einsatz kommen und auch die Gefahr der Überdüngung der Gewässer durch die in den Waschmitteln als Enthärter enthaltenen Phosphate allmählich gebannt wird.1 Doch nicht die jüngsten Entwicklungen zum Thema Wäschewaschen sollen mich hier interessieren, sondern der schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Wandel dieser aufwendigen und schon immer wichtigen Haushaltsarbeit.2 Der technische Fortschritt und seine Folgewirkungen erreichten im Zuge der Industrialisierung auch die Haushalte aller Bevölkerungsschichten in Stadt und Land und veränderten schon im 19. Jahrhundert durchgreifend die so gerne traditionell genannte Hausarbeit. Am Beispiel der Großen Wäsche will ich diese Geschichtlichkeit und Geschichte der Hausarbeit vor Augen führen und dabei gleichzeitig die besonders häufig im Hinblick auf Frauen apostrophierte befreiende Kraft der Technik kritisch unter die Lupe nehmen. Wie schon durch die Nähmaschine, das Fahrrad und die Schreibmaschine soll die Frau auch durch die Waschmaschine emanzipiert worden sein. Den Be1 Aus Industriesicht hierzu H. Stache u. H. Großmann, Waschmittel. Aufgaben in Hygiene und Umwelt. Für Mediziner, Chemiker, Biologen, Umweltforscher, Technologen, Hausfrauen und Hausmänner, Berlin 1985. 2 Wie die Geschichte der Haushaltsarbeit, so ist auch die der Wascharbeit nur wenig erforscht. Nützlich sind die im Auftrag der Firma Henkel bearbeiteten, reich bebilderten Bücher von I. Barleben, Kleine Kulturgeschichte der Wäschepflege, Düsseldorf 1951; F. Bertrich, Kulturgeschichte des Waschens, Düsseldorf 1966; überaus anregend bleibt S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a. M. 1982 (englische Erstausgabe London 1948); vgl. auch G. Thuillier, Pour une histoire de la lessive en Nivernais au XIXe siècle, in: Annales ESC 24, 1969, S. 377–390; ders., Pour une histoire des travaux ménagers en Nivernais aux XIXe siècle, in: Revue d’histoire économique et sociale 50, 1972, S. 238–264; für die USA R. Schwartz Cowan, More Work for Mother, New York 1983; S. Meyer u. B. Orland, Technik im Alltag des Haushalts, in: U. Troitzsch u. W. Weber (Hg.), Die Technik von den Anfängen bis zur Gegenwart, Braunschweig 1982, S. 564–583; R. Reiter (Hg.), Waschen und Wäschepflege im Coburger Land, Coburg o. J. (1983); H. Grünn, Wäsche waschen. Volkskunde aus dem Lebensraum Donau, Wien 1978. Für Anregungen danke ich U. Bussemer, S. Meyer, B. Orland, E. Schulze, die am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin an einem Forschungsprojekt zur Entwicklung und Verbreitung von Haushaltsgeräten in Deutschland im 20. Jahrhundert arbeiten.
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arbeitern der Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Waschmittel-Produzenten Henkel & Cie erschien es beispielsweise 1976 zitierenswert, was der Historiker Golo Mann andernorts in einer Jubiläums-Festrede formulierte: »Wer so leidenschaftlich für die Emanzipation des Menschen und besonders der Frau eintritt, der sollte doch gegen die Waschmaschine und die zu ihr gehörigen Waschpulver eigentlich nichts einzuwenden haben.« Denn es sei sicher, dass »gerade die Waschmaschine zur Befreiung der Frau von einer ihrer härtesten Fronen, dem Waschen im Zuber, geführt hat«.3 So schlicht von Emanzipation und Befreiung zu reden, wenn einem Handwerker oder Industriearbeiter eine Maschine an die Hand gegeben wurde, verbietet sich schon seit langem. Darüber nun zu spekulieren, was Interpreten immer wieder zur Formel der Emanzipation per Technik verführt, um das Verhältnis von passiv erachteten Frauen zur aktiv wirkenden Technik zu charakterisieren, wäre zwar reizvoll, aber dürfte nicht sehr weit führen. Deshalb wähle ich im Folgenden den umständlicheren Weg, auch in Sachen Großer Wäsche der vielschichtigen Komplexität des historischen Wandels nachzuforschen. Dabei richte ich meine Aufmerksamkeit zunächst darauf, wie sich das Ziel und der Aufwand des Wäschewaschens mit dem Wandel der sozialen Standards veränderten; dann frage ich, wer die Frauen waren, denen es oblag, die häusliche Wäsche zu waschen; und erst danach untersuche ich die Geschichte der Waschtechnologien und Waschtechniken.
1. Soziale Standards Sauber, fleckenfrei, weiß, duftend galten auch schon vor hundert und zweihundert Jahren als erstrebenswerte Qualitäten frischgewaschener Wäsche; von weich und flauschig sprach allerdings vor hundert Jahren noch niemand, und weitere hundert Jahre zurück wäre die Hygiene der Wäsche auch noch kein Kriterium gewesen. Doch selbst die feststellbare Kontinuität trügt. Denn nicht nur die zum Waschen eingesetzten Mittel, auch die an das Waschergebnis angelegten Maßstäbe haben sich im Lauf der Jahrzehnte verändert. Wenn heute Wäsche einen Tag getragen wird und dann nur deswegen als schmutzig gilt, weil sie Körpergeruch angenommen hat, so steht dahinter eine andere Vorstellung von sauberer Wäsche, als wenn 1747 in Zedlers Lexikon von »schwarzer Wäsche« und »eingeschwärzter Wäsche« die Rede ist, die »gebrühet und gewaschen« werden muss.4 Auch das erstrebenswerte Weiß ist eine relative Größe, und um ein weißeres Weiß zu erlangen, setzten Frauen schon im 19. Jahrhundert außer der Sonnen3 Henkel & Cie GmbH Düsseldorf (Hg.), 1876–1976. 100 Jahre Henkel, Dortmund 1976, S. 57, 48. 4 J. G. H. Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 53, Leipzig 1747, Sp. 25.
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bleiche auch Bleichmittel und optische Aufheller ein. Erst dem Interesse der Ärzte an der Wascharbeit haben wir es schließlich zu danken, dass gewaschene Wäsche nicht mehr nur sauber, sondern auch hygienisch sein soll. Zur Gesundheitsvorsorge empfahlen Ärzte seit Beginn des 19. Jahrhunderts allen Menschen Körperpflege und dehnten nach den bestürzenden Choleraerfahrungen der 1830er Jahre ihr Sauberkeitsgebot auch auf die Wäsche und die gesamte Umgebung der Menschen aus. Die Hygiene der Wäsche wurde noch größer geschrieben, sobald Mikroorganismen als die Erreger verschiedener Krankheiten entdeckt und deren Überlebensbedingungen u. a. von Robert Koch systematisch erforscht waren. Seit den 1880er Jahren breitete sich nicht nur die allgemeine Mikrobenfurcht aus, sondern auch die Hoffnung, mit dem Kochen und heißen Bügeln der Wäsche den unsichtbar lauernden Krankheitskeimen erfolgreich zu Leibe rücken zu können. Noch 1927 versprach eine Persil-Reklame: »Persil ist allen anderen Waschmethoden an desinfizierender Wirkung erheblich überlegen«.5 Wäschewaschen und gewaschene Wäsche galten allerdings lange Zeit überhaupt nicht und niemals ausschließlich als Dienst an der Gesundheit. Wäsche überhaupt zu benutzen und Leib-, Bett- und Tischwäsche zu beschmutzen, konnte sich noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert nur leisten, wer nicht zu der Mehrzahl der ärmlichen und bettelarmen Familien gehörte. Dementsprechend fand das Ereignis der Großen Wäsche damals auch nur in solchen Haushalten statt, die über einen gehörigen Vorrat an Leinenzeug verfügten und damit bei sparsamem Verbrauch vier bis sechs Monate auskommen konnten. Und es war ein Zeichen von Reichtum und Luxus, häufig weiße Tücher aufzulegen, blendend weiße Leibwäsche und Hemden zu tragen und viele Waschfrauen zu beschäftigen. Der steigende Lebensstandard gab in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen Gelegenheit, sich dieses Zeichen anzueignen. 1868 notierte der Statistiker Georg Viebahn: »Mit dem Wohlstande und der Bildung wächst auch der Sinn für Reinlichkeit und Eleganz, wie auch die Möglichkeit und die Mittel, demselben Folge zu geben.«6 Wir wissen, wie schnell 5 Gesundheit und Tod sind wohl immer mit dem Wäschewaschen bzw. der gewaschenen Wäsche in Beziehung gesetzt worden; siehe dazu Handwörterbuch des Aberglaubens, Bd. 9, Berlin 1941, Sp. 95–99; nach Baron Bourgon de Layre, Die Dampfwäsche, ein höchst einfaches Verfahren … 2. Aufl. Weimar 1840, S. 19 f., soll Waschen »das Mittel gewähren, aus den Kleidungsstücken die fauligen Miasmen wegzunehmen, womit sie von den Ausdünstungen des Körpers durchdrungen werden«. Deshalb interessiere das Waschen »nicht allein die Privatfamilien, sondern auch die ganze große Familie oder die öffentliche Gesundheit«. Öffentliche Desinfektionsanstalten kamen erst Ende der 1860er Jahre auf; vgl. auch E. Friedrich, Gesundheitspflege für das Volk. Rathschläge zur Erhaltung der Gesundheit. Gekrönte Preisschrift, Berlin 1864, S. 137. Das Kochen der Wäsche galt erst um 1930 in Deutschland nicht mehr als unbedingt erforderlich. 6 G. Viebahn (Hg.), Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, 3. Teil, Berlin 1868, S. 603.
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Textilien bereits im 19. Jahrhundert als immer billigere Massenartikel einen immer größeren Markt erobern konnten. Selten folgt allerdings aus diesem Wissen der naheliegende Schluss, dass auch der Luxus, von Jahr zu Jahr mehr Wäsche schmutzig zu machen, in der Mittelschicht und am Ende des Jahrhunderts selbst in der Unterschicht beträchtlich zugenommen haben muss; und noch seltener bedenken wir, dass infolge eines dergestalt vermehrten Wohlstandes auch der Aufwand für Wascharbeiten in die Höhe schnellte. Außer dieser hat noch eine zweite Entwicklung die erforderliche Wascharbeit mit rasantem und sich bis heute beschleunigendem Tempo vermehrt. Es werden nicht nur immer mehr waschbare und waschbedürftige Textilien benutzt. Die Novität der waschbaren Oberbekleidung bietet hierfür ein gutes Beispiel. Auch die für den Wäschegebrauch und die Wäschepflege geltenden Sauberkeitsstandards haben an Rigidität und Verbindlichkeit seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beträchtlich zugenommen. Erheblich mehr Schmutzwäsche verlangte nach Reinigung, wenn erst einmal jedes Haushaltsmitglied Taschentücher, Leibwäsche und besondere Nachtwäsche benutzte, wenn in einem mit Bettwäsche bezogenen Bett aus sittlichen Gründen nur noch eine einzige Person schlafen sollte und auch die gemeinsame Benutzung eines Universalhandtuchs als Verstoß gegen Hygieneerfordernisse obsolet wurde.7 Darüber hinaus vervielfachten sich der Wäscheverbrauch und die Wascharbeit auch noch in jüngster Zeit, sobald Wäsche in immer kürzeren Abständen gewechselt und unbedachtes Schmutzigmachen vor allem bei Kindern nicht mehr geahndet wurde. Diese zweite Entwicklung förderten im 19. Jahrhundert zuerst die Hygieniker unter den Ärzten. Im 20. Jahrhundert aber entdeckte die Seifen- und Waschmittelindustrie die Hygiene-Kampagne als lohnenden Weg zur Umsatzsteigerung. Industrielle der hochgradig konzentrierten Seifenindustrie in den Vereinigten Staaten leisteten auch auf diesem Werbegebiet Pionierarbeit. Von 1899 bis 1929 soll es ihnen gelungen sein, den Seifenverbrauch pro Kopf der Bevölkerung um 350 Prozent zu steigern, und weite Kreise der Bevölkerung pflegten bereits um 1930 alle 1–2 Tage Leibwäsche, Oberhemd und Handtücher sowie wöchentlich einmal die Bettwäsche zu wechseln. Diese bemerkenswerte Entwicklung kommentierte 1934 ein deutscher Wäschereispezialist: »Solch steigender Wäscheverbrauch war nur möglich durch 7 T. Jürgensen, Vom Bügelbrett zur Waschmaschine, in: Jahrbuch des Heimatvereins der Landschaft Angeln 40, 1976, S. 125, berichtet über einen größeren Bauernhof in Norddeutschland: »Von der Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg nahm der Wäscheanfall stark zu. Der hygienische Grundsatz »jedem sein eigenes Bett« wurde immer mehr durchgeführt … Die Leibwäsche wurde jetzt regelmäßig wöchentlich gewechselt.« Dadurch wurde alle sechs Wochen die Große Wäsche fällig. S. Meyer, Waschen im historischen Wandel, in: Reiter (wie Anm. 2), S. 11–41, kommt auf der Basis von Interviews zum Schluss, dass bereits um 1900 in den verschiedenen sozialen Milieus alle drei Wochen gewaschen wurde. R. Kempf, Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München, Leipzig 1911, bringt S. 164–169, 170–175 interessante Beispiele für die beträchtlichen Wäsche- und Kleidervorräte; auch Mädchen der Unterschicht wollten Armut nicht an der Kleidung erkennen lassen.
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besondere Anstrengungen in der Propaganda. Die Seifenindustrie bediente sich z. B. dabei insbesondere des Begriffs Hygiene … höherer Seifenverbrauch bedeutet vermehrte Hygiene.«8 In Deutschland wandte sich die Firma Henkel, Produzent u. a. von Persil und Henko, dem Arbeitsgebiet Hygiene in der Zwischenkriegszeit zu. 1926 war sie auf der großen Gesolei-Ausstellung (Gesundheit, Soziale Fürsorge, Leibesübungen) in Düsseldorf mit einem Henkel-Pavillon präsent. Bis 1939 produzierte und zeigte sie rund zehn Werbefilme. Ihren zweistündigen Film »Wäsche, Waschen, Wohlergehen« sollen in sechs Jahren annähernd 30 Millionen Menschen gesehen haben.9 Die notwendige Arbeit an der Haushaltswäsche erweist sich bei näherem Hinsehen also als dehnbare Größe. Die im Laufe der Jahrzehnte in allen Gesellschaftsschichten immer höher geschraubten Standards des Wäschegebrauchs und der Wäschepflege sorgten für nachhaltige Vermehrung der Wascharbeit bereits lange bevor mit der Anschaffung einer funktionstüchtigen Haushaltswaschmaschine die schwere Arbeit des Waschens hätte spürbar erleichtert werden können.
2. Die waschenden Frauen Die Produktion von Schmutzwäsche pro Kopf und Jahr hat also seit 150 Jahren zugenommen. Wem aber oblag die Dienstleistung der erforderlichen Wäschereinigung? In Privathaushalten gehörte die Wascharbeit schon immer in den Zuständigkeitsbereich der Hausfrau. Das ist richtig; aber ebenso richtig ist, das keineswegs eine jede Hausfrau seit eh und je auch als Wäscherin gearbeitet hat. Wenn heute Hausfrauen fast ausnahmslos in eigener Person auch Waschfrau sind und es als Zeichen des Fortschritts gilt, den Waschplatz in die eigene Wohnung zu verlegen und im Haushalt über Waschmaschinerie als Privateigentum zu verfügen, so ist dieses der vorläufige Endpunkt einer erst im 20. Jahrhundert begonnenen Entwicklung. Sie zeichnete sich in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ab, als die Waschplackerei der monatlich einmal in den Waschküchen einsam kämpfenden Hausfrauen in immer breiteren Bevölkerungsgruppen zur Selbstverständlichkeit wurde. Damals galt es noch als Fortschritt, dass sich der Tatort des Waschens von der Küche oder anderen Provisorien mehr und mehr verlagerte in die seit dem späten l9. Jahrhundert endlich auch in Mietshäusern und Siedlungen eingerichteten Waschküchen bzw. Waschhäuser. Diese Zentralisierung und Spezialisierung des Waschplatzes sollte nicht nur die Wohnungen schonen und die übrigen Familienmitglieder vom Waschtag befreien, sondern auch die Technisierung und Maschinisierung der Wascharbeit befördern. Sogar Selbstbedie8 H. A. Kind, Wandlung des Waschens und seiner Hilfsmittel vom Hauswerk zum Industriebetrieb in den Vereinigten Staaten von Amerika, Diss. rer. oec., TH Dresden 1934, S. 38. 9 Vgl. Henkel & Cie GmbH Düsseldorf (Hg.) (wie Anm. 3), S. 88, 94.
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nungs-Waschküchen wurden in den 1920er Jahren allmählich mit Waschgeräten und einfachen Waschmaschinen ausgerüstet.10 lm Hinblick auf das heutige Wäschewaschen dürfte allerdings die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Formierung der sozialen Einheits-Hausfrau, des Kernstücks der später so genannten »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky), zumindest ebenso folgenreich gewesen sein wie die Technikentwicklungen. Für Hausfrauen der Unterschicht hatte sich vor 1900 die spezielle Schwerarbeit der Großen Wäsche im eigenen Haushalt in engen Grenzen gehalten, solange es an Wäsche, Wasser, Seife, Arbeitsraum und vor allem Zeit und Kraft mangelte. Hausfrauen aus der Mittel- und Oberschicht dagegen waren wie im 17. und 18., so auch noch im 19. Jahrhundert entlastet worden durch Dienstmägde und vor allem Waschfrauen. Erst in der Zwischenkriegszeit wurden Waschfrauen, die ins Haus kamen, seltener und für schmaler bemessene Haushaltsbudgets zu teuer. Hausfrauen, die es sich irgend leisten konnten, gaben ihre Große Wäsche nun häufiger in die Wäscherei. Doch scheint die Zahl der Hausfrauen, die manchmal noch mit, oft jedoch bereits auch ohne Hilfe eines Dienstmädchens eigenhändig die Große Wäsche der Familie zu bewältigen hatten, da die Zahl der im häuslichen Dienst beschäftigten Frauen rückläufig war, insgesamt gestiegen zu sein. Die verwunderte Frage von John Kenneth. Galbraith,11 wie es möglich war, bürgerliche Hausfrauen so erfolgreich in »eine heimliche Dienerklasse« zu verwandeln, dass sie die niederen Dienste selbst auszuführen begannen, als die bezahlte Dienerschaft abhanden kam, harrt noch einer Antwort. Für das 20. Jahrhundert verrät uns die Werbung, wie die Industrie versprach, das selbsttätige Persil von 1907 oder die motorisierte Waschmaschine ersetze voll und ganz Dienstmädchen und Waschfrau und der technische Fortschritt ermögliche problemlos weiterhin der Dame des Hauses, der liebenden Gattin und Mutter die Demonstration einer arbeitsfreien Existenz, auch wenn das Geld für die Dienerschaft nicht mehr ausreichte.12 »Rationalisierung des Haushaltes« hieß das Programm,13 mit 10 Vgl. Handbuch der Architektur, 3. Teil, 5. Bd., 2. Aufl. Darmstadt 1892, S. 80–90; Die Waschküche im Wohnungsbau, Veröffentlichungen der Forschungsgemeinschaft Bauen und Wohnen Stuttgart, Stuttgart 1985; B. Orland u. S. Meyer, Auf den Spuren der Wäscherinnen, in: Journal für Geschichte 2, 1984, S. 42–47. 11 J. K. Galbraith, Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, Zürich 1974, S. 47–51; F. Koban, Die Nürnberger Großwäschereien, ihre Entwicklung und Bedeutung vor, während und nach dem Kriege, Diss. phil., Erlangen 1925, S. 95, nennt den Kaufkraftschwund als Ursache für die verringerte Abgabe von Haushaltswäsche an die Großwäschereien. Vgl. auch D. Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987. 12 Eindrucksvoll dokumentiert im Katalog der Ausstellung des Staatsarchivs Bremen vom 9. 9.– 11.11.1983: »Das strahlendste Weiß meines Leben«. Waschmittelwerbung im Wandel der Zeit. 13 Vgl. bes. E. Meyer, Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zur wirtschaftlichen Hausführung, Stuttgart 1926; wesentlich ergänzte und erweiterte 30. Aufl. 1928; dazu G. Kittler, Hausarbeit. Zur Geschichte einer »Naturressource«, München 1980, S. 61–81. Zum US-Vorbild siehe S. M. Strasser, Never Done. A History of American Houswork, New York 1982.
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dem die geistig bewegliche Frau des Mittelstands lernen sollte, ihren Beruf des Dienens für die Familie problemlos zu bewältigen. Wo heute von der Hausfrau die Rede ist, wenn von Neuerungen im Waschverfahren gesprochen wird, wusste man bis zum Ende des Kaiserreichs zu unterscheiden zwischen Arbeiterfrauen, Hausfrauen mit und ohne Dienstmädchen und schließlich Waschfrauen. Waschfrauen kamen entweder in die Haushalte der Herrschaften, oder sie holten die Schmutzwäsche ab, um sie in eigener Regie zu waschen. Daneben gab es noch Lohnarbeiterinnen in gewerblichen Wäschereien, deren Zahl seit dem Ende der 1850er Jahre schnell anstieg. Die schwere Arbeit des Waschens lastete im gesamten 19. Jahrhundert größtenteils auf den Waschfrauen. In Deutschland scheint es am verbreitetsten gewesen zu sein, sie zwei- bis dreimal im Jahr zur Großen Wäsche ins Haus kommen zu lassen. Der 1812 geborene Berliner Felix Eberty erinnert das »Waschfest« im großbürgerlichen Haushalt seiner Eltern: »wie … eines Abends spät vier oder fünf Waschweiber ins Haus kamen, weil die Arbeit schon zwischen 2 und 3 Uhr morgens begann … Zu ihrem Empfang waren bereits große Teller mit umfangreichen Butterbröten geschmiert, Wurst und Käse wurde ihnen gereicht und der Kümmelbranntwein durfte nicht fehlen. Sie blieben dann, je nach Bedürfnis, mehrere Tage im Hause … Waren sie endlich abgelohnt, so wurde die Wäsche auf große Trockenplätze hinausgefahren. Nun ging es ans Rollen …, und wenn auch das vorbei war, dann erschienen mehrere Plättfrauen … Nach etwa 8 Tagen war das alles vollendet.«14
In weniger wohlhabenden Haushalten kamen nur 1–2 Waschfrauen zum Einsatz, Plättfrauen wurden ganz eingespart und außer den Dienstmägden arbeiteten bisweilen auch die Töchter und die Hausfrau mit, damit die eigentliche Wascharbeit vom Einweichen der Wäsche bis zum Aufhängen nicht mehr als 2 ½ Tage beanspruchte. Waschfrauen, die in die Haushalte kamen und gegen Kost und Wäscherlohn arbeiteten, lebten im eigenen Haushalt und waren auf ihren Verdienst angewiesen. Viele Witwen und ›eheverlassene‹ Frauen verdienten mit dieser Arbeit bei 14–16stündigen Arbeitstagen für sich und ihre Kinder mehr schlecht als recht den Lebensunterhalt. Mit ihrem Tagelohn erreichten Waschfrauen Spitzenverdienste unter den Handarbeiterinnen. Sie mussten allerdings auch, solange bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts das Ereignis der Großen Wäsche nur selten stattfand, vier Monate ›stille‹ Zeit überbrücken.15 Sie gehörten also nicht zu den elendsten unter den erwerbstätigen Frauen. Nur robuste Frauen konnten überhaupt die schwere Wascharbeit in dampfenden Waschküchen und auf 14 F. Eberty, Jugenderinnerungen eines alten Berliners, Berlin 1878, zitiert nach I. WeberKellermann, Die Familie, Frankfurt a. M. 1976, S. 144 f. 15 Diese Information bei E. Dronke, Berlin, (Frankfurt a. M. 1846), Nachdruck Darmstadt 1974, S. 223 f.
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zugigen Höfen über lange Jahre bewältigen. Diese Frauen waren dann wegen ihrer durch Erfahrung erworbenen Qualifikation gefragt und behaupteten ein hohes Maß an Selbständigkeit. Gegen ungerechte Behandlung, knauserige Verpflegung und schlechte Bezahlung konnten sie sich wirkungsvoller als andere Lohnarbeiterinnen zur Wehr setzen. Denn sie sahen und erfuhren manches, wenn sie viel in den angesehenen Familien einer Stadt oder bei den Bauern herumkamen, und die ihnen so zugewachsene Macht der sozialen Kontrolle ließ sich gelegentlich ausspielen, trafen sie doch mit anderen Waschfrauen an den zum Wäschespülen geeigneten Plätzen zusammen. Welche auf ihr Ansehen bedachte Familie wollte es schon riskieren, dass verärgerte Waschfrauen dazu übergingen, die schmutzige Wäsche der Herrschaften auch im übertragenen Sinne und dazu noch in aller Öffentlichkeit zu waschen. Im Nachhinein ein bereits umlaufendes Gerücht als dummes »Gewäsch« abzutun, blieb wohl von zweifelhafter Wirkung, auch wenn man sich leicht darüber verständigte, dass »von den Wasch-Weibern das meiste unnütze geredet werde«.16 In den Protestbewegungen des Vormärz redeten diese Frauen übrigens nicht nur, sondern sie handelten auch als rebellische Weiber.17 Neben diesen Waschfrauen, die in die Häuser kamen und unter der Aufsicht der Hausfrau arbeiteten, hat es schon immer andere gegeben, die die fremde Wäsche in Eigenregie zu Hause bzw. am Bach, Fluss oder im Waschhaus der Gemeinde wuschen.18 Einige von ihnen betätigten sich als Unternehmerinnen. Sie ließen außer ihren eigenen Töchtern auch andere junge Mädchen bei sich arbeiten und lieferten die Wäsche schließlich schrankfertig in das Haus der Herrschaften. Diese Frauen bildeten mit ihren Kleinbetrieben den Stamm der in den 1860er Jahren sich in Groß- und Mittelstädten schnell entfaltenden gewerblichen Wäscherei, und durch zunehmende Spezialisierung einerseits auf Feinwäsche, andererseits auf das Bügeln und Mangeln konnten sie sich selbst gegenüber der wachsenden Konkurrenz der leistungsstarken Dampfwaschanstalten
16 Zedler (wie Anm. 4), Bd. 52, Sp. 508; vgl. auch Wörterbuch zum Stichwort »Wäscher«; hierzu anregend: B. Althaus, »Halte dich fern von den klatschenden Weibern …« Zur Phänomenologie des Klatsches, in: Feministische Studien 4, H.2, 1985, S. 46–53; Y. Verdier, Façons de dire, façons de faire. La laveuse, la coutourière, la cuisinière, Paris 1979 (deutsch 1982); P. E. Malcolmson, Laundresses and the Laundry Trade in Victorian England, in: Victorian Studies 24, 1981, S. 439–462. 17 Vgl. C. Lipp (Hg.), »Fleißige Weibsbilder« und »liederliche Dirnen«. Arbeits- und Lebensperspektiven von Unterschichtsfrauen, und M. Stephan, Die unbotmäßige Dienstbotin, beide in: C. Lipp (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Bühl-Moos 1986, dort bes. S. 26 f., 66 f.; M. Perrot, Rebellische Weiber. Die Frau in der französischen Stadt des 19. Jahrhunderts, in: C. Honegger u. B. Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht, Frankfurt a. M. 1981, S. 71–98, bes. S. 87 f. 18 Dieses ist für Nürnberg schon für das 16. Jahrhundert belegt, vgl. M. Heyne, Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer, Bd. 3, Leipzig 1903, S. 94 f.; vgl. auch Koban (wie Anm. 11), S. 5–22.
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bis nach dem Zweiten Weltkrieg behaupten.19 Als Unternehmerinnen kamen verheiratete, verwitwete und selbst ledige Frauen auch in den Wäschereidörfern zum Zuge. Zahlreiche Familien betrieben seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in diesen Dörfern bereits über mehrere Generationen die Handwäscherei als Kleingewerbe. Sie profitierten dabei von der Nähe großer Städte, aus denen die Kundschaft stammte, dem Misstrauen gegen die Fabrikwäsche und dem im Dorf reichlich vorhandenen weichen Bachwasser und den ausgedehnten Bleichwiesen.20 Als seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in den schnell wachsenden Städten auch zahlreiche Männer gewerbliche Wäschereien aufmachten, arbeiteten hier ebenfalls so gut wie ausschließlich Frauen als Lohnarbeiterinnen. Die meisten kamen gleich nach der Schule in die Wasch- und Plättanstalten und arbeiteten dort als billige, von zu Hause bereits hinreichend vorgebildete Arbeiterinnen an den Wasch- und Bügelmaschinen. Nur wenige rückten zur gelernten Büglerin auf. Für die allerwenigsten der Betriebe – Schätzungen gingen vor 1914 von 10 Prozent aus – galten die für Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten bzw. mit Motorbetrieb erlassenen Arbeiterinnenschutzbestimmungen. Die zahlreichen Klein- und Mittelbetriebe waren noch unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg häufig hausindustriell organisiert. Die zusätzlich zur Familie beschäftigten 2–3, seltener bis zu 10 Arbeiterinnen wurden im Haushalt der Wäscherei mitversorgt und hatten dort oft auch ihren Schlafplatz. Arbeitstage von 12–14 und mit Überstunden auch 16 Stunden waren bis 1914 durchaus üblich.21 Über die branchenüblichen Löhne ist eine generalisierende Aussage kaum möglich, da sie nach Ort, Alter der Frauen sowie Kost- und Logis-Anteil erheblich schwankten. In München konnten um 1911 junge Mädchen als Glanz19 Von 1882 bis 1907 fiel bereits der Anteil der wohl ausnahmslos von Frauen geführten Alleinbetriebe von 85 Prozent auf 75 Prozent. Koban (wie Anm. 11), S. 36–39, zeigt anhand Nürnberger Adreßbücher von 1880–1914, dass Männer als Besitzer/Pächter von Großbetrieben und den mit Maschinerie ausgestatteten Mittelbetrieben dominierten, denn so auch bei ihm die bei allen Wäschereifachleuten stereotype Begründung: »Maschinen erfordern notgedrungen eine männliche Aufsicht und Bedienung« (S. 38). 20 Bekannte Wäschereidörfer waren in Deutschland Köpenick bei Berlin; Bühlau, Loschwitz und andere Elbdörfer bei Dresden; Neu-Isenburg bei Frankfurt a. M.; Winterhude bei Hamburg; Beuel bei Bonn; Ziegelhausen und Petersthal die laut L. Kleemann, Die Wäschereidörfer Ziegelhausen und Petersthal, Diss. phil. Heidelberg 1905, per Eisenbahn ihre Kunden in Mannheim und Heidelberg bedienten. Eine genaue Beschreibung der Arbeitsweise gibt H. Grünn, Volkskundliches vom Wäschereigewerbe in Linz, in: Jahrbuch der Stadt Linz 1954, Linz 1955; S. 581–662. 21 Vgl. Drucksachen des Kaiserlichen Statistischen Amts, Abt. Arbeiterstatistik, Erhebung Nr. 4, Berlin 1907: Erhebung über die Arbeitszeit der in Plättanstalten und in nicht als Fabriken oder Werkstätten mit Motorbetrieb anzusehenden Waschanstalten beschäftigten Personen, veranstaltet im Oktober 1905. Wäscherei-Arbeit war Stoßbetrieb; deshalb verlangten große Dampfwäschereien eine 60-Stunden-Woche statt des geplanten 10-StundenTages für Arbeiterinnen und darüber hinaus eine Einbeziehung von kleineren Betrieben in die Arbeitszeitregelung.
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büglerinnen bis zu 15 Mark pro Woche verdienen, doch die Mehrzahl der einfachen Arbeiterinnen steigerte ihren Tagelohn von anfangs 1 Mark nur auf maximal 1,80 Mark.22 Der vierzehntägige Streik der Neu-Isenburger Wäscherinnen im April 1897 erlangte Berühmtheit als erster und zudem erfolgreicher Frauenstreik.23 Die 208 Arbeiterinnen der hauptsächlich für Frankfurter Kunden arbeitenden 76 Wäschereien erreichten mit ihrem Streik, dass der Arbeitstag inklusive Essenspausen nur noch von 7 Uhr früh bis 8 Uhr abends dauerte, dass Überstunden bezahlt und die Stundenlöhne leicht angehoben wurden. 1900 setzten die 2.000–2.500 Berliner Wäscherinnen und Plätterinnen mit Unterstützung des »Vereins der Arbeiterinnen und Arbeiter der Wäsche- und Krawattenbranche« ähnliche Forderungen sogar ohne Streik durch.24 Ob im privaten Haushalt oder in einer Waschanstalt ausgeübt, der Beruf der Wäscherin und Plätterin strapazierte die Gesundheit, und dagegen konnte auch die allgemein übliche, besonders kräftige Verpflegung der Waschfrauen nur bedingt als vorbeugendes Mittel wirksam werden. Die Hauptübel bei langjähriger berufsmäßiger Wäschereiarbeit waren: überlange und in Wäschereien vor 1914 nicht selten einmal wöchentlich rund um die Uhr dauernde Arbeitstage; das dauernde Stehen; der Wechsel vom feucht-warmen Arbeitsplatz am Waschkessel in kalte Außenräume; das Verletzen der Hände beim stundenlangen Hantieren in heißer Seifenlauge, beim Wringen der Wäsche, bei der Fleckentfernung mit diversen Chemikalien; die einseitige Belastung und Gefahr der Verbrennung bei der Bügelarbeit und das Einatmen vergifteter Luft, sofern die Bügeleisen mit Kohle oder Gas beheizt wurden und die Ventilation des Raumes unzureichend war.25 Das Wäschewaschen war insgesamt ein wichtiger Erwerbszweig für Frauen. Doch für diese wie auch für andere Frauenberufsarbeit gilt, dass Statistiker deren tatsächliches Ausmaß nicht zu erfassen vermochten. Wäscherinnen zählten zunächst zu der nur pauschal erfassten Gruppe der »Personen, die von gemeiner
22 Kempf (wie Anm. 7), S. 69–71; W. Wagner, Dampfwäscherei und Wäschevermietanstalt als industrielle Unternehmungen, Diss. phil., Leipzig 1919, S. 53, nennt Vorkriegslöhne zwischen 1,50 und 2,50 Mark pro Tag; vgl. auch M. Fürst, Über die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Verhältnisse der in nicht fabrikmäßig betriebenen Wäschereien, Bleichereien und Plättereien beschäftigten Personen, in: Archiv für Soziale Medizin und Hygiene 2, 1905, S. 105–138, bes. 108–111; Jahresbericht der Großherzoglichen Hessischen Gewerbeinspektion für das Jahr 1904, Darmstadt 1905, S. 291–294. 23 Vgl. Handbuch der Frauenbewegung, Bd. 2, Berlin 1901, S. 249–251; H. Fürth, Der Strike der Wäscherinnen in Neu-Isenburg, in: Neue Zeit 15, 1897, Bd. 2, S. 432–437. 24 Vgl. außer Handbuch der Frauenbewegung (wie Anm. 23) auch H. Stühmer, Geschichte des Verbandes der Schneider, Schneiderinnen und Wäschearbeiter Deutschlands, des Deutschen Bekleidungsarbeiter-Verbandes und seiner Vorläufer, Berlin 1928, S. 285 f. 25 Zur Gewerbehygiene des Waschens auch T. Weyl (Hg.), Handbuch der Hygiene, Bd. 8, Jena 1897, S. 1153–1162. Vgl. die Klage einer Waschfrau in: Dokumente der Frau 3, 1900, Nr. 4, S. 135–137.
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Handarbeit selbständig leben«.26 Viebahn betonte 1868, dass die »statistischen Angaben, wonach in den preußischen Landen 983 Wasch- und Fleckenreinigungsanstalten mit 633 Hülfsarbeitern und im ganzen Zollverein 2.540 Waschanstalten mit 1914 Gehülfen gezählt wurden, den wirklichen Umfang dieses Geschäftes, worin Millionen arbeiten … nicht ersehen lassen«.27 Auch den Reichsstatistikern ist es nicht gelungen, dieses Zähldefizit zu beheben. Dennoch sind die Daten der Berufs- und Betriebszählungen nicht uninteressant.28 Schon vor dem Ersten Weltkrieg sinkt die Zahl der gezählten Betriebe von 9.393 im Jahre 1882 auf 7.531 im Jahr 1907. Nicht nur dem verkleinerten Reichsgebiet, auch den Auswirkungen der Kriegswirtschaft und der Nachkriegsverarmung ebenso wie der anhaltenden Zentralisierungstendenz dürfte die weitere Reduktion auf nur noch 1.739 Betriebe im Jahre 1925 geschuldet sein. Wenn 1933 die Betriebszahl wieder auf 2.951 angestiegen war, so ging dieses in der Hauptsache zurück auf die Gründung zahlreicher Kleinstbetriebe, die offenbar in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit eine neue Existenzgrundlage schaffen sollte. Die Zahl der im Wäscherei-Beruf beschäftigten Frauen stieg nach den Berufszählungen von 1882 = 10.518 auf 1907 = 16.541; das waren 96 Prozent resp. 94 Prozent aller hier Beschäftigten. Die Zahlen gingen 1925 drastisch zurück auf 6.167 und waren 1933 weiter gefallen auf 6.531, und dieses trotz der nun erheblich verbesserten Erfassungsmethoden. Gleichzeitig war der Anteil der Männer unter den Wäschereibeschäftigten 1925 auf 22 Prozent gestiegen, aber 1933 wieder auf 15 Prozent gesunken. Männer wurden in Großbetrieben beschäftigt; dort allerdings nicht mit Wasch- und Plättarbeiten, sondern als Heizer, Maschinisten, Waschmeister, Seifensieder, Kutscher. Welche Strukturveränderungen des Wäschereibereichs sich hinter diesen Zahlen verbergen, bliebe zu erforschen. Sicherlich aber wäre es falsch, die Entwicklungen ausschließlich auf die mit fortschreitender Maschinisierung steigende Arbeitsproduktivität zurückzuführen. Bei der offensichtlichen Einsparung von Arbeitskräften und Lohnkosten dürfte auch zu Buche geschlagen sein, dass die Wascharbeit nach dem Ersten Weltkrieg von bezahlter Frauenarbeit stärker auf unbezahlte Hausfrauenarbeit verlagert worden ist. Damit sind wir wieder bei dem Waschgeschäft der Hausfrauen angelangt. Widmen wir unsere Aufmerksamkeit zunächst den Kundinnen von Waschfrauen und Wasch- und Plättanstalten, also den Hausfrauen des Mittelstandes und der Oberschicht. Vor allem den nicht so wohlhabenden unter ihnen gilt 1802 der »Rath für junge Hausmütter«, in der »weiblichen Oekonomie« immer die »wohlfeilste und zugleich die vortheilhafteste Methode« anzuwenden. Diese werde erreicht, 26 F. W. von Reden, Erwerbs- und Verkehrs-Statistik des Königlichen Preußens, 1. Abt., Darmstadt 1853, S. 276. 27 Viebahn (wie Anm. 6), S. 603. 28 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, 1882: Bde. 2, 6; 1895: Bde. 102/103,113; 1907: Bde. 202, 213; 1925: Bde. 402, 413; 1933: Bde. 453, 462.
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»wenn wir auf ein Geschäft die wenigste Zeit verwenden dürfen, weil wir alsdann die ersparten Tagesstunden schon wieder zu einer andern nutzbringenden Arbeit anwenden können. Wenn wir ferner wenig Personen damit beschäftigen dürfen, und auf diese Art mit unseren Hausgenossen zu Stande kommen, ohne fremde oder gedingte Hülfe aufzusuchen, deren Arbeit und Hülfe wir theuer genug bezahlen müssen. – Um diesen doppelten Zweck zu erreichen, bedarf es oft bloß bequemer und zweckmäßiger Werkzeuge und vortheilhafter Handgriffe.«29
Selbstverständlich sollte 1802 die Seife zur Wäsche noch zu Hause und möglichst aus Fettabfällen selbst produziert und sparsam mit dem Brennmaterial unter dem Waschkessel umgegangen werden. Wenn junge Frauen im elterlichen Haushalt nicht umfassend genug ausgebildet worden waren für die ihnen im eigenen Haushalt zufallende Vermögensverwaltung auf dem Gebiete der Wäschepflege, so konnten sie in einem der zahlreichen Haushalts- und Waschratgeber nachlesen, was eine gute Hausfrau wissen musste, um die Große Wäsche anzuleiten und zu überwachen. Worauf es neben allen praktischen Fertigkeiten dabei auch ankommen sollte, wird immer wieder nachdrücklich betont. Es müsse das Ziel der Hausfrau sein, dass »die Wäsche nicht allzu störend in den gewöhnlichen Gang des Hauslebens eingreift«. Dieses erfordere Organisationstalent. »Bei richtiger Zeiteinteilung und Handhabung des Ganzen kann eine Hausfrau die Wäsche fast unbemerkbar abhalten, während im umgekehrten Falle die Waschtage sich zu wahren Höllentagen gestalten.«30 So heißt es 1868. Die Klagen über die Leiden des Hausherren an der Wäsche sind schon 1854 beredt. »Die Störungen, welche das sogenannte Wäschehalten in dem häuslichen Leben der Wohlhabenden hervorruft, sind bedeutend … jeder Hausherr weiß davon ein Lied zu singen.«31 Und noch 1893 las eine junge Hausfrau die Ratgeber-Ermahnung, die Große Wäsche dürfe »die Behaglichkeit des Hausherrn nicht allzu sehr stören«.32 Bisweilen gaben Hausfrauen die Wäsche an gewerbliche Wäschereien. Dazu notierte Viebahn 1868: »In neuerer Zeit führte die Bequemlichkeit und Verweichlichung der Großstädterinnen, verbunden mit der Enge der Wohngelasse dazu, dass man mehr aus dem Hause waschen ließ. … Namentlich die feine, einer sorgfältigen Behandlung des Plättens und Bügelns bedürfende Wäsche wird in großen Mittelstädten häufig außer dem Hause gewaschen.«33 Streichen 29 C. D. Gürnth, Rath für junge Hausmütter des Mittelstandes bei theuren Zeiten wohlfeil hauszuhalten. Eine Sammlung von Haushaltungsvortheilen, Leipzig 1802, S. 18; vgl. auch A. Schultz, Das Alltagsleben einer deutschen Frau aus dem 18. Jahrhundert, Leipzig 1890. 30 W. Buchholz, Wasser und Seife. Allgemeines Wäschebuch umfassend die ganze Praxis der Wäsche …, 2. Aufl. Hamburg 1868, S. 63. 31 F. J. Behrend, Die öffentlichen Bade- und Waschanstalten, ihr Nutzen und Ertrag, Berlin 1854, S. 13. 32 A. Baisch, Ins eigene Heim. Ein Buch für erwachsene Mädchen und junge Frauen, 4. Aufl. Stuttgart 1893, S. 134. 33 Viebahn (wie Anm. 6), S. 603.
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wir die Verweichlichung und ergänzen wir das zum Waschen schlecht geeignete Brunnenwasser und das Verschwinden der Bleich- und Trockenplätze in den Städten, so nähern wir uns vielleicht den Beweggründen der städtischen Hausfrauen, trotz des befürchteten höheren Wäscheverschleißes der Wäscherei die Wäsche zu überantworten und dafür ausschließlich mit barem Geld zu bezahlen. Wenn die Dienste der gewerblichen Wäschereien in Anspruch genommen wurden, dann hatte sich auch bereits die Praxis durchgesetzt, die schmutzige Wäsche sehr viel häufiger als zwei- bis dreimal pro Jahr waschen zu lassen.34 Am ehesten vertrauten Hausfrauen den kleinbetrieblichen Handwäschereien ihre Wäsche an und hielten ihnen selbst noch in der Zeit zwischen den Weltkriegen die Treue. Dafür hatten sie wohl nicht nur irrationale Gründe, wie Wäschereifachleute kritisierten. Das Misstrauen der Kundinnen galt den scharfen Bleichmitteln, strapaziösen Maschinerien und der für unhygienisch erachteten Vermengung der Wäsche aus verschiedenen Familien. Auch traute man den Großbetrieben nicht die erforderliche Sorgfalt bei der Feinwäsche und den feinen Stärke- und Bügelarbeiten zu.35 Wo die Waschfrau persönlich oder die Wäscherfamilie sich der Wäsche annahm, entstand bei guter Leistung Vertrauen, das auch bei den Kundinnen von Mutter auf Tochter weitergegeben wurde.36 Den Haushalt vor der Unruhe des Waschtages zu verschonen, gleichzeitig die Wäsche pfleglich vor dem Verschleiß zu schützen und sich als reinliche und sparsame Hausfrau auszuweisen, waren Ziele, die selbst wohlhabendere Hausfrauen kaum miteinander vereinbaren konnten. Die erprobte Waschfrau unter den Augen der Hausfrau waschen zu lassen und vielleicht einen Teil der Bügelund Mangelarbeit aus dem Haus zu geben, war auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts die bevorzugte Lösung des Waschproblems in der Familie. Erst in den 1920er Jahren wird zumindest die Bett-, Tisch- und Leibwäsche häufiger in eine Wäscherei gegeben und so die Waschfrau im Haus ersetzt.37 34 In den 1920er Jahren waren Waschrhythmen zwischen 1–6 Wochen üblich. 35 Koban (wie Anm. 11), S. 54, will das Überleben der Klein- und Mittelbetriebe nach 1918 »den allzu konservativen Anschauungen der Hausfrauen zuschreiben. Ihre unbegründete, feindliche Haltung gegen die Maschinenwäscherei« sei das Problem. H. C. Stiefel, Die Dampfwäscherei, ihre Einrichtung und Betrieb, Wien 1900, S. 1 f., betonte ausdrücklich deren keimtötende und damit hygienische Wirkung. Noch W. u. H. A. Kind, Das Waschen mit Maschinen in gewerblichen Wäschereibetrieben, Berlin 1935, S. 114, empfahlen, das Hausfrauen-Mißtrauen durch überzeugende Leistung zu überwinden. Vielleicht war es nicht nur Antiamerikanismus, wenn M. Eyth, Im Strom unserer Zeit. Wanderbuch eines Ingenieurs, Heidelberg o. J. (um 1909), S. 289, aus Amerika meldete, »die berühmtesten Waschmaschinen verwandeln mit Dampfgeschwindigkeit ein unreines Hemd in einen reinen Lumpen«. (Ich danke Anita Kugler für diesen Hinweis.) 36 Kleemann (wie Anm. 20), S. 39. 37 M. Baum u. A. Westerkamp, Rhythmus des Familienlebens. Das von einer Familie täglich zu leistende Arbeitspensum, Berlin 1931, S. 17–28, gibt 5 Beispiele aus dem Bildungsbürgertum. Wascharbeiten wurden hier um 1930 in 2 Fällen vollständig und ohne Waschfrau zu Hause und in 3 Fällen bei Weggabe der Bett-, Tisch- und Leibwäsche in eine Wäscherei alle 1–3 Wochen erledigt.
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Arbeiterfrauen in den Städten und Industriedörfern hatten ganz andere Probleme zu bewältigen, wenn sie zusätzlich zur Haus- und Leibwäsche auch die stark verschmutzte Arbeitskleidung zu waschen hatten. Mit der Absicht, für Abhilfe zu werben, schilderte 1854 ein Arzt, wie »hier in Berlin, und so auch in den andern großen Städten, hunderte von Familien der untern und selbst der mittlern Stände in Verhältnissen leben, die das Reinigen der Wäsche im höchsten Grade erschweren und zur qualvollen Arbeit machen«.38
Ich will diesen eindrucksvollen Text ausführlich zitieren, weil er in seltener Verdichtung Urbanisierung, Industrialisierung, Verelendung und Sparökonomie als gelebte Alltagspraxis zeigt. »Mit der Zunahme der Stadt wird der Fluß immer mehr zu industriellen Anlagen benutzt und eingeengt, und das Wasser in seinem ganzen Laufe durch die Stadt trüber und zum Waschen unbrauchbarer. Die dem Flusse nahe Wohnenden können das weiche Flußwasser … mit einiger Mühe sich allenfalls noch in gehöriger Menge verschaffen. Denen aber, die entfernt vom Flusse wohnen, wird das Herbeiholen des Wassers sehr kostspielig und umständlich. Sie müssen sich mit Regenwasser begnügen, wenn sie es haben können, denn das Brunnenwasser ist überall zu hart zum Waschen … Eine Abhülfe ist hier in Berlin von der beabsichtigten Wasserleitung allerdings zu erwarten, aber diese Abhülfe wird nur den Reichen oder Wohlhabenden zu Gute kommen, da das in die Häuser geführte Wasser nur in bestimmt abgemessenen Quantitäten gegen Zahlung geliefert werden wird. Außer einer reichlichen Menge Wasser erfordert das Waschen auch noch Geräthschaften, Seife, Lauge, Feuerungsmaterial und Raum zum Einweichen, Kochen, Spülen, Trocknen und Glätten der Wäsche. Was zuvörderst den Raum betrifft, so wird er in dem Maße, wie die Stadt sich vergrößert, immer beschränkter … In sehr vielen Häusern der Stadt giebt es besondere Waschlokale (Waschkeller oder abgesonderte kleine Waschhäuser), die von den einwohnenden Familien abwechselnd benutzt werden. Nur den Wohlhabenden, deren Wäschevorrath so bedeutend ist, daß sie etwa nur alle 6–8 Wochen das Waschen vornehmen zu lassen brauchen, verlohnt es sich, von diesen besonderen Waschlokalen Gebrauch zu machen. Bei nur geringer Quantität der Wäsche wird die Benutzung des Waschlokals zu theuer, da das Feuer unter den eingemauerten großen Kesseln zu viel Material verzehrt. Die Frauen der unbemittelten Familien benutzen daher in der Regel diese besondern Waschlokale nicht, sondern ziehen es vor, in ihrer eigenen engen Wohnung zu waschen, um das Feuer zugleich zum Kochen der Speisen oder zur Erwärmung der Wohnung verwenden zu können … [Daher, K. H.] sind die vom Tageserwerb lebenden Familien fast nur auf das Waschen in ihren eigenen Wohnungen verwiesen. Nun läßt aber die enge, dürftige, mit Menschen besetzte Räumlichkeit dasselbe kaum zu oder erschwert dessen Ausführung. Die dazu nöthigen Apparate und Utensilien müssen herbeigeschafft, bei guten Nachbarn geborgt oder für Geld geliehen werden; die übrigen Ingredientien zum Waschen und das Feuerungsmaterial ist kostspielig, da beim Einkauf in kleinen Mengen alles theuer bezahlt werden muß. Das Wasser muß Eimerweise in die Wohnung hinein- und wieder weggeschleppt werden; die 38 Behrend (wie Anm. 31), S. 12–14.
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Wohnung selbst füllt sich mit Dämpfen und Seifengeruch; der Fußboden wird durchnäßt und durchkältet. Im Winter und bei Regenwetter, im Frühlinge und Herbste geschieht das Trocknen und Plätten der Wäsche ebenfalls in den Zimmern. Die Folgen sind Katarrhe, Rheumatismus und Fieber … Kann es daher überraschen, wenn in den Familien der untern Klassen das Waschen so lange aufgeschoben wird, wie nur irgend möglich? Der nur für 14 Tage ausreichende Wäschevorrath muß für 6 bis 8 Wochen vorhalten. Statt wöchentlich einmal ein Hemd zu wechseln, was für den Arbeiter die mindeste Anforderung ist, wird 2 bis 3 Wochen ein und dasselbe Hemde getragen. Mit den übrigen Kleidungsstücken, der Bett- und Tischwäsche geht es ebenso.«
Schier aussichtslos erscheint es für Hausfrauen der städtischen Unterschichten, die ihnen obliegenden Wasch-Pflichten zu erfüllen. Eben diese Frauen dennoch in Sachen Sauberkeit in die Pflicht zu nehmen, das hielten bürgerliche Reformer allerdings nach den Erfahrungen der Cholera 1831 und der sozialen Bewegungen des Vormärz und der Revolution von 1848 für dringlicher denn je. Unser ärztlicher Beobachter appellierte an bürgerliches Einverständnis, wenn er weiter schrieb: »Man weiß, daß Reinlichkeit am Leibe und in der Kleidung auch Sauberkeit in der Wohnung bedingt; man weiß, daß dadurch die Ordnung und der Sinn für Häuslichkeit gefördert wird und daß mit dem Sinn für Häuslichkeit und Ordnung die Sitte, der Fleiß, die Ruhe und der Frieden wächst.«39 Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde die Strategie weiterverfolgt, zur Lösung der sozialen Frage bei den Arbeiter-Hausfrauen und ihrer Hauswirtschaft anzusetzen. Der 1882 speziell an Arbeiterfrauen adressierte Ratgeber »Das häusliche Glück« bot neben Spar-Kochrezepten auch Anleitungen für Reinigungsarbeiten und die »Behandlung der Wäsche«.40 Nicht zuletzt wurden die um die Jahrhundertwende lebhaft geforderten Pflichtfortbildungsschulen als Möglichkeit betrachtet, schulentlassenen Mädchen zu obligatorischem Hauswirtschaftsunterricht zu verhelfen, um so dem »Niedergang des Familienlebens der unteren Stände« gegenzusteuern. Den jungen Frauen sei u. a. durch hygienische Aufklärung die Bedeutung der Reinlichkeit ans Herz und die daraus folgende Arbeit in die Hände zu legen, wie 1908 ein Arzt argumentierte: »Die Gesundheit der Familie wie des Volkes liegt weit mehr als man denkt in den Händen der Frau, der größte Teil des Haushalts ist praktische Hygiene.«41 Deshalb sollten Mädchen neben Nähen und Kochen auch Saubermachen und Wäschepflege im Fortbildungsunterricht lernen. Zwar wurde der in den 1920er Jahren institutionalisierte obligatorische Berufsschulunterricht für Mädchen nicht zum Hauswirtschaftsunterricht um39 Ebd., S. 15. 40 Das häusliche Glück. Vollständiger Haushaltungsunterricht nebst Anleitung zum Kochen für Arbeiterfrauen … Hg. Commission des Verbandes »Arbeiterwohl«, 11. Aufl. Mönchengladbach 1882. 41 Die Förderung und Ausgestaltung der hauswirtschaftlichen Unterweisung. Vorbericht und Verhandlungen der 2. Konferenz der Zentralstelle für Volkswohlfahrt am 11. und 12. Mai 1908 in Berlin, Berlin 1908, S. 18, 258.
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funktioniert. Doch an Hauswirtschaftsschulen und Hauswirtschaftskursen in Volkshochschulen und anderen Einrichtungen mangelte es nicht; bisweilen wurde die hauswirtschaftliche Unterweisung sogar aus Mitteln der produktiven Erwerbslosenfürsorge finanziert.42 Rigorose Reinlichkeitsstandards dürften allerdings schon lange vorher wirkungsvoll übermittelt worden sein durch Volksschullehrer und -lehrerinnen, wenn diese wegen schmutziger Hände, Ohren, Schürzen ihre Schulkinder – und über diese auch die Mütter – bestraften.43 Um l900 scheint auch im Arbeitermilieu das häufige Wechseln der Wäsche so selbstverständlich geworden zu sein, dass nun alle drei Wochen die Große und oft alle Woche auch noch die Kleine Wäsche auf dem Programm der Arbeiterfrauen stand. Für die allermeisten artete das Waschgeschäft, zumal wenn weder fließendes Wasser noch eine Waschküche zur Verfügung standen, zur Waschtyrannei aus, von der kein Ehemann durch tatkräftiges Zupacken seine Ehefrau zu »befreien« trachtete. Allenfalls von den Kindern und hier in erster Linie von den Töchtern konnten die Frauen Hilfe erwarten. Diese strikte Arbeitsteilung änderte sich nicht einmal dann, wenn die Arbeiterfrau selbst Lohnarbeiterin war und deshalb den Waschtag von Samstagnachmittag bis Sonntagabend abhalten musste.44
3. Waschtechniken Die bisherigen Ausführungen haben mit hingetupften Impressionen das soziale und wirtschaftliche Umfeld markiert, in dem die Techniken und Geräte, die beim Waschen zum Einsatz kamen, teils als Fortschritt, teils als notdürftige und nicht selten auch späte Anpassung an veränderte Umweltbedingungen in den letzten zweihundert Jahren weiterentwickelt worden sind. Diesen technischen Entwicklungen soll jetzt die Aufmerksamkeit gelten. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Grundelemente des Waschprozesses. Das Ziel ist, Wäsche von unterschiedlichen Arten des Schmutzes zu befreien. Um den Schmutz abzulösen, wird mit Fleckentfernern, Wasser, Seife/Waschmittel, Wärme und me42 Vgl. G. Tornieporth, Studien zur Frauenbildung, Weinheim 1979; K. Hausen, Unemployment also hits Women. The New and the Old Woman on the Dark Side of the Golden Twenties in Germany, in: P. Stachura (Hg.), Unemployment and the Great Depression in Weimar Germany, London 1986, S. 78–120, hier S. 99–102. 43 Siehe H. Mehner, Der Haushalt und die Lebenshaltung einer Leipziger Arbeiterfamilie (1887), abgedruckt in: H. Rosenbaum (Hg.), Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt a. M. 1978, S.309–333, dort S.324: »In dem Streben, die Kinder an Ordnung und Reinlichkeit zu gewöhnen, zwingt sie (die Schule, K. H.) dieselben, nicht in unsauberer und zerrissener Kleidung zu erscheinen.« 44 Vgl. außer S. Meyer (wie Anm. 7), auch Deutscher Textilarbeiterverband, Hauptvorstand Arbeiterinnensekretariat (Hg.), Mein Arbeitstag – Mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeiterinnen, Berlin 1930, S. 34 f., 87, 140 f., 145 f., 151 f.
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chanischer Kraft auf das Waschgut eingewirkt. Den abgelösten Schmutz gilt es dann völlig mit Wasser auszuspülen. Das Trocknen und weitere Aufbereiten schließt die Waschprozedur ab. Das Waschen im Haushalt bestand bis zu dessen Automatisierung aus folgenden Einzelverrichtungen: Sortieren, Einweichen, Beuchen oder Kochen, Auswaschen, Spülen, Bleichen, Bläuen, Auswinden, evtl. Stärken, Trocknen, Aussortieren der Flickwäsche, Einfeuchten, Mangeln/Rollen der vorher gereckten glatten Stücke, Plätten/Bügeln, Verstauen. Bereits vor 1800 und überwiegend auch noch um 1900 wurden als Mittel zum Waschen eingesetzt: weiches Wasser, Feuerung, Holzasche oder Soda, Seife, Fleckenmittel, evtl. Bleich- und Blaumittel sowie Stärke. An Waschgeräten wurden außer einem großen Kessel aus Kupfer oder Messing für heißes Wasser noch mehrere Holzbottiche gebraucht zum Einweichen, Beuchen und Spülen, sofern fließendes Wasser am Bach, im Brunnenbecken oder Teich nicht zur Verfügung stand; zur mechanischen Bearbeitung der Wäsche auf der Waschbank dienten hölzerne Waschbleuel zum Schlagen, nach der Mitte des 19. Jahrhunderts häufiger Waschbretter und Bürsten; für das Trocknen gab es Holzlatten oder Wäscheleinen, Wäschestützen und Wäscheklammern; zum Glätten die Rolle oder Mangel und das Plätteisen. Diese Grundausstattung und mit ihr die Verfahren haben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in den Haushalten kaum eine Veränderung erfahren. Heute völlig vergessen ist die jahrhundertealte und noch 1947 in einem Dorf der Schweiz gefilmte Waschprozedur des Beuchens, auch Bauchen, Büken, Selchen und Laugen genannt.45 Das Beuchen wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts in immer mehr Haushalten ersetzt durch das Kochen der Wäsche. Zum Beuchen wurden die über Nacht eingeweichten Wäschestücke bisweilen zunächst mit Seife ausgewaschen, häufiger jedoch direkt mit Sorgfalt in einen großen Holzbottich, an dessen Boden sich seitwärts ein verschließbares Spundloch befand, eingeschichtet. Zuunterst musste die gröbste und schmutzigste Wäsche liegen. Als Waschmittel diente Buchenasche. Diese wurde in Laugentücher eingeschlagen und entweder zwischen die Wäsche oder nur oben auf die Wäsche gelegt. An einigen Orten war es üblich, die Asche bereits vor dem Beuchen im Waschkessel mit Wasser zur Lauge zu verkochen. Beim Beuchen kam es darauf an, den oben mit einem Laugentuch abgedeckten Wäschestapel im Bottich langsam und gleichmäßig mit dem im Kessel allmählich zum Kochen gebrachten Wasser zu übergießen. War der Bottich schließlich mit Lauge gefüllt, wurde das Spundloch geöffnet, die ablaufende Lauge aufgefangen, erneut im Kessel erhitzt und wieder mit einer hölzernen 45 Vgl. Heyne (wie Anm. 18), S. 92–94 für das Mittelalter; Text und Filmbilder in: C. Lorez, Bauernarbeit im Rheinwald. Die große Wäsche, Basel 1980; vgl. auch Grünn (wie Anm. 20), S. 590–594; Jürgensen (wie Anm. 7), S. 120–124; zum Beuchverfahren, das auf dem Lande erst um die Jahrhundertwende verschwand, vgl. E. Langenbach, Waschen mit Buchenholzasche, Bleichen und Mangeln, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 17, 1970, S. 199–206.
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Schöpfkelle über die Wäsche gegossen. Dieses Beuchen war mindestens 5-, häufig 10–15mal zu wiederholen. In der letzten Lauge blieb die Wäsche über Nacht stecken. Diese Prozedur beanspruchte für 6–8 Stunden die volle Arbeitskraft einer Person. Um am Abend fertig zu sein, begannen die Frauen schon früh am Morgen um zwei oder drei Uhr damit, den Waschkessel zu beheizen. Wenig verschmutzte feine Wäsche und auch die obersten Lagen aus dem Beuchbottich konnten während des ersten Waschtages schon parallel zum Beuchen von einer zweiten und dritten Frau ausgewaschen werden.46 Auf das Beuchen folgte am nächsten Tag die mechanische Bearbeitung der Wäsche; diese wurde nun auf der Waschbank oder dem Waschstein mit dem Bleuel kräftig geschlagen, eingeseift, gebürstet und gerubbelt. Das geschah häufig bereits am fließenden Wasser, das zum Spülen der Wäsche diente. Auch war es üblich, die nasse Wäsche abtropfen zu lassen und dann zur Rasenbleiche auszulegen. Nicht zuletzt gehörten ein geräumiger Trockenplatz, um am dritten Tag noch vor Sonnenuntergang die gesamte Wäsche zu trocknen, und ein geschlossener sauberer Arbeitsraum, um später die Wäsche zu glätten und zu legen, zu den Voraussetzungen der Großen Wäsche. Die beschriebene Prozedur der Wäschepflege hielt sich bis in das 20. Jahrhundert hinein selbst in kleinen gewerblichen Wäschereien. Allerdings hatten diese besser als die privaten Haushalte die Möglichkeit, die notwendigen Stationen des Waschens möglichst rationell anzuordnen und sich das eine oder andere auf dem Markt angebotene chemische und technische Hilfsmittel zunutze zu machen. Welche Hilfsmittel aber gab es im 19. Jahrhundert, und wo bot das herkömmliche Waschverfahren Ansatzpunkte für Neuerungen? Um allzu fortschrittsoptimistischen Deutungen meiner Antworten vorzubeugen, sei zunächst noch einmal registriert, welche Vorbedingungen erforderlich waren, um auf die beschriebene Weise Wäsche waschen zu können. Zunächst einmal beanspruchte die Große Wäsche Platz zum Lagern der Schmutzwäsche und des Vorrats an sauberer Wäsche, zum Aufstellen der Waschgeräte, zum Bleichen und Trocknen. Der Waschplatz musste außerdem Nässe vertragen können. In dem Maße, wie sich im 19. Jahrhundert die Städte flächenmäßig ausdehnten und in der Bebauung verdichteten, nahm der für die Große Wäsche verfügbare Platz ab und wurde für viele schließlich unerreichbar. Das Verkürzen der Waschintervalle auf 4–6 Wochen war die eine, ältere Bewältigungsstrategie, das Ausweichen auf gewerbliche Wäschereien die jüngere andere. Zweitens ist weiches Wasser, in welchem die Seife ihre Waschkraft entfalten kann, eine Grundbedingung des Waschens. Grundwasser-Brunnen fördern hartes Wasser. So erklärt sich, dass im frühen 19. Jahrhundert viele Frauen einen Taglohn damit verdienten, weiches Wasser in die Waschküchen der bür46 Buchholz (wie Anm. 30), S. 63 f.; anschauliche Beschreibung eines bäuerlichen 4-TageWaschfestes zweimal pro Jahr von M. K. Farner, Der große Waschtag in Schwyz, in: Schweizer Volkskunde 66, 1976, S. 78–84.
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gerlichen Haushalte zu schleppen. Eben deshalb konnten an Bächen mit weichem Wasser, wo die städtische Kundschaft nah und Wasserrechte fest im Besitz von Wäscherfamilien waren, ganze Wäscherei-Dörfer entstehen. Weiches Wasser wurde allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts auch außerhalb der Städte rar, sobald Städte und Industrien immer rücksichtsloser die Flüsse und Bäche zum Abfalltransport benutzten und außerdem Flussbegradigungen angestammte Waschplätze unzugänglich machten. Das weiche Regenwasser zu sammeln, blieb ein Notbehelf, der niemals die zum Waschen erforderlichen Wassermengen herbeizuschaffen vermochte. Immer üblicher wurde es daher, das seit Anfang des Jahrhunderts in großen Mengen industriemäßig produzierte und billig angebotene Soda zu kaufen, um es dem Waschwasser als Enthärter beizugeben.47 In den Großstädten entstand mit dem Bau von mehrgeschossigen Mietshäusern ohne Waschküchen und engen, für das Wäschewaschen ungeeigneten Höfen zusätzlich das Problem, das erforderliche Waschwasser von der Pumpe oder dem Brunnen eimerweise die Treppen rauf- und das Schmutzwasser wieder herunterzutragen. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden Stadtwohnungen allmählich über Wasserleitungen und Abwässersysteme versorgt. Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass vor allem Hausfrauen in Industriesiedlungen und Großstädten gegen eine in Folge der Industrialisierung neuartige und stärkere Verschmutzung der Wäsche anzukämpfen hatten.48 Welche Marktangebote versprachen im 19. Jahrhundert, die schwere häusliche Wascharbeit zu erleichtern? Das wichtigste Mittel zum Waschen blieb bis in die 1950er Jahre die Seife.49 Sie wurde noch Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur in ländlichen, sondern häufig auch in städtischen Haushalten selbst hergestellt aus Fettabfällen, die mit Pottasche und ungelöschtem Kalk verkocht wurden. Als in der zweiten Jahrhunderthälfte große Seifenfabriken mit wachsenden Produktionskapazitäten, sinkenden Preisen und einem Angebot an flüssigen, geraspelten und pulverisierten Seifen für die Wäsche auf den Markt drängten, gingen allerdings immer mehr Haushalte dazu über, außer Soda als Enthärter, Blaumittel als optischem Aufheller und Bleichmitteln (Chlornatron, Wasserstoffperoxyd) als Ersatz für die Rasenbleiche auch Seifenpulver zu kaufen. 1878 47 Alle Koch- und Dampfwäsche benötigte Soda-Zugaben. Soda wurde für den Haushalt in kleinen Portionen verkauft. Deutschland hatte bis zum Aufbau der Soda-Großchemie nach dem Solvay-Verfahren in den 1880er Jahren nur kleine Leblanc-Fabriken und importierte aus England, vgl. D. Osterroth, Soda, Teer und Schwefelsäure. Der Weg der Großchemie, Reinbek 1985. 48 Wagner (wie Anm. 22), S. 14, erklärt eine überproportional hohe Zahl der reinen Waschanstalten in Thüringen und im Königreich Sachsen damit, dass die »Rußplage in diesem Industriezentrum« dazu zwang, in der rußfreien Peripherie waschen zu lassen. 49 Ausführliche Seifenrezepturen in: Zedler (wie Anm. 4), Bd. 36, Leipzig 1743, Sp.1462–1490. In Haushaltsratgebern wird noch im Kaiserreich das Selbstkochen der Wasch-Seife aus Fettabfällen empfohlen, vgl. S. Meyer, Das Theater mit der Hausarbeit, Frankfurt a. M. 1982, S. 155.
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kam als Neuerung »Henkels Bleich-Soda« auf den Markt, das zwar nicht bleichend wirkte, aber das Wasser durch Soda enthärtete und mit einer Zugabe von Wasserglas (Natriumsilikat) Eisenablagerung verhinderte. Erst das als selbsttätiges Waschmittel 1907 von Henkel eingeführte »Persil« kombinierte Seife mit den im Bleich-Soda enthaltenen Wirkstoffen und enthielt zusätzlich als Bleichmittel Natriumperborat.50 Das damit begonnene Experimentieren mit Seifenpulvergemischen wurde in den beiden Weltkriegen auf der Suche nach Ersatzstoffen intensiviert und führte in den 1930er Jahren zur Herstellung synthetischer Waschmittel, die die Seifenbasis aufgegeben haben.51 Ebenso nachhaltig wie mit der Chemie des Waschens beschäftigten sich Erfinder seit dem späten 18. Jahrhundert auch mit der Technik des Waschens. Optimiert wurde vor allem die Funktionsweise des in Waschküchen nun zumeist fest eingemauerten, von unten beheizten Waschkessels mit dem Ziel, Brennmaterial einzusparen. Eine weitere bedeutende Innovation war die Dampfwäsche. Mit diesem Verfahren war in Frankreich bereits seit 1788 experimentiert worden, doch offenbar gewann erst Baron Bourgnon de Layre für sein verfeinertes Verfahren ein breiteres Publikum. Seine Werbeschrift von 1837 erschien schon 1840 in deutscher Sprache. Darin erläuterte de Layre nicht nur das Prinzip der Dampfwäsche, sondern auch die im Vergleich zur Beuchwäsche erzielbare Ersparnis von 9/10 des Brennmaterials, ⅔ der Handarbeit, von Seife und teurer Asche, die durch billigeres Fabrik-Soda ersetzt werden könne; obendrein sollte die Wäsche auch noch weniger strapaziert und weißer aus der Prozedur hervorgehen.52 Der für Großhaushalte vorgestellte Dampfwaschtopf bestand aus einem Dampfkessel, der von unten durch einen Ofen beheizt wurde, und einer hölzernen, mit einem Deckel verschließbaren Dampfkube, die auf den Kessel aufgesetzt wurde. Die am Vortag in Soda eingeweichte Wäsche war auf dem durchlöcherten Boden der Dampfkube so aufzuschichten, dass senkrechte Dampf kanäle frei blieben. Der aus dem Kessel aufsteigende Dampf vermochte auf diese Weise langsam und vollständig die Schmutzwäsche zu durchziehen und dabei zu reinigen. Vor dem Spülen sollte sich dann das Auswaschen der Wäsche mit Seife erübrigen. Offenbar hat in Deutschland diese Dampfwäsche mehr Anklang ge50 Vgl. W. u. H. A. Kind, Waschen (wie Anm. 35), S. 29–36. 51 Zur Rohstoffbewirtschaftung vgl. M. Ewald, Die pflanzlichen Oele und Fette, ausschließlich der Molkereiprodukte, in Frieden und Krieg, Berlin 1918, S.19–22; vgl. auch W. u. H. A. Kind, Waschen (wie Anm. 35), S. 38; dies., Die Wäscherei, Stuttgart 1949, S.43, 84, zur Kriegsbewirtschaftung; S. 48–57 zu synthetischen Waschmitteln; Henkel & Cie GmbH Düsseldorf (Hg.), Waschmittelchemie. Aktuelle Themen aus Forschung und Entwicklung, Heidelberg 1976. 52 Bourgnon de Layre (wie Anm. 5), bes. S. 73 f.; über Handhabung und gute Erfahrung mit einem deutschen Fabrikat, dem »Gallschen Dampfwaschapparat« berichtet Dinglers Polytechnisches Journal 92, 1844, S.432–440; Buchholz (wie Anm. 30), S. 82–87, erläutert 1868 die Dampfwäsche; nach O. Buchner, Die neuesten, besten und gebräuchlichsten Wasch-Einrichtungen … ›Weimar 1868, S. 48, gab es Haushalts-Apparate aus Holz und verzinntem Blech für 40–200 Pfund Wäsche für 23–61 1/2 Thaler.
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funden als die gleichzeitig angebotene Neuerung, das Beuch-Verfahren durch Dampfdruck zu automatisieren, indem die Lauge durch ein Rohr mittels Dampf hochgedrückt und oberhalb der aufgeschichteten Wäsche abgeregnet wurde, um dann durch die Wäsche wieder in den Kessel zurückzusickern.53 Größere Verbreitung fand der Dampfwaschtopf im privaten Haushalt allerdings erst seit dem Ende der sechziger Jahre. In städtischen Etagenwohnungen musste wegen der Probleme mit dem Wasser das Beuchverfahren mehr und mehr der Koch-Wäsche weichen und zwar schon lange bevor die Wäsche-Sterilisierung zum Programm erhoben war. Der neuen Waschsituation kam der berühmte »Katarakt-Waschtopf« entgegen, der bis in die 1920er Jahre viel gekauft wurde. E. Cohn in Berlin lieferte Ende der 1860er Jahre den aus Amerika übernommenen Waschtopf. In der kleinsten, für einen Eimer Wasser eingerichteten Größe verkaufte er seinen »Katarakt« bereits für 3 Thaler und 20 Silbergroschen, wenn dieser aus verzinntem Eisenblech gearbeitet war, aus Kupfer für 6 Thaler. Im Topf befand sich ein Siebeinsatz, dessen Boden knapp im Wasser lagerte. Auf diesem wurde die über Nacht eingeweichte Wäsche aufgestapelt und bei geschlossenem Deckel durchgedämpft.54 Auch die mechanische Bearbeitung der Wäsche wurde verändert. Der Waschbleuel, der beim schlagen Raum zum weiten Ausholen verlangte, Lärm machte und nicht zuletzt den für unweiblich erachteten Gestus des kräftigen Zuschlagens betonte, verschwand zuerst aus städtischen und um die Jahrhundertwende auch aus ländlichen Haushalten. Ersatz bot das Waschbrett.55 Diese ›Reibebretter‹ sollen im 18. Jahrhundert in Irland üblich gewesen sein. In London arbeiteten die Wäscherinnen um 1850 schon allgemein mit Waschrumpeln, die aus Holz und Zinkblech gefertigt waren. Offenbar fanden sie von dort ihren Weg in deutsche Haushalte. Zumindest galten sie 1868 als zuverlässigste aller ›Waschmaschinen‹. Ergänzung und Alternative zu diesem Instrument war seit dem Ende des Jahrhunderts der Wäschestampfer. Besonders schnell scheint auch die seit 1862 angepriesene, nicht unerschwinglich teure Wringmaschine von den Hausfrauen akzeptiert worden zu sein.56 Denn die nasse 53 Vgl. Dinglers (wie Anm. 52), 65, 1837, S. 318; 70, 1838, S. 75 f.; zur Dampf-Beuche auch Rouget de Lisle, Die öffentlichen und privatlichen Wasch-, Bleich- und Badeanstalten Frankreichs und Englands, 2. Aufl. Weimar 1856, S. 7–12. 54 Ausführlich vorgestellt in Dinglers (wie Anm. 52), 192, 1869, S. 463–465; H. Schlichting, Katechismus der Wäschebehandlung, Wien o. J. (um 1890), nennt den Kataraktdampfwaschkessel »überaus nützlich«, aber wegen des Hangs zum Althergebrachten noch wenig angewendet. O. Radek, Die Behandlung der Wäsche nach den neuesten Erfahrungen …, Freiburg/Schlesien, 1908, S. 16 f., betont dagegen dessen Verbreitung in den letzten Jahren. 55 Zur Herkunft vgl. Rouget de Lisle (wie Anm. 53), S. 23 f., zur Akzeptanz Buchholz (wie Anm. 30), S. 109–111; außerdem L. Schmidt, Alte Waschrumpeln aus Holz und Stein, in: Sammeln und Sichten. Beiträge zur Sachvolkskunde, Festschrift für Franz Maresch, Wien 1979, S. 387–394. 56 Vgl. Dinglers (wie Anm. 52), 167, 1863, S. 160; warme Empfehlung 1868 von Buchholz (wie Anm. 30), S. 147–152, und Buchner (wie Anm. 52), S. 55–74, S. 58: Preise bei 10–16 Thaler, z. T. auch schon für 4 Thaler.
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Wäsche zwischen zwei, von einer Kurbel gegeneinander gedrehten Gummiwalzen durchzupressen und so zu entwässern, galt nicht nur als kraftsparend, sondern vor allem auch als wäscheschonend. Mit anhaltender und berechtigter Skepsis wurde dagegen bis zum Ende des Jahrhunderts den unübersichtlich vielfältigen Waschmaschinen-Angeboten begegnet. Alle Versuche, den Waschbleuel, die Bürste oder das Rumpelbrett an einen von Hand bedienten Mechanismus zu bringen, hatten, wie es 1846 lapidar in einem Lexikon hieß, »bis jetzt nicht recht gelingen wollen«, denn die Wäsche sei entweder nicht sauber geworden oder aber in der Maschine zerrissen.57 Der Techniker Habisch aus Kassel kommentierte 1856 die Erfinder-Bemühungen: »Wäre nicht das Bedürfniß, die rohe, ungesunde und zeitraubende Operation der Handwäsche durch ein gesunderes, schnelleres und bequemeres Verfahren zu ersetzen, … so würden wir nicht seit 50 Jahren mit der Menge von Waschmaschinen bekannt geworden seyn.« Auch wenn diese jetzt »in Rumpelkammern als Curiosum« ihr unnützes Dasein fristeten, hegte Habisch dennoch die optimistische Erwartung, die »Schlesische Waschmaschine« werde den Durchbruch bringen. Sie erspare Zeit und Brennstoff und erfordere kein besonderes Waschlokal. »Jede nur etwas geräumige Küche oder Hausflur reicht aus, um das Maschinchen sein Spiel beginnen zu lassen, bei einiger Vorsicht wird der Fußboden nicht einmal naß.«58 In der Tat galt diese Maschine auch noch nach zehn Jahren als »einfach, billig, für den Hausgebrauch vollkommen geeignet«, nur sei deren Handhabung sehr schwer.59 Denn der hölzerne, an der Innenwand mit Holzleisten ausgestattete und verschließbare Halbzylinder lag auf einem Ständer auf und musste, angefüllt mit heißer Seifenlauge und Wäsche, mit Hilfe einer Stange hin- und herbewegt werden. In den 1860er Jahren bekamen die Waschmaschinen deutlich bessere Noten. Sie sollten in einigen Bezirken sogar schon »eingebürgert« sein, was allerdings wohl erheblich übertrieben war, denn Waschmaschinen wurden durchaus weiterhin »angefeindet«.60 Inzwischen gab es mechanisch arbeitende Waschmaschinen in vielfältigen Variationen. Hausfrauen blieb die Qual der Wahl, sofern ihnen zu hohe Preise und fehlender Raum diese Qual nicht von vorneherein ersparten. Ein Fehlkauf war leicht möglich. Um der Gefahr von Rostflecken vorzubeugen, wurde auch noch um 1900 einer nur aus Holz gearbeiteten Maschine der Vorzug gegeben. Praktische Handhabung und schonendes Waschen waren weitere Kriterien. Offenbar verloren Maschinen, die das Bürsten und Schlagen nachahmten, in den 1870er Jahren das Rennen gegenüber Rumpelbrett-Mechanismen, die entweder über Kurbeln durch Rotation oder über Hebel durch Hin- und Herbewegen auf das Waschgut einwirkten. Maschinen, in 57 Pierer’s Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit, Bd. 33, 1846, S. 333; so auch noch 1856 Rouget de Lisle (wie Anm. 53), S. 34 f. 58 Vgl. Dinglers (wie Anm. 52), 141, 1856, S. 401, 412. 59 Buchner (wie Anm. 52), S. 11–13. 60 Ebd., S. 3; auch Buchholz (wie Anm. 30), S. 108 f.; dagegen Die Gartenlaube 1886, S. 804.
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denen die Wäsche zusammen mit der heißen Lauge in einem geschlossenen Zylinder, Halbzylinder oder Kasten bearbeitet wurde, galten als vorteilhaft, weil sie die Lauge länger warm hielten und weniger Feuchtigkeit abgaben.61 Nach der Jahrhundertwende hielten effiziente mechanische Waschmaschinen häufiger in private Waschküchen Einzug. Bis weit in die 1920er Jahre hinein waren es hauptsächlich von Hand, seltener mit Wassermotor betriebene Bottichwaschmaschinen aus Holz, später auch aus Metall, in denen die in der heißen Seifenlauge schwimmende, bereits gekochte Wäsche entweder durch Rührflügel hin- und herbewegt oder durch ein mit Wulsten besetztes tellerförmiges Wellenrad abwechselnd in die eine und dann in die andere Richtung in Rotation versetzt wurde. Auch diese Maschinen hatten nach wie vor den Nachteil, dass sie ein geringes Fassungsvermögen hatten, umständlich zu bedienen waren und immer noch eine Nachbearbeitung der Wäschestücke mit der Hand erforderlich machten. Das war auch noch so, als die fortschreitende Elektrifizierung in den späten 1920er Jahren den elektrisch angetriebenen Waschmaschinen den Weg in die Haushalte bahnte.62 Wenn sich Erfinder schon im 18. Jahrhundert für die Verfahren und Geräte des Waschens interessierten und sich im 19. Jahrhundert genügend Fabrikanten fanden, um Erfindungen auf den Markt zu bringen, so bedürfen diese Aktivitäten einer Erklärung. Woher nährten sie die Erwartung, dass es nicht nur ein Bedürfnis, sondern auch hinreichend zahlungsfähige Kunden für Neuerungen beim Wäschewaschen gab?63 Wir haben bislang keine Anhaltspunkte dafür, welche und wie viele Geräte überhaupt auf den deutschen Markt kamen und wer als Käufer bzw. Käuferin durch Preisgestaltung und Werbung angesprochen worden sein mag. Nur wenige potentielle Interessenten dürften die angebotenen Geräte gekauft haben; den einen fehlte es an Geld, den andern diente die billige Waschfrau.64 Wem aber schien wann das Technologie-Angebot attraktiv 61 Vgl. Schlichting (wie Anm. 54), S. 28–53; Radek (wie Anm. 54), S. 21–28. 62 Vgl. S. Meyer u. B. Orland, Die technische Entwicklung der Waschgeräte und ihre Bedeutung für das Coburger Land, in: Reiter (wie Anm. 2), S. 43–54; Jürgensen (wie Anm. 7), S. 131, charakterisiert das lästige häufige Umfüllen als »mehr Arbeit«. 63 1907 wurden erstmals 85 Waschmaschinenfabriken mit 1.590 Beschäftigten in der Gewerbestatistik gesondert angeführt, vgl. Wagner (wie Anm. 22), S. 19. Verstreute Hinweise in Dinglers Polytechnischem Journal zeigen, dass Fabrikanten Haushaltswaschmaschinen offenbar zunächst neben anderen Produkten und nur für den regionalen Markt produzierten. Spezialisierung und Marktausweitung entwickelten sich erst im Kaiserreich; vgl. auch R. Reiter, Erste Thüringische Waschmaschinenfabrik Otto Hörhold, Neuses bei Coburg, in: Reiter (wie Anm. 2), S. 79–94. 64 Das Verhalten der Waschfrauen war offenbar nicht weniger wichtig als die Preis-Kalkulationen. Mit der »Schlesischen Waschmaschine«, so hieß es z. B. in Dinglers (wie Anm. 52), 141, 1856, S. 412, sollten auch die Waschfrauen zufrieden sein: ihre Arbeit würde leichter; sie könnten das 5–6fache an Waschleistung erbringen; der dadurch verringerte Lohn würde ausgeglichen werden durch das häufigere Waschenlassen der Wäsche. 1868 dagegen klagt Buchner (wie Anm. 52), S. 2., über Waschfrauen-Widerstand: »Die Waschmaschinen sind ihnen ein Dorn im Auge, obgleich sie die Arbeit abkürzen und leichter machen. Ist es doch
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und preiswert genug, um Geld dafür auszugeben? Beim Überdenken dieser Fragen sollte sich die Aufmerksamkeit nicht allzu eng auf die Privathaushalte konzentrieren. Vieles spricht dafür, dass das Erfinder- und Produzenteninteresse an Wasch-Technologien nur sekundär durch die Haushaltsarbeit geweckt worden ist. Zunächst einmal hat es schon vor dem 18. Jahrhundert eine wachsende kommerzielle Nachfrage nach mehr Waschkapazität und besserer Waschtechnologie in der Textilindustrie gegeben. Denn Garne und Gewebe mussten gewaschen, gebleicht, gefärbt, appretiert werden. Je üblicher es schon im späten 18. Jahrhundert wurde, zumindest die Vor- und Nachbereitung der Produkte in der ›Fabrik‹ des Verlegers zu zentralisieren, um so dringlicher muss mit dem Zuwachs an Textil-Output auch die Produktivitätssteigerung im Wasch-Bereich geworden sein. Der Engpass dürfte Ansporn für Erfindungen gewesen sein. Tatsächlich lässt sich – wie auch bei der Soda-Fabrikation – eine Verbindungslinie ziehen zwischen textilindustrieller Maschinisierung des Arbeitsbereiches WäschereiFärberei-Bleicherei und technischen Innovationen für den engeren Bereich des Wäschewaschens.65 Doch noch naheliegender ist es, in die historische Betrachtung außer der Textilindustrie auch alle sonstigen Wäscherei-Einrichtungen einzubeziehen, die nicht einem Einzelhaushalt mit seinem begrenzten Bedarf an Waschkapazität und seinen begrenzten Geldmitteln dienten. Schon im 18. Jahrhundert gab es in herrschaftlichen Häusern und in Gemeinden ein Waschhaus, wo die »WaschKessel eingemauert stehen, und alles übrige zu dem Waschen gehörige, also angeordnet ist, dass mit der nur ersinnlichsten Bequemlichkeit, ja auch wohl mit besonderem Vortheil … die sämtliche Verrichtung bey dem Waschen von Anfang bis zum Ende nach Wunsch vorgenommen werden kann«.66 An einem vorgekommen, daß die Waschweiber viele Stücke aus der Ausstattung einer jungen Dame mit Messern zerschnitten und dann der benutzten Waschmaschine die Schuld gaben, um diese in Mißkredit zu bringen.« Auch gegen Dampfwaschanstalten sollen sie mobil gemacht haben, laut Dinglers (wie Anm. 52), 192, 1869, S. 35, z. B. in Chemnitz. 65 Diesen Zusammenhang betont Giedion (wie Anm. 2), S. 612; nach W. Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. 2, 2. Halbband, 2. Aufl. Leipzig 1917, S. 737 f., kamen bei der Tuchfabrikation in Italien Walkmühlen schon im 14. Jahrhundert zum Einsatz. Zum Maschineneinsatz bei der Endfertigung in der Leinen- und Baumwollindustrie seit dem 18. Jahrhundert vgl. J. Dépierre u. C. Bötsch, Die Wasch-Maschinen. Monographie sämtlicher Wasch-Maschinen, die beim Bleichen und Färben und bei der Fabrikation gedruckter Kattune Verwendung finden, Wien 1884; J. Zipser, Apparate, Geräthe und Maschinen der Wäscherei, Bleicherei, Färberei, Garn- und Zeugdruckerei, Wien 1894. Zum Reinigen und Bleichen gewebter Leinwand von Hand, vgl. Grünn (wie Anm. 2), S. 11, und Dépierre, S. 15–17, der beschreibt, wie 4 Arbeiter im Alter von 12–15 Jahren auf einem in den Fluß gebauten Steg pro Tag ca. 300 Stück Gewebe à 100 Meter Länge waschen konnten. Erst nach 1850 wurden die Maschinen schnell verbessert; vorher gab es von Wasser oder Pferden angetriebene Walkmühlen, Waschräder zum Spülen und Walzenwaschmaschinen. Auch die Dampf wäscherei wurde nach 1788 u. a. für die Textilindustrie weiterentwickelt. 66 Zedler (wie Anm. 4), Bd. 52, 1747, Sp. 25.
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solchen optimal organisierten Waschhaus dürften mit steigenden Reinlichkeitsund Hygienebedürfnissen und erhöhtem Wäscheverbrauch vor allem Anstaltshaushalte von Kasernen, Gefängnissen, Arbeitshäusern, Waisenhäusern, Irrenhäusern, Krankenhäusern, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts schnell aufgebaut und ausgebaut wurden, größtes Interesse gehabt haben. In der Tat wurde die um 1840 praktisch einsetzbare, effizienteste neue Waschtechnologie, die Dampf-Wäscherei, vornehmlich für größere Waschanlagen realisiert. Die Möglichkeit, pro Tag mehrere hundert Kilogramm Schmutzwäsche bewältigen zu können, scheint dann umgekehrt für die kasernenmäßige Unterbringung von Menschen ganz neue Dimensionen eröffnet zu haben.67 Die überzeugenden Erfolge in der Anstaltswäscherei animierten ihrerseits wiederum Unternehmer, gewerbliche Dampfwäschereien einzurichten. Diese Entwicklung kam in Deutschland in den 1860er Jahren voll zum Zuge. Die Großwäschereien fanden ihre Kunden weniger bei den Hausfrauen als in erster Linie bei Hotels, Restaurants, Unternehmen, Behörden, Schulen, die seit den 1890er Jahren in einigen Großstädten auch durch Mietwäschegeschäfte bedient wurden.68 Die Wäschekonfektion als neuer Industriezweig benötigte ebenfalls die Zuarbeit leistungsfähiger Wäschereien. Diese großen Waschanlagen für Anstaltshaushalte, gewerbliche Wäschereien und Betriebe mit kontinuierlichem Wäscheverbrauch, die zunehmend dazu übergingen, sich eine eigene Wäscherei einzurichten, ermöglichten überhaupt erst den Aufbau einer spezialisierten Waschmaschinen-Produktion in Deutschland und schufen damit zugleich die Bedingung für die schnelle Weiterentwicklung zweckdienlicher Maschinen und Geräte für die Großwäscherei. Als eines der ersten Unternehmen hatte schon Ende der 1860er Jahre die Firma Oscar Schimmel & Co in Chemnitz die neue Marktchance wahrgenommen. Diese Waschmaschinenfabrik blieb dauerhaft erfolgreich und sicherte ihre Produktion durch mehrere eigene Patente ab. Das Unternehmen produzierte nicht nur eine breite Palette von Maschinen und Geräten, sondern spezialisierte sich auch darauf, ganze Waschanlagen als ein ineinandergreifendes System einzurichten. Bis 1883 sollen von Schimmel & Co neben zahlreichen privaten Dampfwaschanstalten 11 Garnisonen, 5 Garnisonslazarette, 13 Kranken- und Siechenhäuser, 10 Irrenanstalten und 4 Strafanstalten ausgerüstet worden sein.69 Wie in den Vereinigten Staaten so scheint auch in Europa in den 1860er Jahren eine Erfinderhausse für Dampfwäschereien eingesetzt zu haben. Nicht nur das seit den 1840er Jahren ausgereifte und bei kontinuierlichem Wäscheanfall 67 Bourgon de Layre (wie Anm. 5), S. 29, 35 f., hatte die Dampfwäsche vervollkommnet, als er 1835 Administrator der Armenhäuser von Poitiers war. Er ließ dort einen Dampf-Apparat für 1.000 kg Trockenwäsche installieren. Er berichtet außerdem von der Militärwäscherei in Paris-Popincourt, die monatlich 3.000–4.000 Paar Bettücher wäscht, und über eine weitere Dampfwäscherei im Hospital St. Louis zu Paris. 68 Vgl. Wagner (wie Anm. 22), S. 45. 69 Vgl. Dinglers (wie Anm. 52), 192, 1869, S. 40; Deutsche Bauzeitung 1875, Nr. 11, S. 51–53; Die Gartenlaube 1883, S. 848 f.; weitere Produzenten in: Dinglers, 249, 1883, S. 78–84.
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lohnende Dampfwasch-Verfahren wurde eingesetzt und weiterentwickelt; auch alle übrigen Prozeduren der Wäschereinigung wurden seit den 1860er Jahren in den großen Wäscherei-Betrieben mit zunehmend effizienteren Apparaturen ausgeführt. Trommel- und Doppeltrommelwaschmaschinen oder auch Hammerwaschmaschinen mit Dampfantrieb lösten die Handwäsche ab; die Wäsche wurde in Maschinen gespült und in Zentrifugen vorgetrocknet, bevor sie dann kurz in Trockenkammern kam. Auch Mangel- und Bügelmaschinen standen zur Verfügung.70 Es ist unschwer zu erkennen, dass die Vorläufer unserer heutigen Haushalts-Waschmaschinen in diesen bereits seit den 1840er und vor allem seit den 1860er Jahren für große Wäschereien entwickelten Maschinerien zu suchen sind. Diese hinsichtlich Arbeits- und Materialeinsatz effizienteste Form des Wäschewaschens ging an den privaten Haushalten jahrzehntelang so gut wie ganz vorbei. Dafür lassen sich verschiedene Gründe herausarbeiten. Um den technischen Fortschritt in die privaten Haushalte selbst hineinzubringen, fehlte es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts an den wichtigsten Voraussetzungen. Die effizientesten Maschinen waren wegen ihrer Größe, ihres Gewichts und der erforderlichen Heiz- und Antriebstechnologien für private Haushalte ungeeignet. Die am Markt angebotenen Haushaltsmaschinen blieben demgegenüber ineffizient, auch wenn sie die Arbeitsproduktivität im Vergleich zur Handarbeit durchaus steigerten. Selbst diese einfachen Maschinen blieben jedoch für die meisten Menschen zu teuer. In wohlhabenderen Familien dürfte zudem die Investitionsbereitschaft des Ehemannes, der ja das Geld verwaltete, nur dort aufgekommen sein, wo die Hausfrau zusätzlich auch gewerbliche Wäsche und dadurch sehr viel häufiger zu waschen hatte und/oder eine Lohnkostenersparnis bei Dienstpersonal und Waschfrauen möglich erschien. Für Hausfrauen wurde es jedoch keine Selbstverständlichkeit, die in den Groß- und Mittelstädten angebotenen Dienste der großen Dampfwäschereien in Anspruch zu nehmen. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass bürgerliche Hausfrauen, die noch in jahrelanger Arbeit ihre Aussteuer selbst genäht und bestickt hatten, lange zögerten, »die Hauswäsche, das Werk ihrer zarten Hände«, den rohen Wäscherei-Gewalten auszuliefern.71 Dagegen dürften verheiratete Lohnarbeiterinnen durchaus bereit gewesen sein, die Familienwäsche in die Wäscherei zu geben, sofern sie nur den verlangten Preis bezahlen konnten; denn ihr Problem war der Mangel an Raum und Zeit für die Wäsche. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Segen der jeweils effizientesten Waschverfahren den Hausfrauen aller Schichten zugute kommen zu lassen. Diese Versuche sind in Deutschland erst nach hundert Jahren an ihr (vorläufiges?) Ende gekommen, als die vollautomatischen Waschmaschinen zusammen mit den synthetischen Waschmitteln es möglich machten, in der eigenen Wohnung be70 Vgl. Giedion (wie Anm. 2), S. 614; F. Genzmer, Wasch-und Desinfektionsanstalten, Handbuch der Architektur, 4. Teil, 5. Halbbd., 4. H., Stuttgart 1900. 71 Die Gartenlaube 1883, S. 848.
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quem und ohne Belästigung des Ehemannes die Wäsche zu waschen. Vor diesem überwältigenden Sieg der Privatheit und Intimität des Wäschewaschens, der den Waschmaschinen- und Waschmittelfabrikanten einen riesigen Absatzmarkt sicherte, richteten sich die Fortschrittshoffnungen und Zukunftsentwürfe auf kollektiv zu nutzende Groß-Wäschereien. Deutsche Sozialreformer hatten bereits um 1850 für ein Jahrzehnt die Aufmerksamkeit auf die in mehreren englischen Städten seit 1842 errichteten vorbildlichen öffentlichen Bade- und Waschanstalten gelenkt, die es weniger hochentwickelt auch schon in Frankreich und Belgien gab. Diese Anstalten waren für die großstädtische Arbeiterbevölkerung bestimmt und wurden aus öffentlichen Geldern und Spenden erbaut. Die fertigen Anlagen sollten kostendeckend arbeiten. Die Werbekampagne hatte in Deutschland einen gewissen Erfolg. Öffentliche Wasch- und Badeanstalten wurden errichtet in Hamburg (eröffnet 1855), Berlin (2 Anstalten, eröffnet 1855), Fürth und Magdeburg (eröffnet 1860).72 Sie sollen sich angeblich über viele Jahrzehnte vornehmlich als Badeanstalten, weniger jedoch als Waschanstalten bewährt haben. Für die letzte Behauptung lassen sich in der Literatur allerdings keine stichhaltigeren Gründe finden, als der »deutsche Geschmack«, dem die Benutzung öffentlicher Waschhäuser widerspräche.73 Dabei waren alle diese Waschanstalten für ihre Zeit überaus komfortabel eingerichtet. Durch einen Dampfkessel wurde die Anstalt zentral mit Dampf, heißem Wasser und Wärme versorgt. Es gab abgeteilte Waschkabinen, von denen eine jede drei Waschtröge und Zapfhähne für Dampf, heißes und kaltes Wasser enthielt. Für je 10–15 Kabinen gab es eine Wäscheschleuder und eine Trockenkammer mit trockener Hitze. Mangel und Plätteisen standen auch zur Verfügung. Man ging bei Wirtschaftlichkeitskalkulationen davon aus, eine Frau könne in der Waschanstalt gegen geringes Entgelt innerhalb von zwei bis drei Stunden die gesamte Familienwäsche von 14 Tagen erledigen und die saubere Wäsche wieder trocken mit nach Hause nehmen. Experimentiert wurde auch in gewerblichen Wäschereien mit der Möglichkeit, die Maschinerien zu vermieten an Hausfrauen, Dienstmädchen oder auch Waschfrauen, die jeweils ihre eigene Wäsche bearbeiten wollten. Dieses System war in Paris schon seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannt. 1867 eröffnete eine solche Waschanstalt in Chemnitz. Nach vorheriger Anmeldung wurde hier die Wäsche jeweils in Portionen zu 25 Pfund innerhalb von zwei Stunden gewaschen und getrocknet. 1 Pfund Weißwäsche selbst zu waschen, kostete 6 Pfennig. Im ersten Halbjahr 1868 gingen durch diese Wäscherei – allerdings 72 Vgl. J. von Simson, Die Hamburger Wasch- und Badeanstalt auf dem Schweinemarkt, in: L. Grisebach u. R. Renger (Hg.), Festschrift für Otto von Simson, Frankfurt a. M. 1977, S. 485–503; außerdem Behrend (wie Anm. 31), Mitteilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen 3, 1852, S. 1–22; Allgemeine Bauzeitung 1852, S. 253–256; l853, S. 173–176; 1860, S. 399–402; 1861, S. 27–40; 1862, S. 31; 1863, S.73; Neue Bauzeitung 1852, S. 252; 1853, S. 174; Bauzeitung 1861, S. 37. 73 Genzmer (wie Anm. 70), S. 6; dagegen wurden in England die kommunalen Waschhäuser weiter ausgebaut, siehe Soziale Praxis 13, 1903/04, Sp. 881–884.
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nicht nur im Selbstbedienungsverfahren – insgesamt 256.018 Pfund Wäsche und Vorhänge. Vier weitere Waschanstalten waren zu diesem Zeitpunkt in Chemnitz bereits in Betrieb; alle hatten ihre Ausrüstung von O. Schimmel & Co bezogen.74 Doch erst nach der Inflation breiteten sich derartige Haushaltswäschereien, die ihre Maschinen und Einrichtungen den Hausfrauen stundenweise vermieteten, schnell in allen größeren deutschen Städten aus. Groß-Leipzig soll 1926 die erste und 1929 bereits 130 solcher Haushaltswäschereien gehabt haben. Diese Entwicklung resultierte aus einer neuen Verkaufsstrategie der Waschmaschinenindustrie: »Stadt auf Stadt wird in der Weise bearbeitet, dass sich die Maschinenfabriken nach Interessenten umsehen, denen sie unter Eigentumsvorbehalt bis zur vollständigen Bezahlung der Maschinen einen kleinen Betrieb einrichten.«75 Angelernt durch den Maschinenlieferanten, ausgerüstet mit zwei bis drei Maschinen à 50 Pfund Wäsche, eröffnete der neu gewonnene, immer männliche kleinbetriebliche Wäscherei-Unternehmer sein Geschäft. Der zeitgenössische Beobachter vermutete 1931, dass diese Haushaltswäschereien »viele Hausfrauen der Hauswäsche entwöhnt und der gewerblichen Wäscherei zugeführt haben«.76 Da das Interesse der Hausfrauen letztlich doch auf Fertigstellung der Wäsche hinauslaufen werde, könnten die Wäscherei-Fachbetriebe von diesem Werbefeldzug der Waschmaschinenindustrie nur profitieren. In den 1950er Jahren richteten dann amerikanische Waschmaschinenproduzenten Automatenwäschereien, Waschsalons, Schnellwäschen und Mietwaschküchen zur Selbstbedienung in Ladenlokalen ein und machten auf diesem Wege die deutschen Kunden mit der fortgeschrittensten Waschtechnologie für den Haushaltsgebrauch vertraut. Die deutschen Wäschereiunternehmer hofften auch noch zu dieser Zeit, mit immer besseren und immer billigeren Leistungen langfristig alle Hausfrauen als Kundinnen gewinnen zu können.77 Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Doch auch die jahrzehntelang ausgemalten Zukunftsvisionen, privaten Haushalten das Wäschewaschen als kostenlose oder gering bezahlte Dienstleistung anzubieten, blieben auf der Strecke. Schon in den 1880er Jahren hielt August Bebel es für möglich, in Zukunft »Zentralwascheinrichtungen« auch »für den allgemeinen Gebrauch« zu schaffen, und später experimentierten Lily 74 Vgl. Dinglers (wie Anm. 52), 192, 1869, S. 35–43. 75 Hierzu A. Bachmann, Das deutsche Wäscherei- und Plättereigewerbe seit 1914, Diss. phil., Leipzig 1931, S. 2–5, Zitat S. 3. 76 Ebd., S. 5. 77 Zum Aufkommen der Münzwäschereien vgl. W. u. H. A. Kind, Wäscherei (wie Anm. 51), 2. Aufl. Stuttgart 1956, S.107; dies., Wäscherei, 1949, Vorwort: »Die Entwicklung führt dahin, daß der Beruf der Waschfrau in Deutschland ausstirbt. Ebenso geht die Zahl der Hausangestellten … unaufhaltsam zurück. Die Entwicklungstendenzen sprechen nicht dafür, daß diese Arbeit von Hausfrauen, die selber waschen müssen, geschätzt wird. Soweit in der Zukunft Leistungssteigerungen angestrebt werden, muß die Bedeutung der MaschinenWäscherei zunehmen.«
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Braun und andere auch in Deutschland mit den »Einküchenhäusern«.78 In den zwanziger Jahren wurden in einigen demonstrativen Siedlungsprojekten Zentralwäschereien verwirklicht: In ihnen regierte ein Waschmeister über einen Maschinenpark; Hausfrauen konnten unter seiner Aufsicht ihre Wäsche erledigen; Kinder und Männer waren in dieser haushaltsfernen Anlage nicht erwünscht. Die Wascharbeit wurde damit den Frauen zweifellos beträchtlich erleichtert. Was sich für sie jedoch erhöhte, war der Organisationsaufwand; denn der langfristige Waschplan regelte den Zugang zur Wäscherei – pro Familie einmal alle vier Wochen – und Plan dieser nahm schwerlich Rücksicht auf aktuelle Familienereignisse.79 Das aber tat und tut die private Haushaltswaschmaschine. Vielleicht hätte sich eine noch weitergehende Vision als Alternative gegenüber der völligen Privatisierung der maschinisierten Wäscherei besser behaupten können. Angeblich gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg in den Volkswohnungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläumsstiftung in Wien für 1.700 Familienpersonen eine Dampfwäscherei, die pro Monat kostenlos für jede Familie 5 kg Wäsche schrankfertig reinigte.80 »Oder wie wäre es mit staatlich betriebenen Waschanstalten, bei denen der Waschpreis nur so hoch bemessen zu sein brauchte, um lediglich die eigenen Unkosten zu decken?«, wurde 1925 gefragt und dabei betont, dass aus Gründen der Volksgesundheit diese Frage sehr ernsthaft erwogen zu werden verdiene.81 Für das Wäschewaschen ist bis heute niemand auf die Idee gekommen, diese Frage erneut zu stellen. Ganz anders als beim Individualverkehr, dem jetzt die Alternative der öffentlichen Transportmittel immer energischer entgegengehalten wird, blieb bislang die intime Privatheit der Wäscherei in der Familienwohnung ausgespart bei neuen Überlegungen über Volksgesundheit und Volkswirtschaft.
78 A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus, 55. Aufl. Berlin 1946, S. 303, 563; G. Uhlig, Kollektivmodell »Einküchenhaus«. Wohnreform und Architektendebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus. 1900 bis 1933, Gießen 1981, übersieht zwar die Konzeption der Zentralwaschküchen, nennt aber die wichtigsten Projekte und Projektmacherinnen und -macher. Zur Organisationsarbeit vgl. G. Pirhofer u. R. Sieder, Zur Konstitution der Arbeiterfamilie im Roten Wien. Familienpolitik, Kulturreform, Alltag und Ästhetik, in: M. Mitterauer u. R. Sieder (Hg.), Historische Familienforschung, Frankfurt a. M. 1982, S. 326–368, bes. S. 355. 79 W. u. H. A. Kind, Wäscherei, 1956, (wie Anm. 51), S. 108; Bertrich (wie Anm. 2), S. 96, nennt noch für 1965 in der Bundesrepublik 26.000 Gemeinschaftswaschanlagen für 1,6 Millionen Familien. 80 Erwähnt in E. Becker, Die gewerblichen Wäschereien, Diss. phil., Heidelberg 1915, S. 48. 81 Koban (wie Anm. 11), S. 103.
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Häuslicher Herd und Wissenschaft Zur frühneuzeitlichen Debatte über Holznot und Holzsparkunst in Deutschland*
Über das Holzsparen und die Holznot wurde vom 16. Jahrhundert bis zum frühen 19. Jahrhundert mit steigendem Interesse diskutiert. Immer mehr Männer richteten ihren Erfindergeist, wissenschaftlichen Ehrgeiz und Wunsch nach öffentlicher Einflussnahme auf die Praktiken der Feuernutzung und fanden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für ihre zahlreich publizierten Erkenntnisse und Vorschläge die Aufmerksamkeit eines wachsenden Publikums. In der Forschung interessierte lange Zeit das seit dem 16. Jahrhundert stereotyp wiederholte Reden von der bereits herrschenden oder drohenden »Holznot« als Ausdruck einer sich tatsächlich verschärfenden allgemeinen Holzkrise. Diese zuletzt durch aktuelle Diskussionen über eine Energiekrise erneut angeregte Fragerichtung erschien umso relevanter, als sie anschlussfähig war an wirtschafts- und technikgeschichtliche Zusammenhänge der Industrialisierungsgeschichte. Joachim Radkau hat dem so definierten Forschungsproblem in den 1980er Jahren jedoch eine überraschende Wende gegeben. Er führte sehr überzeugend den Nachweis, dass es für eine allgemeine Holzverknappung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine stichhaltigen Anhaltspunkte gibt, und schlug deshalb als aussichtsreiche neue Forschungsstrategie vor, die vielzitierte »Holznot« nicht wortwörtlich, sondern als Topos in der »literarischen Tradition der Holzsparkünste« und als politisch vielseitig einsetzbares Schlagwort zu lesen.1 Fallstudien zur obrigkeitlichen Forstpolitik haben den Nutzen dieser Forschungsstrategie inzwischen unter Beweis gestellt.2 Ein anderer in der Forschung häufig erwähnter Zusammenhang aber hat weiterhin kaum analytisches Interesse auf sich gezogen: Das Lieblingsthema der deutschen Holzsparliteratur waren die Öfen und Herde, und zwar weitaus sel* Zuerst erschienen in: M. Grüttner u. a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a. M. 1999, S. 700–727. 1 J. Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 513–543, hier: S. 519; ders., Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts: Revisionistische Betrachtungen über die »Holznot«, in: Viertelsjahrsschrift für Wirtschafts-und Sozialgeschichte 73, 1986, S. 1–37, ausserdem: ders. u. I. Schäfer, Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte, Reinbek 1987. 2 Vgl. z. B. I. Schäfer, »Ein Gespenst geht um«. Politik mit der Holznot in Lippe, 1750–1850, Detmold 1992; B. Selter, Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher Nährwald und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 1995.
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tener die gewerblichen als die häuslichen »holzfressenden« bzw. »holzsparenden« Stubenöfen, Kochöfen und Herde.3 Holzverbraucher gab es viele, und für diese war Holz nicht gleich Holz. Der Wert des Holzes variierte nach Art, Alter, Stamm oder Krone eines Baumes, und das verschiedene Holz eignete sich unterschiedlich gut für Balken und Bretter oder als Brennholz. Dieses Wissen dürfte damaligen Diskutanten umso präsenter gewesen sein, als die mit dem Ausbau der Forstverwaltungen schnell wachsende Gruppe der Forstbeamten bestrebt war, bei Städtern und Landbewohnern ein neuartiges Wald- und Holzbewusstsein durchzusetzen. Zwar wurden in der Holzsparliteratur allmählich häufiger auch andere Formen des Holzverbrauches erörtert, doch insgesamt konzentrierten die Autoren ihre Aufmerksamkeit auf die »heimlichen Holzfresser« in den einzelnen Haushalten. Warum jedoch waren die häuslichen Öfen und Herde jahrzehntelang der bevorzugte Fokus einer überlokalen Diskussion über die »Holzsparkunst«? Diese naheliegende Frage ernsthaft zu stellen, heißt, zur historiographischen Zentralperspektive, die an der historischen Relevanz des Öffentlichen ausgerichtet ist, auf Distanz zu gehen. Was aber kommt in den Blick, wenn man mit einem analytischen Interesse an Gemengelagen auf die kategorialen Grenzziehungen zwischen Privatem und Öffentlichem, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Einstellung des Blicks verallgemeinert worden sind, absichtsvoll verzichtet? In Deutschland hatten sich bei der Konstituierung bürgerlicher Diskurse die später so selbstverständlich als real unterstellten Trennungen zwischen Hauswirtschaft und Volkswirtschaft, zwischen privaten Haushalten und öffentlichen Einrichtungen, zwischen akademischen Theoretikern und handwerklichen Praktikern, zwischen den Arbeitsorten von Frauen und Männern bis in das späte 18. Jahrhunderts noch nicht vollständig durchgesetzt. Im Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse beschäftigte man sich nach wie vor mit einer Gemengelage von dem, was sich innerhalb, und dem, was sich außerhalb von Haushalten abspielte. Diese Gemengelage und die Anzeichen für den Beginn analytischer Scheidungen und Trennungen sollen hier interessieren.
1. Die Hausmütter Im Jahre 1808 erschien in Leipzig anonym ein kleines, von Christine Dorothea Gürnth verfasstes Buch mit dem Titel »Rath für junge Hausmütter des Mittelstandes bei theuren Zeiten wohlfeil hauszuhalten. Eine Sammlung von Haushaltungsvortheilen«. Die ausführliche Einleitung erläutert das Programm:4 In 3 Meine Studie fußt auf einer Vielzahl von Zeitschriften- und Lexikonartikeln, von Broschüren und Büchern zum Thema Holzsparen, Brennholznutzung, Verbesserung von Feuerungsanlagen. 4 Rath für Hausmütter, Einleitung, S. 3–16, nachfolgende Zitate ebd. passim.
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den »gegenwärtigen bösen Zeiten« der durch Krieg und ungünstige Witterung hervorgerufenen allgemeinen Teuerung soll das Buch als »ökonomische Nothund Hülfstafel« den als »Mitschwestern« angesprochenen Leserinnen, zumal wenn sie noch »Neulinge in der weiblichen Oekonomie« sind, helfen, durch eigenen »Erwerb und gute Anwendung des Erworbenen« ihren Haushalt sicher durch die Teuerungsphase zu manövrieren. Auch wenn »die weiblichen Erwerbsquellen sehr eingeschränkt und karg fließen«, so gebe es dennoch Möglichkeiten des Erwerbs. Empfohlen werden: »mancherlei Bedürfnisse selbst zu verfertigen«, »der eigne Anbau mancher Lebensmittel«, »die gewonnenen rohen Produkte weiter bearbeiten«. Erwerb sei darüber hinaus auch die »Ersparniß«, die in der Mitte liege zwischen »Geiz und Verschwendung«. Um diese zu erzielen, müsse »das Entbehrliche von dem Unentbehrlichen« unterschieden, für die unentbehrlichsten Dinge eine wohlfeilere Ausfertigung gefunden, alle »nöthigen Bedüfnisse zur rechten Zeit und aus der ersten Quelle« angeschafft und bis hin zum Einsatz von »Surrogaten« auf »den vortheilhaftesten Gebrauch« von Gütern geachtet werden. Was »die beste Anwendung unsers Erwerbs« anbelangt, so wird aus dem frühneuzeitlichen Katalog der Hausmutter-Tugenden »pünktlichste Ordnung«, »genaue Aufsicht über unser Hauswesen«, »vortheilhafteste Eintheilung« der angeschafften Vorräte, aber auch äußerste Vorsicht bei allzu schnell getätigten »kleinen Ausgaben« angeraten5. Im Rahmen dieser »weiblichen Oekonomie« werden im Hauptteil des Buches Punkt für Punkt das Wirtschaften mit Brot und Mehl, Butter und Fett, Essig, Zucker und Syrup, Kaffee und Gewürzen, Baumöl, Talglichtern, Seife, Kraftmehl und Stärke und schließlich auf 13 Seiten das Wirtschaften mit Feuerungsmitteln und damit die Holzsparkunst abgehandelt.6 Auch bei den Feuerungsmitteln werden preisgünstigere »Surrogate« wie Steinkohle, Torf, Säge- und Lohspäne, Stroh- und andere Pflanzenstengel als »Holzstellvertreter« angepriesen. In der Hauptsache aber geht es um Vorschläge, wie beim Kochen die von Holz erzeugte Wärme besser ausgenutzt werden kann. Holz gehöre zu »den Bedürfnissen, deren Anschaffung uns bei theuren Zeiten vorzüglich drückend wird«, aber »auf keine Weise entbehrlich gemacht werden kann«. Der Kauf von Holz fülle »bei den immer höher steigenden Holzpreisen in jedem Wirtschaftsbuche eine der wichtigsten Rubriken« und werde »selbst dem Mittelstande oft lästig«. Die Hausmutter könne mit ihrer »Kunst, wohlfeil hauszuhalten«, beim Holz leider nur wenig ausrichten. »Indeß, dies soll uns nicht muthlos machen, durch Nachdenken und Aufmerksamkeit wenigstens ein kleines Scherflein zu der so nothwendigen und allgemein einzuführenden Holzsparung beizutragen.« Der Übergang vom je einzelnen Haushaltsbudget zur allgemeinen »Holzsparung« erfolgt hier überraschend abrupt. Bis zu dieser Stelle werden der jungen Hausmutter ausschließlich Ratschläge unterbreitet, wie sie in ihrem eigenen Haushalt trotz eines äußerst knapp bemessenen Haushalts5 Ebd. 6 Ebd., S. 126–138.
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budgets ein Auskommen erwirtschaften könne. Die nun nachfolgenden Aussagen pendeln demgegenüber zwischen je eigenem Haushalt und »diesem großen Zwecke« der Holzeinsparung.7 Die »sparsame Verwendung von Brennmaterialien« und die »Verbesserung der Feueranstalten und Kochgeschirre« sei »der kleine Spielraum, welcher bei der wichtigen Holzsparung dem hausmütterlichen Fleiß und (sic) Sorge über lassen ist, bei welchem wir aber dennoch einen nicht ganz unwichtigen Beitrag leisten können.« Die Wahl der Feuerungsmittel sei zwar weitgehend festgelegt durch das verfügbare Angebot, die Gewohnheit und die »Einrichtung der Feuerungsanstalten«. Umso wichtiger aber sei es, die verfügbaren Feuerungsmittel so sparsam wie möglich einzusetzen. Doch: »Wir müssen gestehen, daß wir uns bei der Holzfeuerung sehr oft der Verschwendung schuldig machen.« An welchen Adressaten auch immer dieses Schuldbekenntnis gerichtet ist, interessant ist, dass es umgehend relativiert wird mit dem Hinweis, es werde hier nicht behauptet, »irgend eine Hausmutter« gestatte ihren »Untergebenen … unnützen Holzaufwand«; nein: »Die Schuld liegt blos in unserer fehlerhaften Kochart, welche sich nun freilich nicht so leicht verbessern lässt.« Denn deren »Hauptfehler … ist die offene Feuerung«. Es reiche nicht aus, die »längst bekannte Erfahrung«, dass gut getrocknetes und zerkleinertes Holz die meiste Hitze gibt, stets zu beachten.8 Letztlich gelte es die »offene Feuerungsanstalt abzuschaffen, und in eine verschloßne zu verwandeln«. Aber solange vor allem wegen der großen Kosten eine solche Entscheidung »nicht bei uns steht«, seien hinsichtlich der »Kunst … das Feuer zweckmäßig zu regieren« kleinere Vorkehrungen zu empfehlen.9 Zu diesem Zweck wird, was vermutlich ohnehin zum Erfahrungswissen gehörte, vorgeschlagen: zwischen den Töpfen das Holz optimal aufzuschichten und zusammenzuhalten, beim Einsatz des Feuerungsmittels deutlich zwischen dem für das Ankochen erforderlichen starken Feuer und dem für das Mürbekochen ausreichenden schwachen Feuer zu unterscheiden, die günstigsten Kochgefäße zu wählen und passende Deckel aufzusetzen. Die bis dahin ausschließlich zwischen Hausmüttern als »Mitschwestern« geführte belehrende Unterhaltung über Holzersparnis wird in dieser Sequenz überraschenderweise durchbrochen. Zum ersten und einzigen Mal wird eine außenstehende Autorität einbezogen und der »bekannte Graf Rumford« gleich viermal namentlich genannt.10 Rumford habe einen zweckmäßigen Rost entwickelt, um am Kochgeschirr das glühende Holz zusammenzuhalten. Allerdings hätten »aufmerksame Hausmütter« mit geringerem Aufwand das gleiche Ziel erreicht, indem sie auf ihrem Herd das Feuer mit Ziegelsteinen umbauten. Rumford habe außerdem vorgeschlagen, die für die Beschickung mit Holz und Bratgut erforderliche große Öffnung von Bratöfen statt mit einer wärmeleitenden 7 8 9 10
Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Ebd., S. 130, 133, 134, 135.
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eisernen Tür besser mit Ziegelsteinen zu verschließen und für den Holznachschub nur ein kleines Loch mit einem Stopfen vorzusehen. Weiter werden die von Rumford entwickelten Kochgeschirre erwähnt, die ebenfalls eine gewisse Holzersparung ermöglichen, jedoch nur »wenn wir … die dazu erfundenen Kochöfen und künstlichen Feueranstalten einrichten können«,11 und schließlich seine Konstruktion doppelter Deckel für Kochgeschirre. In einem Gespräch zwischen Hausmüttern auf den Grafen Rumford zu stoßen, ist keine Selbstverständlichkeit. Was zeichnete ihn vor den zahlreichen anderen Erfindern, Tüftlern und Wissenschaftlern, die sich seit Jahrzehnten ebenfalls der Holzsparkunst verschrieben hatten, dergestalt aus, dass der Hausmütter-Ratgeber von 1808 einzig beim Thema Holz und Holzersparnis den Gestus des Redens von Hausmutter zu Hausmutter durchbrach, um diesen Mann als bekannte Autorität einzubeziehen?
2. Der Graf von Rumford Graf von Rumford, Sir Benjamin Thompson, alias Benjamin Thompson ist als Person und historische Figur faszinierend.12 Der 1753 in dem kleinen Ort Woburn, Massachsusetts, geborene und 1814 in Auteuil bei Paris gestorbene Benjamin Thompson, der seine Lebensgeschichte so erfand, wie sie ihm zweckdienlich erschien,13 war ein außergewöhnlich rücksichtsloser und erfolgreicher Karrierist. »He rose to power« – so das Urteil seines Biographen Sanborn C. Brown – »through supreme self-confidence, not a little intrigue, and with the help of many women.«14 Er war am Ende des Ancien Régime aber auch – und das ist es, was ihn hier interessant macht – zwischen Altem und Neuem ein Grenzgänger par excellence. Dieses sei in vier Momenten erläutert. Zunächst einmal war Rumford ein Grenzgänger im wörtlichen Sinne des Überschreitens von Staatsgrenzen. Er wechselte 1776 aus der neuen Welt Amerikas in die alte Welt Europas, ohne sich dort jemals zu entscheiden, ob es besser sei, sich in London, München oder Paris auf Dauer niederzulassen. Er durchreiste in den turbulenten Zeiten der revolutionären Umbrüche und Kriege Staaten, die gegeneinander Krieg führten oder miteinander verbündet waren. Er reiste in offiziellem Auftrag oder als Spion, zum eigenen Vergnügen und um 11 Ebd., S. 134. 12 Besonders aufschlussreich ist die auf breiter Quellenbasis erarbeitete Biographie von S. C. Brown, Benjamin Thompson, Count Rumford, Cambridge/Mass. 1979; Brown ist Herausgeber der Collected Works of Count Rumford, vol.1–5, Cambridge Mass. 1968–1970. Die folgende Skizze stützt sich hauptsächlich auf Brown; vgl. außerdem B. Pöhlmann, Graf Rumford in Bayerischen Diensten (1784–1798), in: Blätter für Bayerische Landesgeschichte 54, 1991, S. 369–433. 13 So Brown (wie Anm. 12), S. 2, 91 f. 14 Ebd., S. VII.
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Kontakte zu pflegen, um der Karriere willen, aus wissenschaftlicher Neugier, aus Geltungsbedürfnis, aber auch um sich Verfolgungen, Anklagen oder Intrigen zu entziehen. So floh er 1776 nach London, kehrte aber, als ihm dort das Pflaster zu heiß wurde, von 1781 bis 1783 mit königlichem Auftrag nach Amerika zurück. 1783 ließ er sich für eine Europareise, die ihn über Straßburg, München, Wien nach Italien führte, vom königlichen Dienst beurlauben. Auf dieser Reise gewann er das Vertrauen des bayerisch-pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor. Von 1784 bis 1798 stand er in dessen Diensten, unterbrach allerdings seinen Aufenthalt in München durch längere Reisen. Von März 1793 bis Frühjahr 1794 unternahm er eine zweite Italienreise. Im Oktober 1795 ging er für neun Monate zurück nach London und bereiste von dort Schottland und Irland. Im Spätsommer 1798 wurde er von München als bayerischer Gesandter nach London geschickt, dort in dieser Funktion allerdings nicht akzeptiert. Im Herbst 1801 reiste er von London über München nach Paris, wo er u. a. bei Napoleon eingeführt wurde. Nach kurzem Zwischenaufenthalt verließ er London im Mai 1802 für immer, um via Paris nach München zurückzukehren. Nachdem Madame Lavoisier, die er in Paris kennengelernt und die mit ihm den Sommer 1803 in München und der Schweiz verbracht hatte, ihm trotz des Krieges eine Einreiseerlaubnis für Frankreich hatte verschaffen können, siedelte er Ende 1803 nach Paris über. Bis zu seinem Tode lebte Rumford in Paris bzw. Auteuil. Nur wegen der Akademie und seiner bayerischen Pension begab er sich 1805 und 1810 noch einmal kurz nach München. Im zweiten Bereich seiner Grenzgängerei durchkreuzte Rumford mit seiner steilen Karriere die verschiedensten Ebenen sozialer Stratifikation. Er schaffte es, die kleine koloniale Farmwirtschaft seiner Familie ein für allemal hinter sich zu lassen, indem er sich auch während seiner kurzen Handlungsgehilfenzeit mit aller Energie in den modernen Wissenschaften ausbilden ließ und mit 19 Jahren seinen gerade angenommenen Schulmeisterposten wieder aufgeben konnte, weil sich die um 14 Jahre ältere, reichste Witwe New Hampshires, Sarah, vormalige Gattin des 1770 verstorbenen Colonel Benjamin Rolfes, bereit fand, ihn zu heiraten. Diese Heirat ebnete ihm den Weg zum Gesellschaftskreis des königlichen Gouverneurs, der seine wissenschaftlichen Interessen teilte und ihn zum Major ernannte. Nachdem sich Thompson während der Unabhängigkeitsbewegung als Royalist, Militär und Spion der Krone exponiert hatte, floh er 1776 nach London. Dort gelang es ihm, die Protektion des Staatssekretärs für die Kolonien, Lord George Germain, zu gewinnen und sich in die Politik einzufädeln. 1784 wurde Thompson von König Georg III. in den Ritterstand erhoben, 1792 ernannte Kurfürst Karl Theodor in seiner Eigenschaft als Reichsverweser ihn mit dem Titel Graf von Rumford zum Reichsgrafen des Heiligen Römischen Reiches. Ganz im Sinne dieser Aufstiegsmobilität löste sich Rumford von Bindungen an Verwandtschaft und Familie. Er orientierte sich weder an seiner auf Kooperation ausgerichteten bäuerlichen Herkunftsfamilie, noch am neuen bürgerlichen Modell einer auf Liebe basierten, kinderzentrierten intimen Familie. Ein166
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zig zu seiner Mutter, die zwei Jahre nach dem Tod ihres ersten Ehemannes 1756 erneut geheiratet hatte, hielt er Kontakt und schickte ihr seit etwa 1785 bis zu ihrem Tod Geld. Seine erste Ehefrau verließ er 1774 für immer. Seine 1774 geborene Tochter Sarah ließ er 1795 von New Hampshire nach London kommen, sie dort für die Erfordernisse gehobener Geselligkeit erziehen und erlaubte ihr seitdem, häufiger in seiner Nähe zu sein. Rumford schloss 1805, nachdem es über ein Jahr gedauert hatte, die erforderlichen Papiere zu besorgen, eine zweite Ehe mit Marie Anne Pierret Paulze, der begüterten Witwe des 1794 hingerichteten Chemikers Antoine Laurent Lavoisier, die er 1801 in Paris kennengelernt hatte. Die Eheleute trennten sich 1809 nach mehrjährigen heftigen Streitereien. Von 1809 bis zu seinem Tode 1814 lebte Rumford mit Victoire Lefevre, die 1813 einen Sohn gebar, zusammen. Rumford, der zu eigener Ehe, Familie und Verwandtschaft Distanz hielt, pflegte umso ausdauernder ganz im Stile adeliger Lebensweise das Vergnügen und den Nutzen des mehr oder weniger intimen Umgangs mit zahlreichen Frauen und zumal mit Damen der Gesellschaft. Die Verbindung zwischen ihm und der Gräfin Baumgarten, der noch immer einflussreichen ehemaligen Geliebten des Kurfürsten Karl Theodor, erhielt durch die 1789 geborene gemeinsame Tochter Sophie Dauer. Die Schwester der Gräfin, die verheiratete Gräfin Nogarola, half ihm beim Schreiben in deutscher und französischer Sprache und übersetzte Rumfords Texte ins Italienische. Mit der hochrangigen englischen Aristokratin Lady Palmerston, die er 1793 zusammen mit ihrer Familie in Italien kennengelernt hatte, verband ihn eine innige, zwischen 1793 und 1801 in regelmäßiger Korrespondenz gepflegte Freundschaft. Ein drittes Muster der Grenzgängerei zeigt sich in der Art und Weise, wie Graf Rumford alias Benjamin Thompson gleichzeitig seine militärisch-politische und seine naturwissenschaftlich-technologische Doppel-Karriere gestaltet hat. In London 1776 angekommen, brachte sich Benjamin Thompson mit Erfolg als erfahrener Militärspezialist und als ebenso interessanter wie aussichtsreicher Naturwissenschaftler ins Spiel. Seiner politisch-militärischen Karriere kam zugute, dass er den Staatssekretär für die Kolonien, Lord George Germain, als Gönner gewann und zunächst dessen Privatsekretär, ab 1780 Unterstaatssekretär für die Kolonien wurde. Offenbar erneut in Spionage und Intrigen verwickelt, konnte Thompson mit dessen Protektion rechtzeitig London verlassen und sich zwischen 1781 und 1783 in Amerika als königlicher Offizier weiteres Ansehen und eine sichere Pension erwerben. 1783 bemühte sich Benjamin Thompson während seiner Europa-Reise erfolgreich um das Vertrauen des bayerisch-pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor. 1784 trat er in dessen Dienst, nachdem er in London versehen mit einem Spionageauftrag, den er ab 1785 nicht mehr erfüllte, von George III. Urlaub erhalten hatte. In kurbayerischen Diensten blieb Thompson bis 1798. Bei Kurfürst Karl Theodor genoss er bis zu dessen Tod 1799 höchstes Ansehen und wirksamen Schutz gegen zahlreiche Anfeindungen. Sir Benjamin Thompson begann seine bayerische Karriere als General-Leib-Adjutant. Unter dem wachsenden Druck sozialer Unruhen und drohender Kriege erhielt er ab 1788 in München die Chance, ohne Rück167
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sicht auf ständische Privilegien und Traditionen große Reformwerke zu konzipieren und mit enormer Energie rasch umzusetzen. Zuständig für die als überfällig erachtete Reform des Militärs und die Zusammenführung der pfälzischen mit der bayerischen Armee setzte er darauf, in einem großen Wurf im Heer militärische Effizienz, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit sowie ganz im Sinne der Volksaufklärung den Bildungsstand und die Erwerbsfähigkeit der auf der Basis der Freiwilligkeit verpflichteten Soldaten zu steigern. Das von ihm eingerichtete militärische Arbeitshaus15 lieferte die gesamte Montierung der Soldaten und versorgte anfangs gleichzeitig eine große Zahl von Armen täglich mit einer warmen Suppe. Mit dem militärischen Arbeitshaus, das 1799 wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen wurde, hatte Benjamin Thompson für das Militär die kritische Finanzierungsfrage und für München die Armenfrage auf neuen Wegen lösen wollen. Alle Projekte fanden Karl Theodors Wohlgefallen und wurden mit erheblichem Finanzeinsatz realisiert. Thompson übergab mit großer Geste dem Kurfürsten außerdem nach einjähriger Bauzeit im Mai 1790 den als Volkspark, Wirtschaftsbetrieb und Lehranstalt gedachten Englischen Garten. Thompson erreichte 1792 den Höhepunkt seiner politisch-militärischen Karriere. 1788 war er zum Generalmajor der Kavallerie und zum Chef des Geheimen Kriegsbüros, 1792 zum Generalleutnant der Artillerie und Chef des Generalstabes ernannt worden. 1792 ehrte ihn der Kurfürst mit dem Titel eines Reichsgrafen. Während sich Rumford im Frühjahr 1793 mit großer Ausstattung auf seine zweite Italienreise begab, arbeiteten seine Gegner in München mit Blick auf die wachsenden Finanzprobleme und Kriegsverwicklungen darauf hin, ihn aus seinen Ämtern zu entfernen. Im Sommer 1796 waren allerdings die Dienste des seit 1795 beurlaubt in England weilenden Militärspezialisten Rumford angesichts des drohenden Einmarsches französischer und österreichischer Truppen in Bayern noch einmal dringend gefragt. Das ihm anschließend übertragene, sofort tatkräftig ausgefüllte Amt des Polizeiministers konnte seine endgültige Entfernung aus München nicht mehr verhindern. Mit der Aussicht auf den Posten eines Gesandten reiste er 1798 nach London, um dort zu erfahren, dass er vom englischen König nicht akkreditiert wurde. Das war das Ende seiner politisch-militärischen Karriere. Die von Rumford stets parallel bearbeitete wissenschaftliche Karriere ging allerdings weiter. Seit 1776 setzte er in London seine schon als Kind entwickelten wissenschaftlichen Interessen und Kenntnisse für die damaligen Zeiten spektakulär in Szene, indem er 1779 mit Gewehren und Schießpulver experimentierte. Er nahm Kontakt zur Londoner Royal Society auf und wurde 1779 deren Mitglied. In kurfürstlichen Diensten benutzte er für seine Experimente zunächst den Instrumentenfundus der Mannheimer Akademie der Wissenschaften, deren Ehrenmitglied er wurde. Er unterstützte die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München 1785/86 in der Illuminatenkrise, vermittelte ihr 1785 15 Vgl. hierzu A. Baumann, »Armuth ist hier wahrhaft zu Haus …«. Vorindustrieller Pauperismus und Einrichtungen der Armenpflege in Bayern um 1800, München 1984, S. 142–260.
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seinen Freund und Präsidenten der Royal Society, Joseph Banks, als Ehrenmitglied und erreichte, dass Kurfürst Karl Theodor schon 1784 in die Royal Society aufgenommen wurde. Auch er selbst wurde 1785 Ehrenmitglied der Bayerischen Akademie16. Später gehörte er als Mitglied außerdem den Akademien in Berlin, Dublin, Göttingen und Philadelphia an. Nachdem er sich in London schon 1796 für ein solches Vorhaben engagiert hatte, setzte er 1798 in London alle Hebel in Bewegung für die Schaffung eines Instituts zur Verbreitung nützlicher Erfindungen und wissenschaftlicher Kenntnisse. 1799 wurde zu diesem Zweck die über Spenden finanzierte Royal Institution of Great Britain gegründet. Rumford entwickelte als deren Sekretär von 1799 bis 1802 das Programm, warb Sponsoren ein, plante und beaufsichtigte den Umbau des angekauften Gebäudes, stellte die ersten Mitarbeiter ein. Diese Position verließ er 1802 wegen wachsender Unstimmigkeiten.17 Während seines kurzen Aufenthaltes 1801 in Paris erreichte er zwar nicht die Aufnahme in das Institut National des Sciences et des Arts, wohl aber in die Société d’Encouragement d’Industrie Nationale. Als es in München zwischen 1801 und 1807 um eine Reorganisation der Bayerischen Akademie ging, reichte Rumford 1802 einen Organisationsentwurf ein und stand selbst zeitweilig als möglicher neuer Präsident zur Debatte.18 Während seiner Jahre in Paris referierte und publizierte Rumford regelmäßig – mit Ausnahme der Jahre 1808 bis 1810, als ihm das Wohlwollen entzogen worden war, weil er Mitglieder brüskiert hatte19 – im Institut de France über seine wissenschaftlichen Experimente und deren Ergebnisse. Noch ein vierter Aspekt seiner Grenzgängerei verdient Erwähnung. Graf von Rumford hat stets planvoll daran gearbeitet, seiner Existenz Gewicht und seinem Leben über den Tod hinaus Bedeutung zu geben. Es scheint, als habe er nach dem Verzicht auf die zu seiner Zeit üblichen, auf Begrenzungen aufbauenden Sicherungen gegen die Wechselfälle des Lebens nun als autonom gesetztes Individuum bewusst strategisch auf die erhöhten Risiken eines jähen sozialen und wirtschaftlichen Absturzes reagiert. Graf Rumford erschuf sich als Symbiose aus dem Höfling des Ancien Régime und dem Selfmademan der Neuen Welt. Er gelangte zu materiellem Wohlstand und beträchtlicher Gestaltungsmacht. Er war außerdem stets bemüht, über die Grenzen der Staaten und Sprachräume hinweg durch seine Aktivitäten öffentliches Ansehen zu erlangen und sich als aufgeklärten Menschenfreund und Wissenschaftler in Szene zu setzen. Er verfasste ausführliche Berichte über seine naturwissenschaftlichen Be16 Vgl. L. Hammermayer, Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1759–1807, Bd. 2, München 1983, S. 225–228. 17 Vgl. M. Berman, Social Change and Scientific Organization. The Royal Institution 1799– 1840, London 1978; B. Jones, The Royal Institution. Its Founder and its First Professors, London 1871. 18 Vgl. L. Hammermayer, Freie Gelehrtenassoziation oder Staatsanstalt. Zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in der Zeit der Spätaufklärung und Reform (1787–1807), in: Blätter für Bayerische Landesgeschichte 54, 1991, S. 159–202, hier S. 194–197. 19 Vgl. Brown (wie Anm. 12), S. 295.
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obachtungen, Experimente und Theorien, aber auch über die Programme und Ausführungen seiner Münchener Reformen sowie über seine in München, Italien, England und Irland realisierten Baumaßnahmen zur Optimierung von Feuerungsanlagen und betrieb mit viel Energie die Drucklegung und Verbreitung seiner Berichte. Von München sandte er seine Papiere regelmäßig an die Londoner Royal Society zur Veröffentlichung. Der Genfer Wissenschaftler Charles Pictet ermöglichte ihm das Publizieren in französischer Sprache. In seiner Pariser Zeit veröffentlichte das Institut de France seine Arbeiten. Darüber hinaus fand Rumford Verleger, die zwischen 1796 und 1805 in vier Bänden seine Artikel als »Kleine Schriften politischen, ökonomischen und philosophischen Inhalts« fast zeitgleich in London, Boston und Weimar herausbrachten. Die deutschen Bände enthielten auch Rumfords Konterfei und eine Ruhmesrede auf ihn.20 1795 wurde er im Englischen Garten in München mit Konterfei und Inschrift auf einem ihm zu Ehren errichteten Denkmal verewigt. 1796 stiftete Rumford sowohl der Londoner Royal Society als auch der American Academy of Arts and Sciences jeweils eine mit seinem Konterfei geschmückte Medaille. Diese sollten alle zwei Jahre für die beste Arbeit auf dem Gebiet der Erforschung von Wärme und Licht verliehen werden. 1802 erhielt Rumford selbst die Medaille der Royal Society.
3. Die Hausmütter und des Grafen wissenschaftliche Experimente Graf von Rumford wird heute wegen seiner Beiträge zur Wärmelehre primär als Physiker oder mit Blick auf seine Reformwerke in München als »Heeresreformer, Sozialreformer, Polizeireformer, Stadtplaner, Ernährungswissenschaftler und Naturwissenschaftler in einer Person«21 gewürdigt. Die hier interessierende Affinität zwischen dem Grafen und den Hausmüttern bleibt aus dieser Sicht ein Rätsel. Des Rätsels Lösung ist anhand der vier Bände seiner Kleinen Schriften allerdings leicht zu finden.22 Rumford hat Zeit seines Lebens seine Umwelt scharf beobachtet, planvoll angelegte Experimente durchgeführt und mit z. T. selbst entwickelten Messinstrumenten und Messnormen möglichst exakte Messdaten ermittelt. Für seine Arbeitsweise ist charakteristisch, dass er einerseits alltagspraktische Beobachtungen und Erfordernisse in theoretische Fragestellungen und wissenschaftliche Experimente übersetzte, andererseits experimentell erzielte Forschungs20 Vgl. Brown (wie. Anm. 12), S. 183 f. zu den Werbeaktivitäten und S. 251 f. zur Entstehung von Porträt und Ruhmesrede. 21 So Pöhlmann (wie. Anm. 12), S. 369 22 Benj. Grafen von Rumford kleine Schriften politischen, ökonomischen und philosophischen Inhalts, Weimar, Bde. 1, 1797; 2, 1799; 3, 1803; 4, 1805.
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ergebnisse zur Verbesserung von Technologien und Verfahren der Alltagspraxis einsetzte. Als ein vehementer Gegner von Patenten, die seines Erachtens die Verbreitung von Wissen und damit den allgemeinen Nutzen behinderten, und selbst mehrmals mit dem Vorwurf konfrontiert, Entdeckungen plagiiert bzw. heimlich angeeignet zu haben, wollte Rumford mit der Gründung der Royal Institution einen schnellen und wirksamen Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Gewerbe institutionalisieren. Rumfords Interessen und die der Hausmütter überschnitten sich in demjenigen Arbeitsgebiet, indem sich Rumford gleichzeitig als theoretischer und angewandter Wissenschaftler hervortat. Er richtete sein physikalisch-theoretisches Interesse in der Hauptsache auf das im damaligen Wissenschaftsdiskurs hochrangige Problem der Wärme. Er hat über das Wesen, die Entstehung, Leitung und Strahlung von Wärme ebenso geforscht wie über die Bedingungen ihrer effizientesten Erzeugung und Nutzung. Für die Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen wählte er in erster Linie die in einem jeden Haushalt wichtigen alltäglichen Feuer- und Kocharbeiten. Ihn beschäftigte seit Ende der 1780er Jahre vornehmlich die Optimierung von Kaminen, Herden, Koch-, Bratund Backgeräten, Kaffee- und Teekochern sowie Lampen. Im Zusammenhang mit seinen großen Münchener Reformprojekten faszinierte ihn die Aufgabe, in Großküchen möglichst billig eine große Zahl von Soldaten und armen Menschen mit warmen Mahlzeiten zu versorgen. Nach seinen eigenen Angaben sollen im militärischen Arbeitshaus ab 1790 einmal pro Tag 1.000 bis 1.500 Mahlzeiten ausgegeben worden sein.23 Die Großküchen in der Militärakademie, im militärischen Arbeitshaus und im Englischen Garten benutzte er ab 1790 als große Laboratorien, um die höchstmögliche Wärmenutzung bei geringstem Einsatz von Brennmaterial wissenschaftlich zu ermitteln. Er hat außerdem mit tragbaren Feldküchen experimentiert und später sein Wissen auf den Bau anderer Anstalts- und großer Privatküchen und auf die Verbesserung von Kaminen übertragen. Seine Küchenexperimente orientierten sich an theoretischen Erklärungsmodellen und zielten auf fiskalisch interessante Kostensenkung durch Einsparung von Brennholz. Besonders aufschlussreich für Rumfords Optimierungsvision ist die von ihm beschriebene, immer weiter perfektionierte Kochmaschine: Acht große, kupferne, in zwei Reihen angeordnete Kochkessel werden von einem einzigen Feuerherd beheizt und funktionieren bis hin zu den festschließenden, gut isolierten Topfdeckeln und der ausgeklügelten weiteren Ausnutzung des evtl. noch abströmenden Dampfes und Rauches als ein geschlossenes System der Nutzung aller Wärme, die durch das möglichst vollständig zur Verbrennung gebrachte Brennholz erzeugt wird.24 23 Vgl. Baumann (wie. Anm. 15), S.142–260. 24 Vgl. Ueber die Behandlung der Feuerhitze und über Holz-Sparung, in: Rumford, Kleine Schriften (wie Anm. 22), Bd. 2, 1. Abt., S. 1–209, hier: S. 152–198. S. Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (1948), Frankfurt a. M. 1987, S. 572–582, hat früh Rumfords Herd- und Küchenexperimente gewürdigt.
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Die Ergebnisse seiner Experimente machte Rumford publikumswirksam zuerst vor Ort in München durch eine eigens für Besucher angelegte kleinere Küche »als Muster zur Nachahmung«, später durch entsprechende Kamin- und Küchenumbauten in England, Irland, Italien, schließlich durch Ausstellungen und vor allem die Publikation seiner Berichte über erfolgreiche Optimierungsmaßnahmen bekannt. Rumford hoffte, das Publikum mit der Beweiskraft seiner detailliert erläuterten Experimente, Messergebnisse und Zeichnungen davon zu überzeugen, dass sehr viel Brennholz eingespart werden kann, wenn u. a. statt eines offenen ein geschlossenes Herdfeuer benutzt, wenn die Passung von Herdloch, Topf und Deckel lückenlos gemacht, der Windzug im Kamin planvoll geführt wird. Mit der Publikation der kleinen Schriften machte Rumford um 1800 u. a. seine »Nachricht von einer Armen-Anstalt zu München« (Bd. 1), Berichte über »Camin-Feuerheerde nebst Vorschlägen zur Verbesserung derselben, um Brennstoff zu sparen, die Wohnhäuser angenehmer und gesünder zu machen, und das Rauchen der Schornsteine zu verhüten« (Bd. 1), über »Küchen-Feuerheerde und Küchengeräthe nebst Beobachtungen über die verschiedenen Theile der Kochkunst und Vorschläge zu ihrer Verbesserung« (Bd. 3) in Deutschland einem breiten und wohl auch weiblichen Publikum zugänglich.25 Er zeigte, wie die Optimierung einer Haushaltstechnologie wissenschaftlich vorangetrieben werden kann, und warb dafür, die wissenschaftlich gewonnenen Einsichten und veränderten Technologien in die Haushalte zu übernehmen. Rumfords feuertechnologische Aufsätze wurden breit rezipiert und befriedigten offensichtlich das Verlangen nach größerer Übersichtlichkeit, Systematisierung und Verwissenschaftlichung des vieldiskutierten Holzsparprogramms. Rumford gab seinem Publikum allerdings keine Hilfen an die Hand, wie aus den Großküchen Lehren für Kleinküchen zu gewinnen sind. Seine Überlegungen führten bisweilen zu dem Schluss, zumindest arme Menschen sollten nicht über Einzelhaushalte mit ihren teuren Kleinküchen, sondern über die viel billigeren, rationell eingerichteten Großküchen mit ihren optimierten Kochtechnologien versorgt werden. Doch auch in den Haushalten des bürgerlichen Mittelstandes waren die Chancen für die Umsetzung von Rumfords wissenschaftlich fundierten Sparprogrammen äußerst gering. Darauf machte der HausmütterRatgeber 1808 aufmerksam mit dem Hinweis auf den Mangel an Geld für große Investitionen und den mächtigen materiellen Zwang zur Anpassung des haushälterischen Handelns an vorgefundene Gegebenheiten. Aber selbst in einem wohlhabenden und wissenschaftlichen Fortschritten äußerst zugewandten Haushalt stieß Rumford auf unerwartete Hindernisse. Nachdem die Witwe Lavoisier, eine Dame der Pariser Gesellschaft mit eigenen wissenschaftlichen 25 Aus Bd. 2 der Schriften wurde der Aufsatz »Ueber die Behandlung der Feuerhitze und über Holzersparung« gekürzt abgedruckt in: Neues Hannöversches Magazin 62. bis 64. Stück vom 5.8., 9.8. und 12.8.1799, mit der redaktionellen Bemerkung »Es ist wohl kürzlich im Fache der Oeconomie keine interessantere und zum praktischen Gebrauche nützlichere Abhandlung erschienen, als die des Herrn Grafen von Rumford«.
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Interessen, 1805 den Grafen von Rumford geheiratet hatte und dieser in ihr Haus eingezogen war, begann er als frischgebackener Ehemann mit dem, was sein Biograph Brown »Rumfordization« nennt, er ließ das gesamte Küchen- und Heizungssystem nach seinen feuerungstechnologischen Prinzipien umbauen und legte u. a. damit den Zündstoff für die nicht mehr endenden Konflikte zwischen den Eheleuten.26
4. Die Holzsparkunst als haushälterische Tugend und als Diskurs der Aufklärung Graf von Rumford hat sich in Deutschland höchst wahrscheinlich inspirieren und forttragen lassen von den seit Jahrzehnten anschwellenden Diskursen über das Holzsparen. Dieses Thema hatte vom 16. bis in das frühe 19. Jahrhundert immer wieder Erfinder und Projektemacher zur Feder greifen lassen. Holzsparen zusammen mit Holznot formten einerseits eine legitimatorische Devise, die es der obrigkeitlichen Landespolitik erleichterte, aus vornehmlich fiskalischen Interessen im Namen des Gemeinwesens eine Forstpolicey zu institutionalisieren und die Kultur und Nutzung der Waldbestände bis hin zur Monopolisierung des Holzhandels zu reglementieren.27 Andererseits richteten unter derselben Devise die auf Fortschritt sinnenden Projektemacher ihr Augenmerk vorzugsweise auf die in städtischen und ländlichen Haushalten üblicherweise von Frauen ausgeführten Arbeiten des Heizens, Kochens und Backens. Diese Arbeiten interessierten allerdings nicht als komplexe Haushaltsarbeiten, sondern allein hinsichtlich möglicher Einsparungen von Brennholz. Holzsparpropagandisten pflegten dieses eine Ziel zu isolieren, es innerhalb der häuslichen und allgemeinen Oeconomie sehr hoch zu bewerten und so ihre für den häuslichen Einsatz von Brennmaterial vorgeschlagenen, verbesserten Zweck-MittelKombinationen mit umso größerer Überzeugungskraft vorzutragen. Das lange Zeit dominierende Holzsparprogramm wurde im Titel der 1666 in Frankfurt am Main gedruckten Schrift des Architekten und Ingenieurs Georg Andreas Böckler in barocker Ausführlichkeit vorgestellt: »Furnologia oder: Haushältliche Oefen-Kunst nämlichen I. Wie man nicht allein die alte bißhero gebräuchliche Oefen mit schlechten Unkosten leichtlich verbessern / und also respective mit wenigem Holtz und Kohlen einhitzen / sondern auch gantz II. Neue Wärm-, Koch- und Wäsch-Oefen / so zur Gesundheit deß Menschen dienlich / zu dem täglichen Gebrauch bequemlich / und in Ersparung des Holtzes nützlich auffbauen und in das Werck stellen solle.
26 Brown (wie. Anm. 12), S. 275 f., vgl. zum Ehezwist auch S. 288–290, 293. 27 Vgl. hierzu Schäfer und Selter (beide wie. Anm. 2).
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Alles auf Verlangen und Begehren sonderbahrer guter Haußhälter / auch Jedermänniglich zum Dienst / auß vielfältiger Experienz vertreulich auffgesetzet und mit darzu gehörigen Figuren aufgestellet«.
Der Schlüsselbegriff der Holzsparschriften war »Holzsparkunst«. Dieses Wortgebilde dürfte Aufmerksamkeit herausgefordert haben. Der Begriff verschränkte miteinander Holz und Sparsamkeit, also die als Brennholz und Baumaterial zentrale Ressource des »hölzernen Zeitalters«28 mit einer der Kardinaltugenden im System der Oeconomie. Der Begriff appellierte außerdem mit dem Akzent auf Kunst an die wohldurchdachte aktive Gestaltung und Verbesserung der Verhältnisse. Die Formel »Holzsparkunst« eignete sich hervorragend als Vehikel, um die einzelnen Haushalte und das Gemeinwesen, das Land und die Stadt, die umsichtigen Hausväter und den zum fürsorgenden Landesvater stilisierten Landesherrn in wechselseitige, sei es analoge, hierarchische oder gleichrangige Beziehungen zu setzen und sehr verschiedene Motive, Bestrebungen und Bereiche über diesen gemeinsamen Nenner zu integrieren. Wo in den Erörterungen über »Holzsparkunst« der Topos »Holznot« benutzt wurde, diente er vornehmlich als Appell, die Zukunft vorausschauend zu gestalten. Zedler29 gab dem Begriff 1735 in seinem Universal-Lexikon eine eher karge Definition: »Holtzspar-Kunst. Hierher werden gerechnet alle die Vortheile, wodurch dem übermäßigen Verthun des Brenn-Holtzes vorgebeuget, und getrachtet wird mit wenigem Holtze viel Hitze zu Wege zu bringen.« Von Holznot ist bei Zedler keine Rede. Auch spricht Zedler nicht allgemein von Holz, sondern ausschließlich von Brennholz, wobei er offen läßt, an welchem Ort und für welchen Zweck das Brennholz eingesetzt wird. Interessant ist, wie er das Sparen erläutert. Sparen bedeutet nach Zedler sowohl, dass »dem übermäßigen Verthun … vorgebeugt« wird, als auch »mit wenigem … viel zu bringen«. Hier überlagern sich zwei Vorstellungen: Sparen meint einerseits das Gegenteil von Verschwendung und andererseits einen optimalen Zweck-Mittel-Einsatz. Von dieser Beobachtung lässt sich eine Brücke schlagen zu dem, was Paul Münch über die Entwicklung der frühneuzeitlichen Normen des Alltagshandelns herausgearbeitet hat. Münch betont, dass Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit und Reinlichkeit, die Grundtugenden der bürgerlichen Gesellschaft, als Ensemble »alltäglicher Verhaltenspostulate« weder im 18. Jahrhundert völlig neu erfunden, noch einfach zusammen mit den gleichbleibenden Bezeichnungen auch inhaltlich deckungsgleich aus früheren Jahrhunderten tradiert wurden.30 28 So Radkau u. Schäfer (wie. Anm. 1). 29 J. H. Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon Bd. 13, Leipzig, Halle 1735, Sp. 711 (Nachdruck Graz 1961). 30 P. Münch, Parsimonia summum est vectigal – Sparen ist eine ryche gült. Sparsamkeit als Haus-, Frauen- und Bürgertugend, in: H.-J. Braun (Hg.), Ethische Perspektiven: »Wandel der Tugenden«, Zürcher Hochschulforum Bd. 15, Zürich 1989, S. 169–187, Zitat S. 170; vgl auch ders., Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«, München 1984.
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Speziell für die Tugend der Sparsamkeit erläutert er, dass sie schon in der Hausväterliteratur und ihrem seit dem 16. Jahrhundert entworfenen »Idealgebäude des rechten Wirtschaftens«31 im Zentrum stand. Diese Oeconomie-Lehre richtete sich zunächst nur an Haus- und Landbesitzer, um sie als Hausväter und Hausmütter in den erforderlichen Kenntnissen und Tugenden zu unterweisen. Sparsamkeit bei der umsichtigen Versorgung des Hauswesens walten zu lassen, war vornehmlich die Zuständigkeit der Hausmutter. Sie sollte auf der goldenen Mitte zwischen Verschwendung und Geiz den Erwerb des Mannes bewahren, damit die eigene Haushaltung vor Krisen schützen und gleichzeitig »Mildigkeit« gegenüber Bedürftigen üben. Münch zeigt weiter, dass sich im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Schreiben über Sparsamkeit veränderte. Es wurde erstens vermehrt der bürgerliche Mittelstand gegen den Adel und dessen Luxus positiv abgegrenzt, und zweitens wuchs im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Tendenz, Frauen in ihrer Zuständigkeit für sparsames Haushalten der »männlichen Oberaufsicht« zu unterstellen.32 Vergleicht man die Tugend der Sparsamkeit mit der von Zedler im Hinblick auf die Holzsparkunst erläuterten Vorstellung von Sparsamkeit als Vorbeugung gegen »übermäßiges Verthun«, so fällt auf, dass Zedler die Warnung vor der Vergeudung übergeleitet hat in eine gegen Vergeudung gerichtete vorausschauende Vorbeugung. Es mag sein, dass Zedler die alte zukunftsichernde Sparsamkeits-Tugend stillschweigend voraussetzte. In jedem Fall aber erörterte er, indem er Sparen mit Kunst im Sinne von Können und mechanischen Künsten verband, das Sparen vorrangig als eine Zweck-Mittel-Beziehung. Er entfernte sich damit deutlich von der Ende des 16. Jahrhunderts bei Johann Fischart gebrauchten Akzentuierung, dass die »Holzsparkunst« eine »Weibskunst« sei.33 Es ging bei der Holzsparkunst zwar weiterhin um den sparsamen Umgang mit Brennmaterial, doch um dieses Ziel zu erreichen, war im Diskurs des 18. Jahrhunderts immer seltener von haushälterischer Umsicht und vermehrt von zweckentsprechend eingerichteten Feuerungsanlagen und Gerätschaften die Rede. Als Johann Georg Krünitz 1781 mit einem über 500 Seiten langen LexikonArtikel über Holz eindrucksvoll den erreichten Wissens- und Diskussionsstand dokumentierte, betonte auch er im Zusammenhang der Erörterung von Angebot und Nachfrage nach Holz kurz die Notwendigkeit, alle »unnöthige und überflüssige Holz-Consumtion« oder »große Holzverschwendung« zu verhindern und das Erfordernis »einer wirtschaftlichen Holz-Sparkunst«.34 Vorher hatte er ausführlich und durchaus typisch in der Willkür der Erwähnungen und Gewichtungen und in der sicheren Behauptung, ein äußerst wirksamer 31 Münch, Parsimonia (wie Anm. 30), S. 173 f. 32 Ebd., S. 174. 33 Hinweis in J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 4. Bd., 2. Abt., bearbeitet von M. Heyne, Leipzig 1877, Sp. 1781. 34 J. G. Krünitz, Oeconomisch-technologische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, 24. Theil, Brünn 1781, S. 457–971, Zitate S. 921.
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Hebel zum Holzsparen seien in erster Linie die häuslichen Öfen und Herde, in sechzehn, höchst ungleichen Punkten die Holzverbraucher aufgelistet. Er beginnt mit 1. Bevölkerung, 2. Fabriken, Manufakturen, Bergbau, verschiedene Schmelzhütten und Siedewerke, 3. Schiffsbau, 4. Bau von Landstraßen, Wegen und Dämmen, 5. Hütten, Schmelz- und Hammerwerke. Die Punkte 6–16 betreffen die Landwirtschaft mit ihrem Bedarf an Kienspänen für Beleuchtung, Stangen für Erbsen, Bohnen, Hopfen und Wein, Holz zum Bau von Zäunen und den diversen Praktiken der Dörfler, den lebenden Wald zu nutzen.35 Mögliche Holzeinsparungen sah Krünitz bei Ziegelbrennern, Töpfern, Lohgerbern, Böttchern, Zimmerleuten. Auch den Verzicht auf hölzerne Brunnenrohre hielt er für wirksam. Vor allem aber empfahl er einen sparsameren Holzverbrauch beim häuslichen und gewerblichen Bierbrauen, Branntweinbrennen und Malztrocknen und – wie die meisten seiner Gewährsleute – an erster Stelle bei Stubenöfen, Küchenherden und Backöfen: »Die Consumtion des Holzes, welches in allerley Arten von Stubenöfen und auf den Herden verbrannt wird, ist wohl die stärkste Consumtion unter allen zu halten; es wird aber auch nirgend mehr Holz verschwendet, als bey dieser täglichen Feuerung.«36 Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die herausragende Bedeutung der häuslichen Feuerstellen in der Holzsparliteratur zu interpretieren. Vier Deutungsansätze seien hier vorgestellt. Erstens: Naheliegend ist die Erklärung, Haushalte seien die größten Brennholz-Verbraucher gewesen und eben deshalb hätten die Sparvorschläge vornehmlich ihnen gegolten. In der Tat bestätigen viele Texte diese Annahme. Doch derartigen Urteilen ist mit Vorsicht zu begegnen. Es war zu damaligen Zeiten unmöglich, den gesamten Brennholzverbrauch der Stadt- und Landbevölkerung unterschiedlicher Vermögens- und Einkommensverhältnisse auch nur grob zu schätzen und mit allen anderen Arten des Holzverbrauchs zu vergleichen.37 Unerwähnt blieb im Übrigen, dass Brennholz auch bei der Bauholzgewinnung anfällt. Wahrscheinlich ist in jedem Fall, dass das dauernde Reden über Holznot und Brennholz-Preissteigerung die Vorstellung verfestigte, es seien allen voran die »holzfressenden« Öfen und Herdfeuer, die ganze Wälder verschlängen. Die in den Schriften immer wieder betonte Vorrangstellung der Haushalte unter der Gesamtheit aller Holz- oder auch nur Brennholzverbraucher mag zutreffen oder nicht. Die häusliche »Holzsparkunst« dürfte durch eine allgemein drohende Holznot wohl ohnehin weniger zu motivieren gewesen sein, als durch das Versprechen, Investitionen in neue Herd- und Ofenkonstruktionen machten sich bezahlt, da sie in beträchtlichem Umfang die Ausgaben für Holz reduzierten. In jedem Fall benutzten die Diskutanten die pauschale Verdächtigung der häuslichen Feuerstellen als zwingendes Argument, sich verstärkt der häuslichen Holzsparkunst anzunehmen. 35 Ebd., S. 914–921. 36 Ebd., S. 922- 928 über Holzverschwender, Zitat S. 925. 37 Vgl. hierzu Radkau (wie. Anm. 1), S. 14–23.
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Zweitens: Die gedruckten Vorschläge zur Holzsparkunst dokumentieren eine Diskussion zwischen bürgerlichen Männern.38 Deren soziale Situierung liefert eine Erklärung für die Vorliebe, eine akut oder zukünftig vorgestellte allgemeine Holznot auf der Ebene der einzelnen Haushalte lösen zu wollen. Die Holzsparkunst eröffnete den aufgeklärten Männern im je eigenen Haushalt ein ergiebiges Experimentierfeld, um an der allgemein angesagten Rationalisierung, der gebotenen Überprüfung des Erfahrungswissens und der Erkundung von Ursachen und Wirkungen teilzunehmen.39 Viele der gedruckten Vorschläge stammten vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Zahl der Publikationen stark zunahm, von häuslichen Tüftlern bzw. von Beobachtern solcher Tüftler, die im eigenen Haushalt praktisch und wissenschaftlich Öfen, Herde sowie Heiz- und Kochvorgänge studiert hatten und nun die eigenen Erfindungen oder die anderer Männer zwecks Förderung des allgemeinen Nutzens zur Anwendung empfahlen. Keineswegs nur bei direkter Verkaufswerbung adressierten die Autoren ihre Botschaften an die Hausväter, die über eine Neuanlage oder Verbesserung der im Haushalt vorhandenen Öfen und Herde und die dafür erforderlichen Ausgaben, die Beauftragung eines Handwerkers und die Bestellungen bei der Gießerei zu entscheiden hatten. Nur selten wurden die Ofenbaumeister, die die empfohlenen Feuerungsanlagen nach den veröffentlichten Beschreibungen und Aufrissen zu errichten hatten, angesprochen. Von Frauen war kaum und wenn, dann abfällig die Rede. Die Autoren führten allenfalls Klage über die Mägde und Köchinnen, die die Öfen und Herde bedienten. Sie seien unachtsam und verschwenderisch und müssten bei der Einführung neuer Technologien sorgfältig angelernt und ständig kontrolliert werden, sonst machten sie mit ihrer Dummheit oder Sabotage die Ingeniosität des Erfinders und den Sparwillen des Hausvaters zuschanden. Die Hausfrauen mit ihrer Zuständigkeit für die häuslichen Arbeiten des Kochens, Heizens und Backens wurden so gut wie nie angesprochen, geschweige denn als Sachkundige einbezogen. Drittens: Öfen und Herde waren ein besonders gut geeigneter Ausgangspunkt, um unter Aufklärern ein Gespräch über Holzsparkunst zu führen. Ein jeder auf Sparsamkeit bedachte Hausvater – und das dürften aus Gründen der 38 Nach A. Faber, Entwicklungsstufen der häuslichen Heizung, München 1957, S. 88, betätigten sich als Erfinder vor 1800 Pfarrer, Mönche, Ärzte, Physiker, Mathematiker, andere Professoren, Kunstmaler, Baumeister, Architekten, Kaufleute, Fabrikanten, Beamte, Militärs. 39 Vgl. hierzu u. a. H.-H. Müller, Akademie und Wirtschaft im 18. Jahrhundert. Agrarökonomische Preisaufgaben und Preisschriften der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1975; N. Schindler u. W. Bonß, Praktische Aufklärung. Ökonomische Sozietäten in Süddeutschland und Österreich im 18. Jahrhundert, in: R. Vierhaus (Hg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, S. 255–353; J. Voss, Akademien, Gelehrte Gesellschaften und Wissenschaftliche Vereine in Deutschland, 1750–1850, in: E. François (Hg.), Sociabilité et société bourgeoise en France, en Allemagne et en Suisse, 1750–1850. Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750–1850, Paris 1986, S. 149–166.
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Knappheit in ihrer eigenen Lebenshaltung alle Bildungsbürger gewesen sein – konnte im eigenen Interesse mitreden, belasteten doch die Ausgaben für Brennholz besonders in Städten häufig das knapp bemessene Haushaltsbudget über Gebühr. Hier versprach die wohlüberlegte Ausgabe für die angepriesenen neuen Sparöfen, Kochöfen und geschlossenen Herde finanzielle Entlastung. Offenbar brachte es zusätzliche Genugtuung, das Investieren in die Verbesserung der eigenen Feuerungstechnik mit dem Menetekel einer drohenden allgemeinen Holznot zu begründen und als verantwortungsvolles Handeln für die Allgemeinheit auszugeben.40 Zumindest wurde häufig die Gelegenheit genutzt, gleichsam von Hausvater zu Landesvater über die Holzspar- und Forstpolicey zu diskutieren, dabei die unaufgeklärten Menschen auf dem Lande als Holzverschwender zu kritisieren und der Obrigkeit in Sachen Holzersparnis gegenüber den Dörflern väterlichen Erziehungszwang anzuraten. Viertens: Über einzelne Haushalte und Haushalter zu diskutieren bedeutete noch im gesamten 18. Jahrhundert, über Wirtschaft und Gesellschaft zu diskutieren. Die Oeconomie wurde als Lehre vom Haushalten dem Hausvater und der ihm beigeordneten Hausmutter als herrschaftliche Ordnung des Haushaltes und der Gesamtheit aller Geschäfte und Aufgaben in zahlreichen gedruckten Traktaten erläutert.41 Solange die Haushaltungskunst mit ihren konkreten Arbeiten und Aufgaben als der Dreh- und Angelpunkt allen Wirtschaftens und aller sozialen Ordnung galt, repräsentierte sich das Allgemeine im einzelnen Haushalt und eignete sich der einzelne Haushalt selbstverständlich als Ausgangspunkt des allgemeinen wirtschaftlichen, wirtschaftspolitischen und fiskalischen Nachdenkens. Vor 1800 war man noch weit davon entfernt, den Haushalt als »privat« zu denken. Haushalte, die sich zwar um Kernfamilien gruppierten, zusätzlich aber auch andere Verwandte und Arbeitskräfte einschlossen, waren die Basis des landwirtschaftlichen und gewerblichen Produzierens und der Handelsgeschäfte. Für Pfarrer, Staatsdiener und sonstige Bildungsbürger ebenso wie für Adelige und Fürsten gehörten eine umfangreiche Haushaltung und Hauswirtschaft zum Alltag. Im Hinblick auf das Prinzip und die Praxis des Haushaltens waren die Übergänge selbst zwischen den großen 40 Vgl. hierzu bes. R. Vierhaus, »Patriotismus«. Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (wie. Anm. 39), S. 9–19; H. E. Bödeker, Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung, in: ders,. U. Herrmann (Hg.), Aufklärung als Politisierung. Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, S. 10–19; R. Schlögl, Die patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften. Organisation, Sozialstruktur, Tätigkeitsfelder, in: H. Reinalter, (Hg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt a. M. 1993, S. 61–81. 41 Vgl. I. Richarz, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik, Göttingen 1991; dies., Oeconomia. Lehren vom Haushalten und Geschlechterperspektiven, in: H. Wunder u. G. Engel (Hg.), Geschlechterperspektiven in der Frühen Neuzeit, Königstein/ Ts. 1998, S. 316–336; J. Burkhardt u. a., Wirtschaft, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 511–594.
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Einzelhaushalten der Wohlhabenden und den neben Klöstern und Asylen nun in wachsender Zahl eingerichteten neuartigen Anstaltshaushalten der Kasernen, Arbeitshäuser, Gefängnisse, Hospitäler gleitend. Allerdings wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts dieses »Idealgebäude des Wirtschaftens« zunehmend durchbrochen. Obrigkeitliche Policey und aufklärerisches Räsonieren erweiterten Zug um Zug den Raum für »allgemeine Glückseligkeit« oder »allgemeine Oeconomie« und damit für ein Allgemeines, das in Ergänzung zu und schließlich jenseits von Haushalten entstand. Doch erst als sich im 19. Jahrhundert die Überzeugung durchsetzte, allein die nach kapitalistischen Maximen organisierte Marktwirtschaft sei wirtschaftlich relevant, verschwand der private Haushalt schließlich aus dem Diskurs über Wirtschaft als ein Allgemeines. Im gleichen Zuge wurde Hauswirtschaft zum nebenrangigen Spezialgebiet degradiert und diskursiv nun in eigens an Frauen gerichteten Ratgebern bearbeitet. Doch im 18. Jahrhundert, als die Ausdifferenzierung der Wirklichkeits- und Wissensbereiche bereits vorangetrieben wurde, behauptete sich die Haushaltungskunst noch im allgemeinen Diskurs über das Wirtschaften. Was bis etwa 1800 als vielfältige Einheit aller Wissensbereiche versammelt blieb, zerfiel im 19. Jahrhundert in systematisch gegeneinander abgegrenzte Einzelbereiche, deren sich nun spezialisierte Wissenschaftsdisziplinen und Unterdisziplinen annahmen. Das ist bekannt. Zu wenig Beachtung aber hat gefunden, dass als Begleitumstand der stürmischen Wissenschaftsentwicklungen der Haushalt und die Haushaltungskunst von öffentlich-allgemein und zugleich männlich-weiblich gedachten Gesellschaftsphänomenen zu privat-speziell und allein weiblich gedachten mutierten und damit dauerhaft an den Rand des wissenschaftlichen Interesses gerieten. Sobald man diese eingeübte wissenschaftliche Wahrnehmung aufgibt und den Einzelhaushalt erneut als gesellschaftlich Allgemeines begreift, erhält man den Schlüssel zur Antwort auf die Frage, warum die Holzsparliteratur einerseits die allgemeine Holznot beschwor und andererseits mit ihren Holzsparüberlegungen überwiegend bei den einzelnen Haushalten ansetzte und den sparsamen Hausvätern riet, der Holzvergeudung in ihren eigenen Haushalten durch verbesserte Feuerungsanlagen und Heiztechniken ein Ende zu machen. Im System der alten Oeconomie galten die Hausväter als diejenigen, die mit ihrem Haushalt und über diesen hinaus Wirtschaft und Gesellschaft koordinierten und in Gang hielten. Gewiss waren die räsonierenden Hausväter des späten 18. Jahrhunderts im Vergleich zu den Haus- und Grundbesitzern der Hausväterliteratur eher kleinformatige Figuren, deren Ordnungsmacht sich auf das Innere des eigenen Hauses beschränkte und die vermutlich deshalb ihre Aufsicht über die Geschäfte der Hausmutter verstärkten. Als Autoren der Holzsparliteratur aber pflegten diese Hausväter neuen Typs ihre Situation zu überhöhen. Sie porträtierten sich in Abgrenzung zu den Dörflern als Bürger, die fähig und bereit sind, eine vernünftige Überprüfung und Reduktion des häuslichen Brennholverbrauches vorzunehmen und damit nicht nur das Wohl der eigenen Familie, sondern auch das der Allgemeinheit zu befördern. 179
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5. Die Holzsparkunst als moderne Wissenschaft Die allmähliche Verwissenschaftlichung der Holzsparkunst-Literatur belegt eindrucksvoll die Durchsetzung des gedanklichen Trennens und die Veränderung von Wahrnehmungsweisen. Bis etwa 1770 scheint das von dem sächsischen Pfarrer M. Johann Georg Leutmann verfasste und breit rezipierte Kompendium »Vulcanus Famulans oder Sonderbahre Feuer-Nutzung« mit seiner Beschreibung von siebzig holzsparenden eisernen und aus Kacheln aufgesetzten, nach neuartigen Prinzipien der Feuernutzung gebauten Stuben- und Kochöfen völlig ausgereicht zu haben. Leutmanns Buch wurde erstmals 1720 und erneut 1723, 1735, 1765 aufgelegt.42 Mit den lateinischen Wörtern im Titel ordnete Leutmann sein Buch als gelehrte Schrift in eine bis in das 16. Jahrhundert zurückreichende und in der Einleitung mit Erfindernamen markierte ehrwürdige Tradition ein. Dieser ältere Gestus der Gelehrsamkeit wurde auch auf dem Gebiet der Holzsparkunst allmählich abgelöst durch den vom Grafen Rumford so überzeugend vorgeführten Gestus der systematisierenden, generalisierenden, experimentierenden und messenden modernen Wissenschaft. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wuchs generell das Bestreben, vorhandenes Wissen zusammenzufassen und neu zu ordnen. Johann Georg Krünitz publizierte ab 1773 seine »Oeconomische«, ab 1784 »Oeconomisch-technologische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft« als umfassende Sammlung von Wissenswertem. Die nach seinem Tode fortgesetzte Enzyklopädie wurde mit 242 Teilen 1858 unvollendet abgebrochen. Der Göttinger Professor für Kameralwissenschaften, Johann Beckmann, ging zur selben Zeit über das einfache Sammeln hinaus und zeigte für die Bereiche Wirtschaft und Technologie, wie Wissen akkumuliert, zugleich ausdifferenziert und systematisiert werden kann. Als ordnende Prinzipien dienten nun zunehmend die Bilanzierung des erreichten Wissensstandes, die vereinheitlichte Fachsprache sowie das Klassifizieren und Typisieren von Phänomenen. Außerdem stiegen planvolles Experimentieren, Messen, Vergleichen und Generalisieren als Merkmale von Wissenschaftlichkeit im Kurs. Alle diese Entwicklungen veränderten ab 1780 auch den Diskurs über »Holzsparkunst«. Die wissenschaftliche Umformung der »Holzsparkunst« bestand zum einen im neuartigen Sichten und Beurteilen vorhandenen Wissens. Der »Doctor der Rechte, Senator zu Leipzig und Canonicus des Stiftes Wurzen«, Christian Ludwig Stieglitz, stattete jeden einzelnen Artikel seiner von 1792 bis 1795 in Leipzig veröffentlichten fünfbändigen »Encyklopaedie der bürgerlichen Baukunst, in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind. Ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirthe«
42 Vgl. Faber (wie. Anm. 38), S. 363.
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mit Literaturhinweisen aus. Philipp Friedrich Roth erweiterte 1802 seine Veröffentlichung einiger Konstruktionsvorschläge für Öfen um eine Liste mit mehr als 250 Titeln zur »Holzsparkunst«. Neben der herkömmlichen, unprätentiösen Bekanntmachung einzelner Holzspar-Feuerungen setzte sich nun häufiger das Streben nach größerer Allgemeinheit, wenn eine Schrift den Titel »Holz-SparKunst. Ein Buch für jedermann« erhielt oder eine einzige Publikation außer Holz auch andere Brennmaterialien sowie Feuerungsanlagen für verschiedenste Zwecke abhandelte.43 Seinen deutlichsten Niederschlag aber fand das Bemühen um allgemein gültige Aussagen in der expliziten Hinwendung zur Wissenschaft. Georg Friedrich Werner wies sich als fürstlich hessischer Ingenieur-Major und Professor und Mitglied der physikalisch-mathematischen Gesellschaft zu Erfurt aus und gab seiner 1797 in Hamburg publizierten Schrift den Titel: »Theoretisch practische Abhandlung über holzsparende Stubenöfen, Kochherde und Kochöfen«. Er hielt es zwar durchaus noch für angebracht, einleitend als Ausgangspunkt seines Fortschrittsstrebens die im eigenen Haushalt gemachten leidvollen Ofenerfahrungen zu schildern. Doch bevor er seine Ofenmodelle vorstellte, stürzte er sich zunächst in langatmige Erläuterungen »der Theorie der Wärme, des Feuers und der Gesetze des Verbrennens und allgemeiner Lehren für die Erwärmung der Zimmer«, um daraus dann die vorgeschlagenen Technologien abzuleiten.44 Nicht zuletzt wurden vermehrt wissenschaftliche Experimente durchgeführt. Zu den Experimentatoren, die wie Graf Rumford daran arbeiteten, die Holzspar-Aktivitäten mit exakterem Wissen und stichhaltigeren Urteilen wissenschaftlich zu fundieren, gehörte der Fürstlich Solmsische Forstmeister Georg Ludwig Hartig. Er veröffentlichte 1794 als »Beytrag zur höheren Forstwissenschaft« die Ergebnisse seiner akribisch durchgeführten Versuchsserien unter dem Titel »Physikalischer Versuch über das Verhältnis der Brennbarkeit der meisten teutschen Wald-Baum-Hölzer«. Die vielzitierte Schrift erhielt 1807 eine zweite Auflage. Hartig hatte offenbar in seinem eigenen Haushalt für 52 deutsche Baumarten bei Variation des Baumalters und der Trockenheit des Holzes die Heizleistung experimentell getestet, indem er unter einem mit Wasser gefüllten, eingemauerten Kessel mit gleichbleibender Holzmenge Feuer legte und mit Hilfe eines Reaumur-Quecksilber-Thermometers ermittelte, wann das Wasser die jeweils höchste Temperatur erreichte und wie lange diese Temperatur anhielt. Die Ergebnisse dieser Messungen ließ er in langen Tabellen drucken. 1806 antwortete auf Hartigs Ergebnisse der Herzoglich Braunschweigisch-Lüneburgische Forstrat A. W. von Liebhaber mit verbesserten Versuchen und dem erklärten Ziel, dieses Wissen für die Holztaxe, die Wälder, die Gewerbe und die »häusliche Oekonomie« praktisch nutzbar zu machen. 43 P. F. Roth, Holzsparende Ofen-, Kochheerd-, Kessel- und Bratofen-Feuerungen nebst angefügter Litteratur der Holzsparkunst, Nürnberg, Altdorf 1802. 44 G. F. Werner, Hamburg 1797; A. W. von Liebhaber, Über das Verhältnis der Brennbarkeit der Hölzer, Helmstedt 1806.
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Ab 1800 wurden immer selbstverständlicher Grundsätze, Regeln, Gesetze, Theorien, seltener auch Experimente und die Geschichte der Erfindungen als Rahmen für die ordnende Beschreibung diverser Feuerungsanlagen benutzt. Der Artikel »Holzsparkunst« 1833 im Lexikon von Ersch-Gruber verdeutlicht ungeachtet seiner altbackenen Informationen die zurückgelegte Entwicklung.45 Der Artikel umfasst sieben Spalten, zitiert vornehmlich die nach 1800 gedruckte Literatur und beginnt mit folgender Definition: »Holzsparkunst (Holzersparung, Holzsparsamkeit) besteht in der Kunst, das Holz, namentlich das Bau-, Nutz- oder Werk-, Kohl- und Brennholz, nicht allein bei dem technischen und ökonomischen Gebrauche auf die höchst möglichste Art zu schonen und auf die geeignetste Weise zu verwenden, sondern auch darin, die Wärme und den Wärmestoff aus den Körpern, welche dergleichen enthalten, auf die zweckmäßigste und vorteilhafteste Art zu entbinden, zu entwickeln und herauszuziehen, und ihre Entweichung, so weit es in unsern Kräften steht und thunlich ist, zu verhüten.«
In den Ausführungen werden die wachsende Bevölkerung mit ihrem steigenden Holzbedarf und die »holzfressenden Gewerbe« nur kurz gestreift und etwas wortreicher die Holzverschwendung im ländlichen Bauwesen kritisiert. Schon in der zweiten Spalte wird zum eigentlichen Thema, dem Heizen in den Haushalten, übergeleitet mit der altbewährten Bemerkung: »Aber bei weitem am meisten wird in Städten und auf dem Lande das Holz bei den Feuerungen, auf Herden, Öfen, unter Blasen, Kesseln, Pfannen u.s.w. verschwendet.« In den langen Ausführungen über das Heizen aber kommen die inzwischen verfügbaren Verfahren der An- und Einordnung des Wissenswerten zum Zuge. Früher habe der »Mangel physikalischer Kenntnisse« zu »zweckwidriger Construction der Öfen und Herde« geführt, und deshalb sei »die meiste Wärme mit der Luft fort und in den Rauchfang« gegangen. Jetzt aber ermöglichten »allgemeine, aus den Fortschritten der Chemie und Physik hergeleitete und auf wahrer Kenntniß der Natur der Wärme, Wärmeentwicklung und Wärmeleitung beruhende Grundsätze« optimale Ofen- und Herdkonstruktionen. Nach dieser wissenschaftlichen Vergewisserung werden verschiedene Ofentypen hinsichtlich ihrer Einrichtung zur Leitung von »Feuer- und Rauchstrom« vorgestellt, dann die »Hitzkraft der verschiedenen Holzarten« und die Wärmeleitung der Ofenbaumaterialien erläutert und schließlich als weitere Holzsparvorkehrungen häufiges Ofenreinigen, Doppelfenster, Doppeltüren und hölzerne Wandverkleidungen empfohlen. Dieser bemerkenswert systematisch geordnete Lexikon-Artikel zur »Holzsparkunst«, belegt, dass die wissenschaftliche Transformation des Diskurses gegriffen hat. Doch er ist zugleich als primär an die Hausväter adressierter Text
45 J. S. Ersch u. J. G. Gruber, Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste, 2. Section, 10. Theil, Leipzig 1833, S. 190–193.
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ein Auslaufmodell. Schon die 1827 erschienene »Vollständige Feuerungskunde«, mit der Johann Karl Leuchs das vorhandene Wissen erstmals in aller Ausführlichkeit wohlgeordnet zusammenfasste, richtete sich an Architekten und Ingenieure, also an Fachleute.46 Leuchs Buch diente offenbar noch dem bayerischen Ingenieur Gustav von Kern als Vorlage für sein 1843 veröffentlichtes kenntnisreiches Kompendium mit dem Titel »Anleitung Zimmer- und Kochöfen, Sparkochheerde und Kesselheerde den neuesten Erfahrungen entsprechend zu bauen, mit vorzüglicher Rücksicht auf das Geschichtliche der Feuerungskunde, ihrer allmähligen Verbesserung und der darauf Bezug habenden Literatur für Töpfer und sonstige, mit Feuerungsanlagen Beschäftigte, sowie für alle Diejenigen, welche Holzersparung erzwecken wollen«. Kerns erklärte Absicht ist, das bislang nur in teuren, kompliziert abgefassten Schriften vorliegende und daher allein den »höher gebildeten Baukundigen« bekannte Wissen allgemeiner und vor allem den ausführenden Handwerkern zugänglich zu machen.47 Wie schon fünfzig Jahre vor ihm der Graf von Rumford zu Zeiten der Französischen Revolution, so bezweckte nun auch von Kern in der Zeit des Pauperismus, die Segnungen des technischen Fortschritts verstärkt auch der ärmeren Bevölkerung zugute kommen zu lassen. Auf Jahrzehnte der Verwissenschaftlichung von Praxis folgt damit die Popularisierung des durch Wissenschaft geprägten Wissens für Praktiker.
6. Die Hausfrauen und die Fachleute Hausfrauen und Mägde, die an den Öfen und Herden arbeiteten, bezog von Kern 1843 in die Gruppe derjenigen ein, die er im Titel seines Buches als »sonstige mit Feuerungsanlagen Beschäftigte, sowie alle Diejenigen, welche Holzersparnis erzwecken wollen«, ansprach. Dieses könnte ein Indiz dafür sein, dass die von den Hausvätern des neuen Mittelstandes im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vermehrt beanspruchte Oberaufsicht über die Tätigkeitsbereiche der Hausmütter in der Zwischenzeit zurückgegangen war und um 1840 die Zuständigkeit der Hausfrauen für den Haushalt nun auch für die Einführung technischer Neuerungen im Haushalt stärker akzeptiert wurde. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich die Ausgangssituation für die Kommunikation mit den Hausmüttern insofern entscheidend verändert, als die Trennung von Alltagswissenschaft und Akademischer Wissenschaft weiter vorangeschritten war. Zwar war 1791 in Krünitz’ Lexikon unter dem Stichwort »Küchen-Wissenschaft« noch zu lesen, diese sei »die nöthigste unter al46 J. K. Leuchs, Vollständige Feuerungs-Kunde, oder Darstellung der besten Bauart der Oefen zur Heizung der Zimmer, zum Kochen, Baken, Braten, Sieden, Abdampfen, Malzdarren und Troknen sowie des Heizens mit Dampf und mit erwärmter Luft, Nürnberg 1827. 47 G. v. Kern, Nürnberg 1843.
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len weiblichen Wissenschaften«. Im selben Artikel aber zeigt sich, dass dieser heute überraschende Gebrauch des Wortes Wissenschaft offenbar auch schon damals einer Erläuterung bedurfte: »Wenn Wissenschaft den Zusammenhang von Wahrheiten anzeigt, wovon man Grund und Beweis anzugeben vermag, so glaube ich, daß die gesammte Küchen-Kenntniß mit Recht eine Wissenschaft, zugleich aber auch eine weitläufige und schwere Wissenschaft, ist.«48 Der Nichtakademiker und anerkannte Wissenschaftler Graf von Rumford scheute sich nicht, auch der »Kochkunst« seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er propagierte den Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnisse für das Brennstoff-Sparprogramm ebenso wie den »Vortheil, der aus der Anwendung einiger der neuen Entdeckungen in der Chymie und andern Zweigen der Naturlehre und der Mathematik zur Verbesserung der Kochkunst geschöpft werden könnte«.49 Eben dieses wissenschaftliche Interesse an der Verbesserung alltäglicher Praktiken aber wurde ihm in Wissenschaftskreisen zum Vorwurf gemacht. Als der Graf als möglicher neuer Präsident der reformierten Bayerischen Akademie der Wissenschaften ins Gespräch kam, polemisierte einer seiner Gegner, Friedrich Heinrich Jacobi, am 20.9.1805 in einem Brief: »Rumford … achtet die Wissenschaften nur nach Maßgabe ihrer Tüchtigkeit zum Gewerbe und Erwerbe. Er ist von Haus aus ein Garkoch und sieht am Menschen nichts anderes als ein Wesen, das einen Magen hat, der gefüllt, und eine Haut, die bedeckt werden muß«.50 Graf von Rumford hatte seit den 1780er Jahren stets Wert darauf gelegt, seine für den Einzelhaushalt relevanten Erfindungen auch dem weiblichen Publikum möglichst anschaulich vorzustellen, bei ihnen um Akzeptanz und Nachahmung zu werben und sich darin deutlich von den deutschen Verfechtern der Holzsparkunst zu unterscheiden. Der Hausmütter-Ratgeber von 1808 zeigt, dass sich die Hausmütter in der Tat durchaus aktiv am Holzspar-Diskurs beteiligten, dabei ihre spezifischen Kenntnisse und Erfahrungen mit den Bedingungen des Haushaltens ins Spiel brachten und auffallend selbstbewusst die Ergebnisse ihrer eigenen Erfindungsgabe gleichrangig mit denen des »bekannten Grafen Rumford« erörterten. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts scheint sich auf Seiten der Frauen die Ausgangssituation für eine direkte Einmischung erheblich verändert zu haben. Als von Kern 1843 sein Handbuch veröffentlichte, hatten Hausfrauen wohl nur noch selten Gelegenheit, ihre aus der Haushaltsarbeit am Feuer entwickelten Vorstellungen, Interessen und Bedürfnisse direkt an Fachleute weiterzuleiten mit dem Auftrag, diese sollten je speziell geeignete Problemlösungen und Technologien entwickeln. Hausfrauen erhielten statt dessen jetzt häufiger Gelegenheit, den Fachleuten – seien es nun Handwerker, Wissenschaftler oder Geschäftsleute – zuzuhören, wenn diese ih-
48 Krünitz (wie. Anm. 34), 54. Theil, 1791, S. 499–516, Zitate S. 499, 507. 49 Rumford (wie. Anm. 22), Kleine Schriften, Bd. 2, S. 16 f. 50 Zit. nach Hammermayer, Gelehrtenassoziation (wie. Anm. 18), S. 196.
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nen mit der Aura des allgemeingültigen Wissens unterschiedliche Ofen- und Herdkonstruktionen anpriesen. Denn ebenfalls häufiger dürfte es um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Aufgabe von Frauen gewesen sein, aus dem vielfältigen Angebot eine Auswahl für ihren eigenen Haushalt zu treffen und ihre in jedem Fall mit beträchtlichen Geldausgaben verbundene Entscheidung mit Argumenten der Haushaltungskunst gegenüber dem haushaltsfern geldverdienenden Ehemann durchzusetzen.
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III. Arbeiten, Wirtschaften und Geschlechterdifferenz
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Wirtschaften mit der Geschlechterordnung Ein Essay*
Wirtschaftliche Entwicklung basiert seit dem 18. Jahrhundert wesentlich auf der in neuer Weise organisierten und vom technischen Fortschritt unterstützten, immer weiter ausdifferenzierten Teilung der Arbeit. Darüber herrscht seit Adam Smith Einigkeit in der Diskussion über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Relevanz der Arbeitsteilung. Allenfalls in der Frage, ob bzw. bis zu welchem Stadium dieser Prozess eher als gesellschaftlicher Fortschritt oder als Verlust zu bewerten ist, gingen und gehen die Meinungen auseinander. Was aber wurde in diesen Diskussionen unter Arbeitsteilung verstanden? Bezeichnenderweise konzentrierte sich die Wahrnehmung stets auf die sogenannte gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Mit dem Konzept der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ließen sich historisch und sozial die Ausdifferenzierungen zwischen Stadt und Land, Herr und Knecht, Stand und Klasse, zwischen einzelnen Berufen, Tätigkeiten und Teilelementen von Arbeitsprozessen erfassen. Jenseits dieser gesellschaftlichen Arbeitsteilung aber verblieb eine gleichsam ahistorische Restgröße. Dieses war die ebenso universell wie fundamental erachtete Teilung der Arbeit zwischen Männern und Frauen. Sie erschien als ›natürliche‹ Arbeitsteilung und galt nicht nur als prähistorischer Ausgangspunkt, sondern auch als dauerhaft relevantes Substrat aller sonstigen Ausdifferenzierungen der Arbeitsteilung. Zu den im 19. Jahrhundert beliebten bildreichen Berichten über das Leben in grauer Vorzeit gehörte daher nicht von ungefähr der Topos von der Frau als Sammlerin, die mit den Kindern am Feuer ausharrt, während der Mann als Jäger die Nahrung heranschafft. Auffallend ist, dass dem Verhältnis zwischen der gesellschaftlichen und der natürlichen Teilung der Arbeit in den klassischen Politischen Ökonomien ebenso wie in den Gesellschaftstheorien des späteren 19. Jahrhunderts so gut wie keine Bedeutung beigemessen wurde. Das gilt besonders für die englische und französische, weniger allerdings für die deutsche Theorietradition.1 In sozialpolitischen Visionen kam dieses Verhältnis dagegen um so deutlicher zur Sprache. Am ausgeprägtesten geschah dieses in den frühsozia* Zuerst erschienen in: K. Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen, Göttingen 1993, S. 40–67. 1 Interessante Hinweise zur deutschen Tradition gibt I. Richard, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik, Göttingen 1991, S. 214–231; vgl. bes. U. Beer, Theorien geschlechtlicher Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. 1984.
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listischen, sozialistischen und radikal-feministischen Visionen. Diese stellten überwiegend zwar nicht die Zweckmäßigkeit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, wohl aber deren vermeintliche Natürlichkeit in Frage. Sie hielten es um einer besseren Gesellschaft und um der Interessen von Frauen willen für erstrebenswert, auch die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern gesellschaftlich planvoll auszugestalten und zu diesem Zweck auch die Hausund Familienarbeiten in die Gesamtheit der gesellschaftlichen Arbeiten zu integrieren. Politisch weitaus mehr Gewicht hatten die von Anhängern der natürlichen Arbeitsteilung formulierten Visionen. Für sie waren zwei Entwicklungsprognosen relevant. Die optimistische Prognose besagte, die fortschreitende gesellschaftliche Arbeitsteilung werde der natürlichen Arbeitsteilung eine immer komfortablere Ausgestaltung ermöglichen und schließlich alle Frauen in die Lage versetzen, sich voll und ganz der Familienarbeit zu widmen, während alle Männer ihrer außerhäuslichen Berufsarbeit nachgehen. Die pessimistische Prognose eröffnete dagegen ein Krisenszenario, in welchem die weitere Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Arbeit schließlich zur Zerstörung der natürlichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und damit zur Auflösung jeglicher Zuständigkeit für Familienbelange führen würde. Was in der optimistischen Vision unkommentiert blieb, erschien in der pessimistischen als Bedrohung, dass nämlich die ›natürliche‹ geschlechtsspezifische Teilung der Arbeit keineswegs nur für die Ehepaar-Konstellation und die Familie virulent wird, sondern darauf angelegt ist, Arbeiten generell im Sinne der herrschenden Geschlechterverhältnisse zu ordnen. Um eben diese komplexe Verschränkung zwischen Geschlechter-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geht es mir in der folgenden Argumentation. Die wechselseitige Durchdringung dieser Ordnungsgefüge wurde im Zuge der Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung im Industriekapitalismus keineswegs aufgehoben. Dieses Alltagswissen hier ausdrücklich zu betonen, ist nicht überflüssig. Denn unser Nachdenken über Wirtschaft und Gesellschaft ist allzu geübt darin, zwischen öffentlichem und privatem Bereich säuberlich zu trennen. Wenn die Ordnung der Geschlechterverhältnisse und die Interaktion zwischen Frauen und Männern zu Debatte stehen, richtet sich die Aufmerksamkeit vorrangig auf den Privatbereich und weniger auf den Öffentlichkeitsbereich. Beim Nachdenken über den Öffentlichkeitsbereich dominiert dagegen die Fiktion des geschlechtsneutralen, bei näherem Hinsehen allerdings unschwer als Mann identifizierbaren Individuums.2 Im Gegenzug zu dieser Denk- und Wahrnehmungstradition möchte ich im folgenden die Relevanz des historischen Wechselspiels zwischen der ge2 Vgl. zur Kritik der Theorietradition C. Pateman, The Sexual Contract, Oxford 1988; M. A. Pujol, Feminism and Antifeminism in Early Economic Thought, Brookfield/Vermont 1992; zur Neuorientierung vgl. u. a. L. Unterkircher u. I. Wagner (Hg.), Die andere Hälfte der Gesellschaft (Österreichischer Soziologentag 1985), Wien 1987.
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schlechtsspezifischen Arbeitsteilung auf der einen und der marktorientierten Wirtschaftsentwicklung auf der anderen Seite in einigen Punkten erläutern. Der Prozess des »gendering«, also des immer erneuten Herstellens und Bekräftigens der sozial erwünschten Geschlechterordnung, war und ist ein elementarer Bestandteil des Wirtschaftens, und umgekehrt geht die Wirtschaft in ihrer je spezifischen Struktur und Dynamik in den sozialen Prozess des »gendering« ein.3 Um dieses genauer zu erörtern, skizziere ich zunächst einige zählebige Klischees, die die geschlechtsspezifische Analyse und Deutung der Wirtschaftsund Technikentwicklung nachhaltig verstellt haben. Danach formuliere ich einige Überlegungen, wie sich der Druck des seit dem späten 18. Jahrhundert beschleunigten wirtschaftlichen und technischen Wandels auf das System der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ausgewirkt haben dürfte. In einem letzten Abschnitt geht es mir schließlich um die Frage, wie die kulturell tradierte Geschlechterhierarchie auch innerhalb der markt- und profitorientierten Erwerbsarbeit und Produktionsorganisation reproduziert und wirtschaftlich genutzt wurde.
1. Wider die Selbstverständlichkeit von Klischees Die im 19. Jahrhundert auf neue Weise relevant gewordene Vorstellung von einer ›natürlichen‹ Arbeitsteilung jenseits aller gesellschaftlichen Arbeitsteilung hat bis heute deutliche Spuren in der Vorstellung über vergangene Entwicklungen hinterlassen. Das ist um so überraschender, als es schon einmal seit den späten 1890er Jahren Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen zuerst in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wenig später auch in Deutschland gelungen war, die Impulse der Frauenbewegung weiterzutragen und mit empirischen Untersuchungen und Gegenvisionen die herrschenden Anschauungen und gängigen Vorurteile wirkungsvoll herauszufordern.4 Warum diese Aufbrüche schon in den zwanziger Jahren ihre provozierende Kraft wieder einbüßten, bleibt zu untersuchen. Es dauerte danach bis zu den 1980er Jahren, bevor kritische Reflexionen darüber, in welchem Maße ungeprüfte Vorurteile unsere Vorstellungen über Arbeitsteilung, wirtschaftliche Entwicklung, technischen Wandel und Geschlechterbeziehungen geprägt und das genaue Wahrnehmen historischer Entwicklungen verstellt haben, erneut ein breiteres Echo auch in
3 Vgl. G.-A. Knapp, Segregation in Bewegung: Einige Überlegungen zum »Gendering« von Arbeit und Arbeitsvermögen, in: K. Hausen u. G. Krell (Hg.), Frauenerwerbsarbeit. Forschungen zur Geschichte und Gegenwart, München 1993, S. 1–20. 4 Vgl. Pujol (wie Anm. 2) sowie M. Berg, The First Women Economic Historians, in: Economic History Review 45, 1992, S. 308–329. In Deutschland wurde u. a. die Dissertation von A. Salomon, Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit, Leipzig 1906, breit diskutiert.
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der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschung fanden. Vier solcher irreführenden Deutungsmuster seien kurz vorgestellt.5 1. Die älteste der stereotyp wiederholten Ansichten besagt, dass es im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die neuen Maschinen gewesen seien, die die Frauen zur Arbeit in den Fabriken und damit zur Trennung von ihren Familien gezwungen hätten. Dabei schwingt Anstößiges mit. Frauen in den Fabriken, und das bedeutet fern von Haushalten, arbeiten zu sehen, wurde von bürgerlichen Beobachtern als Zeichen der Auflösung von Ordnung gesehen. Dass Männer in die Fabriken gingen, erschien demgegenüber als in der Ordnung. Die Rede ist in diesem Zusammenhang von Fabrikarbeit unter Einsatz von Maschinen. Dabei entgeht der Beachtung, dass selbst in England bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch vergleichsweise wenige Frauen und Männer in Fabriken arbeiteten. Neben den Dampfmaschinen interessieren vor allem die Spinn- und später auch die Webmaschinen. Die Maschinen sollen die Arbeit körperlich so leicht und so unqualifiziert gemacht haben, dass nun auch Frauen und selbst Kinder an die Stelle der Männer treten konnten. Diese bereits von Zeitgenossen formulierte Ansicht scheint auch später einer Überprüfung ihres Wahrheitsgehaltes kaum bedurft zu haben. Dennoch ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass die Mehrheit der Frauen und Kinder in den Fabriken zunächst weiter genau denselben Typ von Arbeiten verrichteten wie schon vorher in den Manufakturen und vor allem in der Hausindustrie, nämlich diverse Hilfs- und Zuarbeiten. Spinnen war zwar in der Hausindustrie Frauenarbeit gewesen. Aber in den Spinnfabriken arbeiteten auch und in einigen Regionen sogar überwiegend Männer als Spinner. Ob nun in der Fabrik männliche oder weibliche Spinner an der Spinnmaschine gearbeitet haben mögen, immer war es erforderlich, dass andere Arbeitskräfte für die Spinner die umfangreich erforderlichen Zuarbeiten leisteten, und das taten fast ausnahmslos Frauen und Kinder und zwar meistens ohne Maschinenhilfe. Die Entwicklung der in den einzelnen Regionen und Ländern höchst unterschiedlich geordneten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in den Fabriken 5 Anknüpfend an die Arbeiten von A. Clark, Working Life of Women in the Seventeenth Century (1919), London 1982, und I. Pinchbeck, Women Workers in the Industrial Revolution 1750–1850 (1930), London 1981, kam es insbesondere in Großbritannien zu einer Revision der Industrialisierungsgeschichte; vgl. die Forschungsberichte von K. Honeyman u. J. Goodman, Women’s Work, Gender Conflict, and Labour Markets in Europe, 1500–1900, in: Economic History Review 44, 1991, S. 608–628; P. Hudson u. W. R. Lee, Women’s Work and the Family Economy in Historical Perspective, in: dies. (Hg.), Women’s Work and the Family Economy in Historical Perspective, Manchester 1990, S. 2–47. Besonders eindrucksvoll wird die Geschlechtsspezifik der Entwicklung herausgearbeitet u. a. von: M. Berg, The Age of Manufacturers, 1700–1820, London 1985; L. Davidoff u. C. Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class 1780–1850, Chicago 1987; B. Hill, Women, Work, and Sexual Politics in Eighteenth-Century England, Oxford 1989; K. D. M. Snell, Annals of the Labouring Poor. Social Change and Agrarian England, 1660–1900, Cambridge 1985.
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der Textilindustrie harrt noch der vergleichenden Untersuchung. Dabei ist geschärfte Aufmerksamkeit geboten, will man nicht unversehens wieder in gängige Interpretationsschemata zurückfallen. Ein solcher Lapsus unterlief z. B. Peter Dudzik in seiner 1987 veröffentlichten, vorbildlich genauen Untersuchung über die Entwicklung der Fabrikspinnerei in der Schweiz.6 Um zu erläutern, dass Frauen und Kinder in der Spinnfabrik ihre Arbeitsplätze beim Reinigen der Baumwolle und bei allen sonstigen Vor- und Begleitarbeiten des Spinnens hatten, bediente er sich der bekannten Floskel: »Kinder und Frauen wurden für die Arbeiten eingesetzt, für die sie besser geeignet waren als Männer.« Ebenso ungeprüft schleichen sich bei ihm unversehens als begründende Zusätze auch die viel gerühmte Geschicklichkeit und Fingerfertigkeit ein. Ja, Dudzik behauptet sogar ohne Zögern: »Der Einsatz von Kindern und Frauen war somit weitgehend durch die Anforderungen der eingesetzten Maschinen an die Arbeitsplätze bestimmt« und »der Spielraum der Unternehmer für den Einsatz der verschiedenen Arbeitskategorien war dementsprechend begrenzt.« Diese Argumentation enthält verräterische Trugschlüsse. Es mag durchaus zutreffen, dass es nicht möglich war, Kinder und vielleicht auch Frauen für die von Männern ausgeführten Arbeiten gleichermaßen produktiv einzusetzen. Aber vermutlich hätten sehr wohl auch Männer die Kinder- und Frauenarbeiten ausführen können. Und wäre ihnen für diese Arbeiten mehr als ein Spinner-Lohn gezahlt worden, dann hätten sie diese Arbeiten wohl auch ausführen wollen. Wenn es gilt, den überfälligen Abschied von hinderlichen Denkgewohnheiten, die unsere bisherige Deutung von Industrialisierungsprozessen nachhaltig strukturiert haben, konsequent zu vollziehen, dann kann es nicht länger angehen, Männer prinzipiell für unfähig zu erklären, auch sogenannte Frauen- und Kinderarbeit auszuführen; und ebenso wenig ist es dann noch zulässig, von den typischerweise Frauen zugeordneten Arbeiten einfach darauf zu schließen, dass Frauen für diese Arbeiten eine spezifische Eignung anzubieten hatten. Das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen dürfte in jedem Fall zunächst einmal die tragfähigere Erklärung dafür abgeben, dass Frauen in den Fabriken nur bestimmte Arbeiten ausführten. Auch dass Frauen bestimmte andere Arbeiten nicht ausführten, hat meistens weniger mit ihrem Mangel an erforderlicher Eignung zu tun; dieser hätte sich durch gezielte Ausbildung unschwer beheben lassen. Entscheidender dürfte vielmehr sein, dass Männer erfolgreicher waren, bestimmte Arbeiten auf Dauer exklusiv für sich zu reklamieren. So betrachtet wird es dann um so interessanter weiterzufragen, wie und warum es möglich war, trotz der schnellen Abfolge technischer Innovationen insgesamt dennoch immer wieder generell festzuschreiben, dass für bestimmte Maschinerien und Arbeitsplätze entweder allein Männer oder allein Frauen die geeigneten Arbeitskräfte zu sein hatten. Warum kam die Nähmaschine für die Stoffverarbei6 P. Dudzik, Innovation und Investition. Technische Entwicklung und Unternehmensentscheide in der schweizerischen Baumwollspinnerei 1800 bis 1916, Zürich 1987, Zitate S. 71 u. 72.
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tung, die Schreibmaschine und die Telefonvermittlung überwiegend in Frauenhand? Woher stammte die verbreitete Gewissheit, dass das weibliche Geschlecht für alle Sorten möglichst im Sitzen ausgeführter, repetitiver Teilarbeiten besonders geeignet sei?7 2. Für die Phase der Hochindustrialisierung genießt eine nicht weniger problematische zweite Unterstellung nach wie vor Ansehen. In dieser erscheinen Frauen nicht länger als Spielball der Maschinerien, sondern als Akteurinnen. Frauen mit ihren Niedriglöhnen halten in diesen Deutungen als Sündenbock dafür her, dass der technische Fortschritt die angestammte Männerarbeit zu entwerten, zu dequalifizieren und in letzter Konsequenz überflüssig zu machen droht. Dieses altbewährte Verdrängungsargument stammt bereits aus der Zunfttradition des Handwerks.8 Das gleiche gilt für die daraus folgende Suche nach Abwehrstrategien, um die stets gefürchtete Arbeitskonkurrenz zwischen Frauen und Männern möglichst auszuschalten. Im späteren 19. und 20. Jahrhundert wurden nicht zuletzt die speziellen Arbeiterinnenschutzgesetze immer wieder gezielt auch als wirksames Vehikel einer konsequenten Segregierung der Arbeitsplätze genutzt.9 Seine stärkste politische Brisanz entfaltete das Verdrängungsargument erst nach dem Ersten Weltkrieg, als bei gleichzeitiger hoher, zunächst kriegsbedingter, dann struktureller und konjunktureller Arbeitslosigkeit das wirtschaftliche Entwicklungsprogramm ›Rationalisierung‹ hieß und dieses die immer konsequentere Zerlegung der Arbeit in leichter kontrollierbare und maschinell steuerbare Teilarbeiten verallgemeinerte.10 Statt weiter mit der zeitgenössischen Sündenbock-Denkfigur implizit auch eine geschlechtsspezifische Hierarchie der Arbeitskräfte als so selbstverständlich zu unterstellen, dass sich deren nähere historische Erforschung zu erübrigen scheint, wäre es sehr viel aufschlussreicher zu untersuchen, wann, wo und warum angestammte qualifizierte Männerarbeitsplätze tatsächlich abgebaut wurden und Frauen als Nutznießerinnen dieser Entwicklung günstigere oder auch nur zahlreichere Erwerbschancen erhielten. Es ist bekannt, dass in Verwaltung, Verkauf und bei repetitiver Teilarbeit mit und ohne Fließband 7 Vgl. z. B. M. W. Davies, Woman’s Place is at the Typewriter. Office Work and Office Workers, 1870–1930, Philadelphia 1982; U. Nienhaus, Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten, Berlin 1982. 8 Vgl. J. Quataert, The Shaping of Women’s Work in Manufacturing: Guilds, Households and the State in Central Europe, 1648–1870, in: American Historical Review 90, 1985, S. 1122– 1148. 9 Anregend hierzu J. Lown, Women and Industrialization. Gender at Work in NineteenthCentury England, Cambridge 1990; M. L. Stewart, Women, Work, and the French State. Labour Protection and Social Patriarchy, 1879–1979, Kingston 1989. 10 Vgl. u. a. S. Rouette, Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1993; R. Hachtmann, Industriearbeit im »Dritten Reich«, Göttingen 1989; T. Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen »Ordnung der Arbeit«, Opladen 1989.
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der Frauenerwerbsbereich nicht auf Kosten von Männerarbeitsplätzen expandierte, sondern dass eine völlig neue, expandierende Nachfrage nach Arbeitskräften zunehmend von vornherein nicht mit männlichen, sondern mit weiblichen Arbeitskräften befriedigt wurde. Wenn dem so ist, warum konnte aber dann das mit dem Überwechseln vom informellen zum formellen Arbeitsmarkt sichtbarere Hervortreten von erwerbstätigen Frauen stets neuen Stoff für die von Arbeitern, Angestellten und Beamten so viel zitierte VerdrängungsThese liefern? Die Beliebtheit des Sündenbock-Arguments stand in der Arbeiterbewegung ganz offensichtlich in ursächlichem Zusammenhang mit der geschlechtsspezifischen Problematik der Klassensolidarität. Nachdem sich die sozialdemokratischen Männer darauf eingelassen hatten, nicht länger das Verbot der Frauenarbeit zu fordern, hätten sie sich aus schlichtem Eigennutz darüber hinaus auch für die Angleichung von Frauen- und Männerlöhnen stark machen müssen. So zumindest lautete die in der sozialistischen Theorie entwickelte Empfehlung. Denn es wurde erwartet, dass der vielstimmig beklagte Lohndruck durch Niedriglöhne mit der organisatorischen und technologischen Weiterentwicklung der Produktionsprozesse eher zu- als abnahm. Die Gewerkschaften aber lösten diese allenfalls theoretisch akzeptierte Zielvorgabe niemals durch eine entsprechende Kampfstrategie auch praktisch ein. Es war schon schwierig genug, über die Lohnhierarchie hinweg alle männlichen Lohnarbeiter zusammenzuführen. Deren gemeinsame, wohl schon immer auch als sexuelle Belästigung ausgespielte Abgrenzung gegenüber den weiblichen Arbeitskräften könnte diese Aufgabe erleichtert haben. Einer politischen Strategie der forcierten Annäherung von Frauen- und Männerlöhnen aber stand ganz offensichtlich entgegen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit weiterhin an einem zumindest im Prinzip als Hierarchie- und Herrschaftsverhältnis geordneten Geschlechterverhältnis orientiert blieben. Das anhaltende Reden über die Verdrängungs-Gefahr hat daher vermutlich einen äußerst bedrohlichen Beiklang gehabt. 3. Auch der komplizierten Chiffre ›Qualifikation‹ ist mit noch größerer Skepsis zu begegnen als bisher.11 Denn was immer es mit dem lohn- und statusrelevanten Merkmal ›Qualifikation‹ sonst noch auf sich gehabt haben mag, in jedem 11 Die Zeitschrift Gender & History 1, 1989, brachte hierzu in H. 2 stimulierende Aufsätze von M. E. Wiesner, E. Faue, C. Cockburn, K. McClelland, A. Baron, E. Johansson; vgl. außerdem: C. Cockburn, Brothers. Male Dominance and Technological Change, London 1983; dies., Machinery of Dominance. Women, Men, and Technological Know-How, London 1985; dies., Das Material männlicher Macht, in: L. Barrow u. a. (Hg.), Nichts als Unterdrückung? Geschlecht und Klasse in der englischen Sozialgeschichte, Münster 1991, S. 67–84; A. Philipps u. B. Taylor, Sex and Skill. Notes towards a Feminist Economics, in: Feminist Review 6, 1980, S. 79–88; siehe auch die Aufsätze von B. Kassel, B. Orland, K. Zachmann in: K. Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993.
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Fall steht fest, dass Qualifikation als Privileg des männlichen Geschlechts beansprucht und auch noch unter den Bedingungen einer allgemeinen Gewerbefreiheit hartnäckig verteidigt worden ist.12 Frauen blieb jahrzehntelang der Zugang zu anerkannter qualifizierender Ausbildung versperrt. Das sollte mitbedacht werden, wenn die Mehrheit der Lohnarbeiterinnen in qualitativen und statistischen Quellen kaum anders, denn als Hilfsarbeiterinnen oder ungelernte Arbeiterinnen charakterisiert werden. Welche Bedeutung das Merkmal ›Qualifikation‹ für die geschlechtsspezifische Verteilung und Bewertung von Arbeiten tatsächlich hatte, bedarf einer genaueren historischen Untersuchung. Wir wissen bislang nur ansatzweise, inwiefern und bis wann es denn überhaupt möglich und sinnvoll war, die Arbeitskräfte an ihren diversen Industriearbeitsplätzen im Hinblick auf die jeweils dort erwartete bzw. erbrachte Leistung danach zu unterscheiden, ob sie speziell für diese Arbeit einschlägig oder auch nur generell handwerklich ausgebildet worden waren oder nicht. Was hatte in den verschiedenen Branchen die Tatsache einer handwerklichen Ausbildung noch mit den de facto ausgeübten Arbeiten zu tun? Im welchem Verhältnis standen bei männlichen Arbeitskräften handwerkliche bzw. sonstige betriebliche Ausbildung und Entlohnung am Fabrikarbeitsplatz zueinander? Ebenfalls ungeklärt ist die Frage, inwiefern bei den sogenannten ungelernten Arbeiten deutlich zwischen Frauen- und Männerarbeiten unterschieden werden konnte. Bekannt ist, dass auch Frauen gerade wegen bestimmter Arbeitsfähigkeiten, die sie anzubieten hatten, gesuchte Arbeitskräfte waren, auch wenn in diesem Zusammenhang nicht von ›Qualifikation‹ die Rede war. Dazu zählten die vielfältigen Arbeitsvermögen, die sie durch ihre von früher Kindheit an täglich eingeübten Erwerbs-, Hausund Familienarbeiten ausgebildet hatten. Wie auch immer die betriebliche Nachfrage mit dem individuellen Angebot von ›Qualifikation‹ verknüpft worden sein mag, mit Sicherheit ist es unzulässig, aus der Tatsache, dass Frauen schlechter entlohnt wurden als Männer, zu folgern, dass Frauen unqualifiziertere oder körperlich leichtere Arbeiten geleistet haben als Männer. In der umgekehrten Richtung dürfte die Schlussfolgerung eher zutreffen: Frauen wurden allein deshalb, weil sie Frauen waren, geringer entlohnt als Männer. Diese Einsicht hat Käthe Schirmacher13 schon 1909 12 Vgl. außer K. Hagemann, Ausbildung für die »weibliche Doppelrolle«. Berufswünsche, Berufswahl und Berufschancen von Volksschülerinnen in der Weimarer Republik, in: Hausen, Geschlechterhierarchie (wie Anm. 11), S. 214–235, auch R. Reith, Zur beruflichen Sozialisation im Handwerk vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Umrisse einer Sozialgeschichte der deutschen Lehrlinge, in: Vierteljahrsschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 76, 1989, S. 1–27; Snell (wie Anm. 5), S. 270–319, weist für England nach, dass seit dem späten 18. Jh. Mädchen sehr viel seltener und in sehr viel weniger Berufen eine Lehre erhalten als noch im 18. Jh. 13 K. Schirmacher, Wie und in welchem Maße läßt sich die Wertung der Frauenarbeit steigern?, Leipzig 1909, zit. n. G. Brinker-Gabler (Hg.), Frauenarbeit und Beruf, Frankfurt a. M. 1979, S. 199 f.
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in unmissverständlicher Deutlichkeit formuliert: »Der Mann wird beruflich höher gewertet wegen größerer Fähigkeit, größerer Ansprüche und größerer Lasten. Die beiden letzten Faktoren bilden die Geschlechtsprämie des Mannes, den Geschlechtszuschlag. Die Frau wird beruflich geringer gewertet wegen geringerer Fähigkeit, geringerer Ansprüche und geringerer Lasten. Die beiden letzten Faktoren bilden ihre Geschlechtsabzug.« Interessant wird es dann allerdings weiterzufragen, ab wann und warum die in früheren Zeiten doch so selbstverständlich als rechtens erachtete Tatsache des Niedriglohnes später als eine Folge mangelnder Qualifikation interpretiert wurde. 4. Der Kuriosität halber sei noch eine vierte, erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert und möglicherweise durch moderne Reklame popularisierte Deutung des Verhältnisses von technischen Innovationen und Frauen wenigstens kurz erwähnt. Diese Deutung gibt sich paternalistisch wohlmeinend. Gleichsam mit höflicher Verbeugung wird suggeriert, der technische Fortschritt habe gegenüber dem ›schwachen Geschlecht‹ eine ganz besonders fürsorgliche Rolle übernommen. Er soll – einem gütigen Deus ex Machina gleich – in Gestalt einzelner Maschinen den Frauen schließlich zur lang erstrebten Emanzipation verholfen haben. Maschinen, denen eine solche Wunderkraft am häufigsten zugeschrieben worden ist, sind die Nähmaschine, die Schreibmaschine, das Telefon, die Waschmaschine und selbst das Fahrrad und das Automobil. Sie sollen den Frauen lästige Hausarbeiten abgenommen, ihnen Berufsmöglichkeiten eröffnet und räumliche Mobilität außerhalb des Hauses beschert haben. Überspielt wird dabei, dass unter Emanzipation üblicherweise die Aufhebung rechtlicher, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung verstanden wird. Auffallend ist, dass Maschinen eine solche emanzipatorische Nachhilfe anscheinend nur dem schwachen Geschlecht zuteil werden ließen. Denn Männer, so will es die komplementäre Legende, mussten sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt heroisch dagegen wehren, dass ihnen die angestammten Privilegien, Kompetenzen und Chancen in der Erwerbsarbeit durch neue Maschinen streitig gemacht wurden.
2. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die Flexibilität eines Strukturprinzips Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist auch heute noch ein universales Prinzip der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Es ist allerdings ein Prinzip, welches in seinen konkreten Formen durch das Zusammenspiel von kulturellen, sozialen und ökonomischen Faktoren immer wieder neu ausgeprägt und den jeweiligen historischen Konstellationen und Bedürfnissen angepasst wird. Daher zeigt die konkrete Ausgestaltung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bemerkenswerte Variationen. Fast immer liegt zwar die Zuständigkeit für die Ver197
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sorgung kleiner Kinder, für die Zubereitung der Mahlzeiten und für die Herstellung und Reinigung von Kleidern ausschließlich bei Frauen, solange diese Arbeiten nicht von Großhaushalten oder Dienstleistungseinrichtungen übernommen werden. Doch das besagt noch wenig darüber, welche konkreten Arbeiten insgesamt den Frauen und welche den Männern jeweils zugeordnet werden. Innerhalb einer Gesellschaft werden die vielfältigen Arbeitsaufgaben üblicherweise milieu- und situationsbedingt höchst unterschiedlich auf Frauen und Männer verteilt. Bäuerliche Wirtschaften kennen andere Regeln als Wirtschaften der verschiedenen zünftigen oder nicht mehr zünftigen Stadthandwerke; die Arbeitsanforderungen in bildungsbürgerlichen Arbeitszusammenhängen sind andere als die im kaufmännischen oder gewerblichen Großbetrieb. Stets aber führt die jeweilige geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu einer mehr oder weniger verbindlichen geschlechtsspezifischen Zuordnung von Arbeiten und Arbeitsgeräten. Das gilt für Arbeiten, die Frauen und Männer zeitlich und räumlich voneinander getrennt ausführen ebenso wie für Arbeiten, die Frauen und Männer kooperativ als Gruppe erledigen. Zu bedenken ist nicht zuletzt, dass die meisten Gesellschaften einen gewissen Spielraum zulassen, wie strikt die normativen Grenzen zwischen Frauen- und Männerarbeiten einzuhalten sind bzw. wie geschmeidig diese Norm von Fall zu Fall außer Acht gelassen und die Arbeitsteilung je nach den aktuellen Erfordernissen vorgenommen werden kann. Das Prinzip der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zeigt daher in seiner konkreten Umsetzung stets eine große Vielfalt der Formen, in welchen bestimmte Arbeiten jeweils Frauen oder Männern zugewiesen und von diesen auch ausgeführt werden. Die Elastizität, mit der sich das Prinzip den gegebenen Anforderungen anpassen kann, ist offenbar die Voraussetzung für seine auch unter dem erhöhten Druck des sozialen Wandels erwiesene Stabilität.14 Verschiedene Konstellationen sind denkbar, in denen es im großen Stil zu einer Reorganisation der jeweils gegebenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ihrer entsprechenden Zuordnung von Gerätschaften kommen muss. Solche Situationen treten ein, wenn sich das Produktionsziel der Arbeit verlagert z. B. von der vorrangigen Selbstversorgung hin zur vermehrten und höher spezialisierten Marktproduktion; wenn die Arbeitsorganisation neuen Anforderungen genügen muss bzw. von neuen Instanzen festgelegt wird und z. B. als Produktionseinheit nicht länger die familial-häusliche Gruppe, sondern ein agrarischer, gewerblicher oder Dienstleistungs-Großbetrieb bevorzugt wird; wenn neue Rohstoffe und neue Arbeitsinstrumente wie Kartoffel, Baumwolle oder Spinnmaschine zum Einsatz kommen. Es muss uns also nicht übermäßig verwundern, dass beim Mahlen des Getreides Handmühlen überwiegend 14 Vgl. J. Martin u. R. Zoepffel (Hg.), Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1989; M. Mitterauer, Familie und Arbeitsteilung. Historisch vergleichende Studien, Wien 1992.
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von Frauen, Großmühlen dagegen von Männern benutzt wurden; dass Sicheln von Frauen und Männern eingesetzt wurden, wohingegen sich das Mähen des Getreides mit der Sense im Schnitterpaar zur reinen Männerarbeit entwickelte, weil Frauen nun Zug um Zug das geschnittene Getreide zu Garben bündelten. Bekannt ist auch, dass der Webstuhl ein Arbeitsgerät der Frauen war, solange das Weben dem häuslichen Bedarf diente; dagegen saßen in der gewerblichen Weberei bis in das 19. Jahrhundert hinein überwiegend Männer am Webstuhl und zwar nicht nur im städtischen Handwerk, sondern auch in der ländlichen Hausindustrie. Letzteres galt allerdings nur, solange Frauen die erforderlichen Zuarbeiten und vor allem das Spinnen ausführten. Als später billigeres und zum Weben taugliches Fabrikgarn auf dem Markt angeboten wurde, gaben die Frauen das Spinnen auf, um nun wie die Männer am Webstuhl für den Markt zu weben. Für die Milchwirtschaft ist gezeigt worden, wie im Zuge besserer Markterschließung, wachsender Nachfrage und steigender Preise für Molkereiprodukte schließlich Männer die zunächst in den bäuerlichen Wirtschaften von Frauen ausgeführten Arbeiten des Melkens, Butterns und Käsemachens übernahmen und in den neu entstehenden Molkereien als spezialisierte Facharbeiter tätig wurden.15 Um zu verstehen, wie das Prinzip der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung unter dem Druck des sozialen Wandels immer erneut durch Anpassung stabilisiert wurde, ist noch ein weiteres Charakteristikum von Bedeutung. Wie immer die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern je konkret ausgebildet war, sobald es eine Arbeitsteilung von einiger Dauer war, hatte sie auch als angemessener Ausdruck der gesellschaftlich erwünschten Männerdominanz zu gelten.16 Mit dieser Feststellung erübrigt sich die Qual der schwierigen Unterscheidung, ob nun die mindere Bewertung der jeweiligen Frauenarbeit eine Folge der Männerdominanz ist oder ob die Männerdominanz dazu führt, dass Frauen stets die als minderwertig geltenden Arbeiten ausführen. Solange in einer Gesellschaft Männerdominanz herrscht, wird sie sich auch in der Organisation und Bewertung der Arbeit ausdrücken. Sobald es also innerhalb des Systems der Arbeitsteilung zu dauerhaften Verschiebungen kommt, muss einerseits die neue Verteilung als eine »gerechte« Verteilung neu verankert werden und andererseits auch eine neue verbindliche Verständigung darüber stattfinden, dass Männer nun 15 Außer H. Wunder, »Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert.« Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit, in: Hausen, Geschlechterhierarchie (wie Anm. 11), S. 19–39, vgl. J. Jensen, Loosening the Bonds. Mid-Atlantic Farm Women, 1750– 1850, New Haven 1986, bes. S. 79–113 zur Buttererzeugung; D. W. Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1990, verfolgt die Veränderung der Arbeitsteilung in einem Dorf; Snell, (wie Anm. 5) hat für England im 18. und frühen 19. Jh. rekonstruiert, wie sich die geschlechtsspezifische Nachfrage nach Arbeitskräften einschneidend veränderte. 16 Bildmaterial hierzu bei T. Antonietti, Ungleiche Beziehungen. Zur Ethnologie der Geschlechterrollen im Wallis, hg. vom Walliser Kantonsmuseum, Sitten 1989, vgl. auch Cockburn (wie Anm. 11).
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die statushöheren Arbeiten ausführen, auch wenn dieses früher Frauenarbeiten waren, bzw. Frauen nun die statusniederen Arbeiten ausführen, auch wenn dieses vorher Männerarbeiten waren. Auf welche Weise solche Verständigungen gelangen oder auch misslangen, ist in der historischen Forschung bislang eine noch kaum untersuchte Frage. Beim derzeitigen Stand des Wissens aber ist es durchaus möglich, mit einigen systematisierenden Überlegungen zumindest zu skizzieren, wie der beschleunigte soziale Wandel immer erneut auch das Ordnungsgefüge der geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung der Arbeiten und damit die Ordnung der Geschlechterverhältnisse insgesamt herausgefordert haben muss. Frauen und Männer dürften diese Turbulenzen höchst unterschiedlich positiv oder negativ als Chance oder Verlust erlebt haben; in jedem Fall aber hatten sie die intensivierte Dynamik der wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen sehr konkret in ihr Leben und in die normative Ordnung ihrer Lebenswelt zu integrieren. Bereits im 18. Jahrhundert bahnten sich in der kulturell durchgeformten Ordnung der Produktions- und Geschlechterverhältnisse von Stadt und Land tiefgreifende Veränderungen an, die sich dann im 19. Jahrhundert allmählich verallgemeinerten. Die Herausbildung der agrarischen und gewerblichen Lohnarbeit im großen Stil, die Vermehrung der haushaltsfernen Produktion von Gütern und Dienstleistungen für den Markt und das Entstehen eines weiträumigen und ausdifferenzierten Arbeitsmarktes veränderten auch die Formen, Inhalte und Bewertungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Diese Veränderungen stießen allerdings das Prinzip der nach Geschlechtern geteilten und hierarchisch strukturierten Arbeitsordnung keineswegs um. Ganz im Gegenteil, die im System der gesellschaftlichen Arbeit für Frauen und für Männer vorgesehenen Plätze wurden in ihren Unterschieden deutlicher, allgemeiner und dauerhafter markiert.17 Dazu trugen folgende Veränderungen maßgeblich bei: 1. Darüber, was die erwünschte, notwendige und tatsächliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und die den Arbeitseinsatz regelnde Geschlechterordnung sein sollte, entschieden nun zunehmend neue Instanzen. Die Haushalte und lokalen beruflichen Gruppierungen und Obrigkeiten verloren allmählich an Einfluss. Ihnen gegenüber gewannen an Einfluss auf der einen Seite die Unternehmer, die nach eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen nun individuell über den Einsatz ihrer Arbeitskräfte zu entscheiden trachteten, und auf der anderen Seite gleichsam als Ergänzung und Korrektiv der Unternehmer die großräumig, regional und überregional agierenden staatlichen Verwaltungen, Kirchen und Vereine. Letztere versuchten mit beträchtlichem Aufwand im Namen
17 Vgl. hierzu außer Hill und Snell, (beide wie Anm. 5), auch S .O. Rose, Gender Segregation in the Transition to the Factory. The English Hosiery Industry 1850–1910, in: Feminist Studies 13, 1987, S. 163–184.
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des gesellschaftlichen Gesamtwohls darauf hinzuwirken, dass die kulturell tradierte Ordnung der Geschlechterverhältnisse unter der Dynamik und dem Veränderungsdruck, welcher von der Revolutionierung der gesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse ausging, nicht zusammenbrach. Diese Verschiebung der Definitionsmacht wurde offenbar von entscheidender Bedeutung dafür, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nun weniger auf Brauch und zunehmend auf allgemeinere, meistens als ›Natur‹ legitimierte Prinzipien zurückgeführt und sehr viel verbindlicher als früher festgeschrieben wurde.18 2. Die folgenreiche Aufteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit in bezahlte und unbezahlte Arbeit verallgemeinerte sich und kam stärker zur Wirkung. Dieser für den Prozess der Industrialisierung entscheidende wirtschaftliche und soziale Strukturwandel hatte nicht zu unterschätzende Folgen für die Geschlechterordnung: Denn erstens setzte sich mit der Verallgemeinerung von Lohnarbeit allmählich für immer mehr Arbeitsverhältnisse die Praxis durch, dass der erarbeitete Lohn ausschließlich in Geld und nicht mehr in Naturalien ausgezahlt wurde. Unterschiedliche Arbeitsleistungen aber allein mit dem universell verwendbaren, einheitlichen Maßstab des Geldes zu bewerten, heißt gleichzeitig immer auch, die Hierarchien der Arbeitsteilung auf neue Weise auszumessen. Der Geldmaßstab macht es möglich, durch einen Wertvergleich die qualitativ eigentlich unvergleichbaren Unterschiede nun in Heller und Pfennig auszurechnen. Auch die Geschlechterhierarchie erhält damit in den Arbeits- und Erwerbsverhältnissen über den Geldlohn eine auf Vergleichbarkeit angelegte Ausdrucksform. Die gesellschaftliche Dominanz von Männern erscheint unter den Bedingungen von Markt- und Geldverhältnissen dementsprechend als wirtschaftliche Höherwertigkeit und der geringere soziale Rang der Frauen als wirtschaftliche Minderwertigkeit. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern dürften allerdings zweitens noch entscheidender dadurch umgeprägt worden sein, dass im täglichen Zusammenleben die immer konsequentere Aufteilung und unterschiedliche Ausgestaltung von bezahlten und unbezahlten Arbeiten wirkungsmächtig wurde. Diese Situation verallgemeinerte sich in dem Maße, wie sich zuerst und am konsequentesten für Männer die Erwerbsarbeit vom Haushalt als Lebens- und Arbeitszusammenhang ablöste und nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft
18 Außer U. Baumann, Frauenarbeit in kirchlicher Diskussion und Praxis im Kaiserreich, in: Hausen, Geschlechterhierarchie (wie Anm. 11), S. 147–166, vgl. u. a. C. Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850, Frankfurt a. M. 1991; A. Kessler-Harris, Stratifying by Sex. Understanding the History of Working Women, in: R. C. Edwards u. a. (Hg.), Labor Market Segmentation, Lexington/ Mass. 1975, S. 217–242; dies., The Just Price, the Free Market, and the Value of Women, in: D. O. Helly u. S. M. Reverby (Hg.), Gendered Domains. Rethinking Public and Private in Women’s History, Ithaca 1992, S. 263–276; Lown (wie Anm. 9).
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zeitlich und räumlich getrennt von unbezahlter Haus-, Familien- und sonstiger Subsistenzarbeit und unter völlig anderen Bedingungen als diese stattfand.19 3. Die Vorstellungen darüber, was ein Mann und was eine Frau zu tun und zu sein hat und was einem Mann und was einer Frau zusteht, mussten unter dem Druck des gesellschaftlichen Wandels neu ausgearbeitet werden. Diese Vorstellungen wurden nicht nur neu zugeschnitten, sie hatten auch völlig neue Konsequenzen. Die seit den 1830er Jahren allmählich entwickelte Überzeugung, dass auch der Lohnarbeiter genau so wie der Beamte oder Geschäftsmann für seine Familie der alleinige ›Ernährer‹ zu sein habe, war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in allen Industrieländern zur herrschenden Meinung geworden. Für diesen einen Programmpunkt entwickelten die unterschiedlichsten Gruppierungen einen überraschend hohen Konsens. Die sozialpolitische Forderung lautete, ein jeder Mann müsse als Ernährer in die Lage versetzt werden, jederzeit alleine das für seine gesamte Familie erforderliche Geld verdienen zu können. Auch das hierzu komplementäre Programm fand allgemeine Zustimmung, dass alle Frauen ihrem unbezahlten und vom Erwerbsbereich ferngehaltenen ›natürlichen‹ Hauptberuf als Hausfrau, Gattin und Mutter möglichst ohne Ablenkung durch Erwerbsarbeit mehr oder weniger ausschließlich nachkommen sollten. Diese idealen Vorstellungen von der bestmöglichen, da einzig tragfähigen Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der kapitalistischen Industriegesellschaft teilten offenbar grundsätzlich auch alle diejenigen, die vorübergehend oder dauerhaft auf Frauenerwerbsarbeit nicht verzichten konnten oder wollten.20 4. Die praktischen Konsequenzen dieser als ›natürlich‹ erachteten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern sind bekannt. Männer hatten sich mit vollem Einsatz und ohne Ablenkung durch Haus- und Familienarbeiten dem Geldverdienen und ihrer Erwerbsarbeit zu widmen. Frauen hatten als Ehefrauen und 19 Vgl. neben der Pionierarbeit von L. Tilly u. J. W. Scott, Women, Work, and Family, New York 1978, u. a. E. Boris u. C. R. Daniels (Hg.), Homework. Historical and Contemporary Perspectives on Paid Labor at Home, Urbana-Champaign 1989; J. Boydstone, Home and Work. Housework, Wages, and the Ideology of Labor in the Early Republic, New York 1991; R. R. Wilk, (Hg.), The Household Economy. Reconsidering the Domestic Mode of Production, Boulder 1989. J. Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, berücksichtigt in einem umfangreichen Kapitel das »Jahrhundert des Dienstmädchens«; diesem wichtigen Schritt in die richtige Richtung folgt aber nicht der zweite, nun auch die unbezahlte Haus- und Familienarbeit der Arbeiterfrauen im eigenen Haushalt als relevanten Teil der Arbeitergeschichte zu integrieren. Vgl. K. Hagemann, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990. 20 Zur Herausbildung dieser Maximen vgl. S. Alexander, Women’s Work in Nineteenth-Century London. A Study of the Years 1820–1850, London 1983; zur verallgemeinerten Geltung vgl. I. Blom, Changes in Women’s Work and Family Responsibility in Norway since 1860s, in: Hudson u. Lee (wie Anm. 5), S. 2–47.
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häufig auch schon als Töchter primär die Haus- und Familienarbeiten optimal auszuführen. Erziehung und Ausbildung in Familie und vor allem Schule sollten Frauen und Männer von früher Kindheit an für diese komplementär konzipierten späteren Zuständigkeiten konditionieren. Dabei ging es darum, das frühkindliche Einüben einzelner Tätigkeiten und Verhaltensweisen mit verbindlichem Wissen über das Frau-Sein und das Mann-Sein zu verknüpfen. Diese normativen Vorgaben erlangten auch für die unterschiedliche Eingruppierung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt und an den konkreten Arbeitsplätzen entscheidende Bedeutung.21 Männer waren vorgesehen für lebenslange Berufsorientierung, Berufsausübung und Berufskarriere sowie für den Ernährerlohn als Zielgröße; Frauen wurden demgegenüber verpflichtet auf Familienorientierung und Familienarbeit; allenfalls wurde ihnen ein ›Zuverdienst‹ durch vorübergehende Erwerbsarbeit vor der Ehe zugestanden. Nicht vorgesehen war in diesem normativen Szenario, dass Frauen freiwillig oder gezwungenermaßen für sich alleine oder auch zusätzlich für weitere Familienangehörige den gesamten Lebensunterhalt selbst verdienten. Dieses aber war de facto für eine keineswegs kleine und keineswegs nur auf das Arbeitermilieu beschränkte Gruppe von Frauen schon immer das entscheidende Motiv gewesen, überhaupt Erwerbsarbeit zu leisten. Was immer die einzelnen Frauen und Männer von dieser normativ verbindlichen Ordnung der Geschlechter- und Arbeitsverhältnisse allgemein und speziell in Bezug auf ihr eigenes Leben gedacht haben mögen, sicher ist, dass das im 19. und 20. Jahrhundert für sie jeweils erreichbare Angebot an Arbeitsplätzen auch das Modell der idealen Geschlechterverhältnisse widerspiegelte. Die für die Geschlechter segregiert und hierarchisiert angebotenen Arbeitsplätze waren nicht das Ergebnis des freien Spiels von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, sondern die Übersetzung kulturell verankerter gesellschaftspolitischer Grundüberzeugungen mehr oder weniger ehrwürdigen Alters in das moderne Wirtschaftsleben.22
21 Allgemein zur Geschichte der Frauenerwerbsarbeit in Deutschland vgl. S. Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914–1945, Marburg 1979; B. Franzoi, At the Very Least She Pays the Rent. Women and German Industrialisation, 1871–1914, Westport Conn. 1985; U. Knapp, Frauenarbeit in Deutschland, 2 Bde., München 1984; R. Stockmann, Gewerbliche Frauenarbeit in Deutschland 1875–1980, in: Geschichte und Gesellschaft 11, 1985, S. 447–475; A. Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt a. M. 1985. 22 Anregend hierzu R. Friedland u. A. F. Robertson (Hg.), Beyond the Marketplace. Rethinking Economy and Society, New York 1990.
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3. Die Geschlechtsspezifik der Erwerbsordnung als Funktionselement des Wirtschaftens Wo immer im 19. Jahrhundert die im eigenen Haushalt und unter Einsatz der ganzen Familie arbeitenden hausindustriellen Produzenten unter den Konkurrenzdruck der mit leistungsfähigeren Maschinen arbeitenden zentralisierten Fabriken gerieten, wurden sie schließlich zum Aufgeben ihres Gewerbes gezwungen. Die betroffenen Familien durchlebten die kritische Übergangsphase meistens nicht nur in extremer Verarmung, sondern auch als Herausforderung, die bisher zwischen den Geschlechtern und Generationen praktizierte Arbeitsteilung zu verändern. In einer ähnlichen Situation befanden sich nach der Auflösung der alten Agrarordnung auch die nicht gewerblich tätigen Menschen der ländlichen Unterschicht, wenn sie sich im Zuge der Kommerzialisierung der Landwirtschaft als Saisonarbeiter und Tagelöhner verdingten. Sobald Familien ohne alternative Einkommensmöglichkeiten von Lohnarbeit abhängig und zur außerhäuslichen Erwerbsarbeit gezwungen waren, hatten sie kaum mehr die Möglichkeit, den Arbeitseinsatz und Arbeitsertrag der einzelnen Familienmitglieder selbst zu organisieren und zu kontrollieren. Dass letzteres für sie durchaus erstrebenswert war, ist nicht allein am zähen Verteidigen der schließlich nur noch zu Hungerlöhnen möglichen Marktproduktion im eigenen Haushalt ablesbar. Auch die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vereinzelt nachweisbare Beschäftigung ganzer Familien- und Verwandtschaftsgruppen in der Fabrik, die dort unter der Autorität des Hausvaters und für seine Rechnung arbeiteten, belegt das anhaltende Interesse an einer Kooperation in der Familiengruppe.23 Dennoch lief die Entwicklung über kurz oder lang darauf hinaus, dass allein die landwirtschaftlichen, gewerblichen und sonstigen Arbeitgeber nun für jedes Mitglied einer Arbeiterfamilie einzeln über die Zuteilung von Arbeiten und damit von Einkommenschancen entschieden. Dabei hielten allerdings auch die modernen Unternehmer an der herkömmlichen alters- und geschlechtsspezifischen Differenzierung der Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten fest. Die seitens der Arbeitgeber im 19. und 20. Jahrhundert geschlechtsspezifisch formulierte Nachfrage nach Lohnarbeitskräften galt bislang als so selbstverständlich und natürlich, dass selbst die im 19. Jahrhundert für bestimmte Erwerbsarbeitsplätze gesetzlich angeordneten Beschäftigungsverbote für Frauen unbesehen als Errungenschaften des Arbeiterinnenschutzes verbucht wurden. Es gilt, dieses vermeintlich Selbstverständliche genauer zu analysieren und dabei Wirtschaftsgeschichte als Kultur- und Gesellschaftsgeschichte neu zu überdenken. Wie dieses geschehen könnte, sei im Hinblick auf Unternehmerentscheidungen durchgespielt.
23 Vgl. u. a. W. Reddy, The Rise of Market Culture. The Textile Trade and French Society, 1750–1900, Cambridge 1984, bes. Kap. 6 »Visions of subsistence«.
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Eine jede Unternehmensleitung hat darüber zu entscheiden, ob und wie neue Technologien und Maschinerien installiert werden sollen. Bei dieser Entscheidung spielen viele Faktoren eine Rolle. Das Ziel der Investition in neue Maschinen und Anlagen mag sein, ein völlig neues Produkt herzustellen, neuartige Produktionsmöglichkeiten zu nutzen oder die Produktqualität zu verbessern. In jedem Fall aber besteht ein Zwang, in Maschinen neuen Typs zu investieren, um den Anschluss an erzielte Produktivitätsfortschritte nicht zu verpassen. Uns soll hier nur die Senkung der Lohnkosten interessieren. Um diese zu erzielen, kann entweder der Output pro Arbeitskraft erhöht oder teure Arbeitskraft durch billigere ersetzt werden. Wenn es in einem Unternehmen darum geht, über Investitionen in technische Innovationen zu entscheiden und dabei planend vorwegzunehmen, welche Auswirkungen die neuen Technologien auf die Verteilung und Besetzung der Arbeitsplätze und damit auf die Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter haben würden, müsste das Qualifikations- und Lohngefälle auch im Hinblick auf den segregierten Arbeitsmarkt und das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen in die Kalkulation einbezogen werden. Dieses gilt um so mehr, wenn sich abzeichnet, dass Männer ihre Löhne in die Höhe treiben können, sei es, weil ihre spezielle Qualifikation z. B. als Mechaniker oder Spinner gefragt ist, sei es, weil Männer generell auf dem Arbeitsmarkt knapp sind und notfalls mit Streiks ihre Forderungen durchzusetzen vermögen. Generell läge es für Unternehmer also nahe, sich der relativ teuren männlichen Arbeitskräfte so weit irgend möglich zu entledigen und den größtmöglichen Teil ihres Arbeitskräftebedarfs gegen Niedriglöhne unter den Frauen zu decken. So betrachtet ist die Tatsache, dass Frauen im 19. Jahrhundert überhaupt zur Fabrikarbeit herangezogen wurden, sehr viel weniger verwunderlich als die Tatsache, dass sie nicht in weit größerer Zahl herangezogen wurden, ja, dass Frauen sogar über Jahrzehnte hinweg in zahlreichen Branchen und Berufen überhaupt keine Erwerbschancen erhielten. Denn wenn Unternehmer im Einklang mit kulturellen Traditionen sicher darauf setzen konnten, dass Frauenarbeit billiger zu haben ist als Männerarbeit, warum haben sie dann nicht schon viel früher in größerem Stil dafür gesorgt, dass handwerklich nicht ausgebildete Frauen am Arbeitsplatz angelernt und ausgebildet wurden? Eine Antwort auf diese Frage zu geben, wäre verfrüht. Aber zu vermuten ist, dass die generelle Verbindlichkeit derjenigen kulturellen Norm, die es ermöglichte, Frauenarbeit niedriger als Männerarbeit zu entlohnen, gleichzeitig auch sichergestellt hat, dass Frauen erheblich größere Schwierigkeiten als Männer hatten, eigene Erwerbsinteressen kollektiv auch gegen die Interessen männlicher Konkurrenten wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Allzu fest verankert war die Vorstellung, dass Frauen auch noch im Industriesystem das Reservoir der unqualifizierten, unstetigen und je nach Lage des Arbeitsmarktes von Fall zu Fall mobilisierbaren und demobilisierbaren Arbeitskräfte zu bleiben hatten. Mit Blick auf diese zählebige Marginalisierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt hat wohl zuerst Heidi Hartmann die Bedeutung der stillschweigenden, über die Klassengren205
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zen hinweg wirksamen patriarchalischen Komplizenschaft zwischen Männern hervorgehoben.24 Die Reproduktion der Geschlechterordnung im modernen Erwerbssystem wurde allseits akzeptiert. Dieser Rahmen bot für das unternehmerische Kalkül allerdings hinreichend Gelegenheit, aus dem prinzipiell niedrigeren FrauenLohnniveau Nutzen zu ziehen. Technische und organisatorische Innovationen, die ein jedes Unternehmen in längeren oder kürzeren Zeitabständen mehr oder weniger tiefgreifend umgestalteten, verschafften den Unternehmern immer erneut willkommene Anlässe, innerhalb eines Unternehmens, aber auch auf dem Arbeitsmarkt insgesamt die jeweils anerkannten Grenzen zwischen Männerund Frauenarbeitsbereichen neu abzustecken. Mit solchen Grenzverschiebungen riskierten Unternehmer keineswegs immer die heftige Abwehr der männlichen Lohnarbeiter. Häufig genug brachten technische Neuerungen vor allem den qualifizierten Lohnarbeitern nicht den viel diskutierten Abstieg per Dequalifizierung, sondern einen unverhofften Aufstieg. Mit einem Avancement zu Maschinisten, Aufsehern oder Hauptarbeitern vergrößerte sich für sie der Abstand zu den nun meistens zahlreicher gewordenen unqualifizierten weiblichen und jugendlichen Maschinenarbeitern und das wiederum wertete das eigene Arbeitsvermögen auf. Insgesamt dürfte sich die geschlechtsspezifische Zuschreibung von Fähigkeiten, Zuständigkeiten und Lohnniveaus durchaus bewährt haben, um den möglichen Konfliktstoff derartiger innerbetrieblicher Reorganisationsprozesse zu entschärfen.25 Die Grundüberzeugung, dass Männer legitimerweise einen höheren Anspruch auf einen Erwerbsarbeitsplatz haben als Frauen und dass ihnen außerdem die besser entlohnten Arbeitsplätze zustehen müssten, behauptete sich lange Zeit unangefochten. Gleichzeitig blieb der wenig ausdifferenzierte Frauenarbeitsmarkt viel zu klein für die Zahl der erwerbsuchenden Frauen. Auch diese Situation ließ sich gewinnbringend nutzen. Das berühmteste Beispiel liefert hierfür die Bekleidungsindustrie. Die Massenproduktion war unter den Bedingungen schnell wechselnder Moden und extremer Produktvielfalt risikoreich und schwer zu organisieren. Alle Produktionsstufen in der Fabrik zu zentralisieren, blieb vor allem für die Kleiderkonfektion wenig attraktiv, solange es möglich war, extrem billige Arbeitskräfte jeweils nur kurzfristig für die Saison zu mobilisieren und dabei nicht einmal in die Arbeitsplätze und Arbeitsgeräte investieren zu müssen. Die extrem arbeitsteilig eingerichtete Näharbeit wurde überwiegend an Frauen ausgegeben, die die erforderlichen Näharbeiten in ihren eigenen Wohnungen oder in kleinen Werkstätten gegen minimale Stück24 H. Hartmann, Capitalism, patriarchy and job segregation by sex, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 1, 1976, S. 137–169; zur späteren Diskussion vgl. S. Walby, Patriarchy at Work. Patriarchy and Capitalist Relations in Employment, Minneapolis 1987; J. Acker, Class, Gender, and the Relations of Distribution, in: Signs 13, 1988, S. 473–497. 25 Interessante aktuelle Beobachtungen hierzu bei S. L. Hacker, »Doing it the Hard Way«. Investigations of Gender and Technology, Winchester Ma. 1990.
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löhne als Heimarbeit ausführten. Diese Art der Kombination von Familienund Erwerbsarbeiten im eigenen Haushalt hielten zeitgenössische bürgerliche Beobachter für die sozial akzeptabelste Form der Frauenerwerbsarbeit, vorausgesetzt, es gelänge, die extremsten Auswüchse gnadenloser Ausbeutung unter Kontrolle zu bringen. Für verheiratete Frauen mit kleinen Kindern scheint diese Heimarbeit in der Tat häufig die einzige Möglichkeit gewesen zu sein, überhaupt Geld zu verdienen. Bezeichnenderweise kam es erst im späteren 19. Jahrhundert und zwar am frühesten und wirksamsten in den USA zur fabrikmäßigen Herstellung von Wäsche und Bekleidung. Die weiterhin auf Heimarbeit fußende Kleiderkonfektion blieb jedoch konkurrenzfähig, solange bis hin zu den Frauen in der ›Dritten Welt‹ Saisonarbeit zu Niedriglöhnen in Auftrag gegeben werden konnte. Da störte es wenig, dass technische Neuerungen in der Heimarbeit nur mit beträchtlichen Verzögerungen zum Zuge kamen. Noch lange herrschte bei der Nähmaschine der Fußantrieb vor, obwohl ansonsten selbst in Kleinbetrieben der Einsatz elektrischer Kleinmotoren üblich geworden war. Die wirtschaftliche Nutzung weiblicher Arbeitskräfte zu Niedrigpreisen ist bei Industrialisierungsprozessen in der ›Dritten Welt‹ gang und gäbe, seitdem internationale Unternehmen in den 1960er Jahren dazu übergegangen sind, die weltweiten Lohndifferenzen auszunutzen und Fertigungsenklaven nach Asien, Afrika, Lateinamerika und in die Karibik zu verlegen.26 Maria Patricia Fernandez Kelly27 hat z. B. für die seit 1965 in Mexiko angesiedelte Fertigung mikroelektronischer Teile herausgearbeitet, dass die Belegschaft zu 85–90 Prozent aus Frauen besteht, die ausnahmslos sehr jung, unverheiratet, un- oder angelernt sind und im Durchschnitt nicht mehr als drei Jahre im Job verweilen. 1980 arbeiteten hier rund zwei Millionen Lohnarbeiterinnen unter hohem Stress an sechs Tagen pro Woche für minimale Löhne, die sie an ihre Herkunftsfamilien weitergaben. Fast alle Arbeiterinnen wurden wieder entlassen, noch bevor sie einen Anspruch auf Sozialleistungen erworben hatten. Anders als in der Industrialisierungsgeschichte Europas wird die Arbeitskraft der jungen Männer in diesem System überhaupt nicht nachgefragt, und die jungen Männer verzichten offenbar wegen der schlechten Arbeitsbedingungen auch ihrerseits darauf, sich hier um Arbeit zu bewerben. Sie bleiben entweder arbeitslos oder suchen ihr Glück in den USA. So neuartig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist allerdings diese auf eine möglichst effiziente Ausnutzung der Arbeitskraft von ausschließlich jungen Frauen ausgerichtete Unternehmensstrategie nicht. In Europa und den USA gab es im 19. Jahrhundert eine vergleichbare Mobilisierung junger Frauen für 26 Anregende Einblicke ermöglichen u. a. D. Elson (Hg.), Male Bias in the Development Process, Manchester 1991; E. Leacock u. a., Women’s Work. Development and the Division of Labor by Gender, Massachusetts 1986; I. Tinker (Hg.), Persistent Inequalities. Women and World Development, Oxford 1990. 27 M. P. F. Kelly, For we are sold I and my people. Women and Industry in Mexico’s Frontier, New York 1983.
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die Arbeit in Textilfabriken, und seit dem späteren 19. Jahrhundert wurden auch für die expandierende Nachfrage nach Arbeitskräften in Verwaltung, Verkauf, Verkehrs- und Kommunikationswesen erfolgreich vornehmlich junge Frauen für eine kalkulierbar kurze Beschäftigungszeit vor der Eheschließung angeworben. Auch für sie gab es nicht das Angebot einer längeren Erwerbstätigkeit mit existenzsicherndem Verdienst. Die gesellschaftliche Festlegung der weiblichen Arbeitskräfte auf den Status der vorehelichen, ehelichen und nachehelichen Zuverdienerinnen eröffnete dem unternehmerischen Kalkül stets interessante Möglichkeiten der wirtschaftlichen Nutzung. Dabei war entscheidend, dass arbeitsuchende Frauen auf dem Arbeitsmarkt wegen ihres Geschlechts mit eng begrenzten Bewegungs- und Wahlmöglichkeiten konfrontiert wurden.28 Das Bestreben, Frauenarbeit prinzipiell von Männerarbeit zu unterscheiden, blieb auch bei modernen Wirtschaftsunternehmen deutlich ausgeprägt. Es fand seinen Ausdruck in der geschlechtsspezifisch ausgestalteten Hierarchie der Löhne und Anleitungsbefugnisse ebenso wie in der Zuweisung verschiedener Einzelarbeiten, ganzer Arbeitsgebiete und der möglichst auch räumlich voneinander getrennten Arbeitsplätze. Das traditionelle kulturelle Arrangement der konsequenten Unterscheidung zwischen einem Frauen- und einem Männerarbeitsmarkt erhielt allerdings in der modernen Wirtschaft eine neue Bedeutung. Folgt man der klassischen und neoklassischen Theorie, dann geschieht in der modernen kapitalistischen Marktwirtschaft die Lohnfindung durch das Regelwerk des Marktes. Knappheit bzw. Überangebot der nach Arbeit suchenden Arbeitskräfte schlagen dabei ebenso zu Buche wie deren Verhandlungsmacht, Qualifikation und Leistung. Anders als in dieser Modellvorstellung war es in der Praxis jedoch schon immer kulturell und politisch weitgehend vorentschieden, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt möglichst nicht in Konkurrenz treten konnten zu Männern. Die für Frauen erreichbaren Erwerbsarbeitsplätze beschränkten sich de facto auf vergleichsweise wenige Arbeiten, die nur Niedriglöhne einbrachten und für Männer unattraktiv waren. Diese Arbeiten galten dann als die für Frauen angemessenen, typisch weiblichen Arbeiten. Eine derartige Eingrenzung der Frauenarbeit wurde offenbar im Hinblick auf die Stabilisierung der Verhältnisse umso beliebter, wie seit den 1860er Jahren in der politischen Diskussion die Stichworte »Lohngerechtigkeit« und »Lohndrückerei« im Kurs stiegen. Üblich war nun eine Charakterisierung der weiblichen Arbeitskraft per Fingerfertigkeit statt Muskelkraft, Bevorzugung von Sauberkeit statt Schmutz, Eignung für unqualifizierte, nur ausführende Teilarbeit statt Handwerkerkönnen, Nebenbeschäftigung statt Hauptberuf, sowie nicht zuletzt die Hervorhebung der weiblichen Geduld und Bereitschaft zur Unterordnung. Alle diese Charakteristika dienten nicht nur zur Rechtfertigung der Frauen-Niedriglöhne. Sie taugten auch dazu, außerhäusliche Frauenund Männerarbeiten deutlicher gegeneinander abzugrenzen und die weiblichen 28 Anschaulich und materialreich dazu U. Nienhaus, Vater Staat und seine Gehilfinnen. Die Politik mit der Frauenarbeit bei der deutschen Post 1864–1945, Frankfurt a. M. 1995.
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Arbeitskräfte in Arbeitsbereiche zu lenken, um welche Männer nicht konkurrierten. Im 20. Jahrhundert lieferten nicht zuletzt die Arbeitswissenschaft, die Arbeitsmarktpolitik und die Arbeitssoziologie einschlägige Hilfestellungen, um nun auch wissenschaftlich dieses kulturell begründete Erwerbssystem patriarchalischer Prägung mit seinem privilegierenden Job-Modell für Männer und diskriminierenden Gender-Modell für Frauen als ein optimales gesellschaftliches Ordnungsgefüge weiterhin zu fundieren und zu legitimieren.29 Diese modernisierte Strategie vermochte auf lange Sicht erstaunlich erfolgreich den im Zeichen von Frauenbewegung und Gleichberechtigungsforderungen stärker gewordenen Veränderungsdruck noch über Jahre abzuwehren. Erst in jüngster Zeit ist das Funktionsprinzip der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung wiederum durch Wissenschaft, die sich nun allerdings ausdrücklich in den Dienst von Fraueninteressen gestellt hat, aufgedeckt, analysiert und fundiert kritisiert worden. 1898 hatte Charlotte Perkins Gilmann in ihrem schnell über die USA hinaus berühmten Buch »Women and Economics. A Study of the Economic Relation Between Men and Women as a Factor in Social Evolution« diagnostiziert und kritisiert, was sie die »sexuo-economic relations« nannte. Die Menschen seien »the only animal species in which the female depends on the male for food, the only animal species in which the sex-relation is also an economic relation.« Dieses untaugliche Arrangement endlich zu überwinden, hielt sie für das Gebot der Stunde. Die Aufgabe laute: »reconstructing in our minds the position of woman under conditions of economic independence«.30 Sie war, wie wir heute wissen, ihrer Zeit weit voraus; aber sie hat wohl auch die zentrale Bedeutung und vor allem die in flexiblen Anpassungen erwiesene Widerstandsfähigkeit des hierarchisierenden Systems der nach Geschlechtern geordneten Zuteilung und Bewertung des Arbeitens erheblich unterschätzt.
29 So R. Feldberg u. E. N. Glenn, Male and Female. Job versus Gender Models in the Sociology of Work, in: Social Problems, 26, 1979, S. 524–538; vgl. auch G. Krell, Das Bild der Frau in der Arbeitswissenschaft, Frankfurt a. M. 1984; dies. u. M. Osterloh (Hg.), Personalpolitik aus der Sicht von Frauen – Frauen aus der Sicht der Personalpolitik, München 1992. 30 Ch. P. Gilman, Women and Economics. A Study of the Economic Relations between Men and Women as a Factor in Social Evolution (1898), Reprint der 2. Aufl. 1899, New York 1966, Zit. S. 5 und S. 270.
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Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik Zur Funktion von Arbeits- und Sozialrecht für die Normierung und Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse*
Die Geschichte der Sozialpolitik als Geschichte der Geschlechterpolitik zu analysieren und historisch zu bewerten, ist in Deutschland trotz der unlängst erfolgten grundlegenden Revision der älteren Historiographie zur Entwicklung des deutschen Sozialstaates nach wie vor unüblich.1 Das ist erstaunlich. Denn seit den 1970er Jahren ist parallel zu den Debatten über die Krise der Wohlfahrtsstaates auch die feministische Kritik an dem in Fürsorge und Sozialversicherung gespaltenen System sozialer Sicherung intensiviert worden, wobei gegenüber dem verhüllenden Gestus geschlechtsneutraler Analyse die unschwer erkennbare Geschlechtsspezifik der Strukturen und Effekte des Wohlfahrtsstaates herausgearbeitet wurde.2 Die politisch ausgehandelten Zielsetzungen,
* Zuerst erschienen in: U. Gerhard (Hg.), Geschichte der Frauen im Recht. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 713–743. 1 Vgl. u. a. J. Frerich u. M. Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 3 Bde., München 1996; V. Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880–1980, Frankfurt a. M. 1983; L. Machtan (Hg.), Bismarcks Sozialstaat. Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialpolitischen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1994; G. A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983; ders., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2.Aufl. Stuttgart 1991; F. Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen 1981; ders., Sozialgeschichte der Sozialversicherung, in: M. Blohmke (Hg.), Handbuch der Sozialmedizin, Bd. 3, Stuttgart 1976, S. 385–492; ders., Geschichte des Sozialrechts, in: B. v. Maydell u. F. Ruland, (Hg.), Sozialrechtshandbuch, Neuwied 1988, S. 66–113; D. Zöllner, Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Deutschland, in: P. A. Köhler u. H. F. Zacher (Hg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, Berlin 1981, S. 45–179. 2 Siehe u. a. I. Kickbusch u. B. Riedmüller (Hg.), Die armen Frauen. Frauen und Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1984; U. Gerhard u. a. (Hg.), Auf Kosten der Frauen. Frauenrechte im Sozialstaat, Weinheim/Basel 1988; einschlägige Aufsätze von G. Bender, U. Gerhard, A. Kohleiss, I. Ridder-Melcher, B. Riedmüller in: R. G. Heinze u. a. (Hg.), Sozialstaat 2000. Auf dem Weg zu neuen Grundlagen der sozialen Sicherung. Ein Diskussionsband, Bonn 1988; L. Gordon (Hg.), Women, the State and Welfare, Madison 1990; D. Sainsbury (Hg.), Gendering
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Organisationsformen und Leistungsangebote der Sozialpolitik haben von Anfang an höchst unterschiedliche Chancen für Männer und Frauen und sowohl kurz- wie langfristig höchst folgenreiche Privilegierungen des männlichen Geschlechts in der Sozialpolitik strukturell verankert. Der öffentliche Skandal, dass es nach wie vor in großer Mehrheit Frauen sind, die an den Rändern der Wohlfahrtsgesellschaft in Armut und Abhängigkeit von der Sozialfürsorge leben, verschwand jahrzehntelang im geschlechtsneutralen Reden über die Armutsbevölkerung. Die folgenden Ausführungen rücken demgegenüber den von Anbeginn geschlechtsspezifisch angelegten Zuschnitt des modernen deutschen Sozialstaats in das Zentrum des Interesses. Wegen der gebotenen Kürze muss sich der vorliegende Beitrag allerdings auf exemplarische Untersuchungen beschränken; es werden daher einzig der gesetzliche Arbeiterinnenschutz, der arbeits- und sozialrechtlich geregelte Mutterschutz und die gesetzliche Krankenversicherung diskutiert. Es ist zu hoffen, dass die empirischen Beobachtungen dennoch dicht genug sind, um die gesellschaftspolitische Relevanz der Geschlechtsspezifik in der Sozialpolitik und die Ergiebigkeit einer geschlechtergeschichtlichen Analyse des deutschen Sozialstaates unter Beweis zu stellen.
1. Sozialpolitik als Geschlechterpolitik im Deutschen Kaiserreich Die Grundlegung der deutschen Sozialpolitik erfolgte während des Kaiserreichs und damit zu einer Zeit, als zwischen dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht die Chancen der politischen Einflussnahme extrem ungleich verteilt waren. Um zu erläutern, wie unter den gegebenen Voraussetzungen Sozialpolitik als Geschlechterpolitik historisch zu analysieren ist, sei zunächst kurz über das im 19. Jahrhundert unablässig bearbeitete geschlechtsspezifisch ausgelegte soziale Ordnungsmodell und dann über die geschlechtsspezifische Ordnung von politischer Partizipation vor dem Ersten Weltkrieg berichtet.
1.1 Zur Geschlechtsspezifik des sozialen Ordnungsmodells In den jahrzehntelangen Debatten über die Lösung der sozialen Frage wurde in Deutschland die Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme schon im Vormärz als dringliche Aufgabe staatlicher Politik begriffen und gleichzeitig Welfare States, London 1994; B. Riedmüller u. T. Olks (Hg.), Grenzen des Sozialversicherungsstaates, Frankfurt a. M. 1994. Zur juristischen Diskussion vgl. u. a. T. Tomandl (Hg.), Die Frau in der Sozialversicherung – ihre gegenwärtige und zukünftige Rechtsstellung, Stuttgart 1976.
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immer erneut eine enge diskursive Verbindung zwischen Armut und Sittlichkeit hergestellt. Als einzig wirksame Garanten der Sittlichkeit und eines bei aller Knappheit auskömmlichen Lebens galten die über Ehe und Familie wohlgeordneten Geschlechter- und Generationenverhältnisse.3 Deren Stabilisierung war das vorrangige Ziel einschlägiger sozialpolitischer Gestaltungsvorhaben. Diese suchten die mit der Geschlechterordnung geregelten Arbeitsteilungen und hierarchischen Abhängigkeitsverhältnisse über Ehe und Familie hinaus auch für den Arbeitsmarkt und das öffentliche Leben zu bekräftigen. Seit den 1860er Jahren verstärkte sich die Hoffnung, Sozialpolitik könne tatsächlich von diesem strategischen Ansatzpunkt aus der gefürchteten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Revolutionierung der Gesellschaft entgegenwirken.4 Die modernen Produktions-, Markt- und Lohnarbeitsverhältnisse, so diagnostizierten bürgerliche Beobachter seit den 1830er Jahren, drohten mit ihrer Favorisierung von Individualisierung, Eigennutz und Konkurrenz die Familie und damit die sittliche Ordnung zu untergraben. Angesichts dieser Gefahr setzten sie auf die soziale Verallgemeinerung und Stabilisierung des christlich-bürgerlichen Hauswesens.5 In diesem Rettungsprogramm wurde der Mann nicht allein als unangefochtenes Haupt der Familie und des Hauses, sondern seit den 1850er Jahren immer häufiger auch als Ernährer seiner schutzbedürftigen und abhängigen Frau und Kinder vorgestellt und in die Pflicht genommen. Das gesellschaftspolitische Programm lief dementsprechend immer stärker darauf hinaus, nach dem Vorbild von Bürgern und Handwerkern nun auch die Ernährer-Position der gelernten und angelernten Lohnarbeiter wirtschaftlich und sozial zu stärken. Damit verfestigte sich das Modell einer Paarkombination von Ernährer und Hausfrau (Zuverdienerin) zu einem für alle sozialen Schichten geltenden Grundmodell der sozialen Ordnung. Es fand bei Männern und Frauen aus unterschiedlichsten Milieus und ungeachtet sonstiger sozialer, wirtschaftlicher, konfessioneller und politischer Gegensätze breite Zustimmung. Seine zentrale gesellschaftspolitische Botschaft war, dass es möglich sei, die Frau ungeachtet aller von der Marktwirtschaft induzierten Individualisierungstendenzen weiterhin dem Manne und der Familie zu erhalten und die von ihr unter den Be-
3 Vgl. J. Ehmer Heiratsverhalten, Sozialstruktur, Ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991; K.-J. Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1985; J. Reulecke, Sozialer Frieden durch soziale Reform, Wuppertal 1983. 4 Diese zeitgenössischen Diskussionen finden in der Forschung kaum Beachtung, siehe zum Beispiel R. vom Bruch (Hg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985. 5 U. Baumann, Frauenarbeit in kirchlicher Diskussion und Praxis im Kaiserreich, in: K. Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993, S.147–166.
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dingungen eherechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Abhängigkeit erwarteten Leistungen für Mann und Familie auch in Zukunft einzufordern. Mit dem Ernährer-Hausfrau-Modell korrespondierte aufs engste die Lehre, das physischpsychische Vermögen und dementsprechend die sozialen Zuständigkeiten der Geschlechter seien von Natur aus prinzipiell verschieden. Die moderne Sozialpolitik entstand und wirkte als Teil dieses jahrzehntelang bearbeiteten und in hohem Maße konsensfähigen Ordnungsprogrammes, dessen Ziel die Stabilisierung der Erwerbs- und Familienverhältnisse und damit zugleich die Stabilisierung der Geschlechterordnung war. Das von Anfang an bestehende Dilemma der Sozialpolitik war jedoch, dass sie einerseits die erwünschten Ehe-, Familien- und Geschlechterverhältnisse stützen und andererseits der marktorientierten kapitalistischen Produktion nicht im Wege stehen sollte. Die sozialstaatlichen Maßnahmen der Geschlechterpolitik sind gleichwohl bis in die 1960er Jahre von keiner politisch einflussreichen Gruppierung und auch nicht von Frauen jemals umfassend in Frage gestellt worden. Dieses hohe Maß an Akzeptanz ist bemerkenswert. Es sollte aber nicht daran hindern, trotz des allgemein akzeptierten Bildes von der Geschichte der Sozialpolitik genauer nachzufragen, ob bzw. inwieweit Männer und Frauen im so beschaffenen Sozialstaat gleich bzw. ungleich mit Lasten und Nutzen, Kosten und Leistungen bedacht worden sind. Will man die Geschlechtsspezifik als Funktions- und Strukturelement sozialer Sicherungspolitik herausstellen, so wird man zu berücksichtigen haben, dass auch das am 1.1.1900 in Kraft gesetzte Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) bereits seit 1874 bearbeitet worden ist. Erstaunlicherweise haben sich weder Zeitgenossen noch Historiker für mögliche Querverbindungen zwischen diesen für das 20. Jahrhundert so grundlegenden geschlechterpolitischen Regelungen des Sozial-, Arbeits-, Ehe- und Familienrechts jemals näher interessiert. Dennoch dürfte es mit Sicherheit die Ausgestaltung des Sozialrechts im Kaiserreich beeinflusst haben, dass gegen die Verfechter eines liberalen Ehe- und Familienrechts im BGB6 extrem patriarchalische Normen in Ehe und Familie festgeschrieben wurden. Damit erhielt eine konservative Geschlechterordnung als Norm an entscheidender Stelle im Rechtssystem eine langfristig stabile Verankerung.
1.2 Politik als Männersache Als Ende der 1870er Jahre die Etablierung des deutschen Sozialstaates einsetzte, erfolgte dies unter den politischen Bedingungen des ausdrücklichen Ausschlusses von Frauen aus öffentlich-rechtlichen Bereichen. Bis 1918 war ih6 Zum Bürgerlichen Gesetzbuch vgl. den Beitrag von S. Buchholz, Das bürgerliche Gesetzbuch und die Frauen: zur Kritik des Ehegüterrechts, in: U. Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, Göttingen 1997, S. 670–683.
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nen der Zugang zu öffentlichen Ämtern fast ausnahmslos verwehrt, sie waren nicht wahlberechtigt, und ihre Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der politischen Öffentlichkeit waren außerdem bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908 dadurch massiv eingeschränkt, dass ihnen nach der Revolution von 1848 in den meisten deutschen Staaten die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und die Teilnahme an politischen Vereinsveranstaltungen verboten waren.7 Die bis zur Novemberrevolution 1918 geltende Diskriminierung von Frauen im öffentlichen Recht beeinträchtigte deren Status als Subjekt und Objekt politischer Entscheidungen und zeitigte auch noch über 1918 hinaus langfristige geschlechterpolitische Folgen. Die den Frauen im Kaiserreich verweigerte staatsbürgerliche Gleichberechtigung hatte zweifellos Auswirkungen auf die geschlechterpolitische Fundierung des Sozialstaats. Das Männerwahlrecht legte es Gesetzgeber und Regierung nahe, die Interessen der wahlberechtigten Männer ungleich stärker zu berücksichtigen als die Interessen der Frauen. Möglicherweise noch folgenreicher war es, dass Frauen keinen Zutritt hatten zu den parlamentarischen Bühnen der politischen Diskurse. Die den Männern offenstehende Möglichkeit, innerhalb der Regierungsbürokratie, in parlamentarischen Kommissionen, im Reichstag, in den Landtagen und Gemeindevertretungen selbst als Redende und Handelnde aufzutreten, blieb Frauen vorenthalten. Was es im Einzelnen historisch zu bedeuten hat, dass Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich seit den 1870er Jahren allein zwischen Männern politisch ausgehandelt worden ist, bleibt zu untersuchen.8 Um 1900 begann die Frauenbewegung, auch das Terrain der Sozialversicherung für ihre eigenen Ziele zu nutzen. Ihr kam dabei die im Krankenkassengesetz vom 15.6.1883 vorgesehene Regelung der Kassenselbstverwaltung entgegen, derzufolge für die Wahl zur Kassenverwaltung auch Arbeitgeberinnen und pflichtversicherte Frauen das aktive und passive Wahlrecht hatten. Die Krankenkassenverwaltung – bis 1911 die einzige öffentlich-rechtliche Interessenvertretung, in die auch Frauen wählbar waren – eröffnete ein aussichtsreiches Einfallstor für die generelle Frauenwahlrechtsforderung. Auf massiven außerparlamentarischen Druck hin wurde in der Reichsversicherungsordnung von 1911 den Frauen ein entsprechendes Wahlrecht schließlich auch für die Unfall- sowie Invaliden- und Altersversicherung zugestanden. Dieses kam faktisch allerdings wegen Krieg und Inflation erst 1923 zum Zuge. Bis zur Revolution 1918 wurde den Frauen jedoch weiterhin das passive Wahlrecht für die Versicherungsbehörden verweigert mit dem Argument,
7 Vgl. den Beitrag von U. Gerhard, Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: ebd., S. 509–546. 8 Jüngst dazu B. Fait, Arbeiterfrauen und -familien im System sozialer Sicherheit. Zur geschlechterpolitischen Dimension der »Bismarckschen Arbeiterversicherung«, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997, H. 1, S. 171–205. Anregend auch L. Gordon, Social Insurance and Public Assistance. The Influence of Gender in Welfare Thought in the United States, 1890–1935, in: The American Historical Review 97, 1992, S. 19–54.
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die Ausübung obrigkeitlicher und richterlicher Tätigkeiten durch Frauen sei unzulässig.9 Die jahrhundertelang exklusiv Männern vorbehaltene Zuständigkeit für das Politische mag erklären, warum einerseits die Frau in der öffentlichen Diskussion den Dreh- und Angelpunkt darstellte und warum andererseits der Gesetzgeber, als er das Fundament des deutschen Sozialstaates legte, Fraueninteressen weitgehend hintanstelle. Barbara Riedmüller hat das bis heute wirksame strukturelle Regulativ des Sozialstaates mit folgender Formel charakterisiert: »Die Frau nimmt im System sozialer Sicherheit eine Sonderstellung ein, die ihrer sozialen Rolle als Hausfrau und Mutter nachgebildet ist. Zwar besitzt die Frau gegenüber dem Sozialstaat dieselben formalen Rechte wie ein Mann, doch gehen in diese Rechte Voraussetzungen der Teilhabe, der Verfahrensnormierung und der Inanspruchnahme ein, die den faktischen arbeitsmarktpolitischen, kulturellen und subjektiven Ausschluß der Frau bedeuten.«10
Diese Charakterisierung liefert interessante Anhaltspunkte für die nun folgende Analyse einiger Beispiele historischer Entwicklungen des Sozial- und Arbeitsrechts.
2. Arbeitsrechtliche Sonderbestimmungen für Frauen Die bis heute wirksame geschlechtsspezifische Segregierung der Arbeitsplätze auf dem modernen Arbeitsmarkt und die Bezahlung weiblicher Arbeitskräfte generell weit unter dem Niveau von männlichen entsprechen der Logik des Ernährermodells. Staatliche Politik hat lange Zeit die Verfestigung dieser Strukturen unterstützt. Der Schutz von Familie und Mutterschaft war breit akzeptierte Staatsaufgabe, längst bevor die Weimarer Verfassung und später das Grundgesetz der Bundesrepublik neben dem Gleichberechtigungsgrundsatz auch den staatlichen Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft festschrieben.11 Die erwünschte Harmonie des Dreiklangs Familie-Kinder-Frauen mit dem arbeits-
9 §§ 37, 34 Krankenversicherungsgesetz (KVG) vom 15.6.1883, RGBl S. 86 f.; vgl. F. Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland. (1928) Nachdruck Berlin/Bonn 1981, S. 203, 214f, 296. Zur damaligen Diskussion siehe u. a. L. Braun, Die Frauenfrage (1901), Nachdruck Bonn/Stuttgart 1979, S. 545 f.; E. Lüders, in: Ortskrankenkasse 1.6.1914, Sp. 62–65; 1.12.1918, Sp. 692 f., sowie E. Oekinghaus, Die gesellschaftliche und rechtliche Stellung der deutschen Frau, Jena 1925. 10 B. Riedmüller, Frauen haben keine Rechte. Zur Stellung der Frau im System der sozialen Sicherheit, in: Kickbusch u. Riedmüller (Hg.), (wie Anm. 2), S. 46. 11 Siehe Artikel 109 und 119 der Weimarer Verfassung und Artikel 3 und 6 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sowie Artikel 7 und 30 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik.
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markt- und berufskonform ausformulierten Männer-Ernährer-Beschützer-Modell schloss die Klangkombination Familie-Kinder-Männer aus. Die als Arbeiterinnenschutzgesetz bezeichneten arbeitsrechtlichen Sonderbestimmungen für Frauen wurden in der Hauptsache mit den Novellen zur Reichsgewerbeordnung von 1878, 1891 und 1908 geschaffen.12 Arbeitsschutzgesetze waren prinzipiell ein heißes Eisen, da sie im Widerspruch zum liberalen Programm der Wohlstandsmaximierung durch das freie Spiel der Marktkräfte standen und eher den Forderungen der Arbeiterbewegung nach kollektiver Interessensicherung entgegenkamen. Doch eben diese Brisanz der Arbeiterpolitik liefert – so Sabine Schmitt13 – eine mögliche Erklärung für das im 19. und frühen 20. Jahrhundert so lebhafte Interesse am Thema Arbeiterinnenschutz. Der dem Modell des bereits etablierten Kinderarbeitsschutzes nachgebildete Arbeiterinnenschutz öffnete nämlich Regierung und Reichstag ein gesuchtes Testfeld für schwierige politische Kompromisse in Sachen Arbeiterpolitik. Über lohnarbeitende Frauen zu verhandeln, erleichterte ganz offensichtlich die politische Verständigung zwischen Männern der unterschiedlichen konfessionellen und politischen Lager. Denn im Falle der Lohnarbeiterinnen sollte der Staat ja nur für solche Menschen als bevormundender Beschützer eintreten, denen Autonomie, Mündigkeit und politischer Einfluss ohnehin generell abgesprochen wurden. Zwar folgten die Befürworter des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes 1890 nicht der von Bismarck noch vertretenen Ansicht, der gesetzliche Arbeiterinnenschutz sei abzulehnen, weil er die patriarchalischen Rechte des Ehemannes verletze.14 In der Diskussion über den Arbeiterinnenschutz aber war seit 1890 auch nicht mehr, wie noch in der liberalen Phase der 1860er und 1870er Jahre, von den öffentlich-rechtlichen Behinderungen des weiblichen Geschlechts, dafür um so mehr von dessen natürlicher Schwäche die Rede.15 Die Vorstellung der prinzipiell schutzbedürftigen Arbeiterin schrieb sich dem Common sense vor dem Ersten Weltkrieg immer nachdrücklicher ein, so dass die Diskurse über den Arbeiterinnenschutz im Laufe der Jahre immer häufiger auf das weibliche Geschlecht insgesamt zielten. Während so »mit der ›geschützten Arbeiterin‹ das Leitbild der mehrfach belasteten Arbeiterin, Hausfrau und Mutter gefestigt«16 wurde, gelangten die tatsächlichen Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Fabrikarbeiterinnen nur selten in das Zentrum des öffentlichen Interesses. Die für Arbeiterinnen und deren Familien vielbeschworene 12 Es handelt sich um die Novellen zur Gewerbeordnung vom 17.7.1878, RGBl. S. 199–212; 1.6.1891, RGBl. S. 261–290; 28.12.1878, RGBl. S. 667–676 und speziell um die §§ 135, 137, 137a, 139, 139a, 154, 154a. 13 S. Schmitt, Der Arbeiterinnenschutz im deutschen Kaiserreich. Zur Konstruktion der schutzbedürftigen Arbeiterin, Stuttgart/Weimar 1995, besonders S. 81. Siehe auch: U. Wikander u. a. (Hg.), Protecting Women. Labor Legislation in Europe, the United States, and Australia, 1880–1920, Urbana/Chicago 1995. 14 Schmitt (wie Anm. 13), S.95. 15 Ebd., S. 27–29. 16 Ebd., S. 213.
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positive Wirkung der Schutzgesetze scheint insgesamt weitaus weniger wichtig gewesen zu sein als die lautstarke geschlechterpolitische Rhetorik. Für diese von Sabine Schmitt formulierte Einschätzung17 spricht nicht zuletzt, dass die direkte Wirksamkeit der Schutzgesetze aus mehreren Gründen äußerst begrenzt geblieben sein dürfte.18 Erstens galten die Gesetze überhaupt nur für Lohnarbeiterinnen in Fabriken und diesen gleichgestellten Anlagen, d. h., während des Kaiserreichs nur für eine sehr kleine Minderheit erwerbstätiger Frauen, die hier gegen einen vergleichsweise hohen Lohn überhaupt arbeiten konnten. Die große Mehrheit der statistisch erfassten erwerbstätigen Frauen aber arbeitete gegen Lohn oder als mithelfende Familienangehörige in häuslichen Diensten, Landwirtschaft, kleinbetrieblichen Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieben und Heimarbeit. Auch die Arbeitsplätze der seit den 1890er Jahren schnell anwachsenden Zahl weiblicher Angestellter lagen häufig außerhalb der Reichweite der Schutzgesetze. Für Frauen, die in häuslichen Diensten und Landwirtschaft arbeiteten, galten bis zur Revolution von 1918 weiterhin die völlig unzureichenden einzelstaatlichen Gesindeordnungen, die den Dienstherren gegenüber dem Gesinde zu pfleglichem Umgang und im Falle von Krankheit zu Fürsorge verpflichteten. Was die Heimarbeit anbelangt, so wurden – nach wenig wirkungsvollen ersten Schutzbestimmungen 1897 und 1902 für Werkstätten der Kleider- und Wäschekonfektion, 1904 für Maßwerkstätten, 1908 für alle Werkstätten – erstmals mit dem 1911 verabschiedeten Hausarbeitsgesetz für Männer und Frauen umfassende arbeitsrechtliche Vorschriften formuliert. Das Gesetz wurde im Ersten Weltkrieg zunächst wieder aufgehoben, 1923 in novellierter Form erneut in Kraft gesetzt, zeitigte aber nicht die erhofften Wirkungen. Zweitens fehlte zunächst eine klare gesetzliche Definition, welcher Betrieb überhaupt als Fabrik einzustufen war. Erst 1908 wurde gesetzlich festgelegt, dass der Arbeiterinnenschutz für alle Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten zu gelten habe, wobei strittig blieb, ob dazu auch Betriebe mit mehreren weitgehend selbständigen Werkstätten à neun Beschäftigen zählten. Drittens enthielten die Gesetze zahlreiche Ausnahmebestimmungen, die auf Antrag bei der Ortspolizeibehörde von Fall zu Fall amtliche Freistellungen von den Gesetzesauflagen zuließen. Viertens fehlte es dem Gesetz an effizienter Kontrolle und empfindlichen Sanktionen. Unternehmer haben wohl angesichts der minimalen Gefahr, durch die völlig unzureichend ausgestattete Gewerbeinspektion ertappt zu werden, und der äußerst geringfügigen Strafandrohung häufig genug die Gesetzesübertretung der beschwerlicheren Sondergenehmigung vorgezogen. 17 Ebd., S. 216–217. 18 Schmitt hat die praktische Umsetzung und Wirksamkeit der Schutzgesetze in Fallstudien analysiert und das Gesamtgeschehen der Gesetzesimplementierung als »Inszenierung« dargestellt; vgl. auch K. Canning, Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany, 1850–1914, Ithaca 1996.
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Die geringe Reichweite und fragwürdige Wirksamkeit der Gesetze hat in der zeitgenössischen Diskussion und der späteren historischen Bewertung der Gesetzgebung bemerkenswert wenig Beachtung gefunden. Dasselbe gilt für den konkreten Gehalt der Regelungen. Bei allen Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen ging es dem Gesetzgeber erklärtermaßen um die Stabilisierung der Arbeiterfamilie und die zu diesem Ziel von der Schwangeren, der Mutter, Ehe- und Hausfrau angeforderten Leistungen. Die Dringlichkeit des Frauenarbeitsschutzes dramatisierte der Staatswissenschaftler Otto von Zwiedineck-Südenhorst 1911 mit folgenden zeittypischen Formulierungen: »Die Gefahr sittlicher Verrohung … läuft den die Sozialpolitik treibenden Kulturidealen stracks zuwider. Sie droht ganz besonders wirksam zu werden, wo die sittliche Verrohung in der weiblichen Bevölkerung einsetzt … In engster Bedachtnahme auf die sittliche Entwicklung der Individuen steht das ganze Problem der Frauenbeschäftigung zu Erwerbszwecken, denn mit seiner Lösung oder Nichtlösung wird auch über die Entwicklung des Familienlebens entschieden. Auch die Verminderung der Leistungsfähigkeit der verheirateten Frau für ihre häuslichen Aufgaben als Betreuerin des Hauses, als Gattin und Mutter ist eine Gefahr in sittlicher und ökonomischer Beziehung.«19
Tatsächlich arbeitete nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Frauen überhaupt in Fabriken, und von diesen wiederum war nur ein kleiner Teil verheiratet.20 Dennoch wird die Botschaft, dass es eine wichtige Staatsaufgabe sei, Frauen primär für ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter einsatzfähig zu erhalten, selbst im Bürgertum Anklang gefunden haben, und zwar um so mehr, je stärker auch bürgerliche Frauen Gleichberechtigungsforderungen anmeldeten. Damit stieg generell das Bedürfnis, sich immer wieder neu in der Meinung bestätigt zu wissen, dass eine individuelle Entscheidung darüber, wie Erwerbsund Familienanforderungen zu erfüllen seien, Frauen – anders als Männern – nicht zustehe. Einig waren sich Männer aus Arbeiterschaft und Bürgertum außerdem darin, dass es gemäß der Logik des Ernährermodells notwendig und legitim sei, die Arbeitsmarktchancen der Männer vor der Konkurrenz von Frauen zu schützen.21 Die diskriminierende Wirkung von arbeitsrechtlichen Sonderbestimmungen für Frauen auf deren Arbeitsmarktchancen war durchaus bekannt und zumindest von einem Teil ihrer Befürworter auch gewünscht. Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Demobilmachung in aller Offenheit darüber räsoniert, dass allein die Wiedereinsetzung der zum Zwecke der Kriegswirtschaft seit August 1914 vorüber19 O. v. Zwiedineck-Südenhorst, Sozialpolitik, Leipzig 1911, S. 246. 20 Vgl. die aufbereitete Statistik bei U. Knapp, Frauenarbeit in Deutschland, Bd. 2, München 1984, S. 674–675. Außerdem die grundlegende Sekundäranalyse der Reichsstatistik von A. Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt a. M. 1985. 21 Vgl. unter anderem die Aufsätze, in: Hausen (wie Anm. 5).
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gehend außer Kraft gesetzten Arbeiterinnenschutzgesetze die erwünschte Freimachung der noch von Frauen besetzten Männerarbeitsplätze zeitigen werde.22 Die an Fabrikanten adressierten gesetzlichen Ge- und Verbote als Arbeiterinnenschutzgesetze zu bezeichnen, ist ein Euphemismus, der verdeckt, dass Fabrikarbeiterinnen für die Unternehmer zu Arbeitskräften mit einem rechtlichen Sonderstatus wurden. Ob und wie dieser Sonderstatus den Arbeiterinnen zum Vor- oder Nachteil gereichte, lässt sich anhand der Entwicklung der drei Gruppen von Schutzgesetzen, nämlich der Beschäftigungsverbote für bestimmte Arbeitsplätze, der Arbeitszeitregelungen und des als bedeutendste Gruppe in Kapitel 3 gesondert diskutierten Wöchnerinnen- und Schwangerenschutzes erläutern.
2.1 Beschäftigungsverbote für bestimmte Arbeitsplätze Die aus dem Handwerk kommenden Lohnarbeiter waren die ersten, die ein Verbot der Fabrikarbeit für Frauen allgemein oder zumindest für verheiratete Frauen auf ihre Fahnen und in den 1860er Jahren auch in die frühen Programme der Arbeiterbewegung schrieben. Seit den 1870er Jahren bis kurz nach der Jahrhundertwende war es die katholische Zentrumspartei, die an der Forderung nach einem gesetzlichen Verbot der Fabrikarbeit zumindest für verheiratete Frauen festhielt.23 Die Notwendigkeit eines solchen Verbots wurde begründet mit lohndrückender Konkurrenz, Verfall von Sittlichkeit und Familienleben sowie Gefährdung des Gebärens und Großziehens von gesunden Kindern. Verbotsgegner machten demgegenüber geltend, das Erwerbseinkommen sei für die Fabrikarbeiterinnen und deren Familien unverzichtbar, Frauen würden sonst zu Prostitution und Unsittlichkeit gezwungen, billige Frauenlohnarbeit sei für die Volkswirtschaft notwendig. Ein generelles Verbot der Frauenfabrikarbeit war zu keiner Zeit durchsetzbar, wohl aber eine Reihe von Teilverboten. Am wirksamsten war die generelle Schließung von Arbeitsplätzen für Frauen in bestimmten Fabrikationszweigen. Seit 1867 war bereits in Preußen und seit 1868 in Sachsen die Beschäftigung von Frauen unter Tage in Bergwerken verboten.24 1878 ermächtigte die Novelle zur Reichsgewerbeordnung die Mitglieder des Bundesrates, für bestimmte Fabrikationszweige, welche mit besonderen Gefahren für Gesundheit und Sittlichkeit verbunden sind, Beschäftigungsverbote für Jungendliche und Frauen zu erlassen. Frauenfabrikarbeit wurde auf diesem Wege zusätzlich verboten:25 22 Vgl. S. Rouette, Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1993, S. 27. 23 Vgl. Schmitt (wie Anm. 13), S. 19–79. 24 Vgl. ebd., S. 80 f., und die Aufstellung bei R. von Landmann, Arbeiterschutzgesetzgebung (Deutschland), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl., Bd. I. 1909, S. 593– 634, hier S. 617 f. 25 Verbote nach GWO § 139a, siehe dazu Schmitt (wie Anm. 13), S. 110–112.
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– 1879 im unmittelbaren Betrieb von Walz- und Hammerwerken sowie vor dem Ofen in Glashütten; – 1886 bei der Herstellung des Drahtes in Drahziehereien, bei Tätigkeiten, die zur Berührung mit bleiischen Stoffen führen, bei der Herstellung von Zigarren; – 1888 bei der Herstellung von Präservativen und anderen zu gleichen Zwecken dienenden Gegenstände; – 1892 in Drahtziehereien mit Wasserbetrieb, in Glashütten, Walz- und Hammerwerken und zusätzlich in Cichorienfabriken, Rohrzuckerfabriken und -raffinerien; – 1893/1898 in Ziegeleien sowie Bleifarben- und Bleizuckerfabriken. Im späteren Kaiserreich kam es zu weiteren Verboten, u. a. für Melassezuckeranstalten. – 1908 reichsweites Verbot der Beschäftigung von Frauen unter und nun auch über Tage im Bergbau sowie in Kokereien und auf Bauten beim Transport von Materialien. In Ergänzung zur Sperrung ganzer Fabrikationszweige für Fabrikarbeiterinnen kam es seit Mitte der 1870er Jahre außerdem aus Gründen der Sittlichkeit zum gesetzlichen Gebot, eine Trennung der Geschlechter bei der Arbeit durchzuführen und für Frauen und Männer getrennte Wasch- und Umkleideräume sowie Toiletten einzurichten. Die vermutlich zahlenmäßig eher geringe Relevanz dieser Ver- und Gebote blieb selbst für zeitgenössische Beobachter kaum durchschaubar. Nicht ganz folgenlos dürfte allerdings die den Arbeitgebern 1891 auferlegte Pflicht gewesen sein, zur Erleichterung der Gewerbeinspektion den Ortspolizeibehörden die Zahl der in ihren Fabriken beschäftigen Arbeiterinnen zu melden,26 wurde damit doch eine zwingende Verbindung zwischen Frauenbeschäftigung und staatlicher Kontrolle institutionalisiert.
2.2 Arbeitszeitregelungen Als unter Wilhelm II. mit dem Neuen Kurs wieder Bewegung in die Weiterentwicklung der Arbeitschutzgesetzgebung kam, stand keineswegs nur der frauenspezifische Arbeitsschutz, sondern mit Koalitionsrecht, obligatorischen Arbeitsordnungen und Regulierung der Arbeitszeit insgesamt ein für Männer und Frauen gleichermaßen relevanter Arbeitsschutz zur Debatte.27 Im Gegensatz zur heftig umstrittenen und bis zur Revolution 1918 unerfüllt bleibenden Forderung der Arbeiterbewegung nach einem gesetzlichen Ma26 Vgl. ebd., S. 152. 27 Vgl. H.–J. von Berlepsch, »Neuer Kurs« im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890–1896, Bonn 1987. Vgl. allgemein dazu G. A. Ritter u. K. Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992.
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ximalarbeitstag von acht Stunden fand die Erweiterung des Arbeiterinnenschutzes 1890/1891 schon breite politische Zustimmung. Die Sozialdemokraten beabsichtigten, den Arbeiterinnenschutz strategisch als politisch durchsetzbaren »Mauerbrecher« zu benutzen, um damit den Staat in Richtung Maximalarbeitstag für Frauen und Männer zu drängen und um innerhalb der Betriebe mit »geschützten« Arbeiterinnern gleichsam im Geleitzug auch die Arbeiter in den Genuss verkürzter Arbeitszeiten zu bringen.28 Um der sozial erwünschten Sittlichkeits- und Familienverhältnisse und um des erklärten gesellschaftlichen Fortschritts willen nahmen sich auch andere Parteien, verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen und die Kirchen der reichsgesetzlichen Arbeitszeitregelung für Arbeiterinnen an. Die gesetzlichen Arbeitszeitregelungen für Fabrikarbeiterinnen sahen folgendes vor:29 1891 wurde in Betrieben, auf die sich der Arbeiterinnenschutz erstreckte, für Arbeiterinnen generell ein gesetzlicher Maximalarbeitstag von 11 Stunden festgelegt und ein Nachtarbeitsverbot für die Zeit zwischen 20:00 und 5:30 Uhr ausgesprochen. Neu war außerdem, dass nicht nur die verheirateten, sondern alle Frauen, die ein Hauswesen zu versorgen hatten, das Recht erhielten, die allen zustehende einstündige Mittagspause um eine halbe Stunde zu verlängern, um für ihre Angehörigen das Mittagsmahl zu richten. Ebenfalls im Hinblick auf ihre Haushalts- und Familienverpflichtungen wurde für alle Frauen – gleich, ob mit oder ohne Versorgungspflichten – vor Sonn- und Feiertagen der auf 17:30 Uhr vorgezogene Arbeitsschluss verordnet. 1908 wurde die Dauer des Maximalarbeitstages auf 10 Stunden gesenkt, das Nachtarbeitsverbot ausgeweitet auf die Zeit zwischen 20:00 und 6:00 Uhr und der Arbeitsschluss vor Sonnund Feiertagen auf 17:00 Uhr vorgezogen. Allen diesen gesetzlichen Arbeitszeitbeschränkungen war gemeinsam, dass es für die davon betroffenen Frauen keine Lohnkompensationen gab. Arbeiterinnen glichen offenbar zum Teil den qua Gesetz verordneten Einkommensverlust dadurch aus, dass sie im Stücklohn höhere Leistung erbrachten, zusätzlich eine zweite ungeschützte Arbeit aufnahmen oder – vor allem in Betrieben der Wäsche- und Kleiderkonfektion – nach Arbeitsschluss Arbeit mit nach Hause nahmen. Auf letzteres reagierte 1908 das den Arbeitgebern auferlegte Verbot, Arbeit mit nach Hause zu geben.30 Wie die speziellen Arbeitszeitvorschriften für Frauen in der Praxis griffen, darüber gingen trotz der regelmäßigen Berichte, die die Gewerbeaufsichtsbeamten erstatteten, schon die zeitgenössischen Urteile weit auseinander. In den für die Frauenfabrikarbeit charakteristischen Saisonbetrieben des Nahrungsmittelgewerbes und der Kleiderkonfektion 28 Schmitt (wie Anm. 13), S. 49–56. 29 Außer Schmitt (wie Anm. 13), vgl. auch K. Braun, Gewerbeordnung und Geschlechtertrennung. Klasse, Geschlecht und Staat in der frühen Arbeiterbewegung, Baden-Baden 1993. 30 § 137 der GWO-Novelle vom 28.12.1908, RGBl, S. 669.
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wurden Ausnahmegenehmigungen üblicherweise großzügig erteilt.31 In kontinuierlich arbeitenden Betrieben mit einer großen Zahl von weiblichen Arbeitskräften, also vor allem in Betrieben der Textilindustrie, dürfte es nahegelegen haben, durch konsequente Trennung der Arbeitsplätze nach Geschlechtern die unterschiedlichen Zeitordnungen auszubalancieren. Die gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften speziell für weibliche Arbeitskräfte galten seit den 1890er Jahren als sozialpolitische Errungenschaft und blieben jahrzehntelang in Kraft, sieht man davon ab, dass sie als kriegswirtschaftliche Maßnahme während des Ersten und teils auch während des Zweiten Weltkriegs außer Kraft gesetzt wurden. Im Zweiten Weltkrieg führten die Nationalsozialisten zusätzlich einen Hausarbeitstag pro Monat ein, der in der DDR voll, in der BRD vereinzelt beibehalten wurde.32 Die Regelungen des weiblichen Maximalarbeitstages und der verkürzten Arbeitszeit vor Sonn- und Feiertagen hatten schon ab 1919 im Zuge der allgemeinen gesetzlichen bzw. tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen an Relevanz eingebüßt. Der in der Novemberrevolution 1918 verkündete und in der Folgezeit hart umkämpfte gesetzliche Achtstundentag gab dem Sonderrecht des weiblichen Maximalarbeitstages allerdings insofern eine neue Bedeutung, als er Frauen daran hinderte, in den Genuss des schließlich von den Gewerkschaften durchgesetzten Überstundenzuschlags zu kommen. Das gleiche galt später auch für Nachtarbeitszuschläge, bevor 1992 das Nachtarbeitsverbot als nicht verfassungskonform aufgehoben wurde.33
3. Wöchnerinnen- und Schwangerenschutz Wenn von der langen und erfolgreichen Tradition des Arbeiterinnenschutzes in Deutschland die Rede ist, geht es in erster Linie um den 1878 in der Reichsgewerbeordnung verankerten Mutterschutz.34 Damit war entschieden, dass es im öffentlichen Interesse liege, die Gesundheit des neugeborenen Kindes und die in der Frau verkörperte Gebär- und Stillfähigkeit per Gesetz zu schützen. Weiterhin brisant und in politischen Kontroversen klärungsbedürftig aber blieb jahrzehntelang das notwendige bzw. wünschenswerte Ausmaß eines wirksamen Mutter- und Säuglingsschutzes und die Aufbringung der dafür erforderlichen Gelder.
31 Schmitt (wie Anm. 13), S. 111, 190–194. 32 M. Niehuss, Verhinderte Frauenarbeit? Arbeiterschutzmaßnahmen für Frauen in den 1950er Jahren, in: J. Kocka u. a. (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u. a. 1994, S. 750–764. 33 Schmitt (wie Anm. 13), S. 9. 34 Zum Mutterschutz vgl. den Beitrag von G. Neyer, Die Entwicklung des Mutterschutzes in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1877 bis 1945, in: Gerhard (Hg.), Frauen (wie Anm. 6), S. 744–758.
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3.1 Der Mutterschutzdiskurs Die Mutterschutz-Diskussionen kreisten zunächst um die Themenfelder Armut, soziale Frage und Arbeiterfrage. Das Zentrum der Debatte verlagerte sich seit der Jahrhundertwende unter dem Einfluss von imperialistischen Weltdeutungen, der Erfahrung des Geburtenrückgangs und wirksamerer öffentlicher Intervention von Seiten der Frauenbewegung.35 Mutterschutz lag nun im Kreuzungsbereich der Diskurse über Gesundheitspolitik, Rassenhygiene, Bevölkerungspolitik und genereller Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Position von ledigen und verheirateten Frauen. Mutterschutz entwickelte sich zu einem sozialpolitischen Leitbegriff für die Kampagne gegen Säuglingssterblichkeit ebenso wie für die Neomalthusianisten mit ihrem Programm der Familienplanung und Geburtenverhütung, für die berufliche und karitative Fürsorge ebenso wie für die Gesundheitsvorsorge und die Frauenemanzipations- und Sexualreformbewegung. Frauen waren in allen diesen sozialen Bewegungen und Tätigkeitsfeldern außerordentlich präsent und aktiv. Sie eröffneten sich neue Möglichkeiten der öffentlichen Einflussnahme und wussten diese zu nutzen. Ihre aus verschiedensten Motiven gespeiste lautstarke Kritik am völlig unzureichenden Mutterschutz bahnte den Weg für dessen vergleichsweise weitreichenden gesetzlichen Ausbau 1908 und 1911. Die von radikalen Feministinnen um 1905 in die Diskussion gebrachte Mutterschaftsversicherung wurde in veränderter Form als kriegsförderliche Maßnahme im Ersten Weltkrieg aufgegriffen. Nach dem Krieg konzentrierte sich der Mutterschutzdiskurs verstärkt auf die neuen Einrichtungen der Säuglings- und Mutterschaftsfürsorge, die in größeren Städten bereits vor 1914 gegründet, im Zuge der Kriegsfürsorge vermehrt und in der Weimarer Republik generell institutionalisiert wurden. 1925 sorgte die von Max Hirsch im Auftrag des Deutschen Textilarbeiterverbandes durchgeführte Studie »Die Gefahren der Frauenerwerbsarbeit für Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Kinderaufsicht« zusätzlich für öffentliches Aufsehen und politische Schubkraft.36 Schwangerschaft und Mutterschaft wurden zunehmend klassenübergreifend als Probleme einer umfassenden Gesellschaftspolitik diskutiert. Die Interventionsvorhaben reichten weit über die Unterstützung derjenigen Schwangeren und Wöchnerinnen hinaus, die sozial und wirtschaftlich 35 Vgl. G. Bock, Weibliche Armut. Mutterschaft und Rechte von Müttern in der Entstehung des Wohlfahrtsstaates 1890–1950, in: G. Duby u. M. Perrot, (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 5: F. Thébaud (Hg.), 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 427–462; I. Stoehr, Housework and Motherhood: debates and policies in the women’s movement in Imperial Germany and the Weimar Republic, in: G. Bock u. P. Thane (Hg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of the European Welfare States, 1880s-1950s, London 1991, S. 213–232; A. Salomon, Mutterschutz, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 6. 1925, S. 712–720. 36 M. Hirsch, Die Gefahren der Frauenerwerbsarbeit für Schwangerschaft, Wochenbett und Kinderaufzucht mit besonderer Berücksichtigung der Textilindustrie, Leipzig 1925.
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besonders schlecht gestellt waren. Das politische Programm eines umfassenden Mutterschutzes wurde im übrigen seit der Jahrhundertwende zeitlich parallel zu und in inhaltlichem Zusammenhang mit den heftigen politischen Kontroversen über die – bislang drakonischen – Strafen für Abtreibung und die Zugänglichkeit von Empfängnisverhütungsmitteln ausgearbeitet.37 Nach 1933 nutzten die Nationalsozialisten die in den zwanziger Jahren insgesamt definitorisch und institutionell entscheidend erweiterten Denk- und Handlungsspielräume für Mutterschutz auf extreme Weise für ihr integriertes bevölkerungs-, rassenund sozialpolitisches Programm, das sie mit Anreizen und Belohnungen auf der einen und mit Ausgrenzung, brutalem Zwang und Vernichtung auf der anderen Seite in die Praxis umsetzten.38
3.2 Zur Bewertung des gesetzlichen Mutterschutzes Der Wöchnerinnen- und später auch Schwangerenschutz wurde arbeitsrechtlich 1878 über die Reichsgewerbeordnung und sozialrechtlich 1883 über das Krankenversicherungsgesetz institutionalisiert. Der Ausbau des seit 1878 vorgeschriebenen Wöchnerinnenschutzes erfolgte während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik in drei Richtungen: Ersten wurde die Gruppe der dem Wöchnerinnenschutz unterstellen Betriebe vergrößert und der Kreis der unterstützten Wöchnerinnen erweitert; zweitens wurden die verordneten Schutzzeiten verlängert und auch auf Schwangere ausgedehnt; drittens wurden die angebotenen Unterstützungsleistungen verbessert. Wichtige Etappenziele erreichte die Gesetzgebung 1891/92, 1908/11, 1914–1920, 1926/27.39 Die Erfolgsgeschichte des gesetzlichen Mutterschutzes ist bekannt. Der zunächst auf Fabrikarbeiterinnen beschränkte arbeitsrechtliche Wöchnerinnenund Schwangerenschutz wurde 1891 auf alle gewerblichen Betriebe mit elementarer Antriebsenergie bzw. mindestens zehn Beschäftigen und 1908 auf alle krankenversicherungspflichtigen Arbeiterinnen außerhalb der Land-, Forst37 A. Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion, 1920–1950, New York 1995; C. Usborne, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994. 38 G. Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986; G. Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991; C. Sachse, Das nationalsozialistische Mutterschutzgesetz. Eine Strategie zur Rationalisierung des weiblichen Arbeitsvermögens im Zweiten Weltkrieg, in: D. Reese u. a. (Hg.), Rationale Beziehungen? Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß, Frankfurt a. M. 1993, S. 270–292. 39 Es geht erstens um die Erweiterung und Abstimmung von § 135 (1883), danach § 137 GWO mit den §§ 20 und 21 Krankenversicherungsordnung von 1911 in Kombination mit der Ausweitung der Reichweite von beiden Gesetzen auf immer mehr Betriebe bzw. Erwerbstätige, zweitens um die Schaffung und Erweiterung der Reichswochenhilfe ab Dezember 1914 und schließlich um das Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft vom 16.7.1927, RGBl S. 184.
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und Hauswirtschaft ausgedehnt. Weitere Ausdehnungsgesetze wurden 1928 und 1930 im Entwurf vorgelegt, aber bis 1933 nicht mehr realisiert. Der arbeitsrechtliche Schutz beschränkte sich zunächst auf ein Beschäftigungsverbot für Wöchnerinnen. Sie durften 1878 für drei, 1891 vier, 1908 sechs Wochen nach ihrer Niederkunft nicht beschäftigt werden. Erst 1908 wurde das Verbot um Vergünstigungen ergänzt, nämlich um das Recht auf zweimal pro Tag eine halbe Stunde Stillzeit und die Erlaubnis, zwei Wochen, seit 1927 sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin der Arbeit fernzubleiben. 1927 wurde außerdem ein gesetzlicher Kündigungsschutz für je sechs Wochen vor und nach der Entbindung durchgesetzt. Nach dem Krankenversicherungsgesetz von 1883 erhielten versicherte Wöchnerinnen während des Beschäftigungsverbots 50 Prozent des für sie üblichen Tageslohns als Wochengeld. Später durften die Kassen als freiwillige Leistung diesen Satz auf bis zu 75 Prozent anheben, für weitere Wochen vor und nach der Geburt Krankengeld zahlen und Geburts- und Schwangerschaftshilfen anbieten. Unmittelbar nach dem Krieg wurden die gesetzlichen Leistungen erweitert und vor allem das Wochengeld auf vier Wochen vor und sechs Wochen nach der Entbindung ausgedehnt. Der Durchbruch zum umfassenden staatlichen Mutterschutz begann im Ersten Weltkrieg, als aus kriegs- und bevölkerungspolitischen Gründen im Dezember 1914 die Reichswochenhilfe eingerichtet und dann Zug um Zug ausgebaut wurde. Damit erhielten bedürftige Wöchnerinnen, die nicht selbst krankenversichert waren, ebenfalls einen Anspruch auf finanzielle und sonstige Unterstützung. Diese zunächst den Angehörigen von Kriegsteilnehmern zuerkannte Familienwochenhilfe wurde nach dem Krieg für alle weiblichen Angehörigen von Mitgliedern der gesetzlichen Krankenkassen fortgeführt. Für die Art der Institutionalisierung von Mutterschutz und die daran geknüpften Erwartungen war es von Bedeutung, dass der in der Gewerbeordnung verankerte Wöchnerinnen- und später auch Schwangerenschutz 1883 aus Finanzierungsgründen direkt an das Krankenversicherungsgesetz angekoppelt wurde. Diese Verschränkung existiert noch heute. Nach 1900 wurde von Seiten der Frauenbewegung die Alternative einer von der Krankenversicherung abgetrennten, eigenständigen und möglicherweise direkt aus Steuermitteln finanzierten Mutterschaftsversicherung vorgeschlagen und in der Öffentlichkeit diskutiert.40 Sie kam unter den veränderten Bedingungen des Weltkriegs als Reichswochenhilfe teilweise zum Zuge. Die Verzahnung zwischen Arbeiterinnenschutz und gesetzlicher Krankenversicherung erwies sich als ausbaufähige Konstruktion. Sie hatte erstens zur Folge, dass jede in der Gewerbeordnung verankerte Erweiterung des Wöchnerinnen- und Schwangerenschutzes eine Novellierung des Krankenkassengesetzes nach sich ziehen musste. Sie bedeutete zweitens, dass die zwangsweise erhobenen Krankenkassenbeiträge (⅓ von Arbeitgebern, ⅔ von Arbeitnehmern) 40 Vgl. Stoehr (wie Anm. 35); A. Schreiber, Mutterschaftsversicherung, in: Reformblatt für Arbeiterversicherung 1, 1905, S. 20 f.
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von Anfang an auch für die erwünschte öffentliche Alimentierung der Bevölkerungsreproduktion eingesetzt und damit kontroverse Entscheidungen über Aufbringung und Ausgabe von Steuern vermieden wurden. Drittens erhielten Ärzte, Arbeitgeber und Gewerbeaufsicht durch das Beschäftigungsverbot für Wöchnerinnen die Aufgabe zugewiesen, das Privatissime von Schwangerschaft und Geburt bei Fabrikarbeiterinnen als öffentliche Angelegenheit wahrzunehmen und quasi buchhalterisch zu bearbeiten. Denn seit 1891 konnte die Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit nur mit einer entsprechenden ärztlichen Bescheinigung erfolgen. Insofern institutionalisierte der Wöchnerinnenschutz eine Art Vorstufe zu der am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden umfassenden Säuglingsfürsorge.41 Folgenreich war schließlich viertens, dass Schwangerschaft, Geburt und Stillphase den Status einer Krankheit erhielten und Frauen der entsprechenden Altersgruppen für die Krankenkassen ein im Vergleich zu gleichaltrigen Männern erhöhtes Unterstützungsrisiko bedeuteten. Während die Krankenkassen generell bestrebt waren, die Zahl und Kosten der Krankheitsfälle möglichst niedrig zu halten, mussten sie eine Ausgabensteigerung aufgrund von Schwangerschaften im Interesse der Allgemeinheit begrüßen. Die gesetzlichen Krankenkassen und die mit ihnen zusammenarbeitenden Ärzte, später auch Ärztinnen, gestalteten seit den späten 1890er Jahren, vor allem aber in den zwanziger Jahren ihre Zuständigkeit für öffentliche Gesundheitspflege aus. Sie debattieren nicht nur intensiv über Rassenhygiene, Eugenik, Familienplanung und Bevölkerungspolitik, sondern überantworteten zuerst die ledigen, dann auch die verheirateten schwangeren, gebärenden und stillenden Frauen immer umfassender der allmählich von den Kassen, Gemeinden und Wohlfahrtsverbänden angebotenen medizinisch-hygienischen Beratung, Fürsorge und Kontrolle.42 Was aber ist über den gesetzlichen Mutterschutz aus der Sicht der betroffenen Frauen zu sagen? Der 1878 ohne nennenswerten Widerstand verabschiedete § 137 der Reichsgewerbeordnung regelte lapidar: »Wöchnerinnen dürfen während drei Wochen nach ihrer Niederkunft nicht beschäftigt werden.«43 Der verordnete Schutz institutionalisierte die staatliche Bevormundung der Wöchnerin und war de facto ein Beschäftigungsverbot, das den unter das Gesetz fallenden Arbeitgeber zwang, auf die Arbeitskraft einer jungen Mutter für drei, später vier Wochen nach der Niederkunft zu verzichten. Bis zum Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes 1885 hatte die betroffene Frau während dieser Zeit zunächst überhaupt keinen und dann nur einen völlig unzureichenden Anspruch auf Ausgleichszahlungen für den erzwungenen Erwerbsausfall. Das Wochengeld in Höhe von mindestens 50 Prozent bis maximal 70 Prozent des für sie üblichen Grundlohns – darin waren sich zeitgenössische Beobachter 41 Vgl. R. Spree, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, Göttingen 1981, S. 49–92. 42 Vgl. Grossmann (wie Anm. 37). Besonders aufschlussreich ist hierfür in den 1920er Jahren das Jahrbuch der Krankenversicherung (JbKV). 43 RGBl 1878, S. 207.
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im Kaiserreich einig – ermöglichte es den Wöchnerinnen nicht einmal für kurze Zeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die 1891 und 1908 durchgesetzte Ausdehnung des Beschäftigungsverbots auf vier bzw. sechs Wochen galt zwar als Fortschritt, verschärfte jedoch, da eine volle Lohnkompensation fehlte, die wirtschaftliche Not der Wöchnerinnen. Es sei daran erinnert, dass Wöchnerinnen bis 1927 für die Zeit des Beschäftigungsverbots außerdem keinerlei Kündigungsschutz genossen. Nimmt man alle diese Umstände zusammen, dann dürfte der gesetzliche Wöchnerinnenschutz für die betroffenen Frauen von höchst zweifelhaftem Wert gewesen sein. Zu diesen äußerst harten Konditionen hatte eine Schwangere und Wöchnerin wohl schon immer auch ohne Gängelung durch eine arbeitsrechtliche Sonderbestimmung und in freier Selbstbestimmung ihre Erwerbsarbeit unterbrechen können, vorausgesetzt, sie erhielt von dritter Seite die dafür notwendige wirtschaftliche Unterstützung. Damit gewinnt ein anderer Aspekt an Bedeutung. In der Reichsgewerbeordnung ein Beschäftigungsverbot für Wöchnerinnen festzulegen, kam dem erklärten Ziel, Frauen, d. h., vor allem verheiratete Frauen, von der Fabrikarbeit fernzuhalten, insofern entgegen, als dies die unternehmerische Neigung, Frauen im ortsüblichen Heiratsalter bzw. jungverheiratete Frauen als Lohnarbeiterinnen in Fabriken einzustellen, eher gedämpft als unterstützt haben dürfte. Nachdem mit der Reichswochenhilfe während des Ersten Weltkriegs der Mutterschutz entscheidend ausgeweitet worden war, gelang es nach dem Krieg, den erreichten Stand zu erhalten und zwischen 1924 und 1929 den Schwangerenund Wöchnerinnenschutz schnell und umfassend zu erweitern. Die Weltwirtschaftskrise brachte allerdings alle weiteren sozialpolitischen Anstrengungen zum Stillstand. Seit 1914 wurden nicht nur die Möglichkeiten freiwilliger Kassen-Mehrleistungen, sondern auch die gesetzlichen Leistungsverpflichtungen erhöht. Nach dem Krieg wuchs die Zahl der krankenversicherten Frauen und dadurch anspruchsberechtigten Schwangeren und Wöchnerinnen aufgrund der Umstrukturierung der Arbeitsmarktnachfrage und des erhöhten Zwangs zu außerhäuslicher Erwerbsarbeit auch für verheiratete Frauen.44 Gleichzeitig gelangten mit der gesetzlichen Familienwochenhilfe auch die nicht krankenversicherten Angehörigen von Versicherten generell in den Genuss besserer medizinischer Versorgung und finanzieller Unterstützung. Mit jährlichen Leistungsbilanzen dokumentierte das »Jahrbuch für Krankenversicherung« den erzielten Fortschritt. Bis 1914 hatte das Gros der reichsgesetzlichen Krankenkassen die ihnen vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, per Statut die Leistungen im Bereich der Wöchnerinnenhilfe über die gesetzliche Leistungspflicht hinaus freiwillig zu steigern, kaum genutzt. Erst nach der Kriegs- und Inflationszeit ging die Leistungskurve bis zum jähen Abbruch in der Weltwirtschaftskrise ab 1930 steil nach oben. 1928 und 1929 44 Vgl. S. Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914– 1945, Marburg 1979; Knapp (wie Anm. 20), Bd. 2; Willms-Herget (wie Anm. 20).
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gab es für knapp 70 Prozent der 1,2 Mio. Geburtsfälle Wochenhilfe bzw. Familienwochenhilfe.45 Die gesetzlichen Krankenkassen (d. h. Orts-, Land-, Betriebs-, Innungskrankenkassen, Knappschaftskassen, ohne Ersatzkassen) gaben im Bereich der Wöchnerinnenhilfe 1925 rund 59,2 Mio. Reichsmark (RM), 1929 schon 87,6 Mio. RM aus. Als Reichszuschuss kamen 1925 weitere 21,4 Mio. und 1929 weitere 26,0 Mio. RM hinzu. 1914 waren im Deutschen Reich der Vorkriegsgrenzen demgegenüber erst 12,6 Mio. Mark für die Wochenhilfe ausgegeben worden.
4. Gesetzliche Krankenversicherung Das am 31.5.1883 im Reichstag verabschiedete und am 1.12.1884 in Kraft gesetzte Krankenversicherungsgesetz46 schuf für die bestehenden unterschiedlichen freiwilligen oder obligatorischen sozialen Unterstützungskassen eine neue Grundlage. Es leitete den langjährigen Prozess der Vereinheitlichung, Zentralisierung, Spezialisierung und Leistungssteigerung der Kassen ein und orientierte den Aufbau des reichsgesetzlichen sozialen Sicherungssystems an einer konsequenten Entmischung der Versicherungszwecke.47 Das Krankenversicherungsgesetz regelte reichseinheitlich, für welche abhängig Beschäftigen Versicherungspflicht bestand, wer Versicherungsbeiträge zu bezahlen hatte, wie hoch diese Beiträge zu sein hatten, welche Krankenkassen gesetzlich zugelassen waren und unter welchen Voraussetzungen eine versicherte Person Anspruch hatte auf die gesetzlich vorgeschriebenen Kassenpflichtleistungen und die per Statut der einzelnen Kassen darüber hinaus angebotenen freiwilligen Mehrleistungen. Die vorgesehene Selbstverwaltung der einzelnen Kassen geschah durch ein gewähltes Gremium, das gemäß der Beitragsaufbringung zu einem Drittel von Arbeitgebern und zu zwei Drittel von Arbeitnehmern besetzt und von einem Aufsichtsorgan kontrolliert wurde. Inwieweit die gesetzliche Krankenversicherung Frauen und Männer gleich oder unterschiedlich erfasste und inwieweit die Vor- bzw. Nachteile der Zwangsmitgliedschaft für weibliche und männliche Kassenmitglieder gleich oder unterschiedliche verteilt waren, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Eine Annäherung an mögliche Antworten sei dennoch versucht.
45 JbKV (wie Anm. 42) 1928, S. 75; 1929, S. 49; 1930, S. 34, S. 143. 46 RGBl. 1883, S. 73–104. 47 Vgl. U. Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770–1880, Göttingen 1984; Hentschel (wie Anm. 1); sehr ausführlich Kleeis (wie Anm. 9); Tennstedt, Sozialgeschichte (wie Anm. 1); Zöllner (wie Anm. 1).
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4.1 Versicherte in der obligatorischen Krankenversicherung Krankenversicherungspflichtig wurden 1883 zunächst alle Erwerbstätigen, die in stehenden gewerblichen Betrieben Lohnarbeit leisteten oder dort als Angestellte mit einem Jahreseinkommen unter 2.000 Mark tätig waren. Zwischen 1883 und 1892 wurde die reichsgesetzliche Krankenversicherungspflicht auf immer mehr abhängig Beschäftigte ausgedehnt.48 Die darauffolgenden Jahre bis 1911 sind hinsichtlich der Reichsgesetzgebung eine Stagnationsphase. In diesen Jahren aber machten Einzelstaaten und einzelne Gemeinden häufig von der ihnen erteilten Befugnis Gebrauch und dehnten zumindest für ihren Zuständigkeitsbereich die gesetzliche Versicherungspflicht aus und zwar insbesondere auf Beschäftigte in Hausgewerbe, Land- und Forstwirtschaft, häuslichem Dienst, also auf Beschäftigungsbereiche, in denen Frauen besonders zahlreich tätig waren.49 Seit 1911 wurde im Übrigen auch die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung und Weiterversicherung großzügiger zugestanden und offenbar in den zwanziger Jahren vor allem von Frauen auch vermehrt genutzt.50 Während der gesamten Untersuchungszeit bewirkten schließlich allein schon die Expansion und Umstrukturierung des Arbeitsmarktes, dass die obligatorische Krankenversicherung einen wachsenden Anteil der Erwerbsbevölkerung generell und der weiblichen insbesondere erfasste. Das gilt besonders für die weiblichen Angestellten, deren Zahl in Gewerbe und in den bis 1892 zusätzlich dem Krankenversicherungsgesetz unterstellten Betrieben von Verkehr, Handel, Banken, Versicherungen und sonstigen Verwaltungen schnell zunahm. Die meisten mussten in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sein, denn ihr Jahreseinkommen lag üblicherweise unter der 1883 auf 2.000 Mark, ab 1911 auf 2.500, nach der Inflation 1925 auf 2.700 und ab 1927 auf 3.600 RM festgelegten Höchstgrenze für die Pflichtversicherung.51 Handlungsgehilfen und Lehrlinge wurden 1903, Lehrlinge und Gehilfen in Apotheken 1928 versicherungspflichtig. Ebenfalls 1928 wurde die Versicherungspflicht auf alle hauptberuflich in Erziehung, Unterricht, Fürsorge, Kranken- und Wohlfahrtspflege tätigen Personen ausgedehnt und damit auf Berufszweige, die besonders für Frauen aus dem Mittelstand wachsende Bedeutung erlangten. Von der 1883 eingeführten reichsgesetzlichen Krankenversicherungspflicht ausgenommen blieb dagegen bis 1911 bzw. 1922 die dem Hausgewerbe zugerechnete gewerbliche Lohnarbeit, in welcher überwiegend Frauen beschäftigt waren. Die Zahl der als Heimarbeiterinnen und Werkstattarbeiterinnen ständig 48 Siehe Neufassung des KVG 1892, Reichsgesetzblatt (RGBl.), S. 417–465. 49 Kleeis (wie Anm. 9), S. 111–114. 50 Versicherungsberechtigung laut §§ 176–178 Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 (RGBl. S. 543), vgl. JbKV (wie Anm. 42) 1931, S. 30. 51 Vgl. U. Nienhaus, Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten, Berlin 1982; dies., Vater Staat und seine Gehilfinnen. Die Politik mit der Frauenarbeit bei der deutschen Post (1864–1945), Frankfurt a. M. 1995, S. 246–284.
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oder vorübergehend erwerbstätigen Frauen war nach zeitgenössischen Schätzungen weit höher als die statistisch erfassten Zahlen, die von 1882 bis 1925 zwischen 130.000 und 190.000 lagen.52 Erst 1911 wurde in der Reichsversicherungsordnung auch für das Hausgewerbe die Krankenversicherungspflicht verankert.53 Sie trat am 1.1.1914 in Kraft, wurde mit Kriegsbeginn schon im August 1914 wieder aufgehoben und erneut 1922 gesetzlich vorgeschrieben. Im Hausgewerbe mussten seit 1911 auch die sogenannten mithelfenden Familienangehörigen versichert werden. Einzig der mithelfende Ehepartner blieb weiterhin von der Versicherungspflicht ausgenommen mit dem Argument, die Ehe sei ein sittliches und kein Lohnarbeitsverhältnis. Auch auf die bis zum Ende der Weimarer Republik größte Gruppe weiblicher Erwerbstätiger, nämlich diejenigen, die in der Land- und Forstwirtschaft und im häuslichen Dienst arbeiteten, wurde die reichsgesetzliche Krankenversicherungspflicht erst 1911 mit Wirkung zum 1.1.1914 ausgedehnt.54 Nach den Berechnungen von Angelika Willms-Herget55 arbeiteten von allen Frauen, die nicht als Selbständige oder mithelfende Familienangehörige, sondern als marktvermittelte Arbeitskräfte erwerbstätig waren, im Bereich der Land- und Forstwirtschaft: 1882 – 35 Prozent, 1895 – 32 Prozent, 1907 – 27 Prozent, 1925 – 17 Prozent, und im häuslichen Dienst: 1882 – 43 Prozent, 1895 – 40 Prozent, 1907 – 34 Prozent, 1925 – 26 Prozent. Für diese beiden Erwerbsbereiche hatten vor 1911 fast ausschließlich einzelstaatliche Gesindeordnungen die Pflicht des Arbeitgebers geregelt, mehr oder weniger großzügig für seine erkrankten Dienstboten, Knechte und Mägde zu sorgen. Das mit dieser patriarchalischen Verpflichtung verbundene Risiko hatte im Laufe der Zeit allerdings bereits immer häufiger Arbeitgeber veranlasst, ihre Arbeitskräfte freiwillig in einer Gesinde- oder gesetzlichen Krankenkasse zu versichern, und auch bei den nicht versicherungspflichtigen Dienstboten selbst wuchs die Bereitschaft zum freiwilligen Krankenkassenbeitritt. Dienstmädchen in privaten Haushalten, welche in Landwirtschaft, Kleingewerbe und Einzelhandel wohl zugleich immer auch im Erwerbsbereich eingesetzt wurden, scheinen jedoch vor 1914 noch keineswegs generell einer Krankenkasse angehört zu haben.56 Nicht zuletzt dürfte die ebenfalls 1911 beschlossene und ab 1.1.1914 gültige Regelung, nun auch die nur zeitweilige Lohnarbeit in die obligatorische Krankenversicherung einzubeziehen, in hohem Maße Frauen betroffen haben, für die diese Art der Beschäftigung typisch war. Während der Weltwirtschaftskrise wurden 1930 alle kurzzeitig und mit geringem Entgelt Beschäftigten erneut von der Versicherungspflicht befreit.57 52 53 54 55 56 57
Knapp (wie Anm. 20), S. 652. § 165 RVO. Ein erster Vorstoß 1900/1902 war erfolglos geblieben. § 165 RVO. Willms-Herget (wie Anm. 20), S. 120. Zu den einzelstaatlichen Regelungen vgl. Kleeis (wie Anm. 9), S. 11–117. Siehe KVG §§ 1 und 2, RGBl. 1883, S. 73 f. im Vergleich zu RVO § 166, RGBl. 1911, S. 541 und Notverordnung vom 26.7.1938, RGBl. S. 311 ff.
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Ein Blick auf die Statistik macht deutlich, dass im Deutschen Reich in der Gesamtbevölkerung der Anteil derjenigen Menschen, die Mitglied einer der gesetzlichen Krankenkassen waren, von 10 Prozent im Jahr 1885 auf 17 Prozent im Jahr 1900, auf 20 Prozent im letzten Friedensjahr 1913 anstieg, um dann nach Krieg und Inflation auf 32 Prozent im Jahre 1925 und schließlich auf 34 Prozent unmittelbar vor der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 anzuwachsen.58 Vom umfassenden Ausbau des Krankenversicherungssystems profitierten Frauen einerseits als beitragszahlende Mitglieder von Krankenkassen und andererseits, für den Fall, dass sie selbst nicht krankenversichert waren, als Angehörige ihrer versicherten Ernährer-Männer zunächst indirekt, ab 1914 vermehrt auch direkt von den Leistungsangeboten der gesetzlichen Krankenkassen, wie noch erläutert werden soll. Insgesamt zeigen die Statistiken in aller Deutlichkeit, dass von 1885 bis 1929 immer mehr Frauen Mitglied in einer gesetzlichen Krankenkasse wurden und dass sich nicht allein die absoluten Zahlen der versicherten Frauen erhöhten, sondern auch der Anteil der selbstversicherten Frauen im erwerbsfähigen Alter und der Anteil der Frauen an der Gesamtheit aller Mitglieder von gesetzlichen Krankenkassen anstieg. Weibliche Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen59 Anzahl in Mio.
Als Anteil aller Frauen über 15 Jahren in Prozent
Als Anteil aller Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen in Prozent
1885
0,8
6
19
1890
1,3
9
20
1900
2,2
13
23
1925
6,9
22
38
1934
6,3
24
35
Wenn man diese Daten kombiniert mit den von Angelika Willms-Herget erarbeiteten Daten zur Erwerbstätigkeit von Frauen in nichtfamilialen, d. h. marktvermittelten Erwerbsverhältnissen60, dann zeigt sich, dass von den marktvermittelt erwerbstätigen Frauen 1885 zunächst nur rund 25 Prozent, 1895 knapp 40 Prozent, 1907 gut 50 Prozent und 1925 so gut wie alle krankenversichert waren. 58 Kleeis (wie Anm. 9), S. 111; JbKV (wie Anm. 42) 1931, S. 30. 59 Berechnet nach: Statistisches Bundesamt (Hg.), Bevölkerung und Wirtschaft, Stuttgart 1972, S. 95, 219. Hinweis: Die Tabelle wurde leicht bearbeitet. 60 Willms-Herget (wie Anm. 20), S. 101.
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4.2 Geschlechtsspezifik der Leistungen Die Frage nach dem geschlechtsspezifischen Leistungsgefälle der gesetzlichen Krankenkassen ist äußerst schwierig zu beantworten. Die Krankenkassen mussten ihre Versicherungsleistungen allein aus den Mitgliedsbeiträgen finanzieren, die unabhängig von Geschlecht, Familienstand und Zahl der Familienangehörigen einer versicherten Person berechnet wurden. Während des Kaiserreichs stiegen sie von zunächst 2 Prozent im Durchschnitt auf 3–4 Prozent und während der Weimarer Republik auf 6–7 Prozent des Bruttolohns.61 Die Krankenkassenmitglieder mussten zwei Drittel, ihre Arbeitgeber für jede versicherungspflichtige Arbeitskraft ein Drittel des angeforderten Mitgliedsbeitrages bezahlen. Die Leistungsfähigkeit, bisweilen wohl auch die Leistungswilligkeit und der Umfang der freiwilligen Kassenleistungen der verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen waren je nach Mitgliederzahl und Beitragsaufkommen höchst unterschiedlich. Das Schlusslicht in der Leistungspyramide bildeten die Landkrankenkassen. Kassen, in denen der Mitgliederanteil von Frauen mit extrem niedrigen Einkommen sehr groß war, konnten vermutlich weitaus weniger leisten als nahezu exklusive Männerkrankenkassen. Leider sind die unterschiedlichen Leistungsprofile der zahlreichen gesetzlichen Krankenkassen bislang nicht vergleichend untersucht worden.62 Was die Pflichtleistungen betraf, so erwarb eine versicherte Person gegenüber der Krankenkasse unabhängig von der Höhe des Mitgliedsbeitrags einen generellen Anspruch auf unentgeltliche ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arzneien und Hilfsmitteln. Außerdem waren die Kassen verpflichtet, bei Krankheit bzw. ab 1930 bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ab dem dritten Tag für alle Arbeitstage und seit 1923 auch für Sonn- und Feiertage ein Krankengeld zu zahlen, bis 1903 längstens für 13 Wochen, danach für 26 Wochen. Die Höhe des Krankengeldes richtete sich nach dem jeweiligen Arbeitseinkommen der versicherten Person und betrug 50 Prozent des für die erkrankte Person ortsüblichen Grundlohns.63 Diese Regelung reproduzierte die Lohnhierarchie und begrenzte damit den Nutzen der Zwangsversicherung gerade für Frauen, die mit ihrem Erwerbseinkommen ohnehin kaum das Existenzminimum sichern konnten. Eine Erhöhung des Krankengeldes bis zu 75 Prozent des Grundlohns wurde den Kassen 1911 als freiwillige Mehrleistung gestattet. Doch selbst 1926 zahlte immer noch weniger als die Hälfte aller gesetzlichen Kassen (Ersatzkassen nicht mitgerechnet) – und diesen gehörte rund die Hälfte aller Krankenkassenmitglieder an – ein Krankengeld, das nicht über 60 Prozent lag. 61 Vgl. Hentschel (wie Anm. 1), S. 15; Zöllner (wie Anm. 1), S. 75. 62 Interessant als Analyse einer einzelnen Kasse ist I. von Stumm, Gesundheit, Arbeit und das Geschlecht im Kaiserreich am Beispiel der Krankenstatistik der Leipziger Ortskrankenkasse 1887–1905, Frankfurt a. M. 1995. 63 Ab der 26. Woche konnte Invalidenrente bezogen werden.
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Wiederum gehörten die Landkrankenkassen zu denjenigen, die noch 1926 am Regelsatz festhielten.64 Den gesetzlichen Krankenkassen war 1883 außerdem die oben bereits erläuterte Wochenhilfe übertragen worden. Diese Pflichtleistung war und blieb die einzige exklusive Sonderleistung für Frauen aus dem Solidarfonds, der in den meisten Kassen zum geringsten Teil durch die Krankenkassenbeiträge von Frauen gespeist wurde. Einen Reichszuschuss für Wochenhilfsfälle erhielten die gesetzlichen Krankenkassen erst, als im Ersten Weltkrieg die Reichswochenhilfe eingerichtet wurde.65 Einen Anspruch auf Kassenleistungen hatten in erster Linie die Versicherten selbst. Als freiwillige Kassenmehrleistung war von Anfang an auch die Unterstützung der von der versicherten Person wirtschaftlich abhängigen Familienangehörigen gesetzlich zugelassen.66 Krankenkassen, die diese Möglichkeit ausschöpften, erzwangen damit einen Solidarausgleich zwischen ledigen und verheirateten Männern und Frauen bzw. zwischen Mitgliedern ohne und mit Familienangehörigen, welche ganz oder überwiegend vom Erwerbseinkommen des oder der Versicherten versorgt wurden. Das vorrangige Ziel dieser Umverteilung war, den Familien-Unterhalt in den Risiko-Phasen der Erkrankung des im Regelfall wohl männlichen pflichtversicherten Familienernährers besser abzusichern und so gleichzeitig die Armenfürsorge zu entlasten und die Volksgesundheit zu verbessern. Bemerkenswerterweise gehörte die Ausdehnung der Kassenleistungen auch auf die von der versicherten Person mitfinanzierten Familienmitglieder, die das erwünschte Modell der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau förderte, jahrzehntelang nicht zu den gesetzlichen Pflichtleistungen, sondern lediglich zu den gesetzlich zugelassenen freiwilligen Mehrleistungen der Krankenkassen. Grund dafür war die zu Recht erwartete beträchtliche Ausgabensteigerung im Falle einer Übernahme in die Pflichtleistungen. Die für die Versicherungen gewählte Rechtsfigur des Versicherungsvertrages räumte im übrigen prinzipiell nur der versicherten Person – die in der Hauptsache als der männliche Ernährer einer Familie gedacht war – den Erwerb von Leistungsansprüchen gegenüber der Kasse ein. Dementsprechend galten auch die allmählich auf die Familienangehörigen einer versicherten Person ausgedehnten Leistungsansprüche noch bis 1975 allein als abgeleitete Versicherten-Ansprüche, was bei ehelichen Konflikten, Ehescheidungen oder Getrenntleben der Eheleute zu beträchtlichen Schwierigkeiten führen konnte.67
64 JbKV (wie Anm. 42)1928, S. 70. 65 Die Novelle zur RVO vom 9.7.1926 (RGBl. I, S. 407) setzt den Reichszuschuss auf 50 RM pro obligatorischer Familienwochenhilfe fest. 66 Eine detaillierte Analyse liefert U. Rust, Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, Berlin 1990, S. 40–68, 133–136, 161–192. 67 Vgl. ebd., S. 306–339.
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Schon 1883 war es – wie zuvor bereits in den älteren Hilfs- und Betriebskassen – den Krankenkassen erlaubt, ein Angehörigenkrankengeld, später Hausgeld genannt, zu zahlen, wenn die erkrankte versicherte Person stationär untergebracht war und kein Krankengeld mehr erhielt. Dieses Angehörigenkrankengeld, das die vom Versicherten vollständig oder überwiegend finanziell unterstützten Familienangehörigen erhalten konnten, betrug maximal 50 Prozent des Krankengeldes, also 25 Prozent des Grundlohns des Versicherten. Von 1903 an konnte es auf die volle Höhe des Versicherten-Krankengeldes, d. h., auf maximal 75 Prozent des Grundlohns, angehoben werden. Die meisten Kassen erhöhten das Hausgeld jedoch erst nach 1926.68 Die Hausgeld-Regelung galt allerdings nur für den Hauptverdiener, in der Regel den Ehemann, nicht aber für erkrankte Zuverdiener, in der Regel die Ehefrau. So wies 1906 die zuständige Aufsichtsbehörde die Beschwerde der Zigarettenarbeiterin P. H. zurück. Sie hatte als Mitglied der Allgemeinen Ortskrankenkassen Frankfurt am Main Angehörigenkrankengeld beantragt. Mit ihrem Tagesverdienst von bis zu vier Mark habe sie ihre Familie wesentlich unterhalten. Dagegen argumentierte die Aufsichtsbehörde: »Es steht außer Zweifel, daß die Familie H. während der Unterbringung der Ehefrau im Krankenhause durch den Arbeitsverdienst des Familienhauptes von wöchentlich 30 Mark der Unterstützungsbedürftigkeit, der durch die Angehörigenunterstützung abgeholfen werden soll, überhoben war. Sodann hat Frau H. vor ihrer Erkrankung keineswegs den Unterhalt ihrer Familie, d. h., allein oder doch zum überwiegenden Teile, wie es das Gesetz verlangt, bestritten, sondern nur dazu, wenn auch zu einem nicht unwesentlichen Teile, immerhin nicht zur Hälfte beigetragen.«69
Den Kassen war ebenfalls seit 1883 gestattet, als freiwillige Mehrleistung eine Familienversicherung anzubieten und damit auch den direkten Angehörigen einer versicherten Person unentgeltlich oder teilfinanziert ärztliche Hilfe und Versorgung mit Arzneien zukommen zu lassen. In einigen Kassen zahlten Versicherte, die die Leistungen der Familienhilfe in Anspruch nehmen wollten, einen Zusatzbetrag. Vor 1914 war diese Familienkrankenhilfe für versicherungsfreie Familienmitglieder nach dem Urteil zeitgenössischer Beobachter nicht in nennenswertem Umfang zum Zuge gekommen.70 Sie wurde erst während des Ersten Weltkriegs üblich. 1914 ergab eine Erhebung bei 325 Ortskrankenkassen mit insgesamt 2,6 Mio. Versicherten, dass 73 Prozent der Versicherten auch für ihre direkten Angehörigen Kassenleistungen in Anspruch nehmen konnten. Arzt und Arzneien waren für die Familienmitglieder von immerhin 56 Prozent der Versicherten unentgeltlich.71 68 JbKV (wie Anm. 42) 1928, S. 70. 69 Reformblatt für Arbeiterversicherung 2/1906, S. 412. 70 Nach einer Sondererhebung im Regierungsbezirk Köln 1904 hatten nur etwa 10 Prozent der Krankenkassen und 25 Prozent aller Kassenmitglieder eine Familienversicherung, vgl. Tennstedt, Sozialgeschichte (wie Anm. 1), S. 388. 71 JbKV (wie Anm. 42) 1914, S. 218.
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Nach 1923 wurde die Familienhilfe zur Regel. Als reichsgesetzliche Pflichtleistung wurde sie erstmals 1926 in der Novelle zur knappschaftlichen Krankenversicherung und bei der Neueinrichtung der Seekrankenkasse vorgeschrieben.72 Die Versicherten sollen 1914 zusätzlich etwa 4 Mio., 1924 bereits 14 und 1930 zwischen 16 und 17 Mio. Familienangehörigen den Zugang zu Krankenversicherungsleistungen eröffnet haben.73 Als die Leistungen der Familienversicherung durch Notverordnung im Juli 1930 generell zu genormten gesetzlichen Regelleistungen gemacht wurden,74 waren sie de facto als freiwillige Mehrleistungen längst üblich geworden.
4.3 Bilanzierung Die über den Ersten Weltkrieg beschleunigte und in den zwanziger Jahren zügig ausgebaute soziale Erweiterung der gesetzlichen Krankenversicherung führte Zug um Zug hin zu einer immer stärker familienorientierten Umverteilung und allgemeinen gesundheits- und bevölkerungspolitischen Nutzung der individuell aufgebrachten Versicherungsbeiträge und der allein über die oder den Versicherten zugänglichen Kassenleistungen. Hinsichtlich der direkten medizinischen Versorgungsleistungen waren weibliche und männliche Kassenmitglieder gleichberechtigt, und Gleiches galt für die hauptsächlich von ihnen finanziell abhängigen direkten Familienangehörigen. Die weibliche Ernährerin, die als Tochter auch für ihre Eltern, als ledige Mutter, Witwe oder geschiedene Frau für ihre Kinder, als Ehefrau für ihren invaliden Ehemann den Unterhalt verdiente, konnte genauso wie ein männlicher Ernährer über ihre eigene Krankenversicherung auch ihre Familie medizinisch versorgen lassen. Einzig die unterschiedliche Zahlungsfähigkeit der einzelnen Kassen, von der die Quantität und Qualität der medizinischen Leistungen abhing, dürfte sich stärker zuungunsten von Frauen ausgewirkt haben. Schwangere Frauen und Wöchnerinnen profitierten – von Anfang an als Versicherte und ab 1914 auch als nichtversicherte Angehörige von Versicherten – überproportional von den Kassenleistungen. Diese insgesamt positive Bilanz der gesetzlichen Krankenversicherung zeigt ihre dunklere Kehrseite, wenn außer der medizinischen Versorgung auch die Lohnersatzleistungen berücksichtig werden. Hinsichtlich der Geldleistungen, die den krankheitsbedingten Lohnausfall kompensieren sollten, schnitten erwerbstätige Frauen aufgrund des generell niedrigen Frauenlohns besonders schlecht ab. Sie und ihre Familien gerieten bei krankheitsbedingter Erwerbsunfähigkeit trotz der Krankengeldzahlungen umgehend unterhalb des Existenzminimums, wenn sie nicht von anderer Seite unterstützt wurden. Ob und wie 72 Kleeis (wie Anm. 9), S. 287. 73 JbKV (wie Anm. 42) 1926, S. 26, 1930, S. 33. 74 Zur Notverordnung vom 30.7.1930 vgl. Zöllner (wie Anm. 1), S. 74 f.
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innerhalb des Krankenversicherungssystems diese Notsituation wahrgenommen worden ist, darüber ist aus der vorliegenden Forschungsliteratur bislang leider nichts zu erfahren.
5. Zusammenfassung Mit der Grundlegung des modernen deutschen Sozialstaates wurde daran gearbeitet, zwecks Stabilisierung der Gesellschaft die risikoreichen Lebensverhältnisse lohnabhängiger Bevölkerungsschichten abzusichern. Ein strategischer Ansatzpunkt dafür war die Verallgemeinerung stabiler Familienverhältnisse. Als deren Basis galt die innerhalb und außerhalb von Ehe und Familie wirksame Teilung der Arbeiten und Zuständigkeiten nach Geschlechtern bei gleichzeitiger Privilegierung der Mannes- gegenüber der Frauenposition. Seit etwa 1900 wurde dieses gesellschaftspolitische Modell unter dem wachsenden Einfluss der Frauenbewegung in zwei Richtungen optimiert. In dem Maße wie die Forderung nach gleicher Berechtigung und Wertschätzung von Frauen und Männern an Akzeptanz gewann, wurden erstens in der sozialen Gesetzgebung die Belange von Frauen besser berücksichtigt, sei es über die seit 1911 erweiterten Mitspracherechte von Frauen in den Sozialversicherungen, sei des durch Einbeziehung weiterer Gruppen erwerbstätiger Frauen in das Sozialversicherungssystem, sei es durch Hinzufügung von Vergünstigungen zu den zunächst allein als Verbote erlassenen arbeitsrechtlichen Sonderbestimmungen für das weibliche Geschlecht. Zweitens wurde das am männlichen Ernährer nebst abhängigen Familienangehörigen ausgerichtete Sozialmodell im 20. Jahrhundert konsequenter ausgestaltet.75 Die Privilegierung des aktuellen oder auch nur potentiellen männlichen Familienernährers, die hinsichtlich Erwerbschancen und Qualität der Arbeitsplätze seit langem wirksam war, wurde durch den Erwerb von Versicherungsansprüchen, die sich nach Lohnhöhe und zum Teil auch Dauer der Erwerbsarbeit richteten, nachhaltig bekräftigt. Eine zusätzliche Stärkung erfuhr die Position des Ernährers, als es üblich wurde, auch die von seinem Einkommen anhängigen Familienangehörigen direkt in das soziale Sicherungssystem einzubeziehen. Seit 1911 erhielten endlich auch Witwen, die selbst keiner Pflichtversicherung angehörten, einen von der Rentenversicherung des Ehemannes abgeleiteten, zwar unzureichenden, aber immerhin gesetzlichen Anspruch auf Witwenrente.76 Die gesetzlichen Krankenkassen, die bis zum Ersten Weltkrieg nur zögernd Familienmitgliedern Kassenleistungen freiwillig zuerkannt hatten, steigerten in der Weimarer Republik sowohl die gesetzliche als auch die freiwillige Familienunterstützung. Generell sollten Sozialversicherungen nun möglichst Lohnersatzzahlungen gegebenenfalls durch 75 Vgl. zur Familienversicherung Rust (wie Anm. 66). 76 W. Dreher, Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland, Berlin 1978.
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Familienzuschläge aufstocken. Schließlich erhielt als Pendant des männlichen Ernährers auch die Mutter und Hausfrau in neuer Weise sozialpolitische Aufmerksamkeit, als mit Geldern der Sozialversicherungen auch solche Einrichtungen der Gesundheits-, Berufs- und Ausbildungsfürsorge finanziert wurden, die sich speziell an Frauen als aktuelle oder zukünftige Mütter und Ehefrauen richteten.77 Je konsequenter und wirksamer Sozialpolitik auf Bestandserhaltung der Familie zielte und zusätzlich zum vollerwerbstätigen Familienernährer auch die hauptsächlich als Mutter und Hausfrau tätige Ehefrau unterstützte, um so nachhaltiger wurde die geschlechterpolitisch auf die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau vom Ehemann ausgerichtete Ordnung der Geschlechterverhältnisse bestätigt und abgelenkt von dem alternativen Ziel, Frauen gleichberechtigt zu Männern mit eigenständigen Erwerbs- und Lebenschancen auszustatten.
77 Vgl. u. a. K. Hagemann, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990; Rouette (wie Anm. 22), S. 170–250.
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Arbeit und Geschlecht * 1
Zukunftsvisionen argumentativ zurückzubinden an die Last der Geschichte ist gewagt, lohnend und notwendig. Die hier zu erörternde Frage nach der aktuellen und zukünftigen Relevanz des Zusammenspiels von Arbeit und Geschlecht fordert ein solches Experiment geradezu heraus. Ich entwerfe daher experimentierend eine Argumentation in der offenen Form eines Essays. Meine Argumentation führt zunächst bis in die Frühe Neuzeit zurück; die Aufmerksamkeit gilt dann dem Befund, dass die früher so selbstverständliche Zuordnung von Arbeit und Geschlecht heute prinzipiell zur Disposition gestellt ist und dass die daraus resultierende Beunruhigung ihren Niederschlag auch in den aktuellen Diskursen über die Krise/die Krisen von Erwerbsgesellschaft, Wohlfahrtsstaat, Familie, Leitwerten findet; schließlich werden als Zukunftsphantasien die Chancen und Auswirkungen einer konsequenten Überwindung der bislang stets geschlechtsdifferent strukturierten gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensordnungen vorgestellt. Der Essay bietet wegen der gebotenen Kürze notgedrungen nur den Charme glattgeschliffener Abstraktheit, in deren Spiegelung bekanntlich allzu leicht alle Katzen grau erscheinen. Als Realitätskulisse stehen im Hintergrund meiner Überlegungen die abendländisch-christlichen, heute wohlfahrtsstaatlich eingerichteten kapitalistischen Industriegesellschaften. Eine Reihe durchaus wichtiger Zusammenhänge werde ich nicht ansprechen. Zwei besonders schwerwiegende Aussparungen seien ausdrücklich benannt: Ich übergehe erstens Programm und Praxis tiefgreifender Transformationen der Geschlechterverhältnisse in der sozialistisch gestalteten Variante des 20. Jahrhunderts, obwohl diese hochinteressant sind. Ich gehe zweitens nicht darauf ein, dass die Verwertung vorindustriell geordneter Geschlechterverhältnisse relevant ins Spiel kommt, wo immer heute das weltweite Gefälle kultureller und wirtschaftlicher Differenzen weltwirtschaftlich profitabel genutzt wird. Gerade in diesem Punkt ist meine Auslassung um so problematischer, als die alte Frage nach der Funktionalität sozialer Ungleichheit und damit auch der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sehr viel entschiedener, als es derzeit die harmonisierende Formel von der Globalisierung nahelegt, im Weltmaßstab diskutiert werden muss.
* Zuerst erschienen in: J. Kocka u. C. Offe unter Mitarbeit von B. Redslob (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 343–361.
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1. Arbeitsordnung – Geschlechterordnung – Gesellschaftsordnung Die Geschlechtsspezifik der Teilungen von Arbeiten, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten ist bis heute ein grundlegendes, zur Struktur verfestigtes Element des Ordnens gesellschaftlicher Verhältnisse. Ich erläutere mit meiner Argumentation die These, dass in naher Zukunft die Bedeutung eben dieser geschlechtlichen Differenzierungen sehr schnell weiter abnehmen wird und abnehmen muss. Die dazu erforderlichen tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationen stehen in den hochentwickelten Industriegesellschaften de facto schon lange auf der Tagesordnung. Doch bis in die 1960er Jahre galt es gesellschaftspolitisch generell als erstrebenswert, wo immer die geschlechtsdifferente Ordnung bedroht erschien, stabilisierend gegenzusteuern. Diese Situation hat sich seit Ende der 1960er Jahre dramatisch verändert. Erstmalig in der Geschichte wurde eine pauschale – und um hier gleich das meistens pejorativ eingeworfene Adjektiv positiv zu wenden – feministische Aufkündigung der herkömmlichen Geschlechterordnung programmatisch formuliert. Die international anhaltenden feministischen Debatten, Reformbemühungen und flankierenden Forschungen über Chancengleichheit, Machtverhältnisse und Gerechtigkeit haben im Laufe der Jahre erreicht, dass die Geschlechterdifferenz als Funktionselement hochindustrialisierter Gesellschaften heute weitgehend die frühere Akzeptanz und Legitimität verloren hat. Die ehemals so selbstverständlich behauptete Natürlichkeit und daher Notwendigkeit der alle Gesellschaftsbereiche strukturierenden, geschlechtsdifferenten Ordnungen wird inzwischen auch von Menschen, die des Feminismus nicht verdächtig sind, kaum mehr ins Feld geführt. Das neue Momentum scheint heute offensichtlich wirksam genug zu sein, um überfällige gesellschaftliche Transformationen zu beschleunigen. Es sei der Zusammenhang von Geschlechterordnung und Arbeitsordnung kurz noch etwas genauer umrissen. Diskussionen über Arbeitsverhältnisse werden üblicherweise im Gestus des geschlechtsneutralen Allgemeinen geführt. Sie lassen sich unschwer wegen ihrer kaum verhüllten Männlichkeitszentriertheit kritisieren. Gewiss erleichtert es die Präsentation und Diskussion komplexer Forschungsergebnisse, wenn systematisch davon abgesehen wird, dass Arbeits- und Gesellschaftsverhältnisse insgesamt bis heute von Grund auf nach Geschlecht differenziert sind. Aber dennoch sollte ein solches Vorgehen längst inakzeptabel sein, da es das, was analysiert werden soll, unzulässig verzerrt. Denn im System der Arbeit und des Arbeitens gelten Geschlechtsdifferenzierungen für einzelne Tätigkeiten ebenso wie für umfassende Zuständigkeitsund Arbeitsbereiche, für die immateriellen und materiellen Bewertungen von Arbeit ebenso wie für die individuellen und kollektiv-partizipatorischen Möglichkeiten der Gestaltung von Arbeit. Differenzierungen nach Geschlecht sind zudem für Menschen männlicher Geschlechtszuschreibung nicht nur anders, sondern auch prinzipiell höherrangig ausgelegt als für Menschen weiblicher Ge239
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schlechtszuschreibung. Die geschlechtlichen Differenzierungsschemata durchdringen hierarchische Ordnungen nach Klassen, Schichten und Ethnien in je spezifischer Qualität, tendieren aber gleichzeitig dazu, über diese auch hinauszureichen. Für die Arbeiterfrau regiert eine qualitativ andere Geschlechtsnorm als für den Arbeitermann, aber selbstverständlich auch eine andere als für die Großbürgerfrau. Allerdings ist stets auch die übergreifende normative Geschlechterordnung, die das soziokulturelle Bedeutungsfeld von WeiblichkeitMännlichkeit, Mannsein-Frausein ausmisst, prägend – und zwar umso wirksamer, je entschiedener die Spezifika sozialer Schichtungen durch allgemein gehaltene Aussagen nivelliert erscheinen. Studien und Debatten über Vergangenheit und Zukunft von Arbeit, Arbeitsteilungen, Arbeitsgestaltungen oder den Arbeitsmarkt, welche noch immer häufig genug kommentarlos die vorfindlichen Geschlechtsdifferenzierungen ausblenden, erwecken den Anschein, als seien diese belanglos oder im Sinne von Émile Durkheim nur als vorgesellschaftliche, da natürliche Arbeitsteilung von Bedeutung. Das Absehen von den Formen und Folgen geschlechtsdifferent strukturierter Arbeit wurde im 19. Jahrhundert durch die Einengung des Begriffes Arbeit auf marktvermittelte bzw. marktorientierte Erwerbsarbeit verstärkt. Diese im statistischen Zeitalter äußerst wirksame normierende Konstruktion ist seit dem späten 19. Jahrhundert durch den mit Erwerbsarbeit verbundenen Erwerb von Leistungsansprüchen im sozialen Sicherungssystem auch strukturell nachhaltig verfestigt worden. Die Verengung des Arbeitsbegriffs hat Fehlwahrnehmungen und Fehlbewertungen erleichtert, wenn nicht gar hervorgerufen. Bezahlte und unbezahlte Schattenarbeit oder Schwarzarbeit verflüchtigen sich zu irrlichternden Randphänomenen. Arbeit, die wie Familienarbeit, Hausarbeit und ehrenamtliche Arbeit nicht bezahlt wird, erscheint nicht länger als Arbeit oder zumindest nicht als richtige Arbeit. Zur Arbeit im Sinne des Einsatzes von Zeit, Kraft und Können, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen, zählte in früheren Zeiten selbst die Arbeit des Gebärens. Der auf Erwerbsarbeit eingeengte, statistisch nützliche Arbeitsbegriff schafft gegenüber einer Gemengelage von Phänomenen Klarheiten. Doch gleichzeitig bekräftigen die begrifflichen Grenzziehungen systematisch eine Abwertung der für Frauen und eine Aufwertung der für Männer ausgelegten Arbeit, denn »richtige« Arbeit ist Männerarbeit: Diese wird in Geld vermessen und hierarchisch geordnet; sie wird nach Berufszweigen ausdifferenziert und professionalisiert; die Regulierung von Beschäftigungsverhältnissen und Beschäftigungszeiten produziert ein Verständnis von Normalarbeitsverhältnissen nebst Freizeit und Urlaub, die auf Kontinuität gestellt sind; in Relation zu dieser Normalarbeit werden schließlich Überstundenarbeit, Teilzeitarbeit, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung als Sonderformen bezahlter Arbeit charakterisiert. Über Arbeit und Geschlecht nachzudenken zwingt dazu, die im engen Arbeitsbegriff ausgeblendeten Inhalte, Ordnungen und Bewertungen des Arbeitens neu auszuleuchten und die nicht als Erwerbsarbeit geleistete Arbeit eben240
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falls als Arbeit ins Spiel zu bringen. Das ist ein entscheidender Schritt, um auch für das 19. und 20. Jahrhundert die Bedeutung von Erwerbsarbeit zu relativieren und die spezifische Weise der Kosten-Nutzen-Kalkulation von Erwerbsarbeit sowie der Bemessung und Bewertung von Arbeitsleistungen kritisch zu überprüfen. Es ist an der Zeit, ernsthaft nachzufragen, was es für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung insgesamt bedeutet, dass nicht nur die jenseits des Arbeitsmarktes geleisteten Haus- und Familienarbeiten, sondern auch die marktvermittelten Erwerbsarbeiten mit einem charakteristischen geschlechtsspezifischen Gefälle bewertet werden: Warum erscheint es zum Beispiel gerechtfertigt, dass bei der beruflichen Pflege und Betreuung sehr kleiner Kinder sehr viel weniger Geld verdient werden kann als bei der Ausbildung fast erwachsener Menschen an Hochschulen?
2. Behauptung und Anpassung der Differenzierungen nach Geschlecht im 19. Jahrhundert Die Geschlechtsspezifik der Zuteilungen und Bewertungen von Arbeiten ist Jahrhunderte lang reproduziert worden als eine weit über die Erwerbsarbeit hinausreichende, kulturell tief verankerte und zugleich im historischen Wandel ungemein anpassungsfähige Strukturierung von Gesellschaften. Es ist aufschlussreich, sich in dieser Perspektive den Wandel von der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft zur modernen Wirtschaftsgesellschaft zu vergegenwärtigen. In der Frühen Neuzeit bildete der um ein Ehepaar gruppierte, herrschaftlich organisierte Haushalt mit seiner Hauswirtschaft und seinen Arbeitskräften, die neben Kost und Logis auch einen gewissen Lohn in Sach- und/oder Geldwert erhielten, die Basis von Landwirtschaft, Gewerbe und Handel. Der Haushalt war die Grundordnung sowohl für das Überleben der einzelnen Menschen als auch insgesamt für die soziokulturelle und religiöse Ordnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaft. Wem es auf lange Sicht nicht gelang, einem Haushalt anzugehören, sah sich ausgegrenzt und dem heimatlos vagabundierenden Armutsvolk zugerechnet. Das in einzelnen Haushalten ausgeübte ländliche Gewerbe eröffnete bis Anfang des 19. Jahrhunderts einer wachsenden Zahl von Menschen die Möglichkeit, die Gesindeposition in fremden Haushalten zu verlassen, im eigenen Haushalt als eigener Herr bzw. als dem Hausherrn nachgeordnete eigene Herrin zu walten, die allein in der Ehe legitimen Freuden der Sexualität zu genießen, eheliche Kinder in die Welt zu setzen und die in dieser Risikogesellschaft äußerst schwierige wirtschaftliche Gratwanderung des Überlebens, Erwerbens und Erhaltens von Gütern und Ressourcen zu bewältigen. Die damalige Gesellschaft war insgesamt in allen Bereichen durchzogen von standesspezifisch ausgeprägten, geschlechtsdifferenten Normen, welche Ehrbarkeit, Schicklichkeit, Ausdrucksweisen, Tätigkeiten, Arbeiten, Räume, Geselligkeiten etc. männlich oder weiblich definierten. 241
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Im 17. und 18. Jahrhundert bahnte der gegen die Beschränkungen der ständischen Gesellschaft gerichtete Individualisierungsprozess allmählich den Weg für neuartige politische Partizipationschancen sowie für erweiterte Arbeitsund Erwerbsmöglichkeiten in der kapitalistischen Marktwirtschaft und modernen Staatsverwaltung. Mit der Ausgestaltung der am Individuum orientierten modernen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikverhältnisse verloren diejenigen Leistungen ihre öffentliche Beachtung, die von Verwandtschaft, Familie und Haushalt für die Reproduktion der Gesamtheit aller Sozialverhältnisse erbracht und anerkannt worden waren. Im Kontext neuer Öffentlichkeiten mutierten im 19. Jahrhundert die Familienhaushalte zu Privatangelegenheiten, und die Hausväter alten Stils dankten ab. Gleichzeitig erlangten die in wachsender Zahl nun als Staatsbürger gleichen Rechts privilegierten erwachsenen Männer die neue Zuständigkeit, auch jenseits ihrer Familienhaushalte, Gemeinden und ständischen Assoziationen öffentliche Angelegenheiten zu gestalten. Das in der Frühen Neuzeit als Arbeitspaar in der haushaltszentrierten Wirtschaft eng kooperierende Ehepaar wurde unter den Bedingungen des mobilisierenden Arbeits- und Warenmarktes zwar entscheidend verändert, wenn Mann, Frau und Kinder ihre Arbeiten zunehmend haushaltsfern, individuell und bei wachsender Unterschiedlichkeit der jeweiligen Zeiten, Orte und Qualitäten ausführten. Doch die Vorstellung einer Ergänzung von Mann und Frau im ehelichen Arbeitspaar diente weiterhin als normatives Muster, um weitreichende gesellschaftliche Differenzierungen nach Geschlecht zu reproduzieren und zu legitimieren. Es gab im Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ein waches Bewusstsein dafür, dass Veränderungen auf der Männerseite der Geschlechterordnung auch die Frauenseite in Mitleidenschaft ziehen. Der 1660 geborene Daniel Defoe hat nicht nur 1719 die Abenteuer des wagemutigen, Natur und Menschen sich zu Diensten machenden Einzelgängers Robinson Crusoe veröffentlicht, sondern ihnen 1722 auch die abenteuerliche Geschichte der Moll Flanders zur Seite gestellt. Defoe führt Moll Flanders von früher Verführung im Hause ihrer reichen Gönnerin über selbstbewusste Gestaltung eigener Heiratschancen, Inzest, mehrere gleichzeitige Ehen, Geburten illegitimer Kinder, Prostitution und Gaunereien aller Art schließlich mit einem Gefangenentransport erneut nach Neuengland, wo sie ausgestattet mit größerer Autonomie wieder ein ehrbares Eheleben zu führen beginnt. Demgegenüber hat Jean Jacques Rousseau bekanntlich 1762 ein breit rezipiertes Programm der Harmonisierung moderner Geschlechterantagonismen entworfen, indem er seinem zu Autonomie und Selbstdisziplin erzogenen Émile die relational zu den Bedürfnissen dieses neuen Mannes abhängig konzipierte Sophie zu Seite stellte. Seit der Wende zum 19. Jahrhundert schließlich wurden erhebliche Anstrengungen darauf verwandt, an den Körpern abzulesen, was die Natur der Weiblichkeit und Männlichkeit mit allen Zuständigkeiten, Arbeitsteilungen und Dominanzgefügen in polarer Gegensätzlichkeit und Ergänzung zu sein und zu bedeuten hat. Dieses dauerhaft gepflegte, diskursive Bollwerk diente während 242
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des gesamten 19. Jahrhunderts dazu, den seit alters her patriarchalisch geordneten Ehe- und Familienstand zu schützen vor dem Sog des radikalen Zusammenbruchs der Ständeordnung und vor der Dynamik voranschreitender Individualisierung. Um auf Dauer sicherzustellen, dass Frauen alternativlos einmündeten in ihren vermeintlich natürlichen weiblichen Hauptberuf der Hausfrau, Gattin und Mutter, sollte dem weiblichen Geschlecht vorenthalten bleiben, was das männliche als Zugewinn erlangt hatte, nämlich Selbstbestimmung und das Recht auf individuelle Nutzung politischer und wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten. In der Tat richteten sich die Industriegesellschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend darauf ein, dass Männer aller Bevölkerungsgruppen dafür zuständig sind, familienfern erwerbstätig zu sein, außerfamiliale Bereiche zu gestalten und gleichzeitig innerhalb ihrer Familien als Oberhaupt, Ernährer und Beschützer von Weib und Kind anerkannt zu werden. Für diese Aufgaben wurden Männer als Einzelkämpfer konditioniert. Im Gegensatz zu den Männern wurden Frauen – unabhängig davon, wie viel Zeit und Kraft sie in den Erwerb investierten und ob sie tatsächlich in einer Ehe lebten oder nicht – immer konsequenter darauf verpflichtet, fürsorgende Hausfrau, Gattin und Mutter zu sein. Gleichzeitig blieb die kulturell unablässig bearbeitete Geschlechterhierarchie im Prinzip unverändert, auch wenn sie als Tribut an den historischen Wandel häufig neu eingekleidet werden musste. Diese gemäß den Bedingungen der Erwerbsgesellschaft modernisierte Geschlechterordnung stabilisierte zwar eine Balance zwischen Ehe und Familienhaushalt einerseits und individualisierend funktionierender Wirtschaft und Gesellschaft andererseits. Doch strukturell verschob sich damit die Geschlechterbalance zuungunsten von Frauen. Denn Familie und Haushalt, die Bereiche anerkannter Frauenzuständigkeit, rückten hinsichtlich Gestaltungsmacht und Wertschätzung immer erkennbarer im Gefüge der Gesellschaft an den Rand des Geschehens. Sie wurden zum abhängigen Nebenschauplatz. Im Zuge verallgemeinerter kapitalistischer Industrialisierung und Marktwirtschaft wuchs parallel zu dieser Bewegung auf lokaler ebenso wie auf zentralstaatlicher Ebene im 19. Jahrhundert die Bedeutung der öffentlich-politischen Ausgestaltung der Gesellschaftsverhältnisse. Umso folgenreicher war es für Frauen, dass ihnen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und häufig noch darüber hinaus die für Männer regulär gewordenen Formen politischer Partizipation gesetzlich weitgehend verwehrt blieben. Gemäß der eng auf die Familienordnung ausgerichteten Geschlechterordnung gehörte es außerdem im 19. Jahrhundert zum gesellschaftspolitischen Programm, Frauen möglichst keine attraktive Alternative zur primären Familienzuständigkeit zu eröffnen. Die Verweigerung beruflicher und höherer Ausbildung, eingeschränkte Assoziationsrechte und die rechtlich vorgesehene Kontrolle des Ehemannes über das Vermögen bzw. Erwerbseinkommen der Ehefrau etwa dienten diesem Zweck. Wer nicht zu den wenigen reichen Frauen gehörte, sah sich als unverheiratete »alte Jungfer«, aber auch als Witwe sozialer Diskriminierung und Verarmung 243
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ausgesetzt. Auf dem Arbeitsmarkt sorgten geschlechtsdifferente Segmentierungen und Segregierungen der Berufsfelder dafür, dass Frauen generell nur den mit dem weiblichen Status der Zuverdienerin gerechtfertigten Niedriglohn erarbeiten konnten. Allerdings wurde die Geschlechterordnung des Arbeitens insgesamt als äußerst prekär und instabil erachtet. Das zeigen die bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg endlos geführten Diskurse über das Problem der Frauenerwerbsarbeit im Allgemeinen und die Fabrikarbeit verheirateter Frauen im Besonderen. Ebenso belegen dies die speziellen Arbeiterinnenschutzmaßnahmen und die vornehmlich als Stabilisierung der männlich gedachten Ernährerposition ausgelegten Sozialversicherungen. Als Frauen für sich schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bessere Ausbildungs- und Berufschancen sowie Partizipationsberechtigungen erkämpft hatten, wurde umgehend sozialpolitisch flankierend darauf hingearbeitet, die außerhäusliche Erziehung junger Frauen für ihren »natürlichen« Mutter-Beruf zu intensivieren und zu institutionalisieren. Seit dieser Zeit hat sich der Diskurs verlagert auf das Frauendilemma der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Als dessen am ehesten erstrebenswerte Lösung galt bis in die 1950er Jahre die Befreiung der Frauen vom wirtschaftlichen Zwang zur Erwerbsarbeit durch Erhöhung des Ernährereinkommens. Seit den 1980er Jahren taucht das an Frauen delegierte Dilemma in neuartiger Verpackung auf, wenn angesichts der zunehmenden Berufsorientierung von Frauen Programme zur Stützung der Familie weder als Familien- noch als Männerförderprogramme, sondern als Frauenförderprogramme aufgelegt werden.
3. Die Wirkungsmacht geschlechtsdifferent strukturierter Arbeitsordnungen Auch noch das Erscheinungsbild heutiger Arbeitsverhältnisse lässt unschwer die Wirksamkeit zweier aus der frühneuzeitlichen Gesellschaft hinübergeretteter geschlechtsdifferenzierender Prinzipien erkennen. Erstens gilt nach wie vor, dass Menschen weiblichen Geschlechts – zumindest dann, wenn sie nicht in Einpersonenhaushalten leben – vorrangig und im weitesten Sinne für die alltäglichen Haus- und Familienarbeiten de facto zuständig sind. Es wird darüber hinaus von ihnen erwartet bzw. ihnen erlaubt, diese Zuständigkeit zu akzeptieren und arbeitend einzulösen. Die von Frauen ausgeübte Erwerbstätigkeit erscheint demgegenüber als sekundäre, allenfalls temporär oder phasenweise relevante Beschäftigung. Ganz im Sinne des frühneuzeitlichen, auf gegenseitige Ergänzung angelegten, ehelichen Arbeitspaares haben Menschen männlichen Geschlechts weiterhin primär und möglichst ausschließlich die Zuständigkeit des Familienernährers auszufüllen und durch Erwerbsarbeit ein ausreichendes Familieneinkommen zu erarbeiten. Im Bereich der modernen Erwerbsarbeit erstreckt sich die legitimatorische und strukturierende Kraft dieses Ergänzungs244
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programms für beide Geschlechter auf das gesamte Arbeitskräftepotential. Für alle noch nicht, nicht mehr oder niemals in einer Ehe lebenden Menschen wirkt sich dieses für das Erwerbseinkommen bei Frauen als Nachteil und bei Männern als Vorteil aus. Zweitens ist in den zurückliegenden beiden Jahrhunderten mit unterschiedlichen Verfahren erfolgreich als weiteres Grundprinzip der Geschlechterordnung sichergestellt worden, dass Menschen männlichen Geschlechts ungeachtet aller ökonomischen und technologischen Umwälzungen, und aller Demokratisierungs- und Individualisierungstendenzen weiterhin ganz im Sinne der alten Hausvater-Position ihre gesellschaftliche Dominanz gegenüber den Menschen weiblichen Geschlechts behauptet haben. Für den Bereich der Erwerbsarbeit und den Arbeitsmarkt ist inzwischen gut erforscht, wie deren offensichtliche geschlechterhierarchische Strukturierung produziert und reproduziert worden ist und weiterhin wird. Die Sicherung der Dominanz ist nicht das Ergebnis von Naturwüchsigkeit, sondern von Interaktionen, die immer erneut zwischen Arbeitnehmern und Arbeitergebern individuell und über Interessenorganisationen ausgehandelt und von politischen Parteien, staatlichen Verwaltungen, flankierenden Gesetzen und nicht zuletzt von Kirchen und Wissenschaft breit unterstützt worden sind. Die auf allen Ebenen des Arbeitsmarktes und Betriebs konstruierte, strikt geschlechtsspezifische Segregierung und gegensätzliche Charakterisierung von Männer- und Frauenarbeiten waren das entscheidende Medium der Sicherung von Dominanz. Es erlaubte, männliche Arbeitskraft in vorgestellter oder tatsächlicher Beziehung zu weiblicher Arbeitskraft prinzipiell als führende gegenüber der ausführenden, als hauptarbeitende gegenüber der neben- oder zuarbeitenden, als qualifizierte gegenüber der ungelernten Arbeitskraft zu verorten, Männerarbeitsbereiche im Verhältnis zu Frauenarbeitsbereichen als höherwertig einzustufen und auf dieser Grundlage innerhalb der vorgeblich leistungsgerechten Gesamtpyramide der Erwerbseinkommen ein geschlechtshierarchisches Gefälle einzubauen. Es liegt auf der Hand, dass die beiden skizzierten regulativen Prinzipien ihren dauerhaften Ausdruck im modernen Ernährer-Hausfrau/ZuverdienerinModell und ihre bis heute wirksame zusätzliche gesellschaftspolitische Verankerung im sozialen Sicherungssystem gefunden haben. Im 19. und 20. Jahrhundert hat diese geschlechtsspezifische Arbeitsordnung dazu gedient, das Spannungsverhältnis zwischen Erwerbswelt und Familienbedürfnissen auszubalancieren, indem es den Menschen weiblichen Geschlechts eine Entscheidung gegen Familienzuständigkeiten und für mehr familienferne, individuelle Autonomie wirtschaftlich aufs äußerste erschwerte. Diese Ordnung hat im 20. Jahrhundert erstaunliche Stabilität bewiesen. Sie ist weder durch zwei Weltkriege mit ihren dramatischen Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse noch durch die Expansion des Dienstleistungssektors mit seiner schnell wachsenden Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften, noch durch die gesetzlich eingeforderte Gleichberechtigung beider Geschlechter dauerhaft erschüttert worden. Es ist selbst heute noch überaus schwierig, dieses strukturell verfestigte Regel245
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werk wirkungsmächtiger geschlechtsspezifischer Differenzierungen und Hierarchisierungen aufzubrechen. Dieses aber ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass Interessen, Belange, Bedürfnisse und Ansprüche von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen tatsächlich gleichberechtigt zum Zuge kommen können. Ab Ende der fünfziger Jahre vermochte das Ernährer-Hausfrau-Modell erstmals für die große Mehrheit aller Erwerbstätigen das zu leisten, was es immer versprochen hatte. Für immer mehr Ehefrauen und Mütter, die einen erwerbstätigen Ehemann zur Seite hatten, war Erwerbsarbeit keine wirtschaftliche Notwendigkeit mehr. Doch statt programmgemäß aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, leisteten verheiratete Frauen nun in wachsender Zahl Teilzeitarbeit, weil diese ihnen eine attraktive Alternative zur Familien- und Hausarbeit bot und ihnen Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung eröffnete. Seit Mitte der 1970er Jahre begannen einschneidende Strukturveränderungen das bisherige geschlechtsdifferente System des Arbeitens zu unterminieren. Das bis dahin sehr erfolgreich weiterentwickelte, auf den männlichen Ernährer ausgerichtete Normalarbeitsverhältnis geriet nun unter den Druck hoher Arbeitslosigkeit und verlor damit seine frühere Verlässlichkeit. Parallel dazu hat die Besserstellung von Ehefrauen im Scheidungsrecht deren Bereitschaft erhöht, eine Ehe auch wieder zu verlassen. Die Häufigkeit von Ehescheidungen und die Zunahme außerehelicher Lebensgemeinschaften bekräftigen ihrerseits die Botschaft, dass Frauen eine Ehe zum Zwecke wirtschaftlicher und sozialer Absicherung nicht länger als zwingend erachten. Individuelle Autonomie, Berufsorientierung und kontinuierliche Berufsarbeit haben inzwischen auch die weibliche Seite des geschlechtsdifferenten Arbeitssystems entscheidend verändert. Die Doppelbewegung – die Erosion der dem männlichen Geschlecht zugemuteten Zuverlässigkeit als Ernährer auf der einen Seite und die durch eigene Erwerbsarbeit realisierte wirtschaftlich Unabhängigkeit der Frauen von einem männlichen Ernährer auf der anderen Seite – hat inzwischen dazu geführt, die traditionelle Privilegierung von Männern in der Erwerbswelt prinzipiell in Frage zu stellen und für Frauen gleichwertige Karrierechancen und Leistungshonorierung einzufordern. Was lange als gerechter Erwerbs- und Sozialleistungsanspruch des Familienernährers erschien, wird heute als Defizit sozialer Gerechtigkeit bei der eingeforderten Ausgestaltung gleichberechtigter Geschlechterpositionen attackiert. Damit stehen Bewertung, Bezahlung und Zuerkennung von Leistungen im Arbeits- und Sozialsystem insgesamt auf dem Prüfstand. Die bisherige Form staatlicher Subventionierung von Ehe erscheint in einem neuen Licht. Vor allem scheint es nicht länger sozial verträglich zu sein, die wachsende Zahl alleinerziehender Mütter (und einiger Väter) von Erwerbslosigkeit bzw. prekären Arbeitsverhältnissen und damit nebst ihren Kindern von Armut bedroht zu sehen. In den aktuellen »Krisendebatten« findet die Revolutionierung der Geschlechterordnung des Arbeitens nur selten die ihr gebührende Aufmerksamkeit. Doch bislang hat die höchst disponibel und flexibel in Familien- und Er246
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werbsarbeit eingesetzte Arbeitskraft von Frauen in erheblichem Umfange dazu beigetragen, die Erwerbswirtschaft sozialstaatlich zu stützen. Zusätzlich zu den Familienleistungen sind hier die extrem variabel abgerufenen Teilzeit- und Saisonarbeiterinnen ebenso wie die niedrigen Lohn- und Sozialkosten für typische Frauenarbeiten von großer Bedeutung. In der Dienstleistungsgesellschaft wird es Probleme geben. Die für den Wohlfahrtsstaat charakteristische Vielzahl der im weitesten Sinne fürsorgenden Leistungen wird auf lange Sicht nicht mehr zu den bestehenden Konditionen zu haben sein. Dies gilt sowohl für jene Arbeiten, die derzeit innerhalb der Familien ohne Entgelt erbracht werden (zum Beispiel Altenpflege), als auch für jene hochqualifizierten Arbeiten, die zwar bereits über den Markt vermittelt, aber noch immer von Frauen zu Niedrigpreisen geleistet werden (zum Beispiel Versorgung von Behinderten). Da aber die Nachfrage nach Dienstleistungen aller Art weiter steigen wird und die zur Hilfe geholten Arbeitskräfte aus Niedriglohnländern diese Nachfrage voraussichtlich nur zum Teil werden befriedigen können, dürften weitere Kostensteigerungen im gesamten Sozial- und sonstigen Dienstleistungsbereich sehr wahrscheinlich sein.
4. Zukunftsvisionen über Ordnungen des Arbeitens und Lebens jenseits normierender Differenzierungen nach Geschlecht Die Zukunft hat insofern bereits begonnen, als sich inzwischen ohne wortgewaltige Gegendiagnosen die Überzeugung verallgemeinert hat, die bisherige Form der wohlfahrtsstaatlich gestützten Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft sei in dieser Form schon auf kurze Sicht nicht mehr reproduzierbar. Gleichzeitig ist es faszinierend und irritierend zu beobachten, wie selten in öffentlichen Debatten davon die Rede ist, dass seit nunmehr dreißig Jahren die Geschlechterordnung, die lange Zeit Familienzusammenhalt und Erwerbswirtschaft so hervorragend zu balancieren vermochte, ihre Stabilität und Zukunftsperspektive ebenfalls eingebüßt hat. In Medien, Politik und Wissenschaft sorgen die männlichzentrierten Definitionsmonopole immer noch höchst wirksam dafür, von diesem Schauplatz des Übergangs abzulenken. Über den aufgekündigten Generationenvertrag zu debattieren ist offenbar weitaus erträglicher, einträglicher und wohl deshalb scheinbar relevanter, als über den aufgekündigten Geschlechtervertrag und das, was daraus folgt, ernsthaft nachzudenken. Dennoch werden hochindustrialisierte Gesellschaften zukünftig ohne den »sexual contract« (Carole Pateman) auskommen müssen, der als stillschweigende Voraussetzung und Grundlage des »social contract« für zwei Jahrhunderte weitreichende gesellschaftliche Funktionen erfüllt hat. Hochentwickelte Industriegesellschaften eröffnen die Möglichkeit und Notwendigkeit, auf der Grundlage der vergleichsweise sehr einfach gewordenen reichhaltigen Versorgung mit materiellen Gütern eine neue soziale Ordnung zu 247
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realisieren. Diese wird – und ich entwerfe hier absichtsvoll ein optimistisches Zukunftsbild – auf neuem Niveau die seit dem 18. Jahrhundert weit auseinander gedriftete, primär Männern zugeordnete Erwerbswelt und primär Frauen zugeordnete Welt der Familien- und Haushaltsaufgaben wieder näher zusammenführen müssen. Die frühere normative Ordnung klar differenzierter männlicher und weiblicher Zuständigkeiten inklusive der damit intendierten, auf Dauer reproduzierten und kaum vermeidbaren wirtschaftlichen Abhängigkeit der Menschen weiblichen Geschlechts von den Menschen männlichen Geschlechts ist obsolet geworden. Deshalb werden zukünftig in den Arbeits- und Lebensformen geschlechtsunabhängige und in dieser Hinsicht gleichberechtigt individualisierende Modi der Verteilung, Übernahme sowie Ausübung von Aufgaben und Zuständigkeiten gefunden werden müssen. Längerfristige soziale Verbindlichkeiten, die bislang in hohem Maße normativ per Geschlechterordnung auf der Frauenseite verankert waren, bedürfen zukünftig neuartiger Absicherungen, um die vielfachen Möglichkeiten freigestellter, individueller Entscheidungen sozial verträglich abzufedern. Ein breites, in Qualität und Prestige hochwertiges Angebot staatlicher, marktwirtschaftlicher und ehrenamtlicher Dienstleistungen wird dazu erforderlich sein. Für eine offen geführte Zukunftsdiskussion ist es deshalb eine wichtige Voraussetzung, auf kritische Distanz zum eingeengten Arbeitsbegriff zu gehen. Arbeit nur in Bezug auf die marktförmige Produktion von Gütern und Diensten in die Überlegungen einzubeziehen, reicht nicht mehr aus. Statt dessen ist es notwendig, Arbeit so vielgestaltig als Lust und Last, als Zwang und Vergnügen, als individuelles und kollektives Tun wahrzunehmen, wie sie auch zukünftig notwendig sein wird und eingesetzt werden muss, um das Leben in Gesellschaften von Generation zu Generation und für die einzelnen Menschen von der Geburt bis zum Tod auszugestalten. Zunächst einmal gilt es, die Vielfalt der Tätigkeiten und Beschäftigungen, die erstrebenswert sein mögen, visionär auszubreiten. Erst dann kann erörtert werden, welche Tätigkeiten in welcher Weise mit welcher Art von Einkommens- und Marktchancen verknüpft werden können und sollen. In jedem Fall gibt es viele gute Gründe, Arbeit zukünftig anders, als es bislang geschieht, zu bewerten und zu hierarchisieren. Erforderlich ist dementsprechend eine erweiterte gesamtwirtschaftliche Kalkulation von Kosten und Nutzen. Dazu bedarf es einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die die öffentliche Wertschätzung des Wirtschaftens dergestalt neu konzipiert, dass außer den marktvermittelten Wertbewegungen auch die zur Reproduktion von Menschen jenseits des Arbeitsmarktes geleistete Arbeit in die Kalkulation integriert wird. Unbezahlte Leistungen des Pflegens und Fürsorgens können zukünftig mit Sicherheit nicht mehr wie bisher stillschweigend als gegeben vorausgesetzt werden. Die sozialen Folgekosten des marktvermittelten Wirtschaftens bedürfen deshalb ebenso wie die Folgekosten der Umweltbelastungen und der nicht entlohnten Haus-, Familien- und sonstigen fürsorgenden Arbeiten vermehrter öffentlicher Aufmerksamkeit. 248
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Betrachtet man die Gesamtheit der Erwerbs-, Haus- und Familienarbeiten als ein eng aufeinander bezogenes Wechselspiel, dann treten schon heute einschneidende Veränderungen zutage, welche die diskursiv so nachdrücklich bearbeiteten Veränderungen des Wohlfahrtsstaates nicht unwesentlich beeinflussen. Die derzeitigen Entwicklungen weisen – bei zugegebenermaßen optimistischer Deutung – auf eine Zukunft hin, in der hierarchisierende und polarisierende Differenzierungen nach Geschlechtern verschwinden. Die Praxis des geschlechtsspezifischen Ordnens, Teilens, Segmentierens und Bewertens von Arbeiten wird demnächst einer so fernen Vergangenheit angehören, dass die innere Logik eines solchen Differenzierens kaum mehr zu verstehen sein wird. Die Grundlage für alle weiteren Entwicklungen ist die weiblich-männliche Angleichung sämtlicher Arbeitsmöglichkeiten und Erwerbschancen. Immer mehr Männer werden in Zukunft ebenso wie schon seit langem viele Frauen im Laufe ihres Lebens zwischen Phasen der Erwerbsarbeit und Phasen der Nichterwerbsarbeit wechseln, in kurzen Abständen immer wieder ihre Arbeitsfähigkeiten neuartigen Arbeitsgelegenheiten anpassen, bei ihrer Erwerbsarbeit unterschiedlichste Regelungen ihrer Arbeitszeiten und Einsatzorte akzeptieren. Frauen werden durch ihre formale Ausbildung zukünftig mit gleichwertigen Startchancen ausgestattet wie Männer. Sie werden dasselbe Maß an Berufsund Karriereorientierung zeigen, sich genauso wie Männer überlegen, ob sie kurz- oder langfristig aus der Berufsarbeit ausscheiden wollen. Sie werden mit ihrer Erwerbsarbeit dasselbe Einkommensniveau sowie dieselben Ansprüche bzw. Möglichkeiten eigener Daseinsvorsorge und sozialer Sicherungen erreichen. Unter den genannten Voraussetzungen werden weibliche und männliche Menschen im Prinzip mit demselben Maß an Autonomie entscheiden können, wie und wo sie arbeitend ihre Zeit und Kraft verausgaben wollen. Geschlechtsspezifische Diskriminierung hätte aufgehört, im System des Arbeitens ein relevanter Ordnungsfaktor zu sein. In einem solchen Szenario ist es realistisch, davon auszugehen, dass Erwachsene ohne Ansehen ihres Geschlechts frei entscheiden bzw. aushandeln können, ob sie überhaupt und, wenn ja, wie sie Bedürfnisse und Wünsche, die jenseits der Erwerbsarbeit liegen, befriedigen wollen. Experimentell werden schon seit längerem unterschiedlichste Lebensformen ausgelotet. Es ist möglich, als Single im Einpersonenhaushalt zu leben; mit mehreren Erwachsenen und vielleicht auch Kindern und Jugendlichen in einer oder mehreren Wohnungen mehr oder weniger verbindlich geregelt, möglicherweise in einem gemeinsamen Haushalt zusammenzuleben; vielleicht auch die feste Form des Familienhaushaltes zu bevorzugen; ja – selbst entgegen dem Trend zu Ehescheidungen – durch Wiederverheiratungen oder das Zusammenleben unverheirateter hetero- und homosexueller Paare den alten Typ des Kernfamilienhaushaltes auf Dauer weiter zu pflegen. Es wird in Zukunft generell üblich sein, im Laufe des langen Lebens in individuellen Kombinationen unterschiedlichste Lebensformen zu wählen und zu wechseln. Für den gleichwohl notwendigen sozialen Zusammenhalt wird es allerdings notwendig sein, dass sich Männer ebenso wie Frauen kontinuierlich nicht249
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beruflich, beruflich oder ehrenamtlich engagieren. Das gilt für die tagtägliche Versorgung, Zuwendung und Fürsorge für andere Erwachsene ebenso wie für Kinder, für gesunde ebenso wie für kranke, alte und sonst hilfsbedürftige Menschen. Es ist davon auszugehen, dass Männer in Zukunft ebenso intensiv wie Frauen ihre »Doppelrolle«, »Doppelaufgabe« und »Doppelbelastung« im Wechsel zwischen Beruf und außerberuflichem Lebenszusammenhang ausgestalten. Damit werden die im Berufsleben bislang eher negativ verbuchten, tatsächlichen bzw. unterstellten Folgewirkungen des außerberuflichen Engagements und unmittelbaren Eingehens auf Menschenbedürfnisse zukünftig sozial, wirtschaftlich und politisch alle Erwachsenen gleichermaßen betreffen können. Das früher allein Frauen anhaftende Berufs- und Einkommensrisiko des Aufziehens von Kindern und Sorgens für Hilfsbedürftige trifft Männer zukünftig in gleicher Häufigkeit und Selbstverständlichkeit. Die im Spagat zwischen Berufs- und Familienleben schmerzhaft individuell erfahrenen neuralgischen Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens transformieren sich dergestalt vom Frauendilemma zum Männer-Frauen-Dilemma. Das wiederum dürfte zur Folge haben, dass die täglich und über die Generationen hinweg zu bewerkstelligenden gesellschaftlichen Reproduktionen des Lebens in der öffentlichen Wahrnehmung weitaus größere Relevanz erhalten und eher politisierbar sein werden als früher. In jedem Fall entfällt zukünftig der heute zur Entlastung öffentlicher Kassen noch gern gewählte Ausweg, einen gewichtigen Teil der schulischen Ausbildung per Hausaufgaben oder Teile der Kranken- und Altenversorgung per Verkürzung der Aufenthalte in öffentlichen Pflegeeinrichtungen in die Privatzuständigkeit zu verlagern und dabei rhetorisch das Leistungsvermögen der Familien hochzuloben, wenn doch de facto fast ausschließlich die unbezahlten Leistungen von Familienfrauen verstärkt beansprucht werden sollen. Der Übergang in eine entwicklungsfähige Gesellschaft, die nicht geschlechtsdifferent organisiert ist, wird noch einige Zeit beanspruchen. Das gravierendste Hindernis auf dem Weg dahin dürfte die widerständige, insbesondere in der Erwerbswelt, aber auch im Bereich der Familienleistungen ausgeprägt privilegierte Platzierung des männlichen Geschlechts sein. Die notwendige Aushebelung dieser Privilegien wird äußerst schwierig sein, solange die Bevorzugung nicht als solche wahrgenommen, sondern als ein quasi natürlicher Bestandteil von Männlichkeit gelebt und immer erneut von Mann zu Mann bekräftigt wird. Die wie auch immer sonst hierarchisierten Erwerbseinkommen und -chancen auf ein männlich-weiblich gleichrangiges Niveau zu bringen, heißt nicht mehr und nicht weniger, als den historisch gewachsenen Anspruch auf einen Ernährerlohn ebenso wie den prioritären Ernähreranspruch auf einen Arbeitsplatz zu zerstören. Es heißt darüber hinaus, auch das über Jahrzehnte eingespielte, geschlechtsspezifisch diskriminierende System der Bewertungen von Arbeitsleistungen, die wiederum für die Höhe des Arbeitseinkommens und die daraus abgeleiteten Sozialleistungen relevant sind, durch ein prinzipiell männlichweiblich gleichberechtigendes System zu ersetzen. Es ist vermutlich sehr langwierig, die Vielzahl der familialen und außerfamilialen Strukturen außer Kraft 250
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zu setzen, die bisher geschlechtsspezifisch und zugleich hierarchisierend die Zuweisungen von Chancen, Zuständigkeiten, Verantwortungen, Verfügungsmöglichkeiten und Einkommen über Generationen reproduziert haben. Die volle Etablierung einer androgyn funktionierenden Gesellschaft wird nicht nur viel Zeit beanspruchen. Auf dem Weg dahin wird es auch harte Konflikte geben. Denn im Gesamtsystem des Arbeitens muss die männliche Geschlechtsposition relativ zur weiblichen das verlieren, was die weibliche Geschlechtsposition gewinnen soll – und umgekehrt wird die weibliche Geschlechtsposition das verlieren, was die männliche gewinnen soll. Die Crux dieses Austarierens liegt darin, dass das männliche Geschlecht bislang darauf »geeicht« ist, nicht allein den Rückzug von der Vorzugsstellung im Bereich der Erwerbsarbeit als Verlust zu verbuchen, sondern auch alle familialen und außerfamilialen fürsorgerischen Arbeiten und Zuständigkeiten, die es in Zukunft von der weiblichen Geschlechtsposition übernehmen soll, eher als Zumutung denn als Zugewinn wahrzunehmen. Es ist also eine weitreichende Umwertung des geschlechtsdifferenten Wert- und Gesellschaftssystems erforderlich, bevor die angestrebte Entkoppelung von Arbeitsordnung und Geschlechterordnung tatsächlich umfassend zustande kommen kann. Erst dann, wenn Menschen nicht unter dem Leidensdruck von Verlusten, sondern mit der kreativen Lust möglicher Gewinne daran gehen, ihre eigene Welt des Lebens und Arbeitens im positiven Sinne androgyn auszugestalten, kann die Vision einer solchen Zukunft ihre verlockenden Möglichkeiten entfalten. Heute liegt es mit Blick auf die Gefahr, dass es auch innerhalb der hochindustrialisierten Wohlfahrtsstaaten zu einer wachsenden Spaltung zwischen Armen und Reichen kommt, allerdings eher nahe, die Zukunft pessimistisch auszumalen. Die obsolet gewordene herkömmliche Geschlechterordnung des Arbeitens und Lebens könnte dann die düstere Aussicht eröffnen, dass unter den Bedingungen der von der kapitalistischen Industriegesellschaft angeforderten extremen Flexibilität und Mobilität sämtlicher Arbeitskräfte eine Zukunftsgesellschaft entsteht, in der ausschließlich voll leistungsfähige und rund um die Uhr einsatzwillige Berufsmenschen gleich welchen Geschlechts als Singles marktvermittelte Arbeitsplätze nebst großzügiger Leistungshonorierung erhalten und alle anderen Menschen in der Gesellschaft von diesen abhängig sein werden oder das Nachsehen haben.
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IV. Muttertag, Volkstrauertag und andere Antworten auf den Ersten Weltkrieg
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Mütter, Söhne und der Markt der Symbole und Waren: der »Deutsche Muttertag« 1923–1933*
Vorbemerkung Der Einfall, die Geschichte des Muttertages zu erforschen und darzustellen, hatte zunächst ein harmlos-didaktisches Motiv. In einem Sammelband über die Sozialgeschichte der Freizeit, der für ein breiteres Publikum konzipiert wurde, wollte ich die freizeitlosen Hausfrauen und Mütter unterbringen. Das eigenartige Muttertags-Fest bot sich als Aufhänger an. Die Rekonstruktion der vermeintlich harmlosen Muttertags-Geschichte verstrickte mich allerdings wider alles Erwarten in ein aufregendes Dickicht von Zusammenhängen, das zu ergründen mir gleichermaßen verlockend, faszinierend und waghalsig erschien. Die deutschen Muttertags-Feierlichkeiten waren keine Erfindung des Nationalsozialismus. Der jährliche Muttertag wurde bereits 1923 eingeübt und mit wachsendem Erfolg inszeniert. Bei dem Versuch, die Logik dieser Inszenierungen zu entziffern, entdeckte ich, dass in dem kleinen banalen historischen Ausschnitt »Muttertag« die komplexe gesellschaftliche Wirklichkeit des Zwischenkriegsdeutschland ungewöhnlich facettenreich abgebildet wird. Die neue Muttertags-Mode entwickelte sich nach Regieanweisungen von wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Pressure-Groups. Moderne Massenkommunikationsmittel und Werbetechniken wurden eingesetzt, um den Muttertag überall im Deutschen Reich möglichst gleichförmig in Szene zu setzen. Der Propagandafeldzug war erfolgreich. 1932 scheint der Muttertag als neue Fest-Kreation allgemein bekannt und weitgehend wohl auch akzeptiert gewesen zu sein.1 Dieser Werbefeldzug lässt vermuten, dass die Regisseure des Muttertags ein Festpublikum zur Verfügung hatten, das in hohem Maße aufnahmebereit war für Inhalt und Form dieser Neuerung im Festkalender. In der Tat zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die für den Muttertag in Umlauf gebrachten Ideologien, Bilder und symbolischen Handlungen keine Neuschöpfungen waren, sondern nur zur handlichen Form zusammenfassten, was ohnehin als * Zuerst erschienen in: H. Medick u. D. W. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 473–523. 1 Vgl. H. Harmjanz u. E. Röhr (Hg.), Atlas der Deutschen Volkskunde 1, Leipzig 1937–39, Karten 1–120, hier: Vorkommen des Muttertags 1932, K. 33 (Angaben über den Zeitpunkt der Einführung), K. 34 (Umfang der Beteiligung der Ortsbewohner).
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diffuse Vorstellungen verbreitet war. »Mutter«, »Muttertum«, »Mutterschaft« scheinen während der Weimarer Zeit als Thema allgegenwärtig gewesen zu sein und sehr umfassende individuelle und kollektive Erfahrungen, Auseinandersetzungen, Ängste und Sehnsüchte transportiert zu haben.2 Die Mutter-Thematik wurde auf sehr verschiedenen Ebenen bearbeitet. Zum einen galt die öffentliche Sorge der relativen und vielleicht auch absoluten Verschlechterung der Arbeits- und Lebensverhältnisse von Müttern. Mütterschulung und Müttererholung wurden mit dem Ziel, überlastete Mütter weiterhin funktionstüchtig zu erhalten, zu neuen Arbeitsschwerpunkten der Wohlfahrtspflege. Mütter waren auch der Angelpunkt aller öffentlich diskutierten und rasch institutionalisierten Gesundheits- und Bevölkerungspolitik. Immer nachdrücklicher wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Gebären, Aufziehen und Erziehen von Kindern gesellschaftlich reklamiert, abgesichert und kontrolliert, aber gleichzeitig mit Nachdruck darauf hingewirkt, dass Mütter weiterhin ihre gesellschaftliche Funktion in Privathaushalten und »autonomen« Familien ausübten. Dieser bewusst widersprüchliche gesellschaftliche Zuschnitt der Mutter-Funktion wurde den Frauen mit breitem gesellschaftspolitischem Konsens angepasst. Umso heftiger waren die politischen Auseinandersetzungen darüber, ob im Hinblick auf den »natürlichen Mutter-Beruf« die gesellschaftliche Emanzipation der Frauen zu verwerfen, zu dulden oder gar zu wünschen sei. In Diskussionen über Erwerbsarbeit und qualifizierte Ausbildung von Frauen und über die rechtliche und politische Gleichberechtigung von Männern und Frauen ging es mehr um die gesellschaftlich notwendige MutterFunktion als um das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung. Bezeichnend ist für diese am gesamtgesellschaftlichen Nutzen ausgerichteten Diskussionen, dass sie, ebenso wie die Debatten um die Reform des Abtreibungsverbots (§ 218), offensichtlich direkt an positiv besetzte, konkrete individuelle Erfahrungen mit der eigenen Mutter und mit der erlernten sozialen und psychischen Norm des Männlich-Seins und Weiblich-Seins anknüpften. Seit dem 18. Jahrhundert ist programmatisch daran gearbeitet worden3, in der menschenfeindlich erlebten Welt der gesellschaftlich organisierten Arbeit die menschlich gedachte Privatheit und Intimität der Familie als Refugium aus2 Der Anstieg der Publikationskurve zum Stichwort »Mutter« ist eindrucksvoll abgebildet in den Schlagwortregistern von: Deutsches Bücherverzeichnis. Eine Zusammenstellung der im deutschen Buchhandel erschienenen Bücher, Zeitschriften und Landkarten, Leipzig; vgl. auch die bibliographische Übersicht von H. Sveistrup u. A. von Zahn-Harnack, Die Frauenfrage in Deutschland, Burg b. M. 1934. 3 Vgl. G. Bock u. B. Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen Juni 1976, Berlin 1977, S. 118–199; U. Gerhard, Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Recht der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979; K. Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393.
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zubilden und immer weiteren Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen. Dabei wurde die Entgegensetzung von Familienheim und Welt im System der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung so verankert, dass einzig Frauen in ihrer »Bestimmung zur Hausfrau, Gattin und Mutter« sicherstellen sollten, dass auch in Zukunft die Familie und in der Familie der Fluchtort für Menschlichkeit fortbestehen werde. Die Verschmelzung von Heim-Familie-Frau zu einer Hoffnung stiftenden Einheit scheint in das 20. Jahrhundert hinübergerettet worden zu sein mit der Akzentverschiebung, dass »Frau« überwiegend als »Mutter« und kaum mehr als »Gattin« gedacht wurde. Zahlreiche Indizien weisen darauf hin, dass nicht nur die verbreitete Neigung zur biologistischen Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse dazu geführt hat, die soziale Position von Frauen über ihre Gebär- und Nährfunktion zu bestimmen. Offenbar war zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine Generation von Erwachsenen herangewachsen, die als Kinder sehr intensiv ihre Mütter anders als ihre Väter, und zwar die einen mütterlich und die anderen männlich, erfahren hatte. Die angedeuteten Zusammenhänge sah ich hinter der vordergründigen Muttertags-Geschichte aufscheinen. Tiefer in dieses Dickicht vermuteter Zusammenhänge vorzudringen, forderte den Preis, nicht länger ausschließlich auf die wissenschaftliche Distanz und das professionelle Rüstzeug des Sozialhistorikers zu bauen. An dieser Grenze machte ich bei meiner ersten Interpretation der Geschichte des »Deutschen Muttertages« halt.4 Im folgenden Beitrag will ich mich darauf einlassen, diese Grenze zu überschreiten. Die Tatsache, dass selbst meine äußerst vorsichtige Präsentation des Materials 1980 in Paris bei einem internationalen Roundtable zu »Anthropology and History« eine Diskussion provozierte, in der sich »emotion and interest« als Gegenstand der Erörterung und als subjektives Engagement der Diskutierenden überlagerten, hat mich ermutigt, meine eigenen Erfahrungen mit dem historischen Muttertags-Material, meine Beobachtungen, Einfälle und spekulativen Deutungen während der Forschungsarbeit weiter auszubreiten. David Sabean danke ich, dass er mich mit seinem langen kritischen Kommentar zu meinem ersten Aufsatz über den »Deutschen Muttertag« zu eben diesen Deutungen herausgefordert und auf Anknüpfungsmöglichkeiten verwiesen hat. Mein zweiter Versuch über den »Deutschen Muttertag« trägt deutliche Spuren der unbeholfenen Bearbeitung. Ich hatte erhebliche Schwierigkeiten, für meine Vorstellungen von der Komplexität des Gegenstandes eine angemessene Darstellungsform zu finden. Mit Komplexität meine ich, dass Wirtschaft-Gesellschaft-Kultur-Politik als interdependentes Ganzes zugleich Struktur und Dynamik des historischen Wandels ausmachen und dass dieser objektive Zusammenhang sich nicht anders als über Personen verwirklicht. Personen wiederum leben, handeln, denken und fühlen als individuelle und kollektive Subjekte. 4 Vgl. K. Hausen, Mütter zwischen Geschäftsinteresse und kultischer Verehrung. Der »Deutsche Muttertag« in der Weimarer Republik, in: G. Huck (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1980, S. 249–280.
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Ihre aktive und passive Auseinandersetzung mit der Umwelt geschieht mit Interessen, Absichten, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten, die bewusst und unbewusst nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch aus der individuellen und kollektiven Lebensgeschichte und damit auch aus der allgemeinen Geschichte motiviert sind. Wie sich diese globalen Aussagen auf die hier diskutierten Muttertags-Materialien beziehen lassen, deuten Hans Medick und David Sabean in ihren Vorüberlegungen zum Thema »Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft« an.5 In der privaten Familie werden »Emotionen und materielle Interessen« als Einheit in der Interaktion der Familienmitglieder gelebt. Dieser familiale Lebens- und Erfahrungszusammenhang wird in Form und Inhalt keineswegs allein privat-innerfamilial, sondern immer zugleich auch öffentlich-gesellschaftlich modelliert. Am Beispiel der Muttertags-Materialien will ich zeigen, wie unter den Bedingungen der sozialen Produktion und Reproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts familial begründete Emotionen, Verhaltensweisen und Interessen auf dem Umschlagplatz wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Interessen vermarktet und genutzt werden und wie umgekehrt die u. a. in der Werbung kollektiv produzierten Bilder und Interpretationen der gesellschaftlichen Wirklichkeit den familialen Lebenszusammenhang durchdringen und prägen. Um diese verknäulten Argumentationsketten darstellend auseinanderzulegen, werde ich mit einem Kunstgriff, der die historische Wirklichkeit verfälscht, um sie analysierbar zu machen, so verfahren, als entsprächen die einzelnen Ebenen der Untersuchung einer aus mehreren Schichten zusammengestapelten Wirklichkeit. Zunächst soll ein Bericht über die vordergründige Muttertagsgeschichte kurz zusammenfassen, was ich bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt habe. Anschließend beschreibe und deute ich möglichst genau einzelne Arrangements und Requisiten der Festgestaltung. Für diese Muttertagsgeschichte im engeren Sinne führe ich dann probeweise zwei weiter ausgelegte Interpretationsrahmen vor. Mit dem einen Rahmen beziehe ich den »Muttertag« auf die tatsächlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse von Müttern in den zwanziger Jahren und auf die sozialpolitischen Bestrebungen, erwünschte Mütter-Leistungen auch weiterhin gesellschaftlich sicherzustellen. Mit dem anderen Rahmen ordne ich den »Muttertag« ein in ideologische und sozialpsychologische Zusammenhänge, die offenbar vor allem für Männer einen hohen Stellenwert hatten. In diesem Rahmen erscheint der Muttertag als handhabbare Manifestation latenter Schuldgefühle gegenüber den Müttern und gleichzeitiger Hoffnungen auf die Mutter. Die im Muttertag propagierte Mutter-Verehrung könnte als Versprechen gewirkt haben, geschichtliche Erfahrungen, die 5 Vgl. H. Medick u. D. Sabean, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: dies. (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 27–54.
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das Vertrauen in die patriarchalische Gesellschaftsordnung tief erschütterten, kollektiv zu verarbeiten, um so die alte Sicherheit wiederherzustellen. Ich werde das Phänomen »Muttertag« zuerst in der einen, dann in der anderen Rahmung vorführen. Es wäre zutreffender und befriedigender, beide Interpretationsrahmen gleichzeitig heranzuziehen. Dennoch hoffe ich, auch mit dem von mir gewählten Darstellungsverfahren verdeutlichen zu können, in welcher Intensität das Bild von der Mutter zu Wirklichkeit und Pathologie der Weimarer Gesellschaft gehört hat.
1. Der »Deutsche Muttertag«, Blumenhändler und Volkserzieher »Deutsch« wurde der Muttertag genannt, um von seiner amerikanischen Herkunft abzulenken. Denn wie zahlreiche Neuerungen des 20. Jahrhunderts war selbst diese Bereicherung des deutschen Brauchtums aus den USA entlehnt. Dort war 1907 Ann Jarvis mit dem Vorschlag hervorgetreten, einen Muttertag zu feiern. Ihre rastlose Werbearbeit der folgenden Jahre verdankte Anstoß und Erfolg unzweifelhaft dem hochentwickelten »cult of motherhood«.6 Ihr zu Hilfe kam allerdings die Tatsache, dass sich der Kult hervorragend verwerten ließ für wirtschaftliche und politische Interessen. 1914 erklärte Präsident Wilson den Muttertag zum offiziellen Feiertag. Die deutschen Nachahmer zogen es später bisweilen vor, die Vorgeschichte des »Deutschen Muttertages« im nordischen Skandinavien beginnen zu lassen, wo das Fest seit 1918 eingebürgert wurde.7 In Deutschland ergriff der »Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber« 1922 die Muttertags-Initiative. Die Kollegen in den Vereinigten Staaten, die als Muttertags-Blume die weiße Nelke durchgesetzt hatten, wiesen ihnen den Weg zum geschäftsfördernden Mutter-Blumenfest. Nachdem der Vorstand des Verbandes 1922 beschlossen hatte, einen Muttertag auch im Deutschen Reich zu propagieren, gewann er Anfang 1923 mit seinem neuen Geschäftsführer Dr. Rudolf Knauer einen wortgewaltigen, dynamischen Propagandisten.8 Dieser 6 J. P. Johnson, How Mother Got Her Day, in: American Heritage 31, 1979, S. 15–21, greift mit seiner individualpsychologischen Deutung der Motive von Ann Jarvis viel zu kurz; vgl. für den weiteren Zusammenhang des Mutterkults A. Douglas, The Feminization of American Culture, New York 1977, dort S. 75 Verweis auf den Muttertag. 7 Vgl. die älteren Untersuchungen von J. Meier, Muttertag, in: Zeitschrift für Volkskunde 46, NF. 8, 1936/37, S. 110–112; E. Strübin, Muttertag in der Schweiz, in: Archiv für Schweizerische Volkskunde 52, 1956, S. 95–121; L. Weiser-Aall, in: ebd., S. 203–213. Für Frankreich vgl. M. Peyrant, La Fête des Mères, in: L’Histoire 34, 1981, S. 90 f. 8 Ich stützte mich auf die Verbandszeitung Deutscher Blumengeschäftsinhaber, zit. als VDB; vgl. bes. VDB, 20.3.1923, S. 67–69; 17.4.1923, S. 88 f.; Knauer wurde seinem Publikum offenbar bisweilen als »Studiendirektor« vorgestellt, wie ein Zeitungsbericht in VDB, 16.5.1924, S. 324, zeigt. Er selbst titulierte sich später als »Begründer des Deutschen Muttertages«, vgl. R. Knauer, Entwicklung des Muttertages, in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, 13./14.5.1934, Unterhaltungsbeilage.
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ging als Reisender in Sachen Muttertag mit großem Schwung daran, eine deutsche »Muttertags-Bewegung« zu schaffen. Die seit 1922 feststehende Werbestrategie des Blumenhandels lief darauf hinaus, jegliches Geschäftsinteresse zu verbergen und »nur die ideale Seite der Mutterverehrung hervorzuheben«.9 Diese Strategie wurde so in die Praxis umgesetzt,10 dass die Ortsgruppen des Verbandes mit Unterstützung von Knauer – seine Vorträge vor geladenen Gästen scheinen Begeisterung beim Publikum ausgelöst zu haben – »neutrale Ausschüsse« zur Vorbereitung von Muttertags-Feierlichkeiten bildeten. In diesen überparteilichen und überkonfessionellen Ausschüssen versammelten sich Vertreter der Ortsbehörden, der Kirchen, der Schulen und der Wohlfahrtsverbände. Die Mitarbeit dieser Personen bürgte für Idealismus ebenso wie für öffentliche Ausstrahlung. Weitere lokale Anlaufstellen für die Muttertags-Idee waren vor allem Frauen- und Jugendverbände. Die Presse wurde mit Anzeigen geködert und fand sich so bereit, Muttertags-Artikel in den redaktionellen Teil der Zeitungen aufzunehmen. Der Blumenhandel selbst steuerte zum Muttertag Gratis-Sträußchen und Dekorationen für Geschenkaktionen in Krankenhäusern und Altersheimen sowie für öffentliche Mutter-Ehrungen bei. Er verteilte außerdem diverse Muttertags-Werbeartikel sowie Broschüren, Lesezeichen oder Anhänger an Kunden und Schulkinder und sorgte für »neutrale« Plakate und Werbesprüche nicht nur in den eigenen Schaufenstern, sondern auch an Litfaßsäulen und in Kinos. Selbst der Rundfunk ließ sich in den Dienst des Muttertages stellen. Knauer hielt schon 1924 eine erste Rundfunkansprache über den Muttertag.11 Besonders überraschend ist an dem ganzen Werbeaufgebot, in welchem Maße die Verbandszeitung der Blumenhändler dazu genutzt wurde, in den eigenen Reihen die ideologische Schulung in Sachen Mutter-Ehrung voranzutreiben. Zwar wurde immer wieder einmal kritisiert, dass einzelne Ladeninhaber ihre Geschäftsinteressen zu direkt und gegen die verabredete Strategie ins Spiel gebracht hätten.12 Auch finden sich am Ende der zwanziger Jahre regelmäßige kurze Bilanzierungen des Muttertags-Geschäftes. Aber insgesamt handeln die Artikel zum Thema »Muttertag« in der Hauptsache vom hohen Gehalt der Mutter-Ehrung und von der »neutralen« Festpraxis. Offenbar diente diese ideologische Einstimmung nicht allein der kundengerechten Ausbildung der Blumenhändler. Die Blumenhändler scheinen auch selbst aus dieser Ideologie ihre unanfechtbar höhere Berechtigung zum Muttertags-Geschäft gegenüber den Interessen konkurrierender Anbieter auf dem Muttertags-Markt aus der Süßwaren-, Parfümerien-, Papier-, Textil- und Haushaltswarenbranche hergeleitet
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So VDB (wie Anm. 8), 25.1.1924 S. 29. Alle Informationen aus VDB (wie Anm. 8), 1923–1933 Vgl. VDB (wie Anm. 8), 23.5.1924, S. 336. Vgl. z. B. VDB (wie Anm. 8), 3.5.1929, S. 343; 18.4.1930, S. 142; 3.4. und 10.4.1931, S. 108 und S. 144 f.; 1.4.1932, S. 1.
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zu haben. Denn jenseits allen Materialismus symbolisiere allein die Blume eben denjenigen tieferen Gehalt, um den es am Muttertag gehe.13 Trotz unverkennbarer Fortschritte in der Ausbreitung der Muttertags-Idee führte die Kampagne für den Muttertag zunächst nicht zu dem erhofften schnellen Durchbruch. Erst als es Knauer gelang, für die strategisch an ideellen Zwecken ausgerichtete Werbung eine überzeugendere institutionelle Ausgangsbasis zu schaffen, ließ sich die deutsche Gesellschaft auf den neuen Feiertag einschwören. Dieses Ziel hatte Knauer 1925 erreicht, als sich die »Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung« für den Muttertag engagieren ließ und der von Knauer ins Leben gerufene zentrale »Vorbereitende Ausschuß für den Deutschen Muttertag« ab 1926 als Ausschuss der »Arbeitsgemeinschaft« weiterarbeitete.14 Damit war die Zentrale der Muttertags-Werbung in die Hände unverdächtiger »Volkserzieher« übergegangen. Knauer selbst wurde 1926 zunächst in den Vorstand der »Arbeitsgemeinschaft« aufgenommen. Bereits im April 1927 schied er dort wieder aus mit der Begründung, dass wegen seiner Funktion als Geschäftsführer des »Verbandes Deutscher Blumengeschäftsinhaber« auf die Muttertags-Arbeit der »Arbeitsgemeinschaft« nicht der »Schein fallen dürfe, als ob durch sie auch materielle Interessen mit vertreten würden«.15 Die geschäftliche Seite des Muttertages war damit besser denn je maskiert. Der Blumenhandel stilisierte sich weiter zum selbstlosen Diener an einer hohen Idee und überreichte seiner Kundschaft nicht nur Blumen, sondern, außer den eigenen, bis 1929 auch die von der »Arbeitsgemeinschaft« produzierten Muttertags-Materialien. Die ideellen Gestalter des Festes nahmen um der hohen Idee der MutterEhrung willen ohne Zögern diese werbewirksamen Geschäfts- und Marktbeziehungen in Kauf. Dieses Bündnis ungleicher Partner führte den Muttertag als Amalgam aus Geschäftsinteressen, »sittlichen« Ideen und Gesellschaftspolitik nach 1925 zu seinem bis heute unangefochtenen Sieg. Als Knauer den Kontakt zu Kreisen der »Arbeitsgemeinschaft« aufnahm, war diese im Begriff, sich neu zu formieren.16 Ihre Vorläuferorganisation, die im Frühjahr 1920 gegründete »Volksgemeinschaft zur Wahrung von Anstand und Sitte«, hatte im Zuge der Inflation ihre Aktivität so gut wie eingestellt. 1925 sollte ein Neubeginn gewagt werden mit der Umgründung zur »Arbeitsgemein13 Der Verbandsvorstand hatte 1922 gleichzeitig mit der Einführung des Muttertags den Werbeslogan »Laßt Blumen sprechen« beschlossen, vgl. VDB (wie Anm. 8), 23.9.1932, S. 9 f.; vgl. zur Abgrenzung von anderen Branchen VDB, 13.4.1928, S. 349 f.; 1.4.1932, S. 1. 14 Vgl. VDB (wie Anm. 8), 26.3.1926, S. 262. 15 Protokoll der Vorstandssitzung der »Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung« vom 6.4. 1927; zu Knauers Eintritt vgl. Protokoll der Vorstandssitzung vom 19.4.1926, beide in: ADW CA 928 III bzw. II (zur Abkürzung siehe Anm. 16). 16 Informationen aus: Akten betr. die Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung im Archiv des Diakonischen Werkes, Berlin, zit. als ADW CA 928, Bde I–V; Tätigkeitsberichte der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung für die Jahre 1926–32, gedruckt in: Schriften zur Volksgesundung, Berlin, H. 4, 6, 10, 14, 16, 18, 20 für 1925 in: ADW CA 928 II; genauere Einzelbelege sind aufgeführt in Hausen, Mütter (wie Anm. 4).
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schaft für Volksgesundung«. Laut § 1 ihrer Satzung17 ging es dieser »Arbeitsgemeinschaft« darum, »durch eine Vereinigung der ihrer sittlichen Pflicht und Verantwortlichkeit sich bewußten Kreise des deutschen Volkes die Grundsätze deutscher Würde und guter Sitte in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen, sich volkserzieherisch im Sinne geistiger Erneuerung und körperlicher Ertüchtigung unter besonderer Berücksichtigung bevölkerungspolitischer Bestrebungen zu betätigen und durch Einwirkung auf Gesetzgebung und Verwaltung der inneren und äußeren Volksgesundung zu dienen.«
Die »Arbeitsgemeinschaft« etablierte sich als »Querverband« der großen Wohlfahrtsverbände, um auf »neutralem Boden« gemeinsam interessierende Fragen der »sozial-ethischen Grenzgebiete« systematisch zu bearbeiten und gegenüber Behörden und Parlamenten geschlossen zu vertreten. 1926 verschmolz die »Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik« mit der »Arbeitsgemeinschaft«. Ende 1927 zählte die »Arbeitsgemeinschaft« 171 Einzel- und 349 korporative Mitglieder, unter letzteren 26 Behörden. Am engsten waren die Verbindungen der »Arbeitsgemeinschaft« zu den Dachverbänden der evangelischen, katholischen und jüdischen Wohlfahrtsorganisationen. Im weiteren Vorstand waren außerdem vertreten die konfessionellen Frauenverbände, verschiedene Sittlichkeits- und Alkoholgegner-Vereinigungen, der Reichsbund der Kinderreichen und die Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Bis 1928 entstanden allmählich sechs Fachausschüsse für 1. Bevölkerungspolitik, 2. Gesundheitspflege, Körperkultur, Alkoholfrage, 3. Sexualethik, Fragen sexueller Aufklärung, 4. Lichtspielwesen, Theater, Revuen, 5. Bekämpfung von Schmutz und Schund, Schutz der Jugend bei Lustbarkeiten, 6. Vorbereitender Ausschuss für den Muttertag, die insgesamt das Programm der »Volksgesundung« absteckten. Der praktische Beitrag der »Arbeitsgemeinschaft« zur Realisierung dieses Programms lag hauptsächlich in der Materialaufbereitung, Informations- und Werbearbeit. Hinter aller Arbeit stand die Überzeugung,18 dass umfassende Volkserziehung und Gesetzgebung vonnöten seien, um den drohenden Untergang durch Sittenverfall und Geburtenrückgang zu stoppen. Die ideologisch im kirchlich-konservativen bis völkischen Orientierungsfeld beheimateten »Volkserzieher« traten an gegen die Weimarer Gesellschaft, in der sie allenthalben nur bedrohliche Symptome von sittlicher Not, Krise, Verfall registrierten. Ihre besondere Sorge galt dem Bestand der Familie, die sie durch Krieg und Revolution zerrüttet und unter dem Sog verderblicher Weltanschauungen aus den USA und der UdSSR zunehmend gefährdet wähnten. Schlimm genug seien schon heute die »Eheirrungen« und Ehescheidungen, die »Verwilderung des ganzen Sexuallebens« mit freier Liebe, Kameradschaftsehe, Nacktkultur sowie »sexual17 Zit. nach Tätigkeitsbericht 1926 (wie Anm. 16), S. 4. 18 Aufschlussreich für die Ideologie sind die von der »Arbeitsgemeinschaft« publizierten Schriften zur Volksgesundung (wie Anm. 16), vgl. auch Hausen, Mütter (wie Anm. 4), S. 259–262.
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ethischer Verwilderung« der Jugend durch »schlüpfrige« Theater- und Lichtspieldarbietungen und deren verheerende Folgen – Alkoholmissbrauch, Geschlechtskrankheiten, Abtreibungen, Geburtenrückgang. Auf der Basis dieses ideologischen Grundkonsenses erbrachte die »Arbeitsgemeinschaft« ihre Hilfs- und Zuliefererleistungen für die Mitglieder. Die zentrale Figur war dabei der 1925 zunächst nur für ein Jahr und ohne festes Gehalt eingestellte, damals 26-jährige Dr. med. und ab 1926 auch Dr. phil. Hans Harmsen.19 Harmsen hatte noch vor der offiziellen Gründung der »Arbeitsgemeinschaft« mit Erfolg darauf hingearbeitet, Knauers Muttertag in die Arbeitsgemeinschaft zu übernehmen. Denn Harmsen sah in dem »Ausbau des Muttertages«, wie er der »Arbeitsgemeinschaft« von Knauer angetragen wurde, »eine überaus günstige Möglichkeit der Einwirkung auf die weitesten Volksreise … Gerade von hier aus wird es möglich sein, breiten, unserer Arbeit sonst nicht zugängigen Kreisen die bevölkerungspolitischen und sozial-ethischen Fragen näherzubringen, die Bedeutung der Familie in den Mittelpunkt zu stellen und über die Grenzen des Staates und der Konfessionen hier gemeinsame Bindungen zu schaffen.«20
Die Propagandaarbeit wurde in Berlin zentral durch den »Vorbereitenden Ausschuß für den Deutschen Muttertag« organisiert. Ihm gehörten außer Harmsen und Knauer noch je ein Vertreter des Reichsbundes der Kinderreichen, des Evangelischen Hauptwohlfahrtsamtes, der Evangelischen Frauenhilfe, des Verbandes zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit und ab 1930 auch des Caritas-Verbandes21 an. Die Geschäftsstelle der »Arbeitsgemeinschaft« übernahm den Schriftverkehr. Die Kosten der Werbearbeit wurden durch Spenden und den Verkauf des Muttertagsschrifttums gedeckt. 1928 kam es beispielsweise zum Versand von z. B. 4.800 Werbeschriften, 18.450 Flugblättern, 8.500 Übersichten über Werbematerial, 3.800 Postkarten, 40 Lichtbildserien und 550 sonstigen Schriften.22 Außerdem wurden Presse- und Rundfunkmaterialien zusammengestellt. Die in den »Schriften zur Volksgesundung« veröffentlichten kleinen Muttertags-Schriften23 führten ein in den tieferen Sinn 19 Nach ADW CA 928 II (wie Anm. 16) war die Neugründung der »Arbeitsgemeinschaft« am 30.3.1925 beschlossen, am 11.5. vollzogen worden. Harmsen amtierte seit April. Am 4.4. verschickte Knauer unter Berufung auf Harmsen seine Muttertags-Denkschrift an den Direktor der Inneren Mission, am 5.5. versandte Harmsen die Denkschrift an alle Vorstandsund Ausschussmitglieder der »Arbeitsgemeinschaft«. 20 ADW CA 928 II, Tätigkeitsbericht 1925 (wie Anm. 16), S. 3. 21 Protokoll der Mitgliederversammlung vom 13.5.1930, in: ADW CA 928 IV (wie Anm. 16), S. 5. 22 ADW CA 928 II, Tätigkeitsbericht 1928 (wie Anm. 16), S. 18. 23 Es handelt sich um: H. 3 (1927): Der Deutsche Muttertag; H. 5 (1928): Der Deutsche Muttertag. Grundlegendes und Erfahrungen im Jahre 1927; H. 9 (1929): Der Tag der Mutter – Muttertag. Rückschau auf 1928 und Ausblick auf 1929; H. 13 (1930): Wie feiern wir den Muttertag? Veranstaltungen im Jahre 1928 und 1929. Diese rund 40 Seiten starken Hefte wurden in einer Auflage von 3.000 Stück hergestellt. Nach 1930 erfolgte die Muttertags-Vorbereitung aus Ersparnisgründen nur noch über Mitteilungsblätter.
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des Muttertags, berichteten über beispielhafte Muttertagsfeiern, lieferten Materialien und Anregungen zur Ausgestaltung des Festes und hielten das stürmische Vorwärtsdringen der Muttertags-Bewegung im In- und Ausland in einer anfeuernden Reportage fest. Vor allem aber gaben sie die vom »Vorbereitenden Ausschuß beschlossenen Richtlinien für den Muttertag«24 bekannt, mit denen die von 1923 bis 1925 erprobte Praxis fortgeschrieben wurde, um die Bewegung zu einem einheitlichen »Muttertags-Brauch« zusammenzuführen. Die im zentralen Muttertags-Ausschuss vertretenen Verbände boten erste Anlaufstellen, um lokale Muttertags-Initiativen in Gang zu setzen. Nach den Blumengeschäftsinhabern hatten auch einzelne Ortsgruppen des »Reichsbundes der Kinderreichen«25 von Anfang an erkannt, dass sich ein allgemeiner Muttertag vorzüglich für eigene Ziele nutzen ließ. Sie spezialisierten sich schon vor 1926 darauf, öffentliche Ehrungen für »kinderreiche« Mütter zu inszenieren, bei denen nach Möglichkeit bekannte Kommunalpolitiker den geladenen Müttern Sparbücher, Teller mit Inschriften oder Ähnliches als AnerkennungsPräsente überreichten. Als erste Massenorganisation glaubte sich die »Evangelische Frauenhilfe«26 mit ihren rund 600.000 Mitgliedern im Frühjahr 1928 auf den Boden der Tatsachen stellen und den nun einmal eingeführten Muttertag mitgestalten zu sollen. Zunächst verwies sie ihre Mitglieder auf die von der »Arbeitsgemeinschaft« bereitgestellten Muttertags-Materialien, ab 1930 produzierte sie eigene. Die »Frauenhilfe«, die seit 1897 zusammen mit Pfarrern die berufliche und ehrenamtliche Gemeindearbeit der evangelischen Frauen organisierte und durchführte, hatte seit Mitte der zwanziger Jahre begonnen, sich immer intensiver um Mütterschulung, Mütterfürsorge und Müttererholung zu kümmern. Sie nutzte den Muttertag ab 1930 dazu, für ihren zur selbständigen Abteilung organisierten »Mütterdienst« Straßensammlungen durchzuführen. Ich vermute, ähnlich wie die »Evangelische Frauenhilfe« werden auch die anderen großen Verbände der evangelischen Kirche mit Beschlüssen in zentralen Gremien zur Feier des Muttertages aufgefordert haben. Demgegenüber behielt die katholische Kirche27 mit ihren Verbänden auch noch um 1930 ihre eher abwartende Haltung bei, was allerdings ein Engagement auf lokaler Ebene keineswegs ausschloss. Ausschlaggebend für diese auffallende Distanz zum profanen Mutter-Kult am Muttertag dürfte die lebendige Tradition der kirchlichen Marien-Verehrung gewesen sein. Auch ohne im einzelnen geprüft zu haben, welche Verbände und Organisationen wann zur Muttertags-Bewegung gestoßen sind und welche Orte und Regionen auf der Karte des Deutschen Reiches zu einem bestimmten Zeitpunkt 24 25 26 27
Vgl. den Vorläufer der Richtlinien in VDB (wie Anm. 8), 1.5.1925 S. 413. Zum Reichsbund der Kinderreichen vgl. Hausen, Mütter (wie Anm. 4), S. 268 f. Zur Evangelischen Frauenhilfe vgl. ebd., S. 269–276. Ich danke Doris Kaufmann für diese Informationen zur katholischen Reaktion; vgl. auch S. Beissel, Geschichte der Marienverehrung in der katholischen Kirche seit dem Ende des Mittelalters, Freiburg i. Br. 1910.
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bereits von der Bewegung eingenommen waren, habe ich zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass der »Deutsche Muttertag« um 1930 siegreich aus dem Werbefeldzug hervorgegangen war.28 Mit unterschiedlichen Interessen und Zielvorstellungen war es den innovativen Regisseuren in nur knapp zehn Jahren gelungen, den »Deutschen Muttertag« in Szene zu setzen. Die dabei entworfenen Bühnen, Bilder und Handlungen des Muttertags-Geschehens, die erfunden wurden, um die behauptete gehaltvolle Tiefe des »Mutter-Ehrenfestes« auszudrücken und einzuprägen, bieten den nächsten Ansatzpunkt meiner Untersuchung.
2. Mutter-Ehrung als Bild, Zeremoniell und Ideologie Die verschiedenen Interessen der Muttertags-Regisseure stimmten darin überein, dass sie ein Zeichen setzen wollten. Dieses Zeichen sollte bestimmte Orientierungsbilder gesamtgesellschaftlich verbindlich einprägen und in wechselseitiger Verstärkung wirksam werden als Situationsdeutung, Verhaltensnorm und Kaufimpuls. In der Regie des Muttertages wird damit an einem Punkt überraschend deutlich dasjenige offengelegt, was in Gesellschaften mit kapitalistischer Warenproduktion üblicherweise hinter der mystifizierenden wirtschaftlichen Rationalität verborgen bleibt. Ich folge hier den Anregungen des Anthropologen Marshall Sahlins.29 Er arbeitet als das Spezifikum dieses Systems heraus, dass die Symbolproduktion als Warenproduktion erfolgt. »Rational production for gain is in one and the same motion the production of symbols. And its acceleration, as in opening up new consumer markets, is exactly the same as opening up the symbolic set by permutation of its logic.« Die kapitalistische Wirtschaft als kulturelles System zu begreifen, heißt, in der Produktion und Distribution von Waren dialektisch vermittelt auch die Produktion und Distribution von Kultur zu sehen. Wertobjekte verkörpern nach wie vor nicht allein den im Preis benannten Geldwert, sondern auch den symbolischen Wert. Sahlins weist darauf hin, dass Werbefachleute Spezialisten sind für die kulturelle Sinndeutung dieser Zusammenhänge. Ich möchte hinzufügen, dass Werbung darüber hinaus auch mit den einmal gefundenen Interpretationen gestaltend auf die gesellschaftliche Kultur- und Warenproduktion einwirkt. An der Werbung für Reinigungsmittel ließe sich diese Wechselbeziehung leicht aufzeigen. Auch das Werbeangebot für den »Deutschen Muttertag« erweist sich als untrennbares Gemisch von Interpretationen und Gestaltungsabsichten. Um die einzelnen Elemente der Muttertags-Feier herauszuarbeiten, werte ich erstens Werbematerialien aus den Jahren 1923 bis 1933 aus, die von dem Verband Deut28 Um diese Zeit beginnen auch überregionale Tageszeitungen den Muttertag anzusprechen. 29 M. Sahlins, Culture and Practical Reason, Chicago 1976, S. 215.
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scher Blumengeschäftsinhaber, der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung und der Evangelischen Frauenhilfe ausgeschickt wurden, und zweitens Berichte über Muttertags-Veranstaltungen in einzelnen Städten, wie sie den zentralen Organisationen zugesandt und von diesen veröffentlicht wurden.30 Auf der Basis dieser Materialien lässt sich zwar nicht erkennen, ob und wie der Muttertag in den einzelnen Familien tatsächlich gefeiert wurde. Wohl aber erlauben sie, die Logik der Feier-Regie zu entschlüsseln. Interessant ist am Muttertag zunächst einmal, dass er am 2. Sonntag im Mai gefeiert wird. Die Entscheidung für den Monat war zunächst umstritten.31 Der Mai wurde schließlich durchgesetzt mit dem Argument, es käme vor allem darauf an, einen einheitlichen Fest-Termin für das ganze Deutsche Reich zu vereinbaren und für den spräche, dass der Blumenhandel mit einem Blumenfest zwischen Ostern und Pfingsten das reiche Angebot an Frühlingsblumen besser verwerten könne und der Mai schon traditionellerweise bei den Katholiken als Monat der Marienverehrung eingeführt sei. Die Wahl des Wochentages hat nie zur Diskussion gestanden. Wie schon der Totensonntag, so sollte auch der Muttertag Sonntagsgestaltung sein. Diese Festlegung markiert Unterschiede zum 1. Mai, den sich die Arbeiter als Kampf- und Feiertag zunächst durch Arbeitsverweigerung selbst genommen hatten, und zum Internationalen Frauentag am 8. März, den sozialistische Frauen erstmals 1911 mit öffentlichen Demonstrationen für Frauen-Forderungen begingen. Im Gegensatz zu diesen Alltagsfesten mit ihrem Kampf um Forderungen geht es dem Muttertag als Sonntagsfest um Harmonie und friedliche Besinnung. Für den Muttertag ist es weiterhin bezeichnend, dass er 1923 in Deutschland eingeführt wurde mit der gebieterischen Parole »Ehret die Mutter«.32 Darin klingt das 4. Gebot: »Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren« deutlich an, ist aber entscheidend verändert. Geehrt werden soll die (eine und einzige) Mutter. Der Vater ist in die Ehrung nicht einbezogen. Zudem richtet sich der Imperativ nicht an den Einzelnen, sondern an das Kollektiv. Ehrung als kollektive Geste aber ist zu dieser Zeit vor allem geläufig in der Helden- und Totenehrung.33 Die beliebte Umschreibung des Muttertags als »Der deutschen Mutter Ehrentag« oder »Der Mutter Gedenktag« scheint auf diese Sinndeutung ausgerichtet. Die Parole »Ehret die Mutter« stimmte auch für die folgenden Jahre 30 Siehe Anm. 8 und 23; außerdem: Frauenhilfe, Monatsblatt für kirchliche Frauen-Gemeindearbeit; Muttertagshefte der Arbeitsbücherei der Frauenhilfe H. 17 (1930), H. 22 (1931), H. 25 (1932), H. 27 (1933), H. 31 (1934), H. 34 (1935). Da ich in Hausen, Mütter (wie Anm. 4), ausführlich die Schriften der »Arbeitsgemeinschaft« und der »Frauenhilfe« zitiert habe, wähle ich jetzt die Textbeispiele vorwiegend aus VDB (wie Anm. 8). 31 Vgl. VDB, 20.3.1923 (wie Anm. 8), S. 68; 25.6.1923, S. 147; 28.8.1924, S. 477. 32 VDB 5.5.1923 (wie Anm. 8), S. 105, empfiehlt, die Verbreitung von Werbezetteln mit der Aufschrift: »Ehret die Mutter. Erster deutscher Muttertag. Sonntag, den 13. Mai 1923. Die Mutter gedenkt Deiner alle Tage. Gedenke ihrer am Muttertag!« 33 Der »Volkstrauertag« entwickelte sich für die Blumengeschäfte ebenfalls zum interessanten Geschäftstag.
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den Grundton des Muttertags an. Variationen lauteten bisweilen »Ehret die Mutter mit Blumen« oder »Gedenket der Mutter an ihrem Ehrentag«.34 In Berlin35 warben 1923 Plakate mit der Aufschrift »Ehret die Mutter« in Blumengeschäften, an Anschlagsäulen, in »besseren« Lokalen, Banken, Postämtern, Straßenbahnen, Untergrund- und Hochbahnhöfen. Zur Erläuterung der Parole wurde ein von Knauer verfasster Aufruf36 »Der Deutschen Mutter Ehrentag« ausgehängt und an Schulen, Kirchen und Zeitungen teils persönlich überreicht. Knauers Aufruf orchestrierte den Grundton der Parole, indem er dem »Ehret« das »Warum« und »Wie« unterlegte. Ich will hier jedoch zunächst über die Form der Muttertags-Ehrung berichten und erst dann vorführen, welchen Sinn dieses Geschehen symbolisieren und transportieren sollte. Nach Auffassung der Regisseure sollte das Fest »nicht ein rauschendes öffentliches Fest« sein, sondern »eine stille, trauliche Familienfeier«.37 Der Muttertags-Ausschuss der »Arbeitsgemeinschaft« hielt daher seit 1927 diese Intention in der Richtlinie Nr. 1 fest:38 »Der Muttertag soll zunächst ein stilles Fest der Familie und des Haushaltes sein.« Schon 1923 wurde als Fazit des »1. Muttertags« festgestellt, dass eine »äußerliche Ehrung« der Mutter durch Ansteckblumen, wie sie in den USA üblich und versuchsweise auch in Deutschland vorgeschlagen worden war, nicht »der innerlichen Auffassung des deutschen Muttertages« entspräche.39 Knauer hatte bereits in seinem Aufruf zum ersten Muttertag dafür plädiert, die Muttertags-Feier »im deutschen Hause« stattfinden zu lassen. Sein Entwurf des Familienfestes sah folgendermaßen aus:40 »An diesem Tag wollen wir unser Heim festlich schmücken. Der Mutter gehört der Ehrenplatz. Er werde bekränzt. Blumengrüße sollen ihr unseren Dank, unsere Liebe kundtun … Im trauten Kreise unserer Lieben wollen wir der Mutter aussprechen, was unser Herz für sie bewegt. Wir wollen ihr aufs neue geloben, in Treue und Hingebung zu ihrer Freude und zu ihrer Ehre unser Tagwerk zu tun. Aus den Tiefen der Mutterseele soll unser besseres Selbst neue Kraft und neuen Mut schöpfen.«
Mit diesem Arrangement sollte nach Knauer alles, »was in unserer Seele an Liebe, Verehrung und Dankbarkeit gegen unsere Mutter lebendig ist … wirklich offenbar werden.« Es lohnt, diese Regieanweisung analysierend zu übersetzen. Auffallend ist, dass die Mutter als handelndes Subjekt nicht gefragt ist. Ja, der Muttertag könnte selbst ohne physische Anwesenheit der Mutter, allein mit der Mutter als Vorstellung zelebriert werden. Die Beziehungen der Festgestalter zum 34 35 36 37 38 39 40
So z. B. VDB(wie Anm. 8), 27.6.1924, S. 378 bzw. 15.7.1927, S. 528. Vgl. VDB (wie Anm. 8), 25.5.1923, S. 122 f. Abgedruckt in: VDB (wie Anm. 8), 17.4.1923, S. 88. VDB (wie Anm. 8), 9.5.1924, S. 311. H. 3, 1927 (wie Anm. 23), S. 9. VDB (wie Anm. 8), 25.6.1923, S. 147. VDB (wie Anm. 8), 17.4.1923, S. 88.
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Adressaten des Festes, vorgeschrieben im formelhaften Dreiklang »Liebe, Verehrung und Dankbarkeit« sind in den Seelen »lebendig« und drängen auf Offenbarung. Der mit Kränzen und Blumen altargleich geschmückte »Ehrenplatz« ist als Ort vorgesehen für Offenbarung und Gelöbnis. Dafür dürfen die Festgestalter dann »aus den Tiefen der Mutterseele« für sich abschöpfen, was sie an Kraft und Mut brauchen, um ihr Gelöbnis zu erfüllen und zur Freude und Ehre der Mutter in Treue und Hingebung ihr jeweiliges Tagwerk tun. Die in diesem Arrangement der Familienfeier überdeutlich angelegte sakrale Stilisierung der Mutter zur Mutter-Gottheit wurde in der Folgezeit zwar nicht aufgegeben, aber abgeschwächt. In der Version der »Arbeitsgemeinschaft« lautete die Empfehlung,41 dass sich »alles an diesem Tage in Liebe, Dankbarkeit und Verehrung um die Mutter sammelt. Dann ist auch der Mutter Gelegenheit gegeben, aus dem reichen Schatz ihres mütterlichen Innenlebens ihre kleine Gemeinde besonders zu beglücken.« Der blumengeschmückte »Ehrenplatz« und das Versammeln zur Familiengemeinde blieben fester Bestandteil der Familienfeier. Zusätzlich kam der Auftrag hinzu, die Kinder sollten der Mutter alle »Werktagsarbeiten« abnehmen, damit die Mutter für diesen Tag »der ruhende Pol in der Familie sein« könne.42 Weitere Requisiten des »innigen« Familienfestes waren Blumensträuße, kleine Geschenke und Muttergedichte, die kunstvoll aufgeschrieben oder aufgesagt wurden. Auffallend ist, dass der Familien-Muttertag immer nur die Mutter und die Kinder aufeinander bezog. Die Kinder sollten schmücken, Hausarbeiten übernehmen, Geschenke machen. Der Vater erhielt, wenn überhaupt, nur einen Platz hinter den Kulissen, um von dort die Kinder zu ihren Bühnenrollen anzuhalten.43 Als Ehemann wurde der Mann überhaupt nicht angesprochen, dafür aber umso intensiver an seine Gedenkpflicht erinnert als Sohn einer alten, fernen oder verstorbenen Mutter. Dieses Inszenierungskonzept des nationalen und zugleich innigen Familienfestes verweist auf das bereits traditionsreiche Weihnachtsfest als Vorbild, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bei enger Wechselbeziehung zum Geschenkangebot des Warenmarktes zur allgemeinen Volkssitte entwickelt worden war. Um den lichtergeschmückten Tannenbaum als »zeremoniellen Mittelpunkt« rankte sich – so Weber-Kellermann44 – »ein fast liturgisch anmutendes festliches Programm«. Die Parallele beider Feste ist deutlich. Deren bemerkenswerte Unterschiede ergeben sich aus den verschiedenen sozialen Funktionen. Weihnachten ist mit der Gestalt des Weihnachtsmannes/Ruprecht, der auf Kinder schenkend und strafend einwirkt, ausgerichtet auf eine aktive Vater-Figur. Das Muttertags-Zeremoniell bevorzugt dagegen eine mythisch idealisierte und zur vollendeten Passivität stilisierte Mutterfigur. Auch die für beide 41 42 43 44
H. 9, 1929 (wie Anm. 23), S. 13. Zitat in VDB (wie Anm. 8), 8.5.1925, S. 423. Vgl. z. B. VDB (wie Anm. 8), 6.5.1927, S. 359. Vgl. I. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1974, S. 223–243, hier S. 226.
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Feste typischen modernen Schenkriten, die nicht auf Gegenseitigkeit angelegt sind, erhalten in den Inszenierungen gegensätzliche Richtungen des Gebens und Nehmens. Weihnachten empfangen die Kinder für ihr Wohlverhalten von einem mythisch entrückten anonymen Gabenspender Geschenke. Am Muttertag bringen die Kinder der zwar bekannten, aber in der Festinszenierung verfremdeten und entrückten Mutter symbolische Geschenke als Dank für deren »Mütterlichkeit«. Die für Mutter und Kind extrem ungleich gestaltete Geschenkbeziehung am Muttertag wurde zumindest von den Blumenhändlern als Zeremoniell planvoll inszeniert. Kinder, die noch nicht wortgewaltig genug waren, um die dem Muttertag als Sinn unterlegte besondere Mutter-Kind-Beziehung sprachlich auszudrücken, sollten sich der Blumen, der »Sprache der Blumen« bedienen. Die Verkäufer von Blumen beanspruchten, mit Waren zu handeln, deren Gebrauchswert als universelles Symbol für Beziehungen zwischen Menschen allgemein akzeptiert werde. Sie behaupteten, »wir sind die Vermittler mancher Deutungen und Erscheinungen, besonders dann, wenn es gilt, Innerlichkeit, Dank, Freude und Teilnahme auszudrücken, ohne zur Gegenleistung zu verpflichten«, und beteuerten, die beredten Blumen »werden in der Hand des rechten Spenders zu Zauberinnen, die Glück, Freude, Frieden in die Seelen fließen lassen.«45 Um in isolierten Familien gleichzeitig Tausende von Muttertags-Feiern einheitlich nach diesem Konzept inszenieren zu lassen, bedurfte es der Vermittlungsdienste von effizienten Agenturen, wie sie in Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zur Verfügung stehen, um private Familien sozial einzubinden. Kinder und Jugendliche wurden ausersehen, die Muttertags-Botschaft ihren eigenen Familien zu überbringen. Schulen, Kirchen, Jugend- und Frauenverbände nahmen sich bereitwillig der Aufgabe an, die Kinder und Jugendlichen in Geist und Form des Muttertages einzuweisen. Zu lehren waren u. a. die folgenden detaillierten Dienstanweisungen für das Fest, die würde- und weihevoll tituliert als »Zehn Gebote für den Muttertag« vom Muttertags-Ausschuss der »Arbeitsgemeinschaft« in Umlauf gebracht wurden:46 »1. Nimm der Mutter am Sonntag alle Arbeit ab, damit sie einen Feiertag hat. 2. Stelle frühmorgens Blumen ans Lager oder auf den Tisch. 3. Schicke ihr, wenn Du fern von ihr weilst, einen Brief, eine Karte, füge eine Aufmerksamkeit bei. 4. Gehe zum Friedhof, wenn dort Deine Mutter liegt oder eine andere Mutter, die zu Deinem Verwandtenkreis gehört, und wie am Totensonntag düstere Kränze niedergelegt werden, so schmücke das Grab mit den Blüten des Frühlings. 5. Horche Dich um in der Nachbarschaft, wo eine Mutter Not und Sorgen leidet, sage ihr tröstende Worte, drücke ihr die Hand und biete ihr sonst eine Aufmerksamkeit.
45 VDB (wie Anm. 8), 11.5.1928, S. 415 bzw. 7.5.1926, S. 367; zur Blumensymbolik als Werbegrundlage gibt es in dieser Zeitschrift zahlreiche Ausführungen. 46 Die »Gebote« sind in jedem Muttertags-Heft der Arbeitsgemeinschaft abgedruckt.
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6. Weiß Du eine Mutter im Krankenhaus, im Siechenhaus, im Altersheim, gedenke ihrer. Frage nicht, ob andere dazu verpflichtet sind. 7. Wenn Du auf der Straße ein altes Mütterchen siehst, gehe zu ihr und erweise ihr eine Freundlichkeit oder schenke ihr eine kleine Gabe, wenn es nötig ist. 8. Nimm einer Mutter, gleichviel ob jung oder alt, Lasten ab, geleite, stütze sie, wenn es nottut. 9. Wirb jetzt und am Muttertage selbst für den Gedanken, setze ihn in die Tat um und sorge, daß es auch andere tun. 10. Nimm Dir fest vor, Deine Mutter und alle deutschen Mütter auch in Zukunft stets zu achten, zu ehren und zu unterstützen, immer und alle Tage – wie am Muttertage. Sorge dafür, daß auch andere es tun. Dann wird der Muttertag ein Segen für das deutsche Volk werden!«
Die Muttertags-Gebote zeigen deutlich, dass der Übergang gleitend war von der privaten Feier für die eigene Mutter hin zur öffentlichen Ehrung der Mutter schlechthin. In der Tat war auch die Ausgestaltung öffentlicher Feiern in der Inszenierung des Muttertags von vornherein vorgesehen, denn nur so ließen sich die gesellschaftlichen Agenturen für ihre Vermittlungsdienste an Kindern und Jugendlichen motivieren. Es war deshalb erwünscht, dass die verschiedenen Verbände und Einrichtungen im Dienst am Muttertag auch schöpferisch und allgemein aufklärend tätig wurden. Nach Möglichkeit sollten »neutrale« Ausschüsse derartige Initiativen koordinieren und über Parteien und Konfessionen hinweg zusammenführen. Auch für die öffentlichen Feiern gaben die Muttertags-Initiatoren die erforderlichen Hilfsmittel an die Hand.47 Die Publikation ausführlicher Berichte über Muttertags-Feiern in einzelnen Orten diente nicht allein der Selbstbestätigung durch Erfolgsmeldungen. Die Berichte sollten auch den »neutralen Ausschüssen« des nächsten Muttertages Anregungen liefern. Außerdem wurden vom zentralen Ausschuss der »Arbeitsgemeinschaft« immer umfangreichere Material-Übersichten zusammengestellt. Deren Angebot umfasste außer Postkarten und Lichtbildserien, die gekauft bzw. entliehen werden konnten, vor allem Hinweise auf geeignetes Muttertags-Schrifttum. Sinnig zusammengestellte Sammlungen von Gedichten, Liedern, Sprüchen, Prosastücken und Aufführungstexten zum Thema »Mutter« gehörten ebenso dazu, wie Literatur über Erziehungsprobleme, soziale, medizinische und bevölkerungspolitische Fragen. Es war von Anfang an üblich, »durch einen besonderen Werbeabend die Grundstimmung für die Feier des Muttertages zu schaffen.«48 Das konnte durch einen Vortragsabend geschehen wie 1926 in Liegnitz, wo der Vorsitzende des »neutralen Ausschusses« den Abend eröffnete und dann ein Vertreter der katholischen Kirche, ein Arzt, ein evangelischer Geistlicher und ein Schuldirek-
47 Vgl. Anm. 23. Das Angebot an Mutter-Publikationen für Muttertags-Zwecke vergrößerte sich schnell. 48 H. 3, 1927 (wie Anm. 23), S. 17; ebd., Bericht über Liegnitz.
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tor zum Thema »Mutter« sprachen, oder durch eine Vorfeier, bei der der Festvortrag stimmungsvoll eingerahmt wurde mit Mutter-Gedichten und MutterLiedern. Die am Muttertag selbst ausgerichteten öffentlichen Feiern fielen sehr verschieden aus. Die kleine Stadt Moers bei Duisburg feierte seit 1924 eine Art Volksfest, dessen Festprogramm 1926 folgendermaßen aussah:49 »Samstag, den 7. Mai, abends 7.30 Uhr: Lichtbilderabend für die schulentlassene Jugend, aber auch sonst für jedermann, ›Mutter und Kind‹ Vortrag mit Lebensbildern der Kunst. Feierstunde wurde umrahmt von Musik, Ansprache und Gedichten. Mitwirkung des Konservatoriums Moers u. a. Sonntag, den 8. Mai, abends (wahrscheinlicher »morgens«, K. H.) 7.30 Uhr: Feier am Grabe der Mutter auf dem Friedhofe in Moers. Posaunenklänge, Gedichte und Ansprachen. Kirchenchor-Gesang. Ab 9 Uhr: Musik und Gesangsvorträge in den Krankenhäusern, dem Waisenhaus und in den Anlagen der Stadt. Festgottesdienste: Vormittags 11 Uhr: Morgenfeier auf dem Schloßhofe. Ansprache des Vertreters der Kreisverwaltung. Nachmittags 4 Uhr: Hauptveranstaltung im Stadtpark: Ansprache des Bürgermeisters, Musik, Gesang, Deklamationen, turnerische Darbietungen, Ansprachen. Abends 8 Uhr: Schlußversammlung durch die evangelische Stadtmission in der evangelischen Kirche.«
In der Stadt Kiel,50 wo schon 1924 die Stadtverwaltung und insbesondere die »Arbeitsgemeinschaft für öffentliche und freie Wohlfahrtspflege« das Muttertags-Geschehen dirigierten, bestimmten Wohltätigkeitsaktionen das öffentliche Festprogramm. Dort wurde die »Morgenfeier« im Stadttheater mit »einem künstlerischen und ethischen Rahmen« versehen und dazu genutzt, »kinderreiche und gute Mütter«, sofern sie arm waren, durch ein in einen Blumenstrauß eingebundenes Sparbuch zu ehren. Auf den Straßen verkauften außerdem Kinder am Muttertag gespendete Blumen und Postkarten. Der Erlös sollte 1924 erholungsbedürftigen Kindern, 1927 erholungsbedürftigen Müttern zugute kommen. Nicht genug damit ließ das städtische Gesundheitsamt durch die Familienfürsorgerinnen Mütterfeiern der Mütterberatungsstellen durchführen, bei denen es außer Kaffee und Kuchen musikalische Darbietungen und vor allem den »belehrenden Vortrag eines Kinderarztes« gab. Häufiger, da weniger aufwendig, dürften jedoch solche öffentlichen Feiern gewesen sein, die im Festsaal mit Gesang, Rezitation, Vorführung lebender Bilder oder kleiner Theaterstücke und mit einem Festvortrag für die erwünschte Muttertags-Erbauung sorgten.51 Gewiss nicht selten beteiligten sich auch die Pfarrer am Muttertags-Programm, indem sie in ihren Sonntagspredigten
49 Bericht in H. 3, 1927 (wie Anm. 23), S. 21; vgl. auch VDB (wie Anm. 8), 6.6.1924, S. 349. 50 Bericht in H. 5, 1928 (wie Anm. 23), S. 17 ff.; vgl. auch VDB (wie Anm. 8), 18.4.1924, S. 271f; 7.5.1926, S. 367. 51 H. 5, 1928 (wie Anm. 23), S. 34.
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zur Ehrung der Mutter anhielten und eine »religiöse Feier des Muttertages« zelebrierten.52 Wie auch immer der Muttertag privat oder öffentlich inszeniert wurde, nach Weisung der Regisseure hatte eine bestimmte Festqualität die Vielfalt möglicher Festformen zu regieren. Das Fest sollte der »Ausgestaltung der hohen Idee der Mutterehrung«,53 manchmal auch »Mutterverehrung« genannt,54 dienen und diese »Idee des Muttertages [sollte, K. H.] ohne alles Nebenwerk rein in ihrer sittlichen Größe Gestalt gewinnen.«55 Diese Festqualität wurde in stereotypen Wendungen charakterisiert als »hohe sittliche Idee«, als »reine sittliche Idee«, als »schöner Gedanke«, oder als »Reinheit und Schönheit des Muttertags-Gedankens«. Zwei Sinnkomponenten vermischten sich, wenn »von dem hohen, hehren Gedanken, der dem Tage der Mutter innewohnt«56, die Rede war. Angesprochen war darin zum einen der »sittliche hohe Wert der Mutterehrung«57 und zum andern die Überzeugung, dass der »Feier des Muttertages eine tiefe soziale Bedeutung«58 zukomme. Der Muttertag reklamierte »hohe Bedeutung« und sollte »seinen Zweck erfüllt« haben, wenn »über allem stillen oder lauten Feiern doch die Kulturaufgabe des Muttertages nicht vergessen«59 wurde. Knauer hatte in seinem Aufruf zum »1. deutschen Muttertag 1923« vorgeschlagen, der »Ehrentag der Mutter« solle ein »großer vaterländischer Weihe- und Festtag«60 werden. Dieses Ziel ließ sich während der Weimarer Republik nicht erreichen. Aber dass es beim Muttertag um eine »schöne Sitte« mit ganz besonderer Qualität ging, betonten alle Regisseure mit großem Nachdruck. Um diese Qualität deutlicher herauszuarbeiten, untersuche ich zunächst den in der Muttertags-Werbung zentralen ideologischen Zusammenhang der Mutter-Ehrung und dann die behauptete bzw. intendierte soziale Wirkung des einheitlich gefeierten Mutter-Ehrentages. Die Frage, in welchem Ideologiezusammenhang »Mutter-Ehrung« als sittliche Idee propagiert werden konnte, lässt sich zerlegen in die Teilfragen: Was macht die Mutter »ehrwürdig« und von wem und warum soll die Mutter geehrt werden? Die Vielfalt der Texte, die den »tiefen« Sinn des Muttertags in jedem Jahr erneut erläuterten, geben auf diesen Fragenkatalog genaue Antworten. Die Muttertags-Propagandisten redeten zu ihrem Publikum nicht über Mütter als individuelle Personen in bestimmten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie warben einzig und allein um Verständnis für die Mutter als Idee, also die Mutter als Verkörperung ideal gesetzter Eigenschaften und Verhaltens52 53 54 55 56 57 58 59 60
Ebd., S. 23. VDB (wie Anm. 8), 18.4.1924, S. 271 ff. u. 7.5.1926 (wie Anm. 8), S. 367. VDB, 2.5.1930, S. 161. VDB, 25.5.1923 S. 122. VDB, 18.4.1924 S. 271 f. VDB, 8.8.1930 S. 276. VDB, 8.4.1927 S. 293. VDB, 6.5.1927 S. 360 bzw. 4.5.1928, S. 401. VDB, 17.4.1923 S. 88.
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Muttertags-Poesie Ewige Fackel Zum Nieverlöschen bist Du, Heilige, geboren Du Schmerzenlindernde, Du Leidvermindernde, Ewige Du! Dein weißer Thron mit den granitnen Stufen Stand schon, da Gott den ersten Menschen rief In seines Paradieses Traumesgarten, Da hat sein »Werde« auch Dich wachgerufen: Daß Du der Schöpfung lebende Gebilde Begleitest auf der Erde Pilgergang. So lang ein atmend Wesen seine Kreise zieht, So lang ein Neues aus den Altem blüht, Kindjunge Seele ihren Lauf beginnt: Folgst Du der Spur, die seinen Weg bezeichnet, Unüberwindliche, tiefergründliche, Ewige Du: Mutterliebe! (aus: VDB, 3.5.1920, S. 345)
Mein Mütterchen zu ehren, Das darf mir keiner wehren, Das mich umsorgte Tag und Nacht Und sich um manchen Schlaf gebracht. Drum find ich es besonders fein, Daß wieder Muttertag wird sein, Und zwar – was mich besonders freut – Wenn Mutter Erde sich erneut Damit es ja recht festlich sei Im wunderschönen Monat Mai. Gibt’s einen Tag im Deutschen Reich, Wo alt und jung in Einem gleich, Wo nicht Partei und Haß und Neid Zerstören jede Einigkeit? O ja, mein Herz, nur nicht verzag’! Ich kenne einen solchen Tag, Wo wir von Mißgunst und Zersetzung frei, Das ist der zweite deutsche Muttertag am 11. Mai (aus: VDB, 25.4.1924, S. 279)
Riß Dich das Leben auch nackt und arm, Stahl es Dir Frieden, Freude und Glauben; Gab es Dir nichts als Kummer und Harm, Alles konnte es nicht rauben, Wenn es Deine Mutter ließ. Leg Deinen Kopf in ihren Schoß, Dich auszuweinen Ring Dich von aller Bitternis los, Klag alles der Einen. Keine kann so wie sie verstehn; Keine kann so wie sie verzeihn; Von allen Frauen, die um Dich gehn, Die heiligste ist die Mutter Dein. (Gedicht von Otto Paust, aus: VDB, 8.5.1925, S. 423)
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Deutscher Mütter heil’ge Liebe Glüht im Leben, blüht im Tod, Und wir stehen bis ans Ende Tief in heißer Dankesnot! (aus: VDB, 8.4.1927, S. 293)
üte , Lege heute als zartes Liebespfand ter G blüte! d! t n ü i M a ien K frische Blumen in der Mutter Hand! r s e e t s ch dei n eM D e u heute e f r i s c h k D e n i h r ei n D ei n g er n bri w ills Mutter h t’ du’s eu nicht t ein Dan den B k lume eswor t zu n üb e r t r a g s a gen, en? Willst du nicht heute deiner Mutter denken und zum Fest ihr frische Blumen schenken? (aus: VDB, 13.4.1928, S. 352)
O, wüßt ich den Weg zurück, Den lieben Weg zum Kinderland! O, warum sucht’ ich nach dem Glück Und ließ der Mutter Hand? O, wie mich sehnet, auszuruh’n, Von keinem Streben aufgeweckt, Die müden Augen zuzutun, Von Liebe sanft bedeckt! Und nichts zu forschen, nichts zu späh’n, Und nur zu träumen leicht und lind, Der Zeiten Wandel nicht zu sehn’n, Zum zweitenmal ein Kind! O, zeigt mir doch den Weg zurück, Den lieben Weg zum Kinderland! Vergebens such’ ich nach dem Glück, Ringsum ist öder Strand! (Gedicht von Klaus Groth, aus: W. Reeg, Wenn du noch eine Mutter hast!, Mühlhausen i. Thür. 1928, S. 16)
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weisen. Die Propagandisten redeten über die Mütter und verschwiegen, wer »die Frau und Mutter« ist, welche Fähigkeiten sie hat, welche Arbeiten sie tut. Frauen erscheinen in den Texten reduziert auf die symbolträchtigen Körperteile Herz und sehr viel seltener Hände. Das »Mutterherz« steht für Liebe; die »nimmermüden Hände« oder auch »fleißigen Mutterhände« stehen für Arbeit; Arbeit und Liebe werden durch Symbolisierung zu Organeigenschaften. »Mutter« ist »Herz« ist »Liebe«. Der von der Mutter verkörperte Eigenschaftskomplex »Mütterlichkeit« ist »der Inbegriff alles Süßen und Hohen und Heiligen in dieser Welt.«61 »Mütterlichkeit« wird genauer umschrieben: einerseits als Treue, Güte, Verstehen, Innerlichkeit, Fürsorge und andererseits als Hingebung, Aufopferung, Selbstverleugnung. Die Autoren pflegen diese Substantive noch zu verstärken durch die Adjektive: unermüdlich, unerschöpflich, unermesslich, ohne Grenzen. Ich zitiere ein Textbeispiel aus der Zeitung der Blumenhändler von 1924:62 »O Mutterherz, wie unergründlich tief ist deine Liebe! Kein Wort kann uns die Unermesslichkeit deiner Hingebung, deiner Selbstaufopferung, deiner Treue aussprechen.« Der Ehre bzw. Verehrung für würdig erklärt wurde eine zur Idee stilisierte Mutter, die allen menschlichen Dimensionen enthoben war. Diese ideale Mutter hatte keinerlei eigene Bedürfnisse, nicht einmal Müdigkeit überwältigte sie;63 ihr Tun war selbstverständliche, klaglose »Selbstaufopferung« Das angebotene Mutter-Bild sollte offenbar Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewinnen durch Anspielungen auf den erinnerbaren Erfahrungsschatz aus der Kindheit. Der »sehnende Blick rückwärts« zur »Gestalt der Mutter« wurde ebenso angesprochen wie die »glückselige Kindheit«, in der die Mutter Trost und Liebe spendete und »verlorene Selbstachtung« zurückgab.64 Zu einem besonders extremen Bild wird die erinnerte Mutter-Kind-Bindung stilisiert in der Aussage:65 »Treue Mütter sind die Fackelträgerinnen unserer Sehnsucht.« Die genaue Analyse dieser verquasten und in ihrer Sinnhuberei heute unerträglichen Texte macht deutlich, dass die Mutter-Regisseure die erwünschte Mutter-Ehrung verankerten als Kult des Mutter-Bildes. Über die Medien »Dankbarkeit, Liebe und Verehrung« sollte sich der ersehnte Weg zurück zur Mutter ebnen. Die Aufforderung zur Mutter-Ehrung am Muttertag erhielt deutlich das Versprechen, ja die Verheißung, wieder zur Mutter hinzuführen. So heißt es z. B. an einer Stelle: »Mütterlichkeit« sei »unsere Erlösung«; sie allein hätte »unsere Seele begnadigt«.66 Die Werbung blieb allerdings nicht dabei stehen, individuelle Mutter-Sehnsucht zu aktualisieren. Sie mobilisierte ihr Publikum vielmehr in erster Linie für das kollektive Ziel, dem deutschen Volk eine bessere Zukunft sicherzustel61 VDB (wie Anm. 8), 25.4.1924, S. 280. 62 VDB, 9.5.1924, S. 309. 63 VDB, 25.4.1924, S. 280, schreckt nicht einmal vor dem absurden Bild zurück, die Mutter sei selbst nach 24 Stunden aufopfernder Arbeit noch nicht zu müde für weitere Einsätze. 64 Zitate aus VDB, 25.4.1924, S. 279; 21.3.1924, S. 177; 9.5.1924, S. 310. 65 VDB, 22.4.1927, S. 326. 66 VDB, 22.4.1927, S. 326; 20.4.1928, S. 366.
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len. »In dem Tag, der der Verehrung der Mutter geweiht ist, bergen sich aufbauende Kräfte des Volkslebens.«67 Die dem Muttertag zugedachte soziale Funktion sollte sich in drei Richtungen gleichzeitig erfüllen. Mutter-Ehrung sollte die zerstrittene Nation erneut integrieren, die Familie als Keimzelle des Staates stabilisieren und die Jugend für ihre zukünftigen Aufgaben erziehen. In dieser Perspektive stellte sich die Muttertagsbewegung als eine Art Erweckungsbewegung dar, die beanspruchte, am drohenden Abgrund neue Kräfte des Aufstiegs wachzurütteln. Die Gegenwartsverhältnisse erschienen in der Muttertagswerbung dementsprechend in düsteren Farben. In der allgemeinen »politischen und wirtschaftlichen Not« galt die vieldiskutierte »Zerstörung des Familienlebens« als gefährlichste Bedrohung, die die »Verrohung unserer Sitten« und den »Mangel an Gemeinschaftssinn und Opferwilligkeit« zur Folge haben würde.68 In dieser Situation empfahl sich der Muttertag als ein Beitrag zur »wirklich sittlichen Wiedergeburt unseres Volkes«.69 Diese Aussage fußte auf der Konstruktion eines schlichten Zusammenhangs. Der Satz, die »Mutter ist die Hüterin des Familienlebens«70 gehörte seit langem zum ideologischen Allgemeingut. Die behauptete »Zerrüttung« der Familie ließ sich demnach auf das Versagen der Mutter zurückführen. So kritisierten denn auch die Muttertags-Propagandisten den »Niedergang der Weiblichkeit und Mütterlichkeit in unserem Volk.«71 Aufgrund von Materialismus, Individualismus und schrankenloser Genusssucht seien die Frauen gegenüber ihrem eigentlichen Frauen- und Mutterberuf gleichgültig geworden. Das Rezept lautete »Schafft uns gute Mütter, dann wird es mit Deutschland wieder besser werden.«72 Dazu sollte der Muttertag beitragen. Denn Mutter-Ehrung sollte als erzieherische Kraft Frauen und vor allem heranwachsende Mädchen in den Bann der »Mütterlichkeit« schlagen und so auf ihren »natürlichen« Beruf verpflichten. Männer und Jungen sollten zur Ehrfurcht vor der Mutter und damit zur Wertschätzung der Familie erzogen werden. Nicht genug damit, erhofften sich die Regisseure vom Muttertag auch noch Aufklärung über die »großen Fragen unseres volklichen Bestehens«, über die Bedeutung von »Mutterschaft«, »Rassenhygiene« und »sexueller Erziehung«. Als »volkspädagogisches« Fernziel ließ der Muttertag auf erneute »Familienhaftigkeit« mit »kinderfrohen Familien als Born aller Volkskraft und Volkstugend« hoffen.73 Das angesprochene Vorbild der liebend sich aufopfernden Mutter hatte zu allem anderen auch noch den Vorzug, dass es jenseits von arm und reich, von Klassen- und Schichtzugehörigkeit allgemeine Geltung beanspruchen konnte. In offenbar richtiger Einschätzung der Verhältnisse im Deutschen Reich knüpf67 68 69 70 71
VDB, 3.5.1929, S. 343. VDB, 22.4.1927, S. 326; 6.5.1927, S. 359. VDB, 25.6.1923, S. 147. VDB, 21.3.1924, S. 177. H. 9, 1929 (wie Anm. 23), S. 18. Für das Nachfolgende vgl. H. 9, 1929, S. 3 u. S. 22; H. 5, 1928, S. 5 u. S. 15; VDB (wie Anm. 8), 18.4.1924 S. 271; 29.4.1927, S. 351. 72 VDB, 22.4.1927, S. 326. 73 H. 3, 1927 (wie Anm. 23), S. 7 u. S. 12.
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ten die Muttertags-Regisseure daher an eine in allen Kreisen der Bevölkerung vermutete Bereitschaft zur Mutter-Ehrung an und inszenierten den Muttertag als Fest der nationalen Integration. Sie formulierten in immer neuen Variationen ihre Prämisse: »Die gemeinschaftliche Liebe und Ehrfurcht zur Mutter bindet alle Glieder unseres Volkes mit neuen Banden aneinander«74 und stellten ihr zur Seite die Forderung, am Muttertag alle Gegensätze der Konfessionen und Parteien zu überbrücken und den Tag als Fest der Eintracht und Versöhnung zu feiern. Hoffnungen auf Volksgemeinschaft kamen zum Klingen, wenn der gemeinsame Idealismus der »Heimat-, Vaterlands- und Mutterliebe« als einende Kraft im deutschen Volke behauptet wurde.75 Die skizzierte »sittliche« Idee des Muttertages war zunächst nichts anderes als ein ideologischer und sozialpolitischer Anspruch, mit dem die Regisseure ihrer neuen »Volkssitte« zum Durchbruch verhelfen wollten. Doch dieser Anspruch schaffte sich seine Wirklichkeit, indem er als Regieanweisung in die Inszenierung des Festes einging. Die lokalen Werbeagenten versammelten sich unter diesem Anspruch und übermittelten ihn den Kindern und Jugendlichen als Muttertags-Botschaft. Wort und Schrift, soweit sie mir als Texte von Gedichten, Liedern, Reden, Predigten und Zeitungsartikeln vorliegen, kamen zum Einsatz, um diesen Anspruch in gängiger Münze auszuprägen. Auch als Bild wurde die Mutter, madonnengleich und altdeutsch gewandet, zumeist in inniger Gemeinschaft mit dem kleinen Kind immer wieder dargestellt und für Muttertagszwecke in Umlauf gebracht. Seit den späten zwanziger Jahren erhielten die Blumenhändler genaue Anleitungen, wie die Muttertags-Idee in werbewirksame Schaufensterdekorationen umzusetzen sei. Es wurde empfohlen, MuttertagsSprüche, Mutter-Bilder oder plastische Frauenfiguren, die »schon in Gesichtszügen oder Haltung Mütterlichkeit erkennen lassen«, als Blickfang in die Blumendekorationen einzuarbeiten.76 Die Einheitlichkeit und ständige Wiederholung der Muttertags-Aussagen dürfte zumindest bei dem Publikum, das bereit war zu lesen, zu hören und zu sehen, auf Dauer nicht völlig wirkungslos geblieben sein. Ich vermute, dass diese Art der Propaganda imstande war, latent vorhandene Mutter-Vorstellungen in schärfere Konturen zu fassen und zu einem abrufbaren Orientierungsbild zu verdichten.77 Der Muttertag wäre dann zu interpretieren als kollektive Anstrengung, innerfamiliale Verhaltensweisen für die gesamte deutsche Gesellschaft verbindlich festzuschreiben. Dabei kommt zwei Momenten der sakralen Stilisierung der Muttertags-Mutter zentrale Bedeutung zu. Es soll zum einen in der Ordnung und daher angemessen erscheinen, dass die Mutter durch Auf74 VDB, 25.4.1924, S.281. 75 VDB, 6.5.1927 S. 360. 76 VDB, 3.5.1929 S. 344; erstmals geht es um Schaufensterdekorationen in VDB, 27.4.1928, S. 380. 77 Zur Funktion solcher Orientierungsbilder vgl. R. Firth, Symbols, Public and Private, London 1973, bes. S. 54–91.
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opferung in der Familie wirkt. Der Mutter Einsatz sei mit menschlichem Maß nicht zu messen. Dieser Situation soll ein jährliches Dankopfer Ausdruck verleihen und gleichzeitig dazu beitragen, Frauen weiterhin der Pflicht dieses übermenschlichen Mutter-Dienstes zu unterstellen. Diejenigen aber, die jahrein, jahraus das Mutter-Opfer als Fürsorge beanspruchen, sollen sich am Muttertag von der Dankesschuld entlasten, um weiterhin das Opfer der Mutter verlangen und annehmen zu können. Verehrung der Mutter soll auch für die Zukunft hingebende Fürsorge und Selbstverleugnung der gebenden Mutter und schuldloses Nehmen der fürsorgeheischenden Kinder und erwachsenen Söhne gesellschaftlich sicherstellen. Diese ungeheuerliche Logik entschlüsselt die zentrale Intention der Muttertags-Inszenierung, der ungeachtet kleinerer Varianten alle Regisseure verpflichtet waren. Bis jetzt habe ich den »Deutschen Muttertag« als Inszenierung betrachtet, die in immer mehr Orten des Deutschen Reiches als jährliches Bühnengeschehen historische Wirklichkeit erlangte.78 Die dabei beobachtete eigentümliche Mischung von privaten und öffentlichen Zugriffen auf die Figuren des Familiengeschehens, von Volkserziehung und Volksfest, von gleichzeitiger Stärkung des Gemeinschafts- und des Familienzusammenhalts, von marktvermitteltem Geschäft und symbolträchtiger Kommunikation, von ideellen Werten und tagespolitischen Interessen liefert aber zugleich hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der »Mutter Ehrentag« wohl mehr war als nur eine gelungene Inszenierung. In den folgenden Abschnitten will ich deshalb mit der Analyse weiter ausholen und den Muttertag als Teil und zugleich als Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Weimarer Republik betrachten. Dabei beschäftigt mich nicht länger die Frage, warum der Muttertag zum Zuge kam und welche Orientierungsbilder er transportieren half. Ich will vielmehr umgekehrt die aus der Analyse des Muttertags-Geschehens gewonnene Sicht benutzen, um bestimmte andere gesellschaftliche Phänomene der Weimarer Zeit zusammenzurücken und zu interpretieren.
3. Mütter in der Weimarer Zeit Auf welche Gesellschaftssituation bezog sich die intensive Werbung für einen »Deutschen Muttertag«? Diese Frage ist ganz offensichtlich nicht bereits mit dem Hinweis auf die Absatzinteressen bestimmter Branchen der Konsumgüterindustrie erschöpfend beantwortet. Ebenso wenig erklärt das bloße Vorhandensein von sozialpolitischen Pressure Groups und größeren gesellschaftlichen Agenturen im 20. Jahrhundert bereits deren Engagement für den Muttertag. Offenbar ist es erforderlich, den Blick auf einen größeren Ausschnitt der ge78 Der zum nationalen Feiertag erhobene Muttertag im »Dritten Reich« wäre eine eigene Untersuchung wert.
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sellschaftlichen Wirklichkeit zu richten. Ich gehe deshalb zunächst von der zumindest plausiblen Vermutung aus, dass zwischen Muttertags-Werbung und der gesellschaftlichen Situation und Platzierung von Müttern ein Zusammenhang besteht. Das in der Werbung vorherrschende Bild der aufopfernden Mutter und das deutlich formulierte Ziel des Muttertags, heranwachsende Mädchen zur Mütterlichkeit zu erziehen, liefern hierfür erste Anhaltspunkte. Die folgenden Nachforschungen orientieren sich an der Hypothese, dass der breit aufgenommene Vorschlag zur öffentlichen Mutter-Ehrung ein Indiz dafür ist, dass »Mutterschaft« als gesellschaftliches Problem wahrgenommen wurde.79 Zumindest ist ein Werbefeldzug in dieser Form schwer vorstellbar, solange Mutter-Sein als eher naturwüchsiges Verhältnis und Privatangelegenheit gilt. Mutter-Sein als Gesellschaftsproblem zu begreifen, setzt voraus, dass die Gesellschaft vorschreibt und durchzusetzen versucht, welche Mutter-Leistungen Frauen zu erbringen haben, und dass Frauen nicht bereit oder imstande sind, das von ihnen Erwartete zu leisten. Im Bewusstsein der Zeitgenossen war dieses die als bedrohlich erachtete Situation der zwanziger Jahre. Auf der einen Seite wurde der Geburtenrückgang als großes Defizit an Mütter-Leistung beklagt;80 auf der anderen Seite galt es als sozialpolitischer Skandal, dass Mütter unter der Last ihrer Aufgaben physisch und psychisch zerbrachen und funktionsuntüchtig wurden.81 Gesellschaftspolitische Therapieversuche zielten in erster Linie darauf ab, das Leistungsvermögen und die Leistungsbereitschaft der Frauen zu erhöhen. Die Werbung für den Muttertag passte hervorragend in den Rahmen eines solchen Programms. Demgegenüber blieben die tiefer liegenden strukturellen Ursachen des Problems unbearbeitet. Immer noch wurde es weitgehend als zwangsläufige Entwicklung hingenommen, dass Mütter für ihre gesellschaftlich notwendig erachteten Leistungen nur äußerst unzureichende Entfaltungsmöglichkeiten erhielten.82 Erste Programme einer umfassenden Familienpolitik83 sahen zwar bereits für Familien mit mehreren Kindern weitreichende wirtschaftliche Stützungsmaßnahmen 79 Vgl. z. B. A. Schreiber (Hg.), Mutterschaft. Ein Sammelwerk über die Probleme des Weibes als Mutter, München 1912. 80 Einen guten Überblick über die bevölkerungspolitische Diskussion gibt D. Glass, Population. Policies and Movements in Europe, Repr. London 1967. 81 Aufschlussreiche Zusammenhänge stellt in dieser Hinsicht der Artikel 119 der Weimarer Verfassung her. Dort heißt es: »Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist die Aufgabe des Staates und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staates.« 82 Zur Reichweite der sozialdemokratischen Forderungen vgl. L. Schroeder, Die proletarische Frau als Hausfrau und Mutter, in: A. Blos (Hg.), Die Frauenfrage im Lichte des Sozialismus, Dresden 1930, S. 148–182. 83 Zur familienpolitischen Programmatik vgl. z. B. F. Zahn, Familie und Familienpolitik, Berlin 1918; G. Bäumer, Familienpolitik. Probleme, Ziele, Wege, Berlin 1933.
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vor. Doch fehlte es in den zwanziger Jahren an den erforderlichen Mitteln, um selbst extreme Not von Familien bzw. Müttern mit kleinen Kindern abzuwenden. Jenseits der Denkmöglichkeiten der Zwischenkriegszeit scheint es gelegen zu haben, gesellschaftlich zu akzeptieren, dass Mütter ihre Leistungen verringern. Eine solche Entlastung hätte zum einen durch Senkung der Leistungsstandards erreicht werden können. Dem stand entgegen, dass die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts allgemein rapide gestiegenen Standards für Haushaltsführung und Kinderpflege einzig als gesellschaftlicher Fortschritt, nicht aber als zusätzliche Arbeitsbelastung für Frauen verbucht worden waren. Zum anderen hätten Mütter von einem Teil der ihnen zugewiesenen Aufgaben entlastet werden können, indem Zuständigkeiten entweder innerfamilial an Hilfspersonal bzw. Ehemann übergingen oder von außen durch gesellschaftliche Einrichtungen abgenommen wurden. Prinzipiell hielt man es um des Familienzusammenhalts willen für erstrebenswert, alle Leistungen im privaten Haushalt bei der Mutter zu zentrieren. Kinderbetreuung außerhalb der Familie galt weiterhin als schlechte Notlösung. Sie wurde von den Sozialdemokraten und Kommunisten zwar gefordert, institutionell jedoch nur zögernd weiterentwickelt. Dienstleistungen vom Markt konnten sich wahrscheinlich noch weniger Haushalte als vor dem Ersten Weltkrieg leisten.84 Das System der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung schließlich außer Kraft zu setzen, gehörte ganz offensichtlich nicht einmal zu den erlaubten Denkspielen der Zeit.85 Praktiziert wurde stattdessen konsequente Geburtenkontrolle als private Form der Anpassung an die veränderten Verhältnisse. Eltern und insbesondere Mütter waren bereit, den Aufwand pro Kind entsprechend den gesellschaftlichen Standards zu steigern. Sie beanspruchten aber zugleich, darüber zu entscheiden, für wie viele Kinder sie einen solchen Aufwand betreiben wollten. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts kam die Familienplanung in allen Kreisen der Bevölkerung voll zum Zuge.86 Eben deshalb zogen Bevölkerungspolitiker gegen diesen in der Privatheit der Familie durchgesetzten Schutz vor Überlastung zu Felde und malten den drohenden »nationalen Tod« als düstere Konsequenz der von potentiellen Müttern verweigerten Leistung an die Wand.87 84 Die Zahl der im Häuslichen Dienst beschäftigten Erwerbspersonen hat von 1907 bis 1925 um ca. 12 Prozent abgenommen. 1925 arbeiteten von den insgesamt 1,36 Millionen in Haushalten beschäftigten Frauen über 300.000 als Zugehfrauen. Die im Haushalt des Dienstherren lebenden Hausangestellten lebten zu fast 72 Prozent bei Selbstständigen und unterstützten wohl in der Hauptsache die im Geschäft mitarbeitende Ehefrau; vgl. A. Geyer, Die Frau im Beruf, in: Blos (wie Anm. 82), S. 207–209. Nach Coyner (wie Anm. 88), S. 303 f. brachten den Hausangestelltenlohn in Höhe von 600–900 Mark nur 5,7 Prozent der von ihr untersuchten Angestellten- und 11,2 Prozent der Beamtenfamilien auf. 85 Stattdessen konzentrierten sich die Diskussionen auf die doppelte Last/Aufgabe derjenigen Frauen, die außer der Familien- auch Erwerbsarbeit leisteten. 86 Vgl. J. E. Knodel, The Decline of Fertility in Germany, 1871–1939, Princeton 1974. 87 Vgl. z. B. F. Burgdörfer, Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung, Berlin 1929; H. Harmsen, Geburtenregelung. Das Europäische Bevölkerungsproblem (= Schriften zur Volksgesundung 7), Berlin 1927.
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Über die tatsächlichen Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Müttern in den 1920er Jahren gibt es bislang keine fundierten Untersuchungen. Statistisch wurden Mütter in dieser Zeit ebenso unzureichend erfasst wie Familien. Ob und in welchem Alter verheiratete und unverheiratete Frauen mit ihren Kindern in einem Haushalt zusammenlebten und wie viele Kinder es in welchem Alter waren, ist nicht genau zu erschließen. Einzig indirekte Daten über Familienstand, Erwerbstätigkeit, Haushaltsgrößen und Geburtenentwicklung ermöglichen eine grobe Orientierung. Möglicherweise enthalten zeitgenössische Einzelerhebungen genauere Auskünfte.88 Aber diese auszuwerten, würde den hier gesteckten Rahmen überschreiten. Ich behelfe mich also mit leicht zugänglichem, dafür aber weniger informativem Material. Von nicht zu unterschätzendem Gewicht für ihre tatsächlichen Lebensverhältnisse dürfte es gewesen sein, dass Frauen auch in der Weimarer Zeit auf das mächtige gesellschaftliche Leitbild festgelegt wurden, an der Seite eines Ehemannes und »Ernährers« in erster Linie ihrem primären, ja natürlichen Beruf als Hausfrau und Mutter nachzukommen. Frauen, ausgebildet zur personifizierten »Mütterlichkeit«, sollten vorrangig in privaten Familien und nur ersatzweise in der Öffentlichkeit durch »organisierte« oder »geistige Mütterlichkeit« wirken.89 Dieses Leitbild interpretierte auf äußerst zwiespältige Weise die tatsächliche gesellschaftliche Situation von Frauen, die sich unter dem Druck der durch den Weltkrieg enorm beschleunigten wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen tiefgreifend veränderte. Der ökonomische Zwang zur Erwerbsarbeit, aber auch die durch bessere Ausbildung und rechtliche Gleichstellung neu eröffneten Möglichkeiten forderten Frauen aus allen Gesellschaftsschichten stärker denn je dazu heraus, ihr Betätigungsfeld außerhalb von privaten Haushalten zu suchen. Frauen, deren Arbeit und Leben im Zeichen dieses allgemeinen Trends standen, sahen sich aber zugleich ausgerichtet auf das Leitbild der »Hausfrau und Mutter« und auf eine immer genauer entworfene Mutter-Rolle. Diese Rollennorm stieß in der Weimarer Republik auf die Wirklichkeit eines enormen Frauenüberschusses. Im Weltkrieg waren rund 2 Millionen deutsche Soldaten getötet worden. Fast 70 Prozent aller Gefallenen war nicht verheiratet, 88 Vgl. z. B. die Auswertung der vom Statistischen Reichsamt 1927/28 ermittelten Haushaltsrechnungen von 896 Arbeiter-, 546 Angestellten- und 498 Beamtenfamilien durch S. J. Coyner, Class Patterns of Family Income and Expenditure during the Weimar Republic. German White-Collar Employees as Harbingers of Modern Society, Ph.D. (masch.) Rutgers University 1975, für meine Fragestellung verdanke ich besonders viele Anregungen T. Mason, Women in Nazi Germany, Part I, in: History Workshop. A journal of socialist historians 1, 1976, S. 74–113, und ders., Women in Germany 1925–1940. Family Welfare and Work, Conclusion, in: ebd., 2, 1976, S. 5–32; gekürzt liegt der Aufsatz in deutscher Übersetzung vor: ders., Zur Lage der Frauen in Deutschland 1930 bis 1940. Wohlfahrt, Arbeit und Familie, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 6, Frankfurt a. M. 1967, S. 118– 193. Ich zitiere nach dem englischen Original, vor allem Teil 1, S. 74–113. 89 Die Begriffe wurden vor allem von der bürgerlichen Frauenbewegung und offenbar auch von den konfessionellen Frauenorganisationen seit dem späten 19. Jahrhundert eingebürgert.
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fast die Hälfte starb im Alter von 18–25 Jahren.90 1925 gab es dementsprechend im Deutschen Reich 2 Millionen, 1933 noch 1,8 Millionen mehr Frauen als Männer. In der Altersgruppe der 20–65-jährigen überstieg die Zahl der Frauen um 1,8 Millionen bzw. 1,7 Millionen die der Männer.91 Formuliert in der Sprache, wie sie 1929 der Bevölkerungswissenschaftler F. Burgdörfer benutzte,92 ergab das eine »durch die männlichen Kriegsverluste gewissermaßen brachgelegte Gebärfähigkeit von 1,1 Millionen Frauen.« Die ungleiche Verteilung der Geschlechter minderte die Ehechancen der Frauen:93 Es waren: verheiratet (%) 1925
1933
verwitwet (%)
geschieden (%)
Frauen
39,4
8,7
0,6
Männer
42,2
2,9
0,3
Frauen
42,7
9,0
0,9
Männer
45,1
3,1
0,6
Ledig waren im Alter von 35 Jahren und älter Geburtsjahrgang 1881–85 1925
Geburtsjahrgang 1886–90
1933
1925
1933
absolut
%
absolut
%
absolut
%
absolut
%
Frauen
369.000
16
293.000
13
259.000
12
221.000
11
Männer
219.000
11
124.000
6
148.000
7,5
102.000
6
Die Mehrzahl der 1925 rund 15,8 Millionen und 1933 rund 17,1 Millionen verheirateter, verwitweter und geschiedener Frauen dürften Mütter gewesen sein. Allerdings unterschied sich das Leben derjenigen Mütter, die lange vor dem Krieg geheiratet hatten, erheblich von denen, die bei Kriegsende heirateten. 1939 90 Vgl. Wirtschaft und Statistik 2, 1922, S. 386; Statistisches Jahrbuch 44, 1924/25, S. 24–27. 91 Errechnet nach D. Petzina u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München 1978, S. 28. 92 Burgdörfer (wie Anm. 87), S. 47. 93 Erste Tabelle nach: Statistisches Bundesamt (Hg.), Bevölkerung und Wirtschaft. Langfristige Reihen 1871 bis 1957 für das Deutsche Reich und die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1985, S. 15; zweite Tabelle errechnet nach: Statistik des Deutschen Reichs 401, Berlin 1930, S. 174 f. und Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 54, Berlin 1935, S. 12.
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angestellte Erhebungen94 zeigen, dass für Frauen, die auf dem Lande wohnten oder deren Männer in der Landwirtschaft arbeiteten, in den vor 1905 geschlossenen Ehen noch eine Durchschnittszahl von 5,5 Geburten zu verzeichnen war, in den von 1915–1919 geschlossenen Ehen dagegen nur noch von 3,6. Für Ehefrauen von Arbeitern, die nicht in der Landwirtschaft beschäftigt waren, fielen die Durchschnittszahlen von 4,7 auf 2,8. Für Frauen von Beamten und Angestellten außerhalb der Landwirtschaft sank die Zahl von 3,4 auf 2. In Großstädten fiel der Gesamtdurchschnitt aller Geburten pro Ehe von 3–4 auf 1–2. Es bleibt zu ergänzen, dass die Mittel dieser erfolgreichen Familienplanung wohl nicht allein Empfängnisverhütung, sondern vor allem auch Abtreibung waren. Mitte der zwanziger Jahre gingen Schätzungen von ungefähr 500.000 Abtreibungen pro Jahr aus.95 In der Weltwirtschaftskrise lieferten sich noch sehr viel mehr Frauen diesem nach wie vor kriminalisierten und daher besonders gesundheitsschädigenden Mittel der Geburtenkontrolle aus. Hausfrauen arbeiteten also zumeist in Haushalten, die wegen der geringeren Zahl an Kindern, aber auch an Dienstboten deutlich kleiner waren als noch 1910. Prozentuale Verteilung aller Mehrpersonenhaushalte im Deutschen Reich96 2–4 Personen
5–7 Personen
über 8 Personen
1910
54,6
34,8
10,6
1925
64,2
29,4
6,4
1933
71,8
24,1
4,1
Die Haushalte der Zwischenkriegszeit waren nicht nur kleiner, sie verfügten zumindest in den großen Städten zunehmend auch über Wohnungen, die mit Gas, Wasser und Elektrizität ausgestattet und damit leichter zu bewirtschaften waren.97 Nach wie vor problematisch blieb allerdings die Versorgung mit ausrei94 Vgl. Knodel (wie Anm. 86), S. 121, 124; Coyner (wie Anm. 88), S. 189, findet 3 und mehr Kinder nur bei 26 Prozent der Arbeiter-, 12 Prozent der Angestellten- und 16 Prozent der Beamtenfamilien. 95 Schätzungen bei J. Wolf, Die neue Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage, Jena 1928, S. 70–75; vgl. auch Glass, Population (wie Anm. 80), S. 311–313. 1926 hatte eine Novelle zum § 218 die auf Abtreibung stehende Höchststrafe von Zuchthaus in Gefängnis umgewandelt. Eine breite Kampagne zur Abschaffung des § 218 blieb 1931 erfolglos, vgl. A., Grossmann, German Abortion Campaign 1931, in: New German Critique, Herbst 1978, S. 114–137. 96 Statistisches Jahrbuch 55, 1936, S. 34. 97 Vgl. Coyner (wie Anm. 88), S. 293 f.
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chendem Wohnraum. Die akute Wohnungsnot lässt sich daran ablesen, dass nach der Reichswohnungszählung von 192798 noch über 750.000 Wohnungen fehlten und weitere 300.000 abbruchreif oder überfüllt waren. Auf der einen Seite hatten sich also ganz ohne Zweifel die Arbeits- und Lebensbedingungen für Frauen mit Kindern verbessert. Doch diese Feststellung ist trügerisch. Denn auf der anderen Seite zeigt ein Blick auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Arbeit von Müttern und Hausfrauen das gleichzeitige Ausmaß an Elend und Not. Mütter, gleich wie viel Kinder sie zu versorgen hatten, lebten in extrem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen, wenn der Vater ausfiel, bevor die Kinder erwerbsfähig waren. Die meisten dieser Frauen mussten zusätzlich zu Alimenten bzw. Renten hinzuverdienen oder auch ganz für den Unterhalt der Familie aufkommen. Bei den immer noch sehr niedrigen Frauenlöhnen waren Frauen selten imstande, auch bei mehr als acht Stunden Erwerbsarbeit den Lebensunterhalt für mehrere Personen zu verdienen. Um das Überleben ihrer Familie zu sichern, blieben sie auf zusätzliche Wohlfahrtsunterstützung angewiesen.99 In dieser prekären Situation befanden sich in den zwanziger Jahren nicht nur besonders viele Mütter, sondern vor allem auch Mütter, die als Mädchen erzogen worden waren für eine Zukunft als Gattin und Mutter in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen. Schon immer hatten insbesondere ledige Mütter für sich und das Kind den Lebensunterhalt weitgehend allein verdienen müssen. In den zwanziger Jahren stieg der Anteil der von ledigen Frauen lebend geborenen Kinder von 8–10 Prozent vor 1914 auf 11–12 Prozent. Dabei ging allerdings die Zahl der unehelich geborenen Kinder von jährlich 170.000 in den Jahren 1900 bis 1914 zurück auf rund 150.000 nach 1920.100 Außerdem ist es sehr wohl möglich, dass diese ledigen Mütter jetzt häufiger als vor dem Kriege mit den Vätern ihrer Kinder zusammenlebten.101 Größer geworden ist in jedem Fall die Gruppe der eheverlassenen und geschiedenen Mütter, die auch schon früher zumeist in großer Not und nicht selten von Armenunterstützung hatten leben müssen.102 Vor allem aber kam zu diesen Müttern ohne »Ernährer« die durch den Krieg hochgeschnellte Zahl der aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammenden Witwen hin-
98 Vgl. Schroeder (wie Anm. 82), S. 176. L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik (Düsseldorf 1949), Reprint Düsseldorf 1978, S. 483. 99 Vgl. z. B. E. Lüdy, Erwerbstätige Mütter in vaterlosen Familien, Berlin 1932, als zeitgenössische Untersuchung der Situation von 184 alleinstehenden Müttern in Berlin. 100 Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 93), S. 20. 101 Rentenansprüche und drohende Arbeitsplatzprobleme waren für Frauen der zwanziger Jahre neue Motive, auf eine förmliche Eheschließung zu verzichten; vgl. u. a. H. Harmsen, Der Einfluß der versorgungsgesetzlichen Regelung auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Kriegerwitwen. Eine soziologische und bevölkerungspolitische Beurteilung und Kritik unserer heutigen Versorgungsgesetzgebung (Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Medizinalverwaltung 22,5), Berlin 1926. 102 Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 93), S. 23.
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zu.103 Noch im Oktober 1924 wurden 366.140 versorgungsberechtigte, d. h. noch nicht wiederverheiratete Kriegerwitwen mit zusammen 963.040 Kindern gezählt. Fast alle erhielten eine so schmal bemessene Rente, dass ohne zusätzliches Einkommen der Familienunterhalt nicht gesichert war. Eine Vorstellung von der Größenordnung dieser Gruppe der unter äußerst schwierigen Bedingungen lebenden Mütter kann folgendes Ergebnis der Volkszählung von 1933 vermitteln.104 Es wurden 2,4 Millionen Haushalte gezählt, deren Familienvorstand eine verwitwete oder geschiedene Frau war. In 468.000 dieser Haushalte lebten Kinder unter 16 Jahren. Der Familienunterhalt wurde auch in den »vollständigen« Familien zu fast einem Drittel nicht durch die Arbeit des Ehemannes sichergestellt. 1925, einem konjunkturell relativ günstigen Jahr, wurden von 12,7 Millionen Ehefrauen immerhin 3,7 Millionen als hauptberuflich Erwerbstätige gezählt. Die Berufszählungen von 1925 und 1933 stuften 29 Prozent der Ehefrauen als Erwerbstätige ein. Der Anteil der verheirateten Frauen an den weiblichen Erwerbspersonen insgesamt lag 1925 bei 32 Prozent und 1933 bei 36 Prozent.105 Über die Hälfte der erwerbstätigen Ehefrauen war älter als 40 Jahre.106 Diese Zahlen schließen die selbständigen und mithelfenden Ehefrauen in kleingewerblichen und landwirtschaftlichen Betrieben ein. Für sie gilt der Vorteil, dass Erwerbs- und Hausarbeit nicht räumlich voneinander getrennt stattfinden müssen. Für die mithelfenden Ehefrauen gilt zugleich der Nachteil, dass sie ohne Lohn nach den Verfügungen des Ehemannes arbeiten. Von den rund 850.000 Ehefrauen, die 1925 einem fremden Arbeitgeber unterstanden,107 arbeiteten ungefähr die Hälfte als Industriearbeiterinnen. Unter ihnen hatten die rund 100.000 Heimarbeiterinnen108 ihren Arbeitsplatz in der eigenen Wohnung oder einer kleinen Werkstatt. Mit großer Sicherheit kann man im Übrigen davon ausgehen, dass auch 1925 und 1933 die Statistik keineswegs alle Ehefrauen erfasst hat, die mehr
103 Wirtschaft und Statistik 5, 1925, S. 29 f. Die erste offizielle Zählung erfolgte im Oktober 1924. Noch ungünstiger als für Kriegerwitwen war die Situation für Ehefrauen, die aus der Unfall- bzw. Invalidenversicherung des Mannes eine Rente bezogen, vgl. Schroeder (wie Anm. 82), S. 174. Vgl. auch H. Hurwitz-Stranz, Kriegerwitwen gestalten ihr Schicksal. Lebenskämpfe der Kriegerwitwen nach eigenen Darstellungen, Berlin 1931. 104 Vgl. Statistisches Jahrbuch 55, 1936, S. 31. 105 Zur Erwerbstätigkeit vgl. außer Geyer (wie Anm. 84) und Mason (wie Anm. 88), auch S. Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914 bis 1945, Marburg 1979, bes. S. 25; R. Bridenthal, Beyond Kinder, Kirche, Küche. Weimar Women at Work, in: Central European History 6, 1973, S. 148–166. Coyner (wie Anm. 88), S. 215, stellt fest, dass Frauen mit eigenem Einkommen anzutreffen sind in 45,9 Prozent ihrer Arbeiter-, in 14,7 Prozent ihrer Angestellten- und 12 Prozent ihrer Beamtenfamilien; in den Angestellten- und Beamtenfamilien niemals, wenn Kinder vorhanden sind, bei Arbeiterfamilien hingegen auch in 32 Prozent der Familien mit Kindern. 106 Bevölkerung und Wirtschaft (wie Anm. 93), S. 33. 107 Berechnung von Geyer (wie Anm. 84), S. 214; vgl. auch ebd., S. 214–227. 108 Vgl. Bajohr (wie Anm. 105), S. 214 f.
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oder weniger regelmäßig durch eigene Erwerbsarbeit die Lücken im Haushaltsbudget zu stopfen versuchten.109 Verheiratete Frauen und vor allem Mütter, die zusätzlich zur Familienarbeit auch noch für den Erwerb arbeiteten, bürdeten sich diese doppelte Last in den allermeisten Fällen nicht aus Neigung, sondern aus Not auf.110 Da waren zunächst einmal die Mütter der 1924 registrierten 950.000 Kinder von kriegsversehrten und noch versorgungsberechtigten rund 721.000 Vätern und vor allem die rund 235.000 Ehefrauen unter ihnen, die mit einem schwerbeschädigten Mann verheiratet waren.111 Diese Frauen dürften kaum imstande gewesen sein, allein mit der Rente und dem Arbeitslohn des Mannes die Familie auf dem gewohnten Lebensniveau zu halten. Auch diejenigen Frauen, die mit einem ungelernten, angelernten oder Saisonarbeiter verheiratet waren und mehr als zwei Kinder zu versorgen hatten, waren ebenso wie früher zu weiterem Gelderwerb gezwungen. Hohe Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und ein im Vergleich zur Vorkriegszeit gesunkenes Reallohnniveau belasteten aber auch andere Arbeiter- und Angestelltenfamilien. Vom wirtschaftlichen Abstieg sahen sich in den Krisenzeiten der Weimarer Republik außerdem auch kleingewerbliche und landwirtschaftliche Familien ebenso bedroht wie Beamtenfamilien, deren feste Einkommen zuerst durch Inflation und dann durch Sparverordnungen schrumpften. Die Inflation mit ihrer Vernichtung von Sparguthaben verschlechterte vor allem die wirtschaftliche Situation der mittelständischen Familien. Die auch schon vor der Weltwirtschaftskrise hohe Arbeitslosigkeit zerstörte zudem vielfach die Hoffnung, dass herangewachsene Kinder zum Familienunterhalt beitragen würden, und belastete statt dessen das knappe Familienbudget auch noch mit den Bedürfnissen bereits erwachsener Kinder. Es blieb in erster Linie den Ehefrauen und Müttern überlassen, auch bei schrumpfendem Budget die Versorgung der Familie aufrecht zu erhalten. Die Frauen reagierten auf diese Situation üblicherweise so, dass sie ihren eigenen Konsum zugunsten des Mannes und der Kinder reduzierten und ihre Arbeitsvermögen bis an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus ausdehnten, um kostensparend im Haushalt zu wirtschaften, die notwendig erachteten Ausgaben, zumal für die Kinder, zu ermöglichen und je nach Gelegenheit auch noch durch eigene Erwerbsarbeit zusätzlich Geld zu verdienen. Im Bildungsbürgertum mussten unter den Bedingungen der zwanziger Jahre immer mehr Ehefrauen auf die teuren Dienstleistungen von Hausangestellten und Zugehfrauen verzichten. Statt wie früher die für Personen ihres Standes de109 Ich denke an verschämte Heimarbeit, Gelegenheitsarbeiten und vor allem Untervermietung; zu letzterem vgl. Coyner (wie Anm. 88), S. 238: 13,2 der Arbeiter-, 10,6 Prozent der Angestellten-, 9,6 Prozent der Beamtenfamilien ihres Samples hatten Untermieter. 110 So Geyer (wie Anm. 84), S. 213, die sich auf eine Umfrage der Gewerbeaufsicht von 1927 stützt und auf S. 190–195 die Ergebnisse einer von ihr selbst im Spätherbst 1928 durchgeführten Befragung erläutert. Vgl. auch: Deutscher Textilarbeiterverband (Hg.), Mein Arbeitstag. Mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeiterinnen, Berlin 1930. 111 Wirtschaft und Statistik 5, 1925, S. 29 f.
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klassierenden schmutzigen ungelernten Handarbeiten nur anzuleiten, hatten sie diese jetzt eigenhändig auszuführen. Elektrische und andere Haushaltsgeräte setzten sie instand, das Arbeitspensum zu bewältigen. Ob allerdings die Technisierung des Haushalts auch als psychische Kompensation ausreichte, um die seit der Jahrhundertwende besser ausgebildeten Frauen in die Rolle des dienenden Hausgeistes einzupassen, wage ich zu bezweifeln. Wahrscheinlich beförderte diesen Zweck sehr viel besser, dass in den zwanziger Jahren die Mutterrolle stärker als die Hausfrauenrolle betont und die Mutterverantwortung nachdrücklich präzisiert wurde. Gerade für diese Familien wurde nach dem Ersten Weltkrieg die schon seit 150 Jahren ideologisch propagierte Intimität der modernen Familie breite gesellschaftliche Wirklichkeit.112 Im direkten Gegensatz zum bürgerlichen Familienideal aber stand die Tatsache, dass in vielen Familien die Frau zum Gelderwerb gezwungen war, um den Mann als »Ernährer« zu unterstützen oder zu ersetzen. Geldverdienen hieß für Frauen auch noch in der Weimarer Republik, dass sie für eine Lohnsumme, die der des Mannes gleichkam, ein Vielfaches an Leistung erbringen mussten. Arbeitsmöglichkeiten fanden sie überwiegend in Branchen mit niedrigem Lohnniveau, und auch dort lag der Lohn der Frauen um mindestens ein Drittel niedriger als der der Männer. Verheiratete Frauen hatten auf dem Arbeitsmarkt noch schlechtere Chancen als ledige erwachsene Frauen, weil ihnen durch die selbstverständlich zugewiesene Zuständigkeit für die Versorgung der Familie praktische und ideologische Fesseln angelegt waren.113 Die massive Diskriminierung von erwerbstätigen Ehefrauen als Doppelverdienerinnen, mit der die Entlassungskampagne während der Jahre der Demobilmachung und der Weltwirtschaftskrise angeheizt wurde, vermochte zwar nicht die Ehefrauen vom Arbeitsmarkt zu verdrängen. Die Kampagne war aber gewiss ein wirksames Mittel, um Ehefrauen weiterhin auf besonders schlechte Arbeitsplätze zu verbannen.114 So dürr, wie die Informationen auch bleiben, die sich aus dem Spiel mit leicht zugänglichen Daten ergeben, so eindeutig ist doch ihre Aussage. Es gab statistisch erfasst ein knappes Drittel aller Ehefrauen und in Wirklichkeit wohl noch mehr Frauen, die sich keineswegs ausschließlich dem widmen konnten, was die auch in der Weimarer Zeit gegen sozialistische Veränderungsversuche hoch112 Gemeint ist damit die Reduktion der Haushalte auf die Kernfamilie ebenso wie die immer umfassendere Alleinzuständigkeit der Ehefrau für Haushalt und Kinder. 113 Nach Bajohr (wie Anm. 105), S. 46 u. S. 56 lagen in der Industrie die Löhne für Frauen rund 25–40 Prozent unter denen der Männer, in der Landwirtschaft rund 20–55 Prozent; zu einzelnen Branchen vgl. ebd., S. 28–70. 114 Zur Doppelverdiener-Diskriminierung während der Demobilmachung und während der Weltwirtschaftskrise vgl. Bajohr, S. 158–167 u. 180–188, und zur Diskriminierung verheirateter Frauen in der Arbeitslosenunterstützung S. 174–177; zum ideologischen Zusammenhang vgl. auch Mason (wie Anm. 88), S. 92–94. Geyer (wie Anm. 84), S. 214, führt eine Rechnung vor, derzufolge überhaupt nur maximal 200.000 der von verheirateten Frauen besetzten Arbeitsplätze für Männer interessant gewesen wären.
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gehaltene Rollenzuschreibung für sie vorsah, nämlich ihren Aufgaben als Hausfrau und Mutter. Ebenso deutlich aber zeichnet sich auf der anderen Seite ab, dass alle, auch die erwerbstätigen Hausfrauen und Mütter, große Anstrengungen unternahmen, die für ihre Arbeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbindlich gesetzten Standards zu erreichen, um weder als »Schlampen« noch als »Rabenmütter« innerhalb und außerhalb der Familie Anstoß zu erregen.115 Die seit den 1880er Jahren vorangetriebenen sozialreformerischen Versuche, durch obligatorischen Haushaltsunterricht für möglichst schon schulentlassene Mädchen die Arbeiterfamilien auf lange Sicht zu sanieren, kamen zwar niemals voll zum Zuge. Auch war der praktische Nutzen für eine Arbeiterfrau sicherlich gering, wenn sie im Unterricht gelernt hatte, über alle Einnahmen und Ausgaben gewissenhaft Buch zu führen, in der Ehe aber mit sehr geringen und zudem wechselnden Einnahmen wirtschaften musste.116 Aber die im Zuge der Gesundheitspolitik vorangetriebene und auch von der Seifenindustrie eifrig beförderte Hygienisierung der Gesellschaft scheint allgemein wirksam geworden zu sein. Peinliche Ordnung und Sauberkeit als erklärtes Kampfmittel gegen jegliche Krankheitsträger, die sich unsichtbar im Staub zum Angriff gegen die Gesundheit sammelten, verpflichteten Hausfrauen zu zeit- und kräfteaufwendigen Reinigungs- und Wascharbeiten. Das Großreinemachen und der Waschtag entwickelten sich zu mehrtägigen Tyranneien. Der Kampf gegen täglichen Schmutz und immer neue Unordnung war um so schwieriger zu gewinnen, je mehr Personen auf engem Raum lebten und je ungünstiger die Wohnlage und Wohnungsausstattung war. Technische Erleichterungen der Hausarbeiten gelangten ganz offensichtlich später in die Familien als die Erhöhung der Leistungsstandards.117 Ein weiterer Pflichtenkreis, der Hausfrauen im Arbeitermilieu immer größere Präzision abverlangte, bildete sich mit steigenden Kleidungsstandards und schulischem Nadelarbeitsunterricht heraus. Frauen hatten die Kleidung aller Familienmitglieder z. T. herzustellen, vor allem aber sauber- und instand zu halten. Hinsichtlich der Kleider- und Körperpflege für ihre Kinder unterstanden gerade Mütter aus wirtschaftlich schlecht gestellten Familien der massiven sozialen Kontrolle von Seiten der Krippen und Kindergärten, soweit sie diese in Anspruch nahmen, und vor allem der Schulen. Die schließlich um 1900 voll einsetzende Kampagne gegen die Säuglingssterblichkeit präzisierte und erhöhte als weitere Neuerung den lebenserhaltenden Pflegeaufwand für Säuglinge.118 Zunächst vorrangig auf ledige Mütter und Arbeiterfrauen bezogen, richtete sich die schnell institutionalisierte Säuglingsund Kinderfürsorge in der Weimarer Zeit immer stärker an Mütter aller Gesell115 Eindrucksvoll wird dieses dokumentiert in: Mein Arbeitstag (wie Anm. 110). 116 Zum Hauswirtschaftsunterricht vgl. G. Tornieporth, Studien zur Frauenbildung, Weinheim 1979. 117 Die Geschichte der Ausstattung von Wohnungen mit fließendem Wasser, Gas, Elektrizität bleibt ebenso zu schreiben wie die der Verbreitung von technischen Haushaltsgeräten. 118 Vgl. z. B. G. Tugendreich, Die Mutter- und Säuglingsfürsorge, Stuttgart 1910.
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schaftsschichten. Ihr Ziel war allgemeine Aufklärung über Kinder-»Aufzucht nach rationellen Grundsätzen« und eine Erfassung von 60–80 Prozent aller Säuglinge und Mütter gleich nach der Geburt durch die von einem Arzt betreuten Beratungsstellen.119 Eine erste Säuglingsberatungsstelle entstand 1905 in Berlin, 1907 war ihre Zahl auf insgesamt 73 angewachsen, allein in den Jahren 1920 und 1921 entstanden weitere 1.600 Stellen.120 Spezialisten der Säuglingsfürsorge verkündeten 1927 als Grundsatz:121 »Je geringer mütterliche Pflege und Sorgfalt, desto höher die Säuglingssterblichkeit.« Flankierende Mutterschutzbestimmungen122 schufen gleichzeitig für eine große Zahl von Frauen überhaupt erst die Voraussetzung, dass sie sich unmittelbar nach der Geburt des Kindes ihren Still- und Pflegepflichten widmen konnten. Mütter akzeptierten diese Pflichten. Die Kampagne gegen die Säuglingssterblichkeit war überaus erfolgreich. Von 1.000 Lebendgeborenen starben vor Vollendung des ersten Lebensjahres im Deutschen Reich123 Jahre Kinder
1896–1900 1901–1905 1906–1910 1911–1914 1924–1926 1932–1934 213
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Die Müttererziehung blieb in der Weimarer Republik nicht bei der Säuglingspflege stehen.124 Mütterkurse und Mütterschulen wurden in verschiedenen Städten eingerichtet. In einem der von der »Arbeitsgemeinschaft für Volkgesundung« ausgeschickten Mitteilungsblätter125 heißt es dazu 1926, in diesen Kursen »arbeiten, verbunden durch den Gedanken der Mutterschaft, Mütter aller Bildungsschichten ganz selbstverständlich zusammen im Bestreben, ihr Wissen um die Frage und Erziehung des Kindes zu erweitern.« Am Ende der Weimarer
119 So S. Engel u. H. Behrendt, Säuglingsfürsorge einschließlich Pflegekinderwesen und Mutterschutz, in: A. Gottstein u. a. (Hg.), Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge 4, Berlin 1927, S. 28–146 u. S. 970. 120 Ebd., S. 33; u. F. Rott, Verzeichnis der Einrichtungen der Mutter-, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge im Deutschen Reich, in: ebd. 2, Berlin 1925, S. IV. 121 Engel u. Behrendt (wie Anm. 119), S. 42 f. 122 Vgl. z. B. Schroeder (wie Anm. 82), S. 168–170. 123 Knodel (wie Anm. 86), S. 289. 124 Interessant wäre es, die offenbar nicht seltenen volksgesundheitlichen Wanderausstellungen näher zu untersuchen. Vgl. z. B. Mutter und Kind. Wanderausstellung mit einer Abteilung Erbkunde des Deutschen Guttemplerordens Berlin, Führer durch die Ausstellung, Berlin 1927; oder die 1926 in Düsseldorf eröffnete »Ausstellung für Gesundheitspflege, Sozialhygiene und Leibesübungen«, »Gesolei« abgekürzt. 125 ADW CA 928 II 8/1 (wie Anm. 16).
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Republik hatten insbesondere die Wohlfahrtsorganisationen angefangen, Mütterschulung zusammen mit Müttererholung zu institutionalisieren. Der von den Nationalsozialisten zum Muttertag 1934 gegründete »Reichsmütterdienst«126 war nur die Fortsetzung dieser aussichtsreichen Anfänge, zu deren Unterstützung die »Evangelische Frauenhilfe« an früheren Muttertagen bereits Straßenund Haussammlungen durchgeführt hatte. Der »Reichsmütterdienst« arbeitete 1936 mit 150 Mütterschulen und zahlreichen Wanderkursen.127 Das Schulungsprogramm für Frauen über 18 Jahre, die sich bei den Ortsgruppen der NS-Frauenschaft zu solchen gebührenpflichtigen Lehrgängen von 12 Doppelstunden anmelden sollten, umfasste Haushaltsführung und Gesundheitsführung, worunter Säuglingspflege, Kinderkrankheiten und eugenische Aufklärung fielen, ebenso wie Erziehungslehre und Heimgestaltung. Damit hatte der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so genannte »Beruf« der Hausfrau und Mutter seine Berufsschule erhalten. Der »Beruf« der Hausfrau und Mutter war allerdings in den zwanziger Jahren unter Bedingungen auszuüben, die sich erheblich von dem unterschieden, was in anderen Berufen in dieser Zeit üblich war. In Haushalten mit niedrigem, aber immer noch ausreichendem Einkommen des Mannes, erforderten anfallende Hausarbeit und Kinderpflege durchschnittlich pro Woche 87 Arbeitsstunden. Hausfrauen, die ohne bezahlte Arbeitskraft oder die Unterstützung einer bereits herangewachsenen Tochter auskommen mussten, arbeiteten 70 und mehr Stunden im Einsatz für ihre Familie. Von ihrem Ehemann wurden sie bei ihren Arbeiten so gut wie nicht unterstützt. Als Hilfe wurden die Kinder und zwar in erster Linie die Töchter herangezogen.128 Tägliche Freizeit, Wochenendruhe und Jahresurlaub sind Neuerungen der zwanziger Jahre, die an diesem »natürlichen Beruf« zunächst vorbeigingen. Eine faszinierende empirische Untersuchung über den Industriestandort Hamborn von Li Fischer-Eckert,129 die 1913 veröffentlicht wurde, dokumentiert den häufig aussichtslosen übergroßen Arbeitseinsatz der Ehefrauen von relativ hochbezahlten Berg- und Hüttenarbeitern. Die 500 befragten Frauen waren zu 4/5 auf dem Lande aufgewachsen und vor der Ehe zu Hause oder als Dienstmädchen eingesetzt gewesen. Die Beobachterin nahm eine Gruppierung der
126 Vgl. C. Kirkpatrick, Nazi Germany. Its Women and Family Life, New York 1938, S. 73–78; informativ auch E. Trode u. E. Liebetruth, Die Mutterschaftshilfe in Deutschland, Berlin 1937; J. Stephenson, Women in Nazi Society, London 1975, S. 37–56; Mason (wie Anm. 88), S. 95–103. 127 Vgl. z. B. K. Schlossmann-Lönnies, Von den gesetzlichen Grundlagen für die Müttererholungsfürsorge und Mutterschulung (= Arbeitsbücherei der Frauenhilfe 18), Potsdam 1930; Hausen, Mütter (wie Anm.4), S. 270. 128 Vgl. M. Baum u. A. Westerkamp, Rhythmus des Familienlebens. Das von einer Familie täglich zu leistende Arbeitspensum, Berlin 1931. 129 L. Fischer-Eckert, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland, Hagen 1913.
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besuchten Haushalte vor.130 103 Haushalte ordnete sie der Kategorie »behagliches Heim, auskömmlich, ohne Luxus« zu. In 189 Haushalten arbeiteten Hausfrauen, »die nur mit äußerster Kraftanstrengung … recht auf Kosten von deren Gesundheit, die Wohnung, Kleidung und Nahrung der Familienmitglieder in den Grenzen des Auskömmlichen halten können.« In weiteren 58 Haushalten war zwar der Wille, aber nicht mehr die Kraft zur »guten Hausfrau« vorhanden. Die restlichen 145 Haushalte waren in den Augen der Beobachterin der »völligen Verwahrlosung anheimgefallen«. Diese Bestandsaufnahme kommentierte Fischer-Eckert mit Worten, die die später am Muttertag verherrlichte Aufopferung der Mutter in kritischer Wendung aufnahmen:131 für sie war es offensichtlich, dass »auf den schwachen Schultern der Frau die Herkulesarbeit liegt, mit Mitteln, die … nicht reichen, Kind auf Kind zur Welt zu bringen, Krankheit, Siechtum und Sterben fernzuhalten, Ordnung und Sauberkeit zu pflegen, und daneben noch den Kindern eine aufmerksame Erzieherin zu sein.« »Aber diesem Kleinkrieg fällt nicht nur häufig die körperliche Kraft zum Opfer, eben so schlimm … ist es, daß in diesem nimmermüden Plagen um die Befriedigung der äußeren Bedürfnisse der Familie, nach und nach jedes persönliche Leben der Mutter leiden muß, daß sie verlernt, sich einmal auf sich selbst zu besinnen, daß sie zum Schluß nur noch ein mechanisches Werkzeug ist, daß … als rechtloses Sachgut gewertet wird und sich selbst auch als nicht anderes mehr vorkommt.«
Von dieser Wirklichkeit ist in der Muttertagspropaganda nur sehr selten und dann allein negativ die Rede. So heißt es 1929:132 »Der Muttertag soll die Regierungen, Verwaltungen und Arbeitgeber auf die Not der armen, kinderreichen Mütter hinweisen. Sie gehören nicht in die Fabriken und Kontore; sie gehören ins Haus.« Im gleichen Zusammenhang wird kritisiert, dass das deutsche »Heim« und »Haus«, wie die Muttertags-Regisseure sich auszudrücken pflegten, üblicherweise nur eine unzulängliche und viel zu teure Wohnung war. Insgesamt ging es den Muttertags-Regisseuren nicht um sozialpolitische Hilfestellungen, sondern um nationale Ehrung für Mütter. Das Muttertags-Programm sah nicht vor, die konkreten Arbeits- und Lebensverhältnisse der Mütter zu verbessern. Es schlug einzig vor, Mütter durch Mutter-Ehrung zu entschädigen für das Ertragen vergleichsweise schlechter Arbeits- und Lebensverhältnisse. Hinter diesem Programm stand die Erwartung, ein einmal jährliches Zelebrieren von gesellschaftlicher Anerkennung könne auch für die Zukunft den selbstlosen Einsatz von Müttern sichern. In der Tat haben Mütter den Dienst an ihrer Familie auch dann nicht aufgekündigt, wenn dieser Dienst für sie zerstörerisch wurde, weil er über ihre physischen und psychischen Kräfte ging und dann nur noch als Aufopferung ausgeführt werden konnte. Wenn Frauen erst einmal Mütter waren, dann stand ihnen 130 Ebd., S. 78 f. 131 Ebd., S. 68 u. S. 90. 132 Schriften zur Volksgesundung (wie Anm. 16) 9, 1929, S. 17.
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die Waffe des Streiks kaum zur Verfügung. Doch vor diesem Zeitpunkt konnten Frauen einigermaßen erfolgreich Arbeitsverweigerung einplanen bei der Entscheidung für oder gegen die Ehe mit einem Mann, der hausfrauliche Versorgung beanspruchte, und für oder gegen das Gebären von Kindern, deren Vorhandensein Frauen in die Rolle der gesellschaftlich definierten Mutterpflichten zwingen würde. Die Neuerung, dass Frauen im 20. Jahrhundert diesen gewiss nicht sonderlich großen Entscheidungsspielraum zu nutzen begannen, löste offenbar bei nicht wenigen Männern Verunsicherung und Angst aus. Individuelle und gesellschaftliche Autonomie für Frauen war in den herrschenden Vorstellungen von »Männlichkeit« nicht vorgesehen und konnte daher von Männern als Angriff gegen »Männlichkeit« wahrgenommen werden. Mir scheint, dass in dieser Hinsicht die Muttertags-Regie möglicherweise mehr über die Männer als über die Frauen in der Weimarer Gesellschaft aussagt.
4. Mutter-Sehnsucht, Mutter-Ordnung, Mutter-Tag Auch im Lichte der konkreten Notlage von Müttern, der am Geburtenrückgang abgelesenen Verweigerung von Mütterleistung und den allgemeinen Veränderungen im Sexual- und Familienverhalten erschließen sich der ideologische Gehalt und die symbolische Ausgestaltung des Muttertages nur teilweise. Gewiss wird deutlich, dass gesellschaftliche Agenturen, die sich für den Muttertag engagierten, Zeichen setzen wollten gegen die als Fehlentwicklung gefürchteten gesellschaftlichen Veränderungen und die für drohend oder schon akut gehaltene allgemeine »Krise der Familie«. Sie gingen dabei zu Recht von der Feststellung aus, dass den Müttern bislang eine angemessene gesellschaftliche Bewertung und Anerkennung ihrer Arbeit vorenthalten worden sei. Aber warum verfielen sie auf eine Ehrung der Mutter in dieser Form einer punktuellen Anerkennungszeremonie für mütterliche Selbstaufopferung? Diese nach wie vor offene Frage fordert zur weiteren Deutung heraus. Mein Ansatzpunkt ist dabei die Beobachtung, dass Männer für die Mutter ein Fest inszenieren, bei dem die Mutter nicht Subjekt, sondern Objekt der Handlung ist. Kinder und erwachsene Söhne spielen die aktiven Rollen; der Ehemann und Vater ist dagegen für das sichtbare Bühnengeschehen nicht vorgesehen. Am Muttertag finden sich erwachsene Männer zurückversetzt in Kinderrollen und erwachsene Frauen, sofern sie Mütter sind, darauf festgelegt, passiv die ehrenden Aktivitäten von kindlichen und erwachsenen Kindern auszuhalten. MutterEhrung läuft in dieser Form auf Mutter-Kult hinaus. Der Vergleich mit dem »Vatertag«, der mit diesem Namen um 1930 verallgemeinert wurde,133 verdeut133 Über den Vatertag gibt es eine Diskussion in VDB (wie Anm. 8), 1.5.1931, S. 141, u. 25.5.1934, S. 3; vgl. auch Tätigkeitsbericht der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung 1932 (wie Anm. 16), S. 5.
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licht die Besonderheit des Muttertages. Am Vatertag nehmen sich die Väter Urlaub von der Familie, um zusammen mit Junggesellen in der Formation des Männerbundes singend und saufend Freiheit zu demonstrieren. Diese Beobachtungen fordern Interpretationen heraus, die ebenso auf das Gebiet der Mythenforschung wie auf das der Psychologie verweisen. Das von Simone de Beauvoir134 entworfene breite kulturgeschichtliche Panorama des Mythos »Frau« könnte dazu anregen, am Beispiel des Muttertags-Materials für die zwanziger Jahre und das Deutsche Reich historisch spezifisch die Motive der Produktion und die gesellschaftliche Funktion dieser Variante des christ lichen Mutter-Mythos zu untersuchen. Darauf will ich mich hier nicht einlassen. Ich greife aber die Annahme von Beauvoir auf, dass Mutter-Mythen von Männern entworfen werden als Interpretation und Gestaltung der Beziehungen zum »anderen Geschlecht«, zur Natur und Umwelt. Beauvoir betont die im Kult der Jungfrau Maria gestaltete fortschreitende christlich-patriarchalische Domestizierung der Frau zur vollkommenen Dienerin des Mannes. »Als Magd erhält die Frau ein Recht auf die strahlendste Apotheose.«135 Die zum Muttertag üblichen formelhaften Aussagen über das Bild der Mutter waren ohne Frage Teil mythischer Orientierungen, zugleich aber auch Ausdruck aktueller Sehnsüchte und Ängste. Dieser Zusammenhang interessiert mich. Peter Loewenberg hat 1971 mit seinem Aufsatz »The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort«136 vorgeführt, wie kollektive Lebensgeschichte und allgemeine Geschichte vermittelt werden könnten. Seine Beweisführung ist anregend, aber doch nicht so überzeugend, dass ich sie für meine Muttertags-Nachforschungen imitieren möchte. Loewenberg benutzt Theorien der Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie, die für sich überzeitliche Gültigkeit beanspruchen. Er akzeptiert diesen Anspruch. Ich halte es demgegenüber für unerlässlich, derartige Theorien mit der Anwendung auf historisches Material selbst wiederum zu historisieren. Denn die familiale Konstellation aus Vater-Mutter-Kind/Kinder und ihre jeweilige Bedeutung für das heranwachsende Kind ist nicht natürlich, sondern gesellschaftlich und damit epochenund schichttypisch ausgeprägt.137 Von daher macht es wenig Sinn, psychoanalytische und entwicklungspsychologische Theorien einfach als Maßstab und Prämisse der historischen Analyse einzuverleiben. Ergiebiger scheint mir in dieser Hinsicht das sehr viel vorsichtigere Analyseverfahren von Klaus Theweleit138 zu sein, das er entwickelt hat, um die Freikorpsliteratur der 1920er Jahre als »Männerphantasien« offenzulegen und zu interpretieren.
134 S. de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, (franz. 1949), Reinbek 1968, bes. S. 152–205. 135 Ebd., S. 182. 136 In: The American Historical Review 76, 1971, S. 1457–1502. 137 Vgl. dazu M. Poster, Critical Theory of the Family, New York 1978. 138 K. Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Reinbek 1980.
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Mein eigener Interpretationsversuch soll der bescheideneren Frage nachgehen, was es über Familie und Gesellschaft aussagt, dass in den zwanziger Jahren Männer als Söhne bereit waren, der Mutter öffentlich zu huldigen. Dabei gilt mein Interesse dem Familiengeschehen als und in der Geschichte. Ich unterstelle bei meinem Deutungsversuch, dass die Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen viel zu tun haben mit den Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Ausgehend von der Muttertags-Inszenierung speziell der Mutter-SohnBeziehung nachforschen zu wollen, ließe sich als willkürliche Vorentscheidung angreifen. Diese Blickrichtung drängte sich mir zusammen mit der Beobachtung auf, dass es von wenigen Ausnahmen abgesehen männliche Kinder waren, welche in der Muttertags-Prosa und Muttertags-Poesie die psychisch positiv besetzten Mutter-Vorstellungen formulierten. Die kleinen Kinder, die am Muttertag immer am aktivsten in Erscheinung traten, waren gewiss nichts anderes als die Sendboten der von den Erwachsenen erdachten Huldigungsabsichten. Zugegebenermaßen bleibt allerdings bei meinem Interpretationsansatz unberücksichtigt, dass die erwachsenen Töchter zumindest theoretisch gleichberechtigt mit den erwachsenen Söhnen in das Muttertags-Geschehen einbezogen waren. Ich gehe bei meinen Überlegungen davon aus, dass es ihnen, die tatsächlich oder potentiell auch Mütter waren, eigentlich hätte fern liegen müssen, in der von der Inszenierung des Muttertages vorgesehenen Weise den MutterKult zu zelebrieren. Dennoch haben Frauen ganz offensichtlich über Frauenvereine, Wohlfahrtspflege, Schulen und Kindergärten in großer Zahl daran mitgewirkt, den Muttertag populär zu machen. Über diese erstaunliche Feststellung bin ich bei meinen Nachforschungen nicht hinausgelangt. Gewiß wäre es wichtig zusätzlich herauszufinden, welche Frauen den Muttertag aktiv mit in Szene setzten, welche Gründe sie für ihren Einsatz hatten und mit welchen Programmen sie die Feier ausstatteten. Noch aufschlussreicher wäre es für die Deutung des Muttertages, wenn es gelänge genau herauszuarbeiten, wie sich die Frauen selbst zu dem ihnen zugedachten Fest verhielten, welche Frauen sich aktiv oder passiv für den Muttertag engagierten, welche gleichgültig reagierten und welche sich dem Fest als einer Zumutung entschieden verweigerten. Solche Fragen lassen sich auf der Basis des von mir bearbeiteten Materials leider nicht beantworten. Das Material erlaubt einzig, die Logik der Inszenierung zu entschlüsseln und diese verweist am deutlichsten auf die Aktivitäten und Projektionen der erwachsenen Söhne. In der patriarchalischen Familie und Gesellschaft kommt der Mutter-SohnBeziehung hervorragende Bedeutung zu. Für die Jahrhundertwende sehe ich diese Annahme dadurch bestätigt, dass Sigmund Freud die Entwicklung des männlichen Kindes innerhalb der spezifisch bürgerlichen Familienkonstellation mit seiner Theorie des Oedipus-Komplexes zu deuten versuchte. Die Verdrängung der intensiven und lustvollen Mutterbindung ist der Preis, den sich der Sohn aufherrschen lassen muss, um zur Identifikation mit dem Vater und dann zur Ausbildung eines von den Eltern unabhängigen Ich und Über-Ich zu gelangen. Historisch liegen dieser Deutung scharf ausgeprägte, gegensätzlich 294
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konzipierte Geschlechterstereotype und Geschlechterrollen zugrunde, die innerhalb und außerhalb der Familie Geltung hatten. Im Kaiserreich herrschte für Frau-Sein ein Orientierungsmuster, das als »Mütterlichkeit« ausgearbeitet und sozial verbreitet war.139 Ihm stand als Pendant und Gegensatz ein Orientierungsmuster für Mann-Sein gegenüber, das nicht auf Väterlichkeit, sondern auf »Männlichkeit« zugeschnitten war. Sexualität und Familienhaftigkeit wurden extrem ungleich den Geschlechtern zugesprochen. Planvolle Erziehung und die Macht des Faktischen passten die Menschen in die Orientierungsmuster ein. Die angestrebte Normalität dieses Erwachsenenlebens forderte psychische Kosten und Beschädigungen, deren Spuren erhalten blieben. Eine eindrucksvolle Illustration dieses Zusammenhanges findet sich bei dem angesehenen Pädagogen und Psychologen Eduard Spranger. Der 1882 geborene Spranger äußerte sich in den 1950er Jahren noch ganz im Stil der zwanziger Jahre zum Thema »Mutterliebe« und »Mütterlichkeit« und ließ dabei das zunächst als Kind vorgestellte Ziel der Mutterliebe heranwachsen zum Knaben und zum »Sohn, der schon fertiger Mann geworden ist.«140 Spranger bezieht hier Mutterliebe kommentarlos nur auf die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Schon 1921 hat Spranger in der zweiten Auflage seines Buches »Lebensformen« so selbstverständlich über Sohn-Mann-Erfahrungen mit der Mutter geschrieben, als könne er das Einverständnis seiner Leser voraussetzen. Zu den »idealen Grundtypen der Individualität« zählt er hier den »sozialen Typus«, dessen »höchste irdische Erscheinungsform« die Mutter sei. Außer in der Mutter sieht er diesen Typus hauptsächlich noch im »Weib« repräsentiert. Denn die »Frau lebt durch die Liebe; der Mann aber liebt das gestaltende Werk am tiefsten.« Den »Liebesnaturen« (Mutter/Frau) wendet sich nach Spranger der Mann als »liebesbedürftige Natur« zu:141 »Es gehört … zur seelischen Grundverfassung des männlichen Prinzips in der Welt (das nicht immer mit dem Manne zusammenfällt), daß sein Bedürfnis, geliebt zu werden, stärker ist als seine Fähigkeit zu lieben. Die einseitige Auswirkung und gespannte Differenzierung seines Innern sehnt sich gleichsam, durch eine weibliche Liebe wieder in den ungeteilten Mutterschoß des Lebens zurückgeführt zu werden.«
139 Vgl. z. B. E. Key, Mütterlichkeit, in: Schreiber (wie Anm. 79), S. 587–601, die dort das ›moderne‹ Kulturprogramm der Mütterlichkeit entwirft und mit dem Versprechen auf den Weg schickt: »Die Mütterlichkeit wird die Mutter lehren, wie sie die Madonna bleiben kann, die Mutter mit dem eigenen Kinde fest in den Armen, und zugleich die Caritas wie die Kunst sie darstellt: die Mutter, die an ihren vollen Brüsten auch für die Lippen des fremden Kindes Raum hat.« 140 E. Spranger, Mutterliebe (Vortrag), und ders., Mütterlichkeit, in: A. Fechner-Mahn, (Hg.), Eduard Spranger. Stufen der Liebe. Über Wesen und Kulturaufgabe der Frau, Aufsätze und Vorträge, Tübingen 1960, S. 113–147 bzw. S. 177–182, hier S. 129. 141 Zit. nach 3. Aufl. Halle 1922, S. 182. In der erstmals 1914 in der Festschrift für Alois Riehl veröffentlichten kürzeren Fassung der »Lebensformen« ist dieses Zitat nicht enthalten.
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Ich vermute nun, dass die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit diese so zur »Männlichkeit« disponierten Männer hart bedrängten und gefährdeten. Denn auf der einen Seite geriet das »männliche Prinzip« der Gesellschaft und damit das bindende Orientierungsziel für Männer ins Fragwürdige. Auf der anderen Seite drohte gleichzeitig der Fluchtweg zur Mutter/ Gattin durch die den Frauen neu eröffneten Chancen zur rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Emanzipation versperrt zu werden. Diese doppelte Bedrohung könnte der Hintergrund dafür sein, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Sehnsucht nach der Mutter nicht mehr individuell in der Erwachsenenrolle des Mannes gebändigt erschien und daher öffentlich zum kollektiven Mutter-Kult hochstilisiert wurde. Vor dem Ersten Weltkrieg war die patriarchalische Grundstruktur der Gesellschaft trotz Frauen- und Jugendbewegung und trotz Kulturkritik stabil geblieben. Das zum Soldatischen getrimmte Männlichkeits-Ideal war eindeutig, auch wenn es sich mehr soldatisch-uniformiert oder soldatisch-heroisch interpretieren ließ. George L. Mosse142 hat das schon vor 1914 offen bekundete Kriegsfieber der vom Alltag gelangweilten und nach dem Heroischen bzw. nach dem Abenteuer strebenden Männer in Zusammenhang gebracht mit dem eigenartigen Gefallenen-Kult der Weimarer Zeit. Dieser Kult schuf Heroen in einer unheroischen Zeit, um der Orientierungslosigkeit entgegenzuwirken, die der erste totale und dazu noch verlorene Krieg ausgelöst hatte. Die Männer-Opfer an Leben und Gesundheit durften nicht auf Dauer vergeblich erscheinen; denn die Vergeblichkeit entfaltete Sprengkraft, die mehr als nur das System der politischen Herrschaft verunsicherte. Der Krieg hatte eine Dynamik entwickelt, die sich gegen das bis dahin unangefochtene »männliche Prinzip« als gesellschaftlich dominante Macht richtete. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Fortschrittsoptimismus, der die Männer-Leistungen in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft begleitete, das an Terrain verloren, was die Kulturkritik mit ihrer Natursehnsucht gewann. Nun aber entlarvte sich das »männliche Prinzip« als übermächtige, gnadenlose Destruktion. Der Weltkrieg erschien mit seinen in dieser Größenordnung bis dahin ungekannten Verlusten an Menschen und Zerstörungen von materiellen und ideellen Werten als Exzess männlicher Politik, Kriege, Wirtschaft und Technik. Aber nicht allein die Welt des Mannes wurde durch den totalen Krieg und vor allem auch die Kriegsniederlage in Frage gestellt. Auch die Männer selbst büßten an »Männlichkeit« ein. Aus den Uniformen der Soldaten wurden nicht erfolggewohnte Helden, sondern an Leib und Seele beschädigte Männer entlassen. Nicht zu den zwei Millionen Toten zu gehören, war Erfolg und die über
142 G. L. Mosse, Soldatenfriedhöfe und nationale Wiedergeburt. Der Gefallenenkult in Deutschland, in: K. Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, S. 241–261; vgl. auch K. Vondung, Einleitung. Propaganda und Sinndeutung, in: ebd., S. 11–37.
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4,2 Millionen Verwundungen im zivilen Leben mit sich herumzuschleppen, war prosaische Tapferkeit.143 Ihre Selbstsicherheit wiederherzustellen, dürfte Männern umso schwerer gefallen sein, als es ihnen nicht mehr wie früher möglich war, aus militärischer Disziplin und kaisertreuer Untertanenhaltung einen Abglanz höherer Autorität zu gewinnen. Peter Loewenberg hat auf eine Anfang 1919 erschienene Schrift von Paul Federn144 aufmerksam gemacht. Darin geht es um eine psychoanalytische Deutung der Revolution aus der »vaterlosen Gesellschaft«. Die Söhne, die zu Untertanen des väterlichen Autoritätsstaates vereinigt waren, seien durch den Verlust des letztlich enttäuschenden Vaters verunsichert, weil der Vater nicht imstande gewesen sei, das »Mutterland« oder, was das gleiche sei, die »Mutter« zu schützen. Sie wollten nun in der »Bruderschaft« der Räte aus eigener Machtvollkommenheit »ihr Mutterland lieben und schützen«. Die Verunsicherung ihrer Existenz wurde von den Männern möglicherweise noch zusätzlich deshalb als bedrohlich erfahren, weil die Frauen unter den Bedingungen des Krieges das Leben ohne Männer handelnd bewältigt hatten.145 Männer konnten überflüssig erscheinen. Es hatte sich gezeigt, dass die auf »Mütterlichkeit« festgelegten Frauen selbst mit Kindern imstande waren, als Stellvertreter der Männer in der Familie und im gesellschaftlichen Arbeitsprozess zu fungieren. Die im Zuge der Demobilmachung mit so großer Härte durchgesetzte Rückeroberung der »Männerarbeitsplätze« ließe sich ebenso wie die Kampagne gegen das Doppelverdienertum in der Weltwirtschaftskrise sehr wohl im Zusammenhang mit männlichem Selbstwertgefühl interpretieren.146 Mann-Sein, das im 20. Jahrhundert vornehmlich durch Kampf im Erwerbsleben definiert wurde, blieb jedoch auch nach der Rückeroberung der Arbeitsplätze auf schwache Fundamente gebaut. Denn Rationalisierung veränderte und Arbeitslosigkeit bedrohte eben diese Existenzgrundlage während der gesamten Weimarer Republik. Anders als den Frauen stand den Männern offenbar die Möglichkeit nicht offen, sich bei Verlust des Erwerbsplatzes ersatzweise über die Familie zu definieren.147 Nicht zuletzt sahen Männer ihren Platz in der Gesellschaft streitig gemacht von der »neuen Frau«.148 Der Prototyp »neue Frau« 143 Vgl. Statistisches Jahrbuch 44, 1924/25, S. 24–27. 144 P. Federn, Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft (nach Vorträgen in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und im Monistenbund), Leipzig 1919, S. 29. 145 Vgl. Ch. Lorenz, Die gewerbliche Frauenarbeit während des Krieges, in: J. T. Shotwell (Hg.), Der Krieg und die Arbeitsverhältnisse, Stuttgart 1928, S. 319–389; Bajohr (wie Anm. 105), S. 101–158. 146 Vgl. Mason (wie Anm. 88), S. 88–94. 147 Dieses ist eindrucksvoll belegt in M. Johada u. a., Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch (Erstdruck 1933), Neudruck Frankfurt a. M. 1975. 148 Vgl. z. B. den Bericht von Wolf (wie Anm. 95), S. 66 f., über die modernen Frauen in den USA, die um der eigenen Ziele willen das Glück der Ehe, des Mannes und der Kinder riskierten; geradezu akribisch ist der Antifeminismus von E. F. Eberhard, Feminismus und Kulturuntergang. Die erotischen Grundlagen der Frauenemanzipation, 1. Aufl. Wien 1924.
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war nicht mehr zum Warten auf Ehe und Mutterschaft verurteilt und in dieser Position unausweichlich abhängig von den Erwartungen des Mannes. Die »neue Frau« kümmerte sich um Ausbildung, übte einen Beruf aus, wagte öffentliche Aktivitäten und lebte offen ihre Sexualität aus. Die Sehnsucht von Männern nach der aufopfernden Mütterlichkeit einer Gattin war in diesem Frauentyp schlecht aufgehoben. Die kultische Verehrung der Mutter versprach, diese doppelt bedrohliche Situation durch Beschwörung zu bewältigen. Die Hoffnung auf die Mutter wurde zelebriert. In dieser Hoffnung verband sich die Sehnsucht, wieder aufgehoben zu sein in der »bedingungslosen Mutterliebe«,149 mit dem akuten Wunsch, dem fragwürdigen Erwachsen-Sein zu entfliehen. Ähnlich wie der Gefallenen-Kult dürft auch der Mutter-Kult ein Versuch gewesen sein, diese sozial unberechenbaren Ängste und Sehnsüchte von Männern dadurch unter Kontrolle zu bringen, dass sie in eine kollektiv verbindliche Form gebannt und öffentlich gemacht wurden. Der Kult wäre dann eine Alternative zur unwirksam gewordenen Verdrängung der Mutter-Sehnsucht. Wilhelm Reich150 hat die sozial integrative Kraft des Mutter-Kultes in seiner »Massenpsychologie des Faschismus« betont. Die Nationalsozialisten hätten es ausgezeichnet verstanden, mit der »fixierten Mutterbindung« massenpsychologisch wirksame Politik zu machen. Er deutet die öffentliche »Idealisierung der Mutterschaft, ihre Verhimmelung«, als ein Verfahren, die »Frau … nicht als Sexualwesen, sondern nur als Gebärerin erscheinen« zu lassen. Zusammen mit den Wahnvorstellungen der »Reinheit« seien sie sprechender Ausdruck der zwanghaft in den Familien durchgesetzten Sexualverdrängung. Auch der Soziologe Harold Laswell151 hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Nationalsozialisten nicht allein mit dem Führerkult das Versprechen gaben, eine übergeordnete Vater-Autorität wiederherzustellen, sondern auch das Angebot machten, die Mutterschaft wieder zu inthronisieren. Für meine Vermutung, dass die »vaterlose Gesellschaft« der zwanziger Jahre auf Zuflucht bei der »Mutter« hoffte und sich der Angst zu erwehren suchte, auch noch die Mutter zu verlieren, spricht die Intensität mit der das Thema »Mutter« in der Weimarer Zeit bearbeitet wurde. Als Beispiel sei auf die Bachofen-Rezeption verwiesen.152 In den zwanziger Jahren kam es zu einer Ba149 Der Begriff stammt von E. Fromm, Die Kunst des Liebens (1956), Berlin 1965, S. 64; weitere Unterscheidungen zwischen Vater- und Mutterliebe S. 64–67, 72–77. 150 W. Reich, Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur Proletarischen Sexualpolitik, Kopenhagen 1933, Zitat S. 156. 151 H. D. Laswell, The Psychology of Hitlerism as a Response of the Lower Middle Classes to Continuing Insecurity (1933), zit. nach P. Loewenberg (wie Anm. 136), S. 1485. Ein eindrucksvolles Beispiel für die NS-Inthronisierung der Mutter ist: Mutter. Ein Buch der Liebe und der Heimat für alle. Berlin 1934 (Verlag Mutter und Volk). 152 Einen guten Überblick gibt H.-J. Heinrichs, in: ders. (Hg.), Materialien zu Bachofens »Das Mutterrecht«, Frankfurt a. M. 1975, mit seiner Einleitung und Auswahl von Aufsätzen über Bachofen.
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chofen-Renaissance, deren Breitenwirkung bemerkenswert ist. Mit Bachofens Thesen zum Matriarchat hatten sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor allem Rechtswissenschaftler aus fachwissenschaftlichem und Sozialisten aus politischem Interesse beschäftigt. In den zwanziger Jahren wurden Bachofens Werke in mehreren Teilsammlungen neu publiziert und mit umfangreichen geisteswissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Interpretationen auf den Weg geschickt. Um den dergestalt aktualisierten Bachofen scharten sich Jünger ebenso wie Gegner. Neben Ludwig Klages spielte in dieser Zeit vor allem Alfred Bäumler als Bachofen-Interpret eine hervorragende Rolle.153 Bäumler deutete Bachofen nicht allein als Vollender der Romantik. Er bezog zugleich Bachofens Mutter-Entdeckung auf die Gegenwart. Bachofen sei »Muttersohn« und »der Mutter Sohn«. Für seine Deutung des Mutterrechts bilde »das Sohnesverhältnis den systematischen Mittelpunkt«.154 Die im Patriarchat vollbrachte Überwindung der dunklen Mutter- und Todeskräfte sei niemals endgültig.155 Die Gegenwart zeige »alle Züge einer mutterrechtlichen Epoche« mit ihrem Sittenverfall, der Geschlechtermischung und Verzweiflung:156 »ein Blick auf die Gegenwart läßt die Bedeutung dessen, was nicht in den Institutionen enthalten ist, sofort klar werden. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die väterliche Gewalt, die Herrschaft des Mannes heute gebrochen ist, daß Monogamie und Vaterrecht zwar in den Gesetzbüchern vorkommen, aus dem Leben aber geschwunden sind.«
Bäumler führte Bachofens Wirkung zurück auf die »Inbeziehungsetzung der zwei gewaltigsten Gefühlsmächte, die das Menschenherz bewegt: der Mutterliebe und des Todesgefühls«.157 Der Schoß der Mutter ist die Mutter Erde. Diese Ambivalenz der Mutter-Sohn-Beziehung findet ihre platte Entsprechung in der Muttertags-Werbung des Dr. Rudolf Knauer vom »Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber«. In seinem ersten Aufruf158 empfahl er nicht nur das MutterOpfer, sondern pries zugleich die Großmut der Mutter, die im Weltkrieg ihre Söhne für das Vaterland geopfert habe. Bäumler, der 1926 seine Einleitung zur Bachofen-Ausgabe mit sichtbarer Faszination geschrieben hatte, entschied sich später eindeutig für den erneuten Sieg des Sohnes. 1943 verherrlichte er Rosenbergs »Mythus«.159 Rosenberg lässt sich u. a. als Verkünder des Anti-Matriarchats deuten. Er wendete sich gegen die bachofenartige Verklärung der Frau und lastete es dem Mann an, »nicht 153 A. Bäumler, Bachofen. Der Mythologe der Romantik, Einleitung zu: M. Schroeter (Hg.), Der Mythos von Orient und Occident. Eine Metaphysik der Alten Welt. Aus den Werken von J. J. Bachofen, München 1926, S. I–CCLXXXXIV. 154 Ebd., S. CCLXXXVIII. 155 Ebd., S. CCXCIV. 156 Ebd., S. CCXCI, Zitat S. CCXCII. 157 Ebd., S. XCIIf. 158 VDB (wie Anm. 8), 17.4.1923 S. 88; dgl. 8.5.1925, S. 423. 159 A. Bäumler, Alfred Rosenberg und der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1943.
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mehr ganz Mann gewesen zu sein« und dadurch die Frauenemanzipation heraufbeschworen zu haben.160 Sein »Mythus« ist ein Aufruf zu selbstbewusster »Männlichkeit«:161 »Der deutsche Gedanke fordert heute mitten im Zusammensturz der feminisierten alten Welt: Autorität, typenbildende Kraft, Beschränkung, Zucht, Autarkie (Selbstversorgung), Schutz des Rassencharakters, Anerkennung der ewigen Polarität der Geschlechter.«
Zumindest ebenso stark wie dieser Aufruf zur Ermannung scheint in den zwanziger Jahren jedoch die Hoffnung auf eine mütterliche Gegenwelt gewesen zu sein, die ihre Bestätigung ebenfalls über die Lehre vom Matriarchat suchte. Die Mutter als Prinzip der Lebensbejahung sollte in einem »Zeitalter der denkbar lebensabgewandten technisch-zivilisatorischen Brutalität« den Weg in eine bessere Zukunft weisen.162 »Mütterlichkeit« hatten schon die Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts auf ihre Fahnen geschrieben und ihre Forderung nach gleichen Rechten mit dem altruistischen Versprechen verbunden, die Welt werde sich durch das öffentliche Wirken von mütterlichen Frauen zum Bessern entwickeln.163 In welcher Breite sich am Ende der zwanziger Jahre die Hoffnungen auf das positiv bewertete Mutter-Prinzip als Bauelement einer zukünftigen Gesellschaft richteten, lässt sich an zwei besonders extremen Positionen vorführen. Erich Fromm,164 der sich bereits 1920 im Studium intensiv mit Bachofen beschäftigt hatte, griff während der Zeit seiner Zugehörigkeit zum »Institut für Sozialforschung« das Thema erneut auf mit einer Rezension über »The Mothers« von Robert Briffault und einem Aufsatz über »Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie«. Darin unterschied er zwischen einem »matrizentrischen« und einem »patrizentrischen« Komplex und den darin jeweils verschieden ausgebildeten Psychostrukturen. Perspektivisch erhoffte er vom Sozialismus die gesellschaftliche Dominanz des »matrizentrischen Komplexes«. Dieses sollte nach Fromm bedeuten, dass das optimistische Vertrauen in die bedingungslose Liebe der Mutter dauerhaft, die Glücks- und Genussfähigkeit stärker als bisher ausgebildet und die »mütterlichen Qualitäten des Mitleids und der Liebe zu Schwachen und Hilfsbedürftigen« zum Ideal erhoben werde.165 Auf dem politisch entgegengesetzten Flügel meldete sich der 160 A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 8. Aufl. München 1933, S. 507. 161 Ebd., S. 504; vgl. auch S. 38 ff. zur Auseinandersetzung mit Bachofen. 162 W. Deubel, Der Kampf um Johann Jakob Bachofen, in: Preußische Jahrbücher 209, 1927, S. 66–75, dort S. 66. 163 Vgl. z. B. G. Bäumer, Die Frau in der Krisis der Kultur, 2. Aufl. Berlin 1927, bes. S. 37–39; ähnlich auch Marianne Weber, Aufstieg durch die Frau, Freiburg i. Br. 1933. 164 E. Fromm, Analytische Sozialpsychologie (Gesamtausgabe 1), Stuttgart 1980, Einleitung, S. XIII; ebd., Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht (1933), S. 79–84, u. Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934), S. 85–109. 165 Ebd., S. 104.
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Professor an der Leipziger Universität Ernst Bergmann zu Wort. In seinem 1932 veröffentlichten Buch »Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter« holte er historisch und philosophisch weit aus, um schließlich gegen die »maskulinisierte Frau«, gegen Bolschewismus und Sozialismus, aber auch gegen Monogamie eine vom »Muttergeist« sowie von »arthygienischen und züchterischen Idealen durchdrungene neue Gesellschaft« zu fordern. Denn es gäbe »keine höhere und naturgewolltere, keine zugleich religiösere und modern-biologischere Erlösungsidee für den im Wahnsinn verstrickten Kulturorest Menschheit als den Muttergeist.«166 So verschieden das Theoretisieren über »Mutter« auch ausfiel, die vorgeführten Beispiele machen hinreichend deutlich, dass nach dem Ersten Weltkrieg offenbar eine große Bereitschaft vorhanden war, sich auf Mutter-Visionen einzulassen. So gesehen war der Muttertag ganz offensichtlich mehr als nur eine Randerscheinung der Weimarer Gesellschaft, stellte er doch eine eigentümliche Verbindung her zwischen der Tagespraxis von Müttern und den Gedankenspielen von Söhnen. Meine vom »Deutschen Muttertag« angeregten Nachforschungen haben mich weit umgetrieben. Ich will hier keine Zusammenfassung der unterwegs eingesammelten Funde versuchen. Stattdessen möchte ich zum Schluss auf die scharfsichtigen Beobachtungen von Alice Rühle-Gerstel verweisen, deren Buch »Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz« 1932 veröffentlicht und 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Dort heißt es über den Muttertag:167 »Einmal im Jahr feiert das deutsche Volk seine Mütter. An einem Tag im Jahr werden sie ans Licht gezerrt, mit Reklamen gepriesen, mit Sentimentalitäten verziert, mit Sinnsprüchen gewürdigt und mit beweglicher Pathetik gerühmt. … Dann, abends schleichen die Mütter allmählich wieder in das bescheidene Halbdunkel ihrer Alltage zurück, wo sie nun bis zum nächsten Jahr ihre schlichten und vielfältigen Aufgaben erfüllen werden. Zurück zu den Ihren, zu Mann und Kindern, in die Familie.«
Dieses Bild erfasst den Gegensatz von verlogenem öffentlichen Zeremoniell und gesellschaftlich ungeachteter, da privat geleisteter Arbeit der Mütter. Selbst hochgerühmt – so betont Rühle-Gerstel – könne die »Mutterschaft« in einer »Männerherrschaftsatmosphäre« niemals erfolgreich das weibliche Geschlecht aus seiner durchgängigen »Minderwertigkeitsposition« befreien. Trachteten doch Herrschende immer danach, das zu »entwerten, was ihnen selbst nicht eigen ist.« Daher werde »Mutterleistung« als »Geschlechtsattribut« vorausgesetzt und nicht als gesellschaftliche Leistung anerkannt. Das auch in der Familie allgegenwärtige Herrschaftsverhältnis zwinge die Frauen als Gattin und 166 E. Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 1932, S. 448. 167 Das Buch wurde neu aufgelegt unter dem Titel: Die Frau und der Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1972, Zitat S. 28.
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Mutter in ausschließlich altruistische Funktionen hinein. Sie hätten für alle anderen, nur nicht für sich selbst da zu sein und schließlich mit ihrem Eigenleben auch ihre Persönlichkeit aufzugeben.168 Um meine eigenen Versuche, den Muttertag in der historischen Zeit zu deuten, abschließend in einer neuen Perspektive zu öffnen, möchte ich zitieren, wie Rühle-Gerstel Mutterideologie und Mutterverhalten interpretierend zusammenbringt:169 »Der Mutterkult und die Hochschätzung der Mutterliebe stammt von den Männern. Frauen haben wohl auch vielfach dankbare Verbindungen zu ihren Müttern, aber sie haben von den Müttern faktisch nicht so viel Dankenswertes empfangen wie die Söhne, genossen sie doch nicht den Vorzug der Andersgeschlechtlichkeit. Mit mehr objektivem Recht lobpreisen die Söhne Altruismus und Opfermut der Mütter, denn ihnen kommen sie besser zu. Dem Männergeschlecht als Ganzem passt es vortrefflich, in der Frau, besonders in der Mutter, die selbstlose, altrozentrierte Hingebung zu betonen. Bildet sie doch den Untergrund, von dem sich der höhere Wert des so Umsorgten umso heller abhebt. Für das Geschlecht, welches mit vieler Mühe immer das starke Geschlecht darstellen muss, ist es süß und geruhsam, an einer einzigen Stelle schwach sein zu dürfen. Die Mutter ist die Stelle, an der der Starke sich ohne Erniedrigung schwach fühlen darf. Das aber erklärt auch, warum die Mütter in der Regel mit Begeisterung die ihnen zugemutete Rolle übernehmen: den Kindern gegenüber sind sie stark, und das ist nicht nur an für sich beglückend, sondern doppelt da, wo die Geschlechtszugehörigkeit des Kindes das Starksein erschwert. Dem Sohne gegenüber stark sein, Autorität, Vorbild sein, das bedeutet für die Frau: wenigstens einen Mann unter sich zu haben. Dass er es sich, weil er Kind ist oder weil er als Erwachsener an einem Punkt will schwach sein dürfen, gefallen lässt, das macht das Glück dieser Rolle aus. So sind die hingebungsvollsten Mütter jene Frauen, die an allen andern Lebensstellen, besonders in der Ehe, unterdrückt, unterschätzt oder geschwächt wurden. Die Geltung gegenüber dem Sohne wird für sie zum Ersatz aller sonst versagten Geltung.«
168 Ebd., S. 140, 31, 32, 243, 184. 169 Ebd., S. 243 f.
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Der Volkstrauertag Ein Tag des nationalen Gedenkens an die getöteten deutschen Soldaten*
Der Tod hat die Lebenden schon immer kulturelle Formen finden lassen, um die verstörenden Erfahrungen von Verlust und Trennung gemeinschaftlich zu bewältigen, und einmal vereinbarte Formen des Umgangs mit Tod und Trauer sind stets auch wieder verändert und neuen Verhältnissen angepasst worden. In Industriegesellschaften übernehmen seit dem 19. Jahrhundert spezialisierte Gewerbe die Aufgabe, Totenfeiern nach Maßgabe unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedürfnisse und wirtschaftlicher Möglichkeiten auszurichten. Erhöhte Mobilität der Menschen, fortgeschrittene Verstädterung und umfassende Akzeptanz von Marktbeziehungen schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Friedhofsverwaltungen, Bestattungsunternehmen, Steinmetzen, Gärtnereien, Anbieter für Trauerkleidung, Anzeigen und Anderes mehr sich darauf spezialisieren können, das Trauergeschäft im Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse zu entwickeln und dabei den jeweiligen Moden ebenso wie individuellen Vorlieben Rechnung zu tragen. Zeitgleich mit diesen Entwicklungen im gewerblichen Bestattungswesen zielen einerseits vielfältige medizinisch-soziale Anstrengungen darauf, den Tod an das Ende eines langen Lebens zu verweisen, während andererseits die zu Nationalstaaten formierten Industriegesellschaften speziell für Kriegszwecke neue Möglichkeiten und Gelegenheiten zu massenhaftem Töten und Sterben von Menschen eröffnen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verallgemeinerte der Erste Weltkrieg erstmals die neuartige Erfahrung des massenhaften Tötens und Sterbens; durch direktes Kampfgeschehen, Hunger, Erschöpfung und die von der Kampffront davon getragenen Verwundungen starben acht bis zehn Millionen Menschen.1 Bereits seit der Französischen Revolution und den Revolutionskriegen wurden im Namen der Nation und zur Verteidigung nationaler Werte gegen den äußeren Feind mobilisiert und jedem patriotischen Mann soldatischer Tötungs- und * Diese Erstveröffentlichung in deutscher Sprache präsentiert ein formal leicht überarbeitetes, aber kaum aktualisiertes Manuskript, das 1989 als Beitrag zum Thema »The Production of History: Silence and Memory« beim Sixth Round Table in Anthropology and History ausgearbeitet und in gekürzter Version veröffentlicht worden ist als: The ›Day of National Mourning‹ in Germany, in: G. Sider u. G. Smith (Hg.) Between History and Histories: The Making of Silences and Commemorations, Toronto 1997, S. 127–146. 1 W. Köllmann, Bevölkerung und Raum in Neuerer und Neuester Zeit, 3. Aufl., Würzburg 1965, S. 172 f.
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Todesmut abverlangt. Diese Indienstnahme erforderte neuartige Sinnstiftungen, um das persönliche Schicksal eines jeden Soldaten in dem Schicksal der Nation aufgehoben erscheinen zu lassen und einen vorübergehend oder dauernd dem Krieg geschuldeten Verlust des Sohnes, Bruders, Ehemannes, Vaters gegenüber deren Familien zu rechtfertigen. Die Grundmuster solcher Sinngebungen kamen noch in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zum Einsatz. Dabei ging es nicht nur um Rechtfertigung, es ging auch um Trauer. Alle am Krieg beteiligten Nationen waren überzeugt, die Trauer um die Toten dürfe nicht allein den betroffenen Familien überlassen bleiben. Sie erklärten das ehrende Gedenken der Millionen getöteter Soldaten zur nationalen Aufgabe. Trauer und Gedenken national auszugestalten, aber macht das Gedenken zum Politikum. Totengedenken als Politikum ist das Thema dieses Aufsatzes. Anhand des deutschen Beispiels geht es um die Frage, wie und warum die Trauer einzelner Menschen und Familien um ihre als Soldaten zu Tode gekommenen Männer im Namen des nationalen Gedenkens einmal pro Jahr durch öffentliche Veranstaltungen überformt werden sollte. Deutschland ging 1918 besiegt aus dem Weltkrieg hervor, wagte eine Revolution und errichtete auf den Trümmern des Kaiserreichs eine Republik. Das von Anfang an hart umkämpfte politische Experiment endete, als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam. Das kaiserliche Deutschland hatte 13 Millionen Männer als Soldaten in den Krieg geschickt. Von ihnen kamen mehr als zwei Millionen nicht mit dem Leben davon.2 Dass der Erste Weltkrieg für die Deutschen nicht mit Sieg endete, machte es schwieriger, die durch Maschinengewehrsalven und Giftgase vernichteten Leben vor den Angehörigen der Toten zu rechtfertigen. Diese geschichtliche Einordnung ist wichtig, auch wenn sich der weitere Bericht nun vornehmlich auf den Volkstrauertag konzentrieren wird, der bis heute in der Bundesrepublik Deutschland und seit dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik auch in deren vormaligem Territorium gefeiert wird. Der Volkstrauertag wurde während der Weimarer Republik als jährliches Gedenkzeremoniell für die im Ersten Weltkrieg getöteten deutschen Soldaten von einer selbst ernannten Volksbewegung durchgesetzt und ausgestaltet. Das Ziel war, die schon im 19. Jahrhundert an unzähligen lokalen Kriegerdenkmälern abgehaltenen Feiern zu Ehren gefallener Soldaten nun reichsweit zu vereinheitlichen und damit die Öffentlichkeit auf neue Weise politisch zu mobilisieren. In der Forschung haben jüngst vor allem Kriegerdenkmäler, aber weniger die zeremonielle Belebung der Denkmäler durch wiederkehrende Gedenkveranstaltungen Interesse gefunden.3 2 Ebd. 3 Siehe für Deutschland M. Hütt u. a. (Hg.), Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Leiden und Sterben in den Kriegsdenkmälern des Ersten und Zweiten Weltkrieges, Marburg 1990; R. Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftung der Überlebenden, in: O. Marquard u. K. Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276; R. Koselleck u. M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; M. Lurz, Die Verdrängung der Gewalt in den Denkmälern und Friedhöfen des 2. Weltkriegs, in:
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Die Geschichte und Bedeutung des Volkstrauertages wird in vier Schritten vorgestellt. Eine erste Annäherung gilt dem Ersten Weltkrieg, dem Kriegserlebnis und seiner literarischen Bearbeitung, um so an die für Frauen und Männer sehr unterschiedlichen Erfahrungen, Nöte, Gelegenheiten zur Trauer und an das auch noch in den Nachkriegsjahren unüberbrückbare Auseinanderklaffen der an der Kriegsfront und an der Heimatfront gemachten Erfahrungen zu erinnern. Ein zweiter Schritt führt zurück in das 19. Jahrhundert um zu klären, warum schon während des Ersten Weltkrieges die Formen des traditionellen jährlichen Totengedenkens für die nationale Ehrung der in diesem aktuellen Krieg getöteten Soldaten als nicht mehr ausreichend erachtet wurden. Danach konzentrieren sich die Ausführungen auf den Volkstrauertag und die Art und Weise, wie dieser vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge während der Weimarer Republik konzipiert, propagiert, durchgeführt und trotz erheblicher Widerstände schließlich auch offiziell weitgehend anerkannt wurde. Der Bericht endet mit einem Ausblick auf die 1934 von den Nationalsozialisten vorgenommene Umdeutung des Volkstrauertages zum Heldengedenktag und die ungeachtet seiner Vorgeschichte erfolgte Wiederbelebung des Volkstrauertages nach dem Zweiten Weltkrieg.
1. Friedenszeiten und Kriegserlebnis Der Aufbruch in den Krieg vollzog sich im August 1914 im Deutschen Reich nicht anders als in England und Frankreich in optimistischer Kampfes- und Siegesstimmung und im Bewusstsein, das Vaterland vor dem Ansturm des Aggressors zu verteidigen. Auch wenn die lange von Historikern behauptete allgemeine Kriegsbegeisterung offenbar das überzeichnete Bild der Kriegspropaganda übernimmt und konserviert,4 bleibt dennoch weiter richtig, dass J. Calließ (Hg.), Gewalt in der Geschichte, Düsseldorf 1983, S. 119–129; M. Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, 6 Bde., Heidelberg 1985–87; G. L. Mosse, National Cemetries and National Revival. The Cult of Fallen Soldiers in Germany, in: Journal of Contemporary History 14, 1979, S. 1–20; G. L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World, Oxford 1990 (deutsch 1993); G. Schneider, » … nicht umsonst gefallen?« Kriegerdenkmäler und Kriegstotenkult in Hannover, Hannover 1991; siehe für andere Nationen u. a. R. Gärtner u. S. Rosenberger, Kriegerdenkmäler, Innsbruck 1991; J. Giller u. a., Wo sind sie geblieben … ? Kriegerdenkmale und Gefallenenehrung in Österreich, Wien 1992; J. Gillis (Hg.), Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton 1994; A. Prost, Les anciens combattants et la société française 1914–1939, 3 Bde., Paris 1977; J. M. Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995. 4 Vgl. Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg, Berlin 1989; W. Kruse, Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen, in: M. van der Linden u. G. Mergner (Hg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 73–87.
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zumindest l914/1915 sehr viele junge Männer vor allem aus bürgerlichen Familien zur Kriegsfront drängten. Diese jungen Männer dürften wohl nicht allein qua Ansteckung durch das nationalistische Fieber in Bewegung versetzt worden sein. George Mosse bietet mit seiner These: »Der Krieg war eine Einladung zur Männlichkeit«5 eine bedenkenswerte weitere Deutungsmöglichkeit. Wie aber konnten zumal junge Soldaten dann mit der erschütternden Kriegserfahrung fertig werden, dass in diesem mit Technik und Chemie geführten neuartigen Krieg der Kampf gegen den Feind und selbst das soldatische Sterben massenhaft und zerstückelt geschahen und dem einzelnen Soldaten wenig Chancen boten, Männlichkeit heroisch auszuleben? Während des Krieges und nach dem Krieg scheint die »Einladung zur Männlichkeit« nicht mit einer Geste der Enttäuschung, weil das Erhoffte nicht einzulösen war, einfach zurückgegeben worden zu sein. Offensichtlich beharrten zumindest einige der aus dem Krieg gealtert zurück gekehrten Männer auf der Einladung. Sie begannen, im Namen der »Frontsoldaten« weiter die Hoffnung auf soldatische Männlichkeit in Freikorps, sonstigen Organisationen und Aktionen zu pflegen oder das Kriegserlebnis literarisch und künstlerisch zustimmend, distanziert oder kritisch zu bearbeiten.6 Die literarischen Auseinandersetzungen mit dem als Soldat durchlebten Krieg erfolgten in drei Phasen.7 Während der Kriegsjahre hatten vor allem Kriegslyrik und kleine Prosatexte Konjunktur. »Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis« von Walter Flex erschien 1916 und avancierte schnell zum jugendbewegten Kultbuch. Nach l918 bis 1928 wurde in Deutschland mit knapp 100 weiteren Prosatexten eine in der Hauptsache von Offizieren verfasste Rechtfertigungsliteratur veröffentlicht. Ernst Jünger, der literarisch anspruchsvollste Autor, stilisierte 1920 mit seinem Text »In Stahlgewittern« die Soldaten, gleich ob überlebend oder gefallen, als gehärtete, in ihrem mann5 G. L. Mosse, Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und Sexuelle Normen, München 1985, S.138; vgl. auch M. C. C. Adams, The Great Adventure. Male Desire and the Coming of World War One, Bloomington 1990; G. Fiedler, Jugend im Krieg, Bürgerliche Jugendbewegung, Erster Weltkrieg und sozialer Wandel 1914–1923, Köln 1989; E. Leed, No Man’s Land. Combat and Identity in World War I, New York 1979; D. J. Sherman, Monuments, Mourning and Masculinity in France after World War I, in: Gender & History 8, 1996, S. 82–107. 6 Vgl. H. Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994; R. Rother (Hg.), Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges, Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin 1994; K. Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Reinbek 1983 und 1984. 7 Vgl. H.-H. Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986; siehe auch P. Fussell, The Great War and Modern Memory, London 1977; G. Hirschfeld u. a. »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch … Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Essen 1993; B. Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein 1984; K. Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nation, Göttingen1980; J. M. Winter, The Experience of World War I, London 1988; R. Wohl, The Generation of 1914, Cambridge 1979.
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haften Heroismus aller banalen Alltäglichkeiten entrückte Männer in der Gloriole urwüchsiger Kreatürlichkeit, Lebenskraft sowie unverbrüchlicher, Klassenund Standesunterschiede nivellierender Schützengrabenkameradschaft. Von 1928 bis 1933 offerierte der deutsche Büchermarkt über 200 neue Weltkriegsromane, die das »Kriegserlebnis« nun auch im Lichte der Nachkriegserfahrungen deuteten. Um diese Bücher entbrannten heftige politische Kontroversen. Das gilt insbesondere für den im Januar 1929 als Buch veröffentlichten, umgehend in viele Sprachen übersetzten und 1930 verfilmten Bestseller »Im Westen nichts Neues«.8 Der 1898 geborene Autor Erich Maria Remarque erklärte im Vorwort: »Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam.« Nicht nur Männer mit Fronterfahrung werden diesen und die zahlreichen anderen Kriegsromane gelesen haben. Auch diejenigen Männer, denen als uneinholbares Defizit entgegen gehalten wurde, dass sie Nur-Zivilisten bleiben mussten, weil sie zu spät geboren waren, um sich an der Kriegsfront bewähren zu können, dürften in den Romanen nach den dominanten Erfahrungen von Weltkriegs-Soldaten Ausschau gehalten haben. Wahrscheinlich erhofften sich von den Kriegsromanen auch Mütter, Ehefrauen, Bräute, Schwestern und Töchter der Kriegsteilnehmer eine Möglichkeit, mehr über die Kriegserfahrungen ihrer eigenen Männer zu erfahren und so deren von der Kriegsfront zurück gebrachten Gewissheiten, Verletzungen und Beschädigungen besser verstehen zu können, von denen Frauen im Alltag des Zivillebens zwar jahrelang belastet waren, von denen sie aber gleichwohl prinzipiell ausgeschlossen blieben.9 Welche Tendenz auch immer aus den Romanen herausgelesen wurde – eine pazifistische oder militaristische, kritisch analysierende oder beschönigende, 8 Vgl. Müller (wie Anm. 7), S. 38–93. 9 Vgl. R. Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993; K. Hausen, Die Sorge der Nation für ihre »Kriegsopfer«. Ein Bereich der Geschlechterpolitik während der Weimarer Republik, in: J. Kocka u. a. (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994, S. 719–739; M. R. Higonnet u. a. (Hg), Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven/London 1987; B. Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995; S. Rouette, Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1993; R. Schulte, Käthe Kollwitz’ Opfer, in: C. Jansen u. a. (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Gesellschaft und Politik in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen, Berlin 1995, S. 647–672; R. Schulte, Die Schwester des kranken Kriegers. Krankenpflege im Ersten Weltkrieg als Forschungsproblem, in: BIOS. Zeitschrift für Biografieforschung und Oral History 7, 1994, S. 83–100; F. Thébaud, La grande guerre. Le triomphe de la division sexuelle, in: G. Duby u. M. Perrot (Hg.), Histoire des femmes, Bd. 5, Paris 1992, S. 31–74 (deutsch 1995); B. Ulrich u. B. Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Quellen und Dokumente, Frankfurt a. M. 1994; R. Wall, J. Winter (Hg.), The Upheaval of War. Family, Work and Welfare in Europe, 1914–1918, Cambridge 1988; R. W. Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War. 1914–1939, Ithaca 1984.
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genau beschreibende oder heroisierende – insgesamt intensivierten alle diese Romane die individuelle und kollektive, die private und politische Auseinandersetzung mit dem Krieg. Die Romane lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit zugleich in extremer Weise auf Erfahrungen, die ausschließlich von Männern und zwischen Männern gemacht worden waren. In der Welt der Schützengräben blieb die Präsenz von Frauen darauf reduziert, Fluchtpunkt von Sehnsüchten zu sein, die bestenfalls durch Fotografien, Briefe, LiebesgabenPäckchen materialisiert wurden. Die an der Front eng zusammen geschlossene soldatische Männergesellschaft öffnete sich nur, wenn außerhalb der Gräben Frauen für kurze Momente zugelassen waren als Krankenschwestern, Prostituierte, Aktricen oder als Frauen aus dem Feindesland, die freiwillig oder unter Zwang in Dienst genommen werden konnten. Die Auswirkungen der extremen Geschlechtertrennung treten überdeutlich zu Tage, wenn in den Kriegsromanen vom enttäuschenden Heimaturlaub und insbesondere vom Scheitern der Reintegration in die Nachkriegsgesellschaft die Rede ist.
2. Allerseelen und Totensonntag In Deutschland besuchen Jahr für Jahr Katholiken zu Allerseelen und Protestanten zum Totensonntag nicht nur die Kirchen, sondern auch die Friedhöfe, um im Spätherbst – mit tatkräftiger Unterstützung von Gärtnereien und Blumengeschäften – die Gräber ihrer Angehörigen mit Kränzen und Gestecken zu schmücken.10 Während Allerseelen in katholischen Gemeinden schon seit Jahrhunderten gefeiert wurde, nahmen die protestantischen Landeskirchen erst Anfang des 19. Jahrhunderts diese in der Reformation abgebrochene Tradition der kirchlichen Totenfeier wieder auf.11
10 Informativ ist hierzu die Verbandszeitung Deutscher Blumengeschäftsinhaber (VDB); diese beanspruchte in der Ausgabe vom 15.11.1907 das seit 1880 fast in Vergessenheit geratene jährliche Totenfest wieder belebt und die »rechte Einkehr zum Gedächtnis der Toten zur Allgemeinheit der Volksseele gebracht zu haben.« 11 Zum Totensonntag vgl. R. Franke, Zur Geschichte und Beurteilung des Totensonntags, in: Halte was du kannst. Zeitschrift für Pastoraltheologie 22, 1899, S.14–28, 66–81; P. Graff, Beiträge zur Geschichte des Totenfestes, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie 2, 1905/06, S. 62–76. Zur religiös-nationalen Mobilisierung für den Krieg vgl. O. Dann, Vernunftfrieden und nationaler Krieg. Der Umbruch im Friedensverhalten des deutschen Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: W. Huber u. J. Schwerdtfeger (Hg.), Kirche zwischen Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, Stuttgart 1976, S. 169–224; R. Wittram, Nationalismus und Säkularisation. Beiträge zur Geschichte und Problematik des Nationalgeistes, Lüneburg 1949; H. Zilleßen (Hg.), Volk-Nation-Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970; H. Zimmer, Auf dem Altar des Vaterlandes. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1971.
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Der preußische König Friedrich Wilhelm III ordnete 1816 als einer der Ersten die kirchliche Feier eines Totensonntags an und kam damit offensichtlich einem Bedürfnis der Kirchengemeinden entgegen. Von l813 bis 1815 war der patriotische Aufbruch zum Krieg gegen Napoleon von den Kanzeln der Kirchen angefeuert, legitimiert und gesegnet worden als heiliger Krieg gegen die Macht des Bösen. Der Sieg wurde errungen. Doch die aus dem Krieg zurück kehrenden Patrioten sahen ihre an den Sieg geknüpften, hochfliegenden konstitutionellen und nationalen Hoffnungen durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses bitter enttäuscht. In dieser Situation bot der vom König angeordnete Totensonntag einen Ort für Trauer und Gedenken und zugleich einen zugkräftigen Anlass für die dringend benötigten Kollekten zugunsten der Witwen und Kinder gefallener und invalider Krieger. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es bald üblich, das Totengedenken mit dem Erinnern an siegreiche Schlachten zu verbinden. Die Entscheidung über Termin, Ort und Träger solcher patriotisch ausgestalteten Gedenkfeiern verlagerte sich von den lokalen Kirchen zunehmend auf die zahlreichen lokalen Kriegervereine. Diese übernahmen nicht nur die Regie der mehr oder weniger säkularisierten Gedenkfeiern, sie nutzten auch die kirchlichen Totenfeste Allerseelen und Totensonntag als willkommenen Anlass, um sich selbst darzustellen und nach feierlichem Aufmarsch mit Fahnen, Marschmusik und Ansprachen an Kriegerdenkmälern Kränze niederzulegen. Kriegervereine gab es bereits im Vormärz. Die Vereine widmeten sich neben der wohltätigen Unterstützung von notleidenden Angehörigen verstorbener Kameraden vor allem der Kameradschafts- und Traditionspflege. Im Kaiserreich wuchs deren Zahl schnell. Schließlich waren in ihnen mehr Männer organisiert als in allen übrigen nationalen Verbänden. Die Zahl der Mitglieder stieg von rund 900.000 im Jahr 1888 auf 2,8 Millionen 1913.12 Alles in allem scheinen Militarismus und Nationalkult das nationale Gedenken an die gefallenen Soldaten zwischen 1871 und 1914 in den Hintergrund gedrängt zu haben.13 Gewiss gab es weiterhin die schon 1813–1815 in 12 Vgl. D. Düding, Die Kriegervereine im wilhelminischen Reich und ihr Beitrag zur Militarisierung der deutschen Gesellschaft, in: J. Dülffer u. K. Holl (Hg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Göttingen 1986, S. 99–126, Zahlen S. 101; vgl. auch T. Rohkrämer, Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, München 1990; K. Saul, Der »Deutsche Kriegerbund«. Zur innenpolitischen Funktion eines »nationalen« Verbandes im Kaiserlichen Deutschland, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2, 1969, S. 95–159; E. Trox, Kriegervereine und Militärpartei. Preußische Armee und Konstitutionalismus zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990. 13 Vgl. T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206, 1968, S. 529–585; zu öffentlich gefeiertem Kaisergeburtstag und Sedanstag im Kaiserreich vgl. F. Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Bern 1990; interessante Vergleiche bieten M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992; A. Maas, Der Kult der toten Krieger. Frankreich und Deutschland nach 1870/71, in: E. François u. a. (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 215–231.
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oder an Kirchen und öffentlichen Gebäuden angebrachten Gedächtnistafeln mit den Namen der in den Kriegen getöteten Männer des jeweiligen Ortes, und für die Gefallenen späterer Kriege wurden zusätzlich auch Denkmäler errichtet. Das nach der Reichsgründung von l870/71 nationalistisch und kaisertreu gewordene deutsche Bürgertum aber setzte seinen Stolz vornehmlich daran, die endlich erreichte nationale Identität und Einheit mit aufwändigen Nationaldenkmälern, nationalen Gedenkstätten, Bismarck- und KaiserWilhelm-Türmen sinnfällig zum Ausdruck zu bringen. Dieser im Kaiserreich blühende Nationalkult ließ nur noch wenig Raum für kollektives Totengedenken. Das änderte sich im Ersten Weltkrieg. Als seit August 1914 Familie um Familie oft genug mehr als eine Todesmeldung von der Kriegsfront erhielt, schien selbst der Rückgriff auf die Tradition kollektiver Toten- und Trauerfeiern nicht mehr ausreichend, um den Kampfesmut hinwegzuretten über die Totenklage. Im Oktober 1914 wurde zunächst noch daran erinnert, dass die Gemeinden 1870/71 Gedächtnismäler und Gedenktafeln angebracht hatten, um der gefallenen Soldaten zu gedenken. Wenig später aber begann die Suche nach neuen Ausdrucksformen für eine würdevollere Gestaltung der nationalen Trauer. Entwürfe für Kriegerdenkmäler, Ehrenhallen, Heldenhaine, Ehrenfriedhöfe wurden vorgestellt.14 1916 gab es zur künstlerischen Gestaltung von Kriegergräbern und Gedenkstätten Ausstellungen u. a. in Berlin, Königsberg, Leipzig und Köln.15 Zum Totensonntag 1914 konnten die in der Heimat gebliebenen preußischen Kriegsveteranen in ihrer Vereinszeitung noch Erbauliches über den Krieg lesen: »Sein teuerstes und treustes Blut muß das deutsche Volk auf dem Altar des Vaterlandes opfern. … Der Opfertod des Vaterlandshelden verklärt: die, die ihn erlitten, und die, die darob klagen. Lassen wir die Tränen fließen, aber beugen wir uns in Demut unter Gottes unerforschlichen Willen. … Denn das sagen uns, mahnend und anfeuernd, unsre Toten zum Totenfest, daß die Opfer, die sie uns mit ihrem Leben gebracht haben, nicht vergeblich sein sollen. … Durch die Nacht des Todes zum Licht des Lebens! Dem Totenfest soll nach sieggekröntem ehrenreichem Frieden im herrlicher noch als zuvor erblühenden, an Macht, Größe und Gesittung wachsenden Deutschland ein Lebensfest folgen.«16
Hatte dasselbe Blatt noch zum Totensonntag 1915 verkündet, das deutsche Volk sei »durch die Kriegszeit zu einem Heldenvolk« und »für unser Volk das Toten-
14 Siehe Anm. 3, dort insbesondere Lurz, Kriegerdenkmäler, Bd. 3, und Schneider. 15 Berichte dazu in: VDB (wie Anm.10) 16.5.1916, S. 127 f.; 30.5.1916, S. 139; 14.6.1916, S. 152; 11.7.1916, S. 174 f. 16 Parole. Deutsche Krieger-Zeitung. Amtliche Zeitung des Deutschen Kriegerbundes, 22.11. 1914, S. 916.
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fest ein Frühlingsfest der Auferstehung geworden«,17 nahm es 1916, 1917 und l918 nicht einmal mehr Allerseelen und Totensonntag zum Anlass, den Heldentod zu verherrlichen. Dem massenhaften Sterben an der Front begegnete die Veteranenzeitung mit Verschweigen.
3. Volkstrauertag Die deutsche Bevölkerung durchlebte das ersehnte Ende des Krieges 1918/19 unter den Begleitumständen von Niederlage, Waffenstillstand und Revolution. Diese Ausgangssituation erschwerte die Etablierung der ersten deutschen Republik. Bis Ende 1923 blieb deren Bestand umstritten. Putschversuche rechter Gruppierungen, politische Morde, Arbeiteraufstände, Streiks, Inflation, Reparationsfrage und Auseinandersetzungen um nationale Souveränität und territoriale Grenzen bestimmten den politischen Alltag. In dieser spannungsreichen Zeit wurde auch die seit dem Sommer 1919 immer wieder kontrovers erörterte Frage, ob und wie das nationale Gedenken an die Gefallenen des Weltkrieges angemessen zu gestalten sei, zu einer Herausforderung der Republik. Eine zufriedenstellende gesetzliche Regelung blieb die Republik mit ihren instabilen Reichs- und Länderregierungen schuldig. Anders als die Siegermächte, die den 11. November als Tag des Waffenstillstands seit 1919 als nationalen Gedenktag mit Ehrungen ihrer getöteten Soldaten feierlich begingen, bot das Deutsche Reich, solange es ihm nicht gelang, einen offiziellen nationalen Gedenktag einzuführen, auch bei dieser Aufgabe – wie seine Kritiker nicht müde wurden hervorzuheben – nur »das Zeichen der deutschen Zerrissenheit, Unordnung und Disziplinlosigkeit«.18 Schon in der verfassunggebenden Nationalversammlung war im Sommer 1919 im Gegenzug zu dem Beschluss, den 1. Mai als nationalen Feiertag anzuerkennen, von bürgerlichen Parteien ein nationaler Trauertag gefordert und für diesen auch später immer wieder petitioniert worden. In allen Jahren der Weimarer Republik gab es von Seiten des Reichstags und von Seiten der Reichsregierung zwar immer wieder neue Versuche, einen nationalen Gedenktag reichseinheitlich per Gesetz zu verankern. Doch alle Initiativen scheiterten aus unterschiedlichen Gründen daran, dass es nicht möglich war, einen solchen Gedenktag, wie es die Verfassung vorschrieb, einvernehmlich zusam-
17 Ebd., 21.11.1915, S. 926. 18 Zitat aus: Kriegsgräberfürsorge. Mitteilungen und Berichte vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., Februar 1925, S. 10. Vgl. D. Cannadine, War and Death, Grief and Mourning in Modern Britain, in: J. Whaley (Hg.), Mirrors of Mortality. Studies in the Social History of Death, New York 1982, S. 187–242; A. Gregory, The Silence of Memory. Armistice Day 1919–1946, Oxford 1994; T. Laqueur, Memory and Naming in the Great War, in: Gillis (wie Anm. 3), S. 150–167;
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men mit den Länderregierungen und den drei großen Religionsgemeinschaften festzulegen.19 Trotzdem gelang es, den schließlich Volkstrauertag genannten Gedenktag reichsweit in Szene zu setzen. Die Propagierung und Durchsetzung dieser Feiern waren das Werk außerparlamentarisch agierender Gruppierungen, die allerdings von Regierungen, Verwaltungen und Kirchen auf der Ebene der Kommunen, Bezirke, Länder und des Reiches vielfältige Unterstützungen erhielten. Als Organisations- und Propagandazentrale fungierte der »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.«. Dieser war bestrebt, die seit langem in den Kommunen und Ländern mit der Kriegsgräberpflege und dem Kriegergedenken befassten sehr zahlreichen und stark divergierenden Vereine und Initiativen als korporative Mitglieder unter seinem zentralen Dach zusammen zu führen. Dem Volksbund zur Seite standen als Unterstützer vor allem die seit 1922 im monarchistischen »Deutschen Reichskriegerbund Kyffhäuser« zusammengeschlossenen Kriegervereine und der völkische »Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten«, aber auch studentische Korporationen sowie Verbände der Kriegsopfer und zahlreiche andere Interessengruppen. Deren Einsatz war insbesondere gefragt, wenn es Jahr für Jahr darum ging, überall im Reich jeweils an einem bestimmten Sonntag vor Ostern (anfangs Sonntag Invocavit, später Sonntag Reminiscere) den Volkstrauertag zu gestalten. Der »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge« war »in der Erkenntnis, daß Totenkult und Pflichtgefühl des deutschen Volkes die schnelle Durchführung der Kriegsgräberfürsorge verlangen« und mit der Befürwortung von 50 mehrheitlich eher antirepublikanischen Körperschaften, am 26. November 1919 gegründet und am 12. Dezember konstituiert worden.20 Er sollte das im Krieg entstandene, 1919 dem Reichsinnenministerium angeschlossene »Zentralnachweiseamt für Kriegerverluste und Kriegergräber« bei der Arbeit unterstützen. Der Volksbund erhielt drei Aufgaben: die Betreuung von Kriegsgräberstätten im Reich und in Absprache mit der zuständigen Stelle der Reichsregierung auch von deutschen Kriegsgräbern im Ausland, die Unterstützung von Angehörigen 19 Ausführlich hierzu Lurz, Kriegerdenkmäler (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 413–426; Schellack (wie Anm. 13), S. 133–276 passim; T.-P. Petersen, Die Geschichte des Volkstrauertages, o. J., o. O., als Einzelschrift veröffentlicht vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. Kassel; sowie als Lokalstudie Schneider (wie Anm. 3). 20 Vgl. zur Gründungsgeschichte Akten betr. Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Archiv des Diakonischen Werkes, Signatur A I c 15 (Lt IX F Nr.2) vol I, dort Sitzung am 22.9.1919 im Reichsministerium des Innern Bl.5, Zitat aus dem Referat des Organisationsausschusses der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Vgl. zur Geschichte des Volksbundes die kritische Analyse von J. Zilien, Der »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.« in der Weimarer Republik, in: Archiv für Kulturgeschichte 75, 1993, S. 445–478; sowie die vom Volksbund herausgegebenen Schriften: Jubiläumsschriften zu 40 Jahren (1959) und 50 Jahren (1969); H. Soltau, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Sein Werden und Wirken, 3. Aufl., Kassel l982; H. Dollinger, Kain, wo ist dein Bruder?, München l983; kritischer R. Feichtner, Dienst am Menschen, Dienst am Frieden. 75 Jahre Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge, Gütersloh 1994.
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der Getöteten beim Auffinden und Pflegen der Kriegsgräber und schließlich die Beförderung der zwischenstaatlichen Gräberfürsorge. Die Kontinuität der Arbeit verkörperte Dr. Siegfried Emmo Eulen (1890– 1945).21 Eulen kam im August 1914 an die Front, wurde Offizier, Träger des Eisernen Kreuzes und schließlich 1917 und 1918 im Auftrag des Preußischen Kriegsministeriums als Gräberoffizier in Polen und der Türkei eingesetzt. Ostern 1919 zurück in Deutschland, nahm er Kontakt auf zu dem zunächst noch im Preußischen Kriegsministerium, seit Oktober 1919 im Reichsinnenministerium angesiedelten Zentralnachweiseamt. Dort betrieb er die Überantwortung der Gräberfürsorge von der Behörde an einen Verein und zu diesem Zweck die Gründung des Volksbundes.22 Im Bundesvorstand des Volksbundes arbeitete Eulen bis 1923 hauptamtlich, dann bis 1933 ehrenamtlich als Generalsekretär und Schriftführer. 1933 wurde er Präsident und nach selbst betriebener Anpassung an die NS-Vorgaben Anfang Dezember Bundesführer des Volksbundes.23 Er veröffentlichte im monatlichen Vereinsblatt von nun an nationalsozialistisch eingefärbte Betrachtungen. 1938 absolvierte er als Reserveoffizier Wehrübungen nebst Einsatz im Sudetengebiet, 1939 wurde er zum Wehrdienst einberufen, er avancierte zum Major, erlitt Silvester 1944 schwere Verwundungen und starb daran im Januar 1945.24 Der noch heute aktive Volksbund betätigte sich in den ersten Jahren vor allem als Auskunftstelle für Angehörige gefallener oder vermisster Soldaten. Sobald es die zwischenstaatlichen Beziehungen zuließen, widmete er sich ab 1925 vermehrt der Pflege von Soldatengräbern und mit steigendem Aufwand der Ausgestaltung von Soldatenfriedhöfen außerhalb der deutschen Grenzen. Die Ausgaben für den Bau dieser »Ehrenstätten« sollen laut Eulen von 48.000 RM 1925, auf 864.000 RM 1933 und fast 6,5 Millionen RM 1936 gestiegen sein.25 Um die Arbeit des Volksbundes zu finanzieren, wurden Einzelpersonen, Körperschaften und Gemeinden als Mitglieder angeworben, Ortsgruppen gegründet, Friedhofspatenschaften vergeben und Straßen-, Haus- und Schulsammlungen durchgeführt. Die Zahl der Mitglieder stieg von 72.000 im Jahr 1924 auf 130.000 im Jahr 1929, für 1937 wurden 295.000, für 1944 fast 2 Millionen und in der Bundesrepublik 1953 bereits wieder 500.000 Mitglieder gezählt. Der Volksbund war 1924 untergliedert in 36 Verbände, 681 Ortsgruppen, 1929 in 44 Verbände und 1.315 Gruppen. Das seit 1921 monatlich veröffentlichte Ver21 Vgl. E. W. Böhme, Dr. Siegfried Emmo Eulen. Gründer des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge, in: Niedersächsische Lebensbilder, Bd. 6, Hildesheim 1969, S. 143–159. 22 Zu Politik und Praxis der Kriegsgräberfürsorge sowie zur Gründungsgeschichte vgl. Zilien (wie Anm. 20), S. 446–458. 23 Aufschlussreich ist E. S. Eulen, Rückblick auf die 10-jährige Tätigkeit des Volksbundes und Ausblick auf die zukünftige Arbeit, in: Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18) l929, S. 166–169. 24 Böhme (wie Anm. 21), S. 253 f. 25 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18) Januar 1937, S.14; diese Ausgaben für Gräberfürsorge sind im Vergleich zu veröffentlichten Zahlen anderer Jahre sehr hoch, allerdings ist generell unklar, was überhaupt erfasst wurde.
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bandsorgan »Kriegsgräberfürsorge. Mitteilungen und Berichte vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.« wurde 1924 in 7.000, 1929 in 50.000, 1937 in 92.000, 1940 in 537.000 und 1953 wieder in 150.000 Exemplaren verbreitet.26 Der Volksbund verschrieb sich – nach dem Scheitern des Kapp-Putsches und nach der ersten großen Demonstration der Nie-Wieder-Krieg Bewegung27 – im November 1920 der Idee, der »Nationaltrauertag« solle jenseits von politischen und konfessionellen Parteistreitereien ein »einender Tag für das ganze Volk« werden.28 Für den Feiertag wurde das Frühjahr vorgesehen mit der Begründung: »Der Winter erinnert an das Vergehen alles Menschlichen, der Frühling erweckt in uns wieder neue Hoffnung, und wir sind ein Volk in Not. Unsere Gefallenen sollen uns ein Symbol sein, daß nach dem Winter, den wir durchmachen müssen, auch für uns ein neuer Frühling kommt.«29
Als sich der ursprünglich für den 6. März 1921 erhoffte erste nationale Trauertag nicht realisieren ließ, lud der Volksbund Vertreter aus Reichministerien, Ländern, Kirchen, Gewerkschaften sowie aus Kriegsteilnehmer-, Frauen- und anderen Verbänden zum 17. November 1921 nach Berlin ein, um über einen einheitlichen nationalen Trauertag zu beraten und die strittige Frage des Termins zu klären. Die anschließend von einem vierköpfigen Ausschuss zu Papier gebrachten Vorschläge wurden mit den Vorständen aller im Reichstag vertretenen Parteien besprochen. Als Ergebnis dieser Volksbund-Initiativen kam es am 5. März 1922 zu einer ersten, im Reichstag ausgerichteten Gedenkfeier. Ausgehend von dieser Initialfeier sollte, so der Plan des Volksbundes, zukünftig im gesamten Reich einheitlich an einem Sonntag im Frühjahr ein Volkstrauertag gefeiert werden.30 1923 verhinderten es allerdings die mit der Hyperinflation einhergehenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Turbulenzen, den geplanten reichseinheitlichen Trauertag zu realisieren. Im Stabilisierungsjahr 1924 aber organisierte der Volksbund in Eigenregie eine Art Probelauf für einen allgemeinen Volkstrauertag. 1925 startete mit großem Aufwand »der erste deut26 Ebd., November 1929, S. 167; Januar 1937, S. 13; Januar 1941, S. 2; November/Dezember 1944, S. 52; Oktober 1953, S. 146. 27 Die bis 1923 erfolgreiche Bewegung wurde durch Aufspaltungen und Gedenkveranstaltungen zum 10. Jahrestag der Kriegsmobilisierung ausgebremst, vgl. O. Jung, Spaltung und Rekonstruktion des organisierten Pazifismus in der Spätzeit der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, S. 207–243; R. Lütgemeier-Davin, Basismobilisierung gegen den Krieg. Die Nie-Wieder-Krieg Bewegung in der Weimarer Republik, in: K. Holl u. W. Wette (Hg.), Pazifismus in der Weimarer Republik, Paderborn 1981, S. 47–76; D. Riesenberger, Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, Göttingen 1985. 28 Vgl. Niederschrift über den ersten (außerordentlichen) Vertretertag in Berlin am 22.11.1920, S. 9 in: AIc15 ohne Blattangabe (wie Anm. 20). 29 Ebd. 30 Vgl. Lurz, Kriegerdenkmäler (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 414–416; Schellack (wie Anm. 13), S. 150 f., 189–192.
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sche Volkstrauertag Deutschlands am 1. März«.31 Der Volksbund arbeitete von nun an darauf hin, dass der Volkstrauertag – wie es 1929 aus der Rückschau auf das Geleistete hieß – »aus der Tiefe der deutschen Seele, aus der Tiefe des deutschen Gemüts heraus geboren« wurde und als »schöne deutsche Sitte« Geltung erlangte. Nachdem nicht die Regierung, sondern die »Bewegung für den Volkstrauertag« den Tag des nationalen Totengedenkens durchgesetzt habe, sei es nun Aufgabe der Regierung, den Gedenktag vor möglicher »Entweihung und Entheiligung« wirksam zu schützen.32 Anders als es der Volksbund suggerierte, folgten im Deutschen Reich allerdings auch noch 1929 keineswegs alle Länder den Appellen des Volksbundes, am vorgesehenen Sonntag vor Ostern reichseinheitlich den Trauer- und Gedenktag zu begehen.33 Parallel zum Volksbund widmeten sich ab 1920 auch die Kriegervereine mit neuem Pathos der Heldenverehrung.34 Der Kyffhäuserbund wies im Oktober 1920 alle ihm angeschlossenen 30.000 Kriegervereine an, sich Allerseelen bzw. Totensonntag an »würdigen Gedenkfeiern« zu beteiligen und den »Gedanken der Einführung eines Erinnerungstages an die Großtaten unseres Heeres« weiter zu verfolgen. Im November 1920 gedachte das Vereinsblatt auf der Titelseite unter der berühmten Inschrift »Invictis victi victuri – Den Unbesiegten die Besiegten, die siegen werden« wieder der deutschen Helden: »Euch beugen wir unsere Knie und heben wir unsere Hände und Herzen im heiligen Dank.« Es gelte abzuwehren, »daß über Eurem Tod jenes so grenzenlos schmerzende Wort stünde ›umsonst‹.« Um dieser Gefahr zu trotzen, zog der Kyffhäuserbund 1920 am Abend vor Totensonntag mit trauerumflorten Fahnen und Standarten zu einer Gedenkfeier in den Berliner Dom ein.35 1921 propagierten die Kriegervereine den 6. März als Deutschen Trauertag; sie brandmarkten das Vergessen als Treulosigkeit und Undankbarkeit und mahnten: »Das Denkmal der Erin31 Vgl. Jahrbuch 1925/26 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., hg. von S. E. Eulen zum 8. ordentlichen Vertretertag zu Düsseldorf 14. und 15. Mai 1926, Oldenburg 1926, S. 111. 32 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18) November 1929, S. 167 f. 33 Nach Lurz (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 417 f., beharrten Bayern und Württemberg auf abweichende Gedenktage; die Verbandszeitung Deutscher Blumengeschäftsinhaber vom 20.1.1928, S. 59, notierte zusätzlich Sachsen und Mecklenburg. 34 Der Kyffhäuserbund der deutschen Landeskriegerverbände wirkte seit 1900 als Dachverband; im Januar 1922 kam es unter dem Namen Deutscher Reichskriegerbund Kyffhäuser zusätzlich zum Zusammenschluss von Deutschem Kriegerbund und Kyffhäuserbund; vgl. D. Fricke u. F. Finker, Kyffhäuser-Bund der deutschen Landeskriegerverbände (KB) 1900–1943, in: D. Fricke (Hg.), Die bürgerlichen Parteien und Verbände, Bd. 2, Berlin 1968, S. 296–312; siehe außerdem V. R. Berghahn, Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918–1935, Düsseldorf 1966; K. Rohe, Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966. 35 Krieger-Zeitung. Amtliches Blatt des Deutschen Reichskriegerbundes »Kyffhäuser« der deutschen Krieger-Wohlfahrtsgemeinschaft und des Preußischen Landes- Kriegerverbandes 1920, Beilage 24.10., S. 15; 21.11., S. 86–88; 28.11., S. 97–99.
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nerung an die im Kriege Gefallenen sollen wir uns im eigenen Herzen selbst errichten.«36 Eben deshalb müsse, so hieß es 1922, eine alljährliche Totenfeier das durch Totenhaine, Denkmäler und Gedenktafeln manifestierte stumme Totengedenken ergänzen: »Es genügt aber nicht, das Zeichen in irgendeiner Form zu errichten, dann aber schweigend liegen zu lassen. Vielmehr soll es ein sprechendes Denkmal sein, denn es muß zu uns und vor allem zu unserer Jugend sagen: ›Stehet still an dieser Stelle und schweiget, hier ist heiliger Boden. Gedenket derer, die für Euch gestorben sind, ehret sie und tut, wenn es sein muß, ihnen nach‹.«37
1922 verständigten sich die Kriegervereine noch expliziter darüber, als »Soldaten des unbesiegten Heeres« niemals zuzulassen, dass die Opfer an Gesundheit und Leben von den Helden umsonst dargebracht wurden. Aus dem »heiligen Geist der Kameradschaft, der Treue und der Pflichterfüllung« müsse nun die Bereitschaft »zu friedlichem Kampf« erwachsen. »Durch deutschen Fleiß, deutsche Treue, deutsche Arbeit wollen wir den Friedensvertrag von Versailles zerbrechen«. Herrschen müsse »ein neuer Geist der Opferwilligkeit«, nicht aber »Streit und Uneinigkeit«; um Heimat und Familie zu retten, sorge ein jeder auch, dass »ein neuer, heiliger reiner Familiensinn bei euch einzieht.«38 Damit hatten die Kriegsveteranen Ende 1922 formuliert, was in den folgenden Jahren mit den Feiern zum Volkstrauertag ausgestaltet wurde. Das gemeinsame nationale Gedenken sollte die Nation in Treue und Dankbarkeit mit den getöteten Soldaten verbinden. Diese wurden Helden genannt, weil sie an der Kriegsfront starben. Deren Heldentod dürfe nicht umsonst erscheinen. Sinnstiftung wurde den Lebenden als Treuepflicht umso dringlicher auferlegt, als sonst Kriegsniederlage, Versailler »Schandfriede« und drohender »Bruderkrieg« das Sterben von zwei Millionen getöteter Soldaten sinnlos und den Heldentod zweifelhaft erscheinen lasse. Nicht hinzunehmen sei, dass der Tod auf dem Schlachtfeld, der den kriegerischen Mann auf immer zum Helden adeln sollte, unter den Zeitläuften der Nachkriegszeit entwertet und die gefallenen Soldaten zur tragischen, ja absurden Figur degradiert würden. Um diese Bedrohung abzuwehren und wieder alle Väter mit den Söhnen, alle erwachsenen Männer mit der heranwachsenden männlichen Jugend zu verbinden, gelte es, mit Hilfe der nationalen Trauerfeier in Aller Herzen »ein sprechendes Denkmal« zu errichten. Die wie ein säkularer Märtyrer-Kult zelebrierte Ehrung der Kriegshelden betrachteten diese Kriegsveteranen als Mittel zum Zweck, die Deutschen zu bewegen und zusammenzuschließen, das Feuer der inneren nationalen Einheit neu zu entzünden und jedem Mann wieder seinen Platz in der Nation zuzuweisen. Als ideologisch verlässlicher und propagandistisch einflussreicher Mitstreiter für den Volkstrauertag tat sich neben den Kriegervereinen seit 1924 36 Ebd., 1921, 21.2., S. 207; 21.10., S. 21. 37 Ebd., 1922, 1.4., S. 182. 38 Ebd., 1922, 15.11., S. 61, S. 62.
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von Seiten des Einzelhandels auch der »Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber« hervor. Ihn veranlasste 1924 ganz offensichtlich das mit nationalistischer Orientierung gepaarte geschäftliche Interesse an der Toten- und Kriegerehrung zur Zusammenarbeit mit dem Volksbund, der seine Hilfe anbot, um für Soldatengräber im Ausland Blumenspenden und Kränze zu übermitteln.39 1924 wurde erstmals seit Ende des Krieges in der »Verbandszeitung Deutscher Blumengeschäftsinhaber« zum Totensonntag ausdrücklich der Gefallenen gedacht. 1925 gab es die Mitteilung, dass der 1. März nun ein »Gefallenen-Gedenktag« und eine »machtvolle Kundgebung aller Deutschen Kreise« werde. 1926 bereiteten vier Ausgaben der Zeitung auf den nun Volkstrauertag genannten Gedenktag vor. Der Volkstrauertag sei »ein Mahntag und Weckruf«, um Schluss zu machen mit dem bisherigen Vergessen und Verdrängen; er werde um der deutschen Zukunft willen »Dankbarkeit und Treue« wieder zu Worte kommen lassen.40 1927 deutete das Blatt den für den 13. März angesetzten Volkstrauertag in christ lichen Metaphern: Die »Leidenszeit unseres Volkes« werde enden; »den Opfern naht das Fest der Auferstehung« und der Nation die »Hoffnung auf Auferstehung, geistige Wiedergeburt«.41 Diese Gewissheit erleichterte die Sinndeutung der massenhaften Opfer: »Tausendmal ertönt die Frage: Sind sie umsonst gestorben? Und tausendmal soll die Antwort klingen: Nein, die Opfer waren nicht vergeblich. Ohne zu fragen für wen, ohne Ansehen der Partei sind unsere Truppen … hinausgezogen, für Deutschland zu streiten, um Heim und Herd zu schützen.«42
Der Volkstrauertag offenbare die »allgemeine innere Beteiligung aller deutschen Brüder und Schwestern« und die »Hoffnung auf eine schönere bessere Zukunft.«43 Mit solcher Sinngebung trat die Verbandszeitung der Blumengeschäftsinhaber seit 1925 Jahr für Jahr an, um Opfersinn und nationale Einheit geschäftsfördernd zu beschwören und 1935 statt des Volkstrauertages den Heldengedenktag zu begrüßen. Diese kollektive Selbstvergewisserung könnte als Befreiung von der im Herbst l919 beklagten allgemeinen Rat- und Trostlosigkeit aufgenommen worden sein: 39 Wie Allerseelen und Totensonntag, so brachte auch die Gefallenen-Ehrung den Blumengeschäften und Gärtnereien zusätzliche Umsätze. Die VDB (wie Anm. 10) wies vor dem Trauertag mehrfach auf passende, in den Schaufenstern auszustellende Angebote und Vorbilder hin, bot sinngebende Prosa und Lyrik an und bilanzierte später die geschäftlichen Erfolge. Die angebahnte Zusammenarbeit mit dem Volksbund wird ebd. am 11.7.1924, S. 28, erstmals erwähnt; später werden allerdings vermehrt auch die Dienste der Fleurop empfohlen. Vgl. auch K. Hausen, » … durch die Blume gesprochen«. Naturaneignung und Symbolvermarktung, in: W. Ruppert (Hg.), Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt a. M. 1993, S. 52–78. 40 So VDB (wie Anm. 10), 6.2.1925, S. 118–120; 26.2.1926, S. 189 f. 41 Ebd., 11.2.1927, S. 116. 42 Ebd., 11.3.1927, S. 199. 43 Ebd., 25.2.1927, S. 157 f.
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»Wozu sind die Opfer gebracht, was haben sie unserem armen, in den Staub gebeugten Vaterlande genützt! – Wieder stehen wir, scheinbar zwar dieselben, aber doch so Veränderten, an den alten Gräbern. … ein Abgrund vor unseren Füßen geöffnet, ein Riesengrab, in dem unsere Vergangenheit, Stolz und Ruhm und in den unserer Zukunft Hoffnungen gebettet liegen.«44
Es vergingen zwar noch mehrere Jahre, bis die mit dem Volkstrauertag intendierte moralische Wiederaufrüstung ihre Krönung fand in der militärischen Wiederaufrüstung, die der Nation in Waffen und dem soldatischen Helden erneut zu dem vermeintlich unverzichtbaren Ansehen verhelfen sollte. Doch schon die späten Jahre der Weimarer Republik wurden mit sichtbarem Erfolg genutzt, um das Zeremoniell des Volkstrauertages nach Maßgabe deutschnationaler bis völkischer Vorstellungen immer treffender auf das höhere Ziel der nationalen Gesundung auszurichten. Unter diesem Gesichtspunkt lohnt es, die Inszenierung des Volkstrauertages genauer zu betrachten. 1922 wurde ein »Ausschuß für die Festsetzung eines Volkstrauertages« gebildet, um einen Sonntag im Frühjahr als gesetzlichen Feiertag durchzusetzen.45 Der Ausschuss rekrutierte seine Mitglieder 1924 aus den evangelischen, katholischen und jüdischen Religionsgemeinschaften, den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, den Frauenverbänden, dem Roten Kreuz, dem Kyffhäuserbund, dem Zentralverband Deutscher Kriegsbeschädigter. Den Vorsitz übernahm der Präsident des Volksbundes. Der Ausschuss konnte zwar keinen gesetzlichen Termin für den Volkstrauertag durchsetzen. Aber Halbmastbeflaggung auf den Dienstgebäuden und die Beteiligung von Reichswehr und Reichsmarine an den Veranstaltungen zum Volkstrauertag wurden erreicht. Außerdem wurden »Richtlinien für die Vorbereitung des Volkstrauertages« erarbeitet. Die Organisation und Gestaltung der Festlichkeiten übernahmen die Ortsgruppen des Volksbundes. Diese sollten für größtmögliche Einheitlichkeit der Feiern sorgen, »damit die Feiern am Volkstrauertag in den einzelnen Städten und Gemeinden in ihrer Gesamtheit durch Würde und Wucht Zeugnis ablegen von der Bedeutung dieses Tages«. Auf die Kirchen war einzuwirken, dass die Gottesdienste einen Bezug zum Volkstrauertag herstellten und um 13 Uhr für eine Viertelstunde alle Kirchenglocken läuteten. Die Schulen waren aufgefordert, bereits am Vortag eigene Schulfeiern abzuhalten. Am Volkstrauertag sollten die lokalen Gruppen des Volksbundes mittags oder nachmittags öffentliche Saalfeiern mit musikalischer Umrahmung und Kranzniederlegungen auf den Soldatenfriedhöfen organisieren, für die Kriegsgräberfürsorge werben und Straßensammlungen durchführen. Von Anfang an und überall stand der Volkstrauertag im Zeichen der fünf aufragenden Kreuze, dem Vereinszeichen des Volksbundes. 44 Ebd., 27.10.1919, S. 262. 45 Zum Ausschuss vgl. Jahrbuch 1925/26 (wie Anm. 31), S. lllf., dort auch Abdruck der Richtlinien; speziell zum Volkstrauertag 1925 vgl. Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), Januar 1925, S. 8; Februar, S. 10; März S. 18 f., sowie ein Sonderheft.
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In Ergänzung und als Kontrapunkt zu diesen unterschiedlichen lokalen Aktivitäten gab es in der Reichshauptstadt eine mit reichsweitem Geltungsanspruch gestaltete Zentralfeier.46 Die Berliner Zentralfeier sollte alle sonstigen Inszenierungen des Volkstrauertages überwölben, nationale Einheit demonstrieren, dem Volkstrauertag politische Bedeutung verleihen und damit implizit zugleich die Kritik, dass die Reichsregierung bis zum Ende der Weimarer Republik keinen offiziellen nationalen Gedenk- und Trauertag einzurichten vermochte, Jahr für Jahr öffentlich bekräftigen. Die Berliner Zentralfeier wurde seit 1926 im Radio übertragen und später im Mitteilungsblatt des Volksbundes ausführlich dokumentiert. Der Ort des Berliner Geschehens war bis einschließlich 1932 der Plenarsaal des Reichstags. Blumen-, Kranz- und Fahnenschmuck zierten den Raum. Das Rednerpult wurde im Hintergrund vom Volksbund-Zeichen der fünf Kreuze überragt. Die jährliche Gedenkrede brachte in Variationen die Programmatik des Volkstrauertags zur Sprache.47 Den Abschluss der Feier bildete stets das Lied »Ich hatt’ einen Kameraden«. Um den quasi offiziellen Charakter der Feier zu betonen, berichtete der Volksbund jedes Jahr über die Teilnahme ranghoher Amtsträger, so etwa 1926: »An der Feier im Reichstag nahmen unser Reichspräsident Hindenburg mit der Reichsregierung und zahlreichen Vertretern sonstiger weltlicher und geist licher Behörden sowie der deutschen Körperschaften« teil.48 1927 trugen erstmals Berliner Studentenkorporationen feierlich die alten Fahnen der Berliner Regimenter in den Saal. Diese Fahnenzeremonie wurde 1928 und 1929 wiederholt. Seit 1930 öffnete sich das bis dahin auf den Sitzungssaal des Reichstages beschränkte Szenario des Volkstrauertages nach draußen. Als Neuerung schritt der Reichspräsident, Paul von Hindenburg, nun vor dem Portal des Reichstages die Front einer Ehrenkompanie ab. 1933 ergänzte eine Aufstellung der nationalen Verbände den Vorbeimarsch der Ehrenkompanie; und an die Stelle des Reichstages trat nun als Schauplatz des Geschehens die Berliner Staatsoper Unter den Linden. Die zentrale Feier zum Volkstrauertag in Berlin, der Reichshauptstadt und Hauptstadt Preußens, anzusiedeln, brachte die dort besonders hart ausgetragenen innen- und außenpolitischen Gegensätze mit auf die Bühne des Festgesche46 Vgl. die ebd. jedes Jahr veröffentlichten Fotos und Berichte über die Zentralfeier. 47 Von 1924 bis 1927 bewährte sich der Präsident des Volksbundes, Pfarrer Fritz Siems als Redner mit deutlich revisionistischen Tönen. Auf ihn folgte als Präsident des Volksbundes von 1928 bis 1932 Dr. Otto Geßler. Geßler, der von 1920 bis 1928 als dem Militär zugewandter Reichswehrminister gewirkt hatte, trat nur 1929 auf. 1928 redete Monsignore Dr. Kreutzer, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, 1930 der Geheime Justizrat Prof. Dr. Dr. Wilhelm Kahle, Reichstagsabgordneter der Deutschen Volkspartei, 1931 Dr. Siegfried Emmo Eulen, Generalsekretär und Schriftführer des Volksbundes, 1932 Feldpropst Dr. Erich Schlegel, stellvertretender Präsident des Volksbundes, 1933 Divisionspfarrer z. D. Eduard Schaack, Vorsitzender der Konstanzer Ortgruppe des Volksbundes. 48 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), April 1926, S. 50.
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hens. Mit dem Rücktritt des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers, Hermann Müller, im März 1930, begann unter den verschärften Bedingungen der Weltwirtschaftskrise die politische Demontage der Weimarer Republik. Preußen, das größte Reichsland, behielt zunächst noch seine sozialdemokratische Regierung. Diese versuchte 1930, mit Hinweis auf die »traditionellen Toten-Gedenktage«, dem durch »eine private Organisation« veranstalteten Volkstrauertag das Wasser abzugraben, indem beantragte Geldsammlungen auf Friedhöfen nicht bewilligt und das in Preußen geltende Umzugsverbot auch auf »geschlossene An- und Abmärsche« bei den Trauerkundgebungen angewandt wurde.49 Reichskanzler von Papen machte am 20. Juli 1932 per Staatstreich auch dieser demokratischen Bastion ein Ende.50 In der Berliner Öffentlichkeit trat immer deutlicher die Tendenz zu demonstrativem Aktionismus und Militarismus zu Tage. Eine Episode wirft ein Schlaglicht auf die politisch gewendete Situation. 1930 hatte der Amerikaner Lewis Milestone den Roman »Im Westen nichts Neues« verfilmt. Gegen die Berliner Uraufführung dieses Films Anfang Dezember 1930 machten an mehreren Tagen die Nationalsozialisten im Kinosaal und auf der Straße mobil. Das nationalistische Lager attackierte den Film als »Schmachfilm« und »Hetzfilm« und forderte ein Aufführungsverbot. Die angerufene staatliche Film-Oberprüfstelle verhängte, ungeachtet aller positiven Kommentierung des Filmes in der liberalen und sozialdemokratischen Presse, aber gestützt durch Stellungnahmen des Reichswehrministeriums, des Auswärtigen Amtes und des Reichsinnenministeriums sowie durch Voten der Regierungen von Sachsen, Thüringen und Bayern, ein Aufführungsverbot für den Film, mit der Begründung, der Film gefährde das deutsche Ansehen im Ausland und setze das deutsche Heer herab. Aufgrund einer Revision dieser Entscheidung konnte der Film seit Juni 1931 wieder in geschlossenen Veranstaltungen und seit September 1931 in gekürzter Fassung auch öffentlich gezeigt werden. Das Aufführungsverbot wurde nach der NS-Machtergreifung umgehend erneuert.51 Die Promotoren des Volks-
49 Vgl. ebd., April 1930, S. 67 f. Abdruck einer Presseerklärung der Preußischen Regierung, dazu Stellungnahme des Volksbund-Präsidenten Geßler und Bericht über Preußens restriktive Politik. O. Braun, Von Weimar zu Hitler, Hamburg 1949, S. 198–200, misst in seinem knapp gehaltenen Rückblick auch Volkstrauertag und Ehrenmal historische Bedeutung bei. 50 Der durch Reichskanzler von Papen als Ministerpräsident Preußens abgesetzte Sozialdemokrat Otto Braun hatte sich seit 1929 für die Ausgestaltung der Schinkelschen Neuen Wache zu einer »Gedächtnisstätte für die Gefallenen des Weltkrieges« eingesetzt. Nach einem Architektenwettbewerb wurde Heinrich von Tessenow mit dem Umbau beauftragt. An der feierlichen Eröffnung im Juni 1931 nahmen die Preußische Regierung, der Reichspräsident von Hindenburg und der Reichswehrminister Groener teil, nicht aber die Generäle; vgl. L. Demps, Die Neue Wache. Entstehung und Geschichte eines Bauwerkes, Berlin 1988, S. 103–132; Lurz, Kriegerdenkmäler (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 85–100. 51 Vgl. Müller (wie Anm. 7), S. 79 f.; K. Petersen, Zensur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1995, S. 263–65.
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trauertages agierten als Teil dieser Entwicklungen, und der kräftige deutschnationale bis völkische Rückenwind erleichterte es, den Volkstrauertag nun konsequent nach Maßgabe des politischen Rechtsrucks auszugestalten.
4. Vom Volkstrauertag zum Heldengedenktag und zurück zum Volkstrauertag 1934 wurde der Volkstrauertag ganz im Sinne der zentralen Geschäftsführung des Volksbundes zum gesetzlichen Feiertag erhoben und in »Heldengedenktag« umbenannt.52 1935 wurde der Heldengedenktag noch wie bisher vor Ostern am Sonntag Reminiscere, ab 1936 aber am nächst gelegenen Sonntag zum 16. März, dem Tag der Wehrfreiheit, gefeiert. Die Zuständigkeit für die Feiern lag nun nicht mehr beim Volksbund, der anfangs noch Zuarbeit leistete, sondern bei der Wehrmacht.53 Zum Heldengedenktag am 17.3.1935 wurden, nachdem am 13.1. das Saargebiet durch Abstimmung wieder in das Reich eingegliedert und am 16.3. die allgemeine Wehrpflicht verkündet worden war, in allen Standorten der Wehrmacht militärische Gedenkfeiern angeordnet. Demonstrative Militarisierung und Nazifizierung prägte auch die zentrale Berliner Gedenkfeier. Die Feier fand bis zum Krieg vor und in der Berliner Staatsoper statt. Die Kulisse hinter dem Rednerpult schmückten nicht länger die fünf aufragenden Kreuze, sondern in Großformat zwei Hakenkreuze und zwei Eiserne Kreuze. Der Vorbeimarsch der Ehrenkompanie wurde gewichtiger. Der Grundton aller Feiern war nun Stolz und Verherrlichung des heldischen Lebens. Die Gedenkrede hielt 1934 bis 1937 der Reichswehr- bzw. Reichskriegsminister, Generaloberst von Blomberg. Nach dessen Entlassung übernahm Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht diese Aufgabe. Der erste Heldengedenktag im Zweiten Weltkrieg wurde am 10.3.1940 im Lichthof des Berliner Zeughauses wie eine Siegesfeier zelebriert, und Hitler forderte von allen Deutschen höchste Opferbereitschaft, um sich dem Opfer der gefallenen Helden würdig zu er weisen.54 Im Sommer 1940 wurden alle Ortsgruppen der NSDAP angewiesen, sich vor Ort und nicht nur am Heldengedenktag konkurrierend zu 52 Zur NS-Zeit vgl. Lurz, Kriegerdenkmäler (wie Anm. 3), Bd. 5, S. 384- 388; Schellack (wie Anm. 13), S. 297–306, 340–345. Beide Autoren betonen die Affinitäten bzw. Kooperationen zwischen Eulen als Präsident, seit Ende 1933 Bundesführer des Volksbundes, und NS-Reichsregierung. Zilien (wie Anm. 20), S. 466–468, charakterisiert den Volksbund der Weimarer Zeit als antidemokratisch, republikfeindlich, aber nicht antisemitisch. Feichtner (wie Anm. 20), S. 38 f., bestätigt Eulens Nähe zum Führerstaat, unterstreicht aber die im Volksbund politisch stark divergierenden Richtungen. Vgl. außerdem S. Behrenbeck, Der Kult der toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vieroch 1996. 53 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), März 1935, S. 36. 54 Ebd., April 1940, S. 50 f.
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den Kirchen verstärkt der Gefallenen-Ehrung anzunehmen, was auch die bisherige Alleinzuständigkeit der Wehrmacht beschnitt.55 Angesichts der ausbleibenden Siege beschränkte sich das Berliner Zeremoniell am Heldengedenktag 1944 schließlich auf eine ohne Publikum erfolgte Kranzniederlegung am Ehrenmal der Neuen Wache.56 Der Volksbund erlebte während des »Dritten Reichs« keineswegs, wie er später suggerierte, seine Auflösung, sondern einen deutlichen Aufschwung, will man seinen bereits genannten Zahlen glauben.57 Er konzentrierte seine nun im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht ausgeführte »Kulturarbeit« darauf, dem Heer der Toten würdevolle Denkmäler zu schaffen und die Soldatenfriedhöfe rund um das Reich zu »weihevollen Gedächtnisstätten auszugestalten«, die das Reich wie ein Schutzwall umgeben sollten.58 Ein bereits 1921 in Worte gefasstes Bild von den Helden, die »mit ihren Leibern einen undurchdringlichen Wall um unser geliebtes Vaterland gebildet haben«59, wurde nun in monumentale Bauwerke und Anlagen übersetzt.60 Im Mitteilungsblatt des Volksbundes ist noch 1944 ungebrochen von der »heldischen Lebensauffassung« die Rede. Der langjährige Bundesführer Eulen feierte, bevor auch ihn im Januar 1945 der »Heldentod« ereilte, in seinen Geleitworten zum Jahresbeginn die nationalsozialistischen Triumphe, so beispielsweise 1941: »Der Führer hat das deutsche Volk geeint und in wunderbarem Siegeslauf vor neue, große Aufgaben gestellt. Die kostbare Saat unserer Toten des Weltkriegs und der Nachkriegsjahre ist gereift. Das »umsonst«, in das volks- und artfremde Machthaber das Opfer unserer besten Söhne umzufälschen versuchten, ist in ein glühendes Bekenntnis zur Verherrlichung dieses Einsatzes umgewandelt.«61
In Kenntnis des 1933 vergleichsweise friktionslos in die NS-Dienste eingetretenen Volksbundes ist es verblüffend, dass seit Oktober 1949 dessen Zeitschrift wieder unter dem alten Titel »Kriegsgräberfürsorge. Mitteilungen und Berichte vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge« und mit fortlaufender Jahrgangszählung erscheinen konnte. Der Volksbund hatte schon 1946 begonnen, sich aus den Trümmern des »Dritten Reiches« herauszuarbeiten, kam mit dem 55 56 57 58
Vgl. Schellack (wie Anm. 13), S. 340–343. Vgl. Lurz, Kriegerdenkmäler (wie Anm. 3), Bd. 5, 385–388; Schellack (wie Anm. 13), 284–345. Siehe Text vor Anm 26 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), März 1936, S. 1, Eulens Geleitwort zum Heldengedenktag: »Rings um das Reich« hätten die Gefallenen »mit ihren Leibern einen Ring um das Vaterland geschmiedet, hier haben sie ewige Wache bezogen, als wollten sie die Heimat noch im Tode schirmen.« Ähnlich ebd., November 1929, S. 168. 59 Badische Krieger-Zeitung, 1921 S.185. 60 Vgl. auch M. Kuberek, Die Kriegsgräberstätten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, in: Hütt (wie Anm. 3), S. 75–90, die zu Recht hervorhebt, der Verzicht auf Einzelgräber sei keineswegs nur eine Kostenfrage, sondern in seiner Monumentalität auch ideologisches Programm und Mittel gewesen, den deprimierenden Anblick massenhafter Gräber zu vermeiden. 61 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), Januar 1941, S. 1.
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Wiederaufbau der Organisation allerdings nur in den Westzonen zum Zuge.62 Stärker als nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Volksbund nach dem Zweiten Weltkrieg als Auskunftsstelle unentbehrlich für alle, die nach dem Verbleib ihrer aus dem Kriegseinsatz nicht zurück gekehrten Angehörigen fragten. Noch bevor er in den westlichen Besatzungszonen als Organisation wieder zugelassen und als Nachfolge für die Wehrmachtsauskunftstelle akzeptiert war, begannen einzelne Mitglieder bereits vor Ort damit, Erkennungsmarken gefallener Soldaten zu sammeln und zu entschlüsseln, Gräber nachzuweisen, die Zentralgräberkartei weiter zu führen und später, sobald es möglich wurde, alte Auslandsbeziehungen wieder aufzunehmen und nach 1949 schließlich auch bei der staatlichen Neuregelung der Kriegsgräberfürsorge mitzuwirken.63 Mit den seit Jahren bewährten Personen, die sich nach 1945 für den Fortbestand der Organisation engagierten, wurden zunächst auch alte Vorstellungen wieder belebt. Das Mitteilungsblatt erinnerte 1949 umstandslos an das nach dem Ersten Weltkrieg vollbrachte nationale Auferstehungswunder und an den Gründungsvater Siegfried Emmo Eulen, dessen später noch jahrelang mit der als Ehrenzeichen verdienten Mitgliedern übergebenen Siegfried-EmmoEulen-Plakette gedacht wurde.64 Programmatisch verkündete im Oktober 1949 das Geleitwort zur ersten Nummer die Hoffnung, »daß der Volksbund wieder das wird, was er einst war: ein Bund des ganzen deutschen Volkes, der das Andenken an die Opfer des Krieges in Treue und Ehrfurcht wahrt und als Mahnung zum Frieden allzeit erhält.«65 Diese »Mahnung zum Frieden« war zweifellos eine in die Zukunft weisende Neuerung, auch wenn hierfür eine Tradition reklamiert wurde, die mitnichten den Volksbund der Weimarer Republik und schon gar nicht den der NS-Zeit ausgezeichnet hatte. Der Volksbund suchte von Anfang an, seine Zuständigkeit für die Kriegsgräberfürsorge erneut mit der für den Volkstrauertag zu verbinden. Im Februar 1950 bereitete in der Bundesrepublik ein Artikel zur Frage »Warum Volkstrauertag?« auf die am 5. März 1950 erstmals nach Kriegsende wieder vom Volksbund gestaltete zentrale Feier zum Volkstrauertag vor.66 Bereits im September 1949 hatten Parteien des rechten Flügels im Bundestag einen Antrag für einen gesetzlichen Volkstrauertag am Sonntag Reminiscere eingebracht und damit 62 Zur Nachkriegsgeschichte des Volksbundes vgl. zusätzlich zu den Titeln in Anm. 20 auch informativ, aber unkritisch G. K. M. C. Desmarest, Die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Ein Beispiel für die Praxis der deutsch-französischen Aussöhnung 1945–1975, Diss. phil. Freie Universität Berlin 1977; demgegenüber stellt M. Wittig, »Der Tod hat alle Unterschiede ausgelöscht«. Anmerkungen zur Geschichte und Ideologie des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach 1945, in: Hütt (wie Anm. 3), S. 91–98, für die 1950er und 1960er Jahre die Kontinuitäten zur NS-Zeit und die weiterhin fragwürdige Opferrhetorik heraus. 63 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), Oktober 1949, S. 2–4, 64 Ebd., Dezember 1949, S. 19. 65 Ebd., Oktober 1949, S.2. 66 Ebd., Februar 1950, S. 11 f.
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die in der Weimarer Republik ungelöste Frage der Zuständigkeit für einen solchen Feiertag erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Eine im April 1951 vom Bundesinnenminister einberufene Besprechung zwischen den Innenministern der Länder sowie Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche, des Volksbundes und der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten führte schließlich zu der einvernehmlichen und dauerhaft befolgten Empfehlung, ab 1952 in der gesamten Bundesrepublik den Volkstrauertag jeweils am zweiten Sonntag vor dem ersten Advent zu feiern.67 Der Volksbund realisierte im Vorgriff schon 1950 eine zentrale Feier zum Volkstrauertag. Die Feier fand im Plenarsaal des Bundestages statt, setzte im Zeichen der fünf Kreuze die Rituale der Weimarer Tradition fort und betrieb in Kommentaren und Reden mit Verschweigen und Ausblenden die Verdrängung der NS-Vergangenheit. Im Februar 1950 begründete der Volksbund die Ausgangssituation für die Wiederbelebung des Volkstrauertages mit folgender Zeitdiagnose: »Wenn ein Volk in einem der größten und furchtbarsten Kriege der Geschichte sechs Jahre lang um sein Leben gekämpft hat, wenn Millionen Soldaten an allen Fronten fielen, Millionen von Frauen und Kinder in der Heimat und auf der Flucht aus dem Osten – dann ist es seelisch unmöglich für dieses Volk, gleich wieder zum Alltag der Arbeit und des Vergnügens zurückzukehren, als ob nichts von Bedeutung geschehen wäre. … In diesem Jahr heißt unser Wille: Zurück zum alten Volkstrauertag als einer Todes- und Lebensfeier des ganzen geeinten Volkes, geeint in seinen gegenwärtigen und vergangenen Generationen, verbunden in unzerstörbarer Liebe mit denen draußen, die in höchster Ehre für ihre Heimat gefallen sind.«68
Ganz im Sinne dieser Strategie des Einschwörens auf eine unverdächtige politische Tradition wurde im Geleitwort zum Volkstrauertag am 5. März 1950 unter der Überschrift »Volkstrauertag – heute wie vor 28 Jahren« die 1922 bei einer Volksbund-Feier im Reichstag gehaltene kurze Rede des damaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe abgedruckt. Damit erteilte das Verbandsblatt einem 1950 bestens vorzeigbaren Redner das Wort. Der Sozialdemokrat Paul Löbe (1875–1967) erwarb als gewählter, von 1920 bis 1932 fast durchgehend amtierender Reichstagspräsident großes Ansehen, wurde von den Nationalsozialisten zweimal inhaftiert, hatte Kontakt zum Widerstand, gehörte 1948 als Berliner mit Sonderstatus dem Parlamentarischen Rat und später dem Bundestag an. Seine damalige Rede war politisch ebenfalls unverdächtig. Löbe intonierte 1922 durchaus pathetisch die »Weihestunde« zu »gemeinsamem Gedenken«, vermied aber tunlichst, das gängige Bild der Helden, die sich geopfert haben. Er rief zwar dazu auf, »die Toten zu ehren«, benannte aber das »Massensterben durch körperliche Gewalt« und sprach von denen, »die in der Schlacht gefällt wurden.« Er erinnerte an die Gräber der »deutschen Söhne« an den Weltkriegs67 Vgl. Petersen (wie Anm. 19), S. 17 f. 68 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), Februar, 1950, S. ll.
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fronten und sprach zugleich vom fernen Grab, das die Witwe nicht pflegen kann, aber dessen sich »vielleicht die Hand der fremden Mutter« annimmt, und vom Schmerz der Mütter »an der Wolga und am Tiber … an der Donau und am Rhein«. Nicht zuletzt bekräftigte er die Berechtigung und Notwendigkeit, in Deutschland »mit Innigkeit der bekannten und unbekannten Opfer zu gedenken«, um so »die Vorurteile von Gefühllosigkeit und Barbarentum, die eine ganze Welt gegen uns geschleudert«, zu überwinden. Doch er forderte zugleich, aus der Gemeinsamkeit von Schmerz und Leid ein »gemeinsames Band zu schlingen« und damit für »unsere Welt« die »Abkehr vom Haß« und die »Hinkehr zur Liebe« anzubahnen, um so aus dem derzeit »dunklen Tal« schließlich wieder »zu lichten Höhen« zu gelangen.69 In der Tat war Paul Löbes Rede 1950 bestens geeignet, um dem Volkstrauertag eine unverdächtige Volksbund-Tradition anzudichten. Dennoch überrascht der Rückgriff auf diese Rede, denn Paul Löbe hatte 1922 nicht als engagierter Volksbund-Vorkämpfer, sondern als Reichstagspräsident die Gedenkrede gehalten, und der Volksbund hatte vor 1933 dieser ersten zentralen Gedenkfeier für die Gründungsgeschichte des Volkstrauertages kaum Bedeutung beigemessen. Für den Volksbund aber war es 1950 in jedem Fall zweckdienlich, Paul Löbes Rede als Volksbund-Tradition zu vereinnahmen, um den nicht zuletzt wegen der Spendensammlungen unverzichtbaren Volkstrauertag erneut in der Bundesrepublik zu verankern. Allerdings gehörte 1950 eine aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbare Selbstgerechtigkeit dazu, beim Vergleich mit 1922 völlig davon abzusehen, dass sich Deutschland durch Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg innen- und außenpolitisch in weitaus extremerer Weise als im Ersten Weltkrieg schuldig gemacht hatte. Für die erneute Etablierung von Volksbund und Volkstrauertag in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik und für das erklärte Vorhaben, mit dem Volkstrauertag wieder die Einheit aller Deutschen zu stärken, aber war es mit Sicherheit förderlich, den Volkstrauertag wieder so einzuführen und zu begehen, dass die dringliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und den Millionen der von Deutschen ermordeten Menschen dabei nicht zur Sprache kam. Die seit Jahrzehnten eingeübte Zentrierung der Gedenkfeiern zum Volkstrauertag auf die getöteten Soldaten wird das nachhaltige Ausblenden erleichtert haben. Das Lied »Ich hatt’ einen Kameraden« gehörte seit dem 19. Jahrhundert fest zum Ritual der Bestattung und Ehrung von Gefallenen und später auch zum Ritual der Volkstrauertage. Auch der Umstand, dass während der Feiern die Kriegsgräberfürsorge des Volksbundes lobend herausgestellt und dafür Geldsammlungen durchgeführt wurden, lenkte die Aufmerksamkeit nachdrücklich auf die Gefallenen. Es war zwar nach 1945 nicht mehr üblich, die toten Soldaten zu heroisieren und Helden zu nennen. Die um Sinngebung bemühten Artikelschreiber und Festredner des Volksbundes aber sprachen weiter von den
69 Ebd., S. 18.
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deutschen Soldaten als Männern, die gegenüber ihrem Vaterland in Treue ihre Pflicht erfüllt und sich geopfert hätten. Der Ehrenpräsident des Volksbundes Wilhelm Ahlhorn70 bediente sich 1950 bei seiner Gedenkrede im Bundeshaus noch ohne Zögern der sinngebenden Redeweisen früherer Jahrzehnte, als er erklärte, »der Opfermut, der Wille zur Selbsthingabe für die anderen, hier für Volk und Vaterland« sei das, was zähle; aus »Herzensgüte und Pflichttreue« und daraus erwachsender »Opferbereitschaft« seien »unsere deutschen Männer in den Krieg gezogen«. Mit Schweigen überging Ahlhorn, dass deutsche Soldaten für die Aggressionen der nationalsozialistischen Kriegs- und darin eingeschriebenen Rassenpolitik im Einsatz waren. Seiner Fixierung des Gedenkens auf Soldaten als vorrangige Opfergruppe – als Gefallene, Heimkehrer, Kriegsgefangene und deren Angehörige – entsprach außerdem, dass Ahlhorn die Toten und Opfer in der Zivilbevölkerung nur am Rande kurz erwähnte: »Wir gedenken … auch der zahllosen Männer, Frauen und Kinder, die in den Feuernächten des Bombenkrieges ihr Leben verloren, die auf der Flucht zugrunde gingen, und die ein Opfer ihres Kampfes um Kultur und Freiheit unseres Volkes wurden.«
Die Toten in den von Deutschen mit Krieg überzogenen Gebieten erwähnte Ahlhorn überhaupt nicht, stattdessen verstieg er sich zu dem skandalösen Vergleich: »Kein Volk hatte in Kriegszeiten so schwere Opfer zu bringen wie das deutsche! Kein anderes Volk ist vom Schicksal in solchem Maße in die Mitte der Spannungen und der Gefahren gestellt gewesen wie das deutsche!«71
Als mit dem Koreakrieg eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zum politisch brisanten Thema wurde, lag die weitere Ausgestaltung der zentralen Feier zum Volkstrauertag bald nicht mehr allein beim Volksbund. Zu einem sensibleren Umgang mit den sinnstiftenden Traditionsbeständen kam es bereits 1951. Die Gedenkrede hielt nun der Präsident des Bundestages, der Christdemokrat Dr. Hermann Ehlers. Ehlers sprach nach ausführlicher Würdigung der Kriegsgräberfürsorge des Volksbundes und nach entschiedener Abwehr »einer falschen Heroisierung unserer Toten an der Front« sowohl über das Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung, als auch über das Recht und die Notwendigkeit eines Totengedenkens, sofern dieses nicht »den Tod von Millionen von Soldaten und Nichtsoldaten« als Mittel zur Rechtfertigung oder Verwischung der ursäch70 A. F. Wilhelm Ahlhorn (1873–1968), national-konservativer Jurist, im Mai 1933 als in Berlin tätiger Staatsrat in Ruhestand versetzt; seitdem ehrenamtlich im Vorstand des Volksbundes tätig; nachdem bei der Bombardierung Berlins im Februar 1945 Frau und Tochter den Tod fanden, Übersiedlung nach Oldenburg; dort aktiver Einsatz für erneuten Aufbau des Volksbundes; 1946–1949 dessen Präsident, seit 1950 Ehrenpräsident. Wilhelms Bruder Gustav (1886–1971) war von 1952–1959 Volksbund-Präsident, vgl. Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, i. A. der Oldenburgischen Landschaft, H. Friedl u. a. (Hg.), Oldenburg 1992, S. 19 f. 71 Kriegsgräberfürsorge (wie Anm. 18), April 1950, Beilage.
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lichen politischen Gewalt missbraucht. Nach dieser Vorbereitung rief er zum stillen Gedenken der Soldaten, der Widerstandleistenden, der bei Flucht und Vertreibung Umgekommenen auf. Anschließend schlug er einen kühnen Bogen erstens zu dem in der Bundesrepublik anstehenden Gesetz zur Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen und zweitens zu der Notwendigkeit einer politischen Weltordnung, die allen Völkern Frieden, Wohlfahrt und Gerechtigkeit zu sichern vermag. Doch auch Ehlers vermied es, die im Bundeshaus und an den Radios zur Gedenkveranstaltung Versammelten mit Aussagen über die deutschen Verbrechen der brutalen, räuberischen Kriegszüge und der rassenpolitisch motivierten millionenfachen Ermordungen vor allem jüdischer Menschen zu konfrontieren.72 1952 wurde der Volkstrauertag erstmals bundesweit im November zwischen Allerseelen und Totensonntag begangen. Eine gemeinsame Empfehlung der Bundes- und der Länderregierungen hatte ihn zum nahezu offiziellen Feiertag erklärt. Es gab einen offiziellen Aufruf »Aufruf zum Volkstrauertag 1952«, Unterzeichner waren der Bundespräsident, Bundeskanzler, Bundestagspräsident, Bundesratspräsident, Bundesinnenminister, Präsident des Deutschen Städtetages, Erzbischof von Köln, Vorsitzende des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland. Im Aufruf wurde nicht die Zuständigkeit des Volksbundes für den Volkstrauertag angesprochen, wohl aber dessen Fürsorge für die Soldatengräber mit der Erläuterung: »Diese Arbeit dient dem Frieden in der seelischen Stärkung der Hinterbliebenen und der Verständigung der Völker.« Die Gedenkrede hielt Theodor Heuss als Bundespräsident und neuer Schirmherr des Volksbundes. Heuss sprach das bislang Ausgeblendete erstmals offen an: Er wolle »die Gefallenen auf den Schlachtfeldern, die Toten der Bombenangriffe, die Opfer in den Konzentrationslagern und die Toten auf den jüdischen Friedhöfen auf eine Stufe stellen. Hier endet jede Heroisierung, und es bleibt nur ein grenzenloses Leid.«73 Anders als 1952 betonte der Volksbund jedoch 1953 wieder nachdrücklich seine Zuständigkeit für den Volkstrauertag. Bereits im Geleitwort zum neuen Jahr erklärte der neue Präsident des Volksbundes Gustav Ahlhorn, ein Bruder von Wilhelm Ahlhorn: »Als Träger dieser Feiern hat der Volksbund darüber zu wachen, daß der wahre Sinn solchen Gedächtnistages gewahrt wird: die tiefe innere Verbundenheit mit den Hinterbliebenen der Kriegsopfer sowie das Bekenntnis zum Vermächtnis der Toten, das die Größe ihres Opfers wach erhält und zugleich zur Völkerversöhnung und zum Frieden im Geiste wahrer Menschenwürde und Nächstenliebe mahnt.«74 72 Ebd., März 1951, Beilage. 73 Ebd., Dezember 1952, S. 141–146, Bericht über den Volkstrauertag 1952; dort S. 143 Schirmherrschaft seit dem 15.11.1952; S. 142 Aufruf und Zitat aus dem in indirekter Rede gehaltenen Bericht über die Heuss-Rede, der offenbar wörtliche Übernahmen enthält, diese aber nicht kennzeichnet. 74 Ebd., Januar 1953, S. 3; zu G. Ahlhorn siehe Anm. 70.
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Der Anspruch wurde im Aufruf zum Volkstrauertag am 15. November 1953 bekräftigt und gleichzeitig präzisiert, wer an diesem »Trauertag des ganzen Volkes« in das Gedenken eingeschlossen und damit implizit wer ausgeschlossen sein sollte: »die deutsche Bevölkerung gedenkt der Kriegstoten; der gefallenen Kameraden an den Fronten draußen und drinnen, der in den Bombennächten und im Chaos umgekommenen Männer, Frauen und Kinder in der Heimat und der für ihre Überzeugung Gestorbenen.«75
Bezeichnenderweise wurde der übliche Bericht über den Volkstrauertag unter der Überschrift »Ich hatt’ einen Kameraden » und mit der Erläuterung, überall »gedachten die Deutschen der Gefallenen« veröffentlicht. Die im Vorfeld vermutlich zwischen Volksbund und Bundesregierung über die Gestaltung der zentralen Feier in Bonn ausgetragenen Konflikte führten zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Feierstunden, wie es im Bericht hieß, einen »besonderen und bisher ungewohnten Charakter hatten.« Nach der halbstündigen Zeremonie einer sorgfältig inszenierten »Kranzniederlegung auf dem Ehrenteil des Bonner Nordfriedhofs« im Beisein von Bundeskanzler Adenauer begaben sich Alle zu der um 12 Uhr beginnenden Feier in den Plenarsaal des Bundeshauses. Im Saal sorgte das auf der Regierungsbank links vom Bundesadler angebrachte Volksbund-Zeichen der fünf Kreuze für »visuellen Halt« und an der Stirnseite »das reine Weiß hunderter Chrysanthemen vor dem grünen Hintergrund prächtiger Lorbeerbäume« zusätzlich für erwünschte Sammlung. Für »die tausend in Stille versammelten Menschen«, darunter eigens erwähnte »20 Kriegswaisen«, bot das Programm erstmals keine Gedenkrede, sondern nur feierliche Musik, Rezitationen und zum Schluss das im Stehen gemeinsam gesungene Lied »Ich hatt’ einen Kameraden«, von dem im Bericht behauptet wird, dass es »den Müttern jene tröstliche Kameradschaft vermittelt, in die Männer und Söhne eingeschlossen waren, bis sie von dieser Erde gingen.«76 Es bedurfte im Volksbund erheblicher, auch personeller Veränderung bei Führung und Mitgliedern, bevor sich in den 1960er Jahren allmählich eine kritische Revision des lange vornehmlich auf deutsche Soldaten als Opfer ausgerichteten Volkstrauertags-Programms anbahnen konnte. Die Studentenbewegung scheint dabei wirkungsvoll nachgeholfen zu haben, indem sie seit Ende der 1960er Jahre die allgemeine Bewusstmachung und Sensibilisierung gegenüber der NS-Vergangenheit nachdrücklich vorantrieb und den Volkstrauertag sowie die damit einhergehende lokale Gefallenenehrung an Kriegerdenkmälern und Ehrenfriedhöfen öffentlich kritisierte und desavouierte. Als Ergebnis dieser kritischen Revisionen wurde der Volkstrauertag nicht abgeschafft, wohl aber einschneidend verändert. Am Volkstrauertag umfasst seitdem das 75 Ebd., November 1953 S. 163. 76 Ebd., Dezember 1953, S. 179–182; Zitate S. 179 f.
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öffentliche Gedenken und Trauern nun alle Kinder, Frauen und Männern aller Nationen und überall in der Welt, die Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft, Terror und brutaler Diskriminierung geworden sind oder noch werden. Dieses aus gutem Grund umfassende Gedenkprogramm hat allerdings zur Folge, dass die sehr spezielle eigene nationale und nationalsozialistische Vergangenheit zwar darin aufgehoben ist, aber gleichzeitig am Volkstrauertag kaum eigens bedacht werden muss, ja, umstandslos auch wieder zum Verschwinden gebracht werden kann.
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Die Dankesschuld des Vaterlandes für die Witwen und Waisen der Kriegshelden des Ersten Weltkriegs * 1
1930 schrieb eine 46-jährige Kriegerwitwe über ihr Leben: »Nach 5 Jahren glücklicher Ehe wurde mein Mann im August 1914 zum Kriegsdienst eingezogen. Er ließ mich mit drei Kindern im Alter von 1, 2 und 3 Jahren in der Heimat zurück. 1916, im September, wurde er verwundet und im Dezember darauf auf ein Vierteljahr zur Arbeit in die Heimat reklamiert. Am 17. März starb er an den Folgen des Krieges. Ich war damals 10 Wochen schwanger. … Der größte Junge kam Ostern darauf in die Schule. 6 Monate lang mußte ich Armenunterstützung in Anspruch nehmen, da die Kriegsdienstbeschädigung erst geprüft wurde. Ich erhielt 16,– M. wöchentliche Unterstützung und die Miete. Das Geld, weil schon sehr entwertet, langte nur zum allernotwendigsten Lebensunterhalt. An Kleidung und sonstige Anschaffungen war nicht zu denken. … Am 24.9. kam der letzte Bub zur Welt, also ein Kind, das seinen Vater nie gekannt hat. Am 26.9., also am 2. Tag des Wochenbettes, bekam ich die Zusicherung der Rente. … So konnte ich meine Kinder selbst erziehen und nebenbei Heimarbeit verrichten.«
Der inzwischen 20-jährige älteste Sohn absolvierte das Gymnasium, konnte aber aus Geldmangel nicht studieren. Er machte eine Schlosserlehre und besuchte gleichzeitig für drei Jahre eine Schule für Gewerbelehrerbildung. »Im Strickmaschinenbau arbeitete er dann weiter bis die schlechte Wirtschaftslage ihn zur Arbeitslosigkeit zwang. … Jetzt ist er auf Wanderschaft, weil er in der Arbeitslosenfürsorge ausgesteuert ist und uns nicht zur Last fallen will. … Max, der zweite Sohn, hat das Modelltischlerhandwerk erlernt und wurde am Schlusse der Lehrzeit wegen Arbeitsmangel entlassen. Nach 6 Monaten Arbeitslosigkeit mit 7,80 M. Unterstützung betätigt er sich bis heute als Markthelfer mit einem Lohn von 20 M. pro Woche. … Rudi, der dritte Sohn, lernte Zimmermann und mußte auch, als er ausgelernt hatte, sich arbeitslos melden und ist es heute noch. 13,20 M. Unterstützung. Er
* Dieser Beitrag wurde 1984 für den Workshop »Women an War« am Center for European Studies at Harvard University ausgearbeitet. Bislang erschien nur eine stark gekürzte Fassung unter dem Titel: The German Nation’s Obligation to the Heroe’s Widows of World War I, in: M. R. Higonnet u. a. (Hg.), Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven 1987, S. 124–140. Für die Veröffentlichung in deutscher Sprache wurde das vorliegende ausführlichere Manuskript durchgesehen, aber keine Einarbeitung des aktuellen Forschungsstandes vorgenommen.
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erhält noch bis Februar 1931 19,– M. Rente und 5,– M. Zusatzrente. Er wird im Februar 18 Jahre alt. Anfang Dezember wird er ausgesteuert und kann dann bis Februar von seiner Rente (29 M. monatlich) leben. … Der Kleine besucht noch die Schule. Er ist 13 Jahre alt. … Durch den Krieg mußte ich aber um die knappe Rente zu verbessern, arbeiten bis zum Erliegen. So mußte ich, nach langer Entbehrung und vieler Arbeit im Jahre 1923 … alles im Stich lassen und an meine Gesundheit denken. Nach 5 Wochen schwerer Krankheit (völliger Nervenzusammenbruch, Folgen von Erkältung, Unterernährung und starke Blutarmut) im Hause, mußte ich zur vollständigen Ruhe in ein Krankenhaus und später noch vier Wochen zu einer Kur. Als die Kinder noch klein waren, hoffte ich immer, daß es später, wenn sie groß sind und selbst verdienen könnten, besser würde. … Seit 2 Jahren kann ich nichts mehr verdienen, da mein Haushalt mich jetzt anders in Anspruch nimmt als früher, da die Kinder noch klein waren. Außerdem bin ich 46 Jahre alt und habe nach so einem sorgen- und arbeitsreichen Leben nicht mehr so viel Kraft.«1
Nach 16 Jahren gelebter Kriegs- und Nachkriegsgeschichte blieb dieser Kriegerwitwe schließlich nicht einmal mehr die Hoffnung, dass es später, wenn die Kinder groß sind, besser sein würde. Die Weltwirtschaftskrise eröffnete ihr stattdessen nur noch die Aussicht auf weitere Verarmung. Frauen, deren Mann im Krieg getötet wurde, und insbesondere Witwen mit kleinen Kindern hatten in ihrem weiteren Leben die Kosten des Ersten Weltkrieges Tag für Tag zu schultern. Zusammen mit Kriegsbeschädigten, mit Ehefrauen von Schwerkriegsbeschädigten, mit Müttern und Vätern getöteter Söhne gehörten sie zu den »Kriegsopfern«. Die Renten der Kriegsopferversorgung sicherten meistens kaum ein Existenzminimum. Mussten Kriegerwitwen den notwendigen Zuverdienst erwerben, hatten sie bei der generell hohen Arbeitslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt sehr schlechte Chancen. Zudem traf die im Krieg einsetzende und bis Ende 1923 beschleunigte Inflation Rentenbezieher besonders hart. Selbst Kriegerwitwen, die noch 1919 hoffen konnten, mit ihrer Rente und einem zusätzlich vorhandenen Vermögen weiterhin ohne Erwerbsarbeit leben zu können, sahen sich in Folge der rasanten Vermögens- und Rentenentwertung nun ebenfalls zum Erwerb gezwungen. Andere erlebten, wie ihr mühsam mit Rente und Lohn ausbalanciertes Familienbudget erneut zusammenbrach. Die Schreckenszeit der Inflation prägte sich denjenigen Krieger witwen, die 1930 über ihre Lebenssituation schriftlich berichteten, tief ein. Eine Mutter mit vier 1 Zitate aus: H. Hurwitz-Stranz, Kriegerwitwen gestalten ihr Schicksal. Lebenskämpfe deutscher Kriegerwitwen nach eigenen Darstellungen, Berlin 1931, S. 85–88. Hurwitz-Stranz war Beisitzerin am Reichsversorgungsgericht und selbst in der sozialen Fürsorge aktiv; die von ihr herausgegebenen 15 Berichte hat sie teils selbst gesammelt, teils von Kriegsopferorganisationen erhalten. Kurzberichte über Kriegshinterbliebenenfürsorge, Organisation von Kriegerwitwen, Stiftungen, Gesetze und Statistiken ergänzen den Band. Das Buch diente der Abwehr drohender Rentenkürzungen im Zuge der Brüningschen Sparpolitik und wollte keineswegs nur »diesem stillen Frauenheldentum ein Ehrenmal« setzen, wie eine Rezension in: Aufgaben und Ziele. Monatsblatt der Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands 11, 1931, H. 3, S. 44, hervorhob.
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Kindern notierte, dass »die Inflationszeit wohl die schrecklichste Zeit für uns Kriegshinterbliebene war. Der Staat kann niemals gut machen, was die Hinterbliebenen durch die völlige Entwertung ihrer Rente mit ihren Kindern damals erleiden mußten.« Eine andere Witwe mit vier Kindern urteilte: »Was das bedeutete, wissen mit mir alle Kriegerwitwen. Ich erinnere mich, daß ich einmal für die Rente von 14 Tagen nur 4 Pfd. Brot erhielt.« Eine dritte schrieb: »Gar nicht reden kann man in so kurzen Worten von der Inflationszeit, die die entwerteten Renten brachte. Da mußten wir manches Mal hungrig zu Bett gehen. Die Stürme der Hinterbliebenen auf dem Ortsamt für Kriegsfürsorge sind mir noch heute in Erinnerung.«2 Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Weimarer Republik von unten zu schreiben, ist ein Anspruch, der bislang meistens nur bis zu den Unterschichten reicht. Die Sozialgeschichte der »Kriegsopfer« und damit auch die Geschichte sehr vieler Frauen scheint unterhalb dieser Geschichte abgelagert und fast vergessen zu sein.3 Auch meine Studie über Kriegerwitwen während der Kriegsjahre 1914 bis 1918 hat nur eine begrenzte Reichweite. Die hauptsächlich als Quellen herangezogenen gedruckten Materialien der Kriegsopferfürsorge verdeutlichen vornehmlich die öffentliche Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Krisensituation und die sozialen Strategien zu deren Bewältigung. Sie sagen nur wenig darüber aus, ob und wie die nach wenigen Ehejahren zur Witwe gewordenen Frauen mit ihren Kindern das gemeinsame Weiterleben im Alltag bewältigten. Im Folgenden interessiert zunächst, wie Kriegerwitwen und vaterlose Kinder als gravierendes nationales Problem öffentliche Aufmerksamkeit erlangten. Dann folgen Ausführungen über die unzureichende gesetzliche Versorgung der Kriegshinterbliebenen, die Bedeutung der privaten und kommunalen Fürsorge und die bereits während des Krieges angestrebte Institutionalisierung einer reichsweit abgestimmten Kriegshinterbliebenenfürsorge. Eine auf Berichte der kommunalen Fürsorge gestützte Skizze möglicher sozialgeschichtlicher Annäherungen an die Lebensverhältnisse von Kriegerwitwen und deren Kinder bildet den Schluss.
2 Hurwitz-Stranz (wie Anm. 1), S. 58, 78 f., 86. Vgl. auch K. Nau, Die wirtschaftliche und soziale Lage von Kriegshinterbliebenen. Eine Studie auf Grund von Erhebungen über die Auswirkungen der Versorgung von Kriegshinterbliebenen in Darmstadt, Leipzig 1930, demzufolge kaum Arbeiterwitwen, wohl aber Witwen des Mittelstands 1929 wirtschaftlich deutlich schlechter gestellt waren, als wenn der Ernährer-Ehemann noch lebte, sie aber trotzdem für sich und die Kinder den früheren sozialen Stand zu erhalten suchten. 3 Die Studie von M. Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 230–277, berücksichtigt fast ausschließlich Kriegsbeschädigte; einschlägig für Kriegshinterbliebene ist R. W. Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914–1939, Ithaca 1984, bes. S. 69–81, der allerdings auf S. 102 f. irrt, wenn er den Reichsausschuß für Kriegsbeschädigtenfürsorge und dessen Zeitschrift schon 1915 erweitert um die politisch bis 1918 getrennt agierende Fürsorge für Kriegshinterbliebene.
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1. Die Witwen und Kinder gefallener Soldaten als nationales Problem Da im Deutschen Reich während des Krieges keine Informationen über die Anzahl der Gefallenen und Verletzten publiziert wurden, fehlte es in der Öffentlichkeit lange an genauen Vorstellungen über die neuartigen Dimensionen der sozialen Kriegsfolgen, die es zu bewältigen galt. Einen gewissen Überblick gab es nur dort, wo vor Ort und unter Einsatz einer großen Zahl ehrenamtlich tätiger Frauen und Männer die Kriegsfürsorge auf- und ausgebaut wurde, nämlich in den Gemeinden. Nach dem Krieg waren zwar schnell die Todesbilanzen zugänglich. Aber die Zahlen der versorgungsberechtigten Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen beruhten bis zu einer vorläufigen Zählung im Jahre 1922 weiterhin nur auf amtlichen Schätzungen. Die noch vorläufigen Ergebnisse einer mit dem Stichtag 5. Oktober 1924 auf der Basis von Versorgungsakten vorgenommene Zählung wurden 1925 veröffentlicht. Die zuerst veröffentlichten Zahlen stützten sich auf Standesamtsregister. Demnach waren bis Ende 1919 von den 13,25 Millionen zum Kriegsdienst eingezogenen Männern insgesamt 1.691.841 gestorben. Als sie den »Heldentod« starben, waren 46 Prozent dieser Männer noch keine 25 Jahre alt und 69 Prozent nicht verheiratet. Die Gesamtzahl der Toten wurde später auf 2,4 Millionen veranschlagt. Sterbejahr der erfassten 1,69 Millionen verstorbenen Soldaten4 1914
241.343
1917
281.905
1915
434.034
1918
379.777
1916
340.468
1919
14.314
Unter den lebend heimgekehrten Soldaten hatten Anfang 1920 noch 1.537.000 einen Anspruch auf Kriegsbeschädigten-Rente. Nachdem 1922 und 1923 alle Kriegsbeschädigten, deren Erwerbsminderung mit nur 10 oder 20 Prozent anerkannt worden war, eine Abfindung erhalten hatten, ergab die Zählung von Oktober 1924 immer noch 771.353 Versorgungsberechtigte.5 Die im Krieg getöteten Männer ließen rund 1,6 Millionen Personen zurück, die vom Geldeinkommen der Männer abhängig gewesen waren und deren Versorgungsanspruch 1924 vom Reich anerkannt wurde. 4 Zahlen nach: Wirtschaft und Statistik 2, 1922, S. 385–387, 487; vgl. auch W. Köllmann, Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, 3. Teil, Würzburg 1955, S. 296. 5 Endgültige Ergebnisse der Zählung von Oktober 1924 veröffentlicht in: Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, 1926, Nr. 24, S. 424–429, hier S. 424 f.
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Versorgungsberechtigte Angehörige6
7
364.950
Witwen
(plus 6.845 Witwenbeihilfe)7
962.486
Halbwaisen
(plus 3.268 Halbwaisenbeihilfe)
65.486
Vollwaisen
(plus 169 Vollwaisenbeihilfe)
113.607
Mütter
17.580
Väter
62.734
Elternpaare
Die Gesamtzahl der Kriegerwitwen belief sich insgesamt auf etwa 600.000. Von ihnen hatten bis 1924 aber offenbar gut 200.000 erneut geheiratet, sie waren daraufhin mit einer Kapitalabfindung aus der Rentenversorgung ausgesteuert worden. Die Zahl der versorgungsberechtigten Kriegerwitwen sank bis 1930 auf 362.190.8 Das Alter der 364.950 Witwen, die Ende 1924 noch eine Rente erhielten, lag für knapp 90 Prozent zwischen 30 und 50 Jahren. Knapp 80 Prozent dieser Frauen versorgten Kinder unter 18 Jahren: 31 Prozent betreuten ein Kind, 25 Prozent zwei Kinder, 14 Prozent drei Kinder und 9 Prozent vier und mehr Kinder.9 Welchen Platz die Kriegerwitwen in der deutschen Gesellschaft der Kriegsund Nachkriegsjahre einnahmen, ist schwer zu bestimmen. Im Deutschen Reich lebten 1925 neben 12,7 Millionen verheirateten und 182.536 geschiedenen Frauen insgesamt 2,8 Millionen Witwen. Neun Ehefrauen standen also zwei Witwen gegenüber. Auf Seiten der Männer aber gab es neben 29 verheirateten Männern nur zwei Witwer.10 Unter den 2,8 Millionen Witwen dürften die knapp 400.000 Kriegerwitwen insofern aufgefallen sein, als sie jünger waren, kleinere Kinder hatten und besser mit Renten versorgt waren als die meisten anderen Witwen. Die allgemeine Verelendung während des Krieges aber versetzte
6 Vorläufige Ergebnisse der Zählung in: Wirtschaft und Statistik 5, 1925, S. 28–30; Reichsarbeitsblatt. Nichtamtlicher Teil, 1925, Nr. 4, S. 64–73; ebd., Nichtamtlicher Teil, 1926, Nr. 24, S. 424–429; vgl. auch: Deutschlands Kriegsbeschädigte, Kriegshinterbliebene und sonstige Versorgungsberechtigte. Stand vom Oktober 1924, bearb. im Reichsarbeitsministerium nach der Zählung des Statistischen Reichsamts, o. O., o. J. 7 Beihilfen erhielten Witwen und Waisen, die nicht versorgungsberechtigt waren, weil der Kriegsinvalide nicht an seiner Kriegsbeschädigung, sondern an einer Krankheit gestorben war. 8 Hurwitz-Stranz (wie Anm.1), S. 133 f. 9 Reichsarbeitsblatt (wie Anm. 5), S. 428. 10 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Wirtschaft. Langfristige Reihen 1871 bis 1957, Stuttgart 1958, S. 15.
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die Familienhaushalte kriegsunterstützter Ehefrauen und rentenberechtigter Witwen wohl gleichermaßen in Not .11 Das massenhafte Sterben an der Front hatte dramatische Rückwirkungen auf die Heimat. Die steigende Zahl von Kriegerwitwen mit Kindern lenkte die Aufmerksamkeit unter anderem auf die bedrohlich erachtete Entwicklung, dass nicht nur für kurze Zeit, sondern auf Dauer viele Familien ohne männlichen Ernährer, Kinder ohne Vater, Frauen ohne Ehemann würden zurechtkommen müssen. In der Vorkriegsgesellschaft des Deutschen Kaiserreichs waren solche Verhältnisse nach der Norm des geordneten Familienlebens als Krisenphänomen vermessen und negativ bewertet worden. Dabei galt die Aufmerksamkeit weniger den ordentlichen, aber bitterarmen Witwen und eheverlassenen Müttern, die von der Armenkasse unterstützt und kontrolliert wurden, als den ledigen Müttern, deren Säuglinge nicht zuletzt aus bevölkerungspolitischen Erwägungen mit Hilfe verstärkter staatlicher Kontrolle bessere physische und sittliche Überlebenschancen erhalten sollten. Der Erste Weltkrieg verschob die bis dahin eindeutigen Grenzen zwischen einer gefestigten, normsetzenden Mehrheit mit »geordneten« Familienverhältnissen und sozialen Randgruppen. Es vergingen allerdings Monate, bis Vorkehrungen getroffen wurden, um der erkannten gesellschaftlichen Krisenlage Herr zu werden. Eine umfassende Antwort auf die neuen Problemlagen sollte die Kriegshinterbliebenenfürsorge geben, die sich während des Krieges im Zeichen des Burgfriedens etablierte und ihre einmal erlangte gesellschaftspolitische Bedeutung weit über den Krieg hinaus als modernes Fürsorgeprogramm behauptete.12 Die Notwendigkeit, zusätzlich zur allgemeinen nationalen Kriegsfürsorge eine spezielle Kriegshinterbliebenenfürsorge als eigenständigen, von der Armenpflege abgesonderten Bereich einzurichten, um die besonderen Interessen der Witwen und Kinder gefallener Soldaten öffentlich anzuerkennen und eigens für diese Gruppen bestimmte institutionelle Zuständigkeiten der Kriegsfürsorge zu verbessern, wurde im zweiten Kriegsjahr als dringlich erkannt. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte die schnell wachsende Zahl der Kriegsbeschädigten bereits Gemeinden, Einzelstaaten, private Hilfsorganisationen und Interessenvertretungen. Die mit großem Nachdruck öffentlich vorgetragene Forderung, die bislang disparaten Fürsorgeaktivitäten zur Versorgung der Kriegsbeschädigten besser zu koordinieren, führte unter anderem im Oktober 1915 dazu, einen »Reichsausschuß für Kriegsbeschädigtenfürsorge« einzurichten. 11 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs Bd. 401, Berlin 1930, S. 174 f.; außerdem U. Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989. 12 Interessant hierzu das Urteil der während des Krieges im Berliner Archiv für Wohlfahrtspflege, dann bis zur erzwungenen Emigration in der Arbeiterwohlfahrt engagierten S. Wronsky, Die Kriegshinterbliebenenfürsorge als Wegbereiter für die moderne Wohlfahrtspflege, in: Hurwitz-Stranz (wie Anm. 1), S. 101–106 Vgl. auch Chr. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Frankfurt a. M. 1986.
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Um eine entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit für die Probleme der Kriegshinterbliebenen herzustellen, veranstaltete der »Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit« als Zentralorganisation der deutschen Armenpflegeverbände am 16. und 17. April 1915 im Plenarsitzungssaal des Deutschen Reichstags in Berlin eine Tagung zum Thema »Soziale Fürsorge für Kriegerwitwen und Kriegerwaisen«. Das Ziel dieser Veranstaltung wurde in der Eröffnungsrede mit folgenden Sätzen umrissen: »Heute gilt es, dem deutschen Krieger, der draußen vor dem Feind täglich dem Tode ins Auge sieht, die schwerste Sorge zu nehmen, die Sorge um Weib und Kind. Unsere Tagung soll die Mittel und Wege beraten, die geboten sind, um der Dankespflicht des deutschen Volkes gegen die Hinterbliebenen seiner Krieger gerecht zu werden.«13
Die »Sorge der Krieger« und die »Dankesschuld des deutschen Volkes«, nicht die schwierigen Lebensverhältnisse der Witwen mit ihren Kindern, wurden bemüht, um den Weg zu ebnen für eine Tagung, die sich an einem zentralen öffentlichen Ort und durchdrungen vom harmonischen Zusammenschluss im nationalen Burgfrieden damit auseinandersetzte, dass der Krieg Hinterbliebene hervorbrachte, deren Existenz und Not bei der Mobilisierung der Heimatfront bislang nicht zureichend berücksichtigt wurden. Aus dem Deutschen Reich und Österreich versammelten sich über 1.300 Personen. Zur Teilnahme eingeladen waren Vertreter des Reiches, der Bundesstaaten, der Provinzen, Kreise, Städte, Vertreter von Kirchen, Landesversicherungsanstalten, sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Vertreter zahlreicher Verbände und Vereine und schließlich auch Einzelpersonen. Parteien, Konfessionen, Klassen und Interessengruppen waren repräsentiert. In großer Zahl und mit wichtigen Redebeiträgen waren Frauen beteiligt, was einmal mehr die auch frauenpolitisch herausragende Bedeutung der seit August 1914 erfolgreichen Mobilisierung zum »Nationalen Frauendienst« und den unverzichtbaren Einsatz von Frauen in der Kriegsfürsorge unterstreicht.14 Die Kriegerwitwen traten allerdings selbst nicht oder zumindest nicht erkennbar in Erscheinung. Das Programm der Tagung war thematisch auf Kriegerwitwen und deren Kinder als soziale Problemgruppe ausgerichtet. Nach einführenden Referaten über »Aufgaben und Träger der Hinterbliebenenfürsorge« folgten spezielle Berichte über die Fürsorge für Kriegerwaisen und Kriegerwitwen und über Beruf und Familie. Am Ende der Tagung beschlossen die Versammelten Richtlinien für die zukünftige Arbeit. Die geltende gesetzliche Militärhinterbliebenenversorgung wurde einhellig als völlig unzureichend kritisiert, da sie die Höhe der 13 Soziale Fürsorge für Kriegerwitwen und Kriegerwaisen. Allgemeine Deutsche Tagung einberufen vom Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit am 16. und 17. April 1915 im Plenarsitzungssaal des Reichstags in Berlin. Stenographische Berichte über die Verhandlungen, München 1915, S. 2. 14 Ausführlich zum Nationalen Frauendienst siehe M. E. Lüders, Das unbekannte Heer. Frauen kämpfen für Deutschland 1914–1918, Berlin 1936; dagegen nur kurz erwähnt von U. v. Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914–1945, Stuttgart 1969.
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Witwen- und Waisenrente nur nach den militärischen Dienstgraden, nicht aber nach der sozialen Stellung des Gefallenen bemesse. Damit sei der soziale Abstieg der Hinterbliebenen vorprogrammiert; es gelte, diesen mit allen Mitteln abzuwenden. Eine Korrektur durch gesetzliche Zusatzrenten sei bereits gefordert worden; Berufsverbände und frühere Arbeitgeber seien zur Hilfe für die Hinterbliebenen aufzurufen; vermehrt müsse außerdem mit Geld- und Sachspenden bei individuellen Bedürfnissen und Notlagen ausgeholfen werden. Vor allem komme es darauf an, die Waisen – gemeint sind fast immer Kinder ohne Vater – vor Verwahrlosung zu schützen und ihnen eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, sei es zwingend, den verwitweten Müttern alle nur erdenkliche Hilfe und Fürsorge zukommen zu lassen. Da der »Leiter der Familie« fehle, müssten – so Alice Salomon – Fürsorgevereine »einen Ersatz des Vaters« anbieten und »Familienpflege im allerweitesten Sinne durch die soziale Fürsorge für die Hinterbliebenen getrieben werden.«15 Die Möglichkeit, Kinder in Kriegswaisen- oder Erziehungshäusern unterzubringen, kam zwar als ultima ratio zur Sprache, aber dem Vertrauen in die von der Fürsorge unterstützten Mütter wird deutlich der Vorzug gegeben. Dieses betonte der Prälat und Erzbischöflich geistliche Rat Dr. Werthmann: »Wohl fehlt durch den Tod des Vaters das Familienoberhaupt, die starke Hand des Erziehers und der Ernährer der Familie, aber auf der anderen Seite darf der Mutterliebe, der Muttersorge, der Mutterarbeit das Kind nicht entzogen werden, wenn diese Sorge nur irgendwie zur Erfüllung der Ernährungs- und Erziehungspflichten ausreicht.«16
Drehpunkt der gesamten Diskussion war die Frage der Witwen-Erwerbsarbeit. Relativ einfach organisierbar erschien die fürsorgende Hilfe für junge Witwen ohne Kinder. Damit diese Frauen langfristig selbständig und voll in »die Gruppe ihrer Standes- und Berufsgenossinnen« integriert werden, sei gediegene Berufsausbildung und umsichtige Berufsberatung erforderlich.17 Schlimm aber stehe es um die Chancen der älteren, berufsfremden Witwen. Josephine LevyRathenau formulierte aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen im Frauenberufsamt des Bundes Deutscher Frauenvereine eine düstere Diagnose: »Die Notlage der von Vermittlungsstelle zu Vermittlungsstelle gehetzten alternden Frau, die niemand mehr beschäftigen, niemand mehr anstellen will, und die, wenn sie endlich ein bescheidenes Plätzchen errungen hat, auch noch auf Schwierigkeiten aller Art stößt, ist sozial arbeitenden Kreisen vertraut.«18
Sie schilderte damit indirekt die spätere Lebenssituation derjenigen Kriegerwitwen, die zunächst noch ohne regelmäßige Erwerbsarbeit von ihrer Witwenrente und den Waisenrenten leben konnten, die aber in Not gerieten, sobald 15 16 17 18
Soziale Fürsorge (wie Anm. 13), S. 11 f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 48 f. Ebd., S. 45.
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mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres die Waisenrente der Kinder eingestellt wurde, die Jugendlichen selbst aber keine Erwerbsarbeit fanden. Auf der Tagung konzentrierten sich die Überlegungen vornehmlich auf die Witwen mit mehreren kleinen Kindern. Außer Frage stand, dass die Mutter den Kindern erhalten bleiben müsse. Doch bei der Frage, wie dieses erreicht werden könne, regte sich einerseits Skepsis: »Das Problem: Beruf und Mutterschaft, Beruf und Hausfrauenarbeit kann auch durch die Not des Augenblicks … nicht gelöst … werden.«19 Gleichzeitig gab es andererseits die Hoffnung, gerade der Krieg könne für weitreichende Neuerung bei der Anerkennung von Mütterarbeit Chancen eröffnen. Frauen aus der Frauenbewegung empfahlen für Witwen nicht in erster Linie die Heimarbeit als eine seit langem, mit eher enttäuschenden Ergebnissen erprobte Möglichkeit, den Familien- und Erwerbsarbeitsplatz zusammen zu rücken. Sie forderten statt dessen dagegen anzugehen, dass bislang allein »die männliche Arbeitsleistung der Maßstab für die berufliche Arbeit« sei, denn es komme zukünftig darauf an, solche »Einrichtungen der Zeiteinteilung und des Arbeitsumfanges zu treffen, die die mütterliche Betätigung nicht schädigen.«20 Aus einer anderen Perspektive argumentierte die Leiterin des Arbeiterinnensekretariats der sozialistischen Gewerkschaften, Gertrud Hanna, entschieden für die Interessen der Kinder und Mütter: »Solange die Wirtschaftsführung im Einzelhaushalt üblich ist, und solange nicht umfassende Änderungen in der Art der Versorgung der Kinder getroffen sind, muß der Wirtschaft die Hausfrau und den Kindern und namentlich den kleinen Kindern die Mutter nach Möglichkeit erhalten bleiben.«21
Derzeit müsse die »wirtschaftliche Sicherstellung der Mütter erziehungsbedürftiger Kinder« höchste Priorität haben, denn: »Die höhere Entschädigung an solche Mütter wäre nichts anderes als Entschädigung für die Arbeit, die die Mütter durch Pflege und Erziehung ihrer Kinder der Allgemeinheit leisten. Sie rechtfertigt eine Entlohnung wie jede Berufstätigkeit.«22
Auch Kaethe Gaebel, bekannt wegen ihres Engagements für die Heimarbeitsreform, forderte in der Diskussion eine angemessene Entlohnung »der hausmütterlichen Arbeit als Beruf«. Wenn »geeigneten Müttern« für die Erziehung ihrer eigenen Kinder ebenso Geld gegeben würde wie den »Ziehmüttern«, schaffe man endlich eine »innere Anerkennung des Berufs der Mutter als eines im nationalen Interesse ausgeübten öffentlichen Amtes.«23 Helene Simon schließlich, die in der Folgezeit an zentraler Stelle in der Kriegshinterbliebenen19 Ebd., S. 53, so Hedwig Dransfeld, die Vorsitzende des Katholischen Frauenbundes, in ihrem Referat. 20 Ebd., S. 53. 21 Ebd., S. 56. 22 Ebd., S. 61. 23 Ebd., S. 125.
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fürsorge arbeitete,24 umkleidete die gleiche radikale Lohn-für-Hausarbeit-Forderung, in die sie ausdrücklich auch ledige Mütter einbezog, mit dem patriotischen Pathos der Kriegsfront: »Im Fall der Kriegerwitwen darf es keinen unvermeidlichen Erwerbszwang geben. Dem gefallenen Krieger gegenüber, dessen Stolz seine Häuslichkeit war, dessen Stolz es war, durch seiner Hände Arbeit seine Frau dem Erwerb fern zu halten, ihr zu ermöglichen, im sorglich betreuten Heim ausschließlich als seine Hausfrau, als seiner Kinder Mutter zu walten, ihm gegenüber, seiner Witwe und seinen Waisen gegenüber ist es unsere heiligste Pflicht, diese Häuslichkeit zu bewahren. … Nicht Almosen, nicht Zusatzrente fordern wir für sie, sondern Pflegschaftsgelder, die hoch genug bemessen sind, um alle sittlichen und volkswirtschaftlichen, alle nationalen und individuellen Werte der mütterlichen Berufsleistung auszulösen.«25
Die Tagungs-Diskussion über die Erwerbsarbeit von Kriegerwitwen berücksichtigte zentrale Probleme. Als Gefahr wurde erörtert, dass Frauen zwischen Mutter- und Erwerbsberuf hin und her gerissen würden; dass Witwen wegen ihres zusätzlichen Renteneinkommens gefährliche Lohndrückerinnen werden könnten; dass die für Kriegerwitwen im Staats- und Gemeindedienst geeigneten Posten später vorzugsweise wieder für Militäranwärter und Kriegsbeschädigte freigemacht werden müssten; dass nicht versäumt werden dürfe, mit den Witwen über die akute Notlage hinaus eine auf lange Sicht angelegte Berufsperspektive zu erarbeiten. Selbst das Problem der Landflucht kam zur Sprache; um Kriegerwitwen auf dem Lande zu halten und für das Land zurückzugewinnen, seien geeignete Kapital- und Siedlungsanreize erforderlich. Bemerkenswert ist an den Diskussionen dieser beiden Tage, wie die erwünschte, ja notwendige Präsenz der Ernährer und Väter mit Nachdruck beschworen wurde, es aber gleichzeitig gerade wegen der faktischen und häufig dauerhaften Abwesenheit der Ernährer und Väter darum ging, deren Ersetzbarkeit gesellschaftlich zu organisieren. Ebenfalls interessant sind die Ausführungen über Mütterarbeit als Beruf, der einer Entlohnung wert sei. Wie mögen diese öffentlichen Überlegungen, die ohne Zweifel wesentliche Elemente zukünftiger Familienfürsorge und Familienpolitik entwarfen, auch wenn sie im April 1915 nur im Hinblick auf den außergewöhnlichen Sonderfall der Kriegerwitwen vorgetragen wurden, vor dem honorigen Publikum im Reichstagsgebäude, das damals keine Vorbehalte oder Einwände anmeldete, geklungen haben?
24 Vgl. W. Friedländer, Helene Simon. Ein Leben für soziale Gerechtigkeit, Bonn 1962; S. Klöhn, Helene Simon (1862–1947). Deutsche und britische Sozialreform und Sozialgesetzgebung im Spiegel ihrer Schriften und ihr Wirken als Sozialpolitikerin im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Bern 1982. 25 Soziale Fürsorge (wie Anm. 13), S. 129 f.
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2. Die gesetzliche Versorgung von Kriegerwitwen und Kriegerwaisen Die finanzielle Unterstützung der Kriegerwitwen und vaterlos gewordenen Kinder blieb bis Ende des Krieges ein ungelöstes Problem. Die Versorgung der Hinterbliebenen der im Kriegsdienst gefallenen oder als Folge des Kriegsdienstes verstorbenen Männer erfolgte im Deutschen Reich nach dem 1907 novellierten Militärhinterbliebenengesetz (MHG). Dieses Gesetz offenbarte während des Weltkrieges zahlreiche Ungenauigkeiten und genügte insgesamt nicht den Erfordernissen der erstmals praktizierten Massenmobilisierung.26 Das MHG unterschied bei der Rentenzumessung einzig nach militärischen Dienstgraden und erlaubte weder die Berücksichtigung der sozialen Position von Hinterbliebenen noch der örtlichen Gegebenheiten. Die Witwen von einfachen Soldaten, und das waren rund 98 Prozent aller gefallenen Ehemänner, erhielten eine Monatsrente von 33,33 Mark und jedes Kind unter 18 Jahren hatte Anspruch auf 14 Mark. Die Versorgung aller anderen Hinterbliebenen eines gefallenen Ernährers war überhaupt nicht oder höchst unklar geregelt. Erst mit Erlass vom 3.8.1915 wurden zusätzlich uneheliche27 sowie Stief-, Adoptiv- und Pflegekinder, schuldlos geschiedene Ehefrauen und unter bestimmten Bedingungen auch Eltern und Geschwister, die vorher vom Einkommen des Gefallenen abhängig waren, widerruflich in die Rentenversorgung einbezogen. Mit Erlass vom 28.3.1917 konnten schließlich Schwiegereltern und Stiefgeschwister ebenfalls berücksichtigt werden. Zu erwähnen bleibt eine weitere, besonders hart mit Verelendung konfrontierte Gruppe von Kriegshinterbliebenen, denen gemäß MHG überhaupt keine Versorgungsansprüche zuerkannt wurden, weil der Tod des Mannes nicht als Kriegsdienstfolge galt, weil Unklarheit über das Schicksal des vermissten Mannes herrschte oder weil der Frontsoldat Selbstmord begangen hatte. Bereits 1914 war offensichtlich, dass die Rentensätze in Großstädten und Industrieregionen für Witwen mit einem bis drei Kindern nicht ausreichten, um auch nur das Existenzminimum abzudecken. Eine immer wieder geforderte 26 Vgl. u. a. Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 25, 1916, Sp. 346–350; Soziale Kriegshinterbliebenenfürsorge. Mitteilungen des Haupt- und Arbeitsausschusses der Kriegerwitwen- und -waisenfürsorge in Verbindung mit der Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen. Nachrichtenaustausch der Fürsorgestellen 1, 1917, Nr. 9, S. 118–120 (im Weiteren zit. als SKHF); vgl. für die folgenden Ausführungen vor allem: Denkschrift des Reichsarbeitsministers betr. die bisherigen Aufwendungen für Kriegshinterbliebene vom 16. Oktober 1919, in: Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung, Bd. 339, Aktenstück Nr. 1281, S. 1276–1280. 27 SKHF (wie Anm. 26) 2, 1918, Nr. 1, S. 3 veröffentlichte folgende Verfügung des Kgl. Württembergischen Justizministers vom 25.6.1917 betr. Verleihung der Bezeichnung »Frau« an Kriegerbräute, deren Verlobter gefallen ist. Dadurch erhalte die Braut zwar nicht die rechtliche Stellung einer Ehefrau/Witwe, »wohl aber soll die Verleihung des Ehrentitels ›Frau‹ dazu beitragen, den Kriegerbräuten diejenige gesellschaftliche Stellung zu verschaffen, die sonst nur verheirateten eingeräumt wird.«
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grundlegende gesetzliche Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung noch während des Krieges wurde als verfrüht abgelehnt, da erst nach dem Krieg die genaue Zahl der Hinterbliebenen und die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse überblickt werden könne. In dieser Situation veranstalteten diejenigen Einrichtungen und Personen, die vor Ort amtlich und ehrenamtlich in der privaten und öffentlichen Kriegsfürsorge täglich mit Kriegerwitwen und deren vielfältigen Problemen zu tun hatten, im April 1915 die Tagung im Reichstag, um auf die akute Not und speziellen Bedürfnisse der Kriegshinterbliebenen hinzuweisen und Abhilfen einzufordern. Bis zum Ende des Krieges brachte das zuständige Preußische Kriegsministerium jedoch nur unzureichende Zwischenlösungen zur Linderung akuter Not auf den Weg. Ein Erlass vom 14.8.1915 machte es möglich, aus dem Kriegsjahresetat (Pensionsfonds, Kapitel 84a) unter Berücksichtigung des Vorkriegs-Arbeitseinkommens des Gefallenen widerruflich einen Härteausgleich auszuzahlen. Die Gesamteinnahmen der vaterlosen Familien durften jedoch nur 75 Prozent des Vorkriegs-Arbeitseinkommens des Verstorbenen erreichen und 3.000 Mark pro Jahr nicht übersteigen. Familien, deren Vorkriegs-Jahreseinkommen bei gemeinen Soldaten unter 1.500 und bei Unteroffizieren unter 1.700 Mark gelegen hatte, blieben vom Härteausgleich ausgeschlossen. Mit anhaltender Teuerung verschlechterte sich auch im Vergleich zu den Kriegerfamilien die wirtschaftliche Situation der Rentenbezieherinnen dramatisch. Während die Kriegsunterstützung mit Rücksicht auf die Stimmung an der Front am 21.1.1916 und am 6.12.1916 erhöht wurde, blieben zunächst die Renten der Hinterbliebenen gleich. Die Forderung, auch den Hinterbliebenen-Familien Teuerungszulagen zu bewilligen, wurde abgelehnt.28 Der im Anschluss an die April-Tagung eingerichtete Arbeitsausschuss für Kriegerwitwen- und Kriegerwaisenfürsorge – Genaueres hierzu an späterer Stelle – protestierte mehrfach vergeblich gegen diese ungleiche Behandlung und wies darauf hin, dass es zu »Mißstimmung« und »Verbitterung« führe, wenn eine Frau zusätzlich zur Todesnachricht auch noch mit einer erheblichen Kürzung ihrer bisherigen Geldunterstützung konfrontiert würde. Als Summe der vom Reich und von der Stadt gezahlten Beträge stünden einer Witwe mit einem Kind beispielsweise in Berlin monatlich nur noch 47 Mark zu, während sie als Kriegerfrau 67,50 Mark erhalten hatte. Selbst wenn einige Witwen zusätzlich noch Waisengeld aus der Invalidenversicherung des Mannes erhielten, schrumpfe deren Budget, da mit dem Tod des Ehemannes der kommunale Mietnachlass für Kriegerfrauen und häufig auch eine vorher vom Arbeitgeber gezahlte Unterstützung entfielen.29 Seit April 1917 konnte schließlich bei Bedürftigkeit, die amtlich von der gemeindlichen Kriegswohlfahrtspflege bestätigt werden musste, den Frauen und 28 Verfügung des Preußischen Innenministeriums vom 4.4.1917, vgl. SKHF (wie Anm. 26) 1, 1917, Nr. 6, S. 76. 29 SKHF (wie Anm. 26) 1, 1917, Nr. 2, S. 21 siehe auch ebd., Nr. 3, S. 38, Nr. 5, S. 57, Nr. 6, S. 76; 2, 1918, Nr. 3, S. 34.
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Kindern gefallener Soldaten ein Zuschuss zur Rente gezahlt werden. In dem Bemühen, die Einkommen der Gefallenen-Familien denen der Krieger-Familien weiter anzugleichen, konnten seit Erlass vom 26.11.1917 außerdem Zulagen, die aus dem Kriegsjahresetat (Kap. 74,8) finanziert wurden, als laufende Unterstützungen und ohne Höchstbegrenzung ausgezahlt werden. Viele Städte hatten bereits aus Eigenmitteln eine solche Angleichung vorgenommen. Köln zahlte zum Beispiel 1916 einer Kriegerwitwe zusätzlich zur Witwenrente 42 Mark und pro Kind weitere 16,50 Mark.30 Solche bis Kriegsende seitens der Gemeinden angebotenen Ausgleichsunterstützungen hatten zur Folge, dass die an Familien von gefallenen Soldaten ausgezahlten Geldsummen von Gemeinde zu Gemeinde und teils sogar am selben Ort sehr unterschiedlich waren. Obwohl die Kaufkraft des Geldes bis Ende 1917 bereits auf die Hälfte des Vorkriegswertes gesunken war, galt im Übrigen immer noch der Grundsatz, »widerrufliche Zuwendungen und Ausgleichsunterstützungen nur zu gewähren, wenn das jetzige Einkommen der Familie weniger als 75 Prozent bzw. 100 Prozent des Einkommens vor dem Kriege beträgt, ohne Rücksicht auf die Veränderungen der Wirtschaftslage.«31 Erst im Juni 1918 gab es eine allgemeine Erhöhung der Hinterbliebenenrenten. Kriegerwitwen, sofern sie früher Kriegsunterstützung bezogen hatten, erhielten nun ohne Bedürfnis-Prüfung zusätzlich acht Mark, die Kinder unter 16 Jahren zusätzlich drei Mark. Im turbulenten Übergang von der Kriegs- auf die Friedensgesellschaft und unmittelbar nach den am 19.1.1919 durchgeführten Wahlen zur Nationalversammlung wurde am 22.1.1919 den Hinterbliebenen angesichts der anhaltenden Inflation eine überfällige einmalige Teuerungszulage von 50 Prozent der Monats-Bezüge bewilligt. Kritiker merkten dazu an, dass die vergleichsweise gut organisierten Kriegsbeschädigten bereits am 31.12.1918 eine einmalige Teuerungszulage von 100 Prozent erhalten hatten.32 Im April 1919 kam es im ganzen Reich zu großen Protestdemonstrationen der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen. Am 1.6.1919 wurde allen Versorgungsberechtigten eine laufende Teuerungszulage in Höhe von 40 Prozent ihrer monatlichen Bezüge zugesprochen. Für den Winter 1919/1920 stellte der Reichsetat außerdem 100 Millionen Mark für Not-Beihilfen bereit. Als Reaktion auf die weiter beschleunigte Geldentwertung überbrückte im April 1920 erneut eine einmalige Beihilfe in Höhe von 200 Prozent der Monatsbezüge die Zeit bis zu der für Mai vorgesehenen Auszahlung eines weiteren laufenden Teuerungszuschlags von 40 Prozent. Während der gesamten Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit reichten die Renten-Einkommen der Familien eines Gefallenen kaum für die nötigsten 30 Schriften des Arbeitsausschusses der Kriegerwitwen- und -Waisenfürsorge, hg. im Auftrage des Hauptausschusses, H. 3: Zur Theorie und Praxis der Kriegshinterbliebenenfürsorge, Berlin 1916, S. 32 (im Weiteren zit. als Schriften, H. 3). 31 Kritik daran in: SKHF (wie Anm. 26) 1, 1917, Nr. 11, S. 143. 32 SKHF (wie Anm. 26) 3, 1919, Nr. 4, S. 40 f.
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Anschaffungen aus. Familien mit heranwachsenden Kindern blieben nicht nur auf zusätzliches Geld, sondern Jahr für Jahr auch für unverzichtbare Kleidung und Schuhe, für Schulausstattung, häufig auch für Heizungsmaterial und Lebensmittel auf Sachspenden angewiesen. Nachdem es zwischenzeitlich als Folge des seit 31.12.1918 wirksamen Gesetzes zum »Abbau der Familienunterstützung« zu erheblichen Versorgungslücken gekommen war,33 brachte das am 12.5.1920 verabschiedete Reichsversorgungsgesetz die überfällige Novellierung des MHG. Das Reichsarbeitsministerium, dem im Zuge der Entmilitarisierung am 1.10.1919 das Militärversorgungswesen übertragen worden war, hatte den Entwurf erarbeitet und sowohl mit dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge als auch mit dem Reichsausschuss für Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge, in dem auch Kriegsopferverbände vertreten waren, ausführlich diskutiert. Reichsarbeitsminister Schlicke erklärte zu Beginn der zweiten Lesung am 28.4.1920 in der Nationalversammlung, mit dem Gesetz gelte es, die »den Kriegsopfern schuldige Dankbarkeit zu bezeigen, diese Dankbarkeit zur Tat werden zu lassen.« Der Zentrumsabgeordnete Arend fügte später das emphatische Postulat hinzu: »Dieses Gesetz soll ein Denkmal des neuen Deutschland sein, gesetzt für die lebenden Opfer wie zur Ehre der Toten des Weltkrieges. Es soll ein Gesetz sein, das im Innern des Deutschen Reiches dem sozialen Frieden dient und das ganze Volk an seine nationale Pflicht immer wieder erinnert.«34
Das Reichsversorgungsgesetz unterschied nicht mehr zwischen unterschiedlichen militärischen Dienstgraden und auch nicht zwischen militärischem Dienst und Kriegsdienst, und es verankerte für Kriegsbeschädigte einen gesetzlichen Anspruch auf Heilbehandlung. Für Hinterbliebene waren folgende Regelungen von Vorteil: bei der Bemessung der Hinterbliebenenrenten wurden der Erwerbsstatus des verstorbenen Mannes berücksichtigt, außerdem Orts- und gegebenenfalls Teuerungszulagen vorgesehen und erstmals in der deutschen Sozialgesetzgebung bei der Feststellung der Erwerbsfähigkeit von Witwen auch die ihnen aufgetragene Kinder-Versorgung anerkannt.35 Anders als den Kriegsbeschädigten wurde den Kriegerwitwen jedoch kein Anspruch auf Heilbehandlung eingeräumt. Das führte zu Problemen, da viele Witwen im Zuge der Demobilmachung ihre Arbeitsplätze und damit für sich und ihre Kinder auch die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung verloren. Bei anhaltender Arbeitslosigkeit blieben sie daher angewiesen auf die dem Ermessen der
33 SKHF (wie Anm. 26) 3, 1919, Nr. 4, S. 40–42. 34 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 333, Zitate S. 5580, 5591. 35 Gesetz über die Versorgung der Militärpersonen und ihrer Hinterbliebenen bei Dienstbeschädigung (Reichsversorgungsgesetz), in: Reichsgesetzblatt 1920, Nr. 112, S. 989–1019.
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Von Seiten des Reichs gezahlte Hinterbliebenenbezüge, Stand Oktober 1919 Versorgung nach dem M. H.G monatlich (M) Witwe Waise Witwe mit 1 Kind Witwe mit 2 Kindern Witwe mit 3 Kindern
33,30 14,00 47,30 61,30 75,30
Zuwendung auf Grund des Arbeits-Einkommens monatlich (M) 9,20 1,85 11,05 12,90 14,75
Fürsorgebehörden anheimgestellten Gesundheitsfürsorge.37 Insgesamt hatte auch das Reichsversorgungsgesetz weniger Bestand als erhofft. Anfangs als Reaktion auf die galoppierende Inflation, später zwecks Senkung der Staatsausgaben wurde es während der Weimarer Republik mehrmals novelliert. 36
4. Die soziale Kriegshinterbliebenenfürsorge und das Programm ihrer reichsweiten Institutionalisierung Gleich nach Kriegsbeginn war offensichtlich, dass in Ergänzung zur MHGVersorgung seitens der privaten und gemeindlichen Fürsorge erhebliche Gelder und Beratungsangebote eingesetzt werden mussten, um Frauen und Kinder der verstorbenen Soldaten sozial und wirtschaftlich einigermaßen abzusichern, ohne sie den demütigenden Regularien der städtischen Armenpflege auszusetzen. Die frühzeitig erkannte Dringlichkeit zusätzlicher Leistungen ergab sich in erster Linie daraus, dass aufgrund der Massenmobilisierung in diesem Krieg erstmals nicht nur proletarische, sondern auch Frauen des bürgerlichen Mittelstands durch den Tod des Ehemannes in große Not gerieten. Die akute Krise traf Kriegerwitwen dann umso dramatischer, wenn sie vor und in der Ehe jenseits von Haushalt und Familie niemals selbst für den Erwerb gearbeitet hatten und der Mann für alle öffentlichen Belange der Familie zuständig gewesen war. Im Rahmen der lokalen Kriegsfürsorge reagierte auf diese Notlagen zusätzlich zur Auszahlung gesetzlicher Versorgungsgelder ein vielfältiges, auf 36 Denkschrift des Reichsarbeitsministers (wie Anm. 26), S. 1278. 37 Vgl. u. a. H. Hurwitz-Stranz, Sorge für die Berufsausbildung und Gesundheitsfürsorge unserer Kriegerwaisen, in: Blätter des Deutschen Roten Kreuzes 8, 1929, H. 6, S. 24–30; A. Woike, Heilbehandlung der Kriegshinterbliebenen, in: Proletarische Sozialpolitik 2, 1929, H. 4, S. 121–124.
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Zuschlag gemäß Erlaß vom 7. August 1918 monatlich (M) 8,00 3,00 11,00 14,00 17,00
Teuerungszulage gemäß Erlaß vom 7. Mai 1919 monatlich (M) 20,20 7,50 27,70 35,20 42,70
Gesamtbetrag monatlich (M)
Gesamtjahresbezüge (M)
70,70 26,35 97,05 123,40 149,75
850,00 315,00 1165,00 1480,00 1795,00
die Bedürfnisse von Kriegshinterbliebenen abgestimmtes Angebot an Beratungen, Hilfestellungen und ergänzenden Zuwendungen von Geld- und Sachleistungen. Diese spezielle Fürsorge konnte sich erstrecken auf Hilfe bei der Feststellung von Versorgungsansprüchen, bei der Beantragung von Geldern gemäß MGH und Invalidenversicherung, bei der Regelung von Miet- und Umzugsangelegenheiten, der Ablösung von Schulden, Gewährung diverser Sachbeihilfen, bei der Schaffung eines Zugangs zur Gesundheitsfürsorge für nicht gesetzlich krankenversicherte Witwen. Zum langfristigen Angebot gehörten außerdem Berufs- und Ausbildungsberatung, Arbeitsbeschaffung, Erziehungsberatung, Waisenfürsorge nebst Vermittlung von Beihilfen und Beiräten.38 Diese Fürsorge orientierte sich am Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe, wie es seit der Jahrhundertwende in der modernisierten Armenpflege Einzug hielt. Wie die Kriegsfürsorge allgemein, so wurde auch diese spezielle Fürsorge für Kriegerwitwen getragen von wenigen amtlichen und in weitaus größerer Zahl von ehrenamtlichen, überwiegend unbezahlten oder schlecht bezahlten Kräften. Unter ihnen waren sehr viele im Nationalen Frauendienst aktive Frauen.39 Die für diese spezielle Fürsorge erforderlichen Ressourcen wurden auf unterschiedlichen Wegen bereit gestellt. Es kam gleich nach Kriegsbeginn zur Gründung von »Kriegsversicherungen auf Gegenseitigkeit für den Krieg 1914«. Deren Ziel war offenbar, den wehrpflichtig oder freiwillig in den Krieg ziehenden Männern eine Art Rückversicherung zum Schutze ihrer zurück gelassenen Familien zu bieten; die Versicherungen scheinen schnell an ihren begrenzten finanziellen Möglichkeiten gescheitert zu sein.40 Aussichtsreicher war es, wenn Berufsverbände, so beispielsweise der »Kriegerdank des Sächsischen Lehrervereins«, oder einzelne Unternehmer wie die Firma Carl Zeiß Schott in Jena, für Kriegs38 So die Auflistung für Hagen in: Schriften (wie Anm. 30) H. 3, S. 44. 39 Siehe Anmerkung 14, außerdem u. a. den kenntnisreichen Bericht von E. Kaeber, Berlin im Weltkriege. Fünf Jahre städtischer Kriegsarbeit, Berlin 1921, S. 69–78, 560–565. 40 Soziale Praxis (wie Anm. 26) 23, 1913/14, Sp. 1325, 1353.
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waisen von ehemaligen Vereins- bzw. Belegschaftsmitgliedern Ausbildungspatenschaften übernahmen.41 Auch Landesversicherungsanstalten erklärten sich bereit, Kinder und Witwen von Mitgliedern der Invalidenversicherung, die im Kriegsdienst zu Tode gekommen waren, mit einmaligen »Ehrenbeihilfen« oder »Dankes- und Ehrengaben« zu unterstützen.42 Am 18.12.1916 wurde unter der Schirmherrschaft des preußischen Kriegsministers schließlich der »Reichsverband für Kriegspatenschaften« gegründet mit dem Auftrag: »[Es, K. H.] soll die Übernahme der Kriegspatenschaften dem Gefühl der Dankbarkeit gegen die Krieger, die ihr Leben für das Vaterland geopfert haben, Ausdruck geben. Die Kriegspaten sollen das Vermächtnis der Gefallenen erfüllen, indem sie dafür eintreten, daß deren Kinder zu tüchtigen, an Leib und Seele gesunden Menschen erzogen werden. Jeder Deutsche und jede Deutsche, die nach ihrer Persönlichkeit und ihren Charaktereigenschaften sich dazu eignen, können Kriegspatenschaften übernehmen.«43
Ebenfalls bereits 1914 kam es zur Gründung der »Stiftung Heimatdank des Königreichs Sachsen«, der »Badischen Stiftung Heimatdank« und der »Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen«. Die Nationalstiftung erwies sich aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten und reichsweiten Aktivitäten auf Dauer als wichtigste Stiftung. Sie war der älteren »Reichsmarinestiftung« nachgebildet und im August 1914 unter dem Vorsitz des Preußischen Innenministers gegründet worden mit der Aufgabe, für die Angehörigen des Landheeres eine breit angelegte, auf Spenden basierende Geldfürsorge zu organisieren, um damit die schematische Rentenversorgung durch individualisierende Unterstützungen zu ergänzen und den sozialen Abstieg der Kriegshinterbliebenen abzuwenden. Die über die Jahre ansteigenden Einnahmen aus Spenden und Zinsen beliefen sich von August 1914 bis 31.12.1918 auf insgesamt 137 Millionen Mark. Davon wurden bis Ende 1918 für Unterstützungen, Unkosten und Abschreibungen auf Wertpapiere insgesamt 24 Millionen Mark ausgegeben.44 Neben zahlreichen Einzelspenden schlugen vor allem große Spenden zu Buche.45 Gut 2 Millionen Mark kamen von der »Kriegsspende Deutscher Frauendank 1915«, einer Sammel-Aktion aller großen deutschen Frauenverbände. Von den großen Industrieunternehmen der Rüstungsindustrie spendeten neben anderen der Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation 1 Millionen Mark, eine weitere Million steuerten die Berliner Siemenswerke bei, und im Lauf des Krieges wurde die Kruppstiftung mit 20 Millionen Mark der Nationalstiftung angegliedert. Das angesammelte Stiftungskapital kam nicht, 41 42 43 44 45
SKHF (wie Anm. 26) 2, 1918, Nr. 1, S. 4. Soziale Praxis (wie Anm. 26) 24, 1914/15, Sp. 202. Gründungsversammlungsrede, zit. nach: Soziale Praxis 26, 1916/17, Sp. 258. SKHF (wie Anm. 26) 3, 1919, Nr. 7, S. 76. Nachfolgende Informationen aus: Soziale Praxis 26, 1916/17, Sp. 299; SKHF (wie Anm. 26) 1, 1916, Nr. 1, S. 4; 2, 1917, Nr. 2, S. 19; Nr. 6, S. 76 f.; Nr. 7, S. 92; siehe auch Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung, Bd. 339, Aktenstück Nr. 1281, S. 1279.
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wie ursprünglich in der Satzung vorgesehen, erst nach Ende des Krieges, sondern wegen des akuten Bedarfs bereits 1916 für die Hinterbliebenenfürsorge zum Einsatz, und zwar 1916 mit 3,5 Millionen, 1917 mit 6,9 Millionen und 1918 mit 10 Millionen Mark.46 Die Nationalstiftung leistete nicht nur Geld-Beihilfen. Sie entwickelte seit Ende 1916 im Deutschen Reich mit ihren allmählich eingerichteten Landes-, Provinzial- und Ortsausschüssen und der Zusammenführung von privaten und öffentlichen Einrichtungen und Akteursgruppen auch eine funktionstüchtige organisatorische Infrastruktur. Diese bewährte sich in der Folgezeit als tragfähige Basis für die angestrebte und 1919 realisierte reichsweite Institutionalisierung der sozialen Kriegshinterbliebenenfürsorge. Das Programm einer im Reich vereinheitlichten und institutionalisierten sozialen Kriegshinterbliebenenfürsorge war im April 1915 auf der Tagung im Reichstagsgebäude auf den Weg gebracht worden. Das besonders intensiv von Berlin nebst Charlottenburg und Schöneberg, Frankfurt a. M. und Hamburg verfolgte Ziel war, die Kriegshinterbliebenenfürsorge in den Bundesstaaten, Städten und Gemeinden nach einheitlichen Gesichtspunkten zu organisieren, zu koordinieren und deren Interessen nicht zuletzt gegenüber der Reichsregierung zu vertreten. Noch während der Tagung wurde zu diesem Zweck ein »Hauptausschuß der Kriegerwitwen- und Waisenfürsorge« gebildet. Dieser »Propaganda-Körperschaft für das Reich« schlossen sich umgehend 31 in der Wohlfahrtspflege engagierte Organisationen an. Dem Hauptausschuss gehörten als Vertreter angeschlossener Organisationen und Behörden sowie als Einzelmitglieder 56 Männer und 15 Frauen an.47 Der Hauptausschuss setzte auf seiner ersten Sitzung im Juni 1915 einen Arbeitsausschuss ein. Dieser sollte von Berlin aus einschlägige Materialien auswerten und archivieren, als Auskunftsund Beratungsstelle wirken, den Erfahrungsaustausch zwischen den Orts- und Kreisfürsorgestellen vermitteln, Forderungen formulieren und an zuständige Ministerien mit Eingaben herantreten. Gewählt wurden als Vorsitzender des Arbeitsausschusses Professor Dr. Ernst Francke von der Gesellschaft für soziale Reform, als dessen Stellvertreter Dr. Albert Levy vom Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, als Geschäftsführerin Helene Simon. Außerdem gehörten zum Ausschuss: Lina Koepp von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, Josephine Levy-Rathenau vom Frauenberufsamt des Bundes Deutscher Frauenvereine, Dr. Luther vom Deutschen Städtetag, Konsistorialrat Professor Dr. Mahling vom Zentralausschuss für die Innere Mission, Dr. Alice Salomon vom Bund Deutscher Frauenvereine, Prälat Dr. Werthmann sowie Pfarrer Dr. Saltzgeber vom Caritasverband für das katholische Deutschland. Von Anfang an nahm Regierungsrat Dr. Cuntz als Vertreter des Präsidiums der Nationalstiftung an den Arbeitssitzungen teil. Dieser und Gertrud Hanna von der Generalkommission der Freien Gewerkschaften wurden Ende 1916 als Mitglieder hinzu gewählt. 46 SKHF (wie Anm. 26) 1, 1916, Nr. 1, S. 4; 2, 1917, S. 139. 47 Vgl. Tätigkeitsbericht in: Schriften (wie Anm. 30) H. 3, S. 6–29, Zitat S. 11.
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Der Arbeitsausschuss entwickelte sofort große Werbeaktivitäten.48 Er verbreitete in einer billigen Ausgabe das Protokoll der April-Tagung. Im September 1915 verschickte er ein Flugblatt mit Thesen zur sozialen Kriegshinterbliebenenfürsorge und Richtlinien für die zentrale Organisation der Kriegerwitwenund Waisenfürsorge an alle angeschlossenen Verbände, an fast 600 Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern und 96 Reichs- und Staatsbehörden. Schon 1916 erschienen die ersten drei der bis 1918 insgesamt neun Schriften des Arbeitsausschusses für Kriegerwitwen- und Waisenfürsorge. Diese boten unter anderem Beiträge über Witwenerwerbsarbeit, Landfrage, Jugendfürsorge, sowie – als Ergebnis von gezielten Umfragen – Verzeichnisse der bereits eingerichteten Kriegshinterbliebenen-Fürsorgestellen, Berichte über deren Praxis und den Abdruck einschlägiger Verordnungen, Richtlinien, Eingaben. Seit Ende 1916 veröffentlichte der Arbeitsausschuss außerdem das monatliche Mitteilungsblatt Soziale Kriegshinterbliebenenfürsorge. Der Arbeitsausschuss trieb mit Erfolg auch die Vereinheitlichung der Hinterbliebenenfürsorge und die Aufnahme von Kooperationen voran. Der 1916 gegründete »Reichsverband für Kriegspatenschaften« übertrug ihm seine Geschäftsführung. Eine enge Zusammenarbeit gab es auch mit der »Reichsmarinestiftung« und dem im Oktober 1915 gegründeten »Reichsausschuß für Kriegsbeschädigtenfürsorge«. Gleichwohl galt als Maxime weiterhin die Akzeptanz von »Vielgestaltigkeit der Organisation in Reich und Bundesstaaten: hier Nationalstiftung oder Heimatdank, dort selbständige gemeindliche oder private Fürsorge, Rotes Kreuz oder Nationaler Frauendienst … Unsere entscheidende Aufgabe ist: alle diese Glieder in die erforderlichen Zusammenhänge einzustellen und sie miteinander zu einer inneren Einheit des Wollens und Wirkens zu verschmelzen.«49
Haupt- und Arbeitsausschuss trugen seit 1915 ohne Frage wesentlich dazu bei, die in den einzelnen Kommunen beobachteten Probleme der Kriegshinterbliebenenfürsorge, deren Bearbeitung sowie Vorschläge für ein vereinheitlichtes Vorgehen bekanntzumachen. Trotz seiner erfolgreichen Arbeit aber beschloss der Hauptausschuss am 27.2.1918 seine Selbstauflösung und für April 1918 seine Integration in die »Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen«. Die Nationalstiftung überführte ihrerseits die Aktivitäten des Arbeitsausschusses in eine eigens dafür gegründete Soziale Abteilung, die nun im Namen der Nationalstiftung die Schriftenreihe und das Mitteilungsblatt weiter führte.50 Die Überleitung scheint ein politisch motivierter Schritt gewesen zu sein. In den dramatischen Monaten der Endphase des Krieges, der Revolution, des schwierigen Aufbaus der Weimarer Republik und bei der anstehenden Neu48 A. Salomon, in: Die Frau 24, 1916/17, Dezember 1916, S. 150, bezeichnete ihn als »Mittelpunkt der gesamten Bestrebungen der Hinterbliebenenfürsorge in Deutschland«. 49 Tätigkeitsbericht (wie Anm. 46), S. 29. 50 SKHF (wie Anm. 26) 2, 1918, Nr. 2, S. 15–20, 29.
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organisation der Kriegsopferversorgung und der allgemeinen Wohlfahrtspflege konnte sich die Nationalstiftung offenbar als Kooperationspartnerin und politische Akteurin von Gewicht behaupten und sich neben dem Reichsausschuss für Kriegsbeschädigtenfürsorge Gehör verschaffen. Die Institutionalisierung der Kriegshinterbliebenenfürsorge lag bereits seit Ende 1915 auch im Interesse des Preußischen Kriegsministeriums und der einzelstaatlichen Innenministerien. Die seit August 1915 ergänzend zu den Renten gezahlten »widerruflichen Zuwendungen« hatten, da jeder einzelne Antrag hinsichtlich Bedürftigkeit geprüft und bewilligt werden musste, erheblichen Verwaltungsaufwand zur Folge. Diese Arbeit wurde zunächst den Polizeibehörden übertragen, obwohl auf der Hand lag, dass Einrichtungen der Hinterbliebenenfürsorge hierfür sehr viel besser geeignet waren. In der Tat empfahl die Preußische Regierung bereits Mitte 1915, für die Bedürftigkeitsprüfung Fürsorgestellen mit amtlichem Charakter einzurichten. Im Mai 1916 übertrug Preußen der Kriegshinterbliebenenfürsorge die Bedürftigkeitsprüfung, sofern die Fürsorgestelle einer Behörde angegliedert war und über einen Leiter mit »amtlichen Eigenschaften« verfügte. Im Dezember 1916 machte Preußen die Schaffung örtlicher Fürsorgestellen für Kriegshinterbliebene zur Auflage. Dieses Modell der Verzahnung von freier Fürsorgearbeit und amtlicher Rentenversorgung wurde umgehend den anderen deutschen Staaten zur Nachahmung empfohlen.51 Der Arbeitsausschuss wertete diese Entwicklung als Fortschritt in der angestrebten »Durchdringung der Hinterbliebenenfürsorge mit sozialem Geiste«. Ende 1917 gab es im Reich mindestens 5.000 amtliche Fürsorgestellen, davon 2.300 in Preußen.52 Als Träger der 1916 und 1917 eingerichteten Fürsorgestellen für Kriegshinterbliebene wirkten neben Behörden wie Bürgermeisteramt, Magistrat, Landratsamt sehr häufig auch die Ausschüsse der Nationalstiftung und dort, wo die Hinterbliebenenfürsorge schon 1914 und 1915 in Gang gekommen war, das Rote Kreuz, der Nationale Frauendienst, der Vaterländische Hilfsdienst, Pfarrämter oder sonstige private Organisationen der Kriegsfürsorge, die mit den Ortsbehörden zusammenarbeiteten und so den erforderlichen »amtlichen« Charakter erhielten. Während des Krieges galt die Vernetzung aller Aktivitäten der Hinterbliebenenfürsorge und die Zusammenführung aller über einzelne Hinterbliebene einer Gemeinde gesammelten Informationen in der Fürsorgestelle für Kriegshinterbliebene nicht zuletzt deshalb als Vorteil, weil der so herstellbare Gesamtüberblick eine »möglichst gerechte und sachdienliche Verteilung der Unterstützung« sicherstelle.53 Die »Verordnung über die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge« vom 8.2.l919 verankerte reichsweit die während des Krie51 Schriften (wie Anm. 30), H. 3, S. 102–113; SKHF (wie Anm. 26) 1, 1917, Nr. 1, S. 9. 52 Zitat aus Soziale Praxis (wie Anm. 26) 26, 1917, Sp. 691; Zahlen aus SKHF (wie Anm. 26) 2, 1918, Nr. 2, S. 17. 53 SKHF 1, 1917, Nr. 1, S. 9.
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ges erprobten Grundsätze und Strukturen der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge.54 Im Reichsarbeitsamt und späteren Reichsarbeitsministerium wurde als Körperschaft des öffentlichen Rechts der »Reichsausschuß für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene« mit einer Abteilung für Kriegsbeschädigtenfürsorge und einer weiteren für Kriegshinterbliebenenfürsorge eingerichtet. Zu jeder der beiden Abteilungen gehörten als Mitglieder Vertreter der Hauptfürsorgestellen der Bundesstaaten, der Volksspende für Kriegsbeschädigte (Ludendorff-Spende) bzw. der Nationalstiftung für Hinterbliebene, der großen Kriegsbeschädigten- bzw. Kriegshinterbliebenenorganisationen und maximal fünf in der sozialen Fürsorge bewanderte Persönlichkeiten, die vom Staatsekretär des Reichsarbeitsamtes/Reichsarbeitsminister berufen wurden. Die Regierungen der Bundesstaaten waren von nun an verpflichtet, amtliche Hauptfürsorgestellen der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge einzurichten, die als Initiativ- und Prüfinstanz für Koordination, Einheitlichkeit und Korrektheit des Vorgehens von Fürsorgestellen und als Beschwerdeinstanz zuständig sein sollten. Auf unterer Verwaltungsebene wurden die lokalen amtlichen Fürsorgestellen außer für Rentenbelange nun auch für soziale Fürsorge zuständig, soweit Kriegsopfer auf diese einen gesetzlichen Anspruch hatten. Die Fürsorgestellen beider Ebenen wurden unterstützt durch Beiräte, in denen Vertreter der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenorganisationen, der Unternehmer und Arbeitnehmer sowie Sachkundige aus der sozialen Fürsorge Sitz, Stimme und weitreichende Kompetenzen hatten. Die Umsetzung dieser Verordnung erfolgte zwar äußerst zögerlich, doch das Reichsversorgungsgesetz setzte diese reichseinheitliche Organisation der Kriegsopferfürsorge bereits als gegeben voraus. In der Praxis agierten Fürsorgeverwaltungen während des Krieges unterschiedlich. Der für Kriegshinterbliebene zuständigen Fürsorgestelle wurde üblicherweise die Akte eines Fürsorgefalles auf dem Amtswege von der zuständigen Kriegsfürsorgestelle zugestellt, sobald das Standesamt die Gefallenen-Meldung dorthin übermittelt hatte und festgestellt worden war, dass die Familie Kriegsunterstützung erhalten hatte. In diesem Fall war die Akte bei der Hinterbliebenenfürsorge bereits eingetroffen, noch bevor die Kriegerwitwe hilfesuchend dort vorsprach. An anderen Orten wurde eine Akte erst angelegt, wenn Hinterbliebene die Hilfe der Fürsorge nachfragten. Trotz institutioneller und organisatorischer Unterschiede der Fürsorgepraxis scheinen alle dort Zuständigen an einem möglichst umfassenden Überblick über jeden einzelnen Fürsorgefall interessiert gewesen zu sein. Was für Frankfurt niedergeschrieben wurde, dürfte auch für andere Fürsorgestellen gegolten haben: »Durch Verbindungen mit allen in Betracht kommenden Ämtern und privaten Fürsorgeeinrichtungen, durch persönliche Verhandlungen mit den Hinterbliebenen in
54 Verordnung über die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge vom 8. Februar 1919, in: Reichsgesetzblatt 1919, Nr. 37, S. 187–190.
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den Amtsräumen und in den Wohnungen der Fürsorgebedürftigen, sucht sich das Fürsorgeamt die erforderlichen Kenntnisse über die Lage der Hinterbliebenen zu verschaffen.«55
Die eingehende Prüfung der Verhältnisse der Rat- und Unterstützungsbedürftigen geschah bisweilen im Stil einer Polizeibehörde. Aus Gleiwitz berichtete 1916 der amtliche Leiter der Fürsorgestelle für Kriegswitwen und -waisen, die Sprechstunde sei zunächst wenig besucht worden. Um diesem Missstand abzuhelfen, würden jetzt »jedes Mal mehrere Witwen vorgeladen. Die Helferinnen füllen nach Vernehmung ein Formular aus«. Sie hätten dann »die bei der Aufnahme gemachten Angaben in der Wohnung des Klienten genau nachzuprüfen, seine Verhältnisse zu erkunden und auf dem Fragebogen ausführlich Bericht zu erstatten.«56 Auch das keineswegs zimperliche Streben nach erzieherischer Einflussnahme wurde zum Beispiel seitens der Fürsorge in Recklinghausen offen bekundet: »Die pflichtgetreuen Hausfrauen fanden bei besonderen Zuwendungen, Kleiderspenden usw. größtes Entgegenkommen; die Folge war, daß sehr bald auch die Nachlässigen mehr Wert auf ihre Häuslichkeit legten und sich bemühten, ihre Wohnräume sauber zu halten.«57
Gleichwohl scheinen die von der sozialen Kriegshinterbliebenenfürsorge mehr oder weniger vielseitig angebotenen Hilfestellungen insgesamt den je speziellen Bedürfnissen Hilfe suchender Witwen entsprochen zu haben. Das gilt insbesondere für die kritische Zeit unmittelbar nach der Nachricht vom Tod des Ehemannes, wenn die plötzlich anstehende Neuregelung aller Verhältnisse ungeachtet der Trauer und der Erfahrung von Verlust, Zukunftsangst, Überforderung und Ohnmacht zu bewältigen war. Das gilt aber offenbar auch auf Dauer für Witwen, die bei der Versorgung ihrer Kinder seitens der Fürsorge unterstützt wurden. Kriegerwitwen erhielten bei dem ihnen aufgezwungenen Spagat zwischen Mutterberuf und Erwerbsarbeit von der Fürsorge unter anderem Hilfe durch Sachspenden, ärztliche Versorgung bei Krankheit, Zahlung von Erziehungsbeihilfen, Zuweisung von Heimarbeit, Anbahnung von Betreuungsarrangements mit Verwandten oder Nachbarn bei außerhäuslicher Erwerbsarbeit, Beratungen in Fragen von Erziehung und Ausbildung. Die Kehrseite solcher in Anspruch genommener Hilfen war, dass die Fürsorgestellen eine mehr oder weniger ausgedehnte Phase der Beaufsichtigung, Gängelung und Kontrolle etablierten und von den Hilfesuchenden die Hinnahme eines uneingeschränkten Einblicks in die privaten häuslichen Verhältnisse verlangten. Es ist anzunehmen, dass Witwen des bürgerlichen Mittelstands diese Kehrseite weitaus weniger zu spüren bekamen als verwitwete Arbeiterfrauen. Zu bedenken ist nicht 55 Schriften (wie Anm. 30), H. 3, S. 35. 56 Ebd., S. 41. 57 Ebd., S. 58.
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zuletzt, dass die wahrscheinlich durchaus hilfreiche soziale Kriegshinterbliebenenfürsorge nicht nur für individuelle Problemlösungen sorgte, sondern auch mit einer sehr aufwändigen Verwaltung und aktenmäßigen Speicherung der umfassend durchleuchteten Fürsorgefälle einherging.
Für eine Sozialgeschichte der Kriegerwitwen und ihrer Kinder Die als Quellen durchgesehenen Veröffentlichungen geben in der Hauptsache Aufschluss über die Organisationsformen, Absichten und Maßnahmen der sozialen Kriegshinterbliebenenfürsorge. Aber sie bieten auch einige Informationen über die befürsorgten Witwen und Kinder der gefallenen Soldaten. Auf diesem Material fußend soll eine in groben Strichen ausgeführte sozialgeschichtliche Skizze nun abschließend die Aufmerksamkeit erneut auf die einleitend bereits zu Worte gekommenen Frauen lenken, also auf Frauen und insbesondere Mütter unter den Kriegsopfern, die durch den Soldatentod des Ehemanns zu Witwen wurden. Aus der Praxis der Kriegsfürsorge gab es frühzeitig Beschreibungen besonders eindrucksvoller Einzelschicksale von Witwen. So wurde 1915 über Frau B. aus Berlin berichtet, die mit ihren zwei und drei Jahre alten Kindern nach dem Tod ihres als Unteroffizier eingesetzten Mannes mit einer Gesamtrente von monatlich 69 Mark auskommen sollte, obwohl ihr Haushalt darauf eingerichtet war, dass ihr Mann als Vertreter pro Monat 400 bis 500 Mark verdiente; vorgestellt wurde auch eine 43-jährige, kränkliche Frau mit ihrer 15-jährigen Tochter, die nicht länger 300 bis 400 Mark wie in Friedenszeit, auch nicht 51 Mark wie noch zu Lebzeiten ihres Mannes, sondern als Rente nur noch 47,33 Mark pro Monat zur Verfügung hatte.58 Besonders dramatisch spitzte sich die wirtschaftliche Not bei der Familie H. mit drei kleinen Kindern zu; der Mann war im August 1914 eingezogen und nach wenigen Wochen lungenkrank aus dem Kriegsdienst entlassen worden, blieb während der folgenden Monate arbeitsunfähig und erhielt bis zu seinem Tod im Mai 1915 nur eine Arbeitslosenunterstützung von fünf Mark pro Monat; von Mai 1915 bis Oktober 1916 unterstützte die Fürsorgestelle diese Witwe bei ihrem letztlich siegreichen Kampf um Zuerkennung einer Militär-Hinterbliebenenrente.59 Die Fürsorgestellen haben auch Gruppen der von ihnen betreuten Kriegerwitwen statistisch zu beschreiben versucht. Die für einzelne Orte veröffentlichten Daten beziehen sich meistens auf Gruppen von 200 bis 300, bisweilen auch auf über 1.000 Witwen. In den Zahlen, die sich vermutlich nicht auf die ärms58 Hinterbliebenenfürsorge. Mitteilungen aus der Arbeit der Zentrale für private Fürsorge E. V. in Berlin. August 1915, Berlin 1915, S. 10 u. 13. 59 Laut Bericht der Leiterin einer Hilfskommission des Nationalen Frauendienstes im Norden Berlins: E. Seligsohn, Typische Fälle aus der Hinterbliebenenfürsorge, in: Die Frau 24, 1916/17, Dezember 1916, S. 137–143, hier S. 137 f.
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ten, sondern auf die am stärksten aus den früheren Lebensverhältnissen herausgefallenen und gesundheitlich und psychisch anfälligsten Witwen beziehen, spiegeln sich deutlich die sozialen Unterschiede von Stadt zu Stadt und die im Laufe der Kriegsjahre sich ändernden Verhältnisse. Eine grobe Gesamtauswertung dieser Zahlen ergibt folgendes Bild.60 Kriegerwitwen, die bei der Hinterbliebenenfürsorge ihres Ortes um Hilfe nachsuchten, waren sehr selten älter als vierzig, gut die Hälfte war nicht älter als dreißig Jahre. Gut ein Zehntel der Witwen hatte keine Kinder. Von den verwitweten Müttern hatten 31 Prozent ein Kind, 27 Prozent zwei, 30 Prozent drei und mehr Kinder zu versorgen. 54 Prozent aller Kinder waren noch nicht sechs Jahre alt. Die von den Fürsorgestellen über die Männer der Kriegerwitwen veröffentlichten Daten verdeutlichen, welchen wirtschaftlichen Absturz die Frauen während des Krieges zu bewältigen hatten. Die Ehemänner waren fast ausnahmslos als einfache Soldaten oder allenfalls als Unteroffiziere gestorben. Während des Berufslebens hatte rund ein Drittel der Männer als ungelernte Arbeiter gearbeitet. Gelernte Arbeiter und Handwerksmeister bildeten mit gut 45 Prozent die größte Gruppe. Von den der Fürsorge bekannten Gefallenen hatten in Berlin vor 1914 nur 11 Prozent ein Minimaleinkommen von bis zu 100 Mark/Monat verdient; in der Gewerbestadt Hagen waren es in der Vorkriegszeit sogar nur 4 Prozent, und bei 89 Prozent der Männer lag der Verdienst dort zwischen 100 und 200 Mark. Mit dem Kriegsdienst schrumpfte das frühere ErnährerEinkommen der Familie erheblich, selbst wenn zusätzlich zur Kriegsunterstützung das Familieneinkommen noch durch kommunalen Zuschlag, Mietzuschuss und eventuell Arbeitgeberunterstützung aufgestockt wurde. Was auch für andere Städte gilt, zeigt besonders deutlich eine in Groß-Berlin durchgeführte Erhebung. Ob überhaupt und wie Kriegerwitwen erwerbstätig waren, variierte stark nach Ortschaft, Kriegsjahr und Arbeitsgelegenheit. Für Ende 1917, also einer Zeit des Arbeitskräftemangels, gibt es Daten für Hamburg. Von 1.900 unterstützten Kriegerwitwen hatten 78 Prozent vor der Ehe beruflich gearbeitet, während der Ehe dagegen nur noch 5 Prozent. Von den Witwen leisteten 52 Prozent wieder Erwerbsarbeit und zwar als ungelernte Arbeiterinnen (21 %), Hausangestellte (19 %), Facharbeiterinnen (19 %), Angestellte (13 %), Angestellte im Staatsdienst (12 %), Geschäftsinhaberinnen (7 %), Zimmervermieterinnen (5 %), Sonstige (4 %).61 Im Vergleich dazu hatten in Mönchen-Gladbach bis Mitte 1916 von 220 Witwen nur 41 Prozent wieder eine Erwerbsarbeit aufgenommen, obwohl 89 Prozent dieser Frauen vor der Ehe und zwar hauptsächlich in der Fabrik gearbeitet hatten. Ähnliches wurde für Hagen berichtet. Witwen, die vor 60 Die folgenden Informationen entstammen für Charlottenburg, Schöneberg, Berlin, Worms den Schriften des Arbeitsausschusses (wie Anm. 30), H. 2; für Bochum, Hagen, Frankfurt, Mönchen-Gladbach ebd., H. 3; für Hamburg SKHF (wie Anm. 26) 2, 1918, Nr. 9, S. 100; für den Landkreis Recklinghausen SKHF 3, 1919, Nr. 1, S. 8. 61 SKHF 2, 1918, Nr. 9, S. 100.
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der Ehe zu 77 Prozent beruflich und zwar überwiegend als Hausangestellte gearbeitet hatten, waren bis Mitte 1916 nur zu 46 Prozent wieder erwerbstätig.62 Sehr hoch ist demgegenüber bei den 269 Kriegerwitwen, die von September bis Dezember 1915 die neu eröffnete Fürsorgestelle für Kriegshinterbliebene in Berlin-Schöneberg aufsuchten, der Anteil der berufserfahrenen Frauen. Hier hatten 93 Prozent der Witwen vor der Ehe Geld verdient und 89 Prozent taten dieses vorwiegend als Aufwärterin und Konfektions-Heimarbeiterin auch noch während der Ehe.63 Einkommensentwicklung in Berlin bei 174 Haushalten, die Mitte 1915 von der Fürsorge erfasst wurden64 Mark / Monat Vor dem Krieg Anzahl (%)
Kriegerfamilie Anzahl (%)
Kriegerwitwe mit Kind/ern Anzahl (%)
0–100
11
6,3
137
78,7
136
78,1
100–150
114
65,6
27
15,5
31
17,8
151–200
37
21,3
6
3,4
4
2,3
201–300
11
6,3
4
2,3
3
1,7
darüber
1
0,6
–
–
–
–
174
100,0
174
100,0
174
100,0
Die einschneidende Reduktion des Haushaltsbudgets ließ sich umso schwerer ausbalancieren, je länger der Krieg dauerte. Nicht allein die Kriegsinflation, die den Wert der Mark um die Hälfte senkte, auch der Verschleiß vor allem von Kleidung und Schuhwerk und der Zwang, immer wieder Schwarzmarktpreise für lebensnotwendige Lebensmittel zahlen zu müssen, ruinierten die Lebensgrundlage der Familien. Die Folge war eine übermäßige physische und psychische Beanspruchung der Kriegerwitwen. Eine schwere Erkrankung verwitweter Mütter aber konnte die familiale Krisensituation auf die Spitze treiben. Schon Mitte 1915 meldete die Berliner Zentrale für private Fürsorge als eines der Ergebnisse ihrer unter verschiedenen Aspekten vorgenommenen Analyse der Akten von 174 Kriegerwitwen, dass 106 dieser Frauen an Krankheiten litten und 4 weitere schwanger waren. Am häufigsten waren innere Erkrankungen und Lungenleiden, aber auch allgemeine Nerven- und Kräfteerschöpfung diagnosti-
62 Schriften (wie Anm. 30), H.3, S. 56 f. für Mönchen-Gladbach, S. 50 f. für Hagen. 63 Ebd., S. 25. 64 Zusammengestellt nach: Hinterbliebenenfürsorge (wie Anm. 58), S. 43–46.
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ziert worden.65 Es ist anzunehmen, dass sich mit fortschreitender Kriegsverelendung die Gesundheit der Frauen weiter verschlechterte. Für Witwen, die keiner Krankenkasse angehörten, weil sie nicht pflichtversichert erwerbstätig waren, bedeutete die eigene oder die Erkrankung der Kinder stets das Angewiesensein auf die Gesundheitsfürsorge und damit die Abhängigkeit von der Kriegshinterbliebenenfürsorge. Wenn durch den Kriegstod des Ehemannes die Lebensverhältnisse der Friedenszeit unwiderruflich zerstört waren, hatte die hinterbliebene Frau nicht allein mit der plötzlich von ihr geforderten Neuorientierung fertig zu werden. Sie sah sich häufig gleichzeitig mit schier unlösbaren wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Die Wohnung war nun zu teuer und für ein leer stehendes Zimmer kaum ein Untermieter zu finden. Mietzuschüsse, die sie als Kriegerfrau von der Gemeinde erhalten hatte, standen ihr als Witwe nicht mehr zu. Noch bevor sie eine ihrem schmalen Renten-Budget entsprechende billigere Wohnung gefunden hatte, häuften sich bereits Mietschulden auf Mietschulden. Nicht selten waren Eheleute zudem schon seit der Vorkriegszeit vornehmlich für Möbel mit beträchtlichen Abzahlungsschulden belastet, und die Möbelhändler setzten alle Hebel in Bewegung, um von einer verwitweten Frau möglichst schnell das noch ausstehende Geld einzutreiben. Noch kritischer war die Situation, wenn der Mann Kredite aufgenommen hatte, um sich als Handwerker, Kleinhändler oder auch Freiberuflicher selbständig zu machen. War die Witwe außerstande, nach dem Tod des Mannes den Betrieb allein weiterzuführen, gestaltete sich während des Krieges der angesagte Verkauf der gesamten Einrichtung häufig als sehr schwierig und verlustreich, was wiederum die Zinszahlung und Tilgung des Kredits erschwerte. Alle Berichte aus der Praxis der Hinterbliebenenfürsorge bestätigen, dass für Ehefrauen von Frontsoldaten die Zeit von der Übermittlung der Todesnachricht bis zum Hineinfinden in die neue Situation besonders kritisch war. Eine ohnehin geschwächte oder gar kranke Frau lief Gefahr darüber zu verzweifeln, dass sie von drückenden Schulden umstellt war, dass ihr die abverlangte Sorge für ihre kleinen Kinder kaum Entscheidungsspielräume ließ, und dass sie keine Möglichkeit sah, an frühere Berufsarbeit wieder anzuknüpfen. Das Angebot der sozialen Kriegshinterbliebenenfürsorge dürfte den Frauen geholfen haben, zunächst das bürokratische Dickicht der mit der Witwen- und Waisenversorgung verbundenen Fragen zu lichten, die Sorge um das nötige Geld abzumildern und sich Schritt für Schritt in ein neues Leben hinein zu arbeiten. Darüber aber versäumten die Kriegerwitwen, sich wie die Kriegsbeschädigten als Gruppe zu organisieren und in der Öffentlichkeit vernehmbar Interessen anzumelden und durchzusetzen. Diese in Anbetracht ihrer Belastungen durchaus verständ liche Unterlassung, hatte nach dem Krieg zur Folge, dass Kriegerwitwen auf eigenständige Interessenvertretung nicht vorbereitet waren und dem entsprechend – trotz der 1919 bei der reichsgesetzlichen Regelung der Kriegsopferfürsorge 65 Hinterbliebenenfürsorge (wie Anm. 58), S. 41.
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institutionell getrennten Zuständigkeiten für Kriegshinterbliebene und für Kriegsbeschädigte – politisch ins Hintertreffen gerieten. Witwen, die sich engagieren wollten, wurden Mitglied in den Organisationen der Kriegsbeschädigten. Diese begrüßten den Zuwachs an Mitgliedern, da nur großen Organisationen Sitz und Stimme im »Reichsausschuß für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene« zustand; sie signalisierten ihre erweiterte Zuständigkeit häufig dadurch, dass sie ihrem bisherigen Namen die Kriegshinterbliebenen hinzufügten oder auf den Sammelbegriff Kriegsopfer auswichen. Ob allerdings Kriegshinterbliebene auf lange Sicht von den Organisationen eher vereinnahmt als vertreten wurden, ist eine Frage, die zu prüfen bleibt.66 Nicht ein Fazit, sondern ein Plädoyer soll diesen Text beschließen. Wenn es einen Kanon bemerkens- und bedenkenswerter Geschichten des Alltags gäbe, dann müsste dieser viel Raum bieten für eine Sozialgeschichte von Ehefrauen und Kindern gefallener Soldaten und für das Erstaunen darüber, dass viele Frauen, zumal aus der Mittelschicht, im Krieg und in der Nachkriegszeit mit ihren Familien einen steilen Absturz in Ungewissheit und Armut auszuhalten und offenbar auch zu meistern vermochten. Doch im 19. und 20. Jahrhundert gehört bislang das Verschweigen des elenden Kriegs- und Nachkriegsalltags von Kriegsopfern zum Pathos des Heldenruhms. Die Kriegerdenkmale auf den Plätzen der Städte und Dörfer verstellen den Blick für die frontferne Kriegswirklichkeit und stilisieren Frauen zur Pietà, damit sie herhalten für den Ruhm der Heldensöhne. Der Präsident des Deutschen Reichstags kleidete bereits am 2.12.1914 bei der Eröffnung der dritten Kriegssitzung ganz in diesem Sinne die gewünschte Art des Gedenkens in Worte: »Schwer auch sind die Verluste an Menschenleben, die der Krieg gefordert hat. Manch Frauenherz verzehrt sich in Kummer um den gefallenen Gatten und Bruder, manch Vater- und Mutterherz in dem Schmerze um die ihnen entrissenen Söhne. Wir ehren ihren Schmerz und trauern mit ihnen. Das Vaterland aber dankt ihnen und ist stolz auf so viele Heldensöhne, die ihr Blut vergossen und ihr Leben dahingegeben haben in dem Weltkrieg, den wir um unsere Existenz zu führen haben.«67
66 Vgl. H. Lesser, Organisation von Kriegshinterbliebenen, in: SKHF (wie Anm. 26) 3, 1919, Nr. 11, S. 126–129; M. Harnoß, Die Organisation der Kriegerwitwen, in: Hurwitz-Stranz (wie Anm. 1), S. 116–124. 67 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 306, S. 14.
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V. Theoretische und historiographische Herausforderungen
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Patriarchat Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts für Frauenpolitik und Frauengeschichte * 1
Der Nutzen erscheint unbestreitbar. Der Neuen Frauenbewegung gelang es in knapp zwei Jahrzehnten in beachtlichem Maße, emanzipatorische Frauenpolitik und feministische Wissenschaft in unserer Gesellschaft zu verankern, und dabei diente ihr die Kampfansage gegen das »Patriarchat« und die »patriarchalischen« Verhältnisse als gemeinsamer Nenner der politischen und wissenschaftlichen Mobilisierung und Verständigung. Die Fortexistenz des »Patriarchats« für die Bundesrepublik und für alle anderen Staaten der Welt zu behaupten und sich zusammenzuschließen, um dessen Wirkungsmacht zu begreifen und zu zerstören – so lautet in eingängiger Formel das Politikum der Neuen Frauenbewegung. »Patriarchat« ist also zunächst einmal ein politisch nützlicher Kampfbegriff. Welches gesellschaftliche Ärgernis damit avisiert wird und auf Veränderung drängt, ist deutlich: dass Frauen ungeachtet der formalen Gleichberechtigung bislang weder in sozialstaatlichen Demokratien noch in sozialistischen Gesellschaften tatsächlich den Männern gesellschaftlich gleichrangig sind; dass sie immer noch geringere soziale, wirtschaftliche und politische Einflusschancen haben; dass sie nach wie vor in einer Gesellschaft leben, die nach Maß des Mannes eingerichtet ist. Vieles mehr ließe sich anführen: das spannungsreiche Pendeln der Frauen zwischen Beruf und Familie mit aller Doppelbelastung und Diskriminierung; die Gewalt gegen Frauen; die drückende Armut der Rentnerinnen. Mit der Neuen Frauenbewegung ist die Wut, Lust und Bereitschaft wieder aufgelebt, sich gegen diese Gesellschaft und die in sie eingebaute strukturelle und persönliche Benachteiligung aufzulehnen und bessere Lebenschancen für alle Frauen zu erstreiten. Die Arbeitslosenstatistik, die Statistik der Löhne und Gehälter, die geringe Zahl von Frauen in Parlamenten und Regierungen sprechen in deutlicher Sprache über ungleiche Chancen. Nachhaltig von Frauen erfahren wird außerdem die tägliche Diskriminierung, und vor allem Mütter von kleinen Kindern haben in unserer so wenig kinder- und familienfreundlich eingerichteten Umwelt anstrengende Belastungen auszuhalten und aufzufangen. Dieses und die Wende zum Bessern * Zuerst veröffentlicht in: Journal für Geschichte 1986, Heft 5, S. 12–21, 58. Die dort vom Redakteur hinzugefügten Zwischenüberschriften wurden gestrichen und die im Journal nicht üblichen Anmerkungen hinzugefügt.
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sind gemeint, wenn die Neue Frauenbewegung das »Patriarchat« verantwortlich macht, angreift und mit ihrem Entwurf einer humaneren Gesellschaft ansetzt bei der Überwindung des »patriarchalischen« Geschlechterverhältnisses. Was soll aber dann mein Ansinnen, neben dem Nutzen auch den Nachteil des Konzepts »Patriarchat« zu überdenken? Warum nicht einfach hinnehmen, dass es eine Verständigung über feministische Parteilichkeit ist, von »Patriarchat« und patriarchalischen Verhältnissen zu sprechen? Meine Befürchtung ist, dass diese Rede- und Denkweise die gemeinten Phänomene und Probleme eher verdeckt als aufdeckt und deshalb auf lange Sicht sehr wohl zum Hindernis werden kann für die Durchsetzung von Fraueninteressen. Um dieser Vermutung auf den Grund zu gehen, begann ich nachzuforschen, welche Funktion die gängige Chiffre »Patriarchat« nebst allen ihren Ableitungen und Variationen im feministischen Diskurs über gesellschaftlich-historische Verhältnisse eigentlich erfüllen soll und zu erfüllen vermag. Unbestreitbar hat der Begriff »Patriarchat« heute die polemische und damit auch politische Kraft eines Schlagwortes. Das offenbaren nicht zuletzt so eingängige Buchtitel wie »Das Arbeitnehmerpatriarchat. Die Frauenpolitik der Gewerkschaften« (Claudia Pinl 1977) oder »Liebesgeschichten aus dem Patriarchat. Von der übermäßigen Bereitschaft der Frauen, sich mit dem Vorhandenen zu arrangieren« (Cheryl Benard, Edit Schlaffer 1983). Auch als Appell an assoziative Kombinationen funktioniert das Stichwort »Patriarchat«. So zumindest deute ich einen Handzettel, mit dem Frauen aus der Frauenbewegung kürzlich für einen Vortrag warben: »Verfolgen wir die Geschichte der Frauen, so müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Frauen auf grausame Art und Weise aus dem öffentlichen Leben, aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft ausgeschlossen worden sind. Das Patriarchat schreckte nicht zurück vor Intrigen, Prozessen, Irrenhaus, Hexenverbrennung und Mord. Heute ist es nicht mehr notwendig, Frauen zu peinigen oder unter Strafe zu stellen. Aber immer noch gibt es zahlreiche Ausschlußmechanismen, wo wir Frauen betroffen sind, bei denen wir sogar ›freiwillig‹ kooperieren …«
Sonderlich klar ist dieser Text nicht, in dem das Patriarchat als Kollektiv-Subjekt auftritt, das nicht zurückschreckt und Frauen ausschließt – bis heute, seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden – und gleichzeitig identisch zu sein scheint mit Ausschlussmechanismen, bei denen wir Frauen kooperieren. Aber offenbar wird dennoch Sinn transportiert. Die Wörter »Patriarchat« und »patriarchalisch/patriarchal« gibt es nicht nur als politische Kürzel. Sie sind auch in deutschsprachigen Texten der feministischen Wissenschaft anzutreffen. Die Umschau u. a. in den »Beiträgen zur feministischen Theorie und Praxis« und in den »Feministischen Studien« führt allerdings zu keinem einheitlichen Befund. Einige Wissenschaftlerinnen vermeiden das Substantiv »Patriarchat«, einige verzichten auch auf das Adjektiv »patriarchalisch«; andere benutzen beide Wörter, bisweilen methodisch reflektiert, bisweilen inflationär als Flickwörter, bisweilen analytisch, bisweilen 360
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denunziatorisch. Immerhin können wir in Ausführungen zur Gegenwart häufig lesen über das Patriarchat, das bürgerliche Patriarchat, die Einübung in das Patriarchat, die Politik des Patriarchats; auch vom patriarchalen Kapitalismus, von der patriarchalischen Gesellschaft oder bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft ist die Rede; Wortkombinationen wie patriarchalische Herrschaft, patriarchales Geschlechterarrangement, patriarchale Weiblichkeit, patriarchale Naturwissenschaft und Technik, patriarchale Bilder, patriarchalisch-sexistische Diskriminierung usw. gibt es in beliebiger Vielfalt. Was mit den Wörtern Patriarchat und patriarchal/patriarchalisch angesprochen sein soll, wird nicht erläutert, sondern als Leseverständnis vorausgesetzt. Doch offenbar vermag die Chiffre die historische Dimension der über Jahrhunderte im Zeichen der Männerdominanz ausgestalteten Geschlechterverhältnisse ins Bewusstsein zu heben. Ein Blick in die Wort- und Begriffsgeschichte verdeutlicht, dass der skizzierte Wortgebrauch ganz offensichtlich ein Produkt der Neuen Frauenbewegung ist. Im 19. Jahrhundert erläutern Wörterbücher und Lexika das Stichwort »Patriarchat« noch ausschließlich im Hinblick auf die byzantinische Kirche. Erstmals definiert der Brockhaus von 1933 Patriarchat als Vaterherrschaft. Diese Ausführungen seien zitiert, weil sie einen älteren Stand der Diskussion gut zusammenfassen: »Patriarchat …Vaterherrschaft. Aufbau der Gesellschaft nach den Verwandtschaftsbeziehungen zur väterlichen Familie wird dagegen ›Vaterrecht‹ genannt oder ›Vaterfolge‹. Das P. tritt z. T. bei solchen Völkern zutage, bei denen das Hauptgewicht in den großen Familien und Sippen liegt und eine Schichtung der Gesellschaft besteht. Damit ist das Halten einer Anzahl von Knechten, Mägden oder Sklaven verbunden. Das P. in seinen extremen Formen setzt Sklaverei voraus, ja die Abhängigkeit der Familienmitglieder scheint dieser nachgebildet zu sein, wie z. B. im alten Rom. Bei Jägerund Sammlervölkern leitet weniger die einzelne Persönlichkeit als die Gemeinschaft der Familienhäupter in der Form der Altenherrschaft (Gerontokratie) die politischen und wirtschaftlichen Vorgänge. Dies kommt auch bei mutterrechtl. Gemeinden vor (> Mutterrecht). Es sind verschiedene Ausbildungsgrade des P. zu beachten, die aber in keinem entwicklungsgeschichtl. Zusammenhang miteinander stehen. Die höchste Ausbildung hat das P. im röm. Recht gefunden (> Patria potestas). Das P. saugt entweder einen Teil der polit. Herrschaft auf (in der Großfamilie früherer Zeiten oder auf dem mittelalterlichen Fronhof) oder es ahmt sie im kleinen nach, wie in kleinen Staaten zur Zeit des Absolutismus. Das tägliche Zusammenleben in diesen geschichtlichen Gruppen mildert das Verhältnis zwischen Herrschenden und Gehorchenden durch das Bewußtsein, der gleichen Schicksalsgemeinschaft anzugehören.«
Ergänzend hierzu heißt es unter Vaterrecht: »eine Summe von Sitten und Bräuchen, in denen die väterliche Abstammung für die Nachfolge in Besitz, Ämter, Würden usw. maßgeblich ist. Es steht im Gegensatz zum > Mutterrecht. V. ist nicht mit – Patriarchat zu verwechseln, wenngleich beide z. T.
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sich berühren. Das V. hängt stark mit dem Hervortreten politischer Führung, teils in Form von Altenherrschaft, teils mit patriarchalischem Despotismus (> Patriarchat) zusammen …«1
Die Ausführungen spiegeln eine Erweiterung des Sinnfeldes von »Patriarchat«. Diese war während der jahrzehntelangen Kontroverse über die Evolutionsgeschichte der Menschheit zum Zuge gekommen. 1861 hatte Johann Jacob Bachofen »Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur« veröffentlicht und damit den Nachweis versucht, dass es in der Geschichte der Menschheit vor dem weltweit herrschenden Vaterrecht eine Phase des Mutterrechts gegeben habe. Auf diese These reagierten mit immer neuen Beweisen und Gegenbeweisen Altphilologen, Archäologen, Althistoriker, Anthropologen und Politiker. 1884 verschärfte Friedrich Engels durch seine Abhandlung »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« die akademische Diskussion mit dem politischen Sprengsatz Kommunismus und Frauenemanzipation. Nach dem Ersten Weltkrieg führte Max Weber die Begriffsvariation »Patriarchalismus« in das sozialwissenschaftliche Vokabular ein. In seiner Soziologie der Herrschaft äußerte er sich über vorbürokratische Strukturprinzipien. Dabei bezeichnete er die schrankenlose Autorität des Hausherrn innerhalb einer häuslichen Gemeinschaft als »reinen Patriarchalismus«. Aus diesem hätte sich die »patrimoniale Herrschaft« weiterentwickelt, wo Unfreie in eigenen Familien und Hauswirtschaften auf dem Boden der Grundherrschaft leben, aber weiterhin der Gewalt des Herrn unterworfen bleiben. Diese patrimoniale Herrschaft sei schließlich ausgebaut worden zur Herrschaftsbeziehung zwischen Fürst und Untertanen, d. h. zum »patriarchalen Patrimonialstaat«. Der Brockhaus von 1979/1980 wartet mit einer Überraschung auf. Beim Stichwort »Patriarchat« wird verwiesen auf »Vaterrecht« und dort ist u. a. von »Dominanz des Mannes« die Rede: »Vaterrecht: eine Form der Sozialorganisation, die charakterisiert ist durch bestimmte, die Dominanz des Mannes in Familie und Gesellschaft kennzeichnende Züge: patrilineare Abstammungsrechnung, patrilokale Wohnsitzregelung, tragende Rolle des Mannes im öffentlichen Leben.«
Im Nachsatz wird darauf verwiesen, dass laut Evolutionslehre das Patriarchat auf das Matriarchat folge. Neu ist außerdem das Stichwort »Patriarchalismus«: »Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung, in der Staatsoberhaupt, Grundherr oder Unternehmer verstanden wird als eine Art Familienoberhaupt über Untertanen, Gesinde oder Arbeitnehmer. Er besitzt umfassende Herrschaftsrechte (einschließlich der Strafgewalt) aber auch viele Fürsorgepflichten.«2
1 Der Große Brockhaus, 14. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1933, S. 244 f. u. Bd. 19, Leipzig 1934, S. 403 f. 2 Ebd., 18. Aufl., Bd. 11, Wiesbaden 1980, S. 670 u. Bd. 8, Wiesbaden 1979, S. 580.
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Die Lexika zeigen eines deutlich: Der in feministischen Texten häufige Begriff »Patriarchat« und die Charakterisierung als »patriarchalisch« haben wenig gemein mit dem ehemals etablierten Wortgebrauch. Das ist kaum verwunderlich. Denn das wissenschaftliche Forschen darüber, wie soziale Regelungen von Abstammung/Verwandtschaft, Wahl des Wohnsitzes, Erbfolge/Besitzübertragung, Herrschaft und Arbeitsteilung eingewirkt haben auf die historische Entwicklung von Familie, Gesellschaft und Staat verfolgte kaum das Interesse, die aktuelle Situation von Frauen historisch zu begreifen, um sie zu verändern. Dieses ist die politische Wende, die die Neue Frauenbewegung der Diskussion gegeben hat. Das Kunstwort »Patriarchat« kristallisierte sich schnell als Leitbegriff der internationalen Frauenbewegung heraus, um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern als Herrschaftsverhältnis zu charakterisieren. Dabei störte es wenig, dass Männerherrschaft und nicht Vaterherrschaft gemeint war und dass der Begriff vorher ausschließlich zur Charakterisierung vormoderner Gesellschaften ausdifferenziert worden war. Die Neue Frauenbewegung eignete sich das Vokabular für ihre anders gearteten Vorstellungen an und besetzte es mit neuem Sinn. Wie aber ist das Reden von Patriarchat und patriarchalisch in die Neue Frauenbewegung gelangt? Wenn mich nicht alles täuscht, so wurden in der Alten Frauenbewegung allenfalls die Familienverhältnisse und das Familienrecht als patriarchalisch bezeichnet. Immerhin schrieb Marianne Weber 1907 in ihrem Buch »Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung« auch über den »Patriarchalismus«, der durch das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 im Deutschen Reich erneut festgeschrieben worden sei. Zu meiner großen Überraschung findet sich der Wortgebrauch nicht in dem seit 1879 viel gelesenen, in zahlreichen Auflagen erschienenen Buch von August Bebel »Die Frau und der Sozialismus« und in Friedrich Engels 1884 veröffentlichtem »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats«. Bebel urteilte später im Anschluss an Engels: »Die Geltung des Mutterrechts bedeutete Kommunismus, die Gleichheit aller; das Aufkommen des Vaterrechts bedeutete Herrschaft des Privateigentums und zugleich bedeutet es Unterdrückung und Knechtung der Frau«; er wählte für die Gegenwart Formulierungen wie: »In der bürgerlichen Welt rangiert die Frau an zweiter Stelle. Erst kommt der Mann dann sie.« Oder: »Das weibliche Geschlecht in seiner Masse leidet in doppelter Beziehung: Einmal leidet es unter der sozialen und gesellschaftlichen Abhängigkeit von der Männerwelt … und durch die ökonomische Abhängigkeit, in der sich die Frauen im allgemeinen und die proletarischen Frauen im besonderen, gleich der proletarischen Männerwelt befinden.«3
3 A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Zitate nach der kritischen Ausgebe aus der letztmals von Bebel selbst stark überarbeiteten 50. Auflage, in: Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam (Hg.), August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 10/2, München 1996, S. 263, 318, 240.
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Engels entwarf 1884 für eine ferne Vorgeschichte die »ursprünglich kommunistische Gesamthaushaltung«, welche »Herrschaft der Weiber im Hause« und »hohe Achtung der Weiber, d. h. Mütter« bedeutet hätte, und charakterisierte im Gegensatz dazu das nachfolgende und noch in der Gegenwart geltende Geschlechterverhältnis als »patriarchalische Hausgenossenschaft« bzw. »patriarchalische Familie«. Diese sei die Voraussetzung für die Entfaltung von Privateigentum und Staat. Sie basiere auf der allein für die Ehefrau erzwungenen Monogamie, die es möglich mache, die leiblichen Kinder des Vaters zu identifizieren und so für die Verwandtschafts- und Erbfolge das Vaterrecht aufzurichten. Vielzitiert ist Engels Folgerung: »Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer im Haus, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kindererzeugung.« Doch auch Engels sprach nicht von Patriarchat, sondern von »Herrschaft des Mannes in der Familie«, von »Vorherrschaft des Mannes«, von »Männerherrschaft« oder »Alleinherrschaft der Männer.«4 Wenn Feministinnen heute das »Patriarchat« attackieren, so tun sie es nur selten im Hinblick auf eine jenseits des Privateigentums aufzurichtende kommunistische Gesellschaft. Schon gar nicht vertrauen sie auf Engels optimistische Erwartung, dass das Proletariat, weil es kein Privateigentum zu verteidigen habe, ohne Antrieb zur Männerherrschaft sei und deshalb den Anfang machen werde mit einem herrschaftsfreien Geschlechterverhältnis. Die historische Erfahrung hat nachhaltig für Desillusionierung gesorgt. Dennoch gewann die Neue Frauenbewegung aus der Kritik an Bebel, Engels und der Arbeiterbewegung wichtige Impulse für ihr Nachdenken über das Patriarchat als einen über die Familie und über die Klassen hinausreichenden gesellschaftlichen Zusammenhang. Als Simone de Beauvoir 1949 mit ihrem großen Buch »Le deuxième sexe« der Neuen Frauenbewegung um 20 Jahre vorausdachte, erläuterte sie bereits den nur eingeschränkten Nutzen von Engels »Ursprung der Familie« für ihr Untersuchungsvorhaben. In ihrer eigenen Darstellung benutzte sie allerdings selbst kaum die Wörter Patriarchat und patriarchalisch. Erst Ende der sechziger Jahre erhielt das »Patriarchat« in der Frauenbewegung seine zentrale Bedeutung. So skizzierte Kate Millett 1969 in ihrem für die Frauenbewegung wichtigen Buch »Sexual Politics« (deutsch 1971) u. a. die Umrisse einer »Patriarchatstheorie«. Es sei an der Zeit, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern als Herrschaftsverhältnis zu begreifen und die Gesellschaft als Patriarchat. Denn alle Macht liege in Händen der von Geburt an privilegierten Männer. Dabei sei die Frage nach dem Ursprung des Patriarchats weniger wichtig als die nach seiner jüngsten Geschichte und Gegenwart. Dagegen richtete Shulamith Firestone 4 F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Zitate aus der erweiterten 2. Aufl. 1892, in: Marx-Engels-Werke Bd. 21, Berlin 1972, S. 45, 53, 63, 62, 62, 61, 68, 65, 73, 61.
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1970 in »The Dialectic of Sex. The Case for Feminist Revolution« ihre Aufmerksamkeit gerade auf die Jahrtausende währende Herrschaft des Patriarchats, die sie begründet sah in der ungleichen biologischen und sozialen Konstitution der Geschlechter. Als erste kritisierten marxistische Feministinnen – wie Juliet Mitchell 1971 in »The Woman’s Estate« (deutsch 1978) – dass derartige Patriarchatstheorien über Räume und Zeiten hinweg das Patriarchat als Universalie behaupteten. An diese in den USA und in England begonnene feministische Diskussion über das Patriarchat wurde in Deutschland wenig später angeknüpft. Den radikalfeministischen Diskussionsstrang führte z. B. Marielouise Janssen-Jurreit 1976 mit ihrem Buch »Sexismus. Über die Abtreibung der Frauenfrage« weiter, und Jutta Menschik nahm 1977 mit ihrer Schrift »Feminismus. Geschichte, Theorie, Praxis« die marxistische Argumentation auf. Beide Autorinnen argumentieren bereits gegen das Konzept »Patriarchat«. Doch beiden zuvor kam 1975 Ernst Bornemann mit seinem distanziert-gelehrten Buch »Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems«, mit dem er auf 670 Seiten Friedrich Engels Argumentation auf dem neuesten Stand der Wissenschaft weiterführen, »der Frauenbewegung dienen« und einer »matristischen« Gesellschaftsordnung den Weg ebnen wollte. Zumindest in Deutschland scheint die Selbstverständlichkeit des Redens über das Patriarchat dieser Schrift einiges zu verdanken. Insgesamt lassen die frühen Texte der Neuen Frauenbewegung mit ihrem Engagement des Nachdenkens und Aufrührens auch heute noch spüren, dass damals bereits die kühne Geste, dem übermächtigen »Patriarchat« den Kampf anzusagen, ein Akt der Befreiung war. Zwei Intentionen bestimmen seitdem die Diskussion: 1. Das Wissen um die Möglichkeit eines Matriarchats oder zumindest eines Nicht-Patriarchats soll den Emanzipationskampf der Frauen beflügeln. 2. Um das Patriarchat aus den Angeln zu heben, soll es als umfassendes System der Männerherrschaft in seinen einzelnen Funktionselementen historisch und politisch erkannt und entlarvt werden; denn Frauen waren zwar immer und überall in den Gesellschaften den Männern nachgeordnet und davon ist bis heute die Frauen-Natur geprägt, dennoch ist dieses keineswegs eine biologische Konstante des Gesellschaftslebens, sondern das Ergebnis von historischen Herrschaftsverhältnissen. Die feministische Verständigung über das Patriarchat ist also zugleich ein Appell an den Willen zur politischen Veränderung. Der Optimismus und Schwung der Neuen Frauenbewegung beflügelte diesen Appell und nährte die Erwartung, die Macht des Patriarchats werde der schnell wachsenden Bewegung nicht standhalten, werde bald zerbrechen. Die politische Mobilisierung von immer mehr Frauen machte in der Hochstimmung der 1970er Jahre die Kampfansage gegen das Patriarchat zweifellos zum zündenden Funken des Aufbruchs. Welche Wirkung aber hat die formelhafte Verständigung über das Patriarchat in den achtziger Jahren? Zur Aufbruchstimmung hat sich inzwischen die Ernüchterung über den zählebigen Widerstand der etablierten Verhältnisse, Strukturen und Personen gestellt und 365
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die Erfahrung, in wie kleinen Schritten die ersehnten gesellschaftlichen Veränderungen vorankommen. Wäre es in dieser Situation möglich, dass die Beschwörung der Allgegenwart des Patriarchats den streitbaren Angriff mehr lähmen als schüren könnte? Denn woher sollen Frauen den Mut und das »Prinzip Hoffnung« für ihr politisches Engagement nehmen, wenn der Rückblick in die Jahrtausende der Geschichte nichts anderes zutage fördert als in trostloser Gleichartigkeit Frauen, die immer und ewig Opfer oder schlimmer noch Kollaborateurinnen der Gewalt eines männlichen Kollektiv-Subjekts mit Namen »Patriarchat« waren, und dieser Übermacht einzig der mythische Traum vom Matriarchat entgegenzusetzen bleibt? Das ist die eine Richtung, in der am Ende der achtziger Jahre der Nutzen und Nachteil des Konzeptes »Patriarchat« zu überprüfen wäre. Auch noch in eine zweite Richtung könnte das kritische Überdenken zielen. Welchen Wert hat das Konzept für wissenschaftliche Analysen der Gegenwart und Vergangenheit, die am Interesse von Frauen ausgerichtet sind; und welchen Wert hat es für politisches Handeln, das, gestützt und informiert durch derartige Analysen, kurzund langfristig die gesellschaftliche Situation von Frauen verbessern will? Skepsis gegenüber dem umfassenden Begriff »Patriarchat« ist in jedem Fall angebracht. Denn die konkrete Aussagekraft eines Begriffes und Konzeptes wird zwangsläufig um so geringer, je breiter die Palette der damit erfassbaren historischen und aktuellen Wirklichkeiten ist. Als universalhistorische Kategorie ist »Patriarchat« schon deshalb von zweifelhaftem Nutzen. Außerdem aber müsste es gerade für Frauenpolitik wichtig sein, möglichst genau zu wissen, wie die je besonderen Strukturzusammenhänge, Handlungsspielräume und konkreten Ausgestaltungen des Geschlechterverhältnisses jeweils zusammengefügt sind. Dieses aber vermag eine allzu schnelle Verständigung über den Gegner »Patriarchat« nicht zu leisten. Statt sich mit dem Stichwort »Patriarchat« als Schlüssel zufriedenzugeben, käme es also darauf an, die historisch sehr verschiedenen, aber immer als Männerdominanz gestalteten Geschlechterverhältnisse in allen gesellschaftlichen Teilbereichen und im Gesellschaftsganzen zu entschlüsseln. Wie werden im Prozess des sozialen Wandels die Geschlechterverhältnisse durch den Einzelhaushalt und durch das familiale Aufziehen der nachwachsenden Generation produziert und tagtäglich reproduziert? Wie kommt es zur ungleichen Platzierung von Frauen und Männern in dem gesellschaftlichen System der Verteilung und Bewertung von Arbeit, Einkommen, Zuständigkeiten und Macht? Wie gelingt über Religion, Sitte, Recht und Ideologie immer erneut die Legitimation des jeweiligen Geschlechterarrangements? Schon wenn man diese immer noch sehr grobschlächtigen Fragen Revue passieren lässt, wird ahnbar, welche Spannungen, Widersprüche, Ambivalenzen eingebaut sind in die sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Denn die Bedingungen, unter denen Frauen und Männer ihr Leben leben, ändern sich ständig und müssen immer erneut von ihnen verändert werden. Demgegenüber suggeriert das schematisierende Konzept »Patriarchat« die Eindeutigkeit vielschichtiger sozialer Beziehungen 366
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und lenkt als kompakte Setzung davon ab, dass Frauen nicht weniger als Männer die vorgefundenen Wertorientierungen und Handlungsspielräume sehr wohl auch im Sinne ihrer eigenen Interessen umzudeuten, auszunutzen und umzugestalten verstehen. Nun hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Grobkonzept »Patriarchat« epochenspezifisch auszudifferenzieren. Vor allem für das 18. bis 20. Jahrhundert gibt es verschiedene Überlegungen, wie ein »bürgerliches« oder auch »kapitalistisches« Patriarchat vom älteren »ständischen« Patriarchat unterschieden werden könnte. Außer Klasse auch Geschlecht als historische Kategorie ernst zu nehmen, führt in diesen Überlegungen zu der Frage, wie bürgerliche Gesellschaft, Kapitalismus und Männerdominanz (vielleicht auch Patriarchat) in dieser spezifischen Gesellschaftsformation zusammengefügt sind. Christine Delphy hat vor Jahren die Probleme, die es methodisch zu lösen gilt, anschaulich gemacht.5 Die Gattin eines Unternehmers wird üblicherweise der Klasse ihres Ehemannes zugerechnet; doch teilt sie nur seinen Lebensstandard, nicht aber seine Verfügungsmacht über die Produktionsmittel; und durch eine Ehescheidung verliert sie in den meisten Fällen ihre vom Ehemann abgeleitete Klassenposition; sie wird Gehalts- oder Lohnempfängerin. Delphy will deshalb die Klassenzugehörigkeit der Ehefrauen herleiten aus der häuslich-familialen Produktionsweise, d. h. aus dem patriarchalischen Ausbeutungsverhältnis in der Ehe, demzufolge sich der Ehemann die unbezahlte Arbeit seiner Ehefrau aneignet. Aus diesem ehelichen Aneignungsverhältnis folge u. a., dass Ehefrauen mit ihren häuslichen Arbeiten und Produkten von Tausch und Markt ausgeschlossen bleiben; und dieses sei wiederum der Grund dafür, dass Hausarbeit nicht als produktive Arbeit anerkannt und bewertet wird. Die gesellschaftliche Erwartung, dass eine Frau über kurz oder lang Ehefrau und Mutter werden wird oder bereits ist, hat in der Tat bis heute auch außerhalb von Familie und Haushalt für alle Frauen weitreichende Folgen in Gesellschaft und Wirtschaft. Auf die verschiedenen konzeptionellen Überlegungen zur historisch-spezifischen Form des »Patriarchats« im 19. und 20. Jahrhundert will ich hier nicht weiter eingehen. Der 1979 von Zillah Eisenstein herausgegebene Sammelband »Capitalist Patriarchy and the Case of Socialist Feminism« zeigt anhand von Einzelstudien, wie sich kapitalistische Klassenstruktur und hierarchische Geschlechterstruktur aufeinander beziehen. Eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Theorieversuche veröffentlichte Michèle Barrett 1980 unter dem Titel »Women’s Oppression Today. Problems in Marxist-Feminist Analysis« (deutsch 1983). 1982 schließlich stellten Ute Gerhard, Doris Janshen, Hiltrud SchmidtWaldherr und Christine Woesler de Panafieu auf dem Deutschen Soziologentag in der Sektion Frauenforschung ihren »Entwurf zu einer historischen und theoretischen Kritik des Patriarchats in der bürgerlichen Gesellschaft« zur Dis5 C. Delphy, L’ennemi principal, in: Partisans, H. 54–55, 1970; deutsche Übersetzung in: A. Schwarzer (Hg.), Lohn: Liebe. Zum Wert der Frauenarbeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 149–172.
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kussion und skizzierten für die Einzelbereiche Recht, Rationalität, Mütterlichkeit und Sexualität den »Formwandel des Patriarchats« von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.6 Insgesamt sind diese Entwürfe einer historischen Spezifizierung anregend, aber auch problematisch. Denn die Aufmerksamkeit wird meines Erachtens allzu sehr abgelenkt von Frauen und Männern, die als Handelnde »ihr« Patriarchat ausgestalten. Auch dürfte es in eine Sackgasse führen, schlicht zu unterstellen, dass alle möglichen Konstellationen, Machenschaften und Politiken dem »Patriarchat« förderlich oder Ausdruck des »Patriarchats« waren. Vorschnell ist es zudem, »Patriarchat« als eheliches und familiales Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern einfach gleichzusetzen mit dem »Patriarchat« als gesamtgesellschaftlichem System. Für beide Ebenen/Bereiche wäre statt dessen genau nach Machtressourcen, Legitimationen und Akzeptanz des »Patriarchats« zu fragen und deren Stabilität bzw. Veränderung im Prozess des sozialen Wandels auszuloten. Meine Einwände gegen die Annahme eines »bürgerlichen Patriarchats« sind allerdings noch grundsätzlicher: Das konzeptionelle Konstrukt scheint mir die historischen Nachforschungen über das 19. und 20. Jahrhundert in die Irre zu leiten und so der Frauenpolitik einen Bärendienst zu erweisen. Meine Skepsis will ich mit einigen Hinweisen auf historische Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert erläutern. Noch in der Frühen Neuzeit und bis in das 18. Jahrhundert hinein sind Haushalte das grundlegende Bauprinzip der Gesellschaft insgesamt. Diesen Haushalten steht der Hausvater vor. Er allein vertritt sein Haus gegenüber der Außenwelt. In dieser Hausvätergesellschaft wird selbst noch die Territorialherrschaft des Fürsten als Hausvatergewalt legitimiert. Er herrsche, so heißt es, als Landesvater über seine ihm Gehorsam pflichtigen und Fürsorge heischenden Landeskinder. Eine der wichtigsten Neuerungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts aber ist es, dass patriarchalische Haushalte nicht mehr durchgehend für alle Gesellschaftsbereiche das grundlegende Bauprinzip abgeben. Seit dem 18. Jahrhundert werden Schritt für Schritt die Emanzipation der Menschen aus der hausväterlichen (patriarchalischen) Gewalt und die staatsbürgerliche Gleichberechtigung aller erwachsenen Individuen durchgesetzt. Ob diese verheiratet oder unverheiratet, reich oder arm, männlich oder weiblich sind, spielt immer weniger eine Rolle für deren Rechtsstatus. Parallel zu dieser Entwicklung wächst die Bedeutung von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten und Institutionen, die nicht mehr auf der Basis von Einzelhaushalten organisiert sind. Für die gesellschaftliche Platzierung von Frauen sind zwei Besonderheiten dieser Entwicklung folgenreich. Wichtig ist zunächst einmal, dass das Prinzip des bürgerlichen Individualismus erst verspätet Geltung erlangt für erwach6 Vgl. F. Heckmann u. P. Winter (Hg.), 21. Deutscher Soziologentag 1982. Beiträge der Sektions- und ad hoc-Gruppen, Opladen 1983, S. 60–74.
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sene Frauen und lange Zeit gar keine für verheiratete Frauen. Ehefrauen bleiben z. T. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wie unmündige Kinder der Gewalt des Ehemannes unterstellt. Das aber bedeutet, dass sich im 19. Jahrhundert die hierarchische Platzierung der Geschlechter zuungunsten der Frauen verschob. Denn früher hatten auch Männer häufig genug noch mit über 30 Jahren als unverheiratete Gesellen oder Knechte im Haushalt ihrer Dienstherren gelebt. Dort waren sie der Hausgewalt der Hausherren unterworfen und hatten auch der Hausfrau, die ihrerseits dem Hausherrn unterstand, Gehorsam geschuldet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen alle Männer mit der Volljährigkeit und unabhängig davon, ob sie ledig oder verheiratet waren, in den Genuss der bürgerlichen Rechte eines Staatsbürgers. Außerdem wurde es immer seltener, dass volljährige Männer Mitglied eines fremden Haushaltes waren. Für Ehefrauen aber galt die ältere hausväterliche Gewalt des Ehemannes fast unverändert weiter. Insofern überlebte für Ehe und Familie die ältere hausväterliche Gewalt auch noch im 19. und 20. Jahrhundert. Allerdings beschränkte sich dieses Hausväter-Patriarchat jetzt immer ausschließlicher auf die Ehefrau und die eigenen Kinder. Doch über diese Feststellung sollte nicht die zweite Besonderheit der Entwicklung aus dem Blick geraten. In der gleichen Zeit etablierte und verfestigte sich jenseits der Familienhaushalte die immer folgenreichere Männerdominanz. Die wichtigsten Schaltstellen der Macht lagen nun außerhalb der Kontrolle der Einzelhaushalte. Diese Schaltstellen wurden immer zahlreicher, immer einflussreicher und waren weiterhin ausschließlich von Männern besetzt. Die Männer-Macht aber entglitt, da sie fern der Familienhaushalte ausgeübt wurde, vollständig der Frauenkontrolle. Das Auseinanderdriften der weiterhin patriarchalisch verfassten, aber auf die Kernfamilie beschränkten Familienhaushalte auf der einen und der von Männern dominierten Gesellschaft auf der anderen Seite ist m. E. entscheidend für die von Frauen so leidvoll erfahrenen Strukturprobleme unserer Gesellschaft. Diese Strukturprobleme sind nur zu einem geringen Teil den uralten patriarchalen Traditionen geschuldet. Sehr viel maßgeblicher und folgenreicher schlägt das Konstruktionsprinzip der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu Buche. Die moderne Gesellschaft ist grundsätzlich auf Individuen ausgerichtet: auf individuelle Staatsbürger, auf individuellen Leistungslohn, auf individuelle Konsumenten. Doch gleichzeitig sollen vorrangig private Familien sicherstellen, dass die gesellschaftlich notwendigen Individuen tagtäglich und über Generationen hinweg lebens- und arbeitsfähig bleiben. Im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird die dazu erforderliche Arbeit bei Frauen festgeschrieben und zwar so, dass diese Arbeit außerhalb von Arbeitsmarkt und Lohnsystem verbleibt. Der familiale Arbeitseinsatz um der Liebe willen aber hat zur Folge, dass Frauen mit allen ihren Interessen gründlich ins Hintertreffen geraten bzw. herausgefallen sind aus einem Gesellschaftssystem, welches die individuell entlohnte Leistung prämiert. Gewiss war die Männerdominanz in allen gesellschaftlich wichtigen Bereichen wie Wirtschaft, Ausbildung, Verwaltung, Interessenvertretung ausschlag369
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gebend für die Art der »Modernisierung« der ehemaligen Hausvätergesellschaft. Dennoch habe ich Zweifel, ob es bei diesen tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen vorrangig oder überhaupt darum ging, dass Männer »ihr« Patriarchat hinüberretteten in eine neue Zeit. Selbst wenn eine solche Unterstellung sinnvoll wäre, bliebe immer noch zu ermitteln, mit welchen Umformungen, Einschränkungen und Kompromissen das »Patriarchat« hinübergerettet wurde. Ich halte es für wenig ergiebig, die Geschlechterverhältnisse des 19. und 20. Jahrhunderts unter der Denkfigur »Patriarchat« auf den Begriff zu bringen. Zu dieser Einschätzung bin ich gekommen, gerade weil ich das gesellschaftliche Dilemma der Frauen historisch aufzudecken versuche. Für dieses Erkenntnisinteresse ist es aufschlussreicher, mit den Nachforschungen anzusetzen bei dem Gegensatz zwischen Individualismus und Familialismus. Dieser Gegensatz entfaltete in der Gesellschaftsformation des 19. Jahrhunderts über den Arbeitsund Warenmarkt eine so zerstörerische Dynamik, dass im Laufe der Jahrzehnte mit einer immer größeren Zahl von sozialstaatlichen Maßnahmen gegengesteuert wurde und wohl auch gegengesteuert werden muss. Der Drehpunkt dieser sozialstaatlichen Maßnahmen aber war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein die Gleichsetzung von Frau-Mutter-Familie und die Rückbindung des Mannes an seine Familie als »Ernährer«. Demgegenüber trat die patriarchalischherrschaftliche Organisation der Ehe- und Familienverhältnisse in Theorie und Praxis des Zusammenlebens der Geschlechter und des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weiter zurück. Statt dessen wurde die neue Brücke zwischen Individualismus und Familialismus, zwischen Erwerbs- und Familienleben errichtet auf den Stützpfeilern des Mann-Ernährers und der Frau-Mutter-Familie. Die Tragkraft dieser Brücke ist für Privatleben und Gesellschaft bis heute erfolgreich in den Dienst genommen worden. Diese Brücke aber ist nicht mehr aus den Elementen des »Patriarchats« gebaut. Neuartige Baumaterialien, Konstruktionsprinzipien und Funktionen wurden in dieser Brücke zusammengefügt. Das Wie und Warum dieser Konstruktion gilt es historisch zu erforschen; denn emanzipatorische Frauenpolitik muss diese für Frauen langfristig so hinderliche Brücke nicht nur einreißen, sondern auch überflüssig machen. Im Interesse von Frauen sind die politischen Weichen so zu stellen, dass in der Gesellschaft familiale und individuelle Familien- und Erwerbsinteressen nicht länger als Gegensatzpaar aufgeteilt und jeweils der ausschließlichen Zuständigkeit eines Geschlechts überantwortet sind. Erst wenn diese antagonistischen Bereiche und Interessen miteinander gesellschaftlich versöhnt sind, können alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens für Frauen und Männer gleichermaßen durchlässig und zugänglich werden. Die Neue Frauenbewegung arbeitet an dieser Zukunft einer menschlicheren Gesellschaft, seitdem sie mit der politischen Kritik des »Patriarchats« begonnen hat. Doch um politische Erfolge langfristig absichern zu können, muss sie über die schematische Anklage des »Patriarchats« hinauskommen und fundierte Kenntnisse gewinnen über die Funktionsweise der männerdominierten Gesellschaft in all ihrer Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit. 370
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Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte*
Vorrede Am 26. Mai 1789 hielt der knapp dreißig Jahre alte Friedrich Schiller an der Universität Jena seine Antrittsvorlesung zum Thema »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte«. Der Andrang des Publikums war so groß, dass in das größte, bis zu 400 Menschen fassende Auditorium gewechselt werden musste.1 Bevor Schiller den »Begriff der Universalgeschichte« zu erörtern begann, verwandte er einige Redezeit darauf, die Kopfarbeiter einzuteilen in die Brotgelehrten mit der Sklavenseele und die Wahrheit suchenden philosophischen Köpfe, um dann zu betonen, dass Universalgeschichte allein etwas für die philosophischen Köpfe sei. Allerdings hatte er sich vorher mit den ersten Sätzen seines Vortrags bereits des Publikums vergewissert, indem er ihm die Chance gab, sich auf die richtige Seite zu schlagen: »Erfreuend und ehrenvoll ist mir der Auftrag, meine h. H. H., an Ihrer Seite künftig ein Feld zu durchwandern, das dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem thätigen Weltmann so herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse, und jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens eröffnet, das große weite Feld der allgemeinen Geschichte. Der Anblick so vieler vortreffliche[r] jun[ger] Männer, die eine edle Wißbegierde um mich her versammelt, und in deren Mitte schon manches wirksame Genie für das kommende Zeitalter aufblüht, macht mir meine Pflicht zum Vergnügen, läßt mich aber auch die Strenge und Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfang empfinden. Je größer das Geschenk ist, das ich Ihnen zu übergeben habe – und was hat der Mensch dem Menschen größeres zu geben als die Wahrheit? – destomehr muß ich Sorge tragen, daß sich der Werth desselben unter meiner Hand nicht verringere. Je lebendiger und reiner ihr Geist in dieser glücklichsten Epoche
* Zuerst veröffentlicht in: H. Medick u. A.-C. Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 5), Göttingen 1998, S. 15–55. 1 Vgl. B. Lecke (Hg.), Dichter über ihre Dichtungen. Friedrich Schiller. Von den Anfängen bis 1795, München 1969, S. 462–464.
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seines Wirkens empfängt, und je rascher sich ihre jugendlichen Gefühle entflammen, desto mehr Aufforderung für mich, zu verhüten, daß sich dieser Enthusiasmus, den die Wahrheit allein das Recht hat zu erwecken, an Betrug und Täuschung nicht unwürdig verschwende. Fruchtbar und weitumfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt. Durch alle Zustände, die der Mensch erlebte, durch alle abwechselnde[n] Gestalten der Meinung, durch seine Torheit und seine Weisheit, seine Verschlimmerung und seine Veredlung, begleitet sie ihn, von allem was er sich nahm und gab, muß sie Rechenschaft ablegen. Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedene Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung theilen Sie alle auf gleiche Weise mit einander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten – sich als Menschen auszubilden – und zu dem Menschen eben redet die Geschichte.«2
Es läge nahe, als Ergänzung zum Zitat auf die großen Heldenrollen, mit denen Schiller die Historiengemälde seiner Dramen belebt hat, oder auf »Das Lied von der Glocke«, das unseren Schatz geflügelter Worte um die Zeilen »Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben« und »drinnen waltet die züchtige Hausfrau« bereichert hat, hinzuweisen. Doch ich will mich damit begnügen, der gerade zitierten Einleitung zur Antrittsvorlesung nur kurz einen Platz auf der Bühne des weiteren Bedenkens zuzuweisen. Die aufscheinende Vision einer Wissenschaft, die zwischen philosophischen Köpfen geteilt werden muss, damit im Lichte dieser Vision das Studium der Universalgeschichte seinen Zweck erfüllen kann, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Schiller übersetzt hier erstens Universalgeschichte als allgemeine Geschichte; er erfasst beides im Bild eines Feldes voller Gegenstände des Unterrichts, herrlicher Muster zur Nachahmung, wichtiger Aufschlüsse, reicher Quellen edelsten Vergnügens und sieht im Kreis der Geschichte die ganze moralische Welt eingeschlossen. Sich diese Schätze beim Durchwandern des Feldes auf die eine oder andere Weise zu erschließen, lädt Schiller zweitens ausdrücklich den denkenden Betrachter, den tätigen Weltmann, den Philosophen, aber auch jeden ohne Unterschied ein. Eingeschlossen fühlen kann sich damit ein jeder der vortrefflichen jungen Männer, die sich aus edler Wissbegierde im Auditorium zusammengefunden haben und es wohl kaum ablehnen, sich als wirksames Genie für das kommende Zeitalter zu sehen. Schiller bringt drittens mit großer Geste sich selbst als Führer durch das Feld bzw. Vermittler zwischen Gegenstand und Publikum ins Spiel. Zwischen Männern der Wissenschaft gibt es ein Geben und Nehmen. Die Nehmenden verpflichten den Gebenden auf Strenge und Wichtigkeit und machen ihm zugleich das Geben zum Vergnügen. Die Gabe, die Schiller zu übermitteln verspricht, ist nichts Geringeres als die Wahrheit, und Enthusiasmus für die Wahrheit zu wecken, erklärt er zu seiner Aufgabe. Nicht
2 Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 17, Weimar 1970, S. 359 f.
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genug damit, will Schiller schließlich viertens die um ihn versammelten Männer ausdrücklich darauf einschwören, sich durch Geschichte zum Menschen auszubilden. Die Frage, ob Schiller mit seiner Behauptung: »zu den Menschen eben redet Geschichte«, auch andere Menschen als gebildete Männer, vielleicht sogar Frauen, hätte gemeint haben können, ist mehr als nur eine rhetorische Frage. Die Frage zielt auf die Art und Weise, wie Schiller – dem das Lehramt die Aussicht auf dringend benötigte Einnahmen eröffnete – gegenüber seinem Publikum sich selbst als Professor und die Universalgeschichte als Aufmerksamkeit heischenden Gegenstand von Wert darstellte. Schiller hatte noch am 13. Mai seinem Freund Christian Gottfried Körner geschrieben, er sei »nicht ohne Verlegenheit, öffentlich zu sprechen«, wolle diese aber noch »ganz überwinden«.3 Am 28. Mai berichtete er Körner, er habe nun »endlich das Abentheuer auf dem Katheder rühmlich und tapfer bestanden … Ob ich gleich nicht ganz frey von Furcht war, so hatte ich doch an der wachsenden Anzahl Vergnügen und mein Muth nahm ehr zu. Ueberhaupt hatte ich mich mit einer gewissen Festigkeit gestählt … Mit den ersten zehn Worten, die ich selbst noch fest aussprechen konnte, war ich im ganzen Besitz meiner Contenance, und ich las mit einer Stärke und Sicherheit der Stimme, die mich selbst überraschte.«
Schiller berichtete mit sichtlichem Vergnügen über seine triumphale Eroberung des Publikums, aber gleichzeitig auch über den »Geist des Neides« in Jena und vor allem über seine eigene Beunruhigung, »daß zwischen dem Catheder und den Zuhörern eine Art von Schranke ist, die sich kaum übersteigen läßt. … Keine Möglichkeit sich, wie im Gespräch, an die Fassungskraft des andern anzuschmiegen.«4 Der Wissenschaftsgestus verlangte offenbar diese Schranke zwischen dem Katheder und den Zuhörern, um die mit pflichtgetreuer Strenge und Wichtigkeit verkündeten Wahrheiten mit Wert auszustatten. Diese Anordnung machte sich bezahlt, sofern zahlende Menschen das Auditorium füllten. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass sich das Auditorium füllte, dürfte auch damals um so größer gewesen sein, je deutlicher die vom Professor verkündeten Wahrheiten eine Resonanz fanden in den Relevanz- und Wahrheitsvorstellungen der Zuhörenden.
3 Lecke (wie Anm. 1), S. 461. 4 Ebd., S. 463–466.
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1. Das fragliche Allgemeine der allgemeinen Geschichte5 Am Ende des 20. Jahrhunderts signalisiert das zweifelhafte Andocken an das »Post« der Moderne, des Strukturalismus, der Histoire mehr die Notwendigkeit, sich von obsolet gewordenen Vorstellungen zu trennen, als die Hinwendung zu aussichtsreicheren Neuformulierungen. Das gilt auch für die Geschichtswissenschaft. Seitdem das im 19. Jahrhundert insbesondere in Deutschland für die Wissenschaft von der Geschichte und der Geschichtsschreibung entworfene und breit akzeptierte Grundkonzept des Nationalstaates und der Konkurrenz von Nationalstaaten seine ordnende und integrierende Kraft für die historische Deutung weltweiter Entwicklungen eingebüßt hat, ist das Nachdenken über neue historiographische Konzepte angesagt.6 In dieser Hinsicht ähnelt die derzeitige Situation der des späten 18. Jahrhunderts.7 Damals ging es um die bürgerliche Neukonzipierung einer Geschichte der Menschheit oder Universalgeschichte. Diese sollte das Nebeneinander beliebig vieler Partikulargeschichten der Herrscherhäuser, Adelsgeschlechter, Familien, Klöster, Städte mit ihrer bunten Vielfalt unterschiedlichster Eingrenzungen und Strukturierungen der Geschichten ablösen.8 Gesucht wurde eine Geschichtsschreibung allgemeineren Sinnes und höherer Ordnung, in welcher der heilsgeschichtliche Bezug säkularisiert oder aufgegeben werden konnte. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewagte Paradigmenwechsel im Nachdenken über eine Theorie der Geschichte und über Historiographie er5 Meine folgende Argumentation bezieht sich in erster Linie auf den deutschsprachigen Raum. Vorüberlegungen habe ich zuerst in der Evangelischen Akademie Loccum vorgestellt, vgl. K. Hausen, Einheit und Perspektive der Geschichtswissenschaft in der neu angebrochenen Epoche der Unübersichtlichkeit. Die Nicht-Einheit der Geschichte als Programm, in: J. Calließ (Hg.), Historische Orientierung nach der Epochenwende, oder: Die Herausforderungen der Geschichtswissenschaft durch die Geschichte, Loccumer Protokolle 71, Loccum 1993, S. 167–182; fortgeführt habe ich diese in meinem Nachwort zur deutschen Ausgabe der Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, hg. von G. Fraisse u. M. Perrot, Frankfurt a. M. 1994, S. 607–621. 6 Vgl. die ausgezeichnete Skizze der aktuellen Forschungsdiskussion von C. Conrad u. M. Kessel, Geschichte ohne Zentrum, in: dies. (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 9–36; sowie U. Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48, 1997, S. 195–219, 259–278. L., Gall, Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Standort der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 264, 1997, S. 1–20, umgeht demgegenüber mit seinem Vorschlag, im Menschen die Einheit der Geschichte wiederzufinden, die offensichtlich gewordenen Probleme. 7 Vgl. H. W. Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart 1991; W. Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 13–91. 8 Vgl. O. G. Oexle (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995; H. Wunder, »Gewirkte Geschichte«. Gedenken und »Handarbeit«. Überlegungen zum Tradieren von Geschichte im Mittelalter und zu seinem Wandel am Beginn der Neuzeit, in: J. Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M. 1994, S. 324–354.
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öffnete ein extrem offenes, weit über Zeit und Raum ausgreifendes Experimentierfeld. Damit wurde jedoch gleichzeitig die Frage akut, wie die Fülle der Erscheinungen in Raum und Zeit in eine kommunizierbare Ordnung gebracht werden könne. Ein eher hierarchisch gedachtes Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, des Allgemeinen zum Besonderen vermochte schließlich auf lange Sicht in der Geschichtsschreibung das wissenschaftliche Tun stärker zu inspirieren als eine Vorstellung von der Gleichrangigkeit des Verschiedenen.9 Die Neukonzipierung der Lehre vom Menschen und der Geschichte als Geschichte der Menschheit, die die sozialen und politischen Hierarchien des Ancien Régime aufbrechen und dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen verpflichtet sein sollte, bediente sich vor allem zweier neuartiger Hierarchisierungen mit weitreichenden Folgen. Als hilfreich erwies sich erstens die im Weltzuschnitt kulturvergleichend eingesetzte Erziehungsmetapher. Diese erlaubte, Europäer des christlichen Abendlandes als Erwachsene einzustufen, sie zu Erziehern der Menschheit avancieren zu lassen und damit höher zu platzieren als alle anderen, in unterschiedliche Stadien der Menschheitskindheit verwiesene Gruppen von Menschen. So veröffentliche z. B. Gotthold Ephraim Lessing 1780 die Menschheitsgeschichte als »Die Erziehung des Menschengeschlechts«.10 Er deutete die Menschheitserziehung als Offenbarung und entwarf eine Analogie zwischen der Erziehung des Kindes zum Erwachsenen und den Entwicklungsabfolgen der Menschheitsgeschichte. Ebenso wie andere Theoretiker der Moderne ließ auch Lessing seine Menschen und Individuen zum Knaben, Jüngling, Mann heranwachsen. Auch er überging in den hundert Paragraphen seines kurzen Traktats mit Stillschweigen, dass das Geborenwordensein die Voraussetzung für das Kindsein ist und dass dementsprechend die Linie Kind-Mädchen-Jungfrau-Frau ebenso notwendig zum Menschsein gehört wie die Linie Kind-Knabe-Jüngling-Mann. Das übliche Aussparen der weiblichen Menschen-Linie ist um so erstaunlicher, als Geschichte im Abendland nicht als Wiedergeburt, sondern als Abfolge von Menschengenerationen und qua Memoria als Nachleben über den Tod hinaus gedacht wird. Die zweite Hierarchisierung erfolgte durch die – wie Claudia Honegger es genannt hat11 – Ausarbeitung einer Sonderanthropologie des Weibes. Diese machte es möglich, das Allgemeine des Menschseins im männlichen Geschlecht verkörpert zu sehen und demgegenüber dem weiblichen Geschlecht eine spezifische Naturhaftigkeit und damit Sonderstellung in der Kultur zuzuweisen. Das 9 Vgl. insbes. P. H. Reill, Das Problem des Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellungen des späten 18. Jahrhunderts, in: K. Acham u. W. Schulze (Hg.), Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichte und Sozialwissenschaften, München 1990, S. 141–168. 10 G. E. Lessing, Sämtliche Werke, Bd. 13, hg. von K. Lachmann u. F. Muncker, Reprint Berlin 1979, S. 413–436. 11 C. Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt a. M. 1991.
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eröffnete den gesuchten Ausweg aus einem Dilemma: das aufklärerische Programm setzte einerseits auf die freie Entfaltung eines jeden Menschen; dessen gesellschaftlicher Platz sollte nicht länger von Geburt an gottgewollt festgelegt sein. Im Widerspruch hierzu aber blieb es andererseits gleichzeitig erstrebenswert, Ungleichheit und Hierarchie als Stützpfeiler der eng mit der Ordnung der Ehe- und Familienverhältnisse verwobenen gesellschaftlichen Ordnung der Geschlechterverhältnisse zu erhalten. Diese Ordnung unbeschadet in die bürgerliche Gesellschaft hinüberzuretten und gegen die Dynamik des modernen Denkens und des sozialen Wandels zu verteidigen, war ein Vorhaben, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ebenso vielfältig wie anhaltend bearbeitet wurde. Das wünschenswerte oder auch nur erträgliche Maß an Differenz bzw. Gleichheit der Geschlechter, der Geschlechterpositionen und der Lebensweisen von Frauen und Männern wurde zum endlosen Thema diskursiver politischer und alltäglicher Auseinandersetzungen und kultureller Verständigungen. Auch die exklusiv Männern überantworteten Wissenschaften, die im 19. Jahrhundert zunehmend institutionalisiert und ausdifferenziert wurden und gesellschaftliche Definitions- und Gestaltungsmacht entfalteten, widmeten der Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse beträchtliche Aufmerksamkeit. Die seit der Spätaufklärung als Wissenschaft vom Menschen entwickelte Anthropologie stellte auch für die wissenschaftliche Fundierung von Geschichtsschreibung und die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft entscheidende Weichen12, indem sie die Geschlechterdifferenz als natürliche, schließlich auch anatomisch an der Ungleichheit der Körper wissenschaftlich fundierte Tatsache ausarbeitete und mit weitreichenden sozialen Bedeutungen ausstattete. Dieses schließlich breit akzeptierte polarisierende Ausdeuten der natürlichen Geschlechterdifferenz für alle Lebensbereiche ermöglichte es, die im späten 18. Jahrhundert vorübergehend auch innerhalb der Wissenschaften höchst virulente Frage nach der Historizität der Geschlechterordnung langfristig stillzulegen und die Geschlechterordnung mit Hilfe der Verweisung an die Natur zu stabilisieren.13 Die Aufmerksamkeit auf das abgrenzbare Besondere des weiblichen Geschlechts zu konzentrieren, bewährte sich darüber hinaus als die Bedingung der Möglichkeit, das Allgemeine des Menschengeschlechts ausschließlich am Menschsein des männlichen Geschlechts abzulesen. Folgerichtig fiel seit Mitte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Zuständigkeit für das Besondere des weiblichen Geschlechts der von Medizinern gestalteten neuen Gynäkologie zu, während »der ›Mensch als Mann‹ von den unterschiedlichsten kogniti12 Dies wird üblicherweise übersehen, so z. B. von J. Rüsen, Von der Aufklärung zum Historismus, in: H. W. Blanke u. J. Rüsen (Hg.), Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, Paderborn 1984, S. 15–59. 13 B. Stollberg-Rilinger, Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 262, 1996, S. 39–71, zeigt, wie das universalgeschichtliche Konzept des Kulturfortschritts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Geschlechtergeschichte durchaus zuließ, während diese im 19. Jahrhundert in den verfestigten Grenzen der Fachwissenschaft keinen Platz mehr fand.
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ven Bemühungen erfaßt und in diversen akademischen Disziplinen verhandelt« wurde.14 Noch im 20. Jahrhundert war die Denkweise geläufig, die Natur habe vorgegeben, dass in den Geschlechtskörper des männlichen Geschlechts der öffentliche Bereich mit der ihm zugesprochenen Geschichtsmächtigkeit und in den des weiblichen Geschlechts der familiale Bereich mit der ihm zugesprochenen Naturhaftigkeit eingeschrieben sei. Zwischen der Erarbeitung einer allgemeinen Anthropologie plus weiblicher Sonderanthropologie und dem Bestreben, die ältere Tradition der Geschichtsschreibung durch eine im modernen Sinne als Wissenschaft betriebene Geschichtsschreibung zu ersetzen, gab es wohl nicht nur eine zeitliche Parallele, sondern auch einen inhaltlichen Zusammenhang. Dem Programm einer umfassenden Menschheitsgeschichte fehlte es zunächst an Kriterien, historisch Relevantes auszuwählen und ein historisch relevant erachtetes Allgemeines vom historisch irrelevanten Besonderen abzugrenzen. Für die gleichzeitig angestrebte intersubjektive Verständigung über Geschichte aber schienen eine solche Auswahl und Abgrenzung notwendig zu sein. Ein erster Schritt zur Lösung des Problems war es, den Fortschritt der Zivilisation als historische Zielperspektive anzusetzen und in dieser Perspektive bestimmte Gruppen von Menschen zu privilegieren. Für die Aufklärer waren dieses wie selbstverständlich die Menschen weißer Rasse, abendländisch-christlicher Zivilisation und männlichen Geschlechts. Ein zweiter Schritt zur Eingrenzung des mit Relevanz ausgestatteten Geschichtsterrains wurde im 19. Jahrhundert getan. Die wissenschaftlich betriebene Historiographie wurde nun immer konsequenter auf die Staatenbzw. Nationalstaatengeschichte und politische Geschichte verengt; und damit zugleich festgeschrieben, dass Geschichte von Relevanz ausschließlich dem im 19. Jahrhundert als männlich ausgewiesenen Wirkungsbereich eigen ist.15 Bei dem, was im 19. Jahrhundert in den Nationalstaaten als universitäre Geschichtswissenschaft etabliert und als wissenschaftlich erforschte Geschichte Rang und Ansehen gewann, kamen Frauen als Geschichtsschreiberinnen überhaupt nicht und als Gegenstand des historischen Interesses nur selten vor. Damit spiegelten und bestätigten die wissenschaftlich fundierten Geschichtsvorstellungen immer erneut die anthropologische Grundannahme, dass das weibliche Geschlecht mehr der auf unwandelbare Dauer angelegten Natur, denn der dem historischen Wandel zugewandten Kultur angehöre. Das Interesse für die Geschichte der Geschlechterbeziehungen brach zwar nicht ab. Es kam seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sogar wieder verstärkt zum Ausdruck in der Kultur- und Sittengeschichte und in den Matriarchats- und Evolutionstheorien. Aber zwischen solchen außerhalb der Geschichtswissenschaft angesiedelten Experimenten und der von Universitätshistorikern verwalteten sogenannten allgemeinen Geschichte gab es eine tiefe Kluft, die jahrzehntelang sicherstellte, dass 14 Honegger (wie Anm. 11), S. 211. 15 Zu den Übergängen jüngst M. Dümpelmann, Zeitordnung. Aufklärung, Geschichte und die Konstruktion nationaler Semantik in Deutschland 1770–1815, Berlin 1997, bes. S. 247 ff.
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die Geschichtswissenschaft erfolgreich der historischen Erforschung der Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse Wissenschaftlichkeit und Relevanz absprechen konnte. Die im 19. Jahrhundert mit einer neuartigen Verständigung über allgemeine Geschichte und mit der Durchsetzung verbindlicher Konzepte und Methoden einhergehende Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung verbaute langfristig den wissenschaftlichen Zugang zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse, der Geschlechterordnungen und der Art und Weise, wie Menschen unter den Normen von Weiblichkeit und Männlichkeit ihr Leben gestalteten. Wie aufwendig es dementsprechend heute ist, hierzu einen Zugang frei zu räumen, ist von seiten der historischen Frauenforschung seit Jahren ausgelotet worden.16 Das Problem liegt nicht nur im mühsamen Werben um wissenschaftliche Akzeptanz, sondern auch in der Handhabung und Kritik bewährter Methoden und Konzepte. Der Weg dazu ist gebahnt worden mit dem Ausbruch aus dem eng gewordenen Korsett der politischen Geschichte und der seit den 1960er Jahren erfolgreichen Durchsetzung vielfältiger Formen der Sozialgeschichte. Erstaunlicherweise kam diese innovative Weichenstellung zum Zuge, ohne die Geschlechter-Schranken ernsthaft infrage zu stellen bzw. überhaupt als Problem wahrzunehmen, obwohl die historische Frauenforschung dieses seit Mitte der 1970er Jahre einforderte. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Geschichte der Geschlechterverhältnisse aber zwingt zunächst einmal zur Radikalisierung der Quellenkritik. Die überlieferten Text- und Bildquellen müssen als Teilstücke der über Sprache, Bilder und Zeichen vermittelten kommunikativen Konstruktion von Geschlechts-Wirklichkeiten entschlüsselt und dekonstruiert werden. Denn da auch die kulturelle Ordnung der Geschlechterverhältnisse dem historischen Wandel unterliegt, aber gleichwohl in ihren Grundregeln möglichst stabil gehalten werden soll, hat sie schon immer der stets erneuerten kollektiven Vergewisserung bedurft. Die Ordnung wurde daher unablässig als Norm und System praxisleitender Verhaltens- und Handlungsanweisungen mit Hilfe einprägsamer Handlungen, Zeichen, Bilder, Vorstellungen, Redewendungen, Sichtweisen bearbeitet. Dabei verstärkte sich im 19. Jahrhundert die auch sonst beobachtbare Tendenz, gesellschaftlich favorisierte Vorstellungen sozial und überregional zu vereinheitlichen, zu verallgemeinern und wissenschaftlich zu bekräftigen. Allen voran die bürgerlichen Eliten verständigten sich über die Ordnung der Geschlechterverhältnisse in neuartigen Wahrnehmungs-, Denkund Sprechweisen und mit Hilfe generalisierender Verfahren des Definierens, Ordnens und Bewertens. Da diese Eliten gleichzeitig bei der Ausgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse an Einfluss gewannen, konnten sie erfolgreich 16 Eine einflussreiche Zusammenführung der methodischen Erfahrungen und theoretischen Diskussionen erarbeitete J. W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91, 1986, S. 1053–1075; erneut abgedruckt in dies., Gender and the Politics of History, New York 1988, S. 28–50; interessant dazu die Besprechung von W. H. Sewell Jr, in: History and Theory 29, 1990, S. 71–82.
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darauf hinwirken, auch die von ihnen eingeleitete diskursive Amalgamierung von Alltags- und Wissenschaftskommunikation in der öffentlichen Diskussion voranzutreiben. Ein Höchstmaß an kritischer Umsicht ist daher nicht nur bei der Quellenanalyse, sondern auch bei der Weiterverwendung altbewährter Konzepte und Begriffe angesagt. Im Hinblick auf die normative Ordnung und die gelebten Beziehungen der Geschlechter spricht viel für die Annahme, dass im 19. Jahrhundert das Wechselspiel zwischen den Formen und Inhalten der alltäglichen, der wissenschaftlichen und der künstlerischen Bilder und Ausdrucksweisen besonders intensiv wurde. Die durch Wissenschaft bekräftigten Zuschreibungen durchdrangen im 19. Jahrhundert zunehmend die von den Zeitgenossen nicht eigens reflektierten, da gebräuchlich gewordenen Denk- und Sprechweisen. Kritische Dekonstruktion ist angesagt, wenn in den Quellen vom männlich besetzten weiten Raum des Politischen, des Öffentlichen, des Allgemeinen und dem weiblich besetzten engen Raum des Privaten, des Besonderen, des Unpolitischen die Rede ist. Auch die sozial erwünschte strukturelle Stärke des männlichen und strukturelle Schwäche des weiblichen Geschlechts finden in einer kaum zu überschauenden Vielfalt von Bildern und Redeweisen ihren beredten Ausdruck bis hinein in die Mitteilungen über Einzelheiten des Alltagsgeschehens. Die in der kollektiven Verständigung geschlechtsspezifisch zugewiesenen Fähigkeiten und Zuständigkeiten und die zu Bildern verfestigten Geschlechtervorstellungen finden – keineswegs nur im bürgerlichen Milieu – selbst noch in den individuell formulierten Wünschen und wechselseitigen Wahrnehmungen und Erwartungen der Geschlechter ihren Niederschlag. Die methodischen Probleme geschichtswissenschaftlicher Forschungen über Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse spitzen sich weiter zu, sobald wir uns eingestehen, dass das jeweils gebräuchliche Raster der Wahrnehmung und Verständigung immer auch fester Bestandteil der erfahrenen Wirklichkeit war. Für die Erforschung der Frauenseite und der Männerseite der Geschlechtergeschichte kommen noch weitere Schwierigkeiten hinzu. Die gesellschaftlich erwünschte Dominanz und Privilegierung des männlichen Geschlechts hat auch in den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache, Bilder und sonstigen Medien eine feste Verankerung gefunden, und die im 19. Jahrhundert auch in dieser Hinsicht modernisierten Sprach- und Bildmuster der Kommunikation und Wahrnehmung sind bis heute geläufig geblieben. Während uns bei Texten und Bildern früherer Jahrhunderte deren Fremdartigkeit auffällt und zur Analyse und Kritik herausfordert, behindert uns bei Quellen des 19. Jahrhunderts der Mangel an Distanz zu den damaligen Ausdrucksgewohnheiten häufig so sehr, dass uns das Identifizieren wirkungsmächtiger Konstruktionen nicht immer gelingt. Wenn im 19. und 20. Jahrhundert die Rede davon ist, dass Frauen Hilfsarbeiten leisten, dass sie eines besonderen gesetzlichen Schutzes bedürfen, dass sie gefühlsbetont handeln, dass sie unpolitisch und unorganisierbar sind, dann sind diese nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen überlieferten Aussagen mitnichten schlichte Belege für historische Fakten. Sie vereinheitlichen 379
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vielmehr häufig genug höchst divergierende Phänomene diskursiv zu einer als Einheit gedachten Wirklichkeit, indem sie Nicht-Passförmiges unberücksichtigt lassen.17 Im frühen 19. Jahrhundert wurde die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorgenommene Suche nach einer neu fundierten Einheit der Geschichte als Universal- und Menschheitsgeschichte ergebnislos abgebrochen. Als sich die moderne Geschichtswissenschaft erfolgreich als Universitätsdisziplin etablierte, gereichte es ihr zum Vorteil, dass sie sich um Nation und Nationalgeschichte als organisierendes Prinzip gruppierte und damit für das geschichtswissenschaftliche Forschen und Darstellen handliche und identifikatorisch wirksame Prinzipien der Sinnstiftung, der Grenzziehungen, der Auswahl, kurzum der Hierarchisierung dessen, was das Relevante und was das Irrelevante, was das Höhere und was das Niedere, was das Gestaltende und Obsiegende, was das Verfallende und Vergehende usw. sei, gewann. Dieser nationalgeschichtlichen Ausrichtung lag bis in die 1970er Jahre unwidersprochen außerdem die historiographische Zentralperspektive weißhäutiger Mittelschichtmänner zugrunde. In den USA wird seit mehr als zwei Jahrzehnten nachdrücklich daran gearbeitet, den race und gender bias der Geschichtswissenschaft aufzudecken und zu überwinden. In der Bundesrepublik werden diese Herausforderungen äußerst zögernd aufgenommen und wegen ihrer weitreichenden Konsequenzen eher vorbeugend abgewehrt als theoretisch diskutiert.
2. Die Nicht-Einheit der Geschichte als Programm Ich halte es für dringlich, sehr viel kritischer als bisher nachzufragen, was die in der Geschichtswissenschaft wirkungsmächtige Fiktion einer Einheit der Geschichte geleistet hat und weiterhin zu leisten vermag bzw. was sie verstellt hat und zukünftig nicht länger verstellen sollte. Es ist an der Zeit, über diese Fragen sehr viel offener und offensiver als bisher zu diskutieren. Ich schlage vor, statt der bisherigen Einheit die Vielheit der Geschichte als wohldurchdachtes historiographisches Programm auszugestalten. Die Nicht-Einheit der Geschichte zu akzeptieren und in der Wissenschaft produktiv zu gestalten heißt, die vielen Geschichten lokaler ebenso wie weltweiter Prozesse des historischen Wandels gerade um ihrer Widersprüchlichkeit, um ihrer Uneinheitlichkeit, um ihrer Differenz willen zu vergegenwärtigen. Nicht nur die Uneinheitlichkeit von Zeiten und Räumen, sondern auch die nach Herkunft und Lebenssituation ausgeprägte Unterschiedlichkeit von jungen und alten Menschen, von Frauen und 17 Als Versuch, Denkgewohnheiten zu hinterfragen, vgl. K. Hausen, Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay, in: dies. (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993, S. 40–67.
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Männern zusammen mit der Vielfalt der Möglichkeiten und Interessen der im historischen Zeitverlauf handelnden und sinnstiftenden Subjekte gilt es sehr viel entschiedener als bisher zum Zentrum wissenschaftlich fundierter Geschichtsdarstellung zu machen. Dieses Programm fordert dazu heraus, auf größere kritische Distanz zur bewährten Hilfskonstruktion der Kollektivsubjekte zu gehen und sich von der Meister-Erzählung zu verabschieden.18 Lenken wir zunächst die Aufmerksamkeit auf die Frage, warum in Deutschland das Konzept der Einheit der Geschichte als Bedürfnis und Notwendigkeit so besonders zäh verteidigt wird. Welchen Nutzen hat die Fiktion einer Einheit der Geschichte? Diese Vorstellung ist eine ebenso grundlegende, wie bewährte Fiktion der Geschichtswissenschaft, die die Erforschung und Darstellung der Geschichte und schließlich auch die Rezeption und Verbreitung des durch Wissenschaft vorgearbeiteten Geschichtsbildes anleitet. Erst die Denkfolie der Einheit der Geschichte macht es möglich, eine bestimmte Geschichte als allgemeine Geschichte gegenüber diversen Geschichten, die dann als Spezialgeschichten erscheinen, abzugrenzen und zu privilegieren. Durchmustert man die allgemeine Geschichte im Hinblick auf das, was eingeschlossen und was ausgeschlossen wurde, so ist sie unschwer identifizierbar als ein Produkt und ein Medium der Selbstverständigung über kulturelle Hegemonie. Männer weißer Hautfarbe im besten Lebensalter aus Europa/USA werden in dieser Fiktion des Allgemeinen als historische Subjekte so eindeutig privilegiert, dass es überaus schwierig ist, wenn es denn überhaupt versucht wird, Menschen, die nicht zu dieser historiographisch privilegierten Gruppe zählen, anders denn als Objekte bzw. als Reagierende in diese Geschichte einzubeziehen. Ausgeformt wird dieses Allgemeine üblicherweise in dem Paradigma der Staats- bzw. Nationalstaatsgeschichte. Auch die aktuellen Versuche, eine Europa-Geschichte zu konstruieren, lösen sich bislang nicht prinzipiell vom bewährten Schema. Im Rahmen dieses Paradigmas gelten weitreichende Vorentscheidungen über die Bewertungssysteme, die Methoden der Gegenstandsund Problemformulierung, die Hierarchisierung dessen, was überhaupt Relevanz erhalten soll, was die Haupt- und Nebensachen sind, und schließlich auch über das Deuten und Ordnen dessen, was historisch als relevant und mitteilenswert erachtete wird. Gewiss ist das von der professionellen Geschichtswissenschaft methodisch produzierte Wissen über Geschichte keineswegs monolithisch. Spezialisierungen und ein pluralistisches Nebeneinander unterschiedlicher methodischer Vorgehensweisen und Erkenntnisinteressen sind in der Geschichtswissenschaft durchaus erlaubt. Allerdings werden insbesondere in Deutschland die Grenzen des noch Zulässigen nach wie vor besonders hartnäckig und unter Einsatz aller verfügbaren positionellen und rhetorischen Definitionsmacht verteidigt. Das alte Gebäude der Nationalgeschichte darf zwar 18 Ähnliche Überlegungen entwickelt W. J. Mommsen, Geschichte und Geschichten: Über die Möglichkeiten und Grenzen der Universalgeschichtsschreibung, in: Saeculum 43, 1992, S. 124–136.
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zahlreiche Anbauten und vielleicht auch einige weniger gravierende Umbauten erhalten; aber der Charakter des alten Gebäudes soll insgesamt erhalten und auf den ersten Blick erkennbar bleiben. Für gleichberechtigte Parallel- und Neubauten ist das Bauherren-Plazet nicht zu erwarten, wie die Nervosität zeigte, mit der in der Bundesrepublik das Verhältnis zwischen Politikgeschichte und politischer Gesellschaftsgeschichte, zwischen politischer Gesellschaftsgeschichte und Alltagsgeschichte in den letzten Jahrzehnten ausgehandelt worden ist. Warum aber steht das Paradigma der Nationalstaatsgeschichte, die gleichzeitig als allgemeine Geschichte ausgegeben wird, nach wie vor so hoch im Kurs? Zu dieser Frage will ich für die Situation in der Bundesrepublik nur eine Überlegung skizzieren. Das Festhalten an dieser nationalstaatlich verengten Ausformung der Einheit der Geschichte dürfte mit der erstaunlich stabilen Engführung zwischen universitärer Geschichtswissenschaft, Lehrerausbildung und Entwicklung von Schulcurricula zusammenhängen. Die behauptete Einheit der Geschichte erleichtert ganz ohne Frage die wissenschaftliche Produktion und Übermittlung verallgemeinerbarer Geschichtsbilder. Solange von der Geschichtswissenschaft eine nationalstaatliche Bringschuld erwartet und bei der Finanzierung der Geschichtswissenschaft aus öffentlichen Geldern auch auferlegt wird, ist die historische Wissenschaft gut beraten, nationale Identität zu bearbeiten, Orientierungswissen anzubieten und eine entsprechende Hierarchisierung und Bewertung von Wissensbeständen vorzunehmen. Im Vergleich zu diesen erwiesenen Leistungen nimmt sich der wissenschaftspolitische Ertrag des von mir vorgeschlagenen Programms der Nicht-Einheit der Geschichte zunächst dürftig aus. Wenn die nationalstaatliche Einheit als historiographischer Fluchtpunkt aufgegeben wird, dann sind auf dem Schauplatz der nun nicht mehr nationalstaatlich eingegrenzten und gewichteten Geschichte viele konkurrierende Geschichten zu betrachten. Dieses Programm hat ohne Frage seine Risiken und Gefahren. Der heute mit Recht erneut auf die Agenda gesetzte universalhistorische Anspruch schafft zunächst einmal aus sich heraus keine Handhabe, um einerseits den professionellen Dilettantismus und andererseits die pure Beliebigkeit der zur Schau gestellten historischen Ansichten methodisch abzuwehren. Außerdem lässt sich das von mir vorgeschlagene historiographische Durcharbeiten und Diskutieren vieler möglicher Geschichten nicht in der gewohnten Weise für Schulzwecke handlich aufbereiten und darbieten. Solange historische Bildung das Ziel haben soll, ein bestimmtes Quantum historischen Wissens zusammen mit einem Satz von Wertorientierungen zu verankern, ist es einfach, ein Programm der Nicht-Einheit von Geschichte mit dem Vorwurf abzuwehren, hier werde der Unverbindlichkeit das Wort geredet, auf die Auflösung der Geschichte hingearbeitet und historische Bildung unmöglich gemacht. Trotz allem lohnt es den Versuch, die in der geschichtswissenschaftlichen Praxis schon heute immer weniger durchgehaltene Fiktion der Einheit der Geschichte bewusst und begründet aufzugeben, statt weiterhin Symptome der Nicht-Einheit als ein leider offensichtliches Übel stillschweigend hinzunehmen 382
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oder die beschwerliche Unübersichtlichkeit der Geschichte zu beklagen. Es ist an der Zeit, endlich die Nicht-Einheit als Programm genauer zu reflektieren, offensiv zu bearbeiten und dabei die primäre Orientierung am Nationalstaat aufzugeben. Neue historiographische Orientierungen sind erforderlich, um den säkularen Prozessen der Globalisierung und Universalisierung von Märkten und Nutzungsweisen für Güter, Arbeit und Kapital, von Wissenschaft, Technik und Kommunikation verstärkt Rechnung zu tragen; um außer den Nationen und Nationalstaaten auch die Internationalität, Regionalität und Ethnizität mit der ihnen angemessenen Bedeutung auszustatten; um für die Menschen, die unter den Bedingungen historischer Zeit ihr Leben ausgestalten, in der Geschichtsdarstellung ausreichend Platz freizuhalten gegenüber den historiographisch häufig übermächtig herausgestellten Strukturen, Institutionen, Kollektivsubjekten und großen Einzelpersönlichkeiten. Vor allem aber kommt es darauf an, auf neue Weise die historische Bedeutung von Ungleichheit und Dominanz so zu analysieren und zu vergegenwärtigen, dass in der historischen Analyse und Darstellung das Nicht-Dominante gleichberechtigt berücksichtigt und die historiographische Marginalisierung des Nicht-Dominanten erfolgreicher als bisher abgewehrt wird. Diese Aufgabe kann mit Aussicht auf Erfolg nur dann angegangen werden, wenn an Stelle der Einheit der Geschichte als orientierendes Konzept die Nicht-Einheit der Geschichte konsequent reflektiert würde. Denn in das Konzept der Einheit der Geschichte ist Hierarchie als ordnendes Prinzip eingelassen, und dieses Prinzip privilegiert die Logik des und der Dominierenden. Das eben Gesagte ließe sich am Beispiel der Weltgeschichte der kolonialen bzw. imperialistischen Durchdringung der Welt verdeutlichen. Diese Geschichte ist jahrzehntelang aus der Perspektive des kolonisierenden Abendlandes geschrieben worden. Wer heute sicherstellen will, dass sich die Geschichte der in den ehemaligen Kolonien und Halbkolonien lebenden Menschen nicht weiterhin in der kolonialen Situation erschöpft und verflüchtigt, muss mit den überlieferten Sichtweisen auch die bereits ausgearbeiteten historischen Fakten und deren Bewertung einer so grundlegenden Kritik und Neuformulierung unterziehen, dass das tradierte Gebäude der modernen Kolonialgeschichte wahrscheinlich zusammenstürzt.19 Die Einheit der sogenannten allgemeinen Geschichte ist bislang um den Preis der autoritativen Entscheidung über das, was als historisch relevant und dominant zu gelten hat, erkauft worden. Dieser Preis ist viel zu hoch, um als historiographische Notwendigkeit einfach hingenommen zu werden. Eine kritische Bilanzierung ist überfällig. Sie muss offenlegen, was auf der Kostenseite zu verbuchen ist, wenn um der Konstruktion einer allgemeinen Geschichte willen über den Ausschluss aus der Geschichte bzw. über den Einschluss allein nach Maßgabe der Dominierenden entschieden wird. Die Entscheidung darüber, was als geschichtsmächtig in der historischen Erinnerung aufbewahrt und was als un19 Vgl. z. B. den Forschungsbericht von M. Geyer u. C. Bright, World History in a Global Age, in: American Historical Review 100, 1995, S. 1034–1060.
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wichtig dem Vergessen anheimgegeben werden soll, ist in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen eine politische Entscheidung. Im Folgenden soll die gerade formulierte Kritik an der Einheit der Geschichte und den zu ihrer Konstruktion eingesetzten Prinzipien und Verfahren am Beispiel der Geschichte des »anderen Geschlechts« und der Geschichte der Geschlechterverhältnisse näher erläutert werden. Von den Wertorientierungen und normativen Postulaten der Civil Society und der Aufklärung ist seit dem 18. Jahrhundert und bis heute immer wieder, sei es emphatisch oder skeptisch-distanziert, die Rede. Dabei bleibt allerdings üblicherweise ausgeblendet, dass seit dem 18. Jahrhundert beträchtliche Anstrengungen darauf gerichtet wurden, alle Menschen weiblichen Geschlechts prinzipiell nicht gleichberechtigt zu den naturrechtlich begründeten Persönlichkeits- und Freiheitsrechten und den Möglichkeiten vermehrter Partizipation und Selbstbestimmung zuzulassen. Die Losung der Französischen Revolution »Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit« war damals so und nicht anders gemeint. Frauen sollten weiterhin der Herrschaft und der Vertretung durch den Vater, Ehemann, Bruder subsumiert bleiben.20 Seit dem 18. Jahrhundert wurde für Frauen der Platz in der modernen Gesellschaft bewusst anders zugeschnitten als der für Männer. Um diesen Zuschnitt zu verallgemeinern und zu verteidigen, wurde in immer neuen Diskursen daran gearbeitet, Frauen aus der Geschichte herauszunehmen, der Natur zu überantworten und sie dergestalt in das System der Arbeitsteilungen einzufügen, dass für sie nur ein gleichsam angeborener »natürlicher Beruf« möglich erschien, während für Männer das Erlernen und Ausüben einer Profession angesagt war. Frauen hatten als Menschen weiblichen Geschlechts im Gattungswesen aufzugehen und deshalb – bis heute, wie der Streit um den § 218 zeigt – Verzicht zu leisten auf einen gleichermaßen umfassenden Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung, wie er Menschen männlichen Geschlechts zugestanden worden war. Auch nach Auflösung der Ständegesellschaft blieben Frauen bis ins 20. Jahrhundert in weit stärkerem Maße als Männer sozial und wirtschaftlich auf Gedeih und Verderb ihrer jeweiligen familialen Standeszugehörigkeit unterworfen. Der Familienstand entschied über die gesellschaftliche Position von Frauen. Für Ehefrauen bedeutete der Verlust des Ehemannes durch Scheidung, Eheverlassen oder Verwitwung, zumal wenn Kinder zu versorgen waren, in den meisten Fällen einen jähen wirtschaftlichen und sozialen Absturz. Der Status der lebenslang unverheirateten Frau blieb ebenfalls charakterisiert durch soziale und wirtschaftliche Diskriminierung. Unabhängig von Alter und Familienstand wurden Frauen jahrzehntelang von der partizipativen Teilhabe an der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeschlossen. Der für sie gesellschaftlich einzig akzeptable Ort sollte die Privatheit der Familie sein. 20 Anregend hierzu G. Fraisse, Von der sozialen Bestimmung zum individuellen Schicksal. Philosophiegeschichte zur Geschlechterdifferenz, in: dies. u. Perrot (Hg.), Geschichte (wie Anm. 5), S. 63–95.
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Dieser im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend umstrittene Zuschnitt der bürgerlichen Geschlechterordnung und die bis zur Gegenwart unablässig erfolgte Bearbeitung der kulturellen Geschlechterdifferenz, die unverhohlen auf dauerhafte Privilegierung der Individuen männlichen Geschlechts zielte, war konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft. Dennoch oder richtiger deshalb gehört die Geschichte der Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse bis heute zu den aus der vorgeblich allgemeinen Geschichte ausgegrenzten Themen. Daran hat auch die sozialgeschichtliche Einfärbung der allgemeinen Geschichte kaum etwas geändert. Diese Ausgrenzung ist systematisch angelegt. Daher ist es nicht möglich, das heute durchaus wahrgenommene Defizit durch eine einfache Ergänzung des tradierten Geschichtsbildes zu beheben. Frauenund Geschlechtergeschichte erschöpft sich nicht in zusätzlichen BindestrichGeschichten, die in einem der beliebig zahlreichen Nebengebäude der allgemeinen Geschichte einziehen und gefahrlos geduldet werden könnten. Ich will in drei Punkten erörtern, inwiefern es nicht mit An- und Umbauten an einer als Einheit gedachten allgemeinen Geschichte getan sein kann und worin die Herausforderung des Neu-Konstruierens besteht, auf die ich mit dem Programm der Nicht-Einheit der Geschichte zu antworten versuche. Erstens: Eine Geschlechtergeschichte kommt nicht umhin, den mit der modernen Geschichtswissenschaft realisierten Ausschluss des weiblichen Geschlechts aus der Geschichte und die Überhöhung des männlichen Geschlechts zur Allgemeinheit des Menschengeschlechts selbst direkt zur Sprache zu bringen.21 Dazu bedarf es u. a. einer erneuten kritischen Erforschung der Geschichte der politischen Rhetorik und des wissenschaftlichen Definierens. Das kritische Sichten der von Zeitgenossen und später von Gesellschaftswissenschaftlern und Historikern benutzten Sprache mit allen mehr oder weniger reflektiert benutzten Begriffen, Konzepten und Theorien eröffnet ein weites Feld der Nachforschungen. Aufschlussreiche Ergebnisse solcher Nachforschungen liegen bereits in großer Zahl vor. Beispielsweise ist die mit einem deutlichen Geschlechterbias versehene begriffliche und konzeptionelle Dichotomisierung der modernen Wahrnehmung von Gesellschaft in ihren Erscheinungsformen, Ursachen und Wirkungen untersucht worden. Es gibt seitdem gute Gründe, die konzeptionellen Einteilungen in Privatheit und Öffentlichkeit, in Natur und Kultur, in Emotionalität und Rationalität, in das Besondere und das Allgemeine etc. immer auch als Medium zur politischen Gestaltung von Geschlechterverhältnissen zu begreifen.22 Außerdem pflegt der übliche Gebrauch von scheinbar geschlechts21 Vgl. H. Landweer, Geschlechterklassifikation und historische Deutung, in: K. Müller u. J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, S. 142–164. 22 Vgl. zur erforderlichen Reformulierung z. B. C. Lipp, Politische Kultur oder das Politische und Gesellschaftliche in der Kultur, in: W. Hardtwig u. H.-U. Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 78–110.
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neutralen Nomen – der Mensch, das Individuum, die Jugend, der Arbeiter etc. – sprachlich darüber hinwegzutäuschen, dass es meistens einzig um die männliche Variante des Kollektivs geht und dass die weibliche Variante allenfalls als Abweichung von der männlichen vermessen wird. Gefragt worden ist auch, was es für die jeweilige historische Zeit und für das von dieser Zeit entworfene Geschichtsbild bedeutet hat, dass Menschen weiblichen Geschlechts in der Regel nur im Zusammenhang mit den für Menschen männlichen Geschlechts zentral erachteten Räumen und Handlungszusammenhängen und aus deren Perspektive wahrgenommenen und fast ausnahmslos in deren Sprache vorgestellt werden. Die in früheren historischen Zeiten ausgeprägt anders gearteten Aktivitäten, Vorstellungen, Interessen und Erfahrungen von Frauen mit größerer Aufmerksamkeit zu untersuchen und darüber in angemessener Sprache zu berichten, ist ein erst ansatzweise eingelöstes Desiderat. Es ist aber durchaus möglich, mit der auch in den Quellen vorherrschenden Wahrnehmung und Sprache zumindest sehr viel kritischer als bisher umzugehen und die möglichen Auswirkungen der auch sprachlich manifesten Männer-Dominanz im öffentlichen Raum genauer zu überdenken. Das Gesagte lässt sich anhand von Beispielen illustrieren: – Für die Geschichte der Weltkriege liegt es auf der Hand, dass Frauen und Männer die Ereignisse an unterschiedlichen Orten mit höchst verschiedenen Interessen und Erfahrungen durchlebt haben. Gleichwohl bleibt es nach wie vor schwierig, gleichzeitig die Geschichte der Front und der Heimatfront ebenso sehr als Alltags- wie als Kriegsgeschichte zu erfassen. – Einen Einblick in die Effekte der Einschluss-Ausschluss-Verfahren bietet die Geschichte der Frauenbewegung. Die von der alten Frauenbewegung frühzeitig unternommenen Versuche, die eigene Geschichte zu tradieren, fielen für Jahrzehnte dem historischen Vergessen anheim. Das Ausmaß des Vergessens wurde in den 1970er Jahren deutlich, als in der neuen Frauenbewegung die überraschende Entdeckung gemacht wurde, dass wichtige feministische Diskussionen, Kontroversen, Konflikte, ja selbst Phantasien und Zukunftsentwürfe schon einmal auf hohem Niveau durchgespielt worden waren. – Der Prozess des historisch-politischen Konstruierens von weiblicher Ohnmacht und Schutzbedürftigkeit erweist sich bei genauerem Hinsehen als wichtiges Medium der Verständigung über die Herausforderungen des sozialen Wandels. Das Medium erlaubte den konstruierenden und den mit den Konstruktionen bedachten Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts innerhalb geordneter Geschlechterverhältnisse zu interagieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer für die Ausgestaltung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch für das Leben einzelner Menschen höchst folgenreichen Weise zu bearbeiten. Zweitens: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Frau und Familie gesellschaftspolitisch zu einer »natürlich« genannten Einheit verschmolzen. 386
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Diese gesellschaftspolitische Platzierung der Menschen weiblichen Geschlechts hatte weitreichende Konsequenzen. Die Frau-Familie-Einheit blieb in der Phase der Entfaltung der modernen Öffentlichkeit ohne eigene Stimme und Vertretung. Dementsprechend konnte sich die politische und historiographische Aufmerksamkeit um so freier auf Individuen männlichen Geschlechts richten. Deren Vergesellschaftung wurde mit Interesse verfolgt, aus deren Sicht wurden die große und die kleine Politik nebst ihren neuen Spielregeln der erhöhten politischen Partizipation, aber auch die Mechanismen der Konkurrenz und des Marktes analysiert und kommentiert.23 Es hat zweifellos die Historiographie der »allgemeinen« Geschichte beträchtlich erleichtert, dass aus der Geschichte des sozialen Wandels alle von Tag zu Tag erforderlichen gesellschaft lichen Arbeiten zur generativen, physischen und psychischen Reproduktion der Menschen konsequent ausgeblendet und in den Schatten des nicht geschichtsmächtig erachteten Privaten und der Natur verwiesen wurden. Richtete sich die Aufmerksamkeit überhaupt einmal auf die Familie, dann interessierte die Familie nur als eine Einheit unter der Regie ihres männlichen Oberhauptes. Das aber hieß, geflissentlich die konfliktträchtige Interaktion zwischen den Menschen einer familialen und verwandtschaftlichen Solidargruppe zu übersehen und die gesellschaftspolitische Relevanz der in der bürgerlichen Gesellschaft immer auch geschlechtsspezifisch ausgeprägten Ungleichheit der Zuständigkeiten, Chancen, Ressourcen und Einkünfte stillschweigend zu übergehen. In den öffentlichen Diskursen wirkten Alltagswissen und Wissenschaft zusammen, um die unterstellte Naturhaftigkeit der Einheit FamilieFrau und deren natürliche Subsumtion unter das männliche Familienoberhaupt unhinterfragt zu belassen und immer erneut fest zu verankern. Noch immer gehört es nicht zum Kanon des tradierten politischen und historischen Wissens, die in den Debatten über Sittlichkeit, Volk und Rasse jahrzehntelang so erfolgreich propagierte Beschränkung der autonomen Persönlichkeit weiblichen Zuschnitts als Teil der Geschichte der bürgerlichen und nachbürgerlichen Gesellschaft zu begreifen. Unser Geschichtsbild vermittelt derzeit nicht einmal eine Ahnung davon, dass und mit welcher Intensität die familiale Organisation der Menschen und die Ordnung der Geschlechterverhältnisse unablässig ideologisch und gesellschaftspolitisch bearbeitet worden sind. Das historische Interesse verstärkt auf diese systematisch ausgeblendeten oder unterbelichteten Bereiche und Ebenen von Geschichte lenken zu wollen, heißt der sogenannten allgemeinen Geschichte ihren bisherigen Platz streitig zu machen und deren jahrzehntelang eingeübte konsequente Fixierung auf männerdominierte Öffentlichkeit zu kritisieren und auszuhebeln.
23 Als eine in diesem Sinne formulierte Kritik vgl. K. Hausen, Geschichte als patrilineale Konstruktion und historiographisches Identifikationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall, Das Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989, in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 8, 1997, S. 109–131.
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Drittens: Die bürgerliche Gesellschaft und ebenso der Wohlfahrtsstaat kapitalistischer und sozialistischer Provenienz haben das soziale Ordnungsgefüge der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung vielfältig genutzt. Trotzdem wird die Arbeitsteilung nach Geschlechtern bis heute in der allgemein genannten Geschichte kaum der Erwähnung für wert befunden und damit wirksam der Anschein bekräftigt, es handele sich um eine ahistorische, natürliche Selbstverständlichkeit. Allenfalls die »Anomalien« der männlich-weiblichen Arbeitsteilungen in Kriegszeiten werden angesprochen, um dann nur um so nachdrücklicher die natürliche Normalität der Friedenszeiten zu erhärten. Mit welcher Macht und um welchen Preis diese angebliche Natürlichkeit der Verhältnisse immer wieder dem historischen Wandel abgetrotzt worden ist, wer sich aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln der Verteidigung dieser als natürlich erachteten Ordnung jeweils angenommen hat und welche Konsequenzen diese Arbeitsteilung nach Geschlechtern für die einzelnen Menschen und die Gesellschaft hatte, sind Fragen, die innerhalb des für die allgemeine Geschichte abgesteckten Rahmens und der damit vorgegebenen Relevanzkriterien kaum zu erforschen und darzustellen sind. Auch hier kann ein Beispiel die historische Relevanz des Ausgeblendeten kurz beleuchten. Die heftigen Kontroversen um die Pflegeversicherung haben eine Ahnung davon vermittelt, welche Verteilungskonflikte und politischen Kontroversen heraufbeschworen werden, wenn der Umbau unseres wohlfahrtsstaatlich flankierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems akut wird, weil Frauen nicht länger bereit sind, sich in die bislang vergleichsweise einfach durchgesetzte ungleiche Verteilung der gesellschaftlichen Chancen und Zugänge zu Ressourcen einzufügen. Wenn Frauen aber nicht mehr bereit sind, um jeden Preis – oder besser ohne Preis – innerhalb der Familie die häusliche Altenund Kinderpflege zu übernehmen und die über den Arbeitsmarkt vermittelten Pflegearbeiten zu den üblichen Niedrigpreisen auszuführen, dann ist heute endlich der Zeitpunkt gekommen, auch in der historischen Retrospektive die tatsächlichen sozialen Kosten der modernen Wirtschaftsgesellschaft auf neue Weise zu kalkulieren und für deren angemessene historiographische Berücksichtigung die erforderlichen theoretischen, methodischen und konzeptionellen Voraussetzungen zu schaffen. Die im Hinblick auf Geschlechtergeschichte für drei Bereiche angeführten Beispiele mögen zur Demonstration der Unzulänglichkeiten des derzeitigen historiographischen Zuschnitts einer allgemeinen Geschichte ausreichen. Die aktuelle Situation fordert dazu heraus, die Geschichte der Geschlechterordnungen, der Geschlechterverhältnisse und der von Weiblichkeits- und Männlichkeitszuschreibungen beeinflussten Menschen historiographisch so zur Geltung zu bringen, wie es ihrer de facto großen gesellschaftlichen Relevanz entspräche. Dafür ist die Geschichtswissenschaft mit ihrer bisherigen Ausrüstung denkbar schlecht vorbereitet. Nachrangig eingestufte Ergänzungen zur derzeit als allgemein erachteten Geschichte – neuere Schulgeschichtsbücher bieten bisweilen ein Sonderkapitel »Frauen« an – bekräftigen nur die gängigen Relevanzentscheidungen 388
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zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen der Geschichte. Es ist überfällig, diese Relevanzentscheidungen selbst infrage zu stellten. Das dem nationalstaatlichen Paradigma verpflichtete Konzept einer allgemeinen Geschichte wird sich mit Sicherheit als zu eng erweisen, sobald ernsthaft versucht wird, neben den Männern nun gleichberechtigt auch die Frauen mit ihren Handlungen und gesellschaftlichen Räumen historiographisch zu berücksichtigen. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, dass mit dem heute in der Geschichtswissenschaft verfügbaren Handwerkszeug und angesammelten Können schnell eine wissenschaftlich akzeptable Frauen- und Männergeschichte ausgearbeitet und durch deren Kombination zur Geschlechtergeschichte dann gleichsam automatisch eine für die Zukunft attraktivere Form der allgemeinen Geschichte geschaffen werden könne. Dem steht zunächst einmal das im Vergleich zur Frauengeschichte auffallend große Forschungsdefizit auf Seiten der Männergeschichte entgegen. Die historische Frauenforschung neigte anfangs dazu, die derzeit allgemein genannte Geschichte als Männergeschichte zu kritisieren. Inzwischen ist längst hinreichend deutlich geworden, dass diese Gleichsetzung falsch ist. Es bleibt für viele Bereiche überhaupt erst einmal zu untersuchen, was es historisch bedeutet hat, dass Männer stets auch als Männer gehandelt haben, dass sie sich immer wieder mit Männlichkeitsvorstellungen auseinandergesetzt und ihre Definitionsmacht als Beamte, Politiker, Gewerkschafter, Unternehmer, Arbeiter usw. nicht zuletzt dazu genutzt haben, um Weiblichkeitszuschreibungen vorzunehmen und zu stabilisieren und sich mit allen verfügbaren Mitteln zu wehren, wo immer die gesellschaftliche Männlichkeitsposition bedroht erschien. Doch es ist nicht allein das große Forschungsdefizit insbesondere für den Bereich der Männergeschichte, was den schnellen Höhenflug zur neuartigen Einheit einer als Geschlechtergeschichte konzipierten allgemeinen Geschichte behindert. Probleme macht vielmehr bereits die Errichtung einer sicheren Startposition. Denn die lange erprobten grundlegenden Kategorien und Konzepte, mit deren Hilfe die sozialen und historischen Gesellschaftswissenschaften eine Interpretation von Wirklichkeiten versucht haben, sind eher dazu angetan, die spannungsreiche Dynamik der Geschlechterbeziehungen zu verdecken als diese aufzudecken. Für eine Geschlechtergeschichte sind Begriffe und Konzepte wie Klasse, Schicht, Qualifikation, Professionalität, Partizipation, Öffentlichkeit, gesellschaftliche Organisation etc. höchst problematische Einsätze, weil sie die Positionen, Interessen und Handlungen von Männern bzw. von männlich konnotierten Bereichen deutlich privilegieren. Sie sind daher schwerlich geeignet, die Aktivitäten, Interessen, Politiken von Frauen gleichberechtigt zu analysieren und historisch zu bewerten. Die Gefahr ist groß, den in diese Konzepte eingebauten Geschlechter-Bias in der historischen Analyse unreflektiert zu reproduzieren. Eine erneuerte Geschichtsschreibung, die beide Geschlechter gleichberechtigt in der vergegenwärtigten Geschichte berücksichtigen will, wird daher ihr Ziel verfehlen, wenn sie sich der altbewährten Konzepte und Begriffe unkritisch bedient. Vor allem die Sprache und Organisationsformen des Politischen 389
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sind davon durchdrungen, dass alle nicht primär auf Menschen männlichen Geschlechts zielenden Belange keine angemessene Sprachform finden und zum »Nebenwiderspruch« verkommen. Es resultiert mit Sicherheit nicht aus der Logik der Sache, sondern aus dem konzeptionellen Zuschnitt unserer Wahrnehmungen, dass Frauen als Verkörperung des Unpolitischen und die den Frauen zugewiesenen Bereiche in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik als Randbereiche gelten und dass diejenigen, die sich mit derartig »Marginalem« beschäftigen, ihrerseits Gefahr laufen, marginalisiert zu werden. Es ist offensichtlich kein Zufall, dass die gängige Einteilung politischer Landschaften in rechte und linke, radikale und gemäßigte Entscheidungen, Positionen und Parteien ihren Dienst versagt, sobald es um Probleme geht, die die Geschlechterordnung tangieren. Denn diese sind quer gelagert zur Ordnung des Politischen. Sobald die bislang als irrelevant ausgegrenzte »Privatheit« wieder stärker der historisch relevant erachteten »Öffentlichkeit« angenähert und dadurch aufgewertet und der bequeme Rückzug auf die vermeintliche Natürlichkeit der Geschlechterordnungen konsequent aufgegeben werden soll, wird es mit dem einfachen Anbau an das bestehende Gebäude der allgemeinen Geschichte nicht getan sein. Für die erforderlichen tiefgreifenden Umbauten werden auch die alten Grundmauern verändert werden müssen. Sobald jedoch dieses geschieht, wird es allerdings kaum mehr zulässig sein, die allgemeinen und die besonderen Interessen, die öffentlichen und die privaten Belange fein säuberlich gegeneinander abzugrenzen, hierarchisch zu ordnen und zu bewerten. Nichts vermag dann noch die gesellschaftspolitische und die diese getreulich nachzeichnende historischen Gewissheit zu legitimieren, dass es stets und immer in der Geschichte etwas Wichtigeres und historisch Bedeutenderes gegeben hat und geben wird, als Menschen, die sich mit ihrer fürsorgenden Arbeit der direkten Bedürfnisse anderer Menschen annehmen. Die Schwierigkeiten, im Rahmen der behaupteten Einheit der allgemeinen Geschichte die bislang ausgegrenzten bzw. abgedrängten oder nachgeordneten Bereiche von Geschichte gleichberechtigt zum Zuge kommen zu lassen, sind groß und vermutlich kaum überwindbar. Was kann demgegenüber ein – meines Erachtens notwendiger denn je gewordenes – Programm der Nicht-Einheit der Geschichte leisten? Bislang hat die geschichtswissenschaftliche Favorisierung bestimmter Analyse- und Deutungskonzepte große Bereiche möglicher Geschichte konsequent zum Verschwinden gebracht oder zum allenfalls sinnigen Beiwerk degradiert. Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Geschichte wurde beiläufig mitentschieden, bestimmte Bereiche, die zweifellos zur Geschichte gehören, gleichsam dem Naturzustand anheimzugeben. Obwohl diese hierarchisierenden historiographischen Ordnungsverfahren schon längst ihre ideologische Legitimierung eingebüßt haben, funktionieren sie in der Praxis der Geschichtsforschung und Geschichtsübermittlung weiter, ohne prinzipieller Kritik ausgesetzt zu sein. Demgegenüber zielt das von mir vorgeschlagene Programm der Nicht-Einheit von Geschichte auf eine historische Konstruktion mehrsinniger Relevan390
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zen. Die Vieldeutigkeit in den historischen Bildern, Sprachen, Einrichtungen, Erfahrungen und Handlungen soll herausgearbeitet, gedeutet und historisch so vergegenwärtigt werden, dass das Nebeneinander, Ineinander oder Gegeneinander von gleichzeitig beobachtbarer Differenz oder auch Gleichheit historisch gleichermaßen berechtigt aufscheint. Gefordert ist damit eine erstrebenswerte und außerhalb Deutschlands im Übrigen auch bereits mit aufregenden Ergebnissen und unbestrittenen Erfolgen weit entfaltete Innovation. Das um der Einheit der Geschichte willen so unbekümmert vorgenommene und immer wieder mit definitorischer Macht bestätigte Ein- und Ausgrenzen soll nicht länger fortgesetzt, sondern in seinen Kosten kritisch diskutiert werden. Die größte Aufmerksamkeit aber wird zukünftig darauf zu richten sein, neue, weniger hierarchisierend ausgelegte Prinzipien und methodische Verfahren zu entwickeln und durch deren Einsatz zu beweisen, dass diese besser als die alten geeignet sind, Geschichte überzeugend zu bearbeiten, zu ordnen und zu vergegenwärtigen.
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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393. » … eine Ulme für das schwanke Efeu«. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: U. Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, Göttingen 1988, S. 85–117. Der Aufsatz über die »Geschlechtscharaktere« und seine Rezeption. Eine Spätlese nach dreißig Jahren: Originalbeitrag. Technischer Fortschritt und Frauenarbeit. Zur Sozialgeschichte der Nähmaschine, in: Geschichte und Gesellschaft Jg. 4, 1978, S. 148–169. Große Wäsche. Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in Deutschland vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 13, 1987, S. 273–303. Häuslicher Herd und Wissenschaft. Zur frühneuzeitlichen Debatte über Holznot und Holzsparkunst in Deutschland, in: M. Grüttner u,a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a. M. 1999, S. 700–727. Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay, in: K. Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen, Göttingen 1993, S. 40–67. Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Funktion von Arbeits- und Sozialrecht für die Normierung und Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse, in: U. Gerhard (Hg.), Geschichte der Frauen im Recht. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 713–743. Arbeit und Geschlecht, in: J. Kocka u. C. Offe unter Mitarbeit von B. Redslob (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 343–361 Mütter, Söhne und der Markt der Symbole und Waren. Der »Deutsche Muttertag« 1923–1933, in: H. Medick u. D. W. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 473–523. Der Volkstrauertag. Ein Tag des nationalen Gedenkens an die getöteten deutschen Soldaten: Diese Erstveröffentlichung in deutscher Sprache präsentiert ein formal leicht überarbeitetes, aber kaum aktualisiertes Manuskript, das 1989 als Beitrag zum Thema »The Production of History: Silence and Memory« beim Sixth Round Table in Anthropology and History
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ausgearbeitet und in gekürzter Version veröffentlicht worden ist als: The ›Day of National Mourning‹ in Germany, in: G. Sider u. G. Smith (Hg.) Between History and Histories: The Making of Silences and Commemorations, Toronto, Buffalo, London 1997, S. 127–146. Die Dankesschuld des Vaterlandes für die Witwen und Waisen der Kriegshelden des Ersten Weltkriegs: Dieser Beitrag wurde 1984 für den Workshop »Women an War« am Center for European Studies at Harvard University ausgearbeitet. Bislang erschien nur eine stark gekürzte Fassung unter dem Titel: The German Nation’s Obligation to the Heroe’s Widows of World War I, in: M. R. Higonnet u. a. (Hg.), Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven 1987, S. 124–140. Für die Veröffentlichung in deutscher Sprache wurde das vorliegende ausführlichere Manuskript durchgesehen, aber keine Einarbeitung des aktuellen Forschungsstandes vorgenommen. Patriarchat. Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts für Frauenpolitik und Frauengeschichte, in: Journal für Geschichte 1986, Heft 5, S. 12–21, 58. Die dort vom Redakteur hinzugefügten Zwischenüberschriften wurden gestrichen und die im Journal nicht üblichen Anmerkungen hinzugefügt. Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: H. Medick u. A.-C. Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 5), Göttingen 1998, S. 15–55.
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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Nicole Kramer
Volksgenossinnen an der Heimatfront Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 82.
Die Studie untersucht bisher wenig beachtete Mobilisierungsformen und Bindekräfte der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft. Sie fasst das engmaschige Organisationsnetz ins Auge, das der Aktivierung von Frauen für Kriegsaufgaben diente, und entdeckt insbesondere den zivilen Luftschutz – von der Brandbekämpfung bis zum Dienst in Auffang- und Rettungsstellen zur Bewältigung von Folgen der Flächenbombardements – als weiblich dominiertes Handlungsfeld. Wie die Einbindung von Frauen in die »kämpfende Volksgemeinschaft« wird auch das Spektrum der Hilfs- und Versorgungsleistungen analysiert, auf die weibliche Kriegshinterbliebene, Ausgebombte und Evakuierte Anspruch hatten. Damit leistet Nicole Kramer zugleich einen markanten Beitrag zur Erforschung der NS-Sozialpolitik. Für die diesem Buch zugrundeliegende Arbeit erhielt Nicole Kramer den Fraenkel Prize in Contemporary History der Wiener Library for the Study of the Holocaust and Genocide.
Franka Maubach
Die Stellung halten Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen Etwa 500.000 Helferinnen standen im Zweiten Weltkrieg im Einsatz bei der Wehrmacht: Stabs- und Nachrichtenhelferinnen halfen im Büro und am Klappenschrank bei der Verwaltung der besetzten Gebiete, Flakhelferinnen kämpften an der Luftkriegsfront im Deutschen Reich. Ihr Einsatz unterscheidet sich von den Bildern, die das kollektive Gedächtnis über die Frauengeschichte des Nationalsozialismus gespeichert hat: Die jungen Frauen erlebten Militär und Gewalt hautnah und hatten aktiv Anteil an der deutschen Kriegführung. Der militärische Masseneinsatz von Frauen war historisch traditionslos. Dennoch hielten viele im buchstäblichen wie übertragenen Sinne die Stellung. Franka Maubach untersucht die Kriegserfahrungen, die Vorprägungen und die Nachwirkungen nach 1945 und rekonstruiert so das kriegsgeprägte biographische Profil dieser Frauengeneration. »Franka Maubach hat ein weitgehend unbekanntes Kapitel des NS-Regimes erforscht und ein spannendes Buch darüber verfasst.« Stefan Laudien, Informationsdienst Wissenschaft »[...] souveräne[s) Zusammenspiel aus Einfühlungsvermögen und Beobachterdistanz [...]« Christiane Liermann, FAZ »Franka Maubachs Untersuchung, entstanden als Dissertation an der Universität Jena, gehört zu den Werken, die unsere Erkenntnisse in diesen Feldern weit voranbringen.« Gisela Bock, www.hsozkult.de
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Bettina Brandt
Germania und ihre Söhne Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne Historische Semantik, Band 10.
In literarischen und visuellen Bildern wurde Deutschland von der Frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein als Mutter, Braut oder Kriegerin dargestellt. Es zeigt sich das Bild einer gefährdeten Nation, die von ihren Männern und Söhnen geschützt oder befreit werden sollte. Bettina Brandt nimmt in ihrer Symbolgeschichte der »Germania« die sich wandelnden Beziehungsgeschichten einer deutschen Nation in den Blick und untersucht den Stellenwert und die semantischen Funktionen von Geschlechterbildern in nationalen und politischen Diskursen der Moderne. »Bettina Brandts exzellente Studie macht sinnfällig, wie sehr wir von unseren Bildern und Zuordnungen bis heute geprägt sind.« Pieke Biermann, Deutschlandradio Kultur
Merith Niehuss
Familie, Frau und Gesellschaft Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945–1960 Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 65.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erlangte die Familie in Deutschland eine nahezu verklärende Bedeutung. Fast jeder hatte Tote und Vermisste zu beklagen, Besitz bedeutete nichts mehr, und die Menschen besannen sich auf die verbliebenen zwischenmenschlichen Beziehungen. In den fünfziger Jahren stabilisierten sich die familiären Verhältnisse, die Phase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus mündete in die vollbeschäftigte Wohlstandsgesellschaft der sechziger Jahre. Merith Niehuss untersucht die Familie in der Zeit von 1945 bis 1960 und analysiert ihre soziale und gesellschaftliche Befindlichkeit aus mehreren Blickwinkeln. Sie greift das Phänomen der Wohnraumnot auf und thematisiert die städtebaulichen und architektonischen Konzeptionen in ihrer Wirkung auf die Nachkriegsfamilien. Sie untersucht Art und Verlauf der Erwerbstätigkeit im Leben der Ehefrauen und Mütter und beschreibt ihren Einfluss auf die Institution Familie. Und sie stellt das generative Verhalten der Familien dar und zeigt, dass in den sechziger Jahren eine neue Generation Frauen heranwächst, deren Vorstellung von Familie sich von der ihrer Mütter gänzlich unterscheidet.
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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 201: Dirk Mellies Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert 2012. 380 Seiten mit 14 Diagrammen und 7 Tabellen, gebunden ISBN 978-3-525-37023-0
Dirk Mellies untersucht den Beitrag des preußischen Staates und der Gesellschaft am Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts.
Band 200: Jürgen Kocka Arbeiten an der Geschichte Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert 2011. 400 Seiten mit 5 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-37021-6
Der Band enthält Jürgen Kockas wichtigste Aufsätze zur historischen Theorie, Sozialgeschichte und deutschen Geschichte aus vierzig Jahren.
Band 199: Hans Günter Hockerts Der deutsche Sozialstaat Entfaltung und Gefährdung seit 1945 2011. 367 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-37001-8
Hockerts untersucht die sozialstaatliche Gründung der BRD, den Zenit der Sozial staatsexpansion und die Herausforderungen, vor denen der Sozialstaat heute steht.
Band 198: Roman Köster Die Wissenschaft der Außenseiter Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik 2011. 364 Seiten mit 2 Grafiken und 1 Tab., geb. ISBN 978-3-525-36025-5
Die Arbeit untersucht die Nationalökonomie, die in der Weimarer Republik in eine tiefe Krise geriet.
Band 197: Stephanie Neuner Politik und Psychiatrie Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920–1939 2011. 396 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-37020-9
Die Studie behandelt die staatliche Entschädigungspolitik gegenüber psychisch versehrten Soldaten des Ersten Weltkrieges zwischen 1918 und 1933.
Band 196: Claudius Torp Konsum und Politik in der Weimarer Republik 2011. 384 Seiten mit 5 Abb. und 7 Tab., geb. ISBN 978-3-525-35715-6
Claudius Torp untersucht den Zusammenhang von Konsum und Politik in der Weimarer Republik und eröffnet damit eine neue Perspektive auf Probleme und Potenziale dieser Zeit.
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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 195: Isabella Löhr Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte Neue Strukturen internationaler Zusammenarbeit 1886–1952 2010. 342 Seiten mit 5 Abb. und 6 Tab., geb. ISBN 978-3-525-37019-3
Die Studie analysiert das Verhältnis von geistigem Eigentum und internatonalen Organisationen seit dem späten 19. Jahrhundert.
Band 194: Jan Eike Dunkhase Werner Conze Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert 2010. 378 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-37012-4
Die erste Biographie des Historikers Werner Conze (1910–1986) auf der Grundlage seines Nachlasses. »hochinformative und flüssig geschriebene Studie« FAZ
Band 193: Nina Verheyen Diskussionslust Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland 2010. 372 Seiten mit 7 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-37014-8
»Nina Verheyen ist es gelungen, einen schwer zu fassenden, aber faszinierenden Gegenstand methodisch souverän und stilistisch anspruchsvoll zu untersuchen.« H-Soz-U-Kult
Band 192: Jörg Neuheiser Krone, Kirche und Verfassung Konservatismus in den englischen Unterschichten 1815–1867 2010. 349 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-37009-4
»Popular Conservatism« – Jörg Neuheiser untersucht den plebejischen Konservatismus in Politik, Alltagsund Festkultur in England.
Band 191: Jakob Zollmann Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen Die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika 1894–1915 2010. 400 Seiten mit 2 Karten, gebunden ISBN 978-3-525-37018-6
Darstellung der Polizei in DeutschSüdwestafrika, ihrer Strafpraxis und ihrem Wirken in Windhoek; dem Farmgebiet und dem Norden der Kolonie.
Band 190: Vera Hierholzer Nahrung nach Norm Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871–1914 2010. 399 Seiten mit 6 Abb. und 5 Tab., geb. ISBN 978-3-525-37017-9
Vera Hierholzer untersucht am Beispiel der Nahrungsmittelregulierung den Normenwandel in der Phase des Übergangs zur industrialisierten Konsumgesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Mehr Informationen unter www.v-r.de
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