Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen: Queer/Feminismen zwischen Widerstand, Subversion und Solidarität 9783839451014

Geschlecht und Geschlechterverhältnisse befinden sich permanent in Transformationsprozessen - dies gilt sowohl für die G

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German Pages 244 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Einleitende Bemerkungen
Trans*normal?
Disziplinierung und Spuren des Widerstandes
Pride-Paraden
Räume der Neuen Frauenbewegung am Beispiel Südtirol
Die umfassende Abhängigkeit des Subjekts
Widerständiger Witz
Education First!? Gender Second?
Intersektionale Assemblage
Transformative Körper
Information zu den Autor*innen
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Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen: Queer/Feminismen zwischen Widerstand, Subversion und Solidarität
 9783839451014

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Verena Sperk, Sandra Altenberger, Katharina Lux, Tanja Vogler (Hg.) Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen

Gender Studies

Verena Sperk ist Universitätsassistentin im Lehr- und Forschungsbereich Kritische Geschlechterforschung des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck. Als Kollegiatin des Doktoratskollegs »Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation« promoviert sie zu Komik als Mittel der feministischen Intervention. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie seit 2012 Mitarbeiterin in der Bildungs- und Beratungseinrichtung »Frauen aus allen Ländern« und dort als Projektleitung im Bereich Basisbildung tätig. Sandra Altenberger ist Erziehungswissenschaftlerin und mit ihrem Dissertationsprojekt zur Dekonstruktion und (Un-)Möglichkeit einer postkolonialen feministischen Transformation von Global Citizenship Education Kollegiatin des Doktoratskollegs »Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation«. Von 2009 bis 2020 arbeitete sie außerdem in der sozialpädagogischen Jugendarbeit und 2018 wurde ihre Masterarbeit »Done Girls inna Dancehall. Zwischen Kritik und Emanzipation« mit dem GenderFem Preis der Universität Innsbruck ausgezeichnet. Sie ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC) am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Katharina Lux ist Universitätsassistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck und Kollegiatin des Doktoratskollegs »Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation«. Sie promoviert zur Geschichte feministischer Theorie in der autonomen Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts und war Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Darüber hinaus ist sie Redakteurin der »outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik«. Tanja Vogler ist Kollegiatin des Doktoratskollegs »Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation« und promoviert am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck zu aktuellen queeren Politiken. Sie ist ehemalige Promotionsstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.

Verena Sperk, Sandra Altenberger, Katharina Lux, Tanja Vogler (Hg.)

Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen Queer/Feminismen zwischen Widerstand, Subversion und Solidarität

Der Druck dieser Publikation wurde aus Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung, der Forschungsplattform Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung, des Dekanats der Fakultät für Bildungswissenschaften, des Dekanats der Fakultät für Architektur und des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck finanziert.

Die Herausgeberinnen sind Kollegiatinnen des Doktoratskollegs Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation: Räume - Relationen - Repräsentationen der Universität Innsbruck, gefördert vom Förderkreis der Universität Innsbruck 1669 - Wissenschaft Gesellschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustim­ mung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Verviel­ fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Katrin Herbon Korrektorat: Julia Vindl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5101-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5101-4 https://doi.org/10.14361/9783839451014 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitende Bemerkungen Sandra Altenberger, Katharina Lux, Verena Sperk & Tanja Vogler ..................... 7

Trans*normal? Die subtile Herstellung von Gendernormen durch psychiatrische Diagnosen Eliah Lüthi ..........................................................................13

Disziplinierung und Spuren des Widerstandes Subjektivierungstheoretische Perspektiven auf Heimerziehung für Mädchen Flavia Guerrini ..................................................................... 45

Pride-Paraden Queere Erinnerungspolitiken Tanja Vogler ....................................................................... 73

Räume der Neuen Frauenbewegung am Beispiel Südtirol Andrea Urthaler .................................................................... 97

Die umfassende Abhängigkeit des Subjekts Feministische Subjektkritik in der autonomen Frauenbewegung am Beispiel von Gerburg Treusch-Dieters Märchendeutungen Katharina Lux ...................................................................... 119

Widerständiger Witz Subversive Komik als feministische Strategie und Intervention? Verena Sperk ...................................................................... 141

Education First!? Gender Second? Zur Notwendigkeit postkolonial-feministischer Perspektiven auf Global Citizenship Education Sandra Altenberger ............................................................... 167

Intersektionale Assemblage Wege zu transkultureller feministischer Solidarität Sonja Köhler ...................................................................... 193

Transformative Körper Architekturlaboratorien in der österreichischen Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre Alexa Baumgartner................................................................ 215

Information zu den Autor*innen ........................................... 241

Einleitende Bemerkungen Sandra Altenberger, Katharina Lux, Verena Sperk & Tanja Vogler »Feminism is a movement in many senses. We are moved to become feminists. Perhaps we are moved by something: a sense of injustice, that something is wrong […]. A feminist movement is a collective political movement. Many feminists means many movements. A collective is what does not stand still but creates and is created by movement.« Ahmed 2017: 3

Die Feministin Sara Ahmed beschreibt in ihrem Buch Living a Feminist Life (2017) einerseits, wie Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten Menschen dazu veranlassen, feministisch zu handeln, und andererseits, inwiefern kollektive feministische Handlungen zu Widerstand, Subversion und Solidarität anwachsen und letztlich die Geschlechterverhältnisse bewegen und verändern können. Daher setzt der Sammelband sowohl bei historischen sozialen und kulturellen Bewegungen als auch bei den Transformationspotenzialen diskursiver Interventionen der Gegenwart an. Damit sind Feminismen sowohl in ihren theoretischen als auch in ihren praktischen Formen des Aktivismus angesprochen. Es werden insbesondere die Widersprüchlichkeit von Widerständen, die Möglichkeiten und Schwierigkeiten subversiver Eingriffe und die Ambivalenzen solidarischer Bündnisse reflektiert. Die Beiträge des Sammelbands widmen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln der kritischen Geschlechterforschung diesen Dimensionen. Da queere Perspektiven nicht ohne Weiteres unter Feminismen subsumiert werden sollen, sprechen wir von Queer/Feminismen, die durch Formen von Widerstand, Subversion und Soli-

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Sandra Altenberger, Katharina Lux, Verena Sperk & Tanja Vogler

darität nicht nur Geschlechterverhältnisse, sondern auch Feminismen in Bewegung versetzen. So heterogen feministische Theorien und Praxen sind, so vielschichtig gestalten sich auch die Zugänge und Auseinandersetzungen in diesem Sammelband. Eine verbindende Herausforderung, mit der es feministische Theorien zu tun haben, beschreibt Sabine Hark jedoch folgendermaßen: »Es handelt sich hierbei um Aporien, die in doppelter Hinsicht aus dem spezifischen Verhältnis feministischer Theorie zu ihrem Gegenstand – Geschlecht bzw. dem Geschlechterverhältnis – resultieren. Erstens, Geschlecht, Geschlechterverhältnis, Geschlechterdifferenz wird in der Frauenund Geschlechterforschung zwar als Erkenntnisgegenstand vorausgesetzt, muß aber zugleich als etwas kontinuierlich Hergestelltes, in sozialen und kulturellen Praxen Gemachtes und nicht per se Gegebenes begriffen werden. Daraus resultiert zweitens, daß Geschlecht auch im und durch feministisches Wissen in einer spezifischen Weise konstruiert wird, mithin Teil hat an der Produktion der Unterscheidung nach Geschlecht.« (Hark 2001: 353) Diese Aporien, mit denen feministische Theorien – und so auch die Beiträge in diesem Band 1 – konfrontiert sind, sollen stets mitbedacht werden und deshalb sehen wir uns mit der Aufgabe konfrontiert, in der eigenen Wissensproduktion das hergestellte Wissen zu reflektieren. Geschlecht und Geschlechterverhältnisse werden daher im vorliegenden Band einerseits Gegenstand der Beiträge sein, andererseits als Wissenskategorien durch diese erst mitkonstituiert, auf unterschiedliche Weise herausgefordert und irritiert. Dadurch bleiben Geschlecht und Geschlechterverhältnisse nicht nur Forschungsgegenstand, sondern werden auch in Bewegung versetzt und diskursiven Transformationen unterzogen. Versteht sich Kritik in diesem Band als »eine vorsichtige Beschreibung der Strukturen, die ein

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Ausgangspunkt des Sammelbands bilden die inhaltliche und methodische Auseinandersetzung im transdisziplinären Doktoratskolleg Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation. Räume – Relationen – Repräsentationen der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck sowie die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (ÖGGF) vom 7. bis 9. November 2019. Diese widmeten sich der Untersuchung der Transformation von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen in ihren historischen und räumlichen Beziehungen, Bedingungen und Wirkungen. Die Autor*innen der Beiträge sind oder waren Kollegiat*innen des Doktoratskollegs.

Einleitende Bemerkungen

Objekt des Wissens herstellen« (Castro Varela 2016: 57), so kann (Selbst-)Kritik im Lichte von Widerstand, Subversion und Solidarität eine transformative Kraft entfalten. Widerstand war und ist wesentliches Element feministischer und sozialer Bewegungen und stellt deshalb einen grundlegenden Aspekt des Buchs dar. Alle Beiträge tragen dieses Bestreben im Sinne einer Kritik hierarchischer und ausschließender Geschlechterordnungen als Teil von Wissensproduktion weiter. Subversion, in einem poststrukturalistisch und dekonstruktivistischen Sinne, hat die Verschiebung und Umwertung der (Geschlechter-)Ordnung(en) zum Ziel. »Subversion beschreibt […] ein Unterwandern von dominanten Geschlechtercodierungen und Geschlechtsidentitäten durch Körper- und Textpraktiken, die herrschende Diskurse variierend durchkreuzen, destabilisieren und einen Resignifikationsprozess in Gang setzen.« (Krug 2002: 382) Subversion zieht sich neben Widerstand als ein weiterer roter Faden durch diesen Band. Darüber hinaus erweist sich Solidarität als ein wesentliches, aber auch brüchiges Element feministischer Praxen und stellt den dritten Anknüpfungspunkt im Sammelband dar. Die Widersprüche solidarischer Bündnisse bleiben bei gleichzeitiger Notwendigkeit von queer/feministischen Solidaritäten bestehen. »Von vornherein auf einer Bündnis-›Einheit‹ als Ziel zu bestehen, setzt voraus, daß Solidarität – um jeden Preis – eine unerläßliche Vorbedingung für das politische Handeln ist. Doch stellt sich die Frage, welche Art Politik eigentlich diese Art Vorwegnahme der Einheit erfordert. Vielleicht ist es für ein Bündnis gerade notwendig, die eigenen Widersprüche anzuerkennen und mit diesen ungelösten Widersprüchen zum Handeln überzugehen. […] Denn es stellt sich die Frage, ob die ›Einheit‹ nicht auf der Ebene der Identität eine ausschließende Norm der Solidarität aufstellt, die eine Reihe möglicher Aktionen ausschließt?« (Butler 2014: 35f.) Im vorliegenden Sammelband werden Ansätze der Queer Theory, der Bewegungsforschung, der Psychiatriekritik, der Postkolonialen Theorie sowie der Architektur- und Literaturtheorie für gendertheoretische Fragestellungen nutzbar gemacht. Die einzelnen Beiträge handeln von feministischer Subjektkritik, von Orten queerer Politiken, von Räumen der neuen Frauen*bewegung, von der Notwendigkeit postkolonial-feministischer Perspektiven,

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Sandra Altenberger, Katharina Lux, Verena Sperk & Tanja Vogler

von feministischen Strategien und Interventionen, transformativen Körpern sowie den Mad Studies und fragmentierter Intersektionalität: Eliah Lüthi setzt sich aus einer trans* Gender- und Mad-StudiesPerspektive mit trans* Diagnosen, deren Revisionen und der politischen Bewegung um trans* Depathologisierung auseinander. In dem Beitrag wird herausgearbeitet, wie und auf welchen Ebenen bestimmte Ausschlüsse wiederholt und neue produziert werden. Flavia Guerrini wirft in ihrem Beitrag einen subjektivierungstheoretischen Blick auf das System der Jugendfürsorge und auf die Heimerziehung von Mädchen. Sie fragt, auf welche Weise Erlebnisse in Erziehungsheimen für Mädchen als subjektivierendes Geschehen lesbar sind und welche Formen der Disziplinierung und des Widerstands darin erkennbar werden. Tanja Voglers Beitrag arbeitet das Verhältnis zwischen aktuellen queeren Aushandlungen um den Christopher Street Day und den Kämpfen um die Erinnerungspolitiken der Stonewall-InnProteste heraus. Am Beispiel von LesMigraS zeigt sie auf, wie im Namen einer alternativen Erinnerung an Stonewall ein ›offenerer‹ CSD gefordert wird. Darüber hinaus analysiert sie, wie das Wir, das der CSD aktuell repräsentiert, durch die Art und Weise, Stonewall zu erinnern, hergestellt wird. Andrea Urthaler widmet sich in ihrem Aufsatz der Frauenbewegung in Südtirol seit den 1970er Jahren und untersucht das Verhältnis der Bewegung zum Raum. Die Autorin legt dar, wie die Südtiroler Frauenbewegung aus dem Privaten in die Öffentlichkeit getreten ist, wie sie das Bild öffentlicher Orte verändert hat und wie sich die Standorte der Bewegung in der Stadt Bozen angeordnet haben. Katharina Lux fragt in ihrem Beitrag danach, wie wir heute die feministische Theoriebildung der (deutschsprachigen) autonomen Frauenbewegung erinnern. Entgegen der weitverbreiteten Vorstellung, die Frauenbewegung habe eine Identität Frau essenzialisiert, zeigt die Autorin anhand von Aufsätzen der Kulturphilosophin Gerburg Treusch-Dieter, wie dort ein Subjektverständnis entwickelt wird, das in dieser Erzählung nicht aufgeht. Im Mittelpunkt dieses Subjektverständnisses steht die grundlegende menschliche Abhängigkeit von einer weiblichen Produktivität. Verena Sperk arbeitet in ihrem Beitrag die Ambivalenz von Komik, Humor und Lachen als herabsetzende sowie transformative Phänomene heraus und befragt sie nach ihrem widerständigen Potenzial als feministische Intervention. Dafür stellt sie zwei theoretische Perspektiven vor, die sich Komik aus einer explizit feministischen Perspektive nähern. Schließlich zeigt sie anhand von Schlaglichtern aus dem Comedyspecial Nanette von Hannah Gatsby, welche Fragen sich eine geschlechtertheoretische und feministische Ausein-

Einleitende Bemerkungen

andersetzung mit Komik als zweischneidigem Schwert stellen muss. Sandra Altenberger wirft einen Blick auf die Global Education First Initiative (GEFI) und fragt nach der Notwendigkeit postkolonial-feministischer Perspektiven für Global Citizenship Education (GCE). Dem subversiven Moment einer dekonstruktivistischen Haltung folgend setzt sich dieser Beitrag das Ziel, eine Reflexion von (neo-kolonialen) Gender_Ordnungen in GCE-Konzeptionen anzustoßen. Sonja Köhler beschäftigt sich in ihrem Beitrag kritisch mit verschiedenen Zugängen zu Intersektionalität, um daran anschließend die (Un-)Möglichkeiten einer Modifikation in Richtung einer intersektionalen Assemblage zu diskutieren. Darüber hinaus fragt sie danach, welche Voraussetzungen für eine transkulturell-feministische Solidarität notwendig sind und wie diese Solidarität als praktischer, aktivistischer Widerstand umgesetzt werden kann. Abschließend diskutiert Alexa Baumgartner in ihrem Artikel am Beispiel der österreichischen Avantgarde-Architektur der 1960er und 1970er Jahre die Frage, inwiefern die gebauten Realitäten der Avantgarde Geschlechterverhältnisse zu dekonstruieren vermögen. Dabei zeigt sie mit Bezug auf aktuelle, posthumanistische, queer/feministische Theorien, dass diese Architekturen einerseits die Möglichkeit eröffnen, Körperverhältnisse in Verbindung mit technischen Materialitäten anders und neu zu denken. Zugleich verweist sie darauf, dass in den Installationen andererseits traditionelle Geschlechterverhältnisse wie beispielsweise Heteronormativität unhinterfragt geblieben sind.

Literatur Ahmed, Sara (2017): Living a Feminist Life, Durham/London: Duke University Press. Butler, Judith (2014 [1991]): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hark, Sabine (2001): »Feministische Theorie – Diskurs – Dekonstruktion. Produktive Verknüpfungen«, in: Reiner Keller et al. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Band 1. Theorie und Methoden, Opladen: Leske+Budrich, S. 353-369. Krug, Marina (2002): »Subversion«, in: Renate Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 382-383.

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Trans*normal? Die subtile Herstellung von Gendernormen durch psychiatrische Diagnosen Eliah Lüthi

2022 ist ein wichtiges Jahr für europäische trans* Bewegungen. Ab diesem Zeitpunkt wird die elfte Revision des internationalen Krankheitskatalogs International Classification for Diseases (ICD 11, 2018) in EU-Staaten implementiert. Diese wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und umfasst alle verbindlichen Diagnosen zum Zeitpunkt der Herausgabe. Der Krankheitskatalog definiert, was nach medizinischen Parametern als ›krank‹ oder ›behindert‹ gilt. Außerdem listet er weitere nicht per se pathologisierte Faktoren auf, die den Gesundheitsstatus oder den Kontakt zur Gesundheitsversorgung beeinflussen (beispielsweise im Falle von Schwangerschaft und Geburt). Dadurch bestimmt der ICD sowohl die (medizinische) Definition von ›Krankheit‹ als auch den Zugang zu Gesundheitsversorgung. Ein Schwerpunkt des Krankheitskatalogs liegt auf psychiatrischen Diagnosen. Im Vorfeld zu der Revision des ICD organisierten sich aktivistische Bewegungen, welche die Depsychopathologisierung von trans* forderten. Ein zentrales Anliegen dieser war die Streichung von trans* Diagnosen aus psychiatrischen Kategorien und die Gewährleistung trans*spezifischer Gesundheitsversorgung. Im ICD 11 werden diese beiden Forderungen weitestgehend berücksichtigt. Das ist unbestreitbar ein Erfolg für die Normalisierung gegenderter Selbstverständnisse1 von Personen, deren Gender nicht mit dem bei Geburt (zwangs-)zugeschriebenen Gender übereinstimmt. 1

Das (gegenderte) Selbstverständnis bezeichnet, wie sich Personen selbst (in Bezug auf Gender) verstehen und definieren. Das kann mit psychiatrischen Definitionen und/oder dem bei Geburt (zwangs)zugewiesenen Gender übereinstimmen oder davon abweichen.

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Eliah Lüthi

Prozesse der Normalisierung sind jedoch auch immer davon geprägt, dass die grundlegende Logik von Norm und Abweichung aufrechterhalten wird. Und so ist auch die Depsychopathologisierung von trans* begleitet von Ausschlüssen und narrativen Auslassungen. Im Dialog mit trans* Gender und Mad Studies2 argumentiere ich, dass sich Prozesse der Depathologisierung und Prozesse der Pathologisierung sowohl durch ausschließende als auch durch (selbst-)ermächtigende Elemente auszeichnen. Dies untersuche ich anhand der De-/Psychopathologisierung von trans*. Darüber hinaus frage ich, welche Narrative und Positionen in De-/Pathologisierungsprozessen (un)möglich gemacht werden. Welche Möglichkeiten der (Selbst-)Ermächtigung wohnen diesen Prozessen inne? Welche Narrative und Positionen werden dadurch in Existenz gerufen? Und welche Verständnisse und Positionen werden dadurch (un)möglich, (nicht) wahrnehmbar gemacht? Die Streichung von trans*spezifischen Diagnosen aus psychiatrischen Kategorien im ICD ist ein Erfolg innerhalb eines Systems, welches die Differenz zwischen BeHinderung/VerRücktheit3 und Norm grundlegend definiert. Es ist ein Erfolg innerhalb der Logik von Männern, Frauen und ›Andersgeschlechtlichen‹. Über die Revision des ICD wird neu verhandelt, wer innerhalb dieser Logik als beHindert, verRückt, gegendertes Anderes oder als ›normal‹ gilt. Die Logik selbst (und ihre Ausschlüsse) wird jedoch über diese Revision nicht grundlegend infrage gestellt, sondern nur verschoben und teilweise gar verstärkt. Mein Anliegen ist es daher, diesen unhinterfragten Rahmen und die damit einhergehenden Prozesse und Mechanismen der Pathologisierung, Depathologisierung und Repathologisierung zu untersuchen, sie sichtbar, greifbar und dadurch auch grundlegend angreifbar und veränderbar zu machen. In der Analyse erarbeite ich zunächst einen Dreisatz von Pathologisierung, Depathologisierung und Repathologisierung, der die zentralen Eigenschaften die2

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Mad Studies ist ein Forschungsfeld, welches aus Bewegungen von Psychiatriebetroffenen entstanden ist und deren Anliegen zentriert. Darin ist das Feld vergleichbar mit Disability, Queer und trans* Gender Studies (vgl. LeFrançois et al. 2013). In einem konstruktivistischen Verständnis gehe ich davon aus, dass BeHinderung und VerRücktheit (oder VerRückung) vielmehr gesellschaftliche (Diskriminierungs-)Prozesse als persönliche Eigenschaften beschreiben: Menschen sind nicht behindert, sie werden (durch Barrieren und Ausgrenzung) beHindert. Ebenso sind Menschen nicht verrückt, sondern sie werden über gesellschaftliche Normen und Stigmatisierung von der Norm verRückt und als verRückt hergestellt. Dies markiere ich mit der Großschreibung von H und R.

Trans*normal?

ser drei Prozesse aufzeigt. Dabei arbeite ich heraus, dass innerhalb der Prozesse der De-/Re-/Pathologisierung das Andere, die Norm und das Unvorstellbare (psychiatrisch) hergestellt werden. Pathologisierung = Intelligibilisierung + VerAnderung Depathologisierung = Normalisierung + Abgrenzung Repathologisierung = Ausdehnung + Ent_Wahrnehmung Das Andere, die Norm, das Unvorstellbare Das Andere bezeichnet das pathologisierte, psychiatrisch VerAnderte, das zum anderen Gemachte. Die Norm bewegt sich in dem diskursiven Zentrum und bleibt doch weitestgehend entnannt und unantastbar. Dieses Entnennen bezeichnet das aktive Nicht-Benennen von Normen (vgl. Hornscheidt 2012: 360). Dem gegenüber steht als drittes Element das Unvorstellbare oder auch das Unbenennbare, das in dem Dualismus von der Norm und dem Anderen nicht wahrnehmbar, nicht vorstellbar und diskursiv weitestgehend ausgeschlossen wird. Dabei gibt es einen grundlegenden Unterschied, zwischen dem Entnennen der Norm und dem Unbenennbaren und Unvorstellbaren: Die Norm ist allgegenwärtig. Dadurch, dass sie nicht explizit benannt wird beziehungsweise oftmals entnannt bleibt, wird sie geschützt und entzieht sich der Kritik. Das Unvorstellbare hingegen kann nicht benannt werden, weil es sich der hegemonialen Vorstellbarkeit entzieht. Es ist unbenennbar. Dieser Dreisatz bildet die grundlegende Struktur des vorliegenden Beitrages. Nach den einführenden Kapiteln zu These, Kontext und Materialien diskutiere ich gesondert die drei Prozesse der Pathologisierung, Depathologisierung und Repathologisierung. Dabei beschreibe ich die jeweiligen Eigenschaften und die spezifischen Herstellungen von der Norm und dem VerAnderten. Anschließend erweitere ich die Analyse und erkläre, was über die jeweiligen Prozesse unvorstellbar oder nicht wahrnehmbar gemacht oder entintelligibilisiert (vgl. Hornscheidt 2012: 360) wird. In meiner Analyse setze ich die aktuellen diagnostischen Änderungen der Krankheitskataloge ins Verhältnis zu vorangegangenen diagnostischen Revisionen und aktivistischen Forderungen. Zentral sind dabei die folgenden Forschungsfragen: Wie zeichnen sich ständig verändernde (Gender-)Normen in psychiatrischen Diagnosen und deren Reformen ab? Wie wirken diese Normen auf gegenderte (Selbst)Verständnisse und Auseinandersetzungen innerhalb von Communities, die von diesen Diagnosen betroffen sind? Dabei arbeite ich diskursanalytisch mit einer wissenstheoretischen Verknüpfung von trans* Gender und Mad Studies.

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Eliah Lüthi

These und Kontext Ausgangspunkt ist die These, dass sich (Gender-Normen) und (trans*spezifische) Diagnosen so zueinander verhalten wie eine Statue zu ihrem Negativ, ihrer Gegenform. In dem Herstellungsprozess einer Guß-Statue ist nur das Negativ, die Gegenform sichtbar. Sie wird minutiös definiert, unter die Lupe genommen und angepasst. Die Statue jedoch, also die Norm, bildet das Zentrum und bleibt gleichzeitig entnannt. Sie entzieht sich der Definition und Untersuchung. In Bezug auf den konkreten Forschungsgegenstand bedeutet dieses Bild, dass die über trans*spezifische Diagnosen klar definierten, psychiatrischen Abweichungen von zwei- und cis-gegenderten Vorstellungen4 gesellschaftliche Gendernormen bestätigen und hervorbringen, ohne sie explizit zu benennen. Sie schwingen entnannt und selbstverständlich allgegenwärtig mit. Wie bei einer (noch nicht gegossenen) Statue ist es das Negativ, also die Gegenform, die untersucht und geformt wird. Sie ist unerlässlich in der Herstellung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher (Gender-)Normen. Gleichzeitig ist sie (nach ihrer Benutzung) verwerfbar. Ungegossen ist die Statue in diesem Bild deshalb, weil gesellschaftliche Normen zwar das gesellschaftliche Zentrum formen, jedoch weitestgehend ungreifbar bleiben. Ebenso sind Gendernormen in trans*spezifischen Diagnosen omnipräsent und gleichzeitig weitestgehend entnannt. Sie sind sowohl Zentrum als auch Leerstelle. Gendernormen lassen sich also aus den (sich ständig ändernden) trans*spezifischen Diagnosen ableiten, ohne dass diese darin explizit definiert sind. Dieses Bild verändert sich, wenn Normen zu Gesetzen werden. An dem Punkt wird die Statue gegossen. Die Normen werden benannt. Ein Beispiel dafür ist das Personenstandsgesetz in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dieses bildet(e) (bis vor Kurzem) die ausschließliche zwei-gegenderte Einteilung in männliche und weibliche Optionen ab. Als Gesetz werden Normen festgesetzt und verbindlich. Sie werden aber auch greifbar und angreifbar (vgl. Lüthi 2020). Dies zeigt in Deutschland die Klage für eine dritte (Gender-)Option, welche vom Bundesverfassungsgericht 2017 angeordnet und im Perso-

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Cis-genderistische Normen oder cis-gegenderte Vorstellungen bezeichnen (in Anlehnung an Hornscheidt 2012) die gesellschaftliche Norm, dass Menschen ein Gender haben, sich mit diesem identifizieren und dieses identisch ist mit dem bei der Geburt (zwangs-)zugewiesenen Gender (ebd.: 113ff). Zwei-genderistische Normen legen hingegen fest, dass es zwei Gender gibt (ebd.: 73ff).

Trans*normal?

nenstandsgesetz 2018 umgesetzt wurde.5 Untersuchungsgegenstand in diesem Beitrag ist jedoch vielmehr die ungegossene Statue und Gegenform. Untersucht wird anhand von diagnostischen Prozessen, die subtile Herstellung von Gender-Normen über die Definition des Anderen und die Auslassung der Norm. Gewachsen ist diese These von Form (Norm) und Gegenform (Diagnosen) im Kontext unterschiedlicher Wissensproduktionen, insbesondere aus intersektionalen trans*, Disability und Mad Aktivismen und Studien. So beschreiben beispielsweise Liat Ben-Moshe et al. (2009) in einer historischen Herleitung, dass Normales (Normalität) angewiesen ist auf Anormales (Anormalität). Erst das Zum-Anderen-Gemachte (VerAnderte) bringt die Norm kontrastierend hervor und bestätigt sie: »There is a need for people at the margin, in order to highlight and valorize ›normalcy‹ by contrasting it with a demeaned and derided ›abnormalcy‹ […] Difference is thus projected onto stigmatized populations so all others can strive for some illusory normalcy.« (Ben-Moshe et al. 2009: 114) Psychiatrische Verständnisse und Zusammenhänge sind in diesem Prozess der Anormalisierung zentral. Das beschreibt unter anderem Michel Foucault: »Jedes Verhalten muß […] im Hinblick auf und im Dienste einer Norm situiert werden, die ihrerseits von der Psychiatrie kontrolliert oder zumindest als solche wahrgenommen wird.« (Foucault 2003 [1999]: 209) Psychiatrie hat demnach die Aufgabe, Norm kontrastierend zu bestätigen, indem sie das Anormale, das Pathologische definiert. Diese Funktion führt auch zu einer nahezu grenzenlos möglichen Ausdehnung psychiatrischer Zuständigkeiten: »Es gibt im Verhalten des Menschen letztlich nichts mehr, was nicht auf die eine oder andere Art […] psychiatrisch befragt werden könnte« (ebd.: S. 209f.). Diesem Ansatz folgend, suche ich nach der psychiatrischen Bestätigung und Kontrolle von (Gender-)Normen über die Definition von der Abweichung von dieser Norm in trans*- und (homo-)sexualitätsspezifischen Diagnosen. Ausgangspunkt meiner Analyse sind die aktuellen Revisionen von trans*spezifischen Diagnosen in den Krankheitskatalogen Diagnostic and Sta5

Auch in Österreich und der Schweiz führte dies zu einer Überprüfung des Personenstandsgesetzes (vgl. Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt 2017, Verfassungsgerichtshof Österreich 2018, Garcia et al. 2014).

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Eliah Lüthi

tistical Manual of Mental Disorders (DSM, herausgegeben von der Amerikanischen Psychiatrischen Assoziation [APA]) und ICD. Der DSM ist für den europäischen medizinischen Kontext nicht bindend. Jedoch richten sich sowohl die psychiatrischen Kategorien und Diagnosen im ICD als auch die europäischen Behandlungsstandards weitestgehend nach dem DSM. Das liegt daran, dass der DSM im Gegensatz zum ICD ausschließlich auf psychiatrische und angrenzende Diagnosen spezialisiert ist, während der ICD auch somatische Kategorien enthält. Dadurch werden im DSM die diagnostischen Merkmale und auch die Differenzialdiagnostik differenzierter ausgeführt. Die aktuellen Revisionen erschienen 2013 (DSM V) und 2018 (ICD 11). Der DSM V wurde seitdem verbindlich implementiert. Der ICD 11 ist ab 2022 anzuwenden. In der neuesten Auflage des DSM sind trans*spezifische Diagnosen nach wie vor als psychiatrische Diagnosen gelistet, jedoch nicht mehr als (Gender- und Sexualitäts-)Identitätsstörung. Der ICD 11 (2018) listet trans*spezifische Diagnosen zu der gegenderten Identifikation nicht mehr als psychiatrische Diagnose, sondern als Teil des neu geschaffenen siebzehnten Kapitels, das folgendermaßen überschrieben ist: Conditions related to sexual health. Die explizite Nennung von trans*spezifischen Diagnosen in den Krankheitskatalogen kann unterschiedlich datiert werden. So wurde der Wunsch, Kleidung anzuziehen, die gesellschaftlich nicht mit dem bei Geburt (zwangs-)zugeschriebenen Gender assoziiert wird, bereits in den 1960er Jahren explizit als pathologisch definiert und sowohl im ICD 8 als auch im DSM II mit der Diagnose Transvestitismus benannt. Die Diagnose selbst und ihre Revisionen bezeichne ich im Folgenden als Kleidungspathologisierung. In medizinischen und teilweise auch anderen gesellschaftlichen Kontexten wird Transvestitismus (oder Transvestismus/transvestitische Störung, wie die Diagnose in den Folgejahren heißen wird) nicht als trans* Diagnose, sondern als sogenannte Differentialdiagnose zu dieser verhandelt. Das heißt: Menschen, denen eine Kleidungspathologie zugeschrieben wird, können keine (andere) trans*spezifische Diagnose bekommen. Relevant ist dies, wenn es um den Zugang zu trans*spezifischer medizinischer Versorgung und juristischer Anerkennung geht. Im ICD 9 (1975) und im DSM III (1980) wurde erstmals explizit die gegenderte Identifikation mit dem Gegengeschlecht diagnostisch (und somit pathologisch) als Transsexualismus definiert. Diese Diagnose und ihre Revisionen bezeichne ich im Folgenden als Identitätspathologisierung.

Trans*normal?

Tab. 1: Trans*- und (homo-)sexualitätsspezifische Diagnosen im DSM und ICD seit 1973 mit Fokus auf Identität (I), Kleidung (K) und Sexualität (S) 1970

1980

DSM II-6th (1973)

1990

2000

2010

DSM III (1980)

DSM IV (1994)

2020

DSM V (2013)

I

-

Transsexualism

Gender Identity Disorder

Gender Dysphoria

K

Transvestitism

Transvestism

Transvestic Fetishism

Transvestic Disorder

S

Sexual Orientation Disturbance

Ego Dystonic Homosexuality

Sexual Disorder not Otherwise Specified

Target of (Percieved) Discrimination

ICD 9 (1975)

ICD 10 (1990)

ICD 11 (2018)

I

Trans-sexualism

Gender Identity Disorder

Gender Incongruence

K

Transvestism

Transvestic Disorder

-

S

Homosexuality

Sexual Maturation Disorder Ego-dystonic Sexual Orientation

Target of Perceived Adverse Discrimination or Persecution

Zeitlich erfolgt die diagnostische Einführung von Transsexualismus (und den vielen umbenannten Folgediagnosen) im ICD nur zwei Jahre nach der offiziellen Streichung der Diagnose Homosexualität im DSM (1973). Im ICD wurde die Diagnose Homosexualität bis 1990 parallel zu trans*spezifischen Diagnosen weitergeführt. Insbesondere vor der Einführung trans*spezifischer Diagnosen wurde oftmals die Diagnose Homosexualität verwendet, um die gegenderte Identifikation mit einem anderen als dem bei Geburt (zwangs-)zugeordneten Gender zu pathologisieren. Daraus folgt eine, bis heute diskursiv verbreitete und von trans* Organisationen vielfach kritisierte, Gleichsetzung von (homo-)sexualitäts- und (trans*-)genderspezifischen Themen (vgl. TrIQ & Wild 2014: S. 7f). Aufgrund dieser Überschneidung in der diagnostischen Praxis sind auch (homo-)sexualitätsspezifische Diagnosen seit 1970 Gegenstand meiner Untersuchung. Auch nach der expliziten Streichung der Diagnose Homosexualität, wurde die Pathologisierung über Sexualität (im Folgenden Sexualitätspatholgosierung genannt) in den Krankheitskatalogen weitergeführt. So lassen sich trans*- und (homo-)sexualitätsspezifische psychiatrische Diagnosen unterteilen in Diagnosen nach Identität/Identifikation (I), Kleidung (K) und (Homo-)Sexualität (S). Die Grenzen verlaufen dabei fließend.

19

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Eliah Lüthi

Die diversen Revisionen von trans*spezifischen Diagnosen im DSM und ICD verlaufen weitestgehend synchron. Sie umfassen Umbenennungen und die Verschiebung der Diagnosen in andere Überkategorien. In einem Überblick wird deutlich, dass die Revisionen insbesondere die Identitäts- und Sexualitätspathologisierung umfassen. Auch im aktuellen DSM V findet sich Kleidungspathologisierung nach wie vor in der Überkategorie Paraphile Störungen. Dem entgegengesetzt stellt die Gender Dysphorie (die aktuelle Benennung der Identitätspathologisierung im DSM) eine eigene psychiatrische Überkategorie dar, unterteilt diese in eine Diagnose für Jugendliche und Erwachsene und eine Diagnose für Kinder. Sowohl der ICD 11, als auch der DSM V erwähnen erstmalig gegenderte Selbstverständnisse zwischen und außerhalb von den zwei Optionen ›männlich‹ und ›weiblich‹. Grob lassen sich seit 1980 folgende (gleichbleibende) Gendernormen aus den trans*spezifischen Diagnosen ablesen: • • • • • •

Menschen haben ein Gender. Menschen sind (bei Geburt) einem von zwei Gendern zuzuordnen. Die Einteilung stimmt mit dem Selbstverständnis überein. Gender ist im Verlauf eines Lebens konstant und bleibt unverändert. Gender ist biologisch bestimmbar. Gender äußert sich über Kleidung, Tätigkeiten, Vorlieben und Fühlen.

In diesen Merkmalen stimmen die beiden Krankheitskataloge überein. Es gibt aber auch Unterschiede. Der maßgebliche Unterschied besteht in den aktuellen Revisionen darin, dass trans*spezifische Identitätspathologisierungen einmal als psychiatrische (DSM) und einmal als nicht-psychiatrische (ICD) Diagnose verstanden werden. Zudem wird die kleidungsspezifische Diagnose Transvestic Disorder im ICD 11 nicht weitergeführt. Kleidung – insbesondere in der trans*spezifischen Identitätspathologisierung von Kindern – spielt jedoch nach wie vor eine sehr zentrale Rolle in trans*spezifischen Diagnosen.

Zeitraum und Materialien Für diesen Beitrag untersuche ich die aktuellen diagnostischen Reformen: erstens im historischen Verlauf der beiden Krankenkataloge seit 1973, zweitens in Bezug zu Begutachtungs- und Diagnoseleitlinien für Praktik*erinnen und

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drittens im Kontext von trans*aktivistischen Bewegungen und deren Forderungen für Depsychopathologisierung. In der diagnostischen Praxis sind neben den Krankheitskatalogen unterschiedliche (medizinische) Richtlinien maßgebend. Sie sind vor allem für psychiatrische Praktik*erinnen und Krankenkassen richtungsweisend und somit äußerst relevant für den Zugang zu und den Ausschluss von trans*spezifischer Gesundheitsversorgung. Sie regeln, welche Voraussetzungen für die Diagnose und somit für die medizinische (und indirekt auch juristische) Anerkennung der gegenderten Identität erfüllt sein müssen. In Deutschland ist das derzeit die S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit (vgl. AWMF 10/2018). Die Krankenkassen arbeiten jedoch nach wie vor mit der Begutachtungsanleitung Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDS) von 2009. Eine Orientierung bieten in Österreich die Stellungnahme der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt zu Intersexualität und Transidentität (2017) und in der Schweiz kleinere unverbindliche Standards (beispielsweise Garcia et al. 2014). Länderübergreifend sind zudem die Standards of Care: Versorgungsempfehlungen für die Gesundheit von transsexuellen, transgender und geschlechtsnichtkonformen Personen des Weltverbandes für Transgender Gesundheit (WPATH 2012) richtungsweisend. Bewegungspolitisch kontextualisiere ich diese Revisionen in trans*aktivistischen Forderungen der Depsychopathologisierung. Hierfür analysiere ich drei zentrale internationale Kampagnen (oder Interventionen), in denen deutschsprachige trans* Organisationen eine bedeutende Rolle gespielt haben und/oder die im deutschsprachigen Raum öffentlich rezipiert und diskutiert wurden: die Kampagne Stop Trans Pathologization 2012 (STP2012), den GATE-Report von Global Action for Trans Equality und die Online-Petition #notsick. Ergänzt werden diese Materialien durch Stellungnahmen und Presseberichte von fünf trans* Organisationen: Bundesverband Trans* (BVT) und TransInterQueer (TrIQ)6 aus Deutschland, Transgender Network Switzerland (TGNS) aus der Schweiz, TransX aus Österreich sowie Transgender Europe (TGEU) als europaweite (weitestgehend englischsprachige) Organisation, die in allen drei Ländern eine zentrale Rolle spielt.

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Da der BVT erst 2015 gegründet wurde, habe ich für die Zeit davor Materialien von TrIQ analysiert.

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Pathologisierung: Intelligibilisierung und VerAnderung Seit der expliziten Einführung trans*spezifischer Diagnosen ist die Beziehung von trans* Bewegungen zu (psychiatrischen) Diagnosen und Medizin ambivalent. Es besteht ein Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und VerAnderung: Mit trans*spezifischen (Identitäts-)Diagnosen wurde erstmalig medizinisch wahrnehmbar, dass gegenderte Selbstverständnisse teilweise nicht mit dem bei Geburt (zwangs-)zugewiesenen Gender übereinstimmen. Medizin ist eine der zentralen Institutionen, die Wirklichkeit herstellen (vgl. Foucault 2017 [1972]: 40). Auch die juristische Anerkennung über trans*spezifische Vornamens- und Personenstandsänderung ist an eine Diagnose geknüpft. Eine medizinische und juristische Anerkennung von Selbstverständnissen, die nicht den Cis-Normen entsprechen, ist demnach (auch) eine Bestätigung der eigenen Existenz. Existiere ich, wenn weder Recht noch Medizin meine Existenz anerkennen? Das (gegenderte) Ich wird also über die Pathologisierung erst in gesellschaftliche Wahrnehmbarkeit gebracht. Doch geschieht das zum Preis der VerAnderung, also der Herstellung als das Andere, Abnormale, Pathologische. Dieser Prozess der gleichzeitigen Intelligibilisierung und VerAnderung findet sich in der aktuellen Revision des DSM V von 2013 in Bezug auf nonbinäre Personen. Erstmalig berücksichtigen trans*spezifische Identitätspathologisierungen neben ›weiblichen‹ und ›männlichen‹, auch non-binäre Genderverständnisse. Bis zu diesem Zeitpunkt fand sich in den Diagnosen nur die Formulierung von »dem anderen Geschlecht/Gender«. Gegenderte Selbstverständnisse außerhalb und zwischen zwei Gendern waren aus dem medizinischen (und somit auch juristischen) Wahrnehmbarkeitsfeld ausgeschlossen. In der aktuellen Diagnose findet sich hierfür die folgende Formulierung: »the other gender (or some alternative gender different from one’s assigned gender)« (APA 2013: 452). Durch diese explizite Aufnahme in die Diagnose werden non-binäre Selbstverständnisse medizinisch wahrnehmbar. Sie werden jedoch auch zu einem pathologisch-individualisierten Gegenstand. Diese Gleichzeitigkeit von Intelligibilisierung und VerAnderung gilt auch im weiteren Sinne für (trans*spezifische) Diagnosen.

Trans*spezifische Diagnosepraxis Die explizite Einführung trans*spezifischer Diagnosen macht die Existenz außerhalb der oder im Kontrast zu den Zwei- und Cis-Gendernormen erst

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(medizinisch, juristisch und gesellschaftlich) wahrnehmbar und möglich. Das ist jedoch daran geknüpft, diese Existenz als defizitär anzunehmen. Besonders zentral im Kontext von trans*spezifischen Diagnosen ist, dass erst die medizinische Intelligibilisierung den Zugang zu trans*spezifischer Gesundheitsversorgung ermöglicht. Dies gilt insbesondere für hormonelle und operative Unterstützung. Da auch juristische Anerkennungsprozesse (noch) weitestgehend medizinische Diagnosen voraussetzen, ist auch die juristische Anerkennung in Form von Namens- und Personenstandsänderungen gebunden an die verAndernde medizinische Intelligibilisierung (Das wird im deutschen Transsexuellen Gesetz [TSG] und österreichischen und schweizerischen Standards deutlich). Trans*spezifische Diagnosen ermöglichen demnach, für einige Menschen in ihrer gegenderten Selbstbestimmung medizinisch und juristisch wahrgenommen zu werden. Dies gilt jedoch nach wie vor vorwiegend für trans* Personen, die sich eindeutig als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ verstehen. Für non-binäre Personen ist der Zugang zu trans*spezifischer medizinischer Versorgung und juristischer Anerkennung noch uneindeutig und teilweise widersprüchlich geregelt. Ein Grund dafür ist, dass sich die Regelungen in Bezug auf non-binäre Möglichkeiten gerade auf diagnostischer und juristischer Ebene im Umbruch befinden. Veränderungen werden angestrebt und (teilweise unterschiedlich) umgesetzt: Zwar werden non-binäre Optionen in den aktuellen Krankheitskatalogen und in den meisten Behandlungsrichtlinien erwähnt (vgl. AWMF 2018: 15, WPATH 2012: 11, Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt 2017, Garcia et al. 2014). Dadurch kann eine trans*spezifische Diagnose auch bei Menschen zu tragen kommen, die sich zwischen oder jenseits von zwei Gendern verorten. Die Behandlungs- und Begutachtungsstandards der Krankenkassen (vgl. MDS 2009), die für die Kostenübernahme in Deutschland ausschlaggebend sind, sehen jedoch nach wie vor nur binäre Selbstverständnisse und Gesundheitsversorgung vor. Eine ähnliche Widersprüchlichkeit gilt auch für gesetzliche Revisionen (§45b PStG) und juristische Überlegungen (vgl. Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt 2017; Die Bundesversammlung – Das Schweizer Parlament 2017; Verfassungsgerichtshof Österreich 2018): Non-binäre Optionen werden darin erstmalig explizit berücksichtigt. In der praktischen Umsetzung kommt es jedoch zu unterschiedlichen Auslegungen und Gerichtsentscheiden, welche trans* und agender Personen ohne inter* Indikation rückwirkend von dieser Regelung ausschließen (vgl. TrIQ 2020; Bundesgerichtshof 2020; Bundesrat 2018).

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Aus den bisherigen Erläuterungen zu Prozessen der Pathologisierung, ergibt sich der erste Teil des Dreisatzes: Pathologisierung = Intelligibilisierung + VerAnderung

Diagnostische Ausschlüsse Eine trans*spezifische Diagnose ermöglicht Zugänge und Wahrnehmbarkeiten für den Preis der VerAnderung. Diese Zugänge werden im Sinne eines gatekeeping reguliert. Diagnostische Ausschlusskriterien definieren, welche Personen nicht (oder nur erschwert) eine trans*spezifische Diagnose – und dadurch Zugang zu medizinischer Versorgung und juristischer Anerkennung – erlangen. Zentral sind dabei sogenannte Differenzialdiagnosen. Sie sind (potentielle) diagnostische Ausschlussgründe für eine trans*spezifische Diagnose. Lange war eine inter* Indikation ein Ausschlussgrund für trans*spezifische Diagnosen. Im DSM V (2013) ist dies erstmalig nicht mehr der Fall. Diese Änderung ist eine Reaktion auf jahrelange Forderungen von trans* und inter* Organisationen, welche darauf hinweisen, dass trans* und inter* keine sich ausschließende Positionen sind. Jedoch werden weitere Differenzialdiagnosen, trotz aktivistischen Kritiken (GATE 2011), in den aktuellen Krankheitskatalogen und Begutachtungsrichtlinien weitergeführt. Auch im aktuellen DSM werden »Schizophrenie und andere psychotische Erkrankungen« (APA 2013: 458) als Differenzialdiagnosen und potenzielle Ausschlusskriterien genannt. In den Diagnoserichtlinien des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, die insbesondere in Deutschland die Grundlage für die Finanzierung von trans*spezifischer Gesundheitsversorgung bilden, zählt jede diagnostizierte ›Persönlichkeitsstörung‹ als potenzielle Differenzialdiagnose und somit als Ausschlussgrund (vgl. MDS 2009: 9). Deutlich ausführlicher als die anderen analysierten Leitlinien besprechen die S3-Leitlinien unter anderem Diagnosen wie Borderline, Schizophrenie oder Autismus, aber auch psychotische oder dissoziative Symptome als potenziellen Ausschlussgrund. Gleichzeitig betonen die Leitlinien wiederholt, dass Personen durchaus trans* sein und weitere Diagnosen haben können. Das wird auch in den Standards of Care der WPATH hervorgehoben. In der Praxis des Begutachtens führen diese Differenzialdiagnosen jedoch mehrheitlich zu einem diagnostischen Ausschluss oder zumindest zu einer deutlichen

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Erschwerung der medizinischen Anerkennung der eigenen gegenderten Identifikation (vgl. Lüthi 2015). In der Pathologisierung von gegenderten Selbstverständnissen, die nicht mit dem bei Geburt zwangszugewiesenen Gender übereinstimmen, spielen psychiatrische Vorstellungen von Psychosen und Wahn schon lange eine wichtige Rolle. Vor der Einführung expliziter trans*spezifischer Diagnosen wurde die Identifikation mit einem anderen als dem bei Geburt zwangszugewiesenen Gender oftmals als »wahnhaft« und somit »psychotisch« (Drescher 2015: 390) definiert. Gegenderte Selbstverständnisse, die nicht mit dem bei Geburt zwangszugewiesenen Gender übereinstimmen, und/oder das Hinterfragen gesellschaftlicher Gendernormen wurde (und wird teilweise bis heute) als realitätsfern und »wahnhaft« bezeichnet (ebd.) – sowohl in psychiatrischen als auch in Alltagsdiskursen. Seit der psychiatrischen Intelligibilisierung von trans* im Jahr 1973 wird dieser Befund differenzialdiagnostisch als (potenzieller) Ausschlussgrund verhandelt. Auch heute ist die diagnostische Konstruktion von wahnhafter und trans*spezifischer Genderidentifikation nur schwer zu entflechten. Die Differenzierung macht sich primär daran fest, ob eine Person die eigene (gegenderte) Identifikation oder die psychiatrische Logik als Grundsatz für das eigene Verständnis nimmt. Es gilt als potenziell wahnhaft, wenn eine Person »truly believes that he or she is a member of the other sex« (DSM IV 1994: 537). Trans*spezifische Diagnosen sollen hingegen angewandt werden, wenn »the person feels like a member of the other sex« (ebd.). Die Grenze verläuft demnach zwischen dem wahrhaftigen Glauben eine Person des anderen Genders zu sein (potentiell wahnhaft) und sich, wie eine Person des anderen Genders zu fühlen (ohne an das eigene Fühlen wirklich zu glauben – potentiell trans*). Damit setzt diese Definition eine Übernahme medizinischer Perspektiven und eine Distanzierung von dem eigenen Selbstverständnis voraus: Nur wer das eigene Fühlen als pathologisch definiert, wird als glaubhaft anerkannt. Im weiteren psychiatrisch-diagnostischen Kontext wird dieser Vorgang auch Krankheitseinsicht genannt. Das (psychiatrische) Versprechen einer Besserung, Heilung oder Anerkennung ist demnach geknüpft an die Übernahme der psychiatrischen Perspektive auf sich selbst. Das gilt sowohl für die sogenannte Krankheitseinsicht als auch in Bezug auf die diagnostisch implizierten Gendernormen. Trans* Menschen müssen cis- und zweigenderistische Gendernormen anerkennen, damit die Identifikation mit einem anderen als dem bei Geburt zwangszugewiesenen Gender, als trans* und nicht als potentiell wahnhaft diagnostiziert wird. Insbesondere für trans* Personen

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mit mehreren psychiatrischen Diagnosen führt dies dazu, dass der Zugang zu trans*spezifischer Gesundheitsversorgung und juristischer Anerkennung von Gender und Name, erschwert oder gar verunmöglicht wird. Somit definieren Prozesse der Pathologisierung sowohl das Pathologische (die gegenderte Identifikation mit einem anderen als dem bei Geburt zwangszugewiesenen Gender) und die gegenderte Norm (es gibt zwei Gender. Das gegenderte Selbstverständnis bleibt ein Leben lang gleich und stimmt mit dem bei Geburt zwangszugewiesenen überein), als auch die Abweichung von der Abweichung über Differenzialdiagnostik (bis 2013: inter* und non-binäre Selbstverständnisse; aktuell: trans* Personen mit mehrfacher Betroffenheit von Psychopathologisierung).

Depathologisierung: Normalisierung und Ent_Solidarisierung Im ICD 11 sind trans*spezifische Identitätsdiagnosen erstmals nicht mehr unter psychiatrischen Diagnosen gefasst. Dies ist das Ergebnis von internationalen trans* Bewegungen, die jahrelang die Streichung aus psychiatrischen Diagnosekategorien und gleichzeitig die Gewährleistung trans*spezifischer Gesundheitsversorgung forderten. Laut Jack Drescher, der sowohl bei der Revision des DSM als auch des ICD in der sogenannten Expert*innengruppe dabei war, wurde mit den Revisionen versucht, einen Weg zu finden, »that removes the stigma of having a mental disorder diagnosis while maintaining access to medical care« (Drescher 2014: 12). Und tatsächlich gewährleisten die neuen Diagnosen (sowohl im DSM als auch im ICD) vielerorts den Zugang zu trans*spezifischer Gesundheitsversorgung (wofür es eine Diagnose benötigt). Auch wurde das Stigma psychiatrischer Diagnosen möglichst weit reduziert, indem die Diagnose aus der psychiatrischen Kategorie (ICD) beziehungsweise der Überkategorie der Identitätsstörung (DSM) verschoben wurde. Mit dem Anliegen trans* Personen loszulösen von dem »Stigma einer psychischen Störung« wird gleichzeitig anerkannt, dass psychiatrische Diagnosen mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung oder Diskriminierung einhergehen. Die Entfernung von trans* Personen aus dieser Kategorie ändert jedoch nichts an der Stigmatisierung von psychopathologisierten Positionen per se. Der Wunsch, dieser Diskriminierung entgegenzuwirken, ist nachvollziehbar. Es gibt jedoch unterschiedliche aktivistische Handlungsmöglichkeiten. Die Forderung, von der stigmatisierenden Zuschreibung psychiatrischer

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Diagnosen ausgenommen zu werden, also sich von (anderen) psychopathologisierten Positionen zu distanzieren, ist eine Möglichkeit. Eine andere ist es, (Psycho-)Pathologisierung und die damit einhergehende Diskriminierung grundsätzlich (und nicht nur in Bezug auf einzelne Diagnosen) herauszufordern. Letzteres ist anschlussfähig an psychiatriekritische und Mad-Studies-Ansätze. Diese argumentieren beispielsweise, dass psychiatrische Diagnosen durch zeitliche und geografische Normalisierungsvorgänge hervorgebracht werden und eine gesellschaftliche Funktion der Kontrolle und Disziplinierung erfüllen (vgl. Menzies et al. 2013: 3ff.). Diese Ansätze setzen sich nicht nur mit einzelnen Diagnosen auseinander, sondern vielmehr mit der umfassenderen Gewalt und Diskriminierung durch psychiatrische Zusammenhänge und Verständnisse.

Kritik an (trans*spezifischen) Diagnosen Alle der untersuchten Kampagnen, Interventionen und Organisationen kritisieren die Psychopathologisierung von trans* Personen und fordern deren Depsychopathologisierung. Nur wenige kritisieren dabei die Stigmatisierung von allen psychiatriebetroffenen Personen. Eine umfassende (selbst)kritische Auseinandersetzung mit (trans*) Pathologisierung finden sich in dem Forderungskatalog von GATE. Sie weisen darauf hin, dass jegliche Aktionen, die das Ziel haben, der mit psychiatrischen Diagnosen zusammenhängenden Stigmatisierung von trans* Personen entgegenzuwirken, diese Stigmatisierung weder normalisieren noch auf andere Personen oder Personengruppen projizieren dürfen. »Stigma associated with mental health issues is an extended challenge for the trans* movement; however, any action aimed at facing and dismantling it must neither naturalize stigma nor project it over other communities.« (GATE 2011: 7) GATE verbinden dabei die Forderung, einzelne Diagnosen aus (psychiatrischen) Krankheitskategorien zu streichen, mit einer umfassenderen Hinterfragung von (psychiatrischer) Pathologisierung. Meine Analyse der Forderungen und Stellungsnahmen von trans* Bewegungen zeigt jedoch, dass die Forderung von Depsychopathologisierung mehrheitlich mit einer Distanzierung von weiteren psychopathologisierten Personen einhergehen. Psychiatrische Logiken und Kategorisierungen werden dabei nicht per se kritisiert, sondern

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teilweise gar bestätigt und verstärkt. Das zeigen exemplarisch die folgenden Stellungsnahmen und Forderungen: »Trans muss einfach als vollkommen normale Geschlechtsvariante gelten, und nicht als psychisch krank, nicht als bedauernswerte Kreaturen […].« (TGNS 2013)   »The nightmare scenario that most trans people still face today […] [is] a diagnosis of mental illness, despite not being mentally ill.« (TGEU 2015)   »Weder trans* Kinder oder Jugendliche, noch Erwachsene sind psychisch krank.« (TrIQ 2013) Solche Argumentationen führen meines Erachtens genau zu der von GATE befürchteten Verstetigung und Naturalisierung der Stigmatisierung psychopathologisierter Personen. Es findet eine Entsolidarisierung von weiteren psychiatriekritischen Bewegungen statt. Psychopathologisierte Personen werden als ›bedauernswerte Kreaturen‹ hergestellt, von denen trans* Personen abzugrenzen sind. Trans* Personen, die aufgrund unterschiedlicher Diagnosen als ›psychisch krank‹ gelten, werden aus dem dadurch hergestellten Wir ausgeschlossen. In dem zweiten Zitat wird geschrieben, die Zuschreibung einer ›psychiatrischen Krankheit‹ sei ein Albtraum. Unklar bleibt, ob der Albtraum mit der damit zusammenhängenden Stigmatisierung, mit den Diagnoseprozeduren oder mit anderen Aspekten der Psychopathologisierung zusammenhängt. In der Konsequenz wird jedoch nicht der Albtraum der Psychopathologisierung kritisiert – dies hätte das Potenzial einer Solidarisierung mit verRückten (cisund trans*-)Personen. Vielmehr werden zwei Gruppen hergestellt: ein Wir, der ›nicht wirklich psychisch Kranken‹ und die Anderen, ›wirklich psychisch Kranken‹. Die gesellschaftliche Angst und das Mitleid gegenüber psychopathologisierten Personen wird tendenziell verstärkt, um sich dann davon zu distanzieren. Es gibt jedoch nicht grundlegend eine Distanzierung von der strukturellen Gewalt durch Psychopathologisierung. Letztlich legt diese Aussage nahe, dass es Menschen gebe, die zu Recht als ›psychisch krank‹ gelten und somit auch zu Recht dieses Albtraumszenario der Psychopathologisierung erleben. In allen untersuchten Aussagen – und am Deutlichsten in der letzten – werden trans* Personen zwar als ›nicht psychisch krank‹ vorgestellt, die Kategorie ›psychisch krank‹ selbst aber wird nicht kritisch hinterfragt. Auf diese

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Weise wird erstens psychische Krankheit als essenzialistisch-individualisierendes medizinisches Konzept verstärkt und zweitens ein Wir (trans* = nicht ›psychisch krank‹) und die Anderen (die ›wirklich psychisch Kranken‹) hergestellt. Die internationale Petition #notsick trägt diese Differenzierung bereits in der Bezeichnung und noch expliziter in vielen der internationalen Aufrufe: »We are trans* not sick!« (Zachs 2013, #notsick England), »Trans people aren’t sick« (Talackova 2013, #notsick Kanada), »Transsexuelle Menschen sind NICHT psychisch krank« (Atme e.V. 2013, #notsick Deutschland). Diese Distanzierung von weiteren psychopathologisierten Personen und Bewegungen ist politisch unsolidarisch und ausschließend: trans* Menschen, die von mehreren psychiatrischen Diagnosen betroffen sind, werden unsichtbar gemacht. Sie passen weder auf die eine noch auf die andere Seite dieser Konstruktion. Das hier beschriebene Spannungsfeld wird von GATE ziemlich treffend als Gefahr formuliert: Ein Stigma wird naturalisiert und auf andere Personen(-gruppen) projiziert. Daraus leitet sich die zweite Formel des Dreisatzes ab: Depathologisierung = Normalisierung + Ent_Solidarisierung Dieser Vorgang ist nicht nur in trans* Bewegungen der Depsychopathologisierung zu finden. Es stellt eine Herausforderung für jede Bewegung dar, die gesellschaftliche Veränderungen oder Reformen innerhalb eines bereits bestehenden (oftmals macht- und gewaltvollen) Systems anstrebt. A.J. Withers beschreibt dieses Dilemma zwischen Normalisierung und Ent_Solidarisierung am Beispiel von der Depathologisierung von Homosexualität: »Establishing ›ourselves‹ outside of the rubric disabled meant that not only did the mainstream gay rights movement sell out its disabled members (not to mention its racialized, poor, trans, intersexed, two-spirited, and, oftentimes, women members) but also that it sold out its future. Fighting to remove yourself from the categorisation of disabled, rather than working with others classified as disabled to challenge the systems that permit the characterisation of undesirable people as disabled, the mainstream gay rights movement has ensured the queer community is at perpetual risk of being repathologized as those in power see fit.« (Withers 2014: 124) Wenn Menschen fordern, von einem System anerkannt zu werden, bestätigen sie auch die Validität und Definitionsmacht von eben diesem System. Sie bleiben in dem vorgegebenen Rahmen, machen sich abhängig von des-

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sen Regeln und Definitionen. Die psychiatrische Logik bleibt dabei auch in den Prozessen der Depsychopathologisierung omnipräsent und gleichzeitig entnannt. Die Unterteilung in ›psychisch gesund‹ und ›psychisch krank‹ wird aufrechterhalten. Das ›Kranke‹ gilt als defizitär und solle behandelt oder rehabilitiert werden. Innerhalb dieser Logik sind die Möglichkeiten kollektiver, solidarischer Politiken der Depsychopathologisierung begrenzt. Sie finden sich jedoch ansatzweise in dem Katalog von GATE und auch in Teilen der STP2012-Kampagne, die mancherorts in naher Zusammenarbeit oder als Teil von weiteren Bewegungen von Psychiatriebetroffenen umgesetzt wurden (vgl. Allex 2014). Diese Beispiele zeigen, dass auch innerhalb reformistischer Forderungen differenzierte solidarische Politiken (wenn auch begrenzt) möglich sind.

Jenseits von medizinischen Logik(en) Mit der Distanzierung von mehrfach-psychopathologisierten trans* Personen, bewegen sich einige Forderungen der Depsychopathologisierung auffallend nah an den differenzialdiagnostischen Bestimmungen in den Krankheitskatalogen und Begutachtungsrichtlinien. Trans* Menschen, die aufgrund unterschiedlicher Diagnosen als verRückt, ›behindert‹ oder (chronisch) ›krank‹ gelten, sind in diesem (›nicht-kranken‹) Verständnis von trans* nicht mehr wahrnehmbar. Sie werden explizit ins Außerhalb des Diskurses verschoben. Dabei wird deutlich, dass auch in Prozessen und Forderungen der Depsychopathologisierung psychiatrische und medizinische Logiken aufrechterhalten und bestätigt werden. Unvorstellbar und nicht wahrnehmbar werden dabei nicht nur einzelne Personen, sondern auch kollektive und gesellschaftskritische (Selbst-)Verständnisse und Paradigmen. Schließlich schaffen Diagnosen eine ganz bestimmte Perspektive auf die dadurch definierten Verhaltensweisen, (Selbst-)Wahrnehmungen, Gefühle und Personen. Von gesellschaftlichen Normen abweichende, gegenderte (Selbst-)Verständnisse werden in dieser Logik als pathologisch verstanden und in den jeweiligen Individuen verortet. Dies gilt auch für die aktuellen (wenn auch im ICD 11 nicht mehr psychiatrischen) trans*spezifischen Diagnosen. Trans* wird dabei als etwas Individuelles verstanden, als ein pathologisches Problem von Einzelpersonen, das deshalb auch individuell und medizinisch ›behandelt‹ werden muss. Dem

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stehen trans*, non-binäre, a-gender und ex-gendernde7 Positionen gegenüber, die diese (Selbst-)Verständnisse (auch) als Kritik an gesellschaftlichen Gendernormen verstehen und die das eigene (Selbst-)Verständnis als eine widerständige politische Positionierung oder Handlung gestalten. In diesem (Gegen-)Verständnis ist das ›Problem‹ ein gesellschaftliches, dessen ›Lösung‹ primär darin besteht, gesellschaftliche Gendernormen zu hinterfragen und zu verändern. Dieses Verständnis steht konträr zu diagnostischen Logiken, die nach dem Individuellen und Pathologischen fragen und somit von vornherein ein kollektives und politisches Verständnis ausschließen. Nach dieser (psychiatrisch-medizinischen) Logik besteht sowohl das ›Problem‹ als auch dessen ›Lösung‹ allein in den verAnderten Individuen – und eben nicht in gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen. Es handelt sich also um unterschiedliche Verständnisse: ein psychiatrisch-medizinisches und ein selbstbestimmtes. In hegemonialen Diskursen bewegen sich diese Verständnisse jedoch nicht gleichwertig nebeneinander. Die diskursive Wirkmächtigkeit ist hierarchisch. Die Kritik an Cis- und Zwei-Gendernormen muss nicht mehr als Kritik ernstgenommen werden, wenn sie als individuelle Pathologie hergestellt wird. Die Norm bleibt dadurch weitestgehend unangetastet. Die Kritik, die kollektiven gesellschaftskritischen Verständnissen zugrunde liegt, wird dabei diskursiv verworfen. Medizin (und Psychiatrie als Teil davon) funktioniert als einzige akzeptierte Definitionsmacht. Das zeigt sich auch darin, dass medizinische Diagnosen die Voraussetzung für medizinische Versorgung und juristische Anerkennung sind. Diese Logik muss von den Individuen übernommen werden um gesellschaftliche Zugänge zu erlangen. Psychiatrisch-medizinische Logiken werden dabei als Rahmen anerkannt und bestätigt. Das geht einher mit einer Übernahme individualisierender (und potentiell pathologisierender) Selbstverständnisse. In dieser Logik werden kollektive und gesellschaftskritische Selbstverständnisse – und insbesondere a-gendernde und ex-gendernde Verständnisse – unvorstellbar gemacht. Somit geht die Depsychopathologisierung von trans* einher mit der:

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A-gender beschreibt Selbstverständnisse ohne Genderbezug. Ex-gender beschreibt den Prozess, sich von Gender zu verabschieden, Gender in der Wahrnehmung von sich selbst und anderen loszulassen sowie zugleich strukturelle Gewalt zu benennen (vgl. Hornscheid/Oppenländer 2019, Spoon/Coyote 2016).

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• • •

Anpassung an und Aufnahme in gesellschaftliche Normvorstellungen (Normalisierung) Individualisierung und Entpolitisierung von potenziell kollektiven und widerständigen (nicht-)gegenderten Vorstellungen. Distanzierung von (mehrfach) psychopathologisierten Positionen (Entsolidarisierung)

Um dieser Form der psychiatrischen Vereinnahmung entgegenzuwirken, fordern viele trans* Organisationen, dass juristische Anerkennung und der Zugang zu trans*spezifischer Gesundheitsversorgung auf Selbstbestimmung, statt auf (Differenzial-)Diagnostik basieren soll (vgl. GATE 2011: 7, 9; BVT 2019). Diese Forderung wurde jedoch weder in den Revisionen des DSM und ICD noch in den untersuchten Leitlinien für Praktik*erinnen berücksichtigt.

Repathologisierung: Ausweitung und Ent_Wahrnehmung Der Prozess der Repathologisierung beschreibt die Weiterführung von Pathologisierung nach und in Prozessen der Depathologisierung. Das gilt einerseits für die weiterführende Pathologisierung in juristischen und Alltagsdiskursen. Andererseits gilt es für die weiterführende diagnostische Pathologisierung von ›zurückgelassenen‹ Personengruppen oder vergessene Diagnosen, wie dies im DSM V für die weitestgehend gleichgebliebene Kleidungspathologisierung der Fall ist. Ein historisches Beispiel findet sich in der offiziellen Streichung der Diagnose Homosexualität und der damit einhergehenden Einführung trans*spezifischer Diagnosen. Bis zur Einführung einer expliziten Pathologisierung von trans* Identitäten wurden trans* Personen oftmals über die Diagnose Homosexualität pathologisiert. Vom Prozess der Depsychopathologisierung von Homosexualität waren sie jedoch ausgeschlossen. In ein hegemoniales Verständnis von Gender passten sie nur als das psychopathologisierte Andere.

Repsychopathologisierung von Homosexualität Repsychopathologisierung wirkt weit über psychiatrisch-medizinische Kontexte bis in gesamtgesellschaftliche Diskurse hinein. Die offizielle Depsychopathologisierung von Homosexualität (1973 im DSM und 1990 im ICD), bietet ein anschauliches Beispiel dafür. In veränderter Form wird die Pathologi-

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sierung von (Homo-)Sexualität bis heute auf diagnostischer, juristischer und medialer Ebene weitergeführt. Im ICD 10 (bis 2022 gültig) findet sich Homosexualität in den Diagnosen »Sexual Maturation Disorder«, »Sexual Relationship Disorder« und »Ego-dystonic Sexual Orientation«. Bis 2013 war Homosexualität auch im DSM IV gelistet, unter »Sexual Disorder not Otherwise Specified« (vgl. Tab.1). In den neuesten Auflagen der Krankheitskataloge DSM V und ICD 11 ist sexuelle Orientierung nach wie vor Teil der Diagnose »target of (perceived) discrimination« (DSM V). Die Diagnose ist ein Versuch der APA und WHO, gesellschaftliche Machtstrukturen zu berücksichtigen. Dabei stoßen sie an die Grenzen psychiatrisch-medizinischer Logiken. Innerhalb eines Krankheitskataloges, dessen Ziel es ist, individuelle Diagnostik zu ermöglichen und zu vereinheitlichen, bleibt das ›Problem‹, das es zu behandeln gilt, das diskriminierte Individuum und nicht die diskriminierenden Gesellschaftsstrukturen. Auch die Formulierung perceived discrimination (übersetzt: wahrgenommene Diskriminierung), die sich durch den gesamten Text der Diagnose zieht, ist bezeichnend für die Logik psychiatrischer Diagnosen und die ständige Beobachtung, Relativierung und (Um-)Deutung der Aussagen psychiatrisierter Personen (vgl. unter anderem Liegghio 2013: 125ff.). Und so kann diese Diagnose als Ausdehnung psychiatrischer Einflussnahme verstanden werden. Denn mit ihr weitet sich die Zuständigkeit von (per se individualisierender und pathologisierender) Diagnostik auf den eindeutig politischen und gesellschaftlichen Bereich der (Anti-)Diskriminierung aus. Daraus lässt sich der dritte Teil des Dreisatzes ableiten:

Repathologisierung = Ent_Wahrnehmung + Ausdehnung

Diese Ausdehnung bezieht sich jedoch nicht nur auf psychiatrisch-medizinische Diskurse. Die weiterführende Pathologisierung findet sich auch anhand eines aktuelles juristisches Beispiel: Am 29. Oktober 2019 – 29 Jahre nach dem offiziellen Streichen der Diagnose Homosexualität aus dem europäischen Krankheitskatalog der WHO (ICD 10) und 46 Jahre nach dem Streichen aus dem Krankheitskatalog der APA (DSM III) – veröffentlichte das deutsche Bundesministerium für Gesundheit den »Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Behandlungen zur Veränderung oder Unterdrückung der sexuellen Orientierung oder der selbstempfundenen geschlechtlichen Identität« (ebd.: 11).

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Medial wird dies auch als Gesetz zum (teilweisen) Verbot von Konversionstherapien verhandelt (vgl. unter anderem taz vom 19.12.2019). Auch wenn der Gesetzentwurf versucht die Möglichkeiten von sogenannten Konversionstherapien einzuschränken, wird (unfreiwillig) die Vorstellung reproduziert, dass sexuelle Orientierung und Genderidentifikationen außerhalb von Hetero-, Cisund zwei-gendernden Normen potenziell geändert werden können (und sollen), damit sie gesellschaftlichen Normen entsprechen. Dieser Gesetzentwurf sieht noch immer Bedingungen vor, die eine Konversionstherapie ermöglichen: Verboten werden solche ›Therapien‹ explizit für Personen unter 18 Jahren und Personen, die nicht freiwillig einwilligen. Eine Ausnahme besteht für Personen über 16 Jahren, die einwilligen und über die erforderte Einsichtsfähigkeit verfügen. Der durch diesen Gesetzesentwurf versprochene Schutz für einen sehr kleinen Teil der von Konversionstherapien betroffenen Personengruppen geht demnach einher mit einer weitreichenden und grundlegenden Legitimation dieser Maßnahmen als ›Therapien‹. Auch für Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Asyl beantragen, zeigen die Prozesse zur Feststellung von Homosexualität eine Kontinuität zu ehemaligen Diagnoserichtlinien zu Homosexualität (und trans*spezifischen Diagnosepraktiken). Um die sexuelle Orientierung zu beweisen, werden medizinische Untersuchungen, Zeug*innenaussagen und Fotos herangezogen (vgl. Jansen & Spijkerboer 2011: S. 50-58). Letzteres wurde zwar 2014 durch einen Entscheid des Europäischen Gerichtshofes eingegrenzt, bleibt aber weiterhin erlaubt. Auch in trans*spezifischen Diagnosen wird sexuelle Orientierung nach wie vor als Diagnosemerkmal weitergeführt. Dabei hält die APA daran fest, trans* Personen durchgängig über das bei Geburt zwangszugewiesene Gender zu definieren: »For both natal male and female children showing persistence, almost all are sexually attracted to individuals of their natal sex. [damit ist gemeint, dass fast alle trans* Personen heterosexuell begehren]« (DSM V: 455) Die Tendenz, sexuelle Orientierung als Teil des Diagnoseprozesses bei trans*spezifischen Diagnosen weiterzuführen, findet sich auch in den S3Leitlinien und wird dort umfangreich diskutiert. In den Standards of Care von WPATH kommt sexuelle Orientierung nicht (mehr) als Merkmal vor. Dass sexuelle Orientierung Teil der trans*spezifischen Diagnosekriterien ist – sei es als festzustellende Untergruppe (DSM III und IV), als Teil der Diagnosemerkmale (DSM V) oder als Diagnoseleitlinie (S3-Leitlinien) – hat rea-

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le Auswirkungen auf trans*spezifische Diagnosepraktiken und darüber hinaus8 . Detaillierte Fragen zu den sexuellen Vorlieben und Praktiken sowie zum Verhältnis zu den eigenen Genitalien seit der Kindheit sind regulärer Gegenstand der psychiatrischen Gespräche, die für die Erstellung von diagnostischen Gutachten durchgeführt werden. Sie sind Voraussetzung für den Zugang zu trans*spezifischer Gesundheitsversorgung und juristischer Anerkennung. Die Annahme, dass fast alle trans* Personen heterosexuell begehren,9 macht es insbesondere für bisexuelle, pansexuelle, asexuelle und schwul_lesbische trans* Personen schwierig, als trans* ernstgenommen zu werden und die Diagnose zu erhalten. Eine Bestätigung der Merkmale ist notwendig, um individuell Zugänge zu juristischer Anerkennung und medizinischer Versorgung zu erhalten. Das führt dazu, dass betroffene Personen für solche Situationen trans*normative Narrative entwickeln müssen, die den Voraussetzungen möglichst genau entsprechen.10 Dadurch werden wiederum die diagnostischen Vorannahmen bestätigt und vereinheitlichende trans* Narrative (re-)produziert. Es ist ein narrativer Bestätigungs-Kreislauf: Die Diagnosekriterien müssen erfüllt werden um gesellschaftliche Anerkennung und Zugänge zu erhalten. Also werden (strategisch vereinheitlichende) trans*normative Narrative entwickelt um diese Diagnosekriterien zu erfüllen. Dadurch werden diese Kriterien bestätigt und der Kreislauf setzt sich fort.

Kollektiv Vergessene(s) Das Beispiel von Homosexualität zeigt, dass die offizielle Depathologisierung, oder Streichung von Diagnosen (begrenzt) zu einer Normalisierung einiger Positionen führt. Gleichzeitig wird die Pathologisierung auf subtilere Weise sowohl diagnostisch, als auch juristisch und medial weitergeführt. Dies betrifft einerseits ›zurückgelassene Teile der Community‹. Bei der Depsychopathologisierung von trans* sind dies trans* Personen, die Asyl beantragen und/oder trans* Personen, die über mehrere Diagnosen psychopathologisiert werden. Die Forderungen und Lebensrealitäten dieser Personen bleiben trotz der Depsychopathologisierung gleich oder verschlechtern sich sogar. Denn 8

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Dies findet sich auch in einer, weit über Diagnosepraktiken wirkenden, voyeuristische Sexualisierung von trans* Personen und ihren Körpern. Dies wird unter anderen in diversen aktivistischen Medienguides kritisch diskutiert (vgl. TrIQ e.V. & Wild 2014: 10f). Diese Vorstellung findet sich auch noch im aktuellen DSM V. Das gilt auch für die unter dem letzten Oberkapitel erwähnten differenzialdiagnostischen Ausschlüsse.

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mit der offiziellen Depsychopathologisierung verlieren sie die gesellschaftliche Aufmerksamkeit und politische Plattformen, sobald der diskursive Mainstream die aktivistischen Forderungen und gesellschaftlichen Kämpfe als erreicht verhandelt.11 Andererseits umfasst die Repsychopathologisierung eine diagnostische Weiterführung und Ausdehnung der Pathologisierung, die auf alle trans* Personen zutrifft – und trotzdem weitestgehend Ent_Wahrgenommen wird. Diesen Prozess der weiterführenden (Re-)Psychopathologisierung beschreibt Ambrose Kirby in Bezug auf die aktuelle Depsychopathologisierung von trans*: »[W]hile our identities are being normalised, our resistance to transphobia is increasingly being separated out from our identities. Instead of being trans people who creatively survived transphobia, we are trans people with anxiety disorders, anger disorders, bipolar [disorder], schizophrenia. Our basic identities are less and less considered a ›mental illness‹, but our strategies for surviving are being taken out of context and individualised as ›mental illnesses‹.« (Kirby 2013: 163) Kirby argumentiert, dass trans* als Identität zunehmend nicht mehr Gegenstand der Pathologisierung sei. Sowohl im DSM V als auch im ICD 11 ist es vielmehr die Spannung zwischen Identifikation und Selbst-/Außenwahrnehmung, welche als pathologischer Gegenstand beschrieben ist und nicht die gegenderte Identität oder Identifikation selbst. Innerhalb psychiatrischer (oder auch weiteren medizinischen) Logiken ist jedoch nur sehr wenig Raum für die kritische Berücksichtigung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Das untersuchte Verhalten, Fühlen und Wahrnehmen wird auch weiterhin weitestgehend auf die pathologisierten Personen zurückgeführt und nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse. So wird, wie Kirby beschreibt, das Überleben in einer trans*diskriminierenden Gesellschaft zunehmend als pathologisch verstanden und als Angststörung, Wutstörung, Bipolare Störung oder Schizophrenie weiter pathologisiert. Diskriminierung wird dabei individualisiert und zum 11

Relativ breit diskutiert wurde dieses Phänomen anhand queerer Bewegungen rund um den Christopher Street Day. Diese Bewegungen begannen als intersektionaler Kampf für die Rechte und gesellschaftliche Anerkennung von LSBTIQ Personen und ging insbesondere aus von queeren Personen of Color. Viele arbeiteten als Sexarbeit*erinnen und lebten prekär (vgl. auch Vogler in diesem Band). Die darauffolgenden politischen Errungenschaften kamen jedoch vorwiegend schwul_lesbischen Cis-Personen aus der Mittelschicht zugute.

Trans*normal?

psychiatrischen Gegenstand gemacht (vgl. Oppenländer 2015: 34). Zudem geschieht durch diese Individualisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse auch eine Vereinzelung von kollektiven, politischen Anliegen. Die Repsychopathologisierung von trans* bewegt sich demnach in einer Ausdehnung psychiatrischer Zuständigkeiten und gleichzeitig in der zunehmenden nicht-Wahrnehmbarkeit als trans*spezifische Pathologisierung. Die mediale, alltagssprachliche und aktivistische Auseinandersetzung fokussiert sich vorwiegend auf die Depsychopathologisierung, die sowohl in der Kritik als auch in der Befürwortung als allgemeingültig und für alle zutreffend verhandelt wird. Dabei werden die Lebensrealitäten und Forderungen derjenigen, die auch weiterhin psychopathologisiert werden, diskursiv ausgeschlossen.

Forschungsergebnis: Der Dreisatz von De-, Re- und Psychopathologisierung In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass über Diagnosen und deren Reformen, das Andere, die Norm und das Unvorstellbare hergestellt werden. Das pathologisch Andere ist Gegenstand der Diagnosen. Die Norm wird darüber bestätigt und bleibt weitestgehend entnannt. Darüber hinaus legt die Binarität die Grenzen und den Rahmen des Vorstellbaren und Wahrnehmbaren fest. Als ein Beispiel hierfür wurden die trans*spezifischen Diagnosen seit 1975 (ICD) und 1980 (DSM) diskutiert, welche vorerst von der Identifikation mit dem Gegengeschlecht sprachen. Über die Aufnahme in die Krankenkataloge, wurde diese gegenderte Identifikation erstmals explizit medizinisch anerkannt. Sie erhielt innerhalb dieses weit über Medizin wirkmächtigen Diskurses eine Existenz. Gleichzeitig wurde sie damit als pathologisch, als ›krank‹ und somit als ›das Andere‹ hergestellt. Nicht benannt und doch omnipräsent ist in dieser Diagnose, die Gendernorm, dass a) jede Person ein(es von zwei) Gender(n) hat und sich mit diesem identifiziert, b) dass die gegenderte Identifikation identisch ist mit dem bei Geburt zwangszugewiesenen Gender, c) dass die Identifikation im Laufe des Lebens konstant und unverändert bleibt. Darin nicht-wahrnehmbar waren bis 2013 gegenderte Selbstverständnisse zwischen oder außerhalb von zwei Gendern. Bis heute sind darin nicht wahrnehmbar kollektive widerständig trans*, a-gender und ex-gendernde Verständnisse.

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Dargestellt wurden diese Herstellung des Anderen, der Norm und des Unvorstellbaren anhand eines Dreisatzes von Pathologisierung, Depathologisierung und Repathologisierung. Daran wurde deutlich, dass sowohl Prozesse der Pathologisierung als auch Depathologisierung gleichzeitig ermächtigende als auch unterdrückende Kräfte freisetzen. So verbinden Prozesse der Pathologisierung eine diskursive/medizinische Intelligibilisierung mit VerAnderung: Menschen und ihre Seinsweisen werden durch (Psycho-)Pathologisierung in einem medizinischen Diskurs in Existenz gerufen. Dies geschieht jedoch nach medizinisch-psychiatrischen Parametern und geht einher mit deren Definition als pathologisch/›krank‹ und das Andere. Dies führt zu einer Ambivalenz, die sich im Alltag auch in der (medizinischen) Versorgung abzeichnet: So ist der Zugang zu trans*spezifischer Gesundheitsversorgung und juristischer Anerkennung weitestgehend an Diagnosen (und somit Pathologisierung) geknüpft. Prozesse der Depathologisierung, als zweiter Teil des Dreisatzes, sind geknüpft an Normalisierung und Abgrenzung. Forderungen, welche die depathologisierende Normalisierung einzelner Personen(-gruppen) fordern gehen einher mit der Abgrenzung von weiteren (psycho-)pathologisierten Positionen und Kämpfen. Dies galt sowohl für die Abgrenzung (cis-)schwul_lesbischer Bewegungen von trans* Bewegungen während der De(psycho-)Pathologisierung von ›Homosexualität‹, als auch für die aktuelle Abgrenzung vieler trans* Bewegungen von weiteren psychopathologisierten Bewegungen und Positionen. So haben diese Normalisierungsprozesse für depathologisierte Personen (oder Personengruppen) eine ermächtigende Wirkung (vgl. Boger 2019: 181ff.). Dies jedoch zum Preis der Übernahme und Bestärkung psychiatrisch-medizinischer Logiken. Denn diese setzen voraus, dass die Norm in Abgrenzung zu dem (pathologischen) Anderen hergestellt wird. Vergessen werden in diesen Prozessen die Anliegen von verRückten und beHinderten trans* Personen, als auch die Solidarisierung mit weiteren psychiatrie- und pathologisierungskritischen Bewegungen. Dritter Teil des Dreisatzes formen Re_pathologisierungsprozesse. Diese sind verbunden mit einer Ausdehnung von psychiatrischen Zuständigkeiten und Verständnissen und Ent_Wahrnehmung von repathologisierten Personen (oder Personengruppen). In diesen Prozessen sind die Möglichkeiten der (Selbst-)Ermächtigung, nur sehr marginal zu finden. Denn dieser Prozess beschreibt die weiterführende (Psycho-)Pathologisierung von Personen(gruppen) und Perspektiven, welche diskursiv weitestgehend ent_wahrgenommen wird. Dies gilt beispielsweise für die ›versteckte Psychopathologisierung‹ von

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Homosexualität in weiteren psychiatrischen Diagnosen bis heute. Es gilt für die Pathologisierung weit über medizinisch-psychiatrische Diskurse hinaus, wie dies bei Asylprozessen oder sogenannten ›Konversionstherapien‹ der Fall ist. Und es gilt für die Psychopathologisierung von Widerständen und Überlebensmechanismen innerhalb gesellschaftlicher Machtstrukturen. Daraus ergibt sich der Dreisatz von Pathologisierung, Depathologisierung und Repathologisierung, welche in unterschiedlicher Weise das Andere, die Norm und das Unvorstellbare hervorbringen.

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Disziplinierung und Spuren des Widerstandes1 Subjektivierungstheoretische Perspektiven auf Heimerziehung für Mädchen Flavia Guerrini

Im Juni 1990 fand mit der Schließung des Landeserziehungsheims für schulentlassene Mädchen St. Martin in Schwaz/Tirol eine mehr als eineinhalb Jahrhunderte währende Geschichte der Zwangserziehung von Mädchen und Frauen in Tirol ein Ende. Unter den Erziehungsheimen Westösterreichs weist St. Martin die längste durchgehende institutionelle Vorgeschichte auf: Im ehemaligen Klostergebäude wurde 1826 ein Zwangsarbeitshaus mit 140 Plätzen für »Zwänglinge« (Statut der Zwangsarbeitsanstalt für Weiber in St. Martin bei Schwaz in Tirol, 1889: §1) beiderlei Geschlechts eröffnet. Ab 1855 diente es als »Zwangsarbeitsanstalt für Weiber«. Ab 1897 verfügte St. Martin über eine eigene Abteilung für Mädchen von 8 bis 18 Jahren und nach der Schließung des Zwangsarbeitshauses im Jahr 1928 wurde St. Martin als Erziehungsheim für weibliche Jugendliche mit zeitweise bis zu 110 Plätzen geführt. St. Martin ist somit ein Beispiel für einen bestimmten Typus des modernen Erziehungsheims mit dem klassischen Entwicklungsverlauf von einem Zwangsarbeitshaus über eine Korrigendinnenabteilung2 zu einer Erziehungsanstalt. Neben der Kontinuität des Standortes ist ein Fortdauern eines strafend-

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Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Kapitels des bislang unveröffentlichten Rahmentextes meiner kumulativen Dissertation (im Literaturverzeichnis als Guerrini 2018 gelistet). Auf der Grundlage des »Gesetzes betreffend die Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten« aus dem Jahr 1885 wurde in St. Martin eine Abteilung für als verwahrlost erachtete Mädchen von 8 bis 18 Jahren eingerichtet. Die Bezeichnung Korrigendin bezieht sich auf die damalige Vorstellung, dass die untergebrachten Kinder und Jugendlichen durch den Aufenthalt in der Anstalt korrigiert bzw. gebessert werden sollten.

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moralisierenden und disziplinierenden Zugriffs zum Zwecke der »Verhäuslichung« und »Versittlichung« der Insassinnen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten (vgl. Ralser et al. 2017: 695ff.). Die Geschichten dieses und der anderen Landeserziehungsheime in der Wohlfahrtsregion Tirol und Vorarlberg3 wurden im Nachgang der öffentlichen Thematisierung vielfältiger Gewalterfahrungen in Internaten und stationären Einrichtungen der Jugendhilfe ab dem Jahr 2010 wissenschaftlich untersucht (vgl. Forschungszusammenhang Regime der Fürsorge. Geschichte der Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg [1945-1990]; exemplarisch für Österreich: Sieder/Smioski 2012, Bauer/Hoffmann/Kubek 2013, Ralser/Bechter/Guerrini 2014, Ralser et al. 2017 etc.; international: Kuhlmann 2008, Henkelmann et al. 2011, Frings/Kaminsky 2012, Sköld/Swain 2015, Hauss/Gabriel/Lengwieler 2018 etc.). Vorsichtige Schätzungen gehen von rund 2.300 Mädchen und jungen Frauen aus, die im Zeitraum von 1945 bis 1990 von einer Unterbringungsmaßnahme in St. Martin betroffen waren. Mit insgesamt elf von ihnen wurden im Rahmen der Forschungsprojekte biografisch-narrative Interviews geführt (zu Methode und Sampling vgl. Ralser et al. 2017: 62ff.). Die Frauen erzählten von ihren Erfahrungen im Heim: von der umfassenden Anhaltung zur Arbeit bei gleichzeitiger Verweigerung von Ausbildungen, von der physischen Abgeschlossenheit der Anstalt und von den (teils riskanten) Fluchten, den rigiden Regulierungen des Alltags und den Versuchen, diese zu unterlaufen, von unterschiedlichen Formen von Gewalt und von Strafen, die bis zur mehrtägigen Isolierung im sogenannten Karzer reichten. Erziehungsheime sind – das wird in der Analyse dieser Erzählungen deutlich – herausragende Beispiele jener Disziplinarinstitutionen, die ihre Insass_innen in Beschlag nehmen, sie disziplinieren, Ordnungen und Normen unterwerfen und produktiv machen. Mit Michel Foucault kann von einer »Mikrophysik der Macht« (2014 [1975]: 34ff.) gesprochen werden, die nicht lediglich straft oder unterdrückt, sondern produktive Effekte hat, indem sie Subjekte hervorbringt. Im vorliegenden Beitrag wird eine subjektivierungstheoretische Perspektive auf die Heimerziehung für Mädchen vorgeschlagen. Dabei wird davon

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Das sind: Die Landeserziehungsanstalt für schulpflichtige Buben am Jagdberg in Schlins (Vorarlberg), die Erziehungsanstalt für schulpflichtige Mädchen in KramsachMariatal und das Landeserziehungsheim für schulentlassene Buben in Kleinvolderberg (beide in Tirol).

Disziplinierung und Spuren des Widerstandes

ausgegangen, dass die Subjektbildung als Prozess der Subjektivierung gefasst werden kann, der durch feldspezifische Diskurse (unter anderem über Verwahrlosung und mangelnde Erziehung), institutionelle Arrangements und etablierte soziale Praktiken vorstrukturiert – nicht jedoch vollends bedingt – ist. In einem ersten Schritt wird nun im Anschluss an die Theoriebildung von Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler die Forschungsperspektive der Subjektbildung und Subjektivierung skizziert. Zweitens werden Überlegungen zur Subjektivierung im System der Jugendfürsorge angestellt. Darauf folgen zwei ausführliche empirische Analysen von Erfahrungen der Disziplinierung sowie von Formen des Widerspruchs und des Widerstandes dagegen: Anhand einiger Passagen aus einem biografisch-narrativen Interview mit einer Zeitzeugin einerseits, und den in einer Fotoserie dokumentierten Graffitis und Inschriften auf den Karzerwänden von St. Martin andererseits soll verdeutlicht werden, inwiefern die Erfahrungen und Erlebnisse in Erziehungsheimen für Mädchen als subjektivierendes Geschehen lesbar sind. In einem knappen Fazit wird schließlich das Potenzial einer subjektivierungstheoretischen Perspektive in historischen Forschungen zur Erziehung in stationären Einrichtungen herausgestellt.

Subjektivierung als Forschungsperspektive Die Dezentrierung des Subjekts durch die radikale Infragestellung der an Autonomie und Freiheit orientierten humanistischen Subjektvorstellungen – vor allem im Rahmen poststrukturalistischer Theorien, die zunächst als ein Verschwinden des Subjekts betrachtet und kritisiert wurde – erwies sich als eine Radikalisierung der Frage nach dem Subjekt: »Es geht gerade nicht mehr um das souveräne Subjekt, das sich selbst als Bewusstsein und allem anderen als Bedingung der Möglichkeit einer jeden Erfahrung zu Grunde liegt, das klassische ›sub-iectum‹ der Moderne; vielmehr zeigt sich in der ›Wi(e)derkehr‹ des Subjekts eine zunehmend (in sich) gebrochene, vielfach bedingte und in sprachliche und leibliche, kulturelle und gesellschaftliche Kontexte eingebundene Subjektivität.« (Gelhard/Alkemeyer/Ricken 2013: 10) Mit der Annahme, dass Subjekte nicht einfach sind, sondern erst zu solchen werden (müssen), ging eine Verschiebung der Frageperspektive einher: Subjekttheorien der vergangenen Jahrzehnte befassen sich mit Prozessen der

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Subjektivierung oder Subjektbildung, also mit den gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, unter denen die Individuen zu gesellschaftlich anerkannten und handlungsfähigen Subjekten werden. Damit wurde das zunächst der Philosophie entstammende Forschungsfeld für andere wissenschaftliche Disziplinen (neu) eröffnet: Seit den 2000er Jahren ist unter anderem in den Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaften eine Konjunktur von Forschungsvorhaben zu verzeichnen, die sich mit Fragen der Subjektbildung und der Subjektivierung befassen (vgl. etwa Alkemeyer/Budde/Freist 2013: 9f., Wiede 2014: 9, Ricken 2013: 30f.).4 Um der Frage nach der Hervorbringung von Subjekten im Feld der Jugendfürsorge, hier konkret der Heimerziehung, nachzugehen, beziehe ich mich in diesem Beitrag vor allem auf die Theoriebildung von Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler sowie auf daran anknüpfende Studien und Theoriebildungen. Im Folgenden sollen einige der relevanten Grundannahmen skizziert werden. Drei zentrale Thesen, auf denen spätere Überlegungen zur Subjektivierung und Subjektbildung aufbauen, entstammen Louis Althussers im Jahr 1968 publizierten Ideologietheorie, die dem späten Strukturalismus zugerechnet wird (vgl. Saar 2013: 18). So geht Althusser (2010) davon aus, dass Subjekte geworden beziehungsweise gemacht sind, also in bestimmten Prozessen und Prozeduren hervorgebracht werden. Seine Theorie der Subjektivierung mittels Anrufung verdeutlicht, dass Prozesse der Subjektivierung von einer radikalen Asymmetrie durchzogen sind und durch Macht strukturiert werden: Subjekte sind (von) der Macht unterworfen. Angelegt ist jedoch auch die Idee der doppelten Verfasstheit des Subjekts als unterworfen und frei zugleich. Damit ist einerseits ein zentraler Effekt von Ideologie angesprochen, der bewirkt, dass sich Subjekte als frei verstehen können, 4

Diese Konjunktur zeigt sich in einem Anstieg der Publikationstätigkeit (für grundlegende Auseinandersetzungen siehe beispielhaft Reckwitz 2006, Bröckling 2007; zur Einführung in Subjekttheorien vgl. Reckwitz 2008; für themenspezifische Sammelbände vgl. Gelhard/Alkemeyer/Ricken 2013, Mecheril 2014, Alkemeyer/Budde/Freist 2013, Alkemeyer/Bröckling/Peter 2018, Ricken/Casale/Thompson 2019, Geimer/Amling/Bosančić 2019; zu methodischen Fragen siehe Keller/Schneider/Viehöver 2012, Pfahl/Traue 2013, Pfahl/Schürmann/Traue 2015), in der Ausrichtung von Tagungen und Forschungsworkshops, der Einrichtung des DFG-Graduiertenkollegs Selbst-Bildungen: Praktiken der Subjektivierung in interdisziplinärer und historischer Perspektive an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und zuletzt der Gründung des Netzwerks Empirische Subjektivierungsforschung, dessen erstes Treffen im März 2018 stattfand.

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andererseits bedeutet dies aber auch, dass Subjekte tatsächlich über (ein gewisses Maß an) Handlungsmacht verfügen (vgl. ebd.: 19). Diese Annahmen finden sich in Michel Foucaults Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem Subjekt wieder. 1982 beschrieb er als Ziel seiner Arbeiten der vergangenen 20 Jahre, »eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden« (Foucault 1996 [1982]: 14). Ähnlich wie Althusser konzipiert Foucault das Subjekt also ebenfalls als gleichzeitig unterworfen und selbstbestimmt beziehungsweise handlungsmächtig: »Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.« (Foucault 1982: 275) Bezogen auf die Subjektbildung geht Foucault von drei relevanten Prozessen der Formierung aus: Konkrete Subjekte entstehen beziehungsweise bilden sich stets in historisch spezifischen Ordnungen der Macht, des Wissens und der Selbstführung (vgl. Saar 2013: 22). Dabei vertritt er ein produktives Verständnis von Macht, deren Haupteffekt darin liegt, Wirklichkeit(en) zu erzeugen. Das Hauptinteresse der Machtanalysen von Foucault gilt der Hervorbringung von Subjekten (vgl. Foucault 1996 [1982]). So auch beim Konzept der Disziplinarmacht: Auch sie wirkt nicht (lediglich) repressiv, sondern ist als Technologie zu verstehen, die »ihr menschliches Material einer bestimmten ›physischen‹ Behandlung [unterzieht]« (Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2011: 211), um bestimmte Subjekte hervorzubringen. Welche Gestalt Subjekte zu spezifischen historischen Zeitpunkten in den konkreten gesellschaftlich-kulturellen Kontexten annehmen können, bestimmen die jeweils dominanten Wissensordnungen. Es sind Diskurse, die Subjektpositionen definieren und hervorbringen und damit Räume möglicher (und unmöglicher) Selbst-Positionierungen erzeugen. Die subjektivierende beziehungsweise subjektbildende Wirkung von Diskursen zeigt sich auch in der Formation ihrer Gegenstände (vgl. Pfahl 2011: 51f.), also der Hervorbringung etwa von Klassifikationen (beispielsweise jene der Verwahrlosung und der mangelnden Erziehung), von gesetzlichen Regelungen, die bestimmte Verfahrensweisen mit klassifizierten Individuen vorsehen, und von den dafür nötigen Berufsgruppen, Ausbildungsgängen und Einrichtungen (beispielsweise Fürsorgeerziehungsheime).

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Schließlich ist nach Foucault der Prozess der Subjektbildung durch eine zweifache Wirkungsrichtung gekennzeichnet: Subjekte werden gleichzeitig konstruiert beziehungsweise hervorgebracht und konstruieren beziehungsweise bilden sich selbst. Dies verdeutlicht Foucault mit dem Konzept der Selbstführung. Dabei handelt es sich um eine Regierungstechnologie, eine »Form der Menschenführung, die sich der Prozesse bedient, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt und sie in Machttechniken und -technologien integriert« (Bublitz 2014: 85). Teil davon sind die sogenannten Technologien des Selbst, also jene Praktiken, mittels derer Subjekte sich selbst zum Gegenstand der Selbstformung und -formierung machen (vgl. Foucault 1988). Judith Butler hat in ihrer Theoriebildung wichtige Erkenntnisse sowohl von Althusser als auch von Foucault aufgegriffen und weiterentwickelt – etwa in ihrer Auseinandersetzung mit der Konstitution geschlechtlicher beziehungsweise vergeschlechtlichter Subjekte. Auch sie geht davon aus, dass der Diskurs gleichzeitig »privilegierter Ort« (Villa 2003: 18) und Modus der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist. Zur Verdeutlichung des Vorgangs der diskursiven Hervorbringung der Gegenstände schließt sie an John L. Austins Konzept der performativen Sprechakte an (vgl. Austin 1989). Performative Sprechakte sind jene Äußerungen, in denen das Gesagte gleichzeitig vollzogen wird – bekannte Beispiele sind Trauungen oder Taufen. Bezogen auf die Jugendfürsorge können Gerichtsbeschlüsse – etwa der Beschluss der Fürsorgeerziehung und die damit einhergehende Einweisung in ein Erziehungsheim – als performative Sprechakte gefasst werden. Butler betont, dass performative Sprechakte nicht etwa funktionieren, weil sie den Willen der Sprecher_in ausdrücken, sondern weil sie erfolgreich an gesellschaftliche Normen und Konventionen anknüpfen. Es handelt sich also um eine wiederholende, zitierende Praxis (vgl. Butler 1998: 77f.). Ähnlich gilt dies für das Konzept der Anrufung. Wenngleich Butler davon ausgeht, dass der Moment der Anerkennung einer Anrufung durch die Individuen einen Akt der Konstitution darstellt und die Anrede gleichsam das Subjekt ins Leben ruft (vgl. ebd.: 43), so geschehen Prozesse der Subjektivierung nicht in einem einmaligen Akt der Anrufung, sondern in ihrer beständigen Wiederholung. Infolge kommt sie zu der radikalen Einsicht, auch vermeintlich natürliche, der Kultur wie Gesellschaft scheinbar vorgängige Eigenschaften wie das Geschlecht im Modus des permanenten Werdens zu denken. Aus dieser Perspektive könnten Überlegungen angestellt werden, wie die Bedeutung der Jugendfürsorge mit ihren geschlechtsspezifischen (und ge-

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schlechterkonstituierenden) Klassifikationen und der Erziehungsheime samt ihrer geschlechtlich vorstrukturierten und in ihren Wirkungen vergeschlechtlichenden sozialen Praktiken an der Hervorbringung von vergeschlechtlichten Subjekten beschrieben werden kann (vgl. Bischoff/Guerrini/Jost 2014). Für die Frage nach Prozessen der Subjektivierung und der Subjektbildung folgen daraus zwei Annahmen: Erstens vollzieht sich Subjektivierung sowohl im Medium der Sprache als auch des Körpers. Beim Beispiel der Hervorbringung vergeschlechtlichter Subjekte bleibend, kann mit Butler davon ausgegangen werden, dass durch die Wiederholung von geschlechtlichen Idealen und Konventionen Prozesse der Materialisierung des Geschlechts oder auch des vergeschlechtlichten Körpers angestoßen werden. Diskurs und Körper sind unauflöslich miteinander verwoben (vgl. Butler 1995: 33). »Subjektivierung als Prozess zeitigt also Effekte auf beiden Ebenen; Diskursivierung und Verkörperung des Subjektiven sind die zwei verknüpften Register, in denen das Subjekt als bestimmtes, benennbares und identifizierbares auftaucht.« (Saar 2013: 24) Zweitens wohnt nach Butler Prozessen der Subjektivierung stets ein Moment des Scheiterns inne. Die Wiederholungen kultureller Normen, mittels derer Subjekte hervorgebracht werden, sind weder idente Kopien einer kulturellen Norm, noch kann ein Original gleichsam als Ursprung ausgemacht werden – daher rührt, bezogen auf die Performativität etwa von Geschlecht, die Denkfigur der Kopie einer Kopie einer Kopie. Zudem ist die Praxis des Zitierens eine unsichere Angelegenheit, die potenziell scheitern kann: Stets besteht eine »riskante Kluft« (Villa 2008: 149) zwischen Gesagtem und der Tat: »Dass der Akt der Subjektivierung in dieser Perspektive kein glattes, restfreies Funktionieren, sondern immer auch ein überschüssiges, transformatives Geschehen ist, ist die Voraussetzung für Widerständigkeit, NichtFunktionieren oder, mit einem Ausdruck Foucaults, ›Gegen-Verhalten‹.« (Saar 2013: 25) Um der Frage der Hervorbringung von Subjekten im System der Jugendfürsorge in der Arbeit an empirischem Material nachzugehen, könnte etwa an folgende Fragen angeschlossen werden: Welche Selbstpositionierungen finden sich in den biografischen Narrationen und welche Umgangsformen mit der Adressierung als Fürsorgeerziehungszögling lassen sich rekonstruieren? Auf welche Weise werden Jugendliche in die Position von Fürsorgeerziehungszöglingen gebracht und welche Folgen hat die Übernahme dieser Subjektpositi-

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on, insbesondere hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeit? Welche Spuren von Widerspruch, von widerständigen Praktiken, von Eigensinn und Gegen-Verhalten finden sich in den unterschiedlichen mündlichen, schriftlichen und bildlichen Quellen?

Das Feld der Jugendfürsorge Ich gehe davon aus, dass unterschiedliche Formen des Kontakts mit dem Fürsorgeerziehungssystem Einfluss auf Prozesse der Subjektivierung und Subjektbildung haben. Am deutlichsten wird dies im Falle der Einweisung von Kindern oder Jugendlichen in ein Erziehungsheim. Jedoch auch andere, gelindere Formen der Intervention in Familien und Biografien entfalten eine Wirkung auf die Subjekte – etwa wenn ledige Frauen durch die rechtliche Regelung der (Amts-)Vormundschaft für unehelich geborene Kinder (JWG 1954 §16-20) und die sich daran anschließenden Praktiken der Jugendamtmitarbeiter_innen als potenziell ungeeignete Mütter konstruiert und als solche adressiert werden (vgl. Bechter/Guerrini/Ralser 2013). Ich schlage daher vor, das System der Jugendfürsorge im Anschluss an Foucault als Dispositiv zu denken, also als »heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst« (Foucault 1978: 119f.). Es ist eine »Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin [besteht], auf einen Notstand (urgence) zu reagieren«, somit erfüllt es vor allem eine »vorwiegend strategische Funktion« (ebd.: 120).

Jugendfürsorge als Dispositiv Der Auf- und Ausbau der Jugendfürsorge im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist als Unternehmung des Staates zu verstehen, die Ordnung der Erziehung und der Gesellschaft wiederherzustellen (vgl. Ralser/Bechter/Guerrini 2014: 15). Um das Zusammenwirken der unterschiedlichen Institutionen und Organisationen (zentral sind die Jugendämter, die Erziehungsheime und die Kinderpsychiatrien, flankiert unter anderem von der Schule und der Behinder-

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tenhilfe), aber auch der Diskurse und Wissensordnungen, der architektonischen Gegebenheiten (insbesondere der Heime), der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Regelwerke usw. zu beschreiben, wurde der Begriff des Fürsorgeerziehungsregimes eingeführt: »Der Regimebegriff scheint uns in seiner Bedeutung des strategischen Zusammenwirkens von Regeln, Apparaten, Praktiken und Diskursen geeignet, das […] Geflecht von Machtstrukturen [in diesem Feld] zu kennzeichnen. Machtstrukturen werden unter der hier vorgeschlagenen Perspektive nicht linear oder als ›monolithischer Block‹ gedacht, der von einer Stelle aus regiert, sondern als eine Konfiguration von Kräfteverhältnissen im Sinne einer ›Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Apparate, Institutionen, Politiken‹ (Riegraf 1999: 39), die letztlich in ihrer Gesamtwirkung – durch die ›Orchestrierung‹ der Machtverhältnisse – maßgeblich daran beteiligt waren, die Erziehungsanstalten als totale Institutionen zu institutionalisieren, als solche sie sich zumindest in den ersten Nachkriegsjahrzehnten alle darstellten.« (Ralser/Bechter/Guerrini 2014:19) Diese Perspektive soll die machtvolle Bedeutung von Institutionen betonen und deren Wirkung auf die Subjekte analysierbar machen. In Bezug auf das als Dispositiv verstandene System der Jugendfürsorge kann eine Verknüpfung macht- und wissenssoziologischer Perspektiven produktiv sein, demzufolge von einem dialektischen Zusammenhang zwischen »institutionenspezifischem Wissen und den Praktiken, die dieses Wissen hervorbringen, rezipieren und transformieren« (Pfahl 2011: 43) ausgegangen wird. Im System der Jugendfürsorge sind es die Jugendämter und die Erziehungsheime, an deren Beispiel das Zusammenwirken von feldspezifischen Wissensbeständen (und deren Prozessierung im Rahmen der konkreten Fallarbeit) und institutionalisierten sozialen Praktiken hinsichtlich ihrer Funktion in der Hervorbringung von Subjekten deutlich wird. Jugendämter stellen als eine zentrale Einrichtung im Fürsorgeerziehungsregime jenen Ort dar, an dem Diskurse über Verwahrlosung und Erziehung die Grundlage des professionellen Handelns bilden. Anhand der Analysen von historischen Fallakten aus Tiroler Bezirksjugendämtern wird es möglich, relevante Wissensbestände im Feld zu rekonstruieren und herauszuarbeiten, mittels welcher Konzepte und Deutungsmuster Verwahrlosungserscheinungen festgestellt und Erziehungsbedarfe bescheinigt wurden (vgl. Bechter/Guerrini/Ralser 2013, Bischoff/Guerrini/Jost 2014, Guerrini 2016). So wurden aufgrund von Kategorisierungs- und Klassifizierungsvorgängen durch die

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Jugendämter Kinder und Jugendliche bestimmten anderen Einrichtungen – etwa Erziehungsheimen, Pflegefamilien oder psychiatrischen Einrichtungen – übergeben, die mit ihnen gemäß der ihnen zugewiesenen Aufgabe verfuhren. Es sind also die Jugendämter, die wesentlich an der diskursiven Hervorbringung von verwahrlosten oder erziehungsbedürftigen Kindern oder Jugendlichen beteiligt sind und sie damit in bestimmte Positionen – etwa eines Fürsorgeerziehungszöglings – versetzen.

Institutionelle Praktiken In den Erziehungsheimen waren die Kinder und Jugendlichen bestimmten institutionellen Praktiken ausgesetzt. Im Landeserziehungsheim St. Martin zählten dazu unter anderem ein stark reglementierter Tagesablauf, ein durch Regierungsvorgänge der Öffnung und Schließung strukturiertes räumliches Regime (vgl. Ralser/Guerrini//Leitner 2019), ein abgestuftes System von Sanktionen und Strafen und als Erziehungsmittel aufgefasste Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse (vgl. Ralser 2017 et al.: 837ff.). Insbesondere an den Arbeitsund Ausbildungsverhältnissen wird deutlich, dass die subjektivierende Wirkung der Heimerziehung für Mädchen und junge Frauen besonders prekäre Folgen nach sich zog, da die Heimerziehung für weibliche Jugendliche stark an bürgerlichen Weiblichkeitsvorstellungen und der Verhäuslichung und Versittlichung der Mädchen orientiert war.5 Eine Überschreitung der Klassengrenzen war keinesfalls vorgesehen, aber auch die ökonomische Selbsterhaltungsfähigkeit innerhalb der unteren Gesellschaftsschichten wurde den jungen Frauen häufig nicht ermöglicht. Eine Fortführung der vor oder durch eine Heimeinweisung unterbrochenen oder abgebrochenen Lehrverhältnisse wurden bis Ende der 1970er Jahre nicht ermöglicht. Auch die im Rahmen der Heimunterbringung angestrebte Qualifizierung beziehungsweise Anlernung fand lange Zeit nur in Tätigkeitsfeldern 5

Bis in die 1960er und teils in die 1970er Jahre leisteten die Jugendlichen mit ihrer Arbeit einen erheblichen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Heimbetriebes: Neben der Arbeit in der Wäscherei und Näherei, die auch externe Aufträge annahmen, waren sie in der Küche, im Garten wie in der angeschlossenen Landwirtschaft tätig und für die Reinigung des großen Gebäudes zuständig. Auch im Rahmen des sogenannten Außendienstes, das heißt der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses außerhalb des Heimes im Sinne einer »Bewährungsprobe« während der letzten Monate vor der Entlassung, wurden die Mädchen lange Zeit überwiegend als Hausgehilfinnen in bürgerliche Haushalte vermittelt (vgl. Ralser 2017 et al.: 837ff.).

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statt, die besonders niedrig bezahlt waren, häufig durch schlechte Arbeitsbedingungen gekennzeichnet waren und in denen der Bedarf an Arbeitskräften durch die Technisierung in den Privathaushalten wie in der Landwirtschaft in den 1950ern bis 1970ern stark sank. Letztlich erwies sich die Arbeitserziehung in St. Martin überwiegend als Versuch der Arbeitsgewöhnung und der Erzeugung einer Arbeitshaltung, die durch die Ausbildung fordistischer Tugenden wie Fleiß, Durchhaltevermögen, Disziplin, Unterordnung etc. erreicht werden sollte (vgl. Ralser 2017 et al.: 837 ff). Prozesse der Subjektbildung im System der Jugendfürsorge gingen demnach unweigerlich mit der Zuweisung sozialer Positionierungen einher – unter anderem durch die Vorbereitung auf die Einnahme beruflicher Positionen, die deutlich den untersten Segmenten des hierarchisch strukturierten Arbeitsmarktes zugeordnet sind. »Die diskursgeleiteten institutionellen Praktiken […] formen die an diesen Praktiken beteiligten Subjekte, und zwar gemäß sozial und ökonomisch ungleich verteilter Rollen und Subjektpositionen. Damit entfalten Diskurse subjektivierende Wirkungen, die sich anhand der Kräfteverhältnisse innerhalb der Institutionen und anhand der Wissensordnung der Institution analysieren, aber auch anhand der subjektiven Selbstbeschreibungen der beteiligten Personen rekonstruieren lassen.« (Pfahl 2011, 40) In den Interviews nehmen die Zeitzeuginnen vielfach darauf Bezug, etwa wenn sie berichten, dass das einzige im Rahmen der Heimunterbringung erreichbare Zertifikat – nämlich das Abschlusszeugnis der Haushaltungsschule – ihnen kaum berufliche Perspektiven eröffnete, da sie dadurch als ehemalige Heimzöglinge erkennbar waren. So erinnert sich die Zeitzeugin Sabine Gabl (Pseudonym): »Unten [in St. Martin] haben sie dann gesagt: ›Also wenn [du] hinaus kommst nachher, ist das ein Zeugnis eben für Salatküchen‹, oder was weiß ich. Nur wie ich [mich] das erste Mal mit so einem Zeugnis vorstellen gegangen bin, dann haben sie hinaufgeschaut und dann haben sie gesagt: ›Ja, Sie kommen ja von Schwaz.‹ Ja, also hat es mir im Grunde genommen gar nichts gebracht.« (Interview Gabl, 00:16) Oder wenn sie davon erzählen, dass sie aufgrund der verweigerten Ausbildung nie in den beruflichen Feldern arbeiten konnten, die ihnen gefallen hätten, sondern stets jene Tätigkeiten ausführen mussten, die gerade am Ar-

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beitsmarkt gefragt waren. Viktoria Baumgartner (Pseudonym) schildert dies folgendermaßen: »Dadurch dass ich keine Ausbildung habe, [habe ich] nie das tun dürfen, was einem Spaß macht, was man kann, sondern immer das tun müssen, was am Arbeitsmarkt gerade gefordert wird. […] Ich habe sogar den LKW- [und] den Busführerschein gemacht. Aber das ist halt ein harter Job. […] Ich bin eine Zeit lang […] sogar ferngefahren. Dann habe ich den Taxi-Schein gemacht, bin Taxi gefahren, ist auch ein harter Job. […] Alles Hilfsjobs, alles ohne Ausbildung.« (Interview Baumgartner, 00:08)

Prozesse der Subjektbildung. Empirische Annäherungen In den nun folgenden Abschnitten soll an zwei Beispielen gezeigt werden, wie die Analyse von Prozessen der Subjektivierung und Subjektbildung in der Arbeit mit unterschiedlichen Quellen fruchtbar gemacht werden kann. Zuerst werden die im Heim zur Anwendung gebrachten disziplinierenden Maßnahmen und ihre lebensgeschichtlichen Auswirkungen in den Blick genommen und danach Praktiken des Widersprechens. An diesen Beispielen möchte ich zeigen, wie Vorgänge im Feld der historischen Jugendfürsorge unter dieser theoretischen Perspektive gefasst werden können.

Disziplinierung und ihre Effekte. Selbstpositionierungen im biografischen Interview Die Analyse biografisch-narrativer Interviews mit ehemals in Erziehungsheimen untergebrachten Frauen erlaubt es, die erinnerten Anrufungen und Adressierungen sowie die Selbstpositionierungen in Bezug auf die im Kontext der Jugendfürsorge zur Verfügung gestellten Subjektpositionen zu rekonstruieren. Anrufungen, die sich auf die Position der Fürsorgeerziehungszöglinge beziehen, sind daran beteiligt, den im Erziehungsheim untergebrachten Mädchen zu bedeuten, wie und als wer sie sich gesellschaftlich verorten sollen. Daran anschließend lassen sich in Anlehnung an Nadine Roses Analyse rassismusrelevanter Anrufungen (vgl. Rose 2014: 58) für die Interpretation von Interviews folgende Fragen formulieren: Wie und als wer werden die Jugendlichen im Kontext Erziehungsheim angerufen? Welcher biografische Umgang mit diesen Anrufungen und Adressierungen kann rekonstruiert werden? Und

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welche Effekte ziehen einerseits die spezifischen Anrufungen und andererseits die darauf bezogenen biografischen Verarbeitungsweisen nach sich? Die disziplinierende Macht, insbesondere der geschlossen geführten Erziehungsheime, wie es St. Martin bis zum Beginn der 1980er Jahre war, ihre (Aus-)Wirkungen sowie deren lebensgeschichtliche Verarbeitung werden im Interview mit Viktoria Baumgartner (Pseudonym) besonders deutlich. Als 16jährige Jugendliche wurde sie nach dem Tod ihrer primären Bezugsperson in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in das Erziehungsheim St. Martin eingewiesen. Aus dem zunächst angekündigten Zeitraum von einer Woche bis zu einem zugesagten Ausbildungsbeginn wurden schließlich zweieinhalb Jahre. Viktoria Baumgartner charakterisiert diese gleich zu Beginn des Interviews als »Hölle«: »Es war die absolut […] schlimmste Zeit in meinem Leben, es wird nichts Schlimmeres geben. Also alles was danach kommt, ist nimmer vergleichbar.« (Interview Baumgartner 00:04) Zwei Aspekte der Heimunterbringung bezeichnet sie als besonders »schlimm« und nachhaltig beeinträchtigend für ihr weiteres Leben: Zum einen wurde ihr eine höhere Schulbildung (und auch jedwede berufliche Ausbildung) verwehrt, obwohl sie nach einer (berufs-)psychologischen Testung eine diesbezügliche Empfehlung erhalten hatte. Zum anderen musste sie die Erfahrung einer dreitägigen Isolierstrafe machen. Sie erzählt, dass sie »aus Verzweiflung« einen Fluchtversuch unternommen hatte, allerdings rasch »erwischt« und zur Strafe drei Tage im Karzer eingesperrt worden war: »Das Schlimmste war, den ganzen Tag nichts zu tun, ich bin im Kreis gelaufen und habe die Sekunden gezählt. Wie ich danach rausgekommen bin, war ich psychisch gebrochen. Ich war fertig, ich hätte alles getan, damit ich ja da nicht mehr reinkomme. Ich hätte alles getan. Danach war ich brav. Ja und das Schlimme an dem Ganzen: Ich habe mich schuldig gefühlt. Ich habe gemeint, ich habe es verdient. […] Es war ja nicht nur das Heim, die ganze Gesellschaft hat am gleichen Strang gezogen. Es haben ja alle so gedacht.« (Interview Baumgartner 00:10) Viktoria Baumgartner thematisiert die Isolierung im Karzer als existenziell bedrohliche Gewalterfahrung, deren erneutes Erleiden sie um jeden Preis vermeiden wollte. Dafür hätte sie, wie sie es ausdrückt, »alles« getan. Sie erzählt, dass sie fortan »brav« war, sich in die restriktive Ordnung des Heimes fügte. Doch auch das Bemühen, sich einzupassen und den an sie gerichteten

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Anforderungen zu entsprechen, bewahrt sie weder vor einer negativen Zukunftsprognose noch vor der expliziten Abwertung durch die Direktorin am Tag ihrer Entlassung. In der diesbezüglichen Interviewpassage wird deutlich, dass sich die disziplinierenden Effekte der Erziehungsmaßnahmen im Mädchenheim St. Martin bisweilen deutlich über das Ende der Unterbringung hinaus erstrecken und erhebliche Folgen nach sich ziehen konnten. Der entsprechende Abschnitt des Interviews soll nun vorgestellt und hinsichtlich der enthaltenen Adressierungen sowie der Fremd- und Selbstpositionierungen detailliert interpretiert werden. Aus einzelnen Interaktionssequenzen kann zwar nur unter Vorbehalt auf Prozesse der Subjektivierung geschlossen werden, allerdings kann die Episode vor dem Hintergrund der Erlebnisse im Heim als eine Szene verstanden werden, in der sich Normen, Ordnungsstrukturen und soziale Positionierungen in besonders zugespitzter Form zeigen. Folgendermaßen erinnert Viktoria Baumgartner ihre Entlassung aus St. Martin: »[A]ber der Abschiedsgruß von der Frau Direktor […] war für mich auch sehr markant: ›Du wirst es nie schaffen, du wirst im Dreck ersticken, du wirst dein Leben nicht schaffen.‹ Meine Reaktion, meine mentale Reaktion [war]: ›Woher willst du das wissen, das werde ich dir schon zeigen noch.‹ Aber ich war gebrochen. […] Also ein Jahr lang habe ich Angst gehabt, dass eine Erzieherin kommt und nachschaut ob ich alles ordentlich mache, […] wirklich panische Angst und ich habe mindestens zwei Jahre gebraucht, bis ich mich [nicht mehr] als der mieseste, schlechteste, gesellschaftliche Abschaum gefühlt habe.« (Interview Baumgartner 00:11) Was geschieht nun in dieser erzählten Szene? Ist diese Szene als Subjektivierungsgeschehen lesbar? In dieser Szene wird dem damals jugendlichen Ich der Erzählung eine Zukunftsprognose mit auf den Weg gegeben. Die Interviewpartnerin bezeichnet ihn als ›Abschiedsgruß‹, was zunächst positive Assoziationen wecken könnte: Ausgesprochen wird er am Übergang von der – als autoritär und gewaltvoll erfahrenen – Unterbringungsmaßnahme in eine neue Lebensphase. Die erwartbare Funktion eines Abschiedsgrußes besteht in der symbolischen Beendigung eines Zeit- und in diesem Falle Lebensabschnitts – eventuell wird er mit (guten) Wünschen für die Zukunft verbunden. Doch lässt bereits die Einleitung der Szene – »aber der Abschiedsgruß […] war für mich auch sehr markant« im Kontext des Interviews eine problematische Interaktionssituation erahnen. Tatsächlich folgt eine Adressierung durch die Heimleiterin, die die Funktion eines Abschiedsgrußes hochgradig

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verfehlt, weil eine äußerst negative Prognose für die Zukunft gestellt wird. Baumgartner beschreibt zunächst ihre – zumindest innerliche – Zurückweisung dieser Zuschreibung, aber auch, dass eine Distanzierung davon in den ersten zwei Jahren nach der Heimunterbringung nicht möglich gewesen sei. Die Adressierung im Rahmen der Entlassung entfaltet ihre Wirkung im Lichte der Erfahrungen, die das erzählte Ich in den Jahren zuvor im Erziehungsheim gemacht hat. Subjektivierungstheoretisch gesprochen wurde den Jugendlichen im Rahmen der Unterbringungsmaßnahme vermittelt, wie und als wer sie sich selbst zu verstehen und gesellschaftlich zu verorten haben – zum Beispiel durch auf die Position von Fürsorgezöglingen bezogene Adressierungen. Unter dieser Perspektive möchte ich die erzählte Interaktionssequenz daraufhin befragen, welche sozialen Positionierungen rekonstruierbar sind: Erstens ist die Asymmetrie dessen auffällig, wer sprechen darf oder kann und wer nicht. Die Direktorin nimmt in der Episode die Position einer legitimen Sprecherin ein, das erzählte Ich hingegen ist nicht in der Lage, die gedachte Erwiderung auf die Adressierung auch auszusprechen. Noch im Augenblick der Entlassung, also in dem Moment, in dem der direkte Einfluss des erzieherischen Personals und der Heimleitung endet, wird die stark hierarchisch strukturierte Ordnung des Heimes sowie die hohe Abhängigkeit der Jugendlichen von der Einschätzung, Entscheidung und bisweilen Willkür des Erziehungspersonals sichtbar. Zweitens soll die Adressierung selbst betrachtet werden: »Du wirst es nie schaffen […].« Dieser erste Satzteil ist inhaltlich unbestimmt. Die Direktorin prophezeit der Protagonistin, sie werde etwas nicht schaffen, wobei noch nicht benannt wird, um was es sich dabei handelt. Gleichzeitig reicht die Prognose weit in die Zukunft hinein, indem die Direktorin in Aussicht stellt, dass die Protagonistin es nie schaffen wird. Im zweiten Satzteil folgt eine Konkretisierung: »Du wirst es nie schaffen, du wirst im Dreck ersticken.« Wörtlich verstanden kann das bedeuten, dass es der jungen Frau nicht gelingen werde, ein sauberes, ordentliches Heim zu haben. Metaphorisch kann es sich darauf beziehen, nicht in der Lage zu sein, ein ›ordentliches‹ Leben im Sinne bürgerlicher Geschlechter- und Familienvorstellungen zu führen, möglicherweise aber auch darauf, in einem als ›schlecht‹ erachteten Milieu oder gar auf der Straße zu leben. Eventuell spielt die Direktorin an dieser Stelle auch auf die persönliche Situation der 18-jährigen Viktoria Baumgartner an: Zum Zeitpunkt der Entlassung befindet sie sich in einer Beziehung mit einem jungen Mann und erwartet ein Kind.

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Mit dem dritten Teil der Äußerung nimmt die Direktorin schließlich eine Verabsolutierung vor: »Du wirst es nie schaffen, du wirst im Dreck ersticken, du wirst dein Leben nicht schaffen.« An dieser Stelle wird die klassen- und geschlechterspezifische Fremdpositionierung des erzählten Ichs durch die Figur der Direktorin deutlich, zählen doch zu den zentralen Erziehungszielen des Heims St. Martin die Verhäuslichung und Versittlichung der jungen Frauen. Das Verfehlen bürgerlicher Weiblichkeits- und Familienideale wird hier mit einem generellen Scheitern bezogen auf eine ›gute‹ Lebensführung gleichgesetzt. Schließlich erzählt Baumgartner von ihrer – wenn auch nicht ausgesprochenen – Erwiderung: »Woher willst Du das wissen, das werde ich dir schon zeigen noch.« Damit unternimmt sie den Versuch, sich von der ihr zugewiesenen, abgewerteten sozialen Position zu distanzieren. Sie macht damit deutlich, dass Prognosen nicht unbedingt eintreten müssen und spricht der Heimleiterin die Position einer legitimen Auskunftsperson über ihre Zukunft ab. Stattdessen reklamiert sie für sich selbst ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit. Wie jedoch im Fortgang der Erzählung geschildert wird, misslingt dieser Versuch der Distanzierung zunächst: Noch lange nach Ende des Heimaufenthaltes hat Viktoria Baumgartner Angst, dass jemand kontrolliert, ob sie »alles ordentlich macht«. Erst nach zwei Jahren fühlt sie sich nicht mehr als »gesellschaftlicher Abschaum«. Der »Abschiedsgruß« der Direktorin entpuppt sich also als alles andere als ein Abschied im Sinne einer Beendigung einer Lebensphase und eines Übergangs in eine andere: Mit dieser Adressierung kommt es zu einer Verlängerung der Wirkung der Unterbringungsmaßnahme über dessen Ende hinaus und zur Festschreibung der abgewerteten, sozialen Position als Fürsorgezögling: Die Interviewpartnerin beschreibt eindrücklich, wie sie den degradierenden Blick des Heimpersonals auf als verwahrlost erachtete Jugendliche verinnerlicht. Sie übernimmt die Fremdpositionierung, die ihr im Erziehungsheim sowohl durch soziale Praktiken (etwa die Strafisolierung), aber auch durch verbale Adressierungen vermittelt wurden – mit Foucault (1988) könnte dies als Praktik der Selbstformierung gedeutet werden.

Praktiken des Widersprechens: Die Karzerinschriften in St. Martin Wie oben ausgeführt war im Erziehungsheim St. Martin die Strafisolierung im Karzer das schärfste der zu Verfügung stehenden Disziplinarmittel. Der

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Karzerraum wurde als Mittel der Erziehung und Disziplinierung eingesetzt und kann als Erziehungsraum gefasst werden. Diese sind »dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen nicht nur die Intention der Erzieher zum Ausdruck kommt, sondern dass auch die Aneignungsprozesse der zu Erziehenden Raum schaffen und […] ihm Bedeutung zuweisen«. (Groppe 2013: 62) Carola Groppe geht allerdings davon aus, dass »der Prozess und das Ergebnis […] dabei nicht mit der Absicht der Erzieher konform gehen« (ebd.) müssen. Bestimmte Adressierungen und Anrufungen führen nicht zwangsläufig zur Einnahme der entsprechenden Subjektpositionen: »[Von] diskursiven Adressierungen vermittels normativer Erwartungen und Vorgaben sind wiederrum die tatsächlichen Subjektivierungsweisen zu unterscheiden, also das, was die so adressierten, lebenden, handelnden und verkörperten Menschen aus diesen machen –und dies kann sich im gesamten Spektrum möglicher menschlicher Reaktionsformen entfalten: von dem Versuch der bemühten Einnahme der Subjektpositionen, ihrer Fehlinterpretation, der Aneignung in Teilen oder ihrer Subversion.« (Bosančić 2017: 4) Daran anschließend kann nach den möglichen Reaktionsformen der Individuen auf die strafweise Isolierung im Karzer gefragt werden. Spuren von Widerstand und Subversion sind etwa in einer besonderen Quelle zur Geschichte des Karzers enthalten: In den 1970er Jahren wurde Klaus Madersbacher (Sozialarbeiter), Bert Breit (Journalist und Komponist) und Gert Chesi (Fotograf) Zugang zum Landeserziehungsheim St. Martin für eine Fotoreportage gewährt. Insgesamt sind 36 quadratische Schwarz-Weiß-Bilder erhalten, 22 von ihnen zeigen den Karzer: das vergitterte Fenster, die massive Eisentür und die Inschriften auf den Wänden der Isolierzelle. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit die Botschaften auf den Karzerwänden als Selbstpositionierungen in Bezug auf die Adressierung als Fürsorgeerziehungszögling interpretiert werden können.6 Die von den Mädchen und jungen Frauen auf den Wänden hinterlassenen Botschaften können angesichts der Funktion der Isolierung im Karzer als Straf- und Disziplinarmittel als widerständige Praxis gelesen werden. Sie bedienten sich bei der Formulierung ihrer Inschriften unterschiedlicher Strategien: etwa Humor, Ironie, Herstellung und Versicherung von Solidarität aber 6

Für eine detaillierte Vorstellung der Inschriften siehe Ralser et al. 2017: 144ff.

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Abb. 1 und 2: Graffiti auf der Mauer des Karzers, Metalltür des Karzers

(Fotos: Gert Chesi, Enthalten in: Handakten Klaus Madersbacher, archiviert am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck)

auch Provokation. So brachte eine Jugendliche über dem Guckloch in der Tür den Spruch an: »Neugierige Leute sterben bald«. Der infantilisierende Satz, mit dem Kindern, die nach Ansicht Erwachsener zu viele Fragen stellen, Antworten vorenthalten wurde, wird hier gegen das räumliche Arrangement und die umfassende Kontrolle im Erziehungsheim gewendet. Einige andere Inschriften wirken auf den ersten Blick wie bloße Provokationen, etwa Beschimpfungen wie »R., du Orschloch« [sic!], Äußerungen wie »Küß mich!«, »Ich will mal wieder vögeln«, »Hast du Hasch, dann rauch es rasch« oder auch Zeichnungen von Totenköpfen. Sie können aber auch als Klassenwiderstand sowie als Widerstand gegen bürgerliche Geschlechtervorstellungen gelesen werden. Ähnlich wie die Soziologin Marina FischerKowalski den Protest der sogenannten Halbstarken Ende der 1950er Jahre analysiert, kann auch hier das »Bestehen auf Körperlichkeit, körperliche Lust und Aggression« (Fischer-Kowalski 1990: 63) als subversive Praktik verstanden werden. Äußerungen der Mädchen, die sich etwa auf Drogenkonsum und auf gelebte (oder imaginierte) Sexualität beziehen, können in diesem Sinne als Zurückweisung der bürgerlichen, an Sittlichkeit und Häuslichkeit orientierten Geschlechtervorstellungen gedeutet werden, die der Erziehung im Heim zugrunde lagen.

Disziplinierung und Spuren des Widerstandes

Mit einigen Botschaften stellten sich die Mädchen der Isolierung und dem Alleinsein im Karzer entgegen, indem sie sich gegenseitig ihrer Freundschaft und Solidarität versicherten: »Marianne Engel und Gerda Ringler [Pseudonyme, Anm. F.G.] – Freundinnen für immer und ewig.« Die folgende Inschrift einer Jugendlichen kann als unterstützende und aufmunternde Botschaft für zukünftig von der Karzerstrafe betroffene Mädchen gelesen werden: »Wenn ich es ausgehalten habe, haltet ihr es auch aus«. In anderen Äußerungen wird deutlich, dass sich die Mädchen und jungen Frauen den Erziehungs- und Disziplinierungsbemühungen in St. Martin nicht beugen wollten: »Ich werde wieder so wie früher ich gewesen bin, ich werde machen was ich will«, beschreibt ein Mädchen vermutlich ihr Vorhaben für die Zeit nach der Entlassung aus dem Erziehungsheim. Eine andere Jugendliche bringt zum Ausdruck, dass der Einfluss der Erziehungsmaßnahme auf ihr Leben – trotz allem – begrenzt ist: »Ob sie mich lieben oder hassen, einmal müssen sie mich entlassen.« Die Inschriften an den Karzerwänden sind Spuren der Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer konkreten Situation in der Isolierzelle, aber auch im Erziehungsheim insgesamt. Anders als die in den Interviews artikulierten Erinnerungen findet sie jedoch nicht retrospektiv statt, sondern während der Strafisolierung. Die Graffitis und Sprüche auf den Wänden der Karzerzellen erlauben daher einen Einblick in gewisse Aspekte des Erlebens und der Erfahrung während dem Verbüßen der Isolierstrafe sowie in eine bestimmte Form von währenddessen vollzogenen Praktiken. Die Raumpraktik des Hinterlassens von Sprüchen und Botschaften auf den Wänden des Karzers kann als Selbstpositionierung als handlungsmächtiges Subjekt verstanden werden, das die Erfahrung der Karzerstrafe nicht auf das Moment des Erleidens beschränkt. Mit dem Entwerfen und Aufschreiben ihrer Botschaften positionierten sich die Mädchen und jungen Frauen als nicht lediglich Unterworfene. Bereits die Existenz der Inschriften zeigt, dass sie als Möglichkeit erkannt und genutzt wurden, unter prekären Bedingungen eine gewisse – wenn auch möglicherweise minimale – Handlungsfähigkeit zu wahren.

Subjektbildung in Selbst- und Fremdpositionierungen In den Erzählungen von Viktoria Baumgartner werden die subjektivierenden Wirkungen von sozialen Praktiken (vgl. Alkemeyer 2013) sowie von verbalen Adressierungen in Interaktionen deutlich. Sich in die Ordnung des Erziehungsheims einzufügen und die Subjektposition eines Fürsorgeerziehungs-

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zöglings einzunehmen, erscheint der Interviewpartnerin als einzige Möglichkeit, um weiteren Karzerstrafen zu entgehen. Am Beispiel der Karzerstrafe – verstanden als Praktik der sozial-räumlichen Positionierung, die bestimmte körperliche Erfahrungen bei den Jugendlichen auszulösen vermag – wird deutlich, dass »[d]ie Technologien und Dispositiv-Ensembles […] in erster Linie nicht am Geist, sondern am Körper an[setzen]. Im Rahmen dieses Prozesses kann […] auch eine spezifische Form des Mentalen, eine spezifische Reflexivität, Moralorientierung, Emotionalität, Begehrensfixierung etc. implantiert werden. So ist es etwa charakteristisch für ein bestimmtes Strafregime, im Subjekt ein Verständnis von Schuld, eine Innerlichkeit des Gewissens hineinzuzüchten.« (Reckwitz 2008: 30f.) Die Übernahme der Subjektposition eines Fürsorgeerziehungszöglings geht bei Viktoria Baumgartner mit dem Gefühl einher, »psychisch gebrochen« (Interview Baumgartner 00:10) worden zu sein. Sie erfährt erhebliche psychische Verletzungen und die Beschädigung ihres Selbstwertgefühls. Zudem macht sie sich für ihre missliche Lage selbst verantwortlich: Sie fühlt sich schuldig und denkt, sie habe die gewaltvolle und herabwürdigende Behandlung im Erziehungsheim »verdient« (ebd.). Das System der Jugendfürsorge bringt eine symbolische Ordnung hervor, die in den sozialen Praktiken von Erziehungsheimen und im Rahmen von Adressierung in direkten Interaktionen mit dem pädagogischen Personal aktualisiert wird. Es wird damit »nicht nur ein Wissen um die soziale Wertigkeit der einzelnen Personen bereit[gestellt]« (Pfahl 2011: 75, Herv. i. O.), es werden mit den vermittelten sozialen Positionierungen auch Handlungsrahmen eröffnet oder – wie in diesem Fall nahezu ausschließlich – begrenzt. Verstärkt wird dieser Effekt durch das Empfinden der Betroffenen, dass diese Haltung von der »ganzen Gesellschaft« (Interview Baumgartner 00:10) vertreten wird. So gibt es für Viktoria Baumgartner kein Außen mehr, das eine andere Orientierung und Positionierung erlaubt hätte. Deutlich wird hier die machtvolle Wirkung des Dispositivs der Jugendfürsorge sichtbar. Die hier beschriebene und eingenommene Subjektposition eines Fürsorgeerziehungszöglings kann mit dem Konzept der »troubled subject position« (Wetherell 1998, zit.n. Jansen 2010: 425) gefasst werden. Damit sind »interpretations of certain conduct or ways of being« angesprochen, »[that] might provide persons with an understanding of who they are that carries negative cultural values« (Jansen 2010: 425, Herv. F.G.). Die Einnahme dieser den Jugendli-

Disziplinierung und Spuren des Widerstandes

chen zugeschriebenen Subjektposition bringt eine erhebliche Einschränkung der Handlungsfähigkeit mit sich und die zusätzliche affektive Aufladung mit Schuld und Angst erschwert längerfristig eine Distanzierung von dieser Position. Wie lassen sich in diesem Zusammenhang die oben beschriebenen Karzerinschriften deuten? Dem Erziehungsmittel der Strafisolierung, durch das die Jugendlichen zumindest wieder »halbwegs vernünftig« (Birkl circa 1974: 9) werden sollten, setzten manche der im Karzer eingesperrten Mädchen ihre Botschaften entgegen: Sie brachten die Mauern der Isolierzelle auf eine Weise zum Sprechen, die die Intention der Strafisolierung zu unterlaufen suchte. Durch die Nutzung der Wände als machtvolles Medium der Kommunikation untereinander konnten sie der Isolierung und Vereinzelung ein Stück weit entrinnen, etwa wenn die Mädchen in freundschaftlichen und solidarischen Äußerungen ein Gefühl der Verbundenheit ausdrückten und vermittelten. Wenn der Begriff der Selbstpositionierung dazu dienen soll, »den tentativen, prekären, unabschließbaren, wandelbaren und transformativen Prozess der Auseinandersetzungen zu betonen, die statthaben, wenn Menschen durch normativ-symbolische Ordnungen und dispositive Arrangements auf bestimmte Weise adressiert, identifiziert und positioniert werden« (Bosančić 2017: 4), könnten die Botschaften auf den Karzerwänden als Spuren dieser Auseinandersetzungen gelesen werden. Beispielsweise können Inschriften, die sich inhaltlich auf Sexualität und Drogenkonsum beziehen, als Positionierungen gedeutet werden, die sich der Adressierung mittels normativer Erwartungen im Sinne bürgerlicher Weiblichkeitsvorstellungen entziehen. Wenn Jugendliche zum Ausdruck bringen, nach der Heimentlassung wieder »wie früher« sein zu wollen, oder wenn sie ausdrücken, dass sie auch unabhängig von ihrer guten Führung oder charakterlichen Besserung entlassen werden,7 distanzieren sie sich von der Adressierung als zu Bessernde oder zu Erziehende.

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Spätestens mit Erreichen der Volljährigkeit endet die Fürsorgeerziehung (vgl. JWG § 30, Abs. 1). Eine Analyse von Jugendwohlfahrtsakten zeigt jedoch, dass Jugendliche, bei denen der Zweck der Erziehungsmaßnahme als nicht erreichbar erachtet wurde, früher entlassen wurden (vgl. Bischoff/Guerrini/Jost 2014: 232ff.).

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Fazit In diesem subjektivierungstheoretischen Beitrag wurden zwei Denkwerkzeuge – nämlich die Analyse von Adressierungen sowie von Fremd- und Selbstpositionierungen – am empirischen Material erprobt. Welches Potenzial eine solche Perspektive in der Erforschung der (historischen) Jugendfürsorge entfalten könnte, soll anhand von zwei Überlegungen abschließend in aller Kürze vorgestellt werden: Allgemein kann davon ausgegangen werden, dass die Perspektive der Subjektivierung in theoretischer Nähe zu erziehungswissenschaftlichen Reflexionen und Fragestellungen steht, insofern als ein Ziel der Pädagogik darin besteht, die Subjekte zu Selbstständigkeit, Handlungsfähigkeit und Mündigkeit zu befähigen. Gleichzeitig sind ihre Adressat_innen oft »bedrohte Subjekte«, die sich an gesellschaftlichen Rändern befinden und deren gesellschaftliches Sein gefährdet sein kann. Dabei kommt der Jugendfürsorge die Aufgabe zu, »die Subjekte an den Rändern der Gesellschaft zu reintegrieren oder an diesen Rändern zu verwalten« (Färber 2019: 84 f). Damit ist sie grundlegend durch die Ambivalenz zwischen Unterstützung und Hilfe auf der einen Seite sowie Kontrolle und Unterwerfung auf der anderen Seite gekennzeichnet. Wie die Jugendfürsorge samt ihrer Institutionen als Subjektivierungsinstanz (vgl. Pfahl 2011: 39ff.) gedacht werden könnte und im Rahmen welcher diskursiven und sozialen Praktiken in ihrem Kontext Subjekte hervorgebracht werden, kann – wie in diesem Beitrag vorgeschlagen – durch die Einnahme einer subjektivierungstheoretischen Perspektive in der Forschung analysiert werden. Als aussichtsreich wird dabei eine Kombination schriftlicher und mündlicher Quellen erachtet: Die methodische Herangehensweise der Subjektivierungsanalyse im Sinne der Integration diskurs- und biografieanalytischer Zugänge stellt eine Möglichkeit dar, beide Untersuchungsebenen systematisch aufeinander zu beziehen. Dem Interesse von Subjektivierungsanalysen an den Wirkungen von Diskursen auf Praktiken folgend, kann eine diskursanalytische Untersuchung von Jugendfürsorgeakten die Grundlage für die Interpretation von biografischen Interviews sein. Anhand der Aktenanalyse können die relevanten Diskurse, Deutungsmuster und Klassifizierungen im Feld der Jugendfürsorge im historischen Zeitverlauf rekonstruiert werden (vgl. Guerrini 2018: 31ff.). Allerdings kann »[…] erst mittels biographischer Erzählungen […] die Frage geklärt werden, wie die diskursiv hergestellten Subjektpositionen nicht nur diskursiv

Disziplinierung und Spuren des Widerstandes

gefüllt, sondern auch gefühlt und gelebt werden. Das heißt, die biographischen Erzählungen zeigen die individuellen Sinnproduktionen und -repräsentationen im Kontext diskursiver Regime auf. Umgekehrt gibt die Diskursanalyse Anhaltspunkte für den größeren Gesamtkontext von Erzählungen, die die Bezüge und Brüche der individuellen Positionierungen ausweisen.« (Tuider 2007, Abs. 26) In der Analyse biografischer Interviews kann folglich danach gefragt werden, welche dieser feldspezifischen Redeweisen von den Interviewpartner_innen aufgegriffen werden, wie sie sich dazu positionieren, inwieweit es ihnen gelingt, sich von den oft pejorativen, degradierenden oder entwürdigenden Zuschreibungen und Klassifizierungen abzugrenzen und alternative Deutungen ihrer Situation und Lebensgeschichte zu entwickeln.

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Pride-Paraden Queere Erinnerungspolitiken Tanja Vogler

Aktuell werden Pride- oder CSD-Paraden weltweit gefeiert. Sie gehören damit zu den größten und bekanntesten LGBTIQ*-Veranstaltungen. CSDVeranstaltungen sind ursprünglich als Erinnerungsveranstaltungen an die Stonewall-Inn-Proteste1 von 1969 in den USA entstanden und haben mit der Zeit auch im europäischen Raum Einzug gefunden. So wurde in der Schweiz bereits 1978 die erste Erinnerungsveranstaltung an die StonewallInn-Proteste organisiert (vgl. Gerber 1998: 110f.). In Wien gab es 1996 die erste Regenbogenparade (vgl. Repnik 2006: 156f.) und der erste Berliner CSD fand 1979 in West-Berlin statt.2 Die Stonewall-Inn-Proteste, an die der CSD erinnert, gelten zumeist nicht als Teil queerer Geschichtsschreibung. Wird doch der Beginn des queeren Aktivismus erst in den 1980er Jahren – also zehn Jahre später – ebenfalls in den USA zu Zeiten der AIDS-Krise verortet (vgl. Hark 2005: 291f.). Stonewall steht für den Beginn der Gay Liberation – eine Politik des schwul-lesbischen Stolzes, von der queere Politiken sich abzugrenzen versuchen (vgl. Jagose 2005: 46). Trotzdem nehmen viele sich als queer verstehende Projekte im deutschsprachigen Raum an den Erinnerungsveranstaltungen

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Die Bar, in der die mehrere Tage andauernden Proteste begannen, hieß Stonewall Inn. Dabei werden in den Städten Zürich, Wien und Berlin die Demonstrationszüge unterschiedlich benannt. In Zürich wird seit 2009 die Bezeichnung Pride verwendet, die auf die Politiken der Gay Pride verweisen, die sich im Anschluss an Stonewall formierten. In Berlin wird vom Christopher Street Day gesprochen, der auf die Straße Bezug nimmt, in der sich die Bar befunden hat. Während Pride und CSD gängige Bezeichnungen sind, wird in Wien von Regenbogenparaden gesprochen. Diese Bezeichnung wurde eingeführt, weil der Regenbogen als Symbol für homosexuellen und trans* Aktivismus zu dieser Zeit bekannter war als Bezeichnungen aus dem US-amerikanischen Raum.

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zu den Stonewall-Inn-Protesten teil oder fordern zumindest Teilhabe.3 Dabei kommen queere Politiken meist nicht umhin, sich zu den gängigen Kritiken am CSD zu positionieren. Zu den zentralen Aspekten gehören zum einen die Kritik an der Kommerzialisierung des CSD und zum anderen die Ausschlüsse bestimmter zumeist marginalisierter Gruppen. Zugleich gibt es nicht nur die diskursiven Kämpfe um den CSD, sondern auch vermehrt Versuche, die Narrative zu den im Zuge des CSD erinnerten Stonewall-Inn-Protesten zu queeren4 und so auch Stonewall zum Teil queerer Geschichtsschreibung zu machen (vgl. Voß/Wolter 2013). Im Folgenden soll daher aufgezeigt werden, wie die (kritische) Positionierung aktueller queerer Projekte zum CSD und die Kritiken an einer bestimmten Art und Weise, Stonewall zu erinnern, miteinander verknüpft sind. Wie wird Stonewall erinnert und wie werden diese Erinnerungen gequeert? Welches Wir wird dabei hergestellt? Und im ›Geiste‹ welcher Erinnerung an Stonewall loten aktuelle queere Projekte ihr eigenes Verhältnis zum CSD aus? Die umkämpfte Geschichte der Stonewall-Inn-Proteste kann als diskursiver Kontext verstanden werden (vgl. Jäger 2015: 128), der einerseits den Rahmen zu aktuellen Diskursen bezüglich des CSDs bildet und andererseits durch diese aber auch (erneut) hergestellt wird. Inwiefern die diskursiven Erzählungen um das Ereignis von Stonewall umkämpft sind, soll zunächst entlang queerer5 Kritiken an zwei gängigen Arten, die Stonewall-Inn-Proteste zu erinnern, ausgearbeitet werden. Dabei wird auch gezeigt, dass in und durch verschiedene Arten, dieses Ereignis zu erinnern, politisch ein jeweils spezifisches Wir hergestellt wird (vgl. Bravmann 2005: 258). Im Anschluss daran wird ein Sprung von den diskursiven Kämpfen um die Erinnerung an Stonewall zu den aktuellen diskursiven Verhandlungen des CSD (45 Jahre nach dem Ereignis Stonewall) in Deutschland vollzogen. Am Beispiel der Art und Weise, wie der queere Verein LesMigraS sich zum CSD positioniert, soll aufgezeigt werden, wie er sich durch das Ausloten seines Verhältnisses zum CSD als eine politische Gemeinschaft konstituiert. Die Positionierung von LesMigraS stellt ein repräsentatives Diskursfragment aus 3

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Das gilt zumindest für alle fünf queeren Projekte, die im Zentrum des Forschungsprojektes stehen, auf dessen Daten dieser Beitrag aufbaut: LesMigraS, Milchjugend, Türkis Rosa Lila Villa, TransInterQueer e.V. und das Jugendnetzwerk Lambda BB. Mit queeren ist gemeint, dass die gängigen Erzählungen ›durchkreuzt‹ werden, indem alternative Geschichten erzählt werden. Die Kritiken werden insofern als queer bezeichnet, als sie eine homogene Geschichte hinterfragen, die ein einheitliches (homosexuelles) Wir herzustellen versucht.

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einer diskurs- und strukturanalytischen Aufarbeitung des Bewegungsmaterials6 von fünf derzeit aktiven queeren Projekten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz dar. Am Beispiel von LesMigraS soll daher gezeigt werden, wie aktuelle queere Diskurse den CSD verhandeln und wie diese Verhandlungen an die diskursiven Kämpfe um die Geschichte der Stonewall-Inn-Proteste anknüpfen. Abschließend sollen daraus einige Verbindungslinien zwischen den umkämpften Erinnerungen an die Stonewall-Inn-Proteste und den aktuellen Verhandlungen des CSD ausgearbeitet werden.

Eine kritische Diskursanalyse Grundlage der folgenden Darstellungen ist die Analyse des Text- und Bildmaterials, das von fünf queeren Projekten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz produziert wurde: die Milchjugend, das Jugendnetzwerk Lambda BB, die Türkis Rosa Lila Villa, TransInterQueer e.V. und LesMigraS. Das Bewegungsmaterial der fünf Projekte wurde diskursanalytisch danach befragt, auf welche Art und Weise die jeweiligen politischen Gemeinschaften in diesen Texten konstituiert werden. Dies wurde mit dem Werkzeugkasten der kritischen Diskursanalyse (KDA) von Margarete und Siegfried Jäger ausgearbeitet. In Anlehnung an Foucault versteht die KDA Diskurse als Wechselspiel von Macht-WissensKomplexen, durch die Subjekte hervorgebracht werden. Ziel der Diskursanalyse ist es, für einen abgegrenzten Diskursstrang herauszuarbeiten, was in bestimmten Diskursen auf welche Art und Weise sagbar ist und was nicht, welchen Regelhaftigkeiten das Sagbare unterliegt und mit welchen Strategien und Techniken Sagbares hergestellt wird. Dabei geht es immer auch um die Frage, wie das so hergestellte Wissen mit Macht verknüpft ist und welche Subjekte dadurch hergestellt werden (vgl. Jäger 2015). Entsprechend werden die innerhalb des aktuellen queeren Aktivismus produzierten Textmaterialien als diskursive Praktiken verstanden, in denen die jeweiligen politischen Gemeinschaften hergestellt werden. Zu Beginn der durchgeführten Diskursanalyse wurde zunächst ein »Archiv« (Jäger 2015: 92ff.) erstellt. Das heißt, es wurden alle von den fünf Projekten produzierten Texte (Zeitschriftenartikel, politische Stellungnahmen, Info6

Unter Bewegungsmaterialien wird das von den Projekten hergestellte Text- und Bildmaterial verstanden. Dabei handelt es sich um Flyer, eigene Zeitschriften, Broschüren, Artikel, Plakate, Pressmitteilungen, Stellungnahmen und Redebeiträge.

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und Aufklärungsmaterialien, Flyer und Selbstdarstellung auf der Website) der Jahre 2010 bis 2016 gesammelt und strukturanalytisch aufgearbeitet.7 Diese Aufarbeitung stellt nach Jäger das »Herzstück« (Jäger 2015: 97) der Diskursanalyse dar. Sie hat zum einen die Funktion, einen Überblick über die Themen, Normalismen und zentralen Aussagen des Archivs zu verschaffen. Zum anderen werden auf Basis dieser Analyse die für die Feinanalyse repräsentativen Diskursfragmente ausgewählt. Dieser Analyseschritt hat gezeigt, dass der CSD bei allen fünf Projekten das am häufigste verhandelte Thema ist. Gemeinsam ist den Projekten zudem, dass sie Anspruch auf den CSD als einen Ort des Politischen erheben, indem sie unter anderem auf die Geschichte der Stonewall-Inn-Proteste Bezug nehmen. Dabei wird die Frage nach dem Was und dem Wie des Politischen unterschiedlich beantwortet. Es deutet sich aber bereits an, dass die Erinnerung an die Stonewall-Inn-Proteste mit der Art und Weise verknüpft ist, wie sich die queeren Projekte in Bezug auf den CSD als kollektives Wir konstituieren. Um die historischen sowie aktuellen diskursiven queeren Kämpfe um den CSD, in denen jeweils ein Wir hergestellt wird, einordnen zu können, soll vorweg kurz skizziert werden, in welchen theoretischen Kontexten die queere Herstellung eines gemeinsamen Wirs verortet ist.

Queere Politiken und Identität Ausgehend von den Erkenntnissen aus den strukturanalytischen Aufarbeitungen steht die diskursive Herstellung queerer Gemeinschaften in Bezug auf eine Erinnerungsveranstaltung, nämlich den CSD, im Zentrum des Artikels. Was bedeutet aber eigentlich queer? Und warum sind die Verhandlungen darüber, ›was die queere Gemeinschaft ist‹, so zentral? In welchem Bezug stehen sie zu den emanzipatorischen Ansprüchen queerer Politiken? Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff queer oft sehr unterschiedlich verwendet: als Selbstbezeichnung, synonym für schwul-lesbisch und trans* oder als Umbrella Term für LGBTIQ* (vgl. Perko 2005: S. 7). In diesem Beitrag soll queer als Kritik an eindeutigen (schwul-lesbischen) Identitätspolitiken verstanden werden (vgl. Hark 2005: 290): Queer steht im Gegensatz 7

Das Analysematerial kann zwischen zwei diskursiven Ereignissen verortet werden: die Ablehnung des Zivilcourage-Preises des CSD durch Judith Butler 2010 und das Erscheinen des Sammelbandes Beißreflexe Anfang 2017.

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zu dem Geschlossenen – dem Ausschließenden wie Einschließenden – von Identität für eine zukünftige Offenheit. Anstatt die eigene Identität, also das, ›was ein Mensch ist‹, zum Platz oder Ort zu machen, um den herum sich kollektive politische Subjekte anordnen, geht es darum, diese auf Schließung abzielende und identitäre Gemeinschaft offenzuhalten: »Wenn der Begriff ›queer‹ ein Ort kollektiver Auseinandersetzung sein soll, Ausgangspunkt für eine Reihe historischer Überlegungen und Zukunftsvorstellungen, wird er das bleiben müssen, was in der Gegenwart niemals vollständig in Besitz ist, sondern immer nur neu eingesetzt wird, umgedreht wird, durchkreuzt wird [queered] von einem früheren Gebrauch her und in die Richtung dringlicher und erweiterungsfähiger politischer Zwecke.« (Butler 1997: 313) Wie ist es aber möglich, sich den totalisierenden und vereinheitlichenden Macht-Wissen-Regimen zu entziehen? Butler geht es vor allem darum, die Möglichkeitsbedingungen des Politischen offenzuhalten. Dabei können die Bezeichnungspraxen (Butler 1991), aber auch die (körperliche) Verletzlichkeit (Butler 2016) zum Ort des Politischen werden. Sie forderte eine Verschiebung dessen, was als das Politische gedacht wird: Weg von der Vorstellung des Politischen als Forderungen einer identitären Gemeinschaft, hin zum Politischen als ein Ort der Auseinandersetzung mit dessen Möglichkeitsbedingungen. Das betrifft zum einen die Herstellung und damit Öffnung der eigenen Gemeinschaften (vgl. Butler 1991: 21), also die Frage wer wir sind: »Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt.« (Foucault 1987: 280) Butler verortet zum anderen das Politische in den Forderungen nach den »Infrastrukturen«, die politische Teilhabe überhaupt erst möglich machen.8 Damit wird der Ort des Politischen hin zu den Mechanismen verschoben, die eine politische Gemeinschaft zusammenhalten und sie möglich machen (vgl.

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Sie spricht anhand des Beispiels von Demonstrationen auf der Straße von notwendigen »Infrastrukturen«, beispielsweise das Recht auf Versammlungsfreiheit, gepflasterte Straßen oder einem gesicherten Aufenthaltsstatus, die über den Grad der Prekarität und damit auch über die Möglichkeiten politischer Teilhabe bestimmen.

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Butler 1991, 2016). Eine Möglichkeit, einen Anspruch auf das Politische zu erheben, ist nach Butler, einen performativen Widerspruch geltend zu machen. Butler fasst die »performative Äußerung als einen Bereich, in dem Macht als Diskurs agiert« (Butler 1997: 309). Subjekte – so auch kollektive politische Subjekte – werden performativ hervorgebracht. Für Butler ist Performativität so etwas wie eine »unbeabsichtigte Handlungsfähigkeit« (Butler 2016: 47), nach der im Akt des »autoritativen« Sprechens oder verkörperten Handelns jener Gegenstand hergestellt wird, von dem gesprochen wird (vgl. Butler 1997: 309). Eine Veränderung und damit auch eine Öffnung kollektiver politischer Gemeinschaften – wie queer es beansprucht – sind mit Butler technisch gesehen möglich, weil performative Akte Zitatcharakter haben, sich also ständig wiederholen. Das, was in und durch performative Akte zitiert wird, strebt auf einer identitären Ebene eine Totalisierung und Vereinheitlichung an, die gleichzeitig konstitutiv unmöglich ist. In dieser Unmöglichkeit liege laut Butler das Potenzial, sich im performativen Akt die nach Schließung strebenden Zitate auf eine andere Art anzueignen. Diese Aneignung eröffnet die Möglichkeit, auf Widersprüche des Angeeigneten aufmerksam zu machen. So kann beispielsweise eine Drag Performance mit Strategien der Parodie und Subversion darauf verweisen, dass die abgeschlossene Einheit, die Identität einfordert, konstitutiv unmöglich ist (vgl. Butler 1997). Einen performativen Widerspruch geltend zu machen, kann auch bedeuten, dass diejenigen ihr Recht auf politische Teilhabe einfordern, die kein Recht auf politische Teilhabe haben, indem sie auf die Straße gehen und ebendieses Recht geltend machen (vgl. Butler 2016). Das Ziel von Butlers Analyse, das auch als ein mögliches Ziel queerer, emanzipatorischer politischer Bestrebungen gefasst werden kann, besteht darin, dass »geschlechtlich non-konforme Körper ebenso wie solche, die sich zu sehr (und zu einem hohen Preis) anpassen, imstande sind, sich im öffentlichen wie im privaten Raum sowie in allen Zonen, die diese beiden durchkreuzen und durcheinanderbringen, freier zu bewegen […].« (Butler 2016: 47) Muñoz (1999) knüpft an Butlers Überlegungen zu Subversion und Parodie an und schlägt eine Praxis der disidentification in Bezug auf die Anrufungen (Althusser 1977) vor, die uns auf einen Platz verweisen. Disidentifikation heißt, diese Anrufungen von innen heraus zu verändern, indem gleichzeitig an, mit und gegen sie gearbeitet wird (vgl. Schirmer 2010: 34f.). Es kann aber auch unumgänglich sein, »den notwendigen Irrtum von Identität (ein Ausdruck von Spivak) mobilisieren zu müssen« (Butler 1997: 314), um den Begriff und das,

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was durch ihn eingesetzt wird, in Frage zu stellen. Spivak, auf die Butler sich bezieht, spricht in Bezug auf die Versuche der South Asian Subaltern Studies Group, eine Geschichte von unten zu schreiben, von einem »strategischen Essentialismus«. Dieser nutzt die Vorstellung einer fiktionalen, aber wirkmächtigen Essenz einer subalternen Gruppe, um durch Gegenerzählungen hegemoniale Geschichtsschreibungen zu durchkreuzen Diese Geschichtsschreibung ist problematisch, weil sie homogenisiert und die Frauen noch mehr in den Schatten der Geschichte stellt (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015:191). Mit Spivaks Worten kann man sie aber nicht nicht wollen. Aber auch Bündnispolitiken, die um eine gemeinsame konstitutive Verletzlichkeit angeordnet sind – »Queere Koalitionen ums Überleben« (Hark 2017: 22) –, stellen eine Möglichkeit offener queerer Politiken dar. Die performativen Grundlagen politischen Handelns können auch in und durch eine »Geste, die zum Ereignis wird« (Butler 2019: 64), unterbrochen werden, indem eine radikale Enthistorisierung und Entkontextualisierung stattfindet. Diskurse aktueller queerer Politiken werden dabei als ein Ort verstanden, an dem versucht wird, diese queere Offenheit herzustellen. Entsprechend soll diskursanalytisch gefragt werden, wie und auf welche Art und Weise sich die queeren Projekte als politische Gemeinschaften konstituieren. Dabei hat sich gezeigt, dass in Bezug auf das Ereignis CSD die Frage, wie die Geschichte erinnert wird, ein zentrales gemeinschaftskonstituierendes Element ist. Es findet keine radikale Enthistorisierung statt, sondern im Gegenteil: die Geschichte ist gemeinschaftsstiftend und die Art, wie sie erinnert wird, ist entsprechend umkämpft.

Stonewall Inn 1969 – Umkämpfte Erinnerungen Der sogenannte Christopher Street Day ist ein Jahr nach den Stonewall-InnProtesten 1969 zur Erinnerung an diese Kämpfe ins Leben gerufen worden. Doch wie wird er erinnert? Heute gelten die Stonewall-Inn-Proteste sowohl in aktivistischen als auch in akademischen Kreisen vielerorts als die ›Geburtsstunde des schwul-lesbischen Aktivismus‹. Dabei werden mittlerweile besonders folgende zwei Aspekte dieser Erzählung kritisiert: zum einen das Geburtsstundennarrativ und zum anderen die Tatsache, dass Stonewall als schwul-lesbischer Kampf gilt (vgl. Voß/Wolter 2013: 28f.; Jagose 2005: 46). Neben anderen Kritikpunkten bilden diese beiden Aspekte den zentralen Verhandlungsort queerer Politiken. Sie stehen zudem beispielhaft für den Versuch, die Erinnerung an Stonewall als Teil queerer Bewegungsgeschichte

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einzufordern. So nehmen auch die im Zentrum der Analyse stehenden queeren Projekte LesMigraS, Lambda BB, die Milchjugend und TriQ Bezug auf die Kritiken an diesen beiden Narrativen. Was hat es aber mit diesen beiden Narrativen auf sich? Warum werden sie auf diese Art und Weise erinnert? Welches Wir wird in und durch die Art, Stonewall zu erinnern, hergestellt? Welches Wir bleibt undenkbar? Diesen Fragen soll zum einen in Bezug auf das Geburtsstundennarrativ, zum anderen in Bezug auf das Narrativ von Stonewall als schwul-lesbischen Kampf nachgegangen werden. Hierzu wird zunächst aufgezeigt, welche Erzählungen sich bis heute – 50 Jahre nach Stonewall – verfestigt haben. Dies erfolgt exemplarisch durch einen Blick auf die Art und Weise, wie queere CSD-Veranstalter*innen aktuell im deutschsprachigen Raum über Stonewall sprechen. Dem folgt eine ausführlichere Darstellung der Versuche von Aktivist*innen und Historiker*innen, diese gängigen Narrative zu queeren. Diesen Darstellungen liegt die Frage zugrunde, welches Wir durch die Erinnerungspolitiken hergestellt wird, gegen die sich die queeren Erzählungen wenden.

Geburtsstundennarrativ Ein Blick auf die Website aktueller Pride-Paraden im deutschsprachigen Raum genügt, um zu erkennen, dass zumindest das Geburtsstundennarrativ auch 2019 – also fünfzig Jahre nach Stonewall – immer noch eine gängige Art ist, an die Proteste zu erinnern. Die Zürich Pride (2019) schreibt auf der eigenen Homepage: »1969 war die Geburtsstunde der kämpferischen LGBTIQ Bewegung, die sich gegen willkürliche Polizeigewalt und gesellschaftliche Ausgrenzung lautstark zu wehren begann.« (Zürich Pride 2019: o.S.) Auch die Euro Vienna Pride erklärt im selben Jahr: »In June 1969, a seemingly insignificant incident occurred in a New York bar, but it was so unexpected and so dramatic that it has since become the birth of the modern LGBTIQ movement. For the first time in history, lesbians, gay and transgender people spontaneously and massively defended themselves against police despotism.« (Stonewall GmbH o.J.: o.S.) Der Mythos von Stonewall als »starting point« des homosexuellen Aktivismus hat sich bereits während der Kämpfe 1969 in die Geschichte eingeschrieben. Der homophile Aktivist Craig Rodwell, der zufällig an der Bar vorbeilief,

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als die Kämpfe begonnen hatten, produzierte für den nächsten Tag Flyer, die Stonewall als »emblematisches Ereignis« (Bravmann 2005: 240) festschreiben: »The nights of Friday, June 27, 1969 and Saturday, June 28, 1969 will go down in history as the first time that thousands of Homosexual men and women went out into the streets to protest the intolerable situation which has existed in New York City for many years.« (Teal 1995 [1971]: 8 zit.n. Armstrong/Crage 2016: 738) Schon während die Proteste stattfanden, wurden sie, wie das Beispiel des Flyers zeigt, als Geburtsstunde in die Geschichte eingeschrieben. Was aber wurde an diesem Tag geboren? Geboren wurde, diesen Narrativen zufolge, am 28. Juni 1969 der schwul-lesbische Aktivismus. Es war der Beginn der homosexuellen Befreiungskämpfe. Das stimmt insofern, als der Beginn der sogenannten Gay Liberation in diesem Zeitraum zu verorten ist (vgl. Jagose 2005: 46). So haben sich im Anschluss an Stonewall Gruppen wie die Gay Liberation Front, die Gay Activist Alliances, Street Transvestite Action Revolutionaries, die Salsa Soul Sisters oder die Radical Lesbians formiert (vgl. Duberman 1994: 217; Bronski 2011: 211; Voß/Wolter 2013: 31; Villa 2007: 104). Was in diese Art, die Geschichte zu erzählen, allerdings nicht eingeschrieben wird, ist die Tatsache, dass es auch vor Stonewall schon queere Kämpfe und Bewegungen gegeben hat. Susan Stryker (2004) verortet beispielsweise den Beginn des homosexuellen Aktivismus in den 1960er Jahren in San Francisco. Neben den zahlreichen homophilen Gruppen9 gab es bereits 1966 in Compton’s Cafeteria in San Francisco spontane Aufstände gegen willkürliche Polizeigewalt.10 Compton’s Cafeteria war ein 24-Stunden-Coffee-Shop, der bei »queens«, »gay hustlers«, »street kids« und »hair fairies« (Armstrong/Crage 2016: 732) beliebt war. Die Aufstände von 1966 wurden damals nicht von den lokalen oder homophilen Medien aufgegriffen und es ist der umfangreichen Recherche der Historikerin Stryker zu verdanken, dass diese Geschichte nicht ganz vergessen wurde. Die Kämpfe in Compton’s Cafeteria waren der Versuch marginalisierter Gruppen, sich zu repräsentieren. Sie wurden jedoch unter

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Zu den ersten homophilen Gruppen gelten die lesbische Organisation Daughters of Bilitis (DOB) und die schwule Organisation Mattachine Society. Im Gegensatz zur Gay Liberation steht der homophile Aktivismus für assimilatorische Politiken (vgl. Jagose 2005). Auch in anderen Bars, beispielsweise im Black Cat in Los Angelas, gab es bereits 1967 Aufstände (vgl. Armstrong/Crage 2016: 734).

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anderem auch deswegen nicht gehört, weil die damalige homophil-alternative Öffentlichkeit nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden wollte (vgl. ebd.: 733). Am Beispiel von Compton’s Cafeteria zeigen sich zwei Aspekte, die durch ein Geburtsstundennarrativ aus den Erinnerungen ausgeschlossen werden. Zum einen bleiben die Versuche der »queens«, »gay hustlers«, »street kids« und »hair fairies«, sich politisch zu repräsentieren, unsichtbar. Wenn Stonewall als der Anfang des schwul-lesbischen Aktivismus gilt, dann hat es vorher keine Kämpfe – auch nicht die von Compton’s Cafeteria – gegeben. Stonewall als Starting Point zu erinnern, trägt folglich dazu bei, dass diese Kämpfe (weiterhin) nicht in die Geschichte eingeschrieben werden. Zum anderen markiert ein Geburtsstundennarrativ auch einen Bruch mit den homophilen Bewegungen, die es schon seit den 1950er Jahren in den USA gegeben hat. Erneut heißt es, wenn Stonewall als Geburtsstunde des schwul-lesbischen Aktivismus gilt, dann hat dieses nichts mit dem homophilen Aktivismus gemeinsam. Die Geburtsstundenerzählung markiert dadurch einen Bruch zwischen beiden Bewegungen. Doch zeigt die Tatsache, dass die homophilen Netzwerke und Öffentlichkeiten maßgeblich dazu beigetragen haben, an Stonewall zu erinnern, dass die Gay Liberation sich nicht aus dem nichts – also unabhängig vom homophilen Aktivismus – formierte. Durch eine Geburtsstundenerzählung, die den homophilen Aktivismus auslässt, wird unsichtbar gemacht, dass es der Netzwerke und Öffentlichkeit des homophilen Aktivismus bedurfte, um die Erinnerungskultur in Bezug auf Stonewall erst zu ermöglichen.11 Damit verknüpft ist auch, dass die Art und Weise, wie die Geschichte erinnert wird und welche Geschichte erinnert wird, nicht von der Frage zu trennen ist, wessen Geschichten gehört wird und zu welchen Erinnerungen geschwiegen wird (vgl. Spivak 2008). Das Beispiel von Compton’s Cafeteria zeigt, dass die homophilen Aktivist*innen in San Francisco drei Jahre vor den Stonewall-InnProtesten nicht mit den Kämpfen der damaligen marginalisierten Gruppen in Verbindung gebracht werden wollten. Bei Stonewall haben sie hingegen durch ihre Informationsverbreitung einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet, die Geschichte der dortigen Proteste in die Erinnerungskultur einzuschreiben. Der homophile Aktivismus war also auch insofern Teil der Formierung der

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So wurde direkt im Anschluss an die Aufstände in homophilen Newslettern und Zeitschriften wie New York Mattinache Newsletter oder The Advocate von ihnen berichtet (vgl. Armstrong/Crage: 738).

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Gay Liberation, als dass er daran beteiligt war, welcher Aufstand auf welche Art erinnert wird und welcher nicht. Aber auch jenseits der Öffentlichkeitsarbeit war der homophile Aktivismus verwoben mit den Stonewall-Inn-Protesten und der sich im Anschluss formierenden Gay Liberation (vgl. D’Emilio 1998: 258). So waren viele homophile Aktivist*innen, trotz gegenteiliger Aufforderungen homophiler Organisationen, selbst Teil der Aufstände. Auch die Gay Liberation Front, die als erste organisierte Gruppe der sich im Anschluss an Stonewall formierenden Bewegung gilt, ist auf einer Versammlung der Mattinache Society – der größten homophilen Organisation in New York – entstanden (vgl. Duberman 1994: 217). Stonewall war folglich nicht der Anfang. Es hat vorher schon eine homophile Bewegung gegeben, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich die homosexuelle Befreiungsbewegung formieren konnte und sich auf eine bestimmte Art und Weise formiert hat. Die Geburtsstundenerzählung bricht mit diesen – und vielen weiteren – Verbindungen zur homophilen Bewegung. Das sind einige Aspekte, die eine Anfangserzählung in Bezug auf den der ›Geburt‹ vorgängigen homophilen Aktivismus nicht einschreibt. Was das Geburtsstundennarrativ wiederum einschreibt ist eine kohärente, Geschichte des schwul-lesbischen ›Stolzes‹. Denn die sich im Anschluss an Stonewall formierende Gay Liberation stellte – im Gegensatz zu den eher konservativen, assimilatorischen Politiken des homophilen Aktivismus – radikale Politiken, in denen die eigene Homosexualität ›stolz‹ nach außen getragen wurde, dar. Die Ursprungserzählung macht ebenso die Kontinuitäten zu anderen Bewegungen der 1960er Jahren in den USA unsichtbar: schwarze Befreiungsbewegungen, Frauenbewegungen und Friedensbewegungen. Sie alle hatten sich schon lange vor der Gay Liberation formiert. Entsprechend hatten sich bereits viele der an den Stonewall-Protesten beteiligten Aktivist*innen in den anderen Bewegungen ›radikalisiert‹ und konnten aus diesen Bewegungen mobilisiert werden. Zudem eignete sich die Gay Liberation politische Strategien und Ideologien vor allem aus der schwarzen Befreiungsbewegung an, beispielsweise Sit-in oder Gay Power (vgl. D’Emilio 1998: 223-240). In die Geschichte wird so auch nicht eingeschrieben, dass race eine entscheidende Rolle vor und während der Aufstände gespielt hat: »[B]ut in this case, race may have been an additional factor, given the fact that so many of the patrons were black and Latino, and this was the ›60s.« (Monroe 2012: o.S.) In diesem Fall verweisen die Kritiken an einer Geburtsstundenerzählung bereits auf die Kritiken an einer Erinnerung an Stonewall als ausschließlich

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schwul-lesbischer Kampf. Letztere Kritik verhandelt die Frage, wer an den Kämpfen beteiligt war.

Das schwul-lesbische Narrativ Aktuelle Pride-Veranstaltungen wie die Vienna Pride 2019 oder die Zürich Pride (2019) sprechen von Schwulen, Lesben und trans* Menschen, die an den Kämpfen beteiligt waren: »Demonstrating and being provocative, gays, lesbians, and transgender people made themselves visible, held hands, kissed, shouted slogans, and confidently enjoyed freedom that they had hardly ever seen before.« (Stonewall GmbH o.J.: o.S.)12 Eine Erzählung von Stonewall als schwul-lesbischem und trans* Kampf scheint nach wie vor eine gängige Art zu sein, die Proteste zu erinnern. Aktivist*innen wie Marsha P. Johnson und Silvia Riviera (zwei wohnungslose Drag Queens und Sexarbeiter*innen of Color) finden mittlerweile – zum Teil als Held*innen mystifiziert – vermehrt Eingang in die Erinnerungspolitiken deutschsprachiger CSD-Veranstaltungen. So stand beispielsweise im Rahmen des Berliner CSD 2019 Marsha P. Johnson im Zentrum der MottoKampagnen.13 Doch, dass trans* Personen oder Aktivist*innen wie Marsha P. Johnson oder Silvia Riviera Teil der Erinnerungspolitiken zu Stonewall sind, ist bis heute nicht selbstverständlich. Vor allem trans* Aktivist*innen sowie Aktivist*innen of Color setzten bis heute den Narrativen von Stonewall als schwul-lesbischem Kampf alternative Erzählungen entgegen: Silvia Riviera, eine puerto-ricanische Drag Queen und Sexarbeiter*in, gilt als ein zentraler Ankerpunkt solcher Gegenerzählungen. Sie selbst erzählt in einem Interview mit Leslie Feinberg (1998) von den wohnungslosen Jugendlichen vom Christopher Street Park, die an vorderster Front gekämpft hatten:

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Dass trans* Menschen in diesen Aufzählungen erwähnt werden, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern zum großen Teil dem Einsatz von trans* Aktivist*innen zu verdanken. Insgesamt standen fünf Personen im Zentrum der Motto-Kampagnen: Audre Lorde, Brenda Howard, Karl-Heinrich Ulrichs, Lili Elbe und Marsha P. Johnson.

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»It was street gay people from the Village out front-homeless people who lived in the park in Sheridan Square outside the bar-and then drag queens behind them and everybody behind us.« (Feinberg 1998: o.S.) Ein weiteres Beispiel für den Versuch schwul-lesbische Stonewall-Geschichten zu queeren sind die Erzählungen der schwarze Aktivist*in Irene Monroe (2012). Diese berichtet, wie sie damals gemeinsam mit der schwarzen Community aus Harlem aufgebrochen sei, um die Protestierenden zu unterstützen. Die gemeinsame Wut auf die Polizei und ihre Gewalt habe diese Allianzen über Differenzen hinweg möglich gemacht: »During this tumultuous decade of black rage and white police raids, kneejerk responses to each other slights easily to the stage for a conflagration, creating both instantaneous and momentary fighting alliances in these black-communities – across gangs, class, age, ethnicity and sexual orientation against police brutality.« (Monroe 2012: o.S.) Eine Erzählung von Stonewall als schwul-lesbischer Kampf – so die vielen kritischen Gegenstimmen – subsumiert all die verschiedenen »gefährdeten Leben« (Butler 2015), die gemeinsam aufbrachen, um gegen die Polizeigewalt und damit für ein »Überleben« zu kämpfen, unter die Kategorie schwul-lesbisch. Diese und weitere Kritiken an der Art und Weise, wie Stonewall zumeist erinnert wird, werden von den aus diesen Erzählungen Ausgeschlossenen vorgetragen, um einen Platz in der Geschichte und damit in der politischen Gemeinschaft, die die Geschichte konstituiert, einzufordern. Dieser Platz kann allerdings nur deswegen eingefordert werden, weil bereits eine – wenn auch zum Teil totalisierende – politische Gemeinschaft hergestellt wurde, die die Vergangenheit auf eine bestimmte Art und Weise definiert. In den Kämpfen um die Art und Weise, wie die Stonewall-Inn-Proteste erinnert werden, geht es also auch darum, zu verhandeln, wer Teil der konstituierten politischen Gemeinschaft ist und wer nicht. So werden beispielsweise die Sexarbeiter*innen und Drag und trans* Personen, die bei Compton’s Cafeteria aber auch bei Stonewall gekämpft haben, genauso wie die Rolle von People of Color aus dem Wir, das in gängigen Erzählungen von Stonewall hergestellt wird, häufig außen vorgelassen. Durch den Bruch mit der homophilen Bewegung wurde auch verschwiegen, dass die Öffentlichkeiten und Strukturen ebendieser dazu beigetragen haben, dass eine bestimmte marginalisierte Gruppe außen vorlassende Erzählung in die Geschichte eingeschrieben wurde. Es wurde bereits exemplarisch aufgezeigt, wie aktuelle CSD-Veranstaltungen in

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Zürich, Wien und Berlin auf die Stonewall-Inn-Proteste Bezug nehmen. Im Folgenden Abschnitt soll nun am Beispiel von LesMigraS dargestellt werden, wie sich queer politische Projekte zu den aktuellen CSD-Veranstaltungen positionieren. Dabei steht die Frage im Zentrum wie aktuelle queere Gruppen ihr Verhältnis zum CSD ausloten. Was kann aus der Art wie sich diese queeren Gruppen »an- mit und gegen« (Muñoz 1999: 11) den CSD wenden über das aktuelle CSD-Wir gesagt werden? Welches queere Wir stellt LesMigraS dabei in Bezug auf die eigene Gemeinschaft her?

Queere Gemeinschaft – Positionierung zum CSD Die fünf genannten in Deutschland, Österreich und der Schweiz agierenden Projekte sagen auf verschiedene Arten Ja zum CSD. Im Folgenden soll nun am Beispiel eines ausgewählten Diskursfragments des Projektes LesMigraS aufgezeigt werden, wie sich der Verein zur aktuellen CSD-Veranstaltung positioniert und welches Wir dabei hergestellt wird. LesMigraS besteht seit 1999 als Antigewalt- und Antidiskriminierungsbereich der Lesbenberatung Berlin e.V. und arbeitet an der Schnittstelle von LGBTIQ* und Mehrfachdiskriminierung. Im Zentrum der im deutschsprachigen Raum stattfindenden Arbeit stehen die Beratung und Unterstützung von Menschen mit Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen, politische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit sowie das Empowerment. LesMigraS produziert auf einer Text-Bildebene vor allem Informationsbroschüren, Pressemitteilungen und Redebeiträge, Flyer und Plakate, eigene Studien und stellt Infomaterialien auf der Homepage zur Verfügung. Die Themenschwerpunkte des Textmaterials lassen sich auf das Gewaltverständnis von LesMigraS sowie die Erfahrungen und Bedürfnisse von Betroffenen, wie sie in der Beratungsarbeit artikuliert werden, zurückführen.14 Die strukturanalytische Aufarbeitung hat gezeigt, dass bei den 14

So erkennt LesMigraS in der Arbeit mit Betroffenen beispielsweise, dass diese sich meist zunächst Unterstützung im näheren Umfeld suchen. Deshalb produziert der Verein entsprechende Broschüren zur Unterstützung von potentiellen Unterstützer*innen. Aus dem Gewaltverständnis das LesMigraS auf der Website veröffentlicht – das wiederum auch auf die Erfahrungen in der Beratung zurückgeht – wird auch verständlich, warum die Community zentraler Interventionsort für LesMigraS ist. Diese wird auf der einen Seite als ein relevantes Prisma verstanden, das die Gewalt, die mehrfachdiskriminierte erfahren, verstärken kann. Auf der anderen Seite kann die Community aber auch einen wichtigen potentiellen Unterstützungsort darstellen.

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zwei zentralen Textsorten des Vereins – Broschüren und Pressemitteilungen – die Kritiken an den rassistischen und trans*phoben Ausschlüssen in der Community, sowie die damit verbundenen Forderungen nach einer offeneren Community zentral sind.15 Charakteristisch für die Bewegungsöffentlichkeit von LesMigraS ist, dass diese nicht bei einer bloßen Kritik stehen bleibt, sondern alternative Handlungs- und Denkmöglichkeiten benennt. LesMigraS veröffentlicht regelmäßig Stellungnahmen, Redebeiträge und Pressemitteilungen. Meist werden aktuelle LGBTIQ*-politische Veranstaltungen oder Erinnerungstage zum Anlass genommen, um auf Leerstellen im Kontext von trans*-, Inter*- sowie Mehrfachdiskriminierungen hinzuweisen (oft in Bezug auf die Veranstaltung oder die Community). Der CSD ist ein Ereignis zu dem das Projekt besonders häufig Stellungnahmen, Pressemitteilungen und Redebeiträge veröffentlicht. In den Jahren 2010 bis 2016 hat der Verein insgesamt drei Stellungnahmen und zwei Redebeiträge zum CSD publiziert. Im Vergleich zu anderen Anlässen ist der CSD ein damit häufig verhandeltes Thema. LesMigraS nimmt seit 2009 zwar nicht mehr am Berliner CSD,16 aber meistens am Transgenialen CSD teil. Eine Ausnahme bildet das Jahr 2014. Erklärt wird das Fernbleiben in der »Pressemitteilung anlässlich des Christopher Street Days – Mehrdimensionales Empowerment statt eindimensionaler Feiertag«.17 Die Pressemitteilung ist repräsentativ für die Öffentlichkeitsarbeit von LesMigraS. Deshalb soll an ihr beispielhaft aufgezeigt werden, wie LesMigraS sich als Gemeinschaft konstituiert, in dem sie das eigene Verhältnis zum CSD ausloten.

LesMigraS – Forderungen nach Teilhabe am CSD Im Jahr 2014 gibt es in der queeren Community in Berlin heftige Auseinandersetzungen: Der Berliner CSD will sich in Stonewall umbenennen. Daraufhin wird in Abgrenzung zum Berliner CSD eine dritte CSD-Parade ins Leben gerufen: Aktionsbündnis CSD. Auch LesMigraS gibt eine Stellungnahme zur Na15 16

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In den Broschüren wird zudem zu Gewalt und Mehrfachdiskriminierung aufgeklärt und Unterstützungs- sowie Handlungsstrategien werden benannt. In Berlin findet der Transgeniale- beziehungsweise Kreuzberger CSD (1998-2016) statt, der aus einer Kritik an rassistischen Ausschlüssen und der Kommerzialisierung des Berliner CSD heraus entstanden ist. Die Pressemitteilung ist unter folgendem Link downloadbar: https://lesmigras.de/ tl_files/lesmigras/pressemitteilungen/PM_2014_CSD.pdf (zuletzt abgerufen am 18. 02.2020).

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mensänderung ab. Darin fordert der Verein, eine Aneignung der Bezeichnung Stonewall müsse »an die Geschichte anknüpfen«, schließlich seien schon damals »Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierung« zentral gewesen. Da die Forderungen von LesMigraS nicht gehört werden, sagt der Verein allen drei CSD-Veranstaltungen ab. In der »Pressemitteilung anlässlich des Christopher Street Days – Mehrdimensionales Empowerment statt eindimensionaler Feiertag« werden dann die Gründe für die Absage näher erläutert. Obwohl der Verein dieses Jahr an keiner der Paraden teilnimmt, spricht er trotzdem über die Nichtteilnahme, um im Sprechen über die Nichtteilnahme die Teilhabe am CSD einzufordern. Welche Strategien und Argumente von LesMigraS angeführt werden, soll nachfolgend erläutert werden. Zunächst weist der Verein darauf hin, dass ihn seine Teilnahme an den CSD-Veranstaltungen auf einen Platz verweisen würde, der ihn nicht oder nicht ausreichend zu repräsentieren vermag. LesMigraS sieht sich insofern durch den CSD ausgeschlossen, als dass der Verein nicht aktiv in Entscheidungsprozesse mit einbezogen wird: »Stattdessen mussten wir aber feststellen, dass nicht alle in der Community aktiv in verschiedene Entscheidungsprozesse einbezogen wurden, sondern viele Planungen ohne Transparenz oder Offenheit stattfanden und erst relativ spät öffentlich oder halb-öffentlich bekannt gegeben bzw. zur Diskussion gestellt wurden.« (Lesbenberatung Berlin eV./LesMigraS 2014a : 1) Weitere Praktiken des CSD, durch die LesMigraS sich nicht repräsentiert sieht, sind, dass der CSD »inklusiv ist, wenn es ins Programm passt«, »sich entwicklungspolitisch zu anderen Ländern« äußert und als »eindimensionaler Feiertag zelebriert wird«. LesMigraS beteiligt sich in diesem Jahr nicht an den CSD-Veranstaltungen, weil der Verein – so die Aussage der Pressemitteilung – in und durch die Praktiken des CSD von der Teilhabe an ihm ausgeschlossen ist. Die Pressemitteilung bleibt aber nicht bei einer Kritik an den ausschließenden Praktiken des CSD stehen. LesMigraS fordert im Sprechen über die Nichtteilnahme einen CSD, zu dem der Verein Ja sagen kann, indem er einen »performativen Widerspruch« (Butler 2006: 142) geltend macht. In dem Buch Hass spricht (2006) zeigt Butler auf, wie Gruppen, die aus dem vermeintlich Universalen ausgeschlossen sind, ein Universales fordern, das sie einschließen soll, indem sie auf den exklusiven und damit widersprüchlichen Charakter des Universalen verweisen:

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»Denken wir zum Beispiel an jene Situation, in der Subjekte, denen durch bestehende Konventionen, die die exklusive Definition des Universalen regeln, politische Rechte verweigert wurden, die Sprache der politischen Befreiung anstimmen und einen ›performativen Widerspruch‹ auf den Plan rufen, indem sie nämlich fordern, daß das Universalen auch sie einschließen soll, womit sie den widersprüchlichen Charakter der bisherigen konventionellen Formulierungen des Universalen augenfällig machen.« (Ebd.: 142) So spricht auch LesMigraS als Ausgeschlossener im Namen des CSD, der vermeintlich die ganze Community repräsentiert, um in diesem (un-)möglichen Sprechen die eigene Teilhabe einzufordern. »Jemand, der nicht autorisiert ist, in dem oder als das Universale zu sprechen«, erhebt »trotzdem Anspruch« darauf (ebd.: 145). Diejenigen, die nicht Teil des Universalen – in dem Fall Teil der CSD-Community, die alle LGBTIQ*-Gruppen zu repräsentieren vorgibt – sind, sprechen im Namen der Universalität, um den Einschluss in sie zu fordern. LesMigraS macht diesen performativen Widerspruch geltend, wenn der Verein in der Wir-Form davon spricht, was der CSD verändern muss: »Wir finden es wichtig, uns grundlegend über Empowerment, Sensibilität für Diskriminierung und gesellschaftliche Veränderung auszutauschen. […] Wir brauchen dringend einen Perspektivwechsel. Es muss darum gehen, People of Color, behinderte Menschen, Menschen mit Klassismuserfahrungen etc. in den Mittelpunkt unserer politischen Arbeit zu stellen […].« (Lesbenberatung Berlin eV./LesMigraS 2014a: 2) Gefordert wird also eine Veranstaltung, zu der LesMigraS Ja sagen kann. Ein CSD im Sinne von LesMigraS zeigt »ein mehrdimensionales und gesellschaftskritisches Engagement für ein selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt und Diskriminierung«, schließt sich »Kämpfen vor Ort« an, lädt alle Gruppen »aktiv« zur Teilhabe an Entscheidungsprozessen ein, rückt »ganzjährlich« »mehrdimensionales Empowerment« in den Fokus und stellt »People of Color, behinderte Menschen, Menschen mit Klassismuserfahrungen etc. in den Mittelpunkt« der politischen Arbeit. Anstatt sich den Anordnungen des CSD durch eine Teilnahme zu unterwerfen, fordert LesMigraS den Einschluss dessen, was in den »Anrufungen« desselben nicht aufgeht. Der Verein macht so die diskursiven Praktiken, durch die die CSD-Gemeinschaft hergestellt wird, selbst zum Ort der Verhandlungen und Öffnungen – also des Politischen. Indem LesMigraS sich der Art und Weise, wie ihm der CSD auf einen Platz verweisen will, nicht unterwirft, macht er die politische Gemeinschaft des

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CSD selbst zu einem umkämpften Ort. Damit wird das Politische von einer teilweise auf Schließung abzielenden Gemeinschaft zum Ausgangspunkt der politischen Teilhabe, es wird nunmehr verschoben auf den Kampf um die Öffnung eben jener Schließungen. LesMigraS arbeitet – ähnlich wie Muñoz (1999: 11) es mit dem Konzept der disidentification beschreibt – gleichzeitig »an-, mit und gegen« die Anrufungen des CSD, wenn der Verein gleichzeitig ja und nein zu den Anrufungen der CSD-Community sagt. In der Forderung nach Einschluss der Ausgeschlossenen stellt LesMigraS allerdings umgekehrt eine gewisse Schließung her, indem die Forderungen an den CSD identisch sind mit dem was LesMigraS selbst politisch will und macht. Die in der Pressemitteilung geäußerten Forderungen nach einem »mehrdimensionalen Empowerment« »für ein selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt und Diskriminierung«, »People of Color, behinderte Menschen, Menschen mit Klassismuserfahrungen etc. in den Mittelpunkt« der Arbeit rücken, sind wesentliche Bestandteile und Bestimmungen dessen, was der Verein selbst im Zuge seiner Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeit der Lesbenberatung umsetzt beziehungsweise umsetzen will. Das was LesMigraS für den CSD fordert ist identisch mit dem was für die Arbeit des Vereins zentral ist. Im Fokus der Arbeit von LesMigraS stehen – wie beispielsweise im eigenen »Selbstverständnis« beschrieben – Konzepte wie »Empowernment« und »Mehrfachdiskriminierung«. Im »Antigewalt- und Antidiskriminierungsbereich« ist es ein wesentliches Ziel des Vereins, »Gewalt- und Diskriminierung« zu verhindern, also ein »selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt und Diskriminierung« – wie es als Ziel für den CSD gefordert wird – möglich zu machen. Auf der einen Seite verweigert der Verein sich von den »Anrufungen« des CSD auf einen Platz verweisen lassen. Auf der anderen Seite fordert LesMigraS umgekehrt einen CSD, dessen gemeinschaftskonstituierenden diskursiven Praktiken (beinahe) identisch mit denen von LesMigraS sind. Also einen CSD der sich von LesMigraS auf einen Platz verweisen lässt. Sie konstituieren sich selbst im Verhältnis zum CSD als eine politische Gemeinschaft, für die der Ort des Politischen in den Aushandlungsprozessen um den CSD liegt: eine Gemeinschaft, die den Einschluss in den vermeintlich die ganze Community repräsentierenden CSD fordert, indem unter anderem ein performativer Widerspruch geltend gemacht wird. Gleichzeitig stellt LesMigraS sich selbst als eine Gemeinschaft her, deren Art zu arbeiten auch für den CSD eingefordert wird. Das was LesMigraS in der eigenen Arbeit macht und will sollte auch der CSD machen und wollen. Wie aber lässt sich nun das Verhältnis zwischen den Aushandlungsprozessen aktueller queerer Projekte und insbesondere denen von

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LesMigraS im Kontext aktueller CSD-Veranstaltungen und dem umkämpften Stonewall-Inn-Narrativ beschreiben?

Fazit Aktuelle CSD-Veranstaltungen sind – ähnlich wie die Erinnerungen an Stonewall – Orte kritischer Auseinandersetzungen. In diesen Auseinandersetzungen geht es auch darum, welche politische Gemeinschaft wie hergestellt wird. Dabei verweisen die Auseinandersetzungen von LesMigraS darauf, dass eine bestimmte Art und Weise, die Vergangenheit zu definieren, ein relativ stabiles Wir herzustellen vermag. Das zeigt sich beispielsweise insofern, als dass LesMigraS, 45 Jahre nach dem die ersten Erinnerungen zu den Stonewall Protesten eingeschrieben wurden, vom CSD fordert diejenigen Gruppen mitzudenken, die zum Teil auch aus ebendiesen Erinnerungen an Stonewall außen vorgelassen wurden: Sexarbeiter*innen, People of Color, trans* Personen und viele andere. Gleichzeitig kann durch eine andere Art, Stonewall zu erinnern, auch eine andere Erinnerungsveranstaltung gefordert werden. Während in dem beispielhaft angeführten Diskursfragment von LesMigraS die Erinnerungspolitiken zu Stonewall nur der Anlass der Pressemitteilung waren, verweist der Verein in einer anderen Pressemitteilung explizit auf eine alternative Erzählung von Stonewall: »Stonewall war ein Aufstand gegen rassistische, trans* diskriminierende, klassistische und homophobe Polizeigewalt. Bei Stonewall waren vor allem Trans*, Drag Queens, LSBTI of Color und Sexarbeiter_innen beteiligt. […] Bei Stonewall ging es um Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierungserfahrungen. Wer sich den Begriff Stonewall zu eigen macht, muss an diese Geschichte anknüpfen.« (Lesbenberatung Berlin eV./LesMigraS 2014b: 1) LesMigraS rekurriert auf die Vergangenheit, in der es um »Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierungserfahrung« gegangen sei, um einen anderen, »offeneren« CSD zu fordern. Nicht nur LesMigraS, sondern auch die anderen queeren Projekte, deren Bewegungsmaterialien Teil des Materialkorpus sind, beziehen sich explizit auf alternative Erzählungen von Stonewall, um einen CSD einzufordern, zu dem sie Ja sagen können. Die alternativen Geschichten stützen dabei häufig eigene aktuelle Forderungen.

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So verweist beispielsweise TransInterQueer in einer Rede zum Transgenialen CSD 2013 darauf, dass Stonewall nicht der Anfang war, und dass es nie nur schwul-lesbische Kämpfe waren: »Die Straßenkämpfe vor Compton’s Cafeteria 1966 und dem Stonewall Inn 1969, stehen für den Schulterschluss von Drag Queens, Cross Dressern, Transsexuellen, Transgendern, Butches, Queers, Schwulen, Lesben, Femmes, Sexarbeiter_innen und Bi Personen […].« (TransInterQueer eV. 2013: 1) Indem Trans Inter Queer Bezug nimmt auf diese Art Stonewall zu erinnern, gibt der Verein den eigenen Forderungen nach Bündnissen mit trans*- und Inter* Gewicht. Auf der einen Seite scheint sich das Wir, dass durch die Erinnerungen von Stonewall als Geburtsstunde des schwul-lesbischen Aktivismus hergestellt wird, relativ stabil zu halten. Die widerständigen Positionierungen von LesMigraS, aber auch von anderen queeren Projekten verweisen darauf, dass ein Einschluss derjenigen Gruppen, die in den Erinnerungspolitiken unter die Kategorie schwul-lesbisch subsumiert wurden auch 50 Jahre nach Stonewall nicht selbstverständlich ist. Auf der anderen Seite gibt es eine Geschichte, die auch anders erinnert werden kann. Die queeren Erzählungen von Stonewall unterstützen die Forderungen der Projekte nach Einschlüssen und Bündnissen. Dabei werden die alternativen Narrative zum Teil wieder vereindeutigt. Die Frage, ob darin eine notwendige politische Strategie liegt und/oder ob es sich um eine umgekehrte Form der Schließung handelt, ist diskutierbar. Gerade dann wenn eine Geschichte aus den hegemonialen Regimen der Sagbarkeit ausgelöscht ist, kann es, wie Spivak (2008) ausführt, strategisch notwendig sein, eben diese neu zu erzählen. Bereits in den 1990er Jahren konstatiert Seyla Benhabib, dass ein Tod der »großen Geschichtserzählungen« einer »engagierten feministischen Theoriebildung« entgegensteht (Benhabib 1993: 18). Die ausgeführten Darstellungen zeigen in Bezug auf den queeren Aktivismus die zentrale identitätsstiftende/gemeinschaftskonstituierende Wirkung eigener Geschichten. Sie laufen aber auch Gefahr – darauf verweist eine postmoderne Kritik an »großen Geschichtserzählungen«, erneut zu totalisieren. Es zeigt sich, dass auch in den Erzählungen über die Widerstände gegen Geschlechterverhältnisse nicht immer einfach ist gleichzeitig Metaerzählungen abzulehnen und auf »fallibilistische« und »nicht-fundamentale« Art die eigene Geschichte zu erzählen (Fraser 1993: 63). So sehr die Kämpfe um Erinnerungen zwar einerseits notwendig sind, bedarf es andererseits womöglich auch, oder gleichzeitig, andere Strategien.

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Eine Strategie der radikalen Enthistorisierung und Entkontextualisierung einer »Geste, die zum Ereignis wird« (Butler 2019: 64), könnte so eine weitere Möglichkeit, die performativen Grundlagen politischen Handelns zu unterbrechen, sein.

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Räume der Neuen Frauenbewegung am Beispiel Südtirol1 Andrea Urthaler

Dass Räume nicht geschlechtsneutral, sondern »vergeschlechtlicht« sind, gilt sowohl in der Raum- als auch in der Geschlechterforschung als kaum umstrittene These. Geschlechterverhältnisse sind demnach in räumliche Strukturen eingeschrieben (vgl. Becker 2010: 806). Bei den Kategorien Raum und Geschlecht handelt es sich zudem um Kategorien, die jeweils eng mit Machtverhältnissen verwoben sind. Das zeigt sich etwa an noch erhaltenen architektonischen Zeugnissen – von Einzelbauten bis hin zu gesamten Stadtplanungen – diverser historischer Epochen. So sind auch die sozialen Bewegungen der ausgehenden 1960er Jahre in vielfacher Hinsicht mit den Kategorien Raum und Geschlecht verwoben. Dies gilt auch für die Neue Frauenbewegung der westlichen Welt, deren Entstehung wesentlich auf die ungleiche Verteilung von Machtverhältnissen zurückzuführen ist, die wiederum in räumlichen Strukturen zum Ausdruck kommt. Gerade für die Neue Frauenbewegung waren verschiedene Räume sowie deren aktive Besetzung und Veränderung von besonderer Bedeutung. So sind das Entstehen von Frauenräumen und die Aneignung des öffentlichen Raums durch Frauen charakteristisch. Die Neue Frauenbewegung hat als soziale Bewegung bis heute nicht mehr wegzudenkende Spuren in verschiedenen gesellschaftlichen Räumen hinterlassen. Als Neue Frauenbewegung wird im Folgenden, zunächst sehr abstrakt, jener »kollektive Handlungszusammenhang von Menschen, die für Gleichheit

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Der vorliegende Aufsatz entstand als Teil des am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck angesiedelten, von der Stiftung Südtiroler Sparkasse finanzierten und von Dirk Rupnow betreuten Forschungsprojekts »Die Neue Frauenbewegung in Südtirol«.

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und Anerkennung für Frauen in allen Teilbereichen der Gesellschaft eintreten« (Schulz 2019: 911), bezeichnet, der sich seit den 1960er Jahren in verschiedenen Teilen und auf unterschiedlichen Ebenen der westlichen Welt formierte. Das zentrale Anliegen der Neuen Frauenbewegung war der Einsatz für die Gleichberechtigung der Geschlechter und damit gegen geschlechtsbedingte Diskriminierung. Ihre grundlegendste Forderung richtete sich auf die weibliche Selbstbestimmung auf unterschiedlichen Ebenen, allen voran die über den eigenen Körper. Am sichtbarsten wird diese am Einsatz der Bewegung für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und die Information über Schwangerschaftsverhütung sowie an den Kämpfen gegen die Gewalt an Frauen. Um ökonomische Selbstbestimmung hingegen ging es in den Debatten der Bewegung, die rund um das Thema Arbeit von Frauen geführt wurden, sei es die Forderung nach Lohn für Haus- und Reproduktionsarbeit oder nach gleichberechtigter Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit. Obwohl der Begriff Neue Frauenbewegung meist im Singular verwendet wird, ist diese soziale Bewegung unter anderem wegen ihrer vielfältigen, differenzierten Ausprägungen, ihrer großen Zeitspanne, der vielen und unterschiedlichen Akteurinnen, die sich in ihr engagierten, und der Bandbreite der in diesem Kontext benannten und bearbeiteten Themenbereiche im Plural zu denken (vgl. Lenz 2010: 19). Dieser Vielfalt soll in diesem Beitrag Rechnung getragen werden, indem der Begriff kursiv dargestellt wird. Außerdem ist diese soziale Bewegung, wie es die Zeithistorikerin Kristina Schulz ausdrückt, ohne »ihre historischen Vorläufer nicht zu denken« (Schulz 2019: 913). Raum wird in diesem Beitrag nach der Soziologin Martina Löw als »relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten« verstanden, der durch zwei »analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung« (Löw 2017: 271), konstituiert wird. Die Kategorie Raum wird demnach sozial produziert. Sie strukturiert die Gesellschaft, wird durch diese wiederum selbst strukturiert und befindet sich dabei in dauernder Veränderung. Der Begriff des Raumes bietet in diesem Verständnis einen komplexen Rahmen, vor dessen Hintergrund Räume in ihrer sozialen und materiellen Praxis, aber auch medialen Präsenz und Vermittlung analysiert werden können. Der Beitrag setzt sich mit verschiedenen Räumen der Neuen Frauenbewegung in Südtirol auseinander und untersucht das Zusammenspiel von Raum, Geschlecht und Macht. Konkret werden die Wechselwirkungen zwischen öffentlich und privat, die Besetzung und Umdeutung öffentlicher Räume

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durch die Neue Frauenbewegung sowie die räumliche Anordnung dieser regionalen Bewegung im Stadtbild von Bozen thematisiert. Der Beitrag ist der Geschlechtergeschichte2 zuzuordnen und daher interdisziplinär angelegt. Es werden sowohl Ansätze aus der Geschichtswissenschaft, insbesondere der Zeitgeschichte nach Hans Rothfels3 , als auch der sozialwissenschaftlichen Stadt- und Raumforschung nach Susanne Frank4 herangezogen.

Raum und Geschlecht Die Soziologin Martina Löw setzt sich in ihren Arbeiten intensiv mit dem soziologischen Raumbegriff auseinander. Löw geht dabei der Frage nach, wie Raum als Grundbegriff der Soziologie präzisiert werden kann. Im Einklang mit anderen modernen Ansätzen der Raumsoziologie distanziert sie sich von der absoluten und essenzialistischen, ursprünglich aus der Antike stammenden Vorstellung vom Raum als »Behälter«, der »Dinge, Lebewesen, Sphären« (Löw 2017: 24ff.) und soziale Prozesse umschließt sowie naturgegeben und unveränderbar ist. Stattdessen wendet sie sich einem sozial konstruierten Raumbegriff zu und definiert Raum als relational. Raum wird laut Löw durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse konstituiert: das Spacing und die Syntheseleistung (vgl. Löw 2017: 271). Unter Spacing versteht sie »das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen«, zusammengefasst das »Errichten, Bauen und Positionieren« (Löw 2017: 158).

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Geschlechtergeschichte hat nach Claudia Opitz-Belakhal den Anspruch, die klassischen Methoden der Geschichtswissenschaft zu kritisieren, zu reformieren und somit »die Geschichte umzuschreiben« (Opitz-Belakhal 2018: 9). Geschlechtergeschichte ist demnach interdisziplinär und bezieht ihre Anregungen aus unterschiedlichen Disziplinen und Theorien (vgl. ebd.). Zeitgeschichte wird hier im Verständnis der im deutschsprachigen Raum klassischen Definition von Hans Rothfels als »die Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung« (Rothfels 1953: 2) verstanden. Die sozialwissenschaftliche Stadt- und Raumforschung untersucht demnach »die anhaltende (Re-)Produktion von Räumen (und deren Folgen) in ihren vielfältigen historischen, ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen, materiellen, symbolischen, diskursiven, performativen, institutionellen, normativen und regulatorischen Dimensionen und betrachtet deren Zusammenwirken« (Frank 2019: 1348).

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Bei beweglichen Gütern und bei Menschen bezeichnet Spacing »sowohl den Moment der Platzierung als auch die Bewegung zur nächsten Platzierung« (Löw 2017: 158ff.). Unter Syntheseleistung versteht sie die Zusammenfassung von Gütern und Menschen zu Räumen über Wahrnehmungs-, Vorstellungsund Erinnerungsprozesse. Die Syntheseleistung »ermöglicht es, dass Ensembles sozialer Güter oder Menschen wie ein Element wahrgenommen, erinnert oder abstrahiert werden und dementsprechend als ein ›Baustein‹ in die Konstruktion von Raum einbezogen werden« (Löw 2017: 159). Räume sind demnach Ergebnisse sozialer Prozesse und sozialer Praxis. Und auch bei der Kategorie Geschlecht handelt es sich um eine sozial konstruierte Kategorie, die ebenso wenig wie die Kategorie Raum naturgegeben ist. Darüber ist sich die mittlerweile sehr ausdifferenzierte Geschlechterforschung einig. Zweigeschlechtlichkeit gilt als Ergebnis historischer Entwicklungen und fortlaufender sozialer Praxis, die die Kategorie Geschlecht immer wieder neu (re)produziert. Diverse Konzepte, wie das aus der interaktionstheoretischen Soziologie stammende Konzept des Doing Gender, unterstreichen dies und stellen soziale Prozesse, in denen die Kategorie Geschlecht als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird, ins Zentrum ihrer Untersuchungen (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992). Trotzdem ist Zweigeschlechtlichkeit als Ordnungssystem nach wie vor im Alltagswissen und in der Alltagspraxis präsent (vgl. Ruhne 2011: 109, 115, 121). Auch die Zusammengehörigkeit von biologischem und sozialem Geschlecht, Sex und Gender, ist nach wie vor in vielen gesellschaftlichen Strukturen verankert. Gemeinsam ist den Kategorien Raum und Geschlecht also, dass es sich um offene, dynamische und wandelbare soziale Konstruktionen handelt. Wie die beiden Kategorien ineinandergreifen, wird nachfolgend am Beispiel Südtirol erläutert.

Autonome Provinz Bozen-Südtirol Betrachtet wird die heutige Autonome Provinz Bozen-Südtirol, das heißt jener geografische und politische Raum, wie er 1948 mit dem ersten Autonomiestatut, damals als Tiroler Etschland, definiert wurde. Südtirol ist die nördlichste Provinz Italiens. Sie grenzt an das österreichische Bundesland Tirol,

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den Schweizer Kanton Graubünden und die italienischen Provinzen Trentino, Sondrio und Belluno. Südtirol ist ein vor allem ländlich geprägtes Gebiet ohne wirkliche Großstädte. Neben der geografischen Lage – es liegt an der Schnittstelle vom deutschzum italienischsprachigen Raum – weist das Gebiet einige weitere Besonderheiten auf: Es besteht eine Minderheitensituation im doppelten Sinn. Innerhalb des nationalen Kontextes stellt Südtirol eine deutsch- und ladinischsprachige Minderheit. Innerhalb Südtirols wiederum stellt die italienischsprachige Bevölkerung (ca. 25 Prozent der Gesamtbevölkerung) eine Minderheit dar.5 Es treffen also, ohne die in den Statistiken als »Sonstige« bezeichneten mitzuzählen, drei Sprachgruppen aufeinander. Zudem hat Südtirol eine von Nationalismus, italienischem Faschismus und deutsch-österreichischem Nationalsozialismus geprägte Geschichte, die auch im Zusammenleben der Sprachgruppen und in verschiedenen Räumen zum Ausdruck kommt. Inzwischen gilt Südtirol als Erfolgsmodell für ein friedliches Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen. Zur Erklärung bedarf es eines kurzen Blicks in die Geschichte der heutigen Autonomen Provinz Bozen-Südtirol.

Historische Entwicklung Die Geschichte des heutigen Südtirols begann 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem damit verbundenen Zusammenbruch der Donaumonarchie, der Tirol, einschließlich des italienischsprachigen Welschtirols und des heutigen Südtirols, über Jahrhunderte angehört hatte (vgl. Peterlini 2012: 11ff.). Der Vertrag von Saint Germain regelte die territoriale Aufteilung des Gebietes nicht entlang der Sprachgrenze an der Salurner Klause, sondern, wie der Innsbrucker Zeithistoriker Rolf Steininger es bezeichnet, »willkürlich« (Steininger 2014: 17) am Brenner, womit ein Minderheitenproblem geschaffen wurde. Von 1922 bis 1943 erlebte die Region eine mit Gewalt verbundene Italianisierungspolitik durch Benito Mussolini und sein faschistisches Regime. Nachdem die zunächst eingeleitete Entnationalisierungspolitik gescheitert war, wurde

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Die genauen Zahlen können in der Broschüre »Südtirol in Zahlen« nachgelesen werden. Die Publikation wird jährlich vom Landesinstitut für Statistik der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol (ASTAT) in einer zweisprachigen (deutsch/italienisch), einer ladinischen und einer englischen Ausgabe (nur digitale Version) herausgegeben (https:// astat.provinz.bz.it/de/suedtirol-in-zahlen.asp [zuletzt abgerufen am 18.02.2020]).

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in den 1930er Jahren mit der politischen Maßnahme der Majorisierung begonnen: Die deutschsprachige Mehrheit sollte entweder durch eine italienischsprachige Mehrheit ersetzt oder zumindest mit einer sehr starken italienischsprachigen Minderheit ›vermischt‹ werden (vgl. Steininger 2014: 39ff., vgl. Peterlini 2012: 42ff.). Die dazugehörigen politischen Maßnahmen wirkten sich vor allem auf die Stadt Bozen aus, die sich in nicht einmal 20 Jahren von einer noch stark ländlich geprägten Stadt mit 33.920 überwiegend deutschsprachigen Einwohner*innen (1922) zu einer Mittelstadt entwickelte, in der 1939 bereits 67.500 Menschen lebten, von denen 48.000 der italienischen Sprachgruppe angehörten. Eine dritte Phase der faschistischen Politik in Südtirol wurde mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen (Optionsabkommen) 1939 eingeleitet, das von 1940 bis 1943 zu einer Auswanderung von etwa 75.000 deutschsprachigen Südtiroler*innen führte (vgl. Dunajtschik/Mattioli 2010: 87f.). Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1943 nach dem Sturz Mussolinis machte Südtirol für knapp 20 Monate de facto zu einem Teil des »Dritten Reiches«. Diese Zeit wurde noch lange von vielen deutschsprachigen Südtiroler*innen als ›Befreiung‹ vom Faschismus empfunden und der Nationalsozialismus verharmlost beziehungsweise sogar aktiv unterstützt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die katholisch-konservative Südtiroler Volkspartei (SVP) gegründet, eine Sammelpartei, die damals wie heute den Anspruch erhebt, die deutsch- und ladinischsprachige Minderheit zu vertreten. Die darauffolgenden Jahre waren geprägt von Autonomiebestrebungen, die nach jahrelangen Verhandlungen 1969 mit der sogenannten Paketlösung und 1972 mit dem zweiten Autonomiestatut ein erfolgreiches Ende nahmen. Das zweite Autonomiestatut wurde zur Grundlage für die heutige Autonomie und den wirtschaftlichen Aufschwung der Provinz (vgl. Steininger 2014: 143ff., Peterlini 2012: 109ff.). In die Endphase dieser Entwicklungen fiel auch das Jahr 1968, dessen Ausprägungen in Südtirol stark von diesen Zusammenhängen beeinflusst waren. Seit 1963 hatte sich die innenpolitische Situation in Italien verändert. Die bisherige Mitte-Rechts-Regierung wurde von verschiedenen Mitte-LinksRegierungen unter Ministerpräsident Aldo Moro abgelöst. Neben dem Kampf um die Autonomie kamen zu Beginn der 1960er Jahre verspätete wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierungsbestrebungen auf. Zudem gehörte Italien neben den USA, Frankreich und der BRD zu den Ländern, in denen die Studentenbewegung besonders heftig ausschlug. Die kleine sozialwissenschaftliche Universität von Trient stellte ein bedeutendes Zentrum dieser

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dar.6 Die Ausprägungen von 1968 in Südtirol werden kontrovers diskutiert. So vergleicht die Historikerin Birgit Eschgfäller 1968 in Südtirol etwa mit einem »starken Luftzug«, der Historiker Hans Heiss hingegen spricht von einer »heiße[n] Viertelstunde« (Eschgfäller 2018: 360).

Spuren der Geschichte im Raum Teile dieser Geschichte sind heute in verschiedenen Raumstrukturen Südtirols sichtbar. Besonders deutlich sind die Spuren in der Landeshauptstadt Bozen zu erkennen. So zeugen einzelne Bauten und ganze Stadtteile Bozens von der symbolischen Raumbesetzung Mussolinis. Hier kam gezielt Architektur zum Einsatz. Das markanteste und umstrittenste Relikt dieser Zeit ist ein überdimensioniertes, in Form eines antiken römischen Triumphbogens gestaltetes Siegesdenkmal im Zentrum von Bozen, das den Sieg Italiens im Ersten Weltkrieg und den darauf gründenden Besitzanspruch auf das überwiegend deutschsprachige Südtirol zum Ausdruck bringen sollte. Mit dieser Architekturpolitik wurde gleichzeitig die Voraussetzung für eine italienischsprachige Infrastruktur geschaffen. Bis heute ist die Stadt zweigeteilt, der Fluss Talfer stellt dabei eine imaginäre Grenze zwischen deutscher und italienischer Sprache dar. Einer spätmittelalterlichen österreichischen Altstadt steht eine italienisch geprägte Neustadt gegenüber. Architektonische Relikte des Faschismus gibt es nicht nur in Bozen, sondern vereinzelt auch an anderen Stellen in Südtirol. Dazu gehören auch drei imposante Ossarien7 in der Nähe der österreichischen Grenze (vgl. Dunajtschik/Mattioli 2010: 87ff.). Aber nicht nur der italienische Faschismus hat sich in räumlichen Strukturen verfestigt, sondern auch die Autonomie. So gibt es heute in Südtirol für alle drei Sprachgruppen eigene Kindergärten und Schulen. In ihnen wird auch die jeweilige Zweitsprache unterrichtet. Ein legistisch verankertes Proporzsystem regelt das Zusammenleben der drei Sprachgruppen: die politische Vertretung, die Personalbesetzung im öffentlichen Dienst und die Verteilung bestimmter öffentlicher Ressourcen. Dementsprechend muss auch die 6

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Die erst junge Universität Trient bildete eines der Hauptzentren der italienischen Studentenbewegung. Mit ihr hatten die einheimischen Protestierenden ein Vorbild an zeitgemäßer Rebellion vor der Haustür, welches mangels einer Südtiroler Universität auf die dortigen Oberschulen überschwappte (vgl. Peterlini 2012: 216ff.). Der italienische Faschismus nutzte moderne, imposante Ossarien (Beinhäuser) unter anderem als symbolische Grenzwächter für die nach dem Ersten Weltkrieg zugesprochenen Gebiete (vgl. unter anderem Steinacher 2010).

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Südtiroler Landesregierung dem zahlenmäßigen Verhältnis der Sprachgruppen entsprechen. Die Sprachverteilung spiegelt sich auch in der Medienlandschaft wider: So gibt es für alle drei Sprachgruppen Hörfunk- und Fernsehprogramme ebenso wie Zeitungen und Zeitschriften.

Die Neue Frauenbewegung in Südtirol. Ein Überblick Im historischen Umfeld der gesellschaftspolitischen Ereignisse, die unter der Chiffre 1968 in die Geschichte eingegangen sind, bildeten sich an vielen Orten feministische Bewegungen, die als Neue Frauenbewegung bezeichnet werden. Die Bewegung in Südtirol ist allerdings bisher wenig erforscht.

Die Anfänge der Bewegung Der Beginn der Neuen Frauenbewegung in Südtirol wird mit der Entstehung der autonomen Frauengruppe »Alexandra Kollontaj« 1971/72 markiert. Die Gruppe benannte sich nach der gleichnamigen russischen Revolutionärin, Diplomatin und Schriftstellerin. Dieses bis heute existierende Kollektiv war die ›konstanteste‹ autonome feministische Gruppe der Neuen Frauenbewegung in Südtirol und hat diese wesentlich geprägt. Die spätere Politikerin Andreina Emeri war von Beginn an und bis zu ihrem frühen Tod (1985) Teil dieses Kollektivs und gilt als Pionierin der Neuen Frauenbewegung in Südtirol. Die damals im Kollektiv aktiven Südtirolerinnen gehörten fast alle der italienischen Sprachgruppe an, hatten in italienischen Städten studiert und orientierten sich an den Ideen der neuen linken Gruppierungen Italiens, vor allem an der Gruppe Il Manifesto, die sich 1969 im ›heißen Herbst‹ um die aus dem Partito Comunista Italiano (PCI, Kommunistische Partei Italiens) ausgeschlossenen Funktionär*innen Luigi Pintor und Rossana Rossanda gegründet hatte. Die Frauen der Gruppe Kollontaj bezogen sich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis stark auf den nationalen Kontext. Sie verstanden sich als colletivo (Kollektiv) und agierten dementsprechend. Neben ihren wöchentlichen Treffen in privaten Räumlichkeiten waren sie auch in der Öffentlichkeit aktiv und bereiteten wie andere autonome Frauengruppen Demonstrationen vor oder organisierten Flugblattaktionen, Tagungen, Seminare, Kurse, Lesungen, Vorträge und Diskussionen (vgl. Clementi 2002: 114ff., Facchinelli/Rabini 2008: 54ff., Spada 2008: 76ff., Urthaler 2013: 12).

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Im Jahr 1973 wurde auf ihre Initiative hin die erste Frauenberatungsstelle Südtirols, ein Ableger der Associazione Italiana per l’Educazione Demografica (AIED, Italienische Vereinigung zur Heranbildung eines demografischen Bewusstseins), am Bozner Obstmarkt eröffnet und zunächst ohne öffentliche Gelder von der Frauengruppe geführt (vgl. Facchinelli/Rabini 2008: 72-77). Anfang der 1970er Jahre war die Gruppe Alexandra Kollontaj die, nach derzeitigem Forschungsstand, einzige autonome Frauengruppe Südtirols und stellte in den Anfangsjahren sozusagen allein die Neue Frauenbewegung des Landes dar. Zuvor gab es in Südtirol bereits einen Ableger des nationalen Frauenbundes Unione Donne Italiane (UDI), der sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus den in der italienischen Widerstandsbewegung aktiven Gruppi di difesa della donna (Frauenverteidigungsgruppen) entwickelt hatte und eng mit dem PCI verbunden war (vgl. Clementi 2002: 112). Auf konservativer Ebene gab es eine Frauenbewegung innerhalb der deutsch- und ladinischsprachigen Sammelpartei Südtiroler Volkspartei (SVP). Diese wurde 1964 im Zuge von Modernisierungsbestrebungen der Partei, welche sich in einer umfassenden Statutenreform ausdrückten, top-down festgelegt. Erst zwei Jahre später, 1966, beauftragte der damalige Landeshauptmann, Silvius Magnago, Waltraud GebertDeeg (SVP) mit dem Aufbau der parteiinternen Frauenbewegung. GebertDeeg war 1964 gemeinsam mit Lidia Menapace (damals Democrazia Cristiana, DC, christdemokratische Partei) als erste Frau in den Südtiroler Landtag gewählt worden (vgl. SVP-Frauenbewegung 2006).

Ausweitung der Bewegung Ab Mitte der 1970er Jahre entwickelten sich mehrere parteiunabhängige Frauengruppen in Südtirol. Zudem breitete sich die Neue Frauenbewegung auch auf den ›deutschsprachigen Raum‹ der Provinz aus. Neben der Bozner Frauengruppe Kollontaj entstand eine Frauengruppe in Meran und eine weitere in Bruneck. Daneben entwickelten sich Frauengruppen innerhalb der linksorientierten Zeitschrift Südtiroler Volkszeitung (SVZ) und der Südtiroler Hochschülerschaft, der Vertretung der Südtiroler Studierenden mit Untergruppen in verschiedenen Universitätsstädten innerhalb Österreichs und Italiens. Zudem gab es auch Frauengruppen in Dörfern und 1978 schlossen sich in Südtirol die Frauen für Frieden zusammen.

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Rechtliche Reformen Mit Beginn der 1970er Jahre kam es auf nationaler Ebene zu wesentlichen Reformen im Familienrecht. 1970 verabschiedete das italienische Parlament das Gesetz zur Einführung der Ehescheidung. Dies stellte eine bedeutende Errungenschaft für die Frauen dar, da es auf eine gleiche Regelung der Scheidung für beide Ehepartner/innen ausgerichtet war. Das Gesetz sorgte für große Aufregung. Schon bald nach seinem Erlass bildeten sich italienweit zwei Blöcke: Scheidungsgegner*innen (Anhänger*innen der Konservativen) und Scheidungsbefürworter*innen (divorzisti). Erstere forderten und erreichten 1974 schließlich ein Referendum zur Aufhebung des neuen Scheidungsgesetzes, dessen Ausgang jedoch eine klare Niederlage für die Scheidungsgegner*innen darstellte. Die autonome Frauenbewegung, mit ihr auch die Bozner Gruppe Kollontaj, setzte sich für die Beibehaltung des Gesetzes ein. 1975 wurde das Familienrecht in Italien reformiert. Die wichtigste Veränderung dabei war die legistische Verankerung der gleichberechtigten Beziehung zwischen Mann und Frau und die damit verbundene Abschaffung des männlichen Privilegs, alleiniges Familienoberhaupt zu sein (vgl. Spada 2008: 132ff.). Mitte der 1970er Jahre wurde auch in Italien die Aufhebung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu einem zentralen Thema der Frauenbewegung. 1974 startete die Radikale Partei, die 1955 als linke Abspaltung aus dem bürgerlich-liberalen Partito Liberale Italiano hervorgegangen war und dem linksalternativen Spektrum zugeordnet werden kann, eine Kampagne für ein Referendum zur Abschaffung der entsprechenden Bestimmungen. Italienweit organisierte die Neue Frauenbewegung Demonstrationen und forderte lautstark die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Auch die Südtiroler Frauenbewegung beteiligte sich an den nationalen Kampagnen. Frauengruppen aus dem konservativen Lager sprachen sich hingegen gegen die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs aus. Die politischen Parteien des Landes reagierten auf die massiven Forderungen der italienischen Frauenbewegung durch Zugeständnisse im Bereich der Familienplanung und durch das Gesetz Nr. 405 (1975), das die Einrichtung von öffentlichen Familienberatungsstellen vorsah. Im Mai 1978 wurde vom italienischen Parlament, auf Druck von 500.000 Unterschriften für ein Referendum zur Abschaffung der Strafrechtsbestimmungen im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs, das neue Gesetz Nr. 194 erlassen, das die Möglichkeit eines freiwilligen Abbruchs innerhalb der ersten

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90 Tage in öffentlichen Krankenhäusern vorsah (vgl. etwa Spada 2008). Das Gesetz beinhaltete aber eine Klausel, die es ermöglichte, dass sowohl Ärzte als auch das Krankenhauspersonal die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen aus Gewissensgründen verweigern konnten. Der Großteil der Ärzte machte davon Gebrauch – auch in Südtirol. Von konservativer Seite wurden schon bald Forderungen nach Abschaffung des Gesetzes laut. Die Debatte erreichte im Mai 1981 mit zwei Referenden ihren Höhepunkt: Die Radikalen forderten eine Ausdehnung der Abtreibungsmöglichkeiten, die von der katholischen Kirche getragene Bewegung für das Leben eine Einschränkung auf ›schwerwiegende‹ Fälle. Der linksorientierte Flügel der nationalen Frauenbewegung fand keines der beiden Referenden unterstützenswert und forderte die Beibehaltung und Verbesserung des Gesetzes Nr. 194. Im Jahr 1981 wurde abgestimmt: Beide Referenden scheiterten und das Gesetz Nr. 194 und somit auch die rechtliche Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs blieb erhalten. In Südtirol gab es eine andere Tendenz: Dort erlangte das »Ja« zur konservativen Initiative, d.h. Abbrüche sollten nur in schwerwiegenden Fällen legal durchgeführt werden können, mit 54,6 % eine knappe Mehrheit. Neben den Debatten rund um die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen rückten ab Mitte der 1970er Jahre die Themen Gewalt gegen Frauen sowie Frieden ins Zentrum der Bewegung. 1979 sammelte die nationale Frauenbewegung italienweit unter dem Motto 50.000 firme contro la violenza sessuale (50.000 Unterschriften gegen sexuelle Gewalt) Unterschriften für ein Volksbegehren gegen sexuelle Gewalt. Auch die Südtiroler Frauenbewegung beteiligte sich aktiv daran. Erst im Februar 1996 wurden die Bestimmungen gegen sexuelle Gewalt vom italienischen Parlament verabschiedet: Vergewaltigung wurde nun als Delikt gegen die Person und nicht wie vorher gegen die Moral eingestuft, das Strafausmaß wurde in bestimmten Fällen erhöht und die Verfolgung von Straftaten von Amts wegen, das heißt unabhängig von einer erfolgten oder zurückgezogenen Anzeige, eingeführt. Erst im Jahr 2001 wurde schließlich auch ein Gesetz gegen die Gewalt innerhalb der Familie verabschiedet (vgl. Spada 2008: 137). In den 1990er Jahren entstand in Meran zudem ein über die Grenzen hinaus zu dieser Zeit einzigartiges und sehr innovatives Frauenhaus. Ausschlaggebend dafür war ein auf den Einsatz der Frauenbewegung Südtirols zurückzuführende Landesgesetz, das die Errichtung einer derartigen Einrichtung erst ermöglichte (vgl. Eschgfäller 2018: 344f.). Neben dem Frauenhaus in Meran und der Beratungsstelle AIED in Bozen gingen aus der Bewegung weitere Einrichtungen hervor: aus der Meraner Frauengruppe die

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Familienberatungsstelle Lilith (1982), aus den Gruppen UDI und Kollontaj ein Frauendokumentations- und Informationszentrum in Bozen (1985).

Räume der Neuen Frauenbewegung in Südtirol Die Entstehung sozialer Bewegungen und so auch die der Neuen Frauenbewegung ist eng mit Räumen verbunden. Mit diesen sozial-räumlichen Verschränkungen setzt sich unter anderem die Sozialpädagogin Susanne Maurer auseinander: »Bewegung impliziert einen Raum oder ein Feld, in dem sie sich ereignen und realisieren kann. Auseinandersetzungen um Sozialraum wiederum nehmen nicht zuletzt auf Wissen, Erfahrungen und konkrete (Selbst-)Organisationsformen aus dem Kontext Sozialer Bewegungen Bezug.« (Maurer 2019: 359) Bereits die grundlegende Voraussetzung für das Handeln sozialer Bewegungen, nämlich das Streben nach Opposition oder das Bestreben, sich gegen etwas zu stellen, impliziert konkret und metaphorisch eine räumliche Dimension (vgl. Maurer 2019: 359ff.). Zudem bringen Räume laut Martina Löw »Verteilungen hervor, die in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft zumeist ungleiche Verteilungen bzw. unterschiedliche Personengruppen begünstigende Verteilungen sind. Räume sind daher oft Gegenstände sozialer Auseinandersetzungen. Verfügungsmöglichkeiten über Geld, Zeugnis, Rang oder Assoziation sind ausschlaggebend, um An(Ordnungen) durchsetzen zu können, sowie umgekehrt die Verfügungsmöglichkeit über Räume zur Ressource werden kann.« (Löw 2017: 272) Die Soziologin Ilse Lenz nennt folgende vier Dimensionen, die zum Aufkommen der Neuen Frauenbewegung führten: Zunächst einmal müssen sich die Subjekte/Akteur*innen der Bewegung herausbilden (1), dann müssen sie sich zusammenschließen und Gruppen bilden, die sie tragen und fortführen (2). Anschließend entwickeln sie eine Sprache und Diskurse, die an ihren individuellen Erfahrungen von Ungerechtigkeit ansetzen und sie in Anliegen, Forderungen und Visionen weiterführen (3). Und schließlich gibt es Gelegenheitsstrukturen im politischen System und in den sozialen Verhältnissen, die diese Entwicklung begünstigen (4) (vgl. Lenz 2010: 20). Insbesondere bei der Entstehung der Neuen Frauenbewegung lohnt es sich, die politischen und sozia-

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len Gelegenheitsstrukturen und deren Wechselwirkungen mit der Kategorie Raum anzusehen. Während in den 1960er Jahren in allen größeren Industrienationen der westlichen Welt ein radikaler sozialer Wandel bereits im Gange war, standen in Südtirol die Bombenanschläge der Südtirolaktivisten, Verhandlungen um das zweite Autonomiestatut und ein verspäteter Modernisierungsschub vom Agrar- zum Tourismusland im Zentrum der öffentlichen Debatten. In dieser Hinsicht erwies sich Südtirol als besonderer Raum, denn im Vergleich zur Gesamtentwicklung der westlichen Welt war Südtirol sehr viel stärker ›mit sich selbst beschäftigt‹ und wirtschaftlich rückständig. Trotzdem war der gesellschaftliche Wandel auch in Südtirol spürbar.

Die Situation der Frauen in Südtirol in den 1960er Jahren Den Südtiroler Frauen schienen zu dieser Zeit theoretisch alle Möglichkeiten offenzustehen, sowohl Ausbildung und Beruf als auch Ehe und Mutterschaft. Der technische Fortschritt erleichterte nicht nur die Haushaltsführung, sondern erweiterte auch die Mobilität. So konnten Ausflüge und Urlaubsreisen unternommen werden. Diese neuen Möglichkeiten standen jedoch im Widerspruch zur noch fortwirkenden katholisch-konservativen Tradition des Landes, wodurch eine vielschichtige Ambivalenz aus Modernität und Tradition entstand. Die Historikerin Siglinde Clementi spricht etwa davon, dass zwar der Zugang zu Bildung erleichtert worden sei, aber gleichzeitig stillschweigend vorausgesetzt wurde, dass an diese Bildung kein großer Anspruch gestellt werden sollte. Ähnlich verhielt es sich mit der Erwerbsarbeit, die eigentlich nur als Überbrückung bis zur Eheschließung und Mutterschaft dienen sollte. Diese widersprüchlichen Sphären gehörten zum Nährboden der Neuen Frauenbewegung des Landes (vgl. Clementi 2002: 110ff.). Die ungleiche Verteilung von Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern ebenso wie die vielfältigen Gründe dafür spiegelten sich also auch in Südtirol deutlich wider. Zum einen war die Gesellschaft generell patriarchal geprägt. Diese patriarchalen Strukturen wirkten nicht nur in den Köpfen, sondern waren auch legistisch verankert. Aufgrund der niedrigeren Erwerbsarbeit von Frauen waren zudem die materiellen Ressourcen ungleich verteilt. Auch waren Möglichkeiten zur Schwangerschaftsverhütung noch kaum zugänglich und es fehlte die Möglichkeit des legalen Schwangerschaftsabbruchs. Das Leben der meisten Frauen in Südtirol war deshalb von Mutterschaft und Reproduktionsarbeit geprägt.

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All das kam auch in räumlichen Strukturen zum Ausdruck: So existierten keine öffentlichen Räumlichkeiten, in denen Schwangerschaftsabbrüche hätten durchgeführt werden können. In Frauenarztpraxen fehlte es an Plakaten und Informationsmaterial für Verhütungsmittel. Es gab keine öffentlichen Familienberatungsstellen, auch fehlten ausreichende Strukturen für die Kinderbetreuung. Besonders deutlich zu erkennen waren die patriarchalen Strukturen in der politischen Landschaft: Frauen waren in der politischen Sphäre kaum präsent. Zwar waren ab 1948 sehr vereinzelt erste Frauen in Südtiroler Gemeinderäten vertreten. Aber erst 1964 betraten mit Lidia Menapace (DC) und Waltraud Gebert-Deeg (SVP) die ersten Frauen als Abgeordnete die Räumlichkeiten des Landtags und bestimmten den landespolitischen Raum mit.

Von privaten Räumlichkeiten zur ersten Frauenberatungsstelle Im Zusammenhang mit der Neuen Frauenbewegung spielt das reziproke Verhältnis von privat und öffentlich eine wesentliche Rolle. Erfahrungen, die sich bisher ausschließlich im privaten Raum abspielten, wurden bewusst in den öffentlichen Raum getragen und die dort gemachten Erfahrungen beeinflussten wiederum den privaten Raum. Diese unterschiedlichen Sphären sind folglich fluide und befinden sich in andauernder Veränderung. Viele politische Themen der Neuen Frauenbewegung lassen sich also auf Erfahrungen zurückführen, die sich in der intimen Sphäre des privaten Sozialraums ereigneten. Vor allem in den Anfängen (1971/72), zu einer Zeit, als die »Tomaten schon geflogen«8 und die öffentlichen Demonstrationen in der BRD bereits im Gange waren, traf sich das Bozner Frauenkollektiv Alexandra Kollontaj wöchentlich, zunächst noch in privaten Räumen. Wie viele autonome Frauengruppen der damaligen Zeit betrieb auch die in Bozen die Praxis der Selbsterfahrung9 ,

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Der »Tomatenwurf« ist zum Symbol für den Beginn der Neuen Frauenbewegung in der BRD geworden. Am 12. September 1968 konfrontierte Helke Sander die SDSDelegiertenkonferenz in Frankfurt a.M. mit den Forderungen des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen. Als die Männer auf dem Podium nicht darauf eingingen und die Tagesordnung ohne Diskussion fortsetzen wollten, wurden sie von der SDS-Frau Sigrid Rüger mit Tomaten beworfen (vgl. unter anderem Lenz 2010: S. 45-50). Die Praxis der Selbsterfahrung war ein Instrument der Neuen Frauenbewegung der westlichen Welt. Die Grundannahme, die hinter dieser Praxis stand, war jene, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts bestimmte Unrechtserfahrungen teilten. Durch den Austausch der individuellen Erfahrungen und die Erkenntnis, dass es sich dabei um kol-

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autocoscienza, die ursprünglich aus dem US-amerikanischen Raum stammte und in Italien vor allem durch die Schriftstellerin und Kunsthistorikerin Carla Lonzi geprägt war. Schon bald kam innerhalb der Gruppe die Idee auf, eine Frauenberatungsstelle zu gründen. Am 12. Juni 1973 tagte ein Personenkreis, bestehend aus einigen Frauen von Kollontaj und einzelnen aufgeschlossenen Männern, der das Gründungskomitee der ersten Bozner Frauenberatungsstelle darstellte, die am 1. Dezember desselben Jahres als AIED am Bozner Obstmarkt eröffnet wurde. Die Gründung der Beratungsstelle war eine der ersten konkreten Schritte des Kollektivs vom privaten in den öffentlichen Raum (vgl. Clementi 2002: 114f., Facchinelli/Rabini 2008: 74ff.). In der neu gegründeten Beratungsstelle arbeiteten zunächst um die 20 Frauen auf freiwilliger Basis und unbezahlt. Die nötigen Kompetenzen für die Beratungen erhielten sie auf Seminaren des nationalen AIED sowie bei feministischen Fortbildungsinitiativen. Auch musste die Einrichtung zunächst selbst finanziert werden (Clementi 2002: 115), denn es gab keine Unterstützung von öffentlicher Hand, sodass ihr Sitz in einer kleinen Wohnung am Bozner Obstmarkt Nr. 38 nur das Nötigste enthielt: Das Vorzimmer wurde als Warteraum und Beratungszimmer genutzt, das Hinterzimmer als Untersuchungsraum. Als Personal fungierten ein Gynäkologe, eine Familienberaterin, eine Psychologin und bei Nachfrage eine Hebamme sowie eine Rechtsanwältin. Die Fachkräfte, die in der Beratungsstelle arbeiteten, wurden sorgfältig ausgewählt. Sie mussten mit den Ideen der AIED-Frauen einverstanden sein und ›charakterliche‹ (Saurer 1989) Eigenschaften besitzen, die diesen zusagten. Trotz intensiver Werbung der Beratungsstelle in Form von Versammlungen und Plakaten blieb der Zustrom zunächst aus. Erst nach einem halben Jahr verbesserte sich dieser Umstand (vgl. Facchinelli/Rabini 2008: 54ff.) und die Anzahl von Klientinnen, welche zunächst noch mehrheitlich der italienischen Sprachgruppe angehörten, stieg. Im Laufe der Zeit nutzten aber auch vermehrt Frauen der deutschen Sprachgruppe die Institution. 1977 waren laut Südtiroler Volkszeitung von den über 850 beratenen Frauen 15 Prozent deutschsprachige Südtirolerinnen (vgl. Südtiroler Volkszeitung, Nr. 2, 23.06.1978, S. 7).

lektive Erfahrungen handelt, also, dass »das Private politisch« sei, sollte eine Solidarisierung unter den Frauen erfolgen (Lenz 2010).

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Neben ihren Treffen und der Arbeit in der Beratungsstelle eignete sich die Gruppe aber auch zunehmend den öffentlichen Raum an.

Der öffentliche Raum Räume haben Eigenschaften, die Protestbewegungen entgegenkommen. In Räumen lässt sich etwas gestalten, es kann sich etwas ereignen, man kann sich darin bewegen (vgl. Maurer 2019: 363). Dies gilt insbesondere auch für den öffentlichen Raum. Soziale Bewegungen verweisen auf die »Dynamisierung, Rhythmisierung und Neuinterpretation von gesellschaftlichen Räumen« (Maurer 2019: 361). Gezielte Besetzungen von Plätzen und Orten gehören zu den wichtigsten Aktionsformen sozialer Bewegungen. Dies gilt sowohl für größere als auch für kleinere Kontexte und transnational, also über die Grenzen hinaus. Dem öffentlichen Raum kommt hier eine besondere Bedeutung im doppelten Sinn zu: Die in ihm stattfindenden Aktionen wirken nach innen und nach außen. Nach außen nutzen Protestbewegungen den öffentlichen Raum gezielt als Ort der Artikulation. Straßen und Plätze sollen besetzt, anders und neu konnotiert werden. Der öffentliche Raum wird so »zur politischen Arena« (ebd.: 363), einem Ort, an dem verhandelt wird. Die Aktionen, die sich in öffentlichen Räumen abspielen, wirken aber auch nach innen. So wird durch die dort stattfindenden Aktionen auch das kollektive Wir einer Bewegung gestärkt. Die dazugehörigen Bilder der Neuen Frauenbewegung haben sich bereits im kollektiven Gedächtnis verankert: Zu sehen sind meist Ansammlungen von überwiegend jungen Frauen, die sich im öffentlichen Raum versammeln und lautstark und lustvoll oder verärgert für die Selbstbestimmung von Frauen, die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, die Anerkennung von weiblicher Sexualität, gegen Gewalt an Frauen und vor allem gegen das Patriarchat kämpfen. Als transnationales Phänomen ändert sich lediglich die Sprache auf den Transparenten. Auch in Südtirol fanden zahlreiche Aktionen der Neuen Frauenbewegung im öffentlichen Raum statt. Einige sollen hier genannt werden.

Flugblätter Als am 12. und 13. Mai 1974 in Italien eine Volksabstimmung über die Abschaffung der 1970 eingeführten Ehescheidung stattfand, die erste seit dem

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Referendum über den Fortbestand der Monarchie am 2. Juni 1946, veranstaltete die Gruppe Kollontaj eine Flugblattaktion vor Supermärkten und ging mit Spruchbändern und Plakaten auf die Straße, um die Wahlberechtigten gegen die Abschaffung zu mobilisieren (vgl. Facchinelli/Rabini 2008: 72ff.). Zudem schlossen sich in Bozen einige aktive Frauen zum Comitato Donne per il no all’abrogazione del divorzo (Frauenkomitee für das Nein zur Abschaffung der Ehescheidung) zusammen und versuchten, durch Veranstaltungen und Presseaussendungen die Bevölkerung für dieses brisante Thema zu sensibilisieren. Die Aktionen trugen zum Erfolg bei: Die Mehrheit der Italiener*innen stimmte, wie bereits erwähnt, für die Beibehaltung des Ehescheidungsgesetzes.

Fackelzug Am 8. März 1977 nahmen hunderte Frauen an einem Fackelzug gegen Gewalt an Frauen durch die Bozner Altstadt teil. Der Aufruf dazu lautete: »Zu Hause, in der Schule, in der Familie, auf dem Arbeitsplatz, in der ohnehin kurzen Freizeit, sind wir immerfort Opfer von sexueller, körperlicher und geistiger Gewalttätigkeit. Wir sagen: Schluss damit! Wir müssen uns das Leben zurückerobern, die Nacht zurückerobern mit einer Kundgebung, die unsere Wut, unseren Willen, unser Leben zu verändern, auch auf die Straßen der Stadt Bozen bringt.« (Clementi 2002: 123f.) Mit dieser Aktion wurde sowohl die Ausübung von körperlicher als auch psychischer Gewalt von Männern gegen Frauen von der provinzialen feministischen Bewegung thematisiert. Neben dem Fackelzug und der Beteiligung an einer nationalen Unterschriftenaktion fand am 5. Juli 1979 in Bozen ein öffentlicher Prozess wegen Vergewaltigung statt, wobei die Frauen als Zivilklägerinnen auftraten (vgl. Facchinelli/Rabini 2008: 77). Im Vorfeld dazu machten verschiedene Südtiroler Frauengruppen am 23. Juni am Bozner Obstmarkt und auf der Talferbrücke mit einer Ausstellung zum Thema Gewalt gegen Frauen mit Collagen, Zeichnungen und Texten auf den bevorstehenden Prozess aufmerksam (Gewalt an Frauen, in: Südtiroler Volkszeitung, Nr. 28, 29.06.1979, S. 7).

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Schweigemarsch Im Zuge der Referenden zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen machte die Südtiroler Frauenbewegung auf ihre Anliegen unter anderem wie folgt aufmerksam: Etwa 150 Frauen aus allen Teilen des Landes zogen am 13. Dezember 1980 schweigend und einzeln hintereinander ins Stadtzentrum. Ihre Forderungen trugen sie sowohl durch an Passant*innen verteilte Flugblätter als auch durch Plakate in die Öffentlichkeit: »WIR WOLLEN NICHT ZURÜCK! – Zurück zur illegalen Abtreibung = Zurück zur Verlogenheit« (Keine illegalen Abtreibungen mehr!, in: Südtiroler Volkszeitung, Nr. 65, 19.12.1980, S. 5).

Friedensmarsch Über mehrere Jahre hinweg veranstalteten die Südtiroler Frauen für Frieden Friedensmärsche, die häufig – weniger militärisch anmutend – als »Ausflüge« oder »Wanderungen« bezeichnet wurden. Eine sehr aufsehenerregende und bewusst »Friedensmarsch« genannte Demonstration fand am 31. Mai 1983 in Kohlern, nahe Bozen, statt. Neben den »Friedensgängen« nach Kohlern machten die Südtiroler Frauen für Frieden auch durch Unterschriftenaktionen, Schweigeminuten, Flugblätter, Protestbriefe, Diskussionsabende und Tagungen, aber vor allem auch durch Friedensfeste und Kundgebungen auf sich aufmerksam. Neben den regionalen Aktivitäten der Frauen für Frieden sind vor allem ihre Tätigkeiten auf europäischer Ebene und die Kontakte, die dabei geknüpft wurden, spannend.

Wie die Frauenbewegung den Raum verändert hat Anhand eines Bildes und am Beispiel der Frauengruppe Alexandra Kollontaj wird im Folgenden veranschaulicht, wie die Frauenbewegung in Südtirol den öffentlichen Raum und das Stadtbild Bozens verändert hat. Das Bild zeigt den bereits genannten Fackelzug am 8. März 1977 gegen Gewalt an Frauen in Bozen. Der Platz, der hier zu sehen ist, ist der Siegesplatz in Bozen. Er wurde in den 1920er und 1930er Jahren während des italienischen Faschismus unter Benito Mussolini errichtet, unter anderem mit dem Ziel, den Raum der bis dahin überwiegend deutschsprachigen Stadt symbolisch zu besetzen. Dafür wurde gezielt für den italienischen Faschismus charak-

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Abb. 1: Fackelzug gegen Gewalt an Frauen am 8. März 1977

Quelle: Frauenarchiv Bozen – Bestand AIED

teristische Architektur eingesetzt. Im Faschismus herrschte zudem ein sehr konservatives Frauenbild und diese Zeit ist mit einer gewalttätigen Geschichte verbunden. Genau an diesem mit Gewalt verbundenen Raum demonstrierten nun vor allem Frauen gegen Gewalt und besetzten auf diese Weise einen ideologisch einschlägigen Raum neu. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Räume Produkte sozialer Prozesse und sozialer Praxis sind, und wie sie sich je nach Besetzung – im doppelten Sinn – stets verändern. Vor allem für die neuen sozialen Bewegungen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre spielten Kämpfe um Zugang zur Ressource Raum und zur Separierung – sich Freiräume verschaffen – eine zentrale Rolle. So sind im Zuge der Neuen Frauenbewegung autonome Frauenräume, aber auch eine Reihe von heute nicht mehr wegzudenkenden frauenspezifischen Einrichtungen wie Frauenhäuser, Frauenbibliotheken, Frauenarchive und Frauenberatungsstellen entstanden. Erst 1975 wurde in Italien ein Gesetz erlassen, das die Errichtung und finanzielle Förderung von Frauen- und Familienberatungsstellen vorsah. Vier Jahre später, im Jahr 1979, folgte auch in Südtirol ein dementsprechendes Landesgesetz: Es bot nun die Grundlage dafür, dass die Bozner Beratungsstelle AIED als private Institution öffentlich finanziert werden konnte. Die Bera-

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tungsstelle hat sich im Laufe der Zeit verändert, so sind neue Themen dazugekommen und es arbeiten andere Menschen dort. Auch die Räumlichkeiten sind anders strukturiert. Seit 1992 trägt die Beratungsstelle den Namen der Rechtsanwältin und ersten Präsidentin der Institution Andreina Emeri, die 1985 verstarb und wie bereits erwähnt als Pionierin der Neuen Frauenbewegung in Südtirol gilt. Von 1973 bis 1996 befanden sich alle Räumlichkeiten des AIED und damit der Neuen Frauenbewegung in der zentralen, überwiegend deutschsprachigen Altstadt, obwohl das Kollektiv gerade in seinen Anfängen vor allem aus italienischsprachigen Frauen bestand. Auch die anderen frauenspezifischen Einrichtungen, die aus der Neuen Frauenbewegung hervorgingen, befanden sich im Stadtzentrum: So lag das 1985 gegründete Frauendokumentationszentrum an derselben Stelle wie das erste AIED (Bozner Obstmarkt Nr. 38). Aufgrund der unzureichenden finanziellen Förderungen gelang es den Frauen nicht, den Standort zu halten. Deshalb zog die Einrichtung 1987 von der Stadtmitte in den italienischsprachigen Teil der Stadt (Frontkämpferstraße Nr. 7). Gegenwärtig befindet sich das Frauendokumentationszentrum mit der dazugehörigen Frauenbibliothek am Pfarrplatz in Bozen gegenüber dem Hauptportal des Doms im deutschsprachigen Zentrum der Stadt. 2003 wurde in den Räumlichkeiten des Frauendokumentationszentrums auch ein Frauenarchiv eröffnet. In Bozen wurde 2008 eine Straße nach Andreina Emeri benannt. Damit ist die Neue Frauenbewegung auch als historische Erscheinung in das Stadtbild eingedrungen.

Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Neue Frauenbewegung in Bozen mit ihren Protestaktionen und ihren Räumlichkeiten gezielt im Zentrum der Stadt – in und rund um die deutschsprachige, österreichisch geprägte Altstadt – agierte. Dort, wo auch das machtpolitische Zentrum von Bozen und der gesamten Provinz, unter anderem der Landtag, lag und liegt. So besetzte die Neue Frauenbewegung unterschiedliche Räume symbolisch wie konkret neu. Mit der Betrachtung der historischen Entwicklung von Räumlichkeiten innerhalb der Neuen Frauenbewegung aus raumsoziologischer Perspektive können bestimmte Entwicklungslinien und Aspekte der Frauenbewegungen nachgezeichnet und neue Perspektiven eröffnet werden.

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Literatur Autonome Provinz Bozen, Landesinstitut für Statistik (Hg.) (2019): 2019. Südtirol in Zahlen, Bozen. Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 3., erweitere und durchgesehene Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Becker, Ruth (2010): »Feministische Kritik an Stadt und Raum«, in: Becker/Kortendiek, Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, S. 806-819. Clementi, Siglinde (2002): Die sanfte Revolution. Von gleichen Rechten und Differenzen, in: Solderer, Gottfried (Hg.), Das 20. Jahrhundert in Südtirol, Band 4: 1960-1980. Autonomie und Aufbruch, Bozen: Reatia, S. 108-125. Clementi, Siglinde/Verdorfer, Martha (2000): Frauen Stadt Geschichte(n). Bozen/Bolzano. Vom Mittelalter bis heute, Wien/Bozen: Folio. Dunajtschik, Harald/Mattioli, Aram (2010): »Eroberung durch Architektur. Die Faschistischen Um- und Neugestaltungsprojekte in Bozen«, in: Petra Terhoeven (Hg.), Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jh., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 87106. Eschgfäller, Birgit (2018): 1968. Südtirol in Bewegung, Bozen: Raetia. Facchinelli, Ingrid/Rabini, Edi (Hg.) (2008): Andreina Emeri. 1936-1985, Scritti e ricordi – Schriften und Erinnerungen, Nachdruck der Erstauflage von 2005, Bozen. Frank, Susanne (2019): »Stadt-, Raum- und Geschlechterforschung. Theoretische Konzepte und empirische Befunde«, in: Kortendiek/Riegraf/Sabisch, Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Band 2, S. 1347-1357. Gildemeister, Regine/Wetterer, Angelika (1992): »Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reiifizierung in der Frauenforschung«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), Traditionen Brüche: Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg i.B.: Kore, S. 201-254. Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hg.) (2019): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Band 2 (=Geschlecht und Gesellschaft, Band 65), Wiesbaden: Springer Fachmedien. Lenz, Ilse (Hg.) (2010): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, 2., aktualisierte Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Die umfassende Abhängigkeit des Subjekts Feministische Subjektkritik in der autonomen Frauenbewegung am Beispiel von Gerburg TreuschDieters Märchendeutungen Katharina Lux

Als ich vor einigen Jahren begann, mich mit Quellen aus der deutschsprachigen, autonomen Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre zu beschäftigen, stellte ich bald fest, dass mich manche Texte irritierten. So stieß ich in der achtzehnten Ausgabe der Zeitschrift Die Schwarze Botin,1 die von 1976 bis 1987 erschienen ist, auf einen Aufsatz der Kulturphilosophin Gerburg Treusch-Dieter.2 In ihm deutet die Autorin das Märchen Die drei Spinnerinnen als Geschichte über weibliche Produktivität. Fremd war die Analyse sowohl aufgrund ihres Inhalts als auch aufgrund ihrer Form. Warum verwirrte mich dieser Aufsatz? Irritierend war die Art und Weise, wie und was die Autorin über weibliche Produktivität schrieb, die nicht mit 1

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Die Zeitschrift Die Schwarze Botin wurde von Brigitte Classen und Gabriele Goettle 1976 in Westberlin gegründet und formulierte ihrem Selbstverständnis nach »aus der Frauenbewegung eine Kritik der Frauenbewegung« (vgl. B.C. 1983: 1). Die Beiträge widmen sich der Entwicklung feministischer Kritik und der Auseinandersetzung mit Kunst, vor allem mit Literatur, sie übertreten bewusst die akademischen Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen. Ab 1983 unterhält die Zeitschrift mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek und der Übersetzerin Marie-Simone Rollin auch eine Redaktion in Wien und Paris (vgl. Lux 2018). Im Jahr 1987 wird die Zeitschrift nach 31 Ausgaben von jeweils circa 3.000 bis 5.000 Exemplaren eingestellt. Gerburg Treusch-Dieter war Schauspielerin und Professorin für Soziologie und Kulturwissenschaften. Sie forschte und lehrte unter anderem an den Universitäten in Berlin, Innsbruck und Wien zur Mythen- und Rationalitätskritik und zur Reproduktionstechnologie. Sie war eine scharfe, feministische Beobachterin der Frauenbewegung und Redakteurin der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation. Außerdem veröffentlichte sie in der Zeitschrift Die Schwarzen Botin.

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dem Bild übereinstimmten, das ich von der Theoriebildung der autonomen Frauenbewegung hatte. Allmählich wurde mir klar, dass ich die weitverbreitete Vorstellung im Kopf hatte, der zufolge die autonome Frauenbewegung in und durch ihre Theorie und ihre Praxis eine Identität Frau essenzialisiert und mit bestimmten als weiblich deklarierten Eigenschaften ausgestattet habe. Auf Grundlage dieser fixierten Identität wurde ein Subjekt Frau postuliert, was dazu geführt hat, dass die vorausgesetzte Geschlechtsidentität nicht mehr Gegenstand der Kritik werden konnte. Meine Irritation rührte also daher, dass Aufsätze wie der über die drei Spinnerinnen von Gerburg Treusch-Dieter nicht in dieses Bild passen. Ihr Beispiel zeigt, dass es durchaus feministische Theoretikerinnen gab, deren Überlegungen zu Geschlecht nicht zur Fixierung und Stillstellung einer Identität Frau führen. Ich denke, dass die Vorstellung, die ich von der Theorieproduktion der autonomen Frauenbewegung hatte, recht typisch ist für zeitgenössische Feministinnen. Die Ansicht, die feministische Theoriebildung der 1970er und 1980er Jahre habe die Essenzialisierung einer Identität Frau betrieben, scheint mir weitverbreitet zu sein. Möglicherweise dienen die Erzählungen über das Vergangene eher der Konstitution des Eigenen, als dass sie der Komplexität der historischen Wirklichkeit gerecht werden.

Begriffliche Verschiebungen: Subjekt – Geschichte – Gesellschaft Bevor ich auf das Märchen und die Aufsätze von Gerburg Treusch-Dieter zu sprechen komme, möchte ich Überlegungen darüber anstellen, wie feministische Theoriebildung erinnert und wie die Vergangenheit gezeichnet wird. Denn die Kategorien und Begriffe, in denen wir Geschichte denken, sind die Kategorien und Begriffe unserer Zeit und selbst Resultat historischer, gesellschaftlicher Prozesse. Bezogen auf die Theoriegeschichte der autonomen Frauenbewegung scheint das Problem zunächst nicht allzu groß zu sein, sind doch gerade einmal circa 50 Jahre vergangen, seit sich die ersten Frauengruppen im deutschsprachigen Raum autonom organisiert haben. Doch ist in den letzten Jahren eine Debatte um die Kategorie Geschlecht wiedererwacht, die ihren Anfang in den 1990er Jahren genommen hat. Zur Diskussion steht, ob es in den 1990er Jahren mit der Ausformulierung der Kategorie Gender – in der deutschsprachigen Debatte vornehmlich durch Judith Butlers Schriften be-

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kannt geworden – einen Paradigmenwechsel in der Geschlechterforschung gegeben habe. Einig sind sich die Diskutantinnen, dass die Rezeption in der deutschsprachigen Geschlechterforschung mit Konflikten und Verwerfungen einhergegangen ist. Die Politikwissenschaftlerin Cornelia Möser hat drei Narrative herausgearbeitet, in denen die Geschlechterforschung ihre eigenen Veränderungen deutet. Das »Differenzierungsnarrativ« stellt die Geschichte der Geschlechterforschung als »Reifungsprozess einer zunächst politisch orientierten Bewegungsforschung« (Möser 2015: 198) dar, wobei die Integration der Kategorie Gender zur Differenzierung und Komplexitätszunahme der Forschung geführt habe. In diesem Narrativ erscheint die zeitlich frühere feministische Forschung als unterkomplex, undifferenziert und daher überholt (vgl. ebd.; Hark 2005: 29). Das zweite Narrativ, von Möser als »Verfallsnarrativ« (Möser 2015: 198) bezeichnet, kritisiert die zunehmende Entpolitisierung bei gleichzeitiger Integration der Gender Studies in die Institution Universität, funktioniert aber komplementär zum Differenzierungsnarrativ, da es die Theorieentwicklung der Geschlechterforschung eben als Verfallsgeschichte erzählt. Das »Versöhnungs- und Überwindungsnarrativ« (ebd.: 199) betont die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Theorierichtungen, auf welche sich Vertreterinnen der Kategorie Gender einerseits, Vertreterinnen der Kategorie Frau andererseits beziehen. Problematisch sei sowohl die Gegenüberstellung der Kategorien als auch deren eindeutige Zuordnung zu bestimmten Theorieschulen, so Möser (vgl. ebd.).3 Nun entsteht und entwickelt sich Theoriebildung immer in und durch die oftmals spannungsreiche Auseinandersetzung mit einem Gegenstand oder Problem. Während die Untersuchung der diskursiven Narrative analysiert, wie die Auseinandersetzungen geführt werden, möchte ich im Folgenden auf eine Position in der Geschlechterforschung eingehen, die in den letzten Jahren Reflexionen darüber angestellt hat, was zur Diskussion stand und steht. Möglicherweise ließe sich diese Position einem der Narrative zuweisen, sicherlich aber würde eine solche Zuordnung Verkürzungen produzieren. 3

Die Theorierichtungen, die nach Möser im »Versöhnungs- und Überwindungsnarrativ« aufgerufen werden, sind einerseits eine »humanistische oder materialistische Tradition«, in der die Kategorie Frau verwendet werde, andererseits eine »›posthumanistische‹ […], ›postmoderne[…]‹ oder ›postnietzscheanische[…]‹ Tradition«, in welcher die Kategorie Gender Verwendung finde. Die Autorin verweist darauf, dass die Zuordnungen, die alle drei Narrative vollziehen, zu Vereinfachungen und zur Verdeckung von »real geführten Konflikten« führen (Möser 2015: 199).

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Fruchtbar scheint mir der Bezug auf die noch zu erläuternde Position deshalb, weil sie einen Rahmen bereitstellt, in dem die Irritation, welche die Märchendeutung von Treusch-Dieter hervorruft, verstehbar wird. Daher möchte ich zunächst die angesprochene Position, die sich explizit auf ein Denken der Differenz bezieht, umreißen. In dem 2014 erschienenen Sammelband Die Zukunft von Gender stellt die Erziehungswissenschaftlerin Barbara Rendtorff fest, Gender werde heute vor allem im pädagogischen Kontext »in der Bedeutung einer Personvariable und als Beschreibung der Geschlechtsidentität« verwendet, was der »Intention des Begriffs und seiner ursprünglichen Aufgabe im wissenschaftlichen und im feministischen Kontext vollständig entgegengesetzt« (Rendtorff 2014: 36) sei. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und praktischen Rezeption der Kategorie Gender hält Rendtorff es für angezeigt, die Kategorie einer immanenten Kritik zu unterziehen und das Verständnis von »Geschlecht als ›Strukturkategorie‹« (ebd.: 37) wieder zu bestärken. An Rendtorffs Kritik des Verständnisses von Geschlecht als einer Personvariablen und Kategorie personaler Identität schließt die Philosophin und Erziehungswissenschaftlerin Rita Casale im selben Sammelband an. Sie bemerkt, dass in der feministischen Theoriebildung eine begriffliche Verschiebung stattgefunden habe. Seit den 1990er Jahren stehe »der Prozess der diskursiven Konstruktion der sexuellen Identität« (Casale 2014: 83) im Mittelpunkt der feministischen Diskussionen. Feministische Theoretikerinnen der 1970er und 1980er Jahre hätten aber, so Casale, um das Verhältnis der Begriffe Subjekt und Geschlecht gerungen, das nicht als Prozess der Identifizierung verstanden worden sei. Das Begriffsnetz feministischer Theorie habe sich verändert: Statt des Begriffs der personalen Identität seien die Begriffe Subjekt, Geschichte und Gesellschaft im Zentrum der gesellschaftstheoretischen, feministischen Theoriebildung gestanden, wobei es Feministinnen um eine »mögliche andere Form von Subjektivität« (ebd.: 79) gegangen sei. Am Beispiel der Theoretikerinnen Carla Lonzi und Heide Schlüpmann stellt Casale fest: »Die Radikalität ihrer feministischen Analysen besteht in ihrem utopischen Charakter: der Ort für die Frau als Subjekt kann nur diesseits dieser Logik gedacht werden, die sich […] auf die Ausschließung der Frau stützt.« (Ebd.: 82-83) Die Logik, die Casale hier anspricht, konzipiere die Subjektwerdung und intersubjektive Anerkennung als Unterwerfungspraktik, wie sie prominent in

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Georg Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes als Herr-Knecht-Modell entworfen wurde. Die von Casale aufgerufene Tradition der feministischen Subjektkritik habe gerade diese Form der Dialektik kritisiert, da das Geschlechterverhältnis in ihr nicht begriffen werden könne. Das Potenzial dieser feministischen Befragung der Begriffe Geschichte, Subjekt und Gesellschaft hält Casale für außerordentlich, wenn sie schreibt: »Die Sprengung dieser Logik, die die Subjektwerdung der Frau mit sich bringt, wird zugleich als die Möglichkeit einer anderen Form von Menschlichkeit anvisiert.« (Casale 2014: 82-83) Casales und Rendtorffs Überlegungen verstehe ich als Intervention, die auf der historiografischen Ebene darauf zielt, zu zeigen, dass es einigen feministischen Theoretikerinnen der 1970er und 1980er Jahre um etwas anderes gegangen ist, als um das, was wir uns heute als Geschlechtertheorie dieser Jahre erzählen. Es geht um die Öffnung der Geschichte, die Reflexion unseres Verständnisses dessen, was feministische Theoriebildung war und ist, und darum, »wieder eine Distanz zu der eigenen Zeit […] zu gewinnen« (Casale 2014: 94, Herv. i. O.). Nun ist meine These, dass die Aufsatzreihe von Gerburg Treusch-Dieter, zu der auch die Märchendeutung Die drei Spinnerinnen. Ein Industriemärchen zählt, interpretiert werden kann als Teil der von Casale angesprochenen Tradition feministischer Theoriebildung. Demnach stellt sich die Frage, wie in den Texten von Treusch-Dieter die Begriffe Subjekt und Geschichte gedacht und in welches Verhältnis sie zueinander gesetzt werden. Dem möchte ich auf den nächsten Seiten nachgehen. Dabei werde ich Aufsätze der Autorin heranziehen, die in den Zeitschriften Die Schwarze Botin und Ästhetik und Kommunikation erschienen sind und die als Monografie unter dem Titel Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit veröffentlicht wurden. Im Rahmen dieses Aufsatzes werde ich den ersten Teil mit dem Titel Die Spindel der Notwendigkeit, hauptsächlich aber den dritten Teil mit dem Titel Die drei Spinnerinnen. Ein Industriemärchen ebenso in meine Analyse einbeziehen wie die methodischen Reflexionen, die Gerburg Treusch-Dieter über ihre eigenen Aufsätze angestellt hat und die 1989 unter dem Titel Geschick und Schicksal. Die parthenogene Maschine der Moira publiziert wurden. Anhand des Materials werde ich zeigen, dass und wie der zentrale Begriff der weiblichen Produktivität und der Begriff der Geschichte befragt und verhandelt werden und welches Subjektverständnis sich in den Aufsätzen implizit andeutet.

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Die feministische Theoriebildung befindet sich wie jede sozial- und geisteswissenschaftliche Theoriebildung Mitte des 20. Jahrhunderts in der Situation, in der die Vorstellung von der Einheit der Welt, des Wissens und der Wirklichkeit an Plausibilität verloren hat – eine Situation, in der die Wirklichkeit nicht mehr ohne Weiteres als vernünftig behauptet werden kann, in der das Subjekt sich nicht mehr versöhnt wiederfindet in der Welt, verankert in einem Selbstbewusstsein, das sich in der Geschichte entfaltet, in dessen Sinnzusammenhang sich das Subjekt versichert zu wissen glaubte. Diese Situation bildet den Ausgangspunkt und die Möglichkeitsbedingung feministischer Theorie. Vor diesem Hintergrund werde ich zeigen, dass die Aufsätze von TreuschDieter eine geschichtstheoretische Konstruktion enthalten, in welcher der Sinnhorizont des Subjekts verschoben wird. Das bewerkstelligt die Autorin durch die Konfrontation des Märchens Die drei Spinnerinnen mit dem Mythos von der Spindel der Notwendigkeit, wie ihn Platon am Ende seiner Schrift Politeia beschreibt. In Platons Politeia verhandelt Sokrates die Frage, was Gerechtigkeit und wie der ideale Staat zu denken ist. Am Ende des Dialogs kommt er auf den Mythos des Er zu sprechen, auf den sich Treusch-Dieter unter dem Namen Mythos von der Spindel der Notwendigkeit bezieht. In diesem Mythos wird erzählt, wie Er, Sohn des Armenios, aus dem Jenseits zurückkehrt und erzählt, wie es den Seelen dort ergeht und wie sich ihre Wiedergeburt vollzieht. Er berichtet, dass der Gerechte nicht nur im Diesseits, sondern auch im Jenseits glücklich sein wird, dass die Seelen ihr Los selbst wählen und wieder ins Leben eintreten, wobei das Los an der Spindel der Notwendigkeit befestigt ist. An ihr arbeiten die drei Schicksalsgöttinnen, sie spinnen die Lebensfäden der Seelen (vgl. Söder 2017: 53). Nach Christoph Schäfer dienen Mythen in Platons Werk dazu, das zu erzählen, was »jenseits des epistemologisch Zugänglichen« (Schäfer 2017: 318) liege und über das keine wirkliche Erkenntnis erlangt werden könne. Wie sich zeigen wird, bezieht sich Treusch-Dieter nicht auf die Gerechtigkeitsfrage, sondern auf das Bild der spinnenden Göttinnen und auf die Beschreibung ihrer Tätigkeit des Spinnens. Das Spinnen bildet das Scharnier zum Märchen Die drei Spinnerinnen, das Treusch-Dieter zum Gegenstand ihrer Deutung macht und das sie zu Beginn ihres Aufsatzes wiedergibt. Das Märchen handelt von einem Mädchen, das weder spinnen will, noch spinnen kann. Nun soll es aber für die Königin drei Kammern voll Flachs spinnen und zum Lohn den Prinzen zum Gemahl erhalten. Glücklicherweise kommen dem Mädchen drei Spinnerinnen zu Hilfe.

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Ihre Körper sind von der vielen Arbeit deformiert: Die erste hat vom Treten des Spinnrads einen übermäßig großen Fuß, die zweite vom Drehen des Garns einen dicken Daumen und die dritte vom Anlecken des Fadens eine herunterhängende Lippe. Sie übernehmen die Spinnarbeit und helfen dem Mädchen so aus der Bredouille. Als Dank verlangen sie, das Mädchen möge sich ihrer erinnern und sie zu seiner Hochzeit einladen. Da die Arbeit vollbracht ist, richtet die Königin die Hochzeit aus. Tatsächlich vergisst das Mädchen die drei Spinnerinnen nicht und lädt sie ein. Die drei Spinnerinnen kommen zur Hochzeitsfeier, treten am Hofe auf und der Prinz – so erzählt das Märchen – erschrickt ob der verformten Körper. Als er hört, dass die Entstellungen vom Spinnen herrühren, verbietet er dem Mädchen, seiner Braut, das Spinnen, wodurch diese von der ohnehin ungeliebten Tätigkeit befreit ist (vgl. Grimm/Grimm 1985: 84-86). Gerburg Treusch-Dieters Aufsätze, auf die ich im Folgenden eingehen werde, verstehe ich als geschichtsphilosophischen Einsatz nach der Geschichtsphilosophie, der um die Möglichkeit eines anderen Sinnhorizonts kreist und durch den ein Subjekt andeutet wird, das seine eigene existenzielle Abhängigkeit zu bedenken weiß. Meine Deutung der Mythos- und Märcheninterpretation von Treusch-Dieter betont die positiven Aspekte ihres Denkens, das hauptsächlich einer negativen Kritik verpflichtet ist. Mit negativer Kritik meine ich ein Denken, das die Mechanismen der Verdrängung, Verleugnung und Unterordnung des Weiblichen in der Ordnung des Wissens aufdeckt, ohne zu bestimmen, wie es anders sein könnte. Allerdings wohnt, so denke ich, dieser negativen Kritik ein Index des Positiven inne: sei es, indem die Möglichkeit zu einem anderen Zustand aufgezeigt wird; sei es, dass – um Verdrängung, Verleugnung und Unterordnung überhaupt als solche zu erkennen – der Gedanke, es könnte anders sein, zum positiven, normativen Maßstab der Kritik wird. In Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit liegt dieser positive Index im zentralen Begriff der weiblichen Produktivität und im Umkreisen der Möglichkeit, ein anderes Kulturmodell gedanklich vorwegzunehmen, das nicht auf der Verdrängung, Verleugnung und Unterordnung des Weiblichen beruht. Damit folge ich nicht der Rezeptionslinie, welche die Dekonstruktion ohne Ausblick auf Möglichkeitsspielräume betont (vgl. Krondorfer 2014). Vielmehr ordnen sich meine Überlegungen ein in eine Reihe von Einschätzungen, welche die positiven Maßstäbe (vgl. Samsonow 2014: 16) und »Perspektiven eines besseren Lebens« (Negt 2014: 635) in ihrem Denken hervorheben.

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Meine Lektüre rückt Treusch-Dieters Schriften über weibliche Produktivität in die Nähe eines feministischen Projekts, das eine andere symbolische Ordnung zu denken versucht, in der sich das Weibliche repräsentieren kann und das mit der Psychoanalytikerin und Philosophin Luce Irigaray verknüpft ist. Treusch-Dieter hat sich mehrfach zum Werk von Irigaray geäußert und 2005 bemerkt, es gehe ihr darum, entgegen Irigarays Ethik der sexuellen Differenz darauf zu beharren, »dass die Differenz, um die es gehen sollte, erst noch zu erfinden« (Treusch-Dieter 2014a: 85) sei.4 Damit distanziert sie sich in gewisser Weise von Irigaray; eine Reaktion, die in der deutschsprachigen Diskussion seit Mitte der 1980er Jahre vorherrschend wurde. Eine Nähe besteht aber dennoch, denn beiden Autorinnen geht es um die Kritik der Ordnung des Denkens und des Wissens, der Symbole und des Sprechens, in denen das »Weibliche […] als Materie, als Matrix [erscheint], die als geleugnete konstitutiv für alle bisherige Theorie ist« (Othmer et al. 1980: 471-472). Gerburg Treusch-Dieters Aufsätze weisen eine hochgradige Verdichtung von impliziten Bezügen und ein durchaus sehr unorthodoxes Vorgehen auf, kümmert sie sich doch herzlich wenig darum, ob die einzelnen Stränge unterschiedlicher Denktraditionen systematisch vereinbar sind oder nicht. Ihr fragender, springender Stil macht das Verständnis einerseits schwierig, da keine Eindeutigkeit Sicherheit verspricht, andererseits eröffnen die Aufsätze aufgrund ihrer Uneindeutigkeit einen Raum für Deutungen. Erinnert sei daran, dass die Vervielfältigung von Bedeutung eine Strategie feministischer Theoriebildung der 1970er und 1980er Jahre war.

Feministische Subjektkritik als spekulative Kulturgeschichte In ihrem Aufsatz Die drei Spinnerinnen. Ein Industriemärchen entwickelt Treusch-Dieter ihre Interpretation des Märchens von den drei Spinnerinnen. Die Frage, die sich bei der Lektüre der Deutung gleich zu Anfang aufdrängt, lautet: Warum wählt eine feministische Theoretikerin Anfang der 1980er Jahre ein Märchen als Grundlage für ihre Reflexionen? Die Autorin wählt ein Märchen aus, das von der Tätigkeit des Spinnens erzählt. Das Spinnen

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Treusch-Dieter zählt gemeinsam mit Regine Othmer, Xenia Rajewsky und Gabriele Ricke zu den Übersetzerinnen, die Luce Irigarays Frühwerk Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts ins Deutsche übersetzt haben. Die Übersetzung erschien 1980 bei Suhrkamp.

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ist das »Paradigma weiblicher Produktivität« (Treusch-Dieter o.J.: 12), die »aus dem Bereich der Geschichte in den der Geschichten, der Unwirklichkeit« verwiesen wird, da die »reale Geschichte […] ohne sie auszukommen scheint« (ebd.: 11). Über die Figur der Spinnerin schreibt die Autorin, sie sei »eine Märchenfigur par excellence. Als ob es sie nie wirklich gegeben hätte« (ebd.). Statt in der Geschichte sucht die Autorin also in Geschichten und Märchen, die sie als Orte der Unwirklichkeit bezeichnet, nach Erzählungen vom Spinnen.

Geschichte und Geschichten Was tut die Autorin hier? Sie stellt der realen Geschichte die Geschichten gegenüber. Angesprochen ist damit eine Diskussion in der autonomen Frauenbewegung über Geschichte und Geschichtsschreibung. Unter dem Motto Frauen suchen ihre Geschichte – so der Titel eines Sammelbandes von Karin Hausen aus dem Jahr 1983 – entstand eine Vielzahl von historischen Studien, beispielsweise zu Arbeit und Leben, Bevölkerungspolitik und Gesundheit, politischen Kämpfen und Öffentlichkeit. Im Zuge dieser Diskussionen wurde oftmals der Ausschluss der Frauen als handelnde Subjekte aus der Geschichtsschreibung kritisiert. Treusch-Dieter thematisiert nicht das empirisch erforschbare Leben von Frauen in diesen Bereichen – für eine empirische Forschung wären andere Quellen relevanter als Märchen. Die Gegenüberstellung der Begriffe Geschichte und Geschichten im Aufsatz von Treusch-Dieter verweist auf einen anderen Aspekt: auf die Frage, was überhaupt als intelligible Geschichte gilt und was nicht. Es geht ihr demnach nicht darum, die Frauen nachträglich in die Geschichtsschreibung zu integrieren, sondern um die Frage, wie Geschichte geschrieben und welcher Inhalt zu geschichtsrelevantem Inhalt wird. Geschichte ist spätestens mit der Säkularisierung zu dem Bereich geworden, durch den und in dem die Fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen thematisiert werden, und durch den sich das Subjekt in seinem Selbstbewusstsein konstituiert (vgl. Kittsteiner 2000). Wenn hier Geschichte und Geschichten, Wirklichkeit und Unwirklichkeit konfrontiert werden, so hat das zur Folge, dass die Entstehungsbedingungen und die Konstituierung von Geschichte als Sinnhorizont des Subjekts befrag- und kritisierbar werden. Treusch-Dieter verknüpft darüber hinaus einen Wissensinhalt – das Spinnen – mit einer bestimmten Wissensform: Das Spinnen wird in der Märchenform erzählt. Diese Wissensform Märchen entwirft sie als einen Gegensatz zu

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dem, was sie ›die Geschichte‹ nennt. Geschichte und Geschichten unterscheiden sich hier durch ihren Wirklichkeitsgehalt: Das Märchen ist die Wissensform, in der ›Unwirkliches‹ – oder gar Wirkungsloses – seinen Ort hat. Ein Märchen erzählt demnach von Dingen und Geschehnissen, von denen unklar ist, ob es sie gegeben hat, ob sie stattgefunden haben und ob das Erzählte wirklich wahr ist oder nicht. Wissensform und Wirklichkeitskonstituierung werden also verknüpft: Was in bestimmten Formen erzählt wird – beispielsweise in der Märchenform –, dem scheint ein geringerer Wirklichkeitsgehalt zuzukommen als dem, was in anderen Wissensformen weitergegeben wird. Die Spinnerin und die Tätigkeit des Spinnens finden demnach nur als das Unwirkliche, als die Rückseite der Wirklichkeit, Eingang in das Wissen – und auch nur in bestimmte Wissensformen, die eben als Orte des Unwirklichen fungieren. Ein Märchen als Material zu wählen, heißt demzufolge, eine Wissensform zu wählen, deren Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt fraglich scheint. Indem Treusch-Dieter die Geschichten des Unwirklichen in den Bereich der Wirklichkeit hereinnimmt, erweitert sich nicht nur dieser Bereich, vielmehr verändert sich auch der Sinnhorizont, vor dessen Hintergrund die feministische Theoriebildung sich vollzieht. Um welche inhaltliche Dimension wird der Sinnhorizont erweitert?

Entwirklichung weiblicher Produktivität Treusch-Dieters Bestimmung zufolge, das Spinnen sei »Paradigma weiblicher Produktivität«, habe eben diese weibliche Produktivität bisher nur in unwirklicher Weise Eingang in den Sinnhorizont Geschichte gefunden. Um ihr, die in der Ordnung kultureller Repräsentation wie der Geschichtsschreibung nicht erscheint, auf die Spur zu kommen, geht die Autorin im ersten Teil der Aufsatzreihe zurück zum Mythos von der Spindel der Notwendigkeit, wie ihn Platon erzählt. Sie bringt Mythos und Märchen in eine Konstellation: In Platons Mythos von der Spindel der Notwendigkeit sieht die Autorin einen Mechanismus am Werk, der weibliche Produktivität entwirkliche und sie damit aus dem Bereich der Geschichte in den der Geschichten verweise. Um diesen Mechanismus aufzudecken, arbeitet sie heraus, was in Platons Beschreibung verschwiegen wird und ungereimt bleibt. Platon beschreibe das Zwischenreich zwischen Tod und Geburt als »Produktionsstätte« (Treusch-Dieter o.J.: 17) des Menschen, des menschlichen Seins, in dem die Seelen auf ihre Wiedergeburt warten. Hier befinde sich eine Spindel, die von den drei Schicksalsgöttinnen, den Moiren Lachesis,

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Klotho und Atropos, bewegt werde. Zugleich seien die drei Göttinnen die Spindel, weshalb keine Differenz besteht »zwischen dem, was sie tun, und dem was sie sind« (ebd.: 16). Das Tun und das Sein der Schicksalsgöttinnen bestehe nun darin, die Lebensfäden der Seelen zu spinnen und sie so mit einer »Grundausstattung« (ebd.: 17) zu versehen. Treusch-Dieters Text legt das Augenmerk darauf, dass etwas in Platons Beschreibung der Bewegung der Spindel, am Tun der Schicksalsgöttinnen nicht aufgehe. Die Schicksalsgöttinnen spinnen, aber etwas Wesentliches fehlt: Weder gebe es ein Werg (noch nicht versponnener, aber schon bearbeiteter Flachs), aus dem das Garn entstehe, noch einen Faden, ein Produkt, das durch die Tätigkeit produziert werde. In Platons Bild fehlen demnach Anfang und Ende, Ausgangsmaterial und produziertes Resultat der Tätigkeit. Ohne Anfang und Produkt werde die Tätigkeit der Spinnerinnen aber zum »reine[n] Naturgeschehen« gemacht, weshalb sie auch »keine geschichtliche Relevanz« (ebd.: 19) erhalte. Sie wird als »bloßes Tun« und nicht als Tätigkeit vorgestellt, da sie keine »Objektivation in der Zeit« (ebd.) erreicht. Die Spinntätigkeit der Schicksalsgöttinnen werde im Mythos zum indifferenten Naturprozess ohne Vergegenständlichung und sei zur Wirkungslosigkeit verdammt, da ihr abgesprochen wird, durch eine Vergegenständlichung, also ein neues Produkt, auf die Wirklichkeit einzuwirken. Treusch-Dieter beschreibt diesen Mechanismus als Entwirklichung der weiblichen Produktivität. Warum aber, so fragt die Autorin, werde die weibliche Produktivität entwirklicht und dadurch geleugnet? Sie schreibt dazu: »Warum dieses Erkenntnisverbot gegenüber der weiblichen Produktivität, das sie als Kunde nur aus dem Jenseits zuläßt? Nur als mündliche, gerüchteweise Kunde, von der keineswegs sicher ist, ob sie auf Wahrheit beruht? […] Prinzipielle Antwort: Aufgrund der umfassenden Abhängigkeit von dieser Produktivität.« (Ebd.: 19-20, Herv. i. O.) Die Abhängigkeit beruhe zum einen auf der über Jahrhunderte notwendigen, existenzsichernden Arbeit des Spinnens, zum anderen liege sie in der Fähigkeit der Frau begründet, Kinder zu bekommen. So schreibt die Autorin: »Die Spindel [als Bild für die Tätigkeit der existenzsichernden Arbeit des Spinnens, K.L.] bildete die Grenze zwischen Mann und Frau, der eine andere Grenze korrespondierte: Die Fähigkeit der Frau Kinder zu kriegen.« (Ebd.: 26)

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Die Leugnung der Abhängigkeit vollziehe sich durch die Depotenzierung der weiblichen Produktivität im »Blick und Wissen des Mannes« (ebd.). Allerdings vereine der Mythos Leugnung und Erinnerung, denn so Treusch-Dieter: »Nur was bekannt ist, kann geleugnet werden.« (Ebd.) Trotz der Naturalisierung und Entwirklichung bewahre der Mythos das Wissen um die weibliche Produktivität, wenn auch in entwirklichter Form. Treusch-Dieters Kritik zielt darauf zu zeigen, dass Platons Konzeption des menschlichen Seins auf einer verschwiegenen Voraussetzung beruht: auf der Abhängigkeit des menschlichen Seins von der weiblichen Produktivität. Die Leugnung vollziehe sich durch die Behauptung der Unabhängigkeit des Seins von der weiblichen Produktivität: Das, was als wirkliches Sein gelte, werde als unabhängig von der Tätigkeit des Spinnens der Schicksalsgöttinnen konstruiert. Die Verschiebung der Abhängigkeit in den Bereich der Unwirklichkeit bedeutet ihren Ausschluss aus dem Bereich des sinnvollen Wissens. In ihren späteren Reflexionen zu ihrem methodischen Vorgehen, die unter dem Titel Geschick und Schicksal. Die parthenogene Maschine der Moira publiziert wurden, kommt Treusch-Dieter auf Karl Marx’ materialistische Religionskritik zu sprechen. Marx konstatiert in seinen Thesen über Feuerbach, dass sich Philosophie und Religion als ein »selbständiges Reich« des reinen Geistes vorstellen und sich von ihrer »weltliche[n] Grundlage« abheben: »Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden.« (Marx 1969: 6)5 Die Kritik zielt auf die Vorstellung, der Geist entstehe gleichsam aus sich selbst und lasse sich aus sich selbst erklären. Die Verselbstständigung des Geistes gegenüber der sinnlich-materiellen Wirklichkeit sei der »innerste Funktionsmechanismus der Metaphysik« (Treusch-Dieter 2014b: 410). Treusch-Dieters Platon Lektüre, in der sie einen grundlegenden Text der abendländischen Philosophie der Kritik unterzieht, führt weiter, was Luce

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Treusch-Dieter belässt es beim Theoretisieren des gedanklichen Widerspruchs, bei der Kritik des Wissens. Die Entstehung desselben aus dem Widerspruch der »weltliche[n] Grundlage« und deren praktische Revolutionierung im Marx’schen Sinne hat sie meines Wissens außen vor gelassen.

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Irigaray mit ihrer Durchquerung der Diskurse in Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts begonnen hatte. Einige Jahre vor Treusch-Dieter arbeitete die Psychoanalytikerin unter anderem anhand von Platon das Verschieben und Verschweigen des Weiblichen als Gründungsakt der abendländischen Philosophie heraus. Auf dieser Verdrängung beruhe das System der kulturellen Repräsentation. In ihrem Rückgang auf einen Text Platons folgt Treusch-Dieter gleichsam der Einschätzung Irigarays, es sei »natürlich der philosophische Diskurs, den man befragen und zerrütten muß, insofern er das Gesetz jedes anderen ausmacht, insofern er den Diskurs der Diskurse konstituiert« (Irigaray 1979: 76). In ihm sei der Mechanismus der Leugnung der weiblichen Produktivität durch ihre Entwirklichung am Werk. Treusch-Dieters Märchendeutung rüttelt an der Ordnung des Wissens. Erstens stellt sie die Frage, was in den Bereich der Geschichte als Sinnhorizont des Subjekts Eingang findet. Zweitens deckt sie anhand des platonischen Mythos den Mechanismus auf, durch den die sinnlich-materielle Abhängigkeit menschlichen Seins im und durch das Wissen der platonischen Philosophie geleugnet wird. Bezogen auf die Frage nach dem Subjekt möchte ich zusammenfassen: Wenn Geschichte den Sinnhorizont für das Subjekt bildet, so bedeutet das Hereinnehmen der Geschichten von der weiblichen Produktivität in diesen Sinnhorizont die Möglichkeit, das Subjekt in seiner sinnlich-materiellen Abhängigkeit von der weiblichen Produktivität zu begreifen. Zwar unterlässt es Treusch-Dieter eine positive Bestimmung dieses Subjekts vorzunehmen. Dennoch kreist ihre spekulative Geschichtskonstruktion um die Herausarbeitung der Möglichkeit eines anderen Subjekts. Diese Möglichkeit konstruiert sie als spekulativ ›geschichtlichen‹ Moment durch ihre Konfrontation von Mythos und Märchen. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ermöglicht die Konstruktion, den Bruch mit der in Platons Mythos erzählten Entwirklichung weiblicher Produktivität zu denken.

Bruch mit dem mythischen Bann Treusch-Dieter schiebt in Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit Mythos und Märchen ineinander und bringt sie so in einen Zusammenhang. Über das Band zwischen Mythos Märchen schreibt der Philosoph Walter Benjamin in seinem Aufsatz Der Erzähler:

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»Das Märchen, das noch heute der erste Ratgeber der Kinder ist, weil es einst der erste der Menschheit gewesen ist, lebt insgeheim in der Erzählung fort. Der erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen. Wo guter Rat teuer war, wußte das Märchen ihn, und wo die Not am höchsten war, da war seine Hilfe am nächsten. Diese Not war die Not des Mythos. Das Märchen gibt Kunde von den frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschütteln.« (Benjamin 2018: 403) Im Märchen wird der »Not des Mythos« mit List entgangen, es erzählt einen Ausweg. Welchen Ausweg zeigt das Märchen von den drei Spinnerinnen? Wie gelingt es, dem mythischen Verhängnis, dass die weibliche Produktivität entwirklicht ist, zu entgehen? Zunächst deutet Treusch-Dieter das Märchen als Verwirklichung der Entwirklichung, die in Platons Mythos begründet liege. Denn die drei von ihr als Schicksalsgöttinnen interpretierten Spinnerinnen6 verarbeiten den gesamten Flachs aus allen drei Kammern. Damit bringen sie die Voraussetzung ihrer Tätigkeit und sich selbst zum Verschwinden: »Die 3 Spinnerinnen säubern sich mit dem restlosen Aufräumen der 3 Kammern selbst weg: die Baumwolle kann an die Stelle des seit Jahrtausenden mit dem weiblichen Geschlecht identifizierten Flachses treten.« (TreuschDieter 1983: 25) Die Entwirklichung auf der die Ordnung der Repräsentation, die Philosophie und das Wissen sich aufrichten, finde hier ihre Verwirklichung (vgl. ebd.). Die Konstruktion bringt das Märchen und den Mythos in ein Verhältnis, in dem das zeitlich Frühere das zeitlich Spätere bestimmt, zugleich im zeitlich Späteren das zeitlich Frühere zu seiner Verwirklichung kommt. Damit aber wäre die Entwirklichung, die Tilgung der Erfahrung und des Wissens um die weibliche Produktivität, ein für alle Mal vollzogen. So schreibt Treusch-Dieter: »[V]on diesen 3 Spinnerinnen können keine Märchen mehr erzählt werden.« (Ebd.: 29) Doch ist das nicht ihr letztes Urteil. Ihre spekulative Geschichtskonstruktion lässt sich interpretieren als Kritik an einem Geschichtsbegriff, der selbst noch dem mythischen Bann der schicksalhaften Wiederholung der Entwirklichung weiblicher Produktivität verhaftet bleibt. Die Konstruktion wiederholt ein teleologisches Verständnis von Geschichte, das den geschichtlichen

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Zum Vergleich der drei Spinnerinnen mit den drei Parzen vgl. Uther 2008: 32.

Die umfassende Abhängigkeit des Subjekts

Ablauf als einem Ziel zustrebend denkt, das in seinem Wesen verankert sei. Ihr Verfahren ist das der Wiederholung – allerdings einer bestimmten Wiederholung: Der spekulative Gehalt ihrer Konstruktion besteht darin, dass sie konstruiert. In der Konstruktion ist schon bei Platon die Entwirklichung weiblicher Produktivität angelegt, die Jahrhunderte später in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort ihre Verwirklichung erfährt. Durch das Zusammensetzen der Elemente – Mythos von der Spindel und das Märchen von den Spinnerinnen – wird diese Logik sichtbar. In TreuschDieters Konstruktion wird die Geschichte weiblicher Produktivität vom Ende her deutbar. Das wird am Schluss des Aufsatzes deutlich, denn das Märchen endet nicht damit, dass die Spinnerinnen den gesamten Flachs verspinnen, sich selbst zum Verschwinden bringen und die Entwirklichung verwirklicht wird. Vielmehr erzählt das Märchen, dass sich das Mädchen an seiner Hochzeit an sein Versprechen erinnert und die drei Spinnerinnen einlädt. Die drei Spinnerinnen, so Treusch-Dieter, haben »sich selbst als Rest im Gedächtnis des Mädchens« (ebd.: 25) gesetzt. Sie treten auf der Hochzeit auf und werden sichtbar. Durch die Erinnerung des Mädchens und das Auftreten der drei Spinnerinnen auf der Hochzeit bringen sie gemeinsam die Spinnarbeit zur Erscheinung. Damit werde die Entwirklichung der weiblichen Produktivität aufgehoben, weil das Mädchen die vorausgegangene Arbeit der Spinnerinnen nicht verschweigt (vgl. ebd.: 29). So lässt Treusch-Dieter ihrem Satz, dass von »diesen drei Spinnerinnen […] keine Märchen mehr erzählt werden« können, folgen: »Außer man erinnerte sich selbst an das Versprechen, das das Mädchen ihnen gegeben hat, und erzählt das Märchen von vorn. Ein Märchen, das ohne dieses Märchen im Märchen eine ganz gewöhnliche Geschichte von Herrschaft und Ausbeutung ist.« (Ebd.) Sie kompiliert und interpretiert das Märchen so, dass sich durch das Konstruktionsverfahren am Ende etwas anderes eröffnet, als das, was im Mythos vorherbestimmt zu sein scheint. Die Verwirklichung der Entwirklichung schlägt um in eine Möglichkeit. Damit wird die teleologische Logik aufgesprengt und etwas Neues ermöglicht.

Beziehungen zwischen Frauen Treusch-Dieters Konstruktion ermöglicht also, Geschichte als vorherbestimmtes Kontinuum, als mythisches Verhängnis aufzubrechen. Deutlich

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wird das in ihrer Deutung des Auftritts der drei Spinnerinnen am Hof. Zuvor hatten sie dem Mädchen das Versprechen abgenommen, sie als seine »Basen« zur Hochzeit einzuladen und sich ihrer nicht zu schämen. Als nun die Spinnerinnen zur Feier kommen, will der Prinz wissen, wie das Mädchen – seine Braut – zu der »garstigen Freundschaft« (Treusch-Dieter 1983: 22) gekommen sei. Er inspiziert die drei und fragt, woher sie ihre körperlichen Deformationen hätten. Als er nun hört, dass sie von der Spinnarbeit herrühren, verfügt er, seine Braut solle kein Spinnrad mehr anrühren. Das Verdikt des Prinzen interpretiert Treusch-Dieter folgendermaßen: »In dem Moment, wo der Bräutigam mit Schrecken die durch den Garnhaufen hindurch vermittelte Einheit seiner Braut mit den 3 bösen Flachsspinnerinnen erkennt, setzt er ein Berührungsverbot zwischen ihr und dem Spinnrad. Die mit Schrecken von ihm wahrgenommene Einheit besteht in nichts anderem, als daß die Braut, die in dem Garnhaufen vergegenständlichte Arbeit der 3 Weiber, die sie selbst zu leisten gehabt hätte, als verwandte anerkennt, als ihre andere Hälfte, die, hätte sie den Schein der eigenen Arbeit gewahrt dadurch, daß sie sich nicht an das den 3 Weibern gegebene Versprechen gehalten hätte, unsichtbar geblieben wäre. Stattdessen bringt sie die 3 ˈbösen Flachsspinnerinnenˈ zur Erscheinung und stellt so, zusammen mit ihnen, das Macht-System dieses Hof-Staats eine Schrecksekunde lang in Frage, dessen Grundlage diese unsichtbar angeeignete, weggeschlossene, ausgeschlossene, eingeschlossene, weibliche Arbeit ist.« (Treusch-Dieter 1983: 28, Herv. K.L.) Der Skandal besteht darin, dass das Mädchen die Spinnerinnen als verwandte Basen anerkennt und die Spinnarbeit sichtbar macht, indem es sich an sie erinnert. Das aber versucht der Prinz durch das »Berührungsverbot« zu unterbinden: »Im Sinne der Machtsicherung dieses Hof-Staats kommt alles darauf an, daß die Braut, die mit ihrem Schein der eigenen Arbeit diese unsichtbar angeeignete zu decken hat, in ihr keine verwandte mehr erblickt, sondern nur noch eine fremde. […] Das Verwandte, das Weibliche […] muß weg. Sie, die Braut und die 3 bösen Flachsspinnerinnen, dürfen sich als ein Geschlecht, das um seine Produktivität und um seine Schamlosigkeit weiß, nicht berühren.« (Ebd.) Treusch-Dieter hebt erstens auf die Einheit zwischen dem Mädchen als Braut und den drei Spinnerinnen ab, zweitens auf die vergegenständlichte Arbeit, welche die Einheit vermittelt, drittens auf das Sichtbarwerden dieser Arbeit,

Die umfassende Abhängigkeit des Subjekts

welches das Machtsystem infrage stellt, und viertens auf das Berührungsverbot. Alle vier Aspekte hängen zusammen und enthalten zwei Dimensionen, die ich herausarbeiten will: die Dimension der Beziehung zwischen dem Mädchen und den drei Spinnerinnen und die Dimension der Verwandtschaft. Was die Autorin anhand der Märchendeutung skizziert, ist die Verknüpfung der Beziehung der Frauen untereinander mit der Arbeit des Spinnens. Die Beziehung der Frauen ist nicht unmittelbar, sondern vermittelt über den »Haufen Garn«, in den die körperliche Spinnarbeit der drei Spinnerinnen und der Flachs eingegangen sind. Durch diese Arbeit wird das Mädchen zur Braut, die drei Spinnerinnen produzieren ihre »Ausstattung« (ebd.: 25). Die Beziehung zwischen den Frauen konstituiert und vermittelt sich durch die Arbeit ebenso wie durch die Anerkennung dieser Arbeit. Das Mädchen erkennt an, dass sie – um Braut zu werden – von der körperlichen Arbeit der Spinnerinnen abhängig ist. Das Spinnen und das Spinnrad erscheinen in TreuschDieters Interpretation als Vermittlungsinstanzen zwischen den Frauen, durch die sie sich in eine Beziehung zueinander setzen. Der Hofstaat, die Ordnung der Repräsentation, wird durch das Sichtbarwerden der weiblichen Arbeit und damit der Beziehung der Frauen zueinander bedroht. So versteht die Autorin das »Berührungsverbot« (ebd.: 28) als Versuch, die über die weibliche Produktivität vermittelte Beziehung zu unterbinden. Darüber hinaus betont Treusch-Dieter die Dimension der Verwandtschaft zwischen den Frauen. Inwiefern diese Verwandtschaft besteht und worin sie sich gründet, bestimmt die Autorin nicht. Interpretieren möchte ich die Akzentuierung der Verwandtschaft mithilfe der Überlegungen von Luce Irigaray zu weiblicher Genealogie in ihrem Aufsatz Körper an Körper mit der Mutter. Es liegt nahe, dass die Verwandtschaft zwischen den Spinnerinnen und dem Mädchen eben in der Arbeit der Spinnerinnen und deren Anerkennung begründet wird. Das Wissen des Mädchens über ihre Verbundenheit mit den Spinnerinnen kann dann verstanden werden als Denken einer weiblichen Genealogie. Die Braut wird erzeugt durch die Spinnerinnen, deren ›Mutterschaft‹ eine Verwandtschaft stiftet, die nicht die unmittelbare Blutsverwandtschaft ist. Ich verstehe die Betonung der Verwandtschaft in der Märcheninterpretation von Treusch-Dieter als Thematisierung von Geschlecht, in der Geschlecht als Frage der Beziehungen zwischen Frauen und deren Genealogie verstanden wird. Die Beziehung wird nicht als unmittelbar, sondern über Anerkennung und weibliche Produktivität vermittelt gedacht. Eine über ein Drittes vermit-

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telte Beziehung unter Frauen verknüpft die Psychoanalytikerin Luce Irigaray mit der Frage nach einer weiblichen Genealogie, wenn sie schreibt: »Es ist gleichfalls wichtig, daß wir entdecken und daran festhalten, daß wir als Frauen immer Mütter sind. Wir bringen andere Dinge als nur Kinder zur Welt, wir erzeugen und erschaffen anderes als Kinder: Liebe, Begehren, Sprache, Kunst, Soziales, Politisches, Religiöses etc.« (Irigaray 1989: 41) Die Genealogie stellt sich her über das »Erzeugen […] von Bildern und Symbolen« (ebd.). Die Frage der Genealogie schlägt eine Brücke zur Frage der Geschichte, wenn Geschichte einer der gesellschaftlichen Orte ist, an denen das Subjekt sich seiner Herkunft und Zukunft versichert. Die Thematisierung einer weiblichen Genealogie bleibt in Treusch-Dieters Märcheninterpretation nur angedeutet, ebenso wird das Subjekt nicht bestimmt, das vor dem Hintergrund einer solchen Genealogie erst noch entstehen müsste. Die Subjektkritik der Autorin ist insofern einem negativen Verfahren verpflichtet. Ihre Deutung kann aber verstanden werden als Aufklärung darüber, dass die Unsichtbarkeit weiblicher Arbeit einhergeht mit der Verhinderung der vermittelten Beziehungen zwischen Frauen.

Struktur weiblicher Produktivität In den Reflexionen ihrer Arbeit aus dem Jahr 1989 kommt Treusch-Dieter auf die begriffliche Struktur der Tätigkeit des Spinnens zu sprechen. Das Spinnen als Paradigma weiblicher Produktivität beschreibe in seiner Bewegungsform den Prozess einer Transformation: »Das Spinnen setzt die Natur fort, indem es sie transformiert. Es geht nicht um ein Schneiden, Zerlegen und Neuzusammensetzen, sondern es geht um ein Herausziehen von Fasern aus Haut oder pflanzlichem Stoff. […] Dieses Verfahren verweist nicht nur auf die völlig andere Zeitstruktur der Produktion […], sondern es belegt auch die begriffene Differenz, die für die Produktionsweise mit dem Messer und für die mit der Spindel konstitutiv ist.« (Treusch-Dieter 2014b: 415) Das Fortsetzen der Natur in der Kulturtechnik des Spinnens stellt ein Verhältnis von Kultur und Natur dar, das Treusch-Dieter zufolge keine Trennung, das Setzen eines Gegensatzes, voraussetze und nach sich ziehe:

Die umfassende Abhängigkeit des Subjekts

»Die durch keinen Schnitt unterbrochene Gewinnung der Faser als Ausprägestoff, der seinerseits zu Stoff wird, bezeichnet eine stoffliche Gleichzeitigkeit von Natur und Kultur. Im Gespinst durchdringen sich beide. Dabei wird das Naturprodukt im Gespinst nicht negiert, sondern strukturiert. Das entstehende Kulturprodukt setzt sich dem, woraus es gemacht ist, nicht gegenüber, es ist nicht Gegen-stand wie etwas, das durch Schneiden, Zerlegen und Neuzusammensetzen entsteht, sondern es ist Bei-stand. Es schmiegt sich der Natur, von der es genommen ist […] wieder an. […] Das Spinnen in seinem der Produktionsweise mit dem Messer entgegengesetzten Sinn kennt keinen Abfall, es kennt nur den Rest, der als Ende, als verschlissener Stoff, wieder zum Ausprägungsstoff wird: zu einem neuen Anfang.« (Ebd.: 416) Mit ihrem Modell des Spinnens zielt Treusch-Dieter auf ein anderes Verhältnis von Natur und Kultur und damit auf ein anderes Verhältnis von Subjekt und Objekt. Das Spinnen wird hier zum Modell einer Produktionsweise, die immer schon eingelassen ist in das Kontinuum dessen, was als ›Natur‹ und ›Kultur‹ bezeichnet wird. Zur Kritik steht somit eine Produktionsweise, die auf der Trennung – dem Zerschneiden – dieses Kontinuums beruht. Die Trennung hat bisher als Natur-Kultur-Dichotomie ihren Eingang ins Denken gefunden. Damit steht ein anderes Weltverhältnis zur Diskussion. Angedeutet ist ein Subjekt, das durch eine transformative Tätigkeit entsteht, sich formt und sich als Teil dieses Kontinuums zu begreifen vermag.

Erinnerung der feministischen Subjektkritik: Zusammenfassung Ich habe einen weiten Bogen geschlagen, von der Frage, wie feministische Theoriebildung erinnert wird, zur Analyse der Märchendeutung von Gerburg Treusch-Dieter in ihren unterschiedlichen Facetten. Vieles bleibt unklar in ihrer Deutung und scheint voluntaristisch gesetzt, was an der Art des Schreibens, am Spiel mit Andeutungen und Vieldeutigkeit, am Fragen, ohne Antworten zu geben, liegen mag – eine Art des Schreibens, die von Luce Irigarays Frühwerk bekannt ist. Auch der zentrale Begriff – die weibliche Produktivität – wird nicht eindeutig bestimmt, schon gar nicht definiert. Festhalten lässt sich, dass damit unsichtbar gemachte, lebensnotwendige Arbeit gemeint ist und die Fähigkeit, Leben zu gebären. Vor allem wirft Treusch-Dieters Verwendung des Begriffs der weiblichen Produktivität Fragen auf: Fragen nach der sinnlich-materiellen, existenziel-

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len Abhängigkeit des menschlichen Seins von der weiblichen Produktivität, danach, wie in der abendländischen Kultur bis heute mit dieser Abhängigkeit umgegangen wird, also Fragen der Verdrängung dieser Abhängigkeit; Fragen nach einem Geschichtsverständnis, welches das Wissen um diese Abhängigkeit aus dem Sinnhorizont des Subjekts streicht; Fragen nach Beziehungen zwischen Frauen und weiblicher Genealogie und nach einem transformativen Subjekt-Objekt-Verhältnis. Diese Aspekte sind in der Märchendeutung fragmentarisch versammelt. Die Ebenen, die damit angesprochen sind, möchte ich zum Abschluss auf meinen Ausgangspunkt beziehen. Den hatte ich bei Barbara Rendtorffs Beobachtung zum Verständnis von Geschlecht als Kategorie personaler Identität und Rita Casales Feststellung gesetzt, die gesellschaftskritische feministische Theoriebildung der autonomen Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre ringe um die Begriffe Geschichte, Subjekt und Gesellschaft und visiere »mögliche andere Formen von Subjektivität« (Casale 2014: 79) an. In der Märchendeutung wird Geschlecht nicht als Personvariable oder personale Identität gedacht. Vielmehr tritt die Dimension von Geschlecht in der Geschichte als Sinnhorizont des Subjekts hervor. Treusch-Dieters Verfahren bleibt weitgehend einer negativen Kritik verpflichtet, die sich positiver Bestimmungen enthält. Weitgehend, denn indem die Analyse die Verdrängung der Abhängigkeit von der weiblichen Produktivität herausarbeitet und die Frage nach Beziehungen zwischen Frauen provoziert, kann eine mögliche andere Form von Subjektivität am Horizont erscheinen – ein Subjekt, das möglicherweise seine umfassende Abhängigkeit nicht verleugnen muss.

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Die umfassende Abhängigkeit des Subjekts

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Widerständiger Witz Subversive Komik als feministische Strategie und Intervention? Verena Sperk

Feminist*innen verstehen keinen Spaß. In gewisser Weise trifft dieser Satz sicherlich zu. Für Sara Ahmed bedeutet ein feministisches Leben, das Leben einer Spaßverderber*in – einer feminist killjoy* – zu führen. Sie stärkt diese Figur als eine alltägliche Strategie des Widerstands. Eine feministische Spaßverderber*in schrecke demnach nicht davor zurück, konsequent und jeden Tag Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben, auch wenn sie damit in ihrer Umgebung fortwährend Unbehagen auslöst oder auf Abwehr stößt (vgl. Ahmed 2017: 235ff.). Das bedeutet auch, abwertende oder diskriminierende Witze als solche aufzuzeigen und zurückzuweisen. Eine solche Kritik wird allerdings meist sehr simpel über Formeln wie »Das war doch nur ein Witz«, »Verstehst du keinen Spaß« oder »Sei nicht so empfindlich« delegitimiert. Dadurch wird eine nachträgliche Distanzierung vom herabsetzenden Gehalt der getätigten Aussagen möglich. Einerseits werden auf diese Weise diskriminierende Inhalte verharmlost, andererseits Herrschaftsverhältnisse verschleiert, wodurch letztlich jegliche Form der Kritik zurückgewiesen werden kann. Komische Verfahren dienen dabei nicht nur als Instrument gewaltsamer sprachlicher Zurichtung, sondern auch ihrer Verdeckung und Normalisierung. Simon Critchley bezeichnet das als reaktionären Humor, der in erster Linie »den [sozialen] Konsens verstärken [möchte] und keinesfalls die bestehende Ordnung […] kritisieren oder die Situation, in der wir uns befinden, […] verändern« (Critchley 2004: 21) will. Komik diene in dieser Gestalt folglich der Stabilisierung und Erhaltung des gesellschaftlichen Status quo. Dazu werden häufig bestimmte gesellschaftliche Gruppen – meist Personen, die nicht der Mehrheit angehören oder von der Norm abweichen – in Witzen verlacht

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und über dieses Lachen gewaltsam in sozialen Zusammenhängen auf ›ihren Platz‹ verwiesen (vgl. ebd.: 21f.). In solchen herabsetzenden und ausgrenzenden Formen von Humor zeigt sich sehr deutlich die Komplizenschaft mit Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen, die in Komik und Lachen grundsätzlich angelegt ist. Weniger greifbar ist sie jedoch in jenen Wirkmechanismen von Witzen, die eben zur Verdeckung derselben beitragen. Stefan Horlacher verweist in diesem Zusammenhang auf Sigmund Freuds Argumentation in dessen Witztheorie, wonach wir als Rezipient*innen eines Witzes »nicht […] geneigt [seien], etwas unrichtig [daran] zu finden, was uns Vergnügen bereitet hat, um uns [dadurch] die Quelle einer Lust zu verschütten« (Freud 2017: 146). Wir würden deshalb »dem Gedanken zugute […] schreiben, was uns an der witzigen Form gefallen hat« (ebd.: 146). Horlacher schlägt hier die Brücke zu einer Studie von Brigitte Bill und Peter Naus (1992), in der gezeigt wurde, dass Sexismen, die in humorvolle Äußerungen gekleidet sind, als harmloser und möglicherweise auch weniger diskriminierend wahrgenommen werden (vgl. Horlacher 2009: 18). Dieses Vermögen von Komik, patriarchale und sexistische Tendenzen zu verbergen, begründe die Notwendigkeit einer kritischen Analyse von komischen Verfahren (vgl. ebd.: 18). Als Handlungsstrategie im Alltag sieht Ahmed die Verantwortung einer feminist killjoy* darin, in Situationen sexistischer Witzeleien ein Lachen zu verweigern und zugleich immer wieder beharrlich Ungleichheiten sowie Gewaltmechanismen zu benennen – auch dann, wenn diese, verschleiert durch Humor, nicht mehr als solche erkannt werden (wollen) oder das Ansprechen derselben als Überempfindlichkeit abgetan werde (vgl. Ahmed 2017: 261f.). Diese bitteren Späße zu verderben oder wörtlich genommen ›abzutöten‹, bedeutet für sie jedoch keinesfalls, dass Feminist*innen gemäß dem verbreiteten Bild humorlos seien. Ganz im Gegenteil sei Humor ein wichtiges Werkzeug, das die tägliche Arbeit einer feministischen Spaßverderber*in erträglicher machen oder sogar Trost spenden könne (vgl. ebd.: 245). Darüber hinaus habe Humor durchaus die Fähigkeit, soziale Ordnungen herauszufordern, indem deren verdeckte Muster offengelegt würden. Ein solches Lachen trage Ahmed zufolge Verletzungen nicht durch Wiederholung weiter, sondern erzeuge eine Unterbrechung, wodurch der Blick auf bestehende Ungleichheiten neu ausgerichtet werden könne (vgl. ebd.: 261). Auch Critchley schreibt Komik neben den stabilisierenden Effekten des reaktionären Humors ein transformatives Potenzial zu. Witze beziehen sich demnach in ihrer Struktur meist auf soziale Konventionen, Praktiken

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und Ordnungen, die in ihnen gewissermaßen verfremdet und dadurch neu und auch anders wahrgenommen werden können. Dies biete daher die Möglichkeit, das Gewöhnliche von Situationen durch Komik und Humor zu überschreiten und zu verändern. Komik könne auf diese Weise eine kritische Funktion erhalten, was soziale Bewegungen für das Infragestellen bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse seit jeher nutzen würden (vgl. Critchley 2004: 19f.). Komische Verfahren, wie lebhaft am Beispiel der Satire sichtbar wird, werden dabei zu einem Werkzeug, um Kritik an sozialen Missständen zu üben (vgl. Zymner 2017: 21).

Komik als ambivalentes Phänomen Komik, Humor und Lachen können auf verschiedene Weise agieren und darin »sowohl soziale Zusammengehörigkeit als auch Ausschluss herstellen« (Kotthoff 2010: 61). Es handelt sich also um äußerst amivalente Phänomene, die einerseits eng mit den herrschenden Verhältnissen verwoben sind, andererseits gerade dadurch deren Veränderung bewirken können. Der vorliegende Beitrag möchte diesen zwei Seiten von Komik, Humor und Lachen in ihrer Verwobenheit mit Geschlecht und Geschlechterverhältnissen nachgehen und ausgehend davon, das widerständige und subversive Potenzial von Komik als feministischer Intervention skizzieren. Wie gehen Feminist*innen – und in weiterer Folge feministische Forschung – mit der Zweischneidigkeit von Komik um? Wie nutzen Feminist*innen Komik für ihre Anliegen? Was macht eine möglicherweise als feministisch beschreibbare Komik aus und worin könnte das Widerständige, das Subversive und auch das Intervenierende einer solchen Komik liegen? Diese Fragen sollen anhand queer*feministischer Theorie und Praxis des Komischen im Folgenden umrissen werden. Um aber die Merkmale feministischer Zugänge zu Komik auszuarbeiten, werden in einem ersten Schritt grundlegende Begriffe und Konzeptionen des Komischen anhand bedeutender Theorien voneinander abgegrenzt. Die dabei vorgestellten Perspektiven stellen gewissermaßen einen Teil des theoretischen Kanons in der Komikforschung dar, an den feministische und geschlechtertheoretische Auseinandersetzungen mit Komik, Humor und Lachen teils anknüpfen und diesen neu rahmen oder sich auch gänzlich davon entfernen und eigene Wege gehen. Seit den 2000er Jahren entstanden vermehrt Forschungsarbeiten, die sich auch abseits dieser kanonischen Theorien mit dem Verhältnis von Geschlecht, Feminismus und Komik beschäftigen. Es

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lässt sich daher gewissermaßen die Formierung und Ausdifferenzierung eines Feldes der »Feminist Comedy Studies« (Hennefeld/Berke/Rennett 2019: 140) beziehungsweise der feministischen Komikforschung beobachten und im Folgenden nachzeichnen. Ansätze aus diesem Feld nähern sich feministisch positioniert und mit kritischem Blick Phänomenen des Komischen, was im zweiten Teil dieses Beitrags genauer ausgeführt werden soll. Dafür werden in einem nächsten Schritt zwei theoretische Entwürfe aus diesem Feld vorgestellt, die sich aus einer feministischen Perspektive mit den subversiven und transformativen Momenten von Komik auseinandersetzen. Ergänzt werden diese Überlegungen um Einwürfe aus der queer*feministischen komischen Praxis, indem Schlaglichter auf das selbstreflexive ComedyProgramm Nanette der australischen Comedienne Hannah Gadsby geworfen werden. Dabei werden weitere Problemstellungen und Fragen aufgezeigt, denen sich eine geschlechtertheoretische und feministische Auseinandersetzung mit Komik als zweischneidigem Schwert stellen muss. Den unterschiedlichen Zugängen ist gemein, dass sie zum einen dieses Spannungsverhältnisses in ihren Überlegungen berücksichtigen und zum anderen mit Komik ein Aufrütteln erstarrt geglaubter Ordnungen realisierbar sehen: Sei es durch ein humorvolles Aufzeigen der Widersprüche einer ungerechten Gesellschaft (vgl. Krefting 2014), durch gemeinsames Lachen als Leidenschaft entflammendes und mobilisierendes Moment (vgl. Willett/Willett 2019) oder aber auch durch das konsequente Verweigern einer erwarteten komischen Entlastung, wenn der durch Gewaltverhältnisse verursachte Schmerz überwiegt (vgl. Gadsby 2018).

Theorien und Begriffe des Komischen Die Auseinandersetzung mit Phänomenen und Begriffen des Komischen findet in einer Vielzahl von Disziplinen statt. Dabei werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Die klassische Theoriebildung reicht bis in die antike Philosophie zurück, weshalb die Auffassungen davon, was das Komische ausmacht, auf sehr unterschiedlichen Grundannahmen fußen kann. Einen Überblick über das weite Forschungsfeld versuchen die Textsammlung zu Theorien der Komik von Helmut Bachmaier (2005) sowie das interdisziplinäre Handbuch zur Komik von Uwe Wirth (2017) zu geben. In beiden Anthologien zeigt sich deutlich, wie heterogen die eingenommenen Perspektiven sein können und welche terminologische Vielfalt vorliegt. Gerade in den Literatur- und

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Theaterwissenschaften lassen sich begrifflich verschiedene Gattungen und Genres des Komischen differenzieren, unterschiedliche komische Verfahren und Schreibweisen benennen sowie diverse komische Berufe und Akteur*innen voneinander abgrenzen.

Komik, Humor und Lachen In Wirths Handbuch zur Komik werden beispielsweise 13 »Grundbegriffe des Komischen« (vgl. Wirth 2017: 2-66) angeführt, die den genannten Bereichen zuzuordnen sind. Drei Begriffe und ihre Beziehung zueinander können jedoch quer durch die Disziplinen als zentrale Diskussionspunkte ausgemacht werden: Komik, Humor und Lachen. Horlacher versucht im Sammelband Gender and Laughter, diese in seinem einleitenden theoretischen Überblick zusammenzuführen und zu umreißen (vgl. Horlacher 2009, Pailer et al. 2009). Um die begriffliche und theoretische Heterogenität des Feldes sowie deren Weitläufigkeit zu verdeutlichen, führt er eine Studie von Edmund Bergler aus dem Jahr 1956 an, in der bis zum Zeitpunkt des Erscheinens 80 Theorien des Lachens unterschieden wurden. Der Umfang und die Diversität der theoretischen Auseinandersetzung führt Horlacher zufolge dazu, dass die Begriffe Komik, Humor und Lachen nicht nur sehr unterschiedliche und teilweise unscharfe Definitionen besäßen, sondern auch je nach theoretischem oder disziplinärem Hintergrund gegensätzlich oder austauschbar gebraucht werden könnten (vgl. Horlacher 2009: 19-21). Während mit Humor häufig auf die Haltung einer Person verwiesen wird, die gegenüber komischen Phänomenen eine gewisse Aufgeschlossenheit besitzt (vgl. Kindt 2017a: 7, Berger 1998: X), wird Lachen gerne – auch in der feministischen Rezeption – in seiner physischen Radikalität als Grenzphänomen des Körpers beschrieben (vgl. Critchley 2004: 17f., Plessner 1961: 85-91, die Beschäftigung mit Hélène Cixous bei Parvulescu 2010: 101-118). Komik gilt hingegen in der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung inzwischen weitestgehend als Überbegriff für verschiedene erheiternde Phänomene. Tom Kindt definiert »Komik [als] eine Eigenschaft, die Gegenständen (Äußerungen, Personen, Situationen, Artefakten etc.) zugeschrieben wird, wenn sie eine belustigende Wirkung haben.« (Kindt 2017b: 2) In vielen Publikationen zu Komik werden meist drei zentrale Theorien des Komischen hervorgehoben und deren Perspektiven als grundlegende Zugän-

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ge zu Funktionsweisen des Komischen gesetzt: Inkongruenz-, Überlegenheitssowie Entlastungstheorien.1

Inkongruenz, Überlegenheit und Entlastung Inkongruenztheoretische Perspektiven gehen davon aus, dass Komik durch das Zusammenführen von zwei nicht zusammenpassenden, als unvereinbar erscheinenden Elementen entstehe. Dabei werde in der komischen Erzählung auf überraschende Weise mit unserem vorhandenen Wissen zu einer Situation beziehungsweise mit unseren Erwartungen an diese gebrochen, was wir schließlich als belustigend empfinden würden (vgl. Critchley 2004: 11f., Kindt 2017b: 3). Eine solche Inkongruenz entstehe unter anderem durch eine übertriebene Kontrastierung oder durch Konventionsverstöße, wie es beispielsweise häufig der Fall ist, wenn wir Gesagtes zu wörtlich auffassen (vgl. Bachmaier 2005: 124f.). Als Vertreter dieses Komikverständnisses führt Kindt unter anderem Aristoteles, James Beattie und Arthur Schopenhauer an (vgl. Kindt 2017b: 3). Thomas Hobbes formulierte grundlegende Gedanken zu einer Überlegenheitstheorie der Komik. Er geht davon aus, dass Lachen dadurch ausgelöst werde, dass wir eine andere Person lächerlich oder auch fehlerhaft finden. Dabei diene Komik dazu, sich überlegen zu fühlen, sich also selbst aufzuwerten, indem eine andere Person oder Personengruppe herabgesetzt wird (vgl. Hobbes 2005: 16f., Bachmaier 2005: 126). Diese Formen von Komik treten meist in ausgrenzenden und diskriminierenden Witzen zutage, wie eingangs auch in Bezug auf sexistische Äußerungen ausgeführt wurde. Eine der prominentesten Entlastungstheorien stammt von Sigmund Freud. In seiner Arbeit Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten erklärt er den Lustgewinn beim Erzählen eines tendenziösen Witzes durch die »Ersparung [eines] Hemmungs- und Unterdrückungsaufwand[s]« (Freud 2017: 133). Ein Witz setze demnach einen normalerweise unterdrückten sexuellen oder aggressiven Wunsch frei. Die Energie, die ansonsten zur Hemmung aufgebracht werden müsse, könne daher eingespart werden, wodurch Lust 1

Sie finden sich beispielsweise in der aktuellen Monografie Über Humor (Critchley 2004: 10ff.), aber auch in Nachschlagwerken wie Metzler Lexikon zu Literatur- und Kulturtheorie (Müller 2013: 383f.) oder Wirths interdisziplinärem Handbuch zu Komik (zum Beispiel im darin enthaltenen Beitrag von Kindt 2017b: 2f.). Horlacher (2009) nimmt in seinem Überblick eine andere, beispielsweise um performativitätstheoretische Überlegungen ergänzte, Systematisierung vor.

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gewonnen werde (vgl. ebd.: 131ff., Bachmeier 2005: 94). Andere bedeutende Entlastungstheorien, beispielsweise jene von Immanuel Kant oder jene von Herbert Spencer, gehen hingegen davon aus, dass Lachen Anspannung abbaue, indem angestaute nervöse Energie abgelassen werden könne (vgl. Kant 2005: 24ff., Critchley 2004: 11). Die drei hier beschriebenen Wirkweisen des Komischen müssten, um die Darstellung zu vervollständigen, allerdings noch um eine Reihe weiterer Zugänge ergänzt werden,2 beispielsweise durch Henri Bergsons Überlegungen zu Lachen als soziales Korrektiv (vgl. Bergson 2011) oder Michail Bachtins Karnevalstheorie, die den transgressiven Möglichkeiten von Lachen nachgeht (vgl. Bachtin 1990). Während bei Bergson Lachen betont strafender Natur ist und gewissermaßen jene Komik sanktioniert, die durch die »Steifheit des Körpers, des Charakters und des Geistes« (Bergson 2011: 24) erzeugt wird, kommt dem karnevalesken Lachen bei Bachtin durch ein temporär gestattetes Verlachen politischer und religiöser Autoritäten die Funktion eines gesellschaftlichen Ventils zu (vgl. Röcke 2017: 187).

Feministische Forschung Linda Mizejewski und Victoria Sturtevant (2017) zeichnen in ihrer Einleitung zu Hysterical! Women in American Comedy die Geschichte gendertheoretischer und feministischer Forschung zu komödiantisch aktiven Frauen* und/oder Feminist*innen nach. Diese begann demnach Ende der 1980er Jahre im englischsprachigen Raum und setzte sich anfänglich besonders mit der Frage

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Es kann aufgrund der Weite des theoretischen Kanons an dieser Stelle nur ein unvollständiger Überblick gegeben werden, den es zu ergänzen gilt: Bachmaier (2005) zieht mit einer kommentierten Zusammenstellung von Originaltexten (ausschließlich männlicher Autoren) einen Querschnitt durch die Theoriebildung zu Komik in der Philosophie. Das Handbuch von Wirth (2017) systematisiert das Feld hingegen nach seinen Begrifflichkeiten, disziplinären Perspektiven, Wirkfeldern und medialen Erscheinungsformen, wodurch neben der weit zurückreichenden philosophischen Auseinandersetzung auch andere, zum Teil jüngere Forschung – beispielsweise filmund medienwissenschaftliche Befunde oder Erkenntnisse aus Psychologie und Hirnforschung -, aber auch geschlechterspezifische Perspektiven berücksichtigt werden. Horlacher (2009) bietet aus einem kulturwissenschaftlichen Blickwinkel eine dichte Zusammenschau verschiedener theoretischer Ansätze und beachtet mit Rückgriff auf Überlegungen von Judith Butler auch gender- und performativitätstheoretische Fragestellungen.

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nach einem weiblichen* Humor auseinander.3 Spätere Beschäftigungen arbeiteten vermehrt geschlechtertheoretische und feministische Aspekte heraus und schlossen zum Teil an bereits etablierte Theorien des Komischen an. Beispielsweise entwickelte Kathleen Rowe mit einem feministischen Blick auf das Karnevaleske bei Bachtin das Konzept der Unruly Woman (vgl. Mizejewski/Sturtevant 2017: 10-17, Rowe 1995). Auch Cynthia Willett und Julie Willett greifen in ihrer aktuellen Studie (2019) zu subversiven Komiker*innen die drei am häufigsten rezipierten Komiktheorien – nämlich jene zu Inkongruenz, Überlegenheit und Entlastung – auf, betonen aber die Notwendigkeit eines neuen Zugangs zu deren Grundannahmen und betrachten sie daher durch die Brille von Theorien zu Affekt und Machtverhältnissen. Obwohl also bereits vor 30 Jahren die ersten Studien zu weiblichen* und/oder feministischen Akteur*innen im Kontext von Comedy sowie zum Zusammenhang von Komik, Feminismus und Geschlechterverhältnissen entstanden sind, ist besonders in den letzten 15 Jahren ein massiver Anstieg an Forschungsarbeiten in diesem Feld zu beobachten (vgl. beispielsweise die Monografien von Rowe 1995, Gilbert 2004, Parvulescu 2010, Reed 2013, Krefting 2014, Mizejewski 2014 und Willett/Willett 2019 sowie die Sammelbände von Barreca 1992, Pailer et al. 2009, Chiaro/Baccolini 2014 und Mizejewski/Sturtevant 2017). Kathryn Kein (2015) bespricht in ihrer Rezension Recovering Our Sense of Humor. New Directions in Feminist Humor Studies drei dieser aktuelleren Publikationen und führt das wachsende wissenschaftliche Interesse an weiblichen* beziehungsweise feministischen Comediennes* auf die steigende Präsenz der im Feld tätigen Akteur*innen zurück (vgl. ebd.: 673). Mizejewski/Sturtevant sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer »recent explosion of funny women on stage, television, film, and electronic media« (Mizejewski/Sturtevant 2017: 30). In den USA wurden seit 2000 – beispielsweise mit Tina Fey, Wanda Sykes, Margret Cho und Amy Schumer – Frauen* sowie feministisch relevante Inhalte Teil von Mainstream-Comedy-Shows und erreichten dadurch eine weite Verbreitung. Diese Präsenz war lange nicht selbstver3

Joanne Gilbert problematisiert die Vorstellung eines ›weiblichen‹ Humors und der oftmals damit einhergehenden Gleichsetzung mit ›feministischem‹ Humor (vgl. Gilbert 2004: 135). An dieser Stelle soll deshalb angemerkt werden, dass nicht jede weibliche* Komikerin automatisch feministische Anliegen vertritt. Die mehrfache Hervorhebung weiblicher* Akteurinnen soll vielmehr – ohne unnötig zu essenzialisieren – eine Entwicklung dahingehend aufzeigen, dass immer mehr als Frauen* identifizierte Personen in das männlich* dominierte Feld der Comedy eindringen.

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ständlich. Cynthia Willett, Julie Willett und Yael D Sherman (2012) arbeiten in ihrem Aufsatz The Seriously Erotic Politics of Feminist Laughter das konfliktreiche Verhältnis von Komik, Frauen* und Feminismus heraus. Während feministische Bestrebungen der zweiten Frauen*bewegung häufig belächelt und verspottet wurden4 und Feminist*innen der Sinn für Humor gerne abgesprochen wurde, galten Frauen aufgrund ihres Geschlechts* als unfähig, lustig zu sein5 (vgl. Willett/Willett/Sherman 2012: 225). Linda Mizejewski beobachtet in den USA der 2000er Jahre – ohne Zweifel weiter intensiviert in den 2010er Jahren – neben einer wachsenden Zahl an erfolgreichen weiblichen* und/oder feministisch positionierten Komikerinnen* auch eine steigende Beschäftigung mit Fragen zu Feminismus und Comedy im Mainstream-Journalismus – abseits feministischer Blogs und Onlineformate (vgl. Mizejewski 2014: 12). So ist es nicht verwunderlich, dass neben der wachsenden Nachfrage nach und dem steigenden öffentlichen Interesse an feministischer Comedy auch der Bereich der Feminist Comedy Studies in den vergangenen Jahren stark angewachsen ist beziehungsweise sich gewissermaßen als eigenes Forschungsfeld innerhalb der Comedy Studies zu formieren scheint (vgl. Hennefeld/Berke/Rennett 2019: 140). Kein berichtet in ihrer Rezension auch von dem Panel Female Comedians and the Critical Power of Laughter, das 2014 auf dem jährlich stattfindenden Treffen der American Studies Association gehalten wurde. Sie fasst die Relevanz des wachsenden Forschungsinteresses folgendermaßen zusammen: »[T]he topic of women in comedy is not merely filling in gaps, but breaking new ground« (Kein 2015: 671). Sie wirft in diesem Zusammenhang jedoch die Frage auf, ob der Kanon etablierter Komiktheorien, dessen Grundgedanke in erster Linie auf der Auseinandersetzung mit komischen Produkten männlich* identifizierter Akteure fuße, überhaupt für die feministische Beschäftigung mit Komik brauchbar sei oder möglicherweise dahingehend Lücken enthalte. Um dieser Frage weiter nachzugehen, soll im folgenden Abschnitt daher ein genauerer Blick auf die Spezifika feministisch und gendertheoretisch verorteter Perspektiven auf Komik geworfen werden.

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In der medialen Berichterstattung über Proteste der Frauen*bewegung in den USA der 1970er Jahre wurde gespottet, Ozeane seien leichter zu zähmen als Frauen (vgl. Willett/Willett/Sherman 2012: 220). Diese Annahme vertrat beispielsweise Christopher Hitchens (2007) in seinem Artikel »Why Women Aren’t Funny«, den er im Magazin Vanity Fair veröffentlichte.

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Feministische Zugänge zu Komik Maggie Hennefeld, Annie Berke und Michael Rennett erkennen in ihrer Einleitung zum Schwerpunktthema Comedy Studies im Journal of Cinema and Media Studies ebenso Bedarf an der Ausarbeitung neuer Zugänge zu Phänomenen des Komischen – abseits traditioneller Theorien und Methodologien. Die Notwendigkeit begründen sie mit den äußerst raschen Entwicklungen von Medienkultur, online-basierter sozialer Interaktion sowie globaler politischer Vernetzung. Die Schnelllebigkeit in diesen Bereichen bedürfe neuer Modelle zur Analyse von Comedy und Komik (vgl. Hennefeld/Berke/Rennett 2019: 139ff.). Im Feld der feministischen Komikforschung sei es laut Hennefeld/Berke/Rennett bereits verstärkt zur Einbindung von anderen Konzepten und Zugängen gekommen: »[F]eminist comedy scholars are increasingly engaging with new media studies, queer affect theory, and critiques of neoliberal capitalism to analyze the intersectional politics of gender, technology, and social power in the twenty-first century.« (Ebd.: 140) Tatsächlich zeigt sich, dass einige der in den vergangenen Jahren entstandenen Studien in diesem Feld andere theoretische Rahmungen für ihr Erkenntnisinteresse verwenden und damit möglicherweise Leerstellen in der traditionellen Komikforschung schließen könnten. Im Folgenden sollen daher Ansätze vorgestellt werden, die sich kritisch mit komischen Phänomenen auseinandersetzen, deren transformatives Potenzial erkunden und zwar aus einer feministischen Perspektive.

Charged Humor als aktivistische Intervention In ihrer Studie All Joking Aside (2014) setzt sich Rebecca Krefting mit kritischer Stand-up-Comedy und deren Potenzial, gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen und soziale Gerechtigkeit zu befördern, auseinander. Dafür formuliert sie ihr Verständnis von »charged humor« (Krefting 2014: 2). Sie beschreibt damit eine Art von Humor, die Komiker*innen bewusst einsetzen würden, um soziale Ungleichheit und kulturelle Ausschlüsse in ihrer Comedy herauszufordern (vgl. ebd.: 2). Krefting unterscheidet den Begriff von anderen Formen kritischer Komik wie Satire, um dessen aktive – und auch aktivistische – Komponente hervorzuheben. Demnach nutze Charged Humor zwar verschiedene komische Ver-

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fahren, unter anderem auch satirische Mittel, für seine Zwecke, kommentiere dabei aber nicht nur, sondern sei stets positioniert und strebe durch das Formulieren von Handlungsstrategien sozialen Wandel an (vgl. ebd.: 25). »It is activist humor, even if the speaker may not be a formal activist and is simply using the stage as a platform to advocate on behalf of a political cause or social issue. This humor can be satirical, self-deprecating, shocking, or tendentious; it is always political and strives to offer solutions. […] Charged humor edifies and instructs so it does not simply point to the trouble, but often conjures creative and humorous means for reconciliation or social change.« (Ebd.: 27, Herv. i. O.) Krefting versteht Charged Humor als eine Form der Komik, die verschiedene gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse auf- und angreifbar macht und dadurch Anliegen von marginalisierten Gruppen artikuliert. Sie ist eng mit dem Konzept Cultural Citizenship (vgl. ebd.: 17f.) verknüpft, das erstmals Ende der 1980er Jahre durch die Latino Cultural Studies Working Group (LCSWG) in den USA formuliert wurde. Dieses Konzept erkennt an, dass ein Teil der US-amerikanischen Bevölkerung zwar keine »legal citizens« (ebd.: 17), aber als »cultural citizens« (ebd.: 17) dennoch fester Bestandteil von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur seien. Darüber hinaus zeige der Begriff, dass es auch verschiedene Gruppen von Legal Citizens gebe, denen trotz ihres rechtlichen Status als Staatsbürger*innen aufgrund von Alter, gender, Sexualität, race, Klasse, Religion oder ability bestimmte Rechte verwehrt oder der Zugang zu ihnen erschwert bleibe (vgl. ebd.: 17). Mit Rückgriff auf die Überlegungen der LCSWG beschreibt Krefting das Ausüben von Cultural Citizenship gewissermaßen als ein Verhandeln von Fragen der Zugehörigkeit und Teilhabe subordinierter Identitäten. Durch verschiedene soziale und kulturelle Praktiken nehmen sich marginalisierte Gruppen aktiv ihren Raum in einer Gesellschaft und fordern verwehrte Rechte ein. Krefting wendet diesen theoretischen Rahmen auf ihr Konzept des Charged Humor an, durch den Cultural Citizenship praktiziert werde: Gesellschaftliche Räume werden mithilfe von Comedy besetzt, die Widersprüche einer als gleich und gerecht imaginierten nationalen Gemeinschaft aufgezeigt und das Publikum zu widerständigem Handeln ermutigt (vgl. ebd.: 17f.). Dabei werde Charged Humor nicht ausschließlich von marginalisierten Personen angewandt, sondern auch von jenen, die ihre Komik in diesem Sinne nutzen würden.

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»When I refer to charged humor or humor enacting cultural citizenship, I mean humor that seeks to represent the underrepresented, to empower and affirm marginalized communities and identities, and to edify and mobilize their audiences. This may manifest as jokes addressing social inequalities, national contradictions, and negative representations or in calling attention to hateful language, power relations, and cultural grievances.« (Ebd.: 21) Sie bezeichnet diese Form der Komik als charged, als geladen, um auf den polarisierenden Charakter der Comedyprogramme zu verweisen. Ähnlich wie geladene Atome könne durch den politischen Gehalt der Performances einerseits Anziehung, andererseits allerdings auch Abstoßung beim Publikum ausgelöst werden (vgl. ebd.: 25). Dadurch sei Comedy, die Charged Humor transportiert, weniger mainstreamtauglich als unpolitische Formate und werde daher auch seltener kommerziell erfolgreich (vgl. ebd.: 30-33). Krefting untersucht in ihrer Studie neben den Wirkweisen von Charged Humor die Dynamiken, die bestimmten komischen Formen und ihren Produzent*innen eine größere Reichweite geben als anderen, und leitet daraus eine »economy of humor« (ebd.: 6) ab. Sie geht davon aus, dass weiße, heterosexuelle und able-bodied Cis-Männer seltener auf Charged Humor zurückgreifen als weibliche* Comediennes. Durch das Anwenden von weniger polarisierender Komik würden sie nicht Gefahr laufen, das Publikum vor den Kopf zu stoßen, und hätten höhere Chancen, gebucht und kommerziell erfolgreich zu werden. Darüber hinaus argumentiert Krefting, dass der Erfolg von Comedy darauf beruhe, ob das Publikum sich mit den verhandelten Inhalten und Perspektiven identifiziere. Sie geht davon aus, dass wir von klein auf gelernt hätten, uns mit jenen Sichtweisen zu identifizieren, die einflussreich und dadurch Erfolg versprechend seien. Die Identifizierung mit marginalisierten Stimmen sei daher weniger attraktiv. Diese Mechanismen würden Krefting zufolge letztlich auch dazu führen, dass Frauen* als weniger lustig wahrgenommen werden und Comedy einen männlich* dominierten kulturellen Bereich darstellen würde (vgl. ebd.: 6ff.).

Feministischer Humor als Fumerism Cynthia Willett und Julie Willett greifen in ihrer Studie Uproarious. How Feminists and Other Subversive Comics Speak Truth (2019) auf klassische Theorien des Komischen – Inkongruenz, Überlegenheit und Entlastung – zurück, um deren Grundannahmen aus einer poststrukturalistisch-feministischen und in-

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tersektionalen Perspektive zu befragen und mit Blick auf Wirkweisen von Affekt und Machtverhältnissen neu zu denken. Sie möchten dabei sowohl den widerständigen als auch den verbindenden Momenten von Komik und Lachen sowie deren Bedeutung für beispielsweise feministische Stimmen nachgehen. »This book is about how humor from below can serve as a source of empowerment, a strategy for outrage and truth telling, a counter to fear, a source of joy and friendship, a cathartic treatment against unmerited shame, and even a means of empathetic connection and alliance.« (Ebd.: 2) Willett/Willett verstehen ihren »theory-based approach« (ebd.: 159) als Ergänzung zu Kreftings (2014) ökonomischen Analysen in Bezug auf Charged Humor. Sie legen ihren Fokus dabei jedoch nicht wie Krefting auf die Möglichkeit, durch Comedy Cultural Citizenship zu praktizieren. Vielmehr möchten sie sich in ihrer Studie mit dem Potenzial von Komik auseinandersetzen, gesellschaftliche Stereotype und Autoritäten ins Lächerliche zu ziehen und auf diese Weise deren Einfluss zu untergraben (vgl. Willett/Willett 2019: 159). Sie sehen Ironie und Humor in diesem Zusammenhang als nützliche Mittel sowohl für die akademische Beschäftigung als auch für soziale Bewegungen, um alltägliche Gewohnheiten und Normalisierungen zu stören. Vernunftgeleitete Argumentation alleine habe sich aus ihrer Sicht für eine Beförderung von sozialem Wandel bisher nicht als ausreichend wirksam erwiesen (vgl. ebd.: 22f.). Die Wurzeln der Frauen*bewegung würden zwar im Zorn über Verhältnisse von Ungleichheit, Gewalt und repressiven Normen liegen, doch betonen Willett/Willett auch »the central relevance of pleasure« (ebd.: 23) für feministische Bündnisse. Feministische Bestrebungen waren und sind immer noch häufig Ziel von konservativem und sexistischem Spott (vgl. ebd.: 23). Willett/Willett begreifen feministischen Humor daher gewissermaßen als »an erotic art of flipping the master’s tool« (ebd.: 33), um diese Wut zu bündeln und auf lustvolle Weise bestehende Machtverhältnisse anzugreifen (vgl. ebd.: 34). Ein solches Vorgehen bezeichnen Willett/Willett mit den Worten der Komikerin Kate Clinton als fumerist, als feministisch und humoristisch zugleich (vgl. ebd.: 27). In dieser mehrdeutigen Wortschöpfung ist darüber hinaus auch der englische Begriff fume enthalten, der sowohl Rauch als auch überschäumende Wut meinen kann. Fumerism sei demnach »fiery and often enraged« (ebd.: 26), also eine Art »firebrand humor, both fuming and fun« (ebd.: 26). Er nutze diesen Zorn auf konstruktive Weise und richte ihn lustvoll und bestärkend

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gegen die wütend machenden Verhältnisse. Sexismen, darunter auch sexistische Witze, basieren häufig auf einer Sexualisierung und Objektifizierung von Frauen*. Fumerism drehe Willett/Willett zufolge den Spieß um (vgl. ebd.: 28): »A seemingly irrepressible flow of male libido reduces women to just the parts men find funny, often making women all too vulnerable to obsession with their bodies and body parts. Fumerism, however, turns the tables and mocks the mocker with a release of female libido that eroticizes its own sources of power and joy.« (Ebd.: 28) Für Willett/Willett sei Lachen – wie es Audre Lorde für die Poesie formuliert – kein Luxus, sondern eine »›erotic‹ necessity« (ebd.: 33). Das Erotische verstehen sie mit Lorde nicht in der heutigen sexuell aufgeladenen Bedeutung, sondern im ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes eros (vgl. ebd.: 33). Damit wurde sowohl Leidenschaft und eine sehr starke Verbindung (vgl. ebd.: 165) als auch Liebe in jeglicher Ausformung bezeichnet. Bei Lorde sei das Erotische deshalb jene kreative Energie und Harmonie, die aus dem Chaos entspringe und sich letztlich als Lebenskraft der Frauen* manifestiere (vgl. ebd.: 33f.). Nach Willett/Willett würde Fumerism genau diese Kraft befördern: »Enhancing that life force by channeling anger into heated social movements and festive joy is fumerism’s foremost aim.« (Ebd.: 34) Komik, Humor und Witze können in ihrer reaktionären Form durch ein Verlachen von sozialen Normen und deren Abweichungen engführende Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten stiften. Dies geschehe meist durch ein gemeinsames Lachen über andere, woraus ein Gefühl der Überlegenheit entstehe (vgl. ebd.: 165f.). Willett/Willett gehen jedoch davon aus, dass Humor ebenso demokratisierend wirken könne. Solch ein Humor, zu dem auch Fumerism zähle, würde nicht exkludierend und hierarchisierend verfahren, sondern Zugehörigkeit und Gleichheit anstreben (vgl. ebd.: 34f.). »Such humor […] prompts a sense of community from a loosely defined sense of mutual belonging rather than a recognized shared identity. […] The ›unity‹ of this felt sense of belonging – of laughing together – occurs though suspending and rendering more porous reified positions of identity. […] In other words, the moment of laughter may jolt one out of habitual habits and cognition and open up fresh possibilities. Comedy can create a new kind of community, one based not on homogeneity or rigid identities but rather on a shared dislocation out of customary lines of identity. […] The joy

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of fumerist comedy is not in having one’s preconceived identity and views confirmed, but in being startled out of one’s customary alignments toward a more promising future.« (Ebd.: 35) Ein feministisches Lachen würde also Gewohnheiten stören und eine erstarrt geglaubte Ordnung aufrütteln. Dadurch ermögliche es einen flüchtigen Blick auf eine andere Welt. Dies geschehe durch ein Aufzeigen und Verlachen der Absurditäten gewisser Alltagspraktiken, denen Prozesse der Normalisierung, repressive Stereotype und Ungleichheitsverhältnisse zugrunde liegen (vgl. ebd.: 36). Willett/Willett sehen dieses feministische Lachen bereits im bissigen Humor der zweiten Frauen*bewegung wurzeln und wirken: »By illuminating the inversions and inflaming the passions that fuel social awareness and activism, this edgy humor helped stir a political movement.« (Ebd.: 35) Seine Stärke liege also letztlich auch darin, den Funken politischer Leidenschaft überspringen zu lassen und dadurch Menschen in Bewegung zu setzen.

»But this is why … I must quit comedy.«6 Ergänzend zu den theoretischen Überlegungen sollen nun Schlaglichter auf das vieldiskutierte Comedyspecial Nanette der Stand-up-Comedienne Hannah Gadsby geworfen werden. Dabei wird die Auseinandersetzung mit der queer*feministischen komischen Praxis zeigen, welche weiteren Fragestellungen darin für eine feministische Beschäftigung mit Komik aufgeworfen werden. Hannah Gadsby wuchs in Smithton auf, einer Kleinstadt im australischen Tasmanien. Für ihr Studium ging sie nach Canberra und erlangte dort an der Australian National University einen Abschluss in Kunstgeschichte. Seit 2006 ist sie als Komikerin aktiv (vgl. Wright 2017). Im Jahr 2017 wurde ihr Comedyprogramm Nanette uraufgeführt und 2018 als Comedyspecial über den Streamingdienst Netflix ausgestrahlt. Gadsby wurde für das Programm sowohl von Zuseher*innen als auch von Kritiker*innen vielfach gelobt. Unter

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Gadsby (2018): Nanette 01:06:01-01:06:11; Die im Folgenden angeführten Zitate aus Nanette stammen aus der auf Netflix veröffentlichten Aufzeichnung, wurden jedoch mit einer auf www.scrapsfromtheloft.com veröffentlichten Transkription des NetflixSpecials abgeglichen (vgl. https://scrapsfromtheloft.com/2018/07/21/hannah-gadsbynanette-transcript/[zuletzt abgerufen am 04.05.2020]).

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anderem erhielt sie dafür eine Auszeichnung mit dem Emmy Award.7 In Nanette geht Gadsby der Frage nach, ob sie die Stand-up-Comedy hinter sich lassen sollte. Es handelt sich also um ein Comedyprogramm, das sein eigenes Medium auf den Prüfstand stellt. Das Netflix-Special dauert ungefähr eine Stunde und beginnt mit Gadsbys Ausführungen über ihre Erfahrungen, als lesbische Frau in Tasmanien aufzuwachsen, wo Homosexualität bis 1997 kriminalisiert war. Sie beschreibt, wie die homophob geführte öffentliche Debatte über – in erster Linie männliche* – Homosexualität ihr eigenes Coming-out lange verzögerte und Gefühle der Angst und der Scham sie teilweise bis heute noch begleiten. Sie erzählt, dass sie die Geschichte ihres Coming-out und die erlebte Homophobie schließlich in ihren ersten Stand-up-Programmen in Form von Witzen verarbeitete. An dieser Stelle bricht Gadsby das erste Mal mit dem erwarteten Verlauf eines konventionellen Comedyprogramms und verkündet ohne Pointe und in ernstem Tonfall, Comedy hinter sich lassen zu müssen. Sie begründet diese Aussage damit, dass sie im Rückblick auf ihre Biografie und ihre Comedykarriere feststellen müsse, dass sie diese Karriere auf selbstherabsetzenden Humor aufgebaut habe. Helmut Bachmaier beschreibt die Selbstherabsetzung im jüdischen Witz als eine Möglichkeit, dem Gegner die Waffe aus der Hand zu schlagen und durch den ins Leere gegangenen Angriff, die eigene Überlegenheit zu zeigen (vgl. Bachmaier 2005: 126, Russell 2002). Gadsby versteht hingegen die eigene Selbstherabsetzung als gesellschaftlich bereits an den Rand gerücktes Subjekt vielmehr als einen Versuch, in einem auf diese Weise strukturierten Diskurs zu Wort kommen zu können. »I do think I have to quit comedy though. […] It’s probably not the forum to make such an announcement is it? In the middle of a comedy show… but I have been questioning this whole comedy thing. I don’t feel very comfortable in it anymore. […] I built a career out of self-deprecating humor. That’s what I built my career on. And I don’t want to do that anymore. Because do you understand what self-deprecation means when it comes from somebody who already exists in the margins? It’s not humility, it’s humiliation. I put myself down in order to speak, in order to seek permission to speak. And I simply will not do that anymore. Not to myself or anybody who identifies with me. 7

Hannah Gadsby erhielt 2019 einen Emmy Award in der Kategorie »Outstanding Writing For A Variety Special« (vgl. https://www.emmys.com/shows/hannah-gadsby-nanette [zuletzt abgerufen am 27.04.2020]).

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And if that means my comedy career is over, so be it.« (Gadsby 2018: Nanette 17:00-18:39) Diese Überlegungen zu Selbstherabsetzung und Humor nimmt sie zum Ausgangspunkt, um über Wirkweisen von Witzen im Allgemeinen zu reflektieren und im Speziellen der Frage nachzugehen, ob das Erzählen einer – in ihrem Fall – traumatischen Geschichte überhaupt durch Witze möglich ist und dem Erlebten gerecht werden kann. Diese Gedanken verbindet sie mit einer teils humorvollen, teils ernsten Diskussion über gesellschaftliche Erzählungen zu Geschlechterverhältnissen, Hetero-Sexismus und sexualisierter Gewalt. Während sie dies tut, wechselt sie in ihrer Darstellung zwischen scherzhaften Anekdoten, entsprechend der Erwartung an Comedy, und ernsthaften Ausführungen. Damit bricht sie immer wieder mit den Konventionen des Genres und zieht emotional aufgeladene und wutentbrannte Sequenzen ein. Krefting arbeitet in ihrem Aufsatz Hannah Gadsby. On the Limits of Satire anhand von Gadsbys Vorgehensweise und den von ihr bearbeiteten Fragestellungen heraus, welche Grenzen und auch Mängel Comedy beziehungsweise Satire in der Auseinandersetzung mit Gewaltverhältnissen aufweisen. Zwar zielen satirische Verfahren auf ein Entlarven sozialer Missstände ab, doch geschehe dies in erster Linie, indem komische Effekte genutzt würden, um den Zuhörer*innen ein Lachen zu entlocken. Dadurch laufe satirische Comedy stets Gefahr, die Ernsthaftigkeit ihrer Kritik und der aufgezeigten Probleme durch die eigenen Mittel zu untergraben. Um ihrer Geschichte gerecht zu werden, verweigert Gadsby daher an bestimmten Stellen ihrer Performance das Abschwächen schmerzhafter Erlebnisse durch Witze und erzählt stattdessen in wütender Deutlichkeit (vgl. Krefting 2019: 96ff.). Dramaturgisch ist Nanette so aufgebaut, dass zu Beginn der Aufführung humorvolle Momente überwiegen und gegen Ende Betroffenheit und Wut in der Darbietung zunehmen. Wie bereits angesprochen, nutzt Gadsby ihr Programm auch dazu, um auf einer metareferenziellen und zugleich metareflexiven Ebene den Mechanismen von Witzen nachzugehen. Sie führt aus, dass in der Einleitung zunächst Spannung aufgebaut werde, um sie in der Pointe aufzulösen. Mit dieser Erklärung verweist Gadsby indirekt auf entlastungstheoretische Zugänge zu Komik, wie sie auch Critchley für eine »Phänomenologie des Witzes« verwendet und dabei den Lustgewinn von Witzen aus einer komischen Entlastung erklärt (vgl. Critchley 2004: 14). Gadsby verdeutlicht ihre Überlegungen zu den

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Wirkweisen von Komik anhand eines spezifischen Witzes, den sie zu Beginn ihrer Karriere häufig erzählt habe. »I told… a story about the time this young man had almost beaten me up because he thought… I mean, he thought I was cracking on to his girlfriend. Actually, that bit was true, got that right, but… there was a twist. It happened late at night, it was at the bus stop. […] And I was talking to a girl, and… you know, you could say flirting. I don’t know. And… out of nowhere, he just comes up and starts shoving me, going, ›Fuck off, you fucking faggot!‹ And he goes, ›Keep away from my girlfriend, you fucking freak!‹ And she’s just stepped in, going, ›Whoa, stop it! It’s a girl!‹ And he’s gone, ›Oh, sorry.‹ He said, ›Oh, I’m so sorry. I don’t hit women‹, he said. What a guy! ›I don’t hit women.‹ How about you don’t hit anyone? Good rule of thumb. And he goes, ›Sorry, I got confused. I thought you were a fucking faggot… trying to crack on to my girlfriend.‹ Now I understand I have a responsibility to help lead people out of ignorance at every opportunity I can, but I left him there, people. Safety first.« (Gadsby 2018: Nanette 10:01-11:32) Critchley würde hier hinzufügen, dass Witze über den Verweis auf ein gemeinsames Wissen und eine gemeinsame soziale Welt funktionieren, indem sie damit spielen (vgl. Critchley 2004: 13). In diesem Fall setzt Gadsby ein Wissen über schwules und lesbisches Begehren voraus, das der Mann in ihrer Geschichte in seinem dennoch gewalttätigen und homophoben Verhalten offenbar nicht besitzt. Auf den ersten Blick kann diese Anekdote als scherzhafte Erzählung unter anderen fungieren, bei der trotz Beschreibung einer diskriminierenden Szene über die Ignoranz des Mannes gelacht werden kann. Allerdings greift Gadsby denselben Witz am Ende ihres Programms noch einmal auf, um daran die Mängel einer selbstherabsetzenden Witzerzählung in Bezug auf ihr persönliches Erleben der Ereignisse aufzuzeigen. Sie erklärt, dass Witze über einen Spannungsaufbau und eine Pointe funktionieren und damit den wichtigsten Teil einer Geschichte ausklammern – das Ende. »Do you remember that story about that young man who almost beat me up? […] I made a lot of people laugh […], and the reason I could do that is because […] I actually am pretty good at controlling the tension. […] But in order to balance the tension […], I couldn’t tell that story as it actually happened. […] I couldn’t tell the part of the story where that man realized his mistake. And he came back. And he said, ›Oh, no, I get it. You’re a lady fag-

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got. I’m allowed to beat the shit out of you‹, and he did! He beat the shit out of me and nobody stopped him. And I didn’t… report that to the police, and I did not take myself to the hospital, and I should have. And you know why I didn’t? It’s because I thought that was all I was worth. And that is what happens when you soak one child in shame and give permission to another to hate. And that was not homophobia, pure and simple, people. That was gendered. If I’d been feminine, that would not have happened. I am incorrectly female. I am incorrect, and that is a punishable offense. And this tension, it’s yours. I am not helping you anymore. You need to learn what this feels like because this… this tension is what not-normals carry inside of them all of the time because it is dangerous to be different!« (Gadsby 2018: Nanette 58:55-1:00:36) Gadsby lässt uns den zuvor heiter erzählten Witz aus einem anderen Blickwinkel sehen. Ohne Vorwarnung lässt sie die Gewalt der Realität in die fiktive Dramaturgie des Witzes hereinbrechen und baut die aufgelöst geglaubte Spannung wieder auf. Anstelle von Lachen und Vergnügen stehen Ernsthaftigkeit und Wut im Zentrum der Darstellung. Gadsby verdeutlicht auf diese Weise die Verkürzungen der Witzstruktur, die auf eine Pointe hinarbeitet und dadurch eine entlastende und gewissermaßen versöhnende Auflösung der angespannten Situation erbringen will. Diesen Ausgleich verweigert sie dem Publikum jedoch an dieser Stelle und verwirft damit konsequent die Konventionen des Genres. Sie zeigt dadurch, dass die Auswirkungen von Gewaltverhältnissen nicht in Witzen abgespeist werden dürfen, sondern in ihrer ganzen Tragweite benannt und ihre Wurzeln frei gelegt werden müssen. Es wird deutlich: Gadsbys Erlebnis in jener Nacht ist kein Grund, sich zu amüsieren – es ist ein Grund, sich zu erzürnen. »In Nanette, Hannah Gadsby is angry and not performing in the service of comedy. She intentionally illustrates the power of this emotion by introducing tension in the form of anger and then refusing to assuage it so as not to render sexism or homophobia laughable.« (Krefting 2019: 100) Krefting führt weiter aus, dass Aggression und Wut durchaus beliebte Mittel von satirischer Stand-up-Comedy seien. Doch werde an den Reaktionen auf die Präsenz von Emotionen wie Zorn in Comedyperformances auch deren Vergeschlechtlichung sichtbar. Während es in Darbietungen von männlichen Comedians (zum Beispiel von Chris Rock) nicht weiter ungewöhnlich erscheine, wenn sie sich während ihrer Stand-up-Shows in Rage reden, breche die

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zornentbrannte Ansprache einer Frau* grundlegend mit erwarteten stereotyp weiblichen* Verhaltensweisen. Deshalb sei aus Kreftings Sicht Nanette sowohl von positiven als auch negativen Kritiker*innen nicht als Comedyshow, sondern beispielsweise als TED-Talk eingeordnet worden (vgl. ebd.: 99f.). Auch Kein überlegt in ihrer Rezension von Kreftings All Joking Aside (2014) anhand der dort gewählten Komiker*innen, »if charged humor takes the comedy out of the comedy« (Kein 2015: 675). Aus ihrer Sicht handle es sich bei einigen in Kreftings Studie angeführten Beispielen von Charged Humor tatsächlich vielmehr um Artikulationen von politischem Aktivismus, der in komisches Material eingewoben worden sei, als um durchgängige Comedy (vgl. ebd.: 675). Doch müssen sich komische Formate dem Ziel verschreiben, ausschließlich Pointen zu produzieren und positive Affekte zu bewirken? Diesem Spannungsverhältnis nachzugehen und die Notwendigkeit anderer Formen des – auch komischen – Erzählens auszuloten, ist Gadsbys Anliegen in Nanette und führt sie schließlich zur radikalen Konsequenz, mit den gegebenen Konventionen von Comedy brechen zu müssen. Letztlich gebe es nur zwei Optionen: Entweder müsse sie die Comedy hinter sich lassen oder deren Form zerschlagen und eine neue Ausdrucksweise finden. »There does have to be a revolution of form in order to accommodate different voices. Because stand-up in the form it exists – stand-up punch line – that’s a form that was set up by men for men. It’s a competitive way of communicating, and that suits them. But there is a diversity of experiences that won’t fit into the format as it stands. I’m not sad if I kill comedy.« (Gadsby im Interview mit Sebag-Montefiore 2019) Gadsby nutzt das Format der Stand-up-Comedyshow dazu, eben das infrage zu stellen und darin neue Wege zu gehen. Krefting ist überzeugt, dass der Erfolg von Nanette künftig sowohl die Erwartungen des Publikums an Standup als auch die Herangehensweisen von Komiker*innen an ihr Material erheblich formen wird (vgl. Krefting 2019: 95). Inzwischen ist auch bekannt, dass Gadsby die Comedy nicht hinter sich gelassen hat, sondern seit 2019 mit ihrem neuen Programm Douglas weltweit auf Tour ist. Auch am Ende von Nanette wendet sie sich nicht zur Gänze vom komischen Erzählen ab und einem wütenden zu, sondern artikuliert ihre Motivation hinter Nanette mit dem Wunsch, ihrer Geschichte Gehör zu verschaffen und dadurch ein Gefühl der Verbundenheit herstellen zu können.

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»Laughter is not our medicine. Stories hold our cure. Laughter is just the honey that sweetens the bitter medicine. I don’t want to unite you with laughter or anger. I just needed my story heard, my story felt and understood […]. I don’t want my story defined by anger. All I can ask is just please help me take care of my story. Do you know why we have [Vincent van Gogh’s] sunflowers? It’s not because Vincent van Gogh suffered. It’s because Vincent van Gogh had a brother who loved him. Through all the pain, he had a tether, a connection to the world. And that… is the focus of the story we need. Connection.« (Gadsby 2018: Nanette 01:06.57-01:08:17) Gadsby artikuliert in Nanette ihre Überlegungen zu Komik und deren Fallstricke in Bezug auf Geschlechterverhältnisse und Gewalt. Neben den zuvor ausgeführten theoretischen Zugängen von Charged Humor und Fumerism könnten daher Gadsbys Überlegungen aus der komischen Praxis zu einer vorläufigen Skizzierung einer feministischen Theorie der Komik beitragen.

Fazit: Eine feministische Theorie der Komik? Nach einem Blick in den Kanon etablierter Komiktheorien wurde anhand von zwei theoretischen Zugängen zu feministischer Komik gezeigt, welche Potenziale das sich formierende Feld der Feminist Comedy Studies für die Auseinandersetzung mit Phänomenen des Komischen besitzt. Sowohl Krefting (2014) als auch Willett/Willett (2019) untersuchen in ihren Studien zu feministischer Komik ethisch positionierte Comedy, die in Ungleichheitsverhältnisse eingreifen möchte und in weiterer Folge sozialen Wandel anstrebt. Dies wird in beiden Ansätzen durch das Aufzeigen von gesellschaftlichen Missständen in diesen Formen von Comedy und des Weiteren durch die affizierende Wirkung der verwendeten komischen Verfahren erklärt. Elektrisch geladener Humor (Charged Humor bei Krefting 2014) oder vor Wut überschäumender Humor (Fumerism bei Willett/Willett 2019) können das Publikum auf emotionaler Ebene erreichen und dadurch weiteres Handeln anstoßen. Die Autorinnen gehen aber nicht nur davon aus, dass die Zuhörer*innen durch die Energie des Lachens erfasst und zum Handeln ermutigt werden können, sondern auch, dass die Ausübung dieser positionierten Komik für die Komiker*innen selbst gewissermaßen als ermächtigende Praxis gelesen werden kann. Sei es, dass Komiker*innen auf diese Weise Cultural Citizenship ausüben, um Ungerechtigkeiten von Legal Citizenships zu thematisieren (vgl. Krefting 2014: 25), oder

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dass sie ihre Wut über Ungleichheitsverhältnisse »in explosive and self-affirming joy« (Willett/Willett 2019: 26) nicht nach innen, sondern nach außen richten. Beide Konzepte stellen also das ermächtigende, transformierende und auch subversive Potenzial von Komik, Humor und Lachen ins Zentrum ihrer Überlegungen. Jedoch zeigte die Auseinandersetzung mit dem Comedyprogramm Nanette der queer*feministischen Komikerin Hannah Gadsby auch deutlich die andere Seite komischer Phänomene. So kann Comedy durch ihre erwartete amüsierende Form nicht nur die Möglichkeiten dessen begrenzen, welche Anliegen darin erzählbar sind, sondern auch, wie über diese Anliegen gesprochen werden kann. Dies lasse aus Gadsbys Sicht eine Vielzahl marginalisierter Stimmen in der Comedy verstummen oder nur über selbstherabsetzende Komik zu Wort kommen. Willett/Willett (2019) sehen ein zorniges feministisches Lachen als eine Möglichkeit, die Wut über ungerechte Verhältnisse zu kanalisieren und umzuwenden. Gadbsy möchte ihre Wut jedoch nicht in ein Lachen verkehren, sondern ihrem Schmerz gerecht werden und eine komische Auflösung verweigern. Sie plädiert daher für eine »revolution of form« (Gadsby im Interview mit Sebag-Montefiore 2019) und einen Fokus auf menschliche Verbindung (vgl. Gadsby 2018). Die Ambivalenz und Zweischneidigkeit von Komik, Humor und Lachen wurden bereits zu Beginn dieses Beitrags anhand ihrer Verwobenheit mit den herrschenden Verhältnissen und dem enthaltenen Potenzial komischer Phänomene, diese zu unterwandern, ausgeführt. Dieser Widerspruch muss als strukturierendes Merkmal komischer Phänomene anerkannt werden. Die drei diskutierten Zugänge zu feministischer Komik stellen Überlegungen an, wie Komik, Humor und Lachen in solch einem Spannungsverhältnis Teil einer feministischen Intervention sein könnten. Daraus lassen sich bereits Bausteine für eine feministische Theorie der Komik ablesen, deren Formulierung ein Desiderat für die Feminist Comedy Studies darstellen.

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Education First!? Gender Second? Zur Notwendigkeit postkolonial-feministischer Perspektiven auf Global Citizenship Education Sandra Altenberger »Es ist wichtiger, einen kritischen Geist zu entwickeln, als unmittelbares materielles Wohlbefinden zu sichern.« W.E.B. Du Bois zit.n. Spivak 2008b : 65

Wenn es um Fragen globaler Schlüsselprobleme, Gerechtigkeit(en) und transnationaler Solidarität geht, wird (globale) Bildung großgeschrieben. Darauf verweist auch der Slogan Education First, der durch die von UNGeneralsekretär Ban Ki-moon initiierte Global Education First Initiative (vgl. UNSG 2012) prominent wurde. Ziel war es, weltweit Armut zu bekämpfen und solidarische, verantwortungsbewusste Weltbürger*innen zu ›erziehen‹. Der rezipierte Slogan wird im Titel dieses Beitrages mit einem Rufzeichen und einem Fragezeichen versehen. Damit soll die Doppeldeutigkeit von Bildung, mithin ihre Widersprüchlichkeit, oder wie Castro Varela und Heinemann bekräftigen, das ermächtigende und unterwerfende Moment von Bildung hervorgehoben werden.1 Darüber hinaus wird mit Gender Second? danach gefragt, ob und wie Gender sowohl in Global-Citizenship-EducationKonzeptionen (GCE-Konzeptionen) als auch in dessen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen als abwesend oder zweitrangig in Erscheinung tritt. GCE – oft als Sammelbegriff beschrieben – systematisiert und bündelt bildungspolitische Konzepte mit globalem Fokus wie entwicklungspolitische Bildung, Globales Lernen, ›Interkulturelle Bildung‹, Friedenspädagogik, 1

»Wenn wir Bildung als Subjektivierung lesen, dann ist diese ermächtigend und unterwerfend zugleich. Sie produziert und unterwirft die Subjekte.« (Castro Varela/Heinemann 2016: 19)

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Menschenrechtsbildung oder Bildung für nachhaltige Entwicklung, um nur ein paar zu nennen. GCE wird als »politische Bildung für die Weltgesellschaft« (Wintersteiner et al. 2014: 1) beschrieben. Angesichts gegenwärtiger politischer und medialer Diskussionen und Debatten zu Diversität, Migration und Globalisierung scheint GCE auf den ersten Blick durchaus adäquate Antworten auf Fragen nach einem friedlichen, nachhaltigen, ›interkulturellen‹ und auch geschlechtergerechten Miteinander liefern zu können. Sich der Utopie einer solidarischen Weltgesellschaft hinzugeben, sich für GCE zu engagieren oder globale Bildung zumindest gedanklich als positives Allheilmittel für die Welt zu imaginieren, fühlt sich auf Anhieb gut an. Die Rhetorik von GCE erinnert an die Rhetorik um die Ideale der Aufklärung: »being a good person – being a good citizen« (UNESCO 2014: 9), beispielsweise an den Ausspruch von Thomas Paine (1792): »My country is the world, and my religion is to do good.« (Paine 1792: 18) Die postkolonialfeministische Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak kritisiert in diesem Zusammenhang die »ignorante Gutmütigkeit« (Spivak 1999: 416) einer globalen Elite und bekräftigt, uns solle eben dieses ›gut anfühlen‹ irritieren. GCE ist eng mit entwicklungspolitischen Bestrebungen und der »Idee der kosmopolitischen Demokratie« (Dhawan 2009: 2) verwoben und kann von daher als stets ambivalentes pädagogisches und politisches Phänomen identifiziert werden. Im Zusammenhang mit GCE wird der globale Raum als ›Raum für alle‹ oder die globalisierte Welt als ›unsere Heimat‹ beschrieben. Diese ›Eine Welt‹, die wie eine Identitätslogik einer »Ökonomie des Gleichen« (Kuhn 2005: 32) nachjagt, kann Gefahr laufen, beständig die Spaltung und Hierarchisierung geopolitischer Räume »between those who right wrongs and those who are wronged« (Spivak 2004: 523) zu reproduzieren. Die Verstrickungen der Idee des Globalen mit dem (Neo-)Kolonialismus bleiben in GCEKonzeptionen auf den ersten Blick weitgehend unbemerkt. Doch, so bemerken Castro Varela und Dhawan: »Ohne ein Verständnis davon, wie der europäische Kolonialismus globale Machtverhältnisse ökonomisch, politisch und kulturell strukturiert, können Prozesse der Globalisierung nicht angemessen nachvollzogen werden.« (Castro Varela/Dhawan 2015: 85) So gilt es, die Relevanz einer Auseinandersetzung mit den kolonialen Verwobenheiten im Kontext von GCE herauszuarbeiten. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Teil eines Promotionsprojektes und wird noch weiterführende Analysen nach sich ziehen. Das Projekt beschäftigt sich insbesondere

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mit Fragen zur Verhandlung von Gender in GCE-Konzeptionen. Während es weiterführend sowohl um die Herstellungsprozesse und Bezeichnungspraxen von Gender und deren Zusammenhang, als auch um Subjektkonstituierungen in GCE unter dem Gesichtspunkt kolonialer Verstrickungen von Bildung gehen soll, liegt der Fokus hier vorerst auf der Notwendigkeit, eine postkolonial-feministische Analyseperspektive herauszuarbeiten. So versteht sich dieser Beitrag als ein Puzzleteil eines übergeordneten Ziels, das eine (un-)mögliche Transformation von GCE hin zu einer rassismus- und kapitalismuskritischeren sowie feministischeren Solidarität anstrebt.

Theoretische (Selbst-)Ver_Ortungen »My point is not that everything is bad, but that everything is dangerous, which is not exactly the same thing. If everything is dangerous, then we always have something to do. So my position leads not to apathy but to a hyperand pessimistic activism.« Foucault zit.n. Rabinow 1994: 204 Spivak konzeptualisiert die herrschaftskritische Situierung von Prozessen und Bedingungen der Erkenntnisproduktion als wissenschaftspolitische Praxis der Verantwortung, der sich insbesondere privilegierte Forscher*innen im sogenannten Globalen Norden stellen müssen, um sich überhaupt das Recht zu erwerben, kritisch über die Welt, insbesondere den sogenannten Globalen Süden, zu sprechen – auch wenn dies ein risikoreiches Unterfangen bleibe (vgl. Klapeer 2016: 112). Castro Varela und Dhawan bekräftigen: »[S]olange eine fortwährende Beschäftigung mit dieser Problematik stattfindet und die eigene Involviertheit, die permanente ›Kontaminierung‹ durch und Komplizenschaft mit Herrschaftssystemen ebenso Gegenstand der Auseinandersetzung sei, gäbe es ›some hope‹«. (Castro Varela/Dhawan 2015: 217f.) Eine Ver_Ortung und (selbst-)kritische Positionierung hieße meines Erachtens nicht eine bloße Benennungspraxis, sondern vielmehr eine kritische Erkenntnispraxis der feministischen Verantwortung für Theorie und Praxis zu entwickeln. Eine Praxis, die wohl unabgeschlossen bleiben muss und somit als Prozess beschrieben werden kann. Eine kritische Erkenntnispraxis hieße dann, sowohl die Auswahl von Forschungsliteratur (Quellen, Referenzen) als auch die Kanonisierungen, Adressierungen und Benennungspraxen sowie die

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Themenwahl im Forschungsprozess in Verbindung mit dem Ort des Schreibens und des Denkens zu sehen und zu reflektieren. »Mit dem Begriff ›Ver_Ortung‹ fängt man schreiben an, die Infragestellung der Metapher des Ortes zeigt, wie prekär Ver_Suche sind, soziale_politische Positionierungen zu theoretisieren.« (Tudor 2011: 59) Somit verdeutlicht die politische Ver_Ortung, dass »der Ort, von dem aus intellektuell interveniert wird, in direktem Zusammenhang mit der Subjektposition steht, insoweit dieselben durch die ungleiche Beziehung zwischen den Räumen angerufen werden.« (Castro Varela/Dhawan 2012: 280) Meine soziale und politische Ver_Ortung, die nach Tudor auf verschiedene Weisen konstitutiv für die Wissensproduktion ist, gilt als ›privilegiert‹ (Tudor 2011: 58) in Bezug auf Rassismus, Klassismus, Ableismus und auf meine Ver_Ortung im sogenannten Globalen Norden, als diskriminiert gilt sie in Bezug auf Sexismus. »Privilegierungen und Diskriminierungen sind durch Machtverhältnisse getragene, ständig auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen wirkende und Machtverhältnisse re-produzierende Herstellungsprozesse von sozialen Positionierungen. D.h. konkret, dass meine soziale Positionierung auf verschiedene Weisen für meine Wissensproduktion konstituierend ist.« (Tudor 2011: 58) Ich sehe dahingehend die Reflexion einer Selbst-Ver_Ortung als ständige Begleitung und auch Herausforderung im und für den Forschungsprozess. Darüber hinaus bekräftigen Castro Varela und Dhawan, in Bezugnahme auf Spivaks Gebrauch Derridas, die wichtigste Lektion der Dekonstruktion sei, dass »Widerstand und Opposition in einer Beziehung der Komplizenschaft mit dem Kritisierten verstrickt sind« (Castro Varela/Dhawan 2015: 179). Diese Komplizenschaft sei laut Derrida kein Scheitern von Kritik, vielmehr sei es die Anerkennung der eigenen Komplizenschaft, welche die Kritik erst ermögliche (vgl. ebd.: 179). Dekonstruktion und Subversion weisen also spezifische Analogien auf, indem sie beispielsweise die bestehenden Ordnungen von innen heraus destabilisieren. Nach Derrida hat die Dekonstruktion »[…] von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen« (Derrida 1992: 45). In poststrukturalistischen und

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dekonstruktivistischen Kontexten ist sowohl der destruktive Aspekt als auch der konstruktive Charakter subversiver Strategien von beständiger Bedeutung (vgl. Babka 2003). So wird eine dekonstruktivistische Haltung ähnlich der Subversion »[…] nicht als eine einfache Umkehrung bestehender Verhältnisse verstanden, sondern als eine Aneignung, Umwertung und Verschiebung derselben, mit dem Ziel, ihre Kontingenz, historische Gewordenheit und folglich Veränderbarkeit aufzuzeigen.« (Babka 2003) In feministischen und genderspezifischen Kontexten kann Subversion als Praxis und Dekonstruktion oder als Haltung gelesen werden, die »herrschende Diskurse variierend durchkreuzen, destabilisieren und einen Resignifikationsprozess in Gang setzen [kann]« (ebd.). Spivak weist in ihrem Beitrag Feminismus und Dekonstruktion, noch einmal: Mit uneingestandenem Maskulinismus in Verhandlung treten einleitend darauf hin, »[…] dass die Dekonstruktion im Gegensatz zu anderen Denkweisen kein Fundament für Politik bilden kann. Vielmehr kann die Dekonstruktion fundierte politische Programme nutzbringender gestalten, indem sie die ihnen innewohnenden Probleme besser zum Vorschein bringt. Handeln heißt daher nicht, die Dekonstruktion zu ignorieren, sondern sie aktiv zu überschreiten, ohne sie aufzugeben.« (Spivak 2005: 239) Ein dekonstruktivistischer Zugang und die Diskursanalyse gelten als wichtige Instrumente postkolonialer Studien und feministischer Forschung. Sie ermöglichen eine epistemologische Kritik an scheinbar objektiven Wissensproduktionen. Dahingehend lässt sich dieser Beitrag in einer dekonstruktivistisch informierten Geschlechterforschung und einer poststrukturalistisch informierten feministischen Theorie ver_orten. Geschlecht und heteronormativ gerahmte Begehren werden dabei als konstruiert betrachtet. »Sowohl die Geschlechter-Zugehörigkeit von Personen als auch das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit als soziales Klassifikations- und Differenzierungsschema wird nicht als Vorgabe der Natur, sondern als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse angesehen.« (Babka 2007: 2) So heiße Dekonstruktion »[…] für die Ordnung der Geschlechter, zunächst das Modell der Konstruktion zu exponieren […]. Dekonstruktion ›operiert‹ als ein Wi(e)derlesen im

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doppelten Sinne des Erneut- und Gegenlesens der Konstruktionen.« (Menke 1995: 38) Neben einem dekonstruktivistischen Zugang ver_ortet sich dieser Beitrag im Feld der postkolonial-feministischen Theorien. Der vielschichtige Einfluss von insbesondere marxistischen, poststrukturalistischen und feministischen Ansätzen auf postkoloniale Theoriebildung und Methodologie (vgl. Rodríguez 2010: 274) wird auch als »Polyphonie« (Ha 2011: 180) beschrieben. Demnach werde es durch postkoloniale Theorie und Methodologie möglich, der Vereinheitlichung und Normierung wissenschaftlicher Theoriebildung bewusst entgegenzutreten. Grundlegend für eine postkolonial-feministische Perspektive ist der Blick sowohl auf die (neo-)koloniale Konstruktion von Geschlechterordnungen, Sexualität und Begehren sowie auf deren Kontinuität als auch auf ihre Einbettung in neokoloniale Machtverhältnisse. »Feministische postkoloniale Studien werfen [indessen] einen gezielten Blick auf die Verschränkung von gender mit anderen Kategorien im Kontext von Postkolonialismus. So kann die Funktionalität von spezifischen GenderRegimes herausgearbeitet werden und Kontinuitätslinien und Brüche in den vergeschlechtlichten Repräsentationspolitiken beleuchtet werden. Es kann gezeigt werden, dass die Geschlechterbeziehungen ›der Anderen‹ seit der Kolonialzeit als ein Symbol für die Rückständigkeit derselben steh[en].« (Castro Varela/Dhawan 2009: 11, Herv. i. O.) Castro Varela beschreibt Kritik im Sinne Spivaks als »[…] eine vorsichtige Beschreibung der Strukturen, die ein Objekt des Wissens herstellen. Erfolgt diese vorsichtige Beschreibung nicht, wird ein Wissen, das die bestehende Hegemonie in Frage stellt, nicht mehr hörbar.« (Castro Varela 2016: 57) An dieser vorsichtigen Beschreibung der Strukturen möchte sich auch dieser Beitrag orientieren. Es soll also eine Kritik nicht im Sinne einer Bewertung oder Enthüllung formuliert werden, sondern es geht vielmehr um den Versuch, eine dekonstruktive, kritische Haltung und (Selbst-)Ver_Ortung zu manifestieren, die die ihr innewohnenden Gefahren der Rekonstruktion und Repräsentation erkennt, Vereinnahmungen vermeidet und die inneren Brüche sichtbarer macht. Und dennoch ist diese machtkritische und (selbst-)reflektierte Perspektive wiederum mit Dilemmata konfrontiert. So lässt sich auch ein Profit aus

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diesem Beitrag bzw. aus diesem Forschungsprojekt ziehen. Es ermöglicht mir, mich als Autorin als kritisches, reflektiertes und ›aufgeklärtes‹ Subjekt zu positionieren. Gerade deswegen besteht der Anspruch und die Verantwortung, weder zu essenzialisieren noch zu universalisieren und auch die Selbstreflexion als Forschungsgegenstand zu identifizieren. »What is it, then, to be responsible to a changeful thought on the question of responsibility? ›[W]hat could be the responsibility […] [toward] a consistent discourse which claimed to show that no responsibility could ever be taken without equivocation and without contradiction?‹« (Spivak 1994: 19) Es ginge somit insbesondere darum, die (eigenen) Verstrickungen und Widersprüchlichkeiten wahrzunehmen, anzuerkennen, dass sie nicht vollständig aufgelöst werden können, und sich trotz dieser Verstrickungen auf Suchund Selbstreflexionsprozesse einzulassen. Demnach möchte ich die hier eingenommene Haltung im Gegensatz zu einer Herangehensweise im Sinne von »to keep the story simple« (Messerschmidt 2009: 59) eher mit to keep the story complex beschreiben.

Akteur*innen im Kontext von Global Citizenship Education In diesem Artikel ist GCE im Rahmen der UNESCO von Bedeutung. Als eine der 17 Unterorganisationen der Vereinten Nationen (UN) hat die UNESCO Bildung seit der Universal Declaration of Human Rights (1948) zu einem ihrer Kernthemen gemacht. Bildung im UN- und UNESCO-Kontext wird seit ihren Anfängen in Form von Menschenrechtsbildung und Friedenspädagogik thematisiert. 2013 wurde GCE von der UNESCO zu ihrer pädagogischen Leitlinie erhoben. Dies bedeutete einen erheblichen Einfluss auf die internationale Aufmerksamkeit und somit auch auf die Richtung und Qualität von GCE. Als Grund dafür kann die Prominenz der Global Education First Initiative (GEFI) benannt werden. Ziel sollte es unter anderem sein, GCE vermehrt in der Praxis umzusetzen. Seit 2013 publiziert die UNESCO demzufolge verschiedene Textsorten mit unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung – von Empowerment über Extremismusprävention bis hin zu Unterrichtsvorbereitung und Rechtsstaatlichkeit. Daraus ergibt sich eine institutionelle Macht internationaler Ver_Ortung, eine Diskursorientierung und eine übergeordnete Definitionsmacht der UNESCO für GCE-Konzeptionen und -Praxen.

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Darüber hinaus publiziert die UNESCO GCE-Materialien für ein vielfältiges Publikum und fungiert als Kontrollorgan für Bildungsindikatoren von UN-Mitgliedsstaaten, wie der Global Education Monitoring Report Gender Review zeigt. Als UN-Organisation ist die UNESCO so auch für die Kontrolle der Implementierung und für die Identifizierung der Indikatoren aller Zielsetzungen des Sustainable Development Goals (SDG) NR. 4 – Quality Education for All – zuständig. Da die GCE-Papiere leicht zugänglich sind, steigert sich ihre Wirkmächtigkeit. Darüber hinaus können diese Papiere als Legitimationsgrundlage für nationale Bildungspolitiken fungieren. Das UNESCO-Konzept von GCE bildet darüber hinaus auch ein bedeutendes Referenzkonzept für verschiedene GCE-Projekte, -Institutionen und -Zugänge. Es kann sowohl im transformierten Dispositiv der neoliberalen Globalisierung (ehemals Entwicklungsdispositiv, vgl. Ziai 2007: 257) als auch im Global-Governance-Diskurs verortet werden (vgl. ebd., Ziai 2010). GCE im Rahmen der UNESCO wird wie folgt definiert: »Global Citizenship Education (GCE) is a framing paradigm which encapsulates how education can develop the knowledge, skills, values and attitudes learners need for securing a world which is more just, peaceful, tolerant, inclusive, secure and sustainable. It represents a conceptual shift in that it recognizes the relevance of education in understanding and resolving global issues in their social, political, cultural, economic and environmental dimensions.« (UNESCO 2014: 9) Globale Herausforderungen und Schlüsselprobleme sollen demnach mit und durch Bildung gemeistert werden und zu einer (geschlechter-)gerechteren, friedlicheren und nachhaltigeren Welt beitragen. Inwieweit Gender in UNESCO-Konzeptionen von GCE hergestellt und auch ent-thematisiert wird und warum deshalb eine postkolonial-feministische Kritik notwendig ist, wird im letzten Kapitel dieses Beitrages diskutiert. Eine Reihe von Konzepten und Akteur*innen werden im Feld von Global Citizenship Education verortet oder ordnen sich selbst diesem Feld zu. Institutionen und Akteur*innen von GCE – Foucault würde sie als diskursive Position(en) bezeichnen – reichen von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und NGOs, über nationalstaatliche, EU-basierte (Global Education Network Europe [GENE], North-South Centre of the Council of Europe, Development Education and Awareness Raising [DEAR]), UN-basierte (internationale) Akteur*innen, bis hin zu Unternehmen, die sich den Sustainable Development Goals (SDG) verpflichten (wollen). Aber auch globale Hilfsorganisationen tauchen in Verbindung

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mit GCE auf: Sie sind einerseits als Sponsor*innen von GCE-NGO’s tätig, andererseits werden sie aufgrund ihres Vokabulars als Teil des GCE-Diskurses wahrgenommen. GCE wird häufig als kosmo- oder (entwicklungs-)politische Bildung für die Weltgesellschaft definiert, was ebenso häufig zu Begriffsverwirrungen und -vermischungen führt. Im deutschsprachigen Raum wird entwicklungspolitische Bildung insbesondere von dem Bildungskonzept Globales Lernen (das fälschlicherweise als Synonym für GCE Verwendung findet) und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)2 geprägt. Insbesondere die Bildungskonzepte GCE und Globales Lernen zeigen weitgehend Überschneidungen, können und müssen jedoch in ihrer konzeptionellen Ausrichtung unterschieden werden.3 So betont GCE etwa »eine Akzentuierung von Globalem Lernen4 durch den Begriff citizenship im Sinne politischer Teilhabe« (Wintersteiner et.al. 2014: 32).

Zur Notwendigkeit postkolonial-feministischer Kritik »Die Produktion von Theorie ist auch eine Praxis.« Spivak 2008a: 28, Herv.i.O. Einleitend wurde bereits kurz auf die postkoloniale Kritik an dem globalen Raum als ›Raum für Alle‹ und auf das kosmopolitische Moment von GCE ver-

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»Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Global Citizenship Education haben vor allem dort Bezugspunkte, wo es um eine kritische Auseinandersetzung mit der durchgehenden Ökonomisierung von Gesellschaft und eine Wiederherstellung des Primats der Politik geht. Politische Teilhabe und demokratische Verantwortung bilden dabei ebenso gemeinsame Schnittstellen wie Fragen globaler Gerechtigkeit.« (Wintersteiner et al. 2014: 33) »Stärker als traditionelle Richtungen Globalen Lernens setzt sich Global Citizenship Education mit Fragen und Konzeptionen von transnationaler politischer Gestaltung (Weltinnenpolitik) und transnationaler Demokratie auseinander.« (Wintersteiner et.al. 2014: 32) »Globales Lernen definiert sich als ein Bildungskonzept, das auf die Herausforderungen der Globalisierung, auf die zunehmende Komplexität unserer Lebensverhältnisse sowie auf die Entwicklung hin zu einer ›Weltgesellschaft‹ reagiert. Globale Entwicklungen wahrnehmen, analysieren und deren Folgen beurteilen zu können sowie Optionen für Mitverantwortung und eigene gesellschaftliche Teilhabe zu entwickeln, bilden wesentliche Zielsetzungen des Konzepts.« (Wintersteiner et al. 2014: 30)

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wiesen. Nikita Dhawan führt hierzu in ihrem Artikel Zwischen Empire und Empower (2009) die Kritik kosmopolitischer Solidaritätsbekundungen5 aus und hebt die Relevanz einer postkolonialen (und feministischen) Lesart hervor: »Eine postkoloniale Lesart kosmopolitischer Demokratie ermöglicht dagegen die Problematisierung einer unkritischen Solidarität sowie essentialistischer Diskurse zu globaler Gerechtigkeit und Menschenrechte.« (Ebd.: 55)6 Auch Vanessa Andreotti hebt in ihrem Artikel Soft Versus Critical Global Citizenship Education (2006), der als bahnbrechend für kritische und postkoloniale Perspektiven auf GCE gilt, hervor: »In order to understand global issues, a complex web of cultural and material local/global processes and contexts needs to be examined and unpacked. My argument is that if we fail to do that in global citizenship education, we may end up promoting a new ›civilising mission‹ as the slogan for a generation who take up the ›burden‹ of saving/educating/civilising the world. This generation, encouraged and motivated to ›make a difference‹, will then project their beliefs and myths as universal and reproduce power relations and violence similar to those in colonial times.« (Andreotti 2006: 41) In weiteren Arbeiten wie Postcolonial Perspectives on Global Citizenship Education (Andreotti/Souza 2012) oder Decolonizing Global Citizenship Education (Abdi/Shultz/Pillay 2015) finden sich ebenfalls postkoloniale und machtkritische Zugänge zu und Perspektiven auf GCE. In vielen postkolonialen Auseinandersetzungen zu GCE sind jedoch Leerstellen hinsichtlich feministischer Perspektiven oder der Thematisierung von Genderkonstruktionen zu beobachten. So werden in den eben genannten Werken Genderfragen fast bis gar nicht thematisiert. Gerade auch auf Grund dieser Leerstellen in postkolonialen Auseinandersetzungen, messe ich der Verbindung beider

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»Eine der Einwände gegen das Projekt des Kosmopolitismus besteht in der unzureichenden Auseinandersetzung mit den historischen Prozessen, die die Mitglieder einer globalen/postkolonialen Elite in eine Stellung gebracht haben, die es ihr nun ermöglicht, als Wohltäterin der Allgemeinheit aufzutreten.« (Dhawan 2009: 54) An dieser Stelle soll auch die Arbeit Feminist Post-Development Thought: Rethinking Modernity, Post-Colonialism and Representation der postkolonial-feministischen Theoretikerin Kriemild Saunders (2003) hervorgehoben werden, in der auf den impliziten Imperialismus der Entwicklungspolitiken hingewiesen wird, nicht ohne einen Blick auf die Ambivalenzen von Entwicklungskonzepten zu werfen.

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Perspektiven zu einer postkolonial-feministischen Kritik große Bedeutung bei. Wird nach der Notwendigkeit von GCE als (neuem) Konzept gefragt, so weisen Wintersteiner et al. auf Folgendes hin: »Global Citizenship Education stellt jedenfalls einen originellen, notwendigen und weiterführenden Denkrahmen dar, der für Bildung in Zeiten der Globalisierung und der ›Weltgesellschaft‹ unverzichtbar ist.« (Wintersteiner et al. 2014: 3) Wenn von einem weiterführenden Denkrahmen die Rede ist, so erinnert das auch an die von Hannah Arendt beschriebene Praxis der »erweiterten Denkungsart« (Arendt 1993: 98). Dhawan verweist, bezugnehmend auf Spivak, auf eine ›wider egoity‹, die die postkoloniale Feministin dazu bringen soll über sich selbst und die eigenen Interessen hinauszudenken. »This demands a ›wider egoity‹ of the postcolonial feminist: we are forced to think beyond ourselves. We have to resist becoming ›self-selected moral entrepreneurs who distribute philanthropy without democracy‹ […]. Spivak reminds us that colonialism was carried out by ethical subjects like us with good intentions. Directly scapegoating colonialism masks our complicity in global injustice.« (Dhawan 2013: 159) Die charakteristische Prämisse postkolonial-feministischer Herangehensweisen basiert auf der poststrukturalistischen Annahme, die Realität und die vergeschlechtlichten Subjekte werde diskursiv konstruiert und hegemoniale Diskurse des sogenannten Westens7 (vgl. Hall 2012) oder einer globalen Elite seien dominant und wirkmächtig. Insbesondere die Verbindung von Geschlechterkonstruktionen mit Entwicklungsdenken hat eine lange Geschichte. So arbeitet Anne McClintock in Imperial Leather (1995) heraus, dass rassialisierte, klassensegregierte Genderordnungen ein Kernstück kolonialer Diskurse darstellen (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009: 7). Auch Kapoor meint dazu: 7

»Diesem Beitrag liegt die Annahme zugrunde, dass ›der Westen‹ ein historisches und kein geografisches Konstrukt ist. Mit ›Westen‹ meinen wir einen Gesellschaftstyp, der als entwickelt, industrialisiert, städtisch, kapitalistisch, säkularisiert und modern beschrieben wird.« (Hall 2012 [1994]: 138) Nach Hall taucht ›der Westen‹ als Vorstellung oder Konzept, als Ensemble von Bildern, als Standard- oder Vergleichsmodell auf und stellt Untersuchungskriterien bereit, anhand derer andere Gesellschaften bewertet werden (vgl. ebd.: 139). »Es produziert eine bestimmte Art von Wissen über einen Gegenstand und bestimmte Haltungen ihm gegenüber.« (Ebd.: 139)

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»[…] zu Beginn der Dekolonisierung standen Demokratisierungsprozesse unter dem Primat der Entwicklung, das zudem als Mittel zur Erlangung von Geschlechtergerechtigkeit galt.« (Kapoor 2008: 41ff.) Die Position von Frauen*, die nicht dem sogenannten europäischen Standard entsprachen, wurde als ›degeneriert‹ und ›primitiv‹ konstruiert, was sich auf den Umgang mit ihnen auswirkte. So wurden beispielsweise koloniale Eingriffe, Bildungsreformen und gewaltvolle Interventionen dadurch legitimiert (vgl. Schild 2014: 111). Postkolonial-feministische Perspektiven auf GCE begünstigen es, koloniale Kontinuitätslinien und (Ab-)Brüche von Gender und Bildung aufzuspüren, zu thematisieren und Überschneidungen von Gender mit Klasse, Rassismus, Körper, ökonomischen und ideologischen Kategorien der Unterdrückung sichtbar(er) zu machen. Doch auch feministische Diskurse innerhalb und außerhalb von GCE erweisen sich als verstrickt mit kolonialen Diskursen. »Dominant sind Vorstellungen, welche die europäisch-christliche Frau und Gesellschaft als emanzipiert – sprich, zivilisiert – und die ›Andere‹ als die zu emanzipierende repräsentieren (Mohanty 1988).« (Castro Varela/Dhawan 2009: 14) Umso wichtiger erscheint es, mit einer postkolonial-feministischen Perspektive auch die Kritik an liberal-feministischen Ansätzen zu leisten, Gefahrenpotenziale8 aufzudecken und zu einer Re-Orientierung beizutragen. Oyéwúmí weist in The Invention of Women (1997) auf Gender als (neo-)kolonial eingeführtes Prinzip hin und zeigt, dass Gender als Organisationsprinzip für die Yorúbá9 in präkolonialen Zeiten entweder gar nicht oder in viel multiplerer Weise existierte. »The debate in feminism about what roles and which identities are natural and what aspects are constructed only has meaning in a culture where social categories are conceived as having no independent logic of their own. This debate, of course, developed out of certain problems; therefore, it is logical 8

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Das erste Gefahrenpotenzial ist der Essentialismus oder die Universalisierung ›weiblicher‹ Unterdrückung. Mohanty beschreibt sie als »discoursive colonisation« (Mohanty 1988: 62). Das zweite Gefahrenpotenzial ist die Viktimisierung. Diese Kritik wird unter anderem von Mohanty und Spivak aufgegriffen mit der Produktion der Third World Women (Mohanty 1988) oder des vergeschlechtlichten subalternen Subjekts (Spivak 2008a). Das dritte Gefahrenpotenzial ist die Exotisierung von Erfahrungen. Beschrieben wurde sie mit »Challenging imperial feminism« von Amos/Parmer (1984). Eine sogenannte Volksgruppe in Westafrika – insbesondere im südwestlichen Teil Nigerias.

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that in societies where such problems do not exist, there should be no such debate. But then, due to imperialism, this debate has been universalized to other cultures, and its immediate effect is to inject Western problems where such issues originally did not exist.« (Oyéwúmí 1997: 9) Eine dekonstruktivistische Haltung und diskursanalytische Methodologie ermöglichen es, die Aufmerksamkeit auch auf die historisch gewachsenen Strukturen und Konstruktionsmechanismen zu lenken. Es geht dann beispielsweise um die Frage, wie Gender in GCE-Konzeptionen hergestellt und organisiert wird: Gender kann als ein Punkt auf einer Checkliste, eine Analysekategorie, eine statistische Variable, ein soziales Klassifikationsschema oder ein »Begriff, der einen Wahrheitsraum mit höchst unterschiedlichen Komponenten organisiert« (Forster 2008: 203), benutzt werden. Was also wird mit dem Begriff Gender in GCE-Konzeptionen vermittelt und kann dieser überhaupt global/universell anwendbar sein? Gerade aufgrund der Mehrdeutigkeiten, die eine Spezifizierung postkolonial-feministischer Theorien und Perspektiven hervorbringt, lassen sich produktive Fragen stellen, die mit anderen Zugängen und Perspektiven meines Erachtens unbeachtet blieben.

Gender und Global Citizenship Education »The feminization of the territory and a racialization of its inhabitants went hand in hand; both served to justify domination and exploitation.« Zantop 1997: 45 Wenn der Blick auf Genderdiskurse im Rahmen von GCE gelenkt wird, so soll es darum gehen, wie Gender in GCE-Konzeptionen oder -Papieren hergestellt wird (Herstellungs- und Bezeichnungspraxen). Es geht also darum, die Produktion von Gender zu analysieren und sich die Frage zu stellen, ob und wie dadurch bestimmte koloniale (Gender-)Ordnungen reproduziert werden. »Der Begriff Gender steht in gegenwärtigen Wissenschaftsdiskursen und deren Vermarktung für mehr, als für das, wofür er ursprünglich aus dem Englischen kommend eingeführt wurde, nämlich für die Entgegensetzung zum biologischen Geschlecht, also zu Sex. Gender stellt nahezu ein Kennwort oder Codewort dar für die Teilnahme an bestimmten Diskursen und die spezifische Positionierung innerhalb derselben.« (Babka 2007: 1)

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Gender stellt einen komplexen Begriff und variables Konzept dar, welches einerseits permanenten Herstellungsprozessen ausgeliefert ist und andererseits aktiv zu spezifischen Herstellungsprozessen beiträgt. Eine dekonstruktive Haltung einnehmend, wird es in den weiterführenden Analysen vertiefend um die Rekonstruktion sprachlich-diskursiver Formationen von Geschlechterordnungen (vgl. ebd. 2007: 11) mit Fokus auf Repräsentation und Konstruktion gehen. Wie bereits dargestellt, war es insbesondere die GEFI (vgl. UNSG 2012), die die UNESCO zur Übernahme von GCE als pädagogische Leitlinie veranlasste. Dass dieser Initiative zugrundeliegende und gleichnamige Dokument Global Education First Initiative erweist sich als Schlüsseldokument für weiterführende Analysen. In ihm wird die Rolle von Bildung als »education = development« (UNSG 2012: 11) beschrieben und als zentral für vier Bereiche gekennzeichnet: »Education = gender equality [,] Education = economic opportunity [,] Education = health [,] Education = environmental sustainability« (UNSG 2012: 11) Bildung wird hier als bedeutsam für Geschlechtergerechtigkeit, ökonomische Möglichkeiten, Gesundheit und Nachhaltigkeit gesetzt. Bereits nach punktueller und knapper Durchsicht des Dokumentes lassen sich Muster der Verhandlung von Gender erkennen, die spezifischen, und in sich verwobenen, Narrativen oder auch Paradigmen folgen: 1) Empowerment-Paradigma, 2) Universalisierungsnarrativ und 3) Viktimisierungs- und (rassistisches) Rettungsnarrativ. Von dieser Beobachtung ausgehend, wird nach der Produktion des vergeschlechtlichten postkolonialen Subjektes – der Subalternen (Spivak 2008a) – und des (vergeschlechtlichten) »imperialistischen Subjektes«10 (Castro Varela 2016: 2) zu fragen sein.

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Empowerment-Paradigma

In dem Dokument der GEFI wird bekräftigt, Bildung stelle ein Menschenrecht dar und dürfe nicht zum Privileg von Wenigen verkommen.11 Damit 10

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»Wer also Zuhause zum Lesen und zum Debattieren angehalten wird; diejenigen, die während ihrer Sozialisation ausgestattet werden mit einem unkaputtbaren Selbstbewusstsein, die profitieren von Schule und Beschulung. Spivak bezeichnet dies als die Produktion imperialistischer Subjekte.« (Castro Varela/Heinemann 2016: 2) »Education is the basic building block of every society. It is a fundamental human right, not a privilege of the few.« (UNSG 2012: 4)

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wird auch hervorgehoben, Bildung könne oder solle zur Emanzipation und Gleichstellung der Geschlechter beitragen. So heißt es unter dem Punkt Education = gender equality genauer: »Education = Gender equality[,] Education empowers women[.] One additional school year can increase a woman’s earnings by 10 % to 20 %. No education for girls = economic loss[.] Some countries lose more than US$ 1 billion a year by failing to educate girls to the same level as boys. Education increases awareness of rights[.] Educated women are more likely to have decent working conditions, delay childbearing, resist violence, denounce injustice and participate in political processes.« (UNSG 2012: 11, Herv. i. O.) Die Erläuterungen folgen einem liberal-feministischen Ansatz, mit dem die Emanzipation von Frauen* durch Bildung als universell anwendbar betrachtet wird. Auch wenn Bildung enormes Potenzial birgt, scheinbar verfestigte (Macht-)Verhältnisse zu destabilisieren, so birgt sie ohne jegliche sprachliche, soziale, politische Kontextualisierung und vor dem Hintergrund kolonialer Genealogien auch die Gefahr der Restabilisierung von Machtverhältnissen. Das wird beispielsweise sichtbar, wenn Bildung dem Zweck der ökonomischen Profitvermehrung dienen soll. In dem oben erwähnten Zitat der GEFI wird ein Empowerment-Paradigma sichtbar, das stark im Entwicklungsdiskurs verankert ist. Zu Beginn der Dekolonisierung, so Castro Varela und Dhawan, diente Entwicklung »als zentrales Element von Demokratisierungsprozessen« und »als wirksames Mittel zur Erlangung von Geschlechtergerechtigkeit« (Castro Varela/Dhawan 2015: 87): »Das Konzept von ›Fraueninteressen‹ unterstellte dabei, dass alle Frauen unabhängig von ›Rasse‹, Klasse, Religion und Sexualität gemeinsame Interessen teilen, und führte zu einer Befürwortung von universellen Lösungsansätzen für diverse Problemlagen wie Armut und Arbeitslosigkeit.« (Ebd.) Bildung scheint im Rahmen von GCE das Konzept der Entwicklung abzulösen, geht dabei von universellen (Frauen*)Interessen und Lösungsansätzen aus und spaltet die Welt dennoch in jene, die Bildung ›haben‹ und ›geben‹, und jene, die Bildung ›brauchen‹ ›nehmen‹ und ›konsumieren‹. Gekoppelt wird Empowerment in diesem Beispiel insbesondere an ökonomische und rechtliche Momente. So soll, wie die Argumentation der GEFI oben zeigt, das Bewusstsein für die eigenen Rechte die Arbeitsbedingungen verbessern, Widerstand gegen Gewalt und Ungerechtigkeiten fördern und Schwangerschaften verhindern. Damit tritt Bildung als Lösungsansatz und universelles Mittel zur

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ökonomischen, gesundheitlichen und rechtlichen Verbesserung der Situation von Frauen* auf. Doch gründen Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht (ausschließlich) in mangelnder Bildung und können daher auch nicht allein durch diese überwunden werden. Vor allem bleibt unsichtbar, dass durch die Rechts-, Gewalt-, Gesundheits- und Ungerechtigkeitsdiskurse auch paternalistische Politiken eingesetzt werden, ohne dass die adressierten und betroffenen Personen selbst zu Wort kommen (können). Die im Zentrum stehende Armutsbekämpfung (»to live in a world free of poverty« [UNSG 2012: 11]) und das dafür bereitgestellte oder geforderte Bildungsangebot (»put every child into school, improve the quality of learning, foster global citizenship« [ebd.: 12f.]) können als eine »Politik des Helfens« (Castro Varela/Dhawan 2015: 87) gelesen werden. Diese Politik des Helfens verdecke, so Dhawan und Castro Varela, ökonomische und geopolitische Interessen (beispielsweise die Finanzierung der GEFI durch Weltbank und Nestlé) weitestgehend und diene dem sogenannten Globalen Norden abermals für Interventionen (vgl. ebd.). »Die Beziehung zwischen ökonomischer und politischer Ermächtigung bleibt diskontinuierlich: formalisierte demokratische Rechte ermöglichen den Marginalisierten nicht automatisch mehr Möglichkeiten, so wie ökonomisches Empowerment sich nicht in Desubalternisierung übersetzt.« (Castro Varela/Heinemann 2016: 20).

2)

Universalisierungsnarrativ

Das Recht auf (oder gar die Pflicht zu) Bildung wird in GCE als Lösungsansatz hochgehalten. Es wird davon ausgegangen, dass Bildung erstens aus der Armut hilft, zweitens zu mehr (Geschlechter-)Gerechtigkeit und Gleichheit beiträgt und drittens die nachhaltige Entwicklung eines Weltbürger*innentums mit sich bringt. Diesen Lösungsansätzen liegt eine universalisierende Erzählung zugrunde. So wird Bildung für alle (education for all) unter Absehung der Diskriminierungen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten entlang der Achsen von Geschlecht, ›Rasse‹, Klasse, Religion, Körper und Sexualität postuliert: »Gender, ethnicity, and geography should not determine whether a child attends school. Nor should a family’s poverty deprive any child of a decent education.« (UNSG 2012: 5) Ignoriert werden die spezifischen Lebenslagen, die aufgrund kolonialer Genealogien, gegenwärtiger internationaler Arbeitsteilung und der asymmetrischen Spaltung der Welt entstehen, die wiederum

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geschlechtliche, rassistische, religiöse, ableistische oder das sexuelle Begehren betreffende Diskriminierungen hervorbringen. Insbesondere die Notwendigkeit der Bildung von Frauen* (women) und Mädchen* (girls) wird hervorgehoben. Der scheinbar universelle Geltungsanspruch, der darauf verweist, dass ›alle‹ Frauen* dieselbe oder eine ähnliche (strukturelle) Benachteiligung und/oder Unterdrückung erfahren würden, verlangt aus einer postkolonial-feministischen Perspektive nach einer Problematisierung, Historisierung und Kontextualisierung. Gender wird in dem GEFI-Dokument vorwiegend in Verbindung mit Diskriminierung, Gleichstellung und Differenz thematisiert: Es geht um gender equality, gender discrimination and gender disparities. Wirksam wird hier ein universalistisches Bildungsideal, das Frauen* aus dem sogenannten globalen Süden als ungebildet markiert, was wiederum zur Legitimation von Interventionen dienen kann. In diesem Zusammenhang zeigt sich ein Dilemma: Einerseits ist die Benennung von globalisierten vergeschlechtlichten Ungleichheiten notwendig, andererseits werden dadurch Genderkategorien (und die damit in Verbindung stehende globale, neokoloniale Ordnung) stabilisiert, die es wiederum aus postkolonial-feministischer Sicht eigentlich zu irritieren und herauszufordern gilt. Das Universalisierungsnarrativ hielt mit der zweiten Frauen*bewegung der 1970er Jahre und den damit verbundenen Vorstellungen und Zielsetzungen von global sisterhood (globaler Schwesternschaft), die für eine globale feministische Solidarität steht, in feministischen Kreisen einer globalen Elite Einzug. Insbesondere Ansätze von Mohanty (1988) und Spivak brechen mit dem Konzept der global sisterhood in unterschiedlicher Weise und problematisieren die essenzialistische Annahme, weibliche Unterdrückung sei universell. In GCE-Konzeptionen wird Gender zu einem »Dreh- und Angelpunkt von Empowerment-Strategien und damit aus dem Kontext anderer Unterdrückungsverhältnisse isoliert« (Aktion Dritte Welt e.V. 2000: 4), womit eine universale Gültigkeit in Bezug auf Gender unhinterfragt bleibt und weitere Verwobenheiten ignoriert werden. Darüber hinaus begünstigt eine »historische Amnesie« (Dhawan 2016: 75) die Universalisierung der Kategorie Gender, womit Gender beispielsweise nicht als (neo-)kolonial eingeführtes Prinzip wahrgenommen wird. Lugones bemerkt hierzu: »Colonialism did not impose precolonial, European gender arrangements on the colonized. It imposed a new gender system that created very different

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arrangements for colonized males and females than for white bourgeois colonizers. Thus, it introduced many genders and gender itself as a colonial concept and mode of organization of relations of production, property relations, of cosmologies and ways of knowing.« (Lugones 2007: 186) Im Falle von GCE entziehen sich nicht unbedingt Europa oder der Westen (Hall 1994), sondern vielmehr eine transnationale oder globale Elite12 (bspw. Akteur*innen von GEFI und GCE im Rahmen der UNESCO) der Praxis der Selbsthinterfragung – als »größte Stärke und als das wichtigste Erbe der europäischen Aufklärung« (Dhawan 2016: 74) – und einer historischen Reflexion der Universalisierung bestimmter historisch gewachsener hegemonialer Wert- und Wissensvorstellungen. Postkoloniale Theoretiker*innen betonen in diesem Zusammenhang »die äußerst tiefgehende Verbindung zwischen Europas imperialen Projekten und der aufklärerischen Verehrung von Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt, welche die Konzeption der Welt als vereinigtes Ganzes erst ermöglicht hat. (Dhawan 2014)« (ebd.: 75f). Diese Konzeption der Welt wird gegenwärtig von einer globalen Elite fortgeschrieben, die eine Politik des Helfens gerade deshalb verfolgen kann, weil sie die historischen Prozesse, die diese Wohltätigkeit ermöglichen, ignoriert. Diese Idee, beispielsweise von Bildung als Empowerment für alle Frauen*, die universell geltend gemacht werden soll, kann meines Erachtens nicht unabhängig von historischen Prozessen der Kolonisierung (Bildungsmissionen als Zivilisierungsmaßnahmen) betrachtet werden. Bei GCE-Konzeptionen geht es dann auch um universale oder globale Demokratisierungsmaßnahmen und die Utopie eines Weltbürger*innentums.13 In der Einleitung zu Enrique Dussels Werk Der Gegendiskurs der Moderne (2013) verweist Christoph Dittrich, in Bezug auf Ramòn Grosfoguel, auf die Aktualität imperialer Fortschreibungen: »In den letzten 513 Jahren des […] Weltsystems sind wir vom ›werde Christ oder ich töte dich‹ im 16. Jahrhundert, zum ›zivilisiere dich oder ich töte dich‹ 12

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»An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass Spivak sich in ihrer Argumentation auf eine globale Elite bezieht, die sowohl in der ›Ersten‹ als auch in der ›Dritten Welt‹ verortet ist.« (Dhawan 2009: 55) »Die Idee von Europa als Garant für globale Gerechtigkeit und Demokratie stellt eine Kontinuität mit der Vorstellung von der ›Bürde des weißen Mannes‹ her, nach welcher die Europäer die Verantwortung und Pflicht hätten, den Rest der Welt zu ›retten‹ und zu ›erleuchten‹.« (Dhawan 2016: 76)

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im 18. und 19. Jahrhundert, zum ›entwickle dich oder ich töte dich‹ im 20. Jahrhundert und […] zum ›demokratisiere dich oder ich töte dich‹ zu Beginn des 21. Jahrhunderts übergangen.« (Dittrich 2013: 13) Mit dem Narrativ der Universalisierung geht eine Objektifizierung beziehungsweise auch Viktimisierung von Frauen* und damit die von Mohanty kritisierte Konstruktion der »Third World women« (Mohanty 2003) einher.

3)

Viktimisierungs- und (rassistisches) Rettungsnarrativ

In dem Dokument der Global Education First Initiative wird insbesondere von einem Mangel an Post-Primary-Bildung in sogenannten low-income countries gesprochen. Damit wird den Leser*innen das spezifische Bild einer Nation vermittelt, die Bildung als Entwicklung (education = development) benötigt, um ökonomische, gesundheitliche und emanzipatorische Fortschritte zu erzielen. Die folgende Beschreibung soll erklären, warum es wichtig sei, mehr Mädchen* auszubilden: »Girls face a unique set of barriers to education, such as child marriage, early pregnancy, and expectations related to domestic labour, not to mention unsafe travel and a lack of sanitary facilities. Many countries under-value girls‹ education, with the result that fewer girls enroll and those who do are more likely to drop out.« (UNSG 2012: 15) Mit dieser Beschreibung wird ein Bild von Passivität gezeichnet und ein Opferstatus zelebriert: Es scheint so, als würde nach Hilfe, Bildung, Entwicklung verlangt. Indem Handlungsmacht weitgehend de-thematisiert und auf die Verletzlichkeit fokussiert wird, wird verdeckt, dass eine erhöhte Verletzlichkeit (barriers) sehr wohl mit Handlungsmacht und Widerstandsstrategien zusammenfallen kann. Auch wenn Frauen* (girls) hier nicht explizit als ›Andere Frauen*‹ benannt werden, so werden sie doch als solche markiert. Insbesondere die Momente child marriage, early pregnancy etc. lassen Leser*innen darauf schließen, dass Frauen* aus sogenannten low-income countries angesprochen werden. Die Erwartung an Mädchen Hausarbeit zu leisten wird im Zitat als Bildungshindernis beschrieben. Zugleich werden so bestimmte stereotypisierte Geschlechterrollen (Ideale von Häuslichkeit) markiert, reproduziert und renaturalisiert. Inwieweit diese im Zusammenhang mit vergeschlechtlichten Elementen des kolonialen Diskurses stehen und seine Fortschreibung dar-

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stellen, wird in weiterführenden Analysen zu zeigen sein. Deutlich wird, dass herrschaftsförmige Konstruktionsvorgänge nicht benannt beziehungsweise verdeckt werden und somit gewährleistet wird, »dass sich strukturelle Ungleichheiten und Machtverhältnisse über diese Konzepte bis in die Gegenwart fortsetzen« (Schild 2014: 135). Es zeigt sich in den hier benannten Beispielen der GEFI, dass durch den Einsatz von Bildung, Menschenrechtspolitiken und Demokratisierung versucht wird, die Geschlechterverhältnisse von oben zu richten (vgl. Spivak 2008b: 50) und so dem Prinzip »Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern« (Spivak 2008a: 78) zu folgen.

Ausblick Nach einem ersten postkolonial-feministisch informierten Blick auf das GEFI-Dokument werden drei Muster deutlich: Empowerment-Paradigma, Universalisierungsnarrativ sowie Viktimisierungs- und (rassistisches) Rettungsnarrativ. Dieser erste Blick verlangt nach vertiefenden Auseinandersetzungen und Analysen, in welchen gegebenenfalls noch weitere narrative Strukturen sichtbar werden. Durch die postkoloniale Kritik wird jedoch das Dilemma Universalismus vs. Kulturrelativismus spürbar, das darin besteht, dass es im Rahmen von GCE einerseits einer Kritik des universellen Gerechtigkeitsbegriffes bedarf, diese Kritik andererseits aber Gefahr läuft, Menschenrechtsverletzungen kulturrelativistisch zu legitimieren (vgl. Dhawan 2011: 16). So ist die in diesem Beitrag formulierte Kritik an dem Universalismus der GCE-Konzeptionen (und insbesondere der GEFI) selbst in europäische, aufklärerische Ideale verstrickt und muss gewissermaßen immanent bleiben. Wie bereits eingehend erläutert, soll es nicht um eine Ablehnung oder Fundamentalkritik von GCE-Konzeptionen gehen, die Gefahr laufen, handlungsunfähig zu machen. Vielmehr gilt es, den hier beschriebenen Narrativen, denen in GCE-Konzeptionen gefolgt wird, auf den Grund zu gehen, sie zu verstehen, sichtbar zu machen und zu irritieren, um anschließend im Sinne einer »affirmativen Sabotage« (Spivak 2012: 2) einen kritischen Beitrag zu GCE zu leisten. Wie eingangs beschrieben, würde ein dekonstruktivistischer Zugang es ermöglichen, fundierte politische Programme wie GCE möglicherweise nutz¬bringender zu gestalten, indem die ihnen innewohnenden Probleme besser zum Vorschein gebracht werden. Basierend auf der in diesem Bei-

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trag beschriebenen Notwendigkeit postkolonial-feministischer Perspektiven auf GCE könnte das Ziel weiterführender Analysen darin bestehen, einen Beitrag zur Provinzialisierung (vgl. Chakrabarty 2010) von GCE zu leisten. Bislang fehlt es weitgehend an Beiträgen zu GCE, die sich einer kritischen feministischen Solidarität und reflexiven Selbstkritik verschreiben und der Dynamik der Vereinheitlichung sowie der Ambivalenz- und Komplexitätsfreiheit widerstehen können. In Abgrenzung zu Post-Development-Zugängen sollen postkolonial-feministische Zugänge und Perspektiven hier nicht als Option oder Erweiterung fungieren, sondern vielmehr eine »notwendige Spezifizierung« (Hornscheidt 2012: 217) für GCE darstellen. Einer »affirmativen Sabotage« (Spivak 2012: 2) folgend – Spivak bezieht sich auf die Schriften der Aufklärung – gehe es darum, »die Befähigung, die von diesen verletzenden Schriften ausging, listig und geschickt zu nutzen« (Spivak zit.n. Castro Varela 2014: 64). In diesem Sinne könne es auch gelingen, die Befähigung, die von GCE ausgeht, zu nutzen, die inneren Brüche hervorzuheben und herauszufordern oder sie zu transformieren, um sie dann im Sinne einer kritischeren (feministischen) Solidarität zum Einsatz zu bringen. »In der dekonstruktivistischen Praxis erkennt Spivak einen ›affirmativen‹ Aspekt, da sie politisch befähigen kann.« (Castro Varela/Dhawan 2015: 178) Insofern hieße diese Spezifizierung für mich, postkolonial-feministische Zugänge nicht als Theorien der Wahrheit zu universalisieren, sondern vielmehr als notwendiges Denkwerkzeug mit dekonstruktiver Haltung zu definieren und damit die Aufmerksamkeit auf die Strukturen und Konstruktionen zu lenken. »Eine Möglichkeit der definitorischen Annäherung an die Dekonstruktion wäre, sie als subversive Strategie zu begreifen, als philosophisch-philologische Lektüre, Relektüre und Gegenlektüre, die sich auf die Problematik der Gedankenfigur des Zentrums konzentriert und auf die Dezentrierung, Demaskierung der problematischen ›Natur‹ aller Zentren gerichtet ist. Dennoch: Dekonstruktion zu vereindeutigen würde sich gegen das Projekt als solches richten und immer schon seiner zentralen Prämisse zuwiderlaufen.« (Babka 2007: 13) Nicht eine einfache Umkehrung bestehender Verhältnisse soll fokussiert werden, sondern vielmehr eine Reflexion, Umwertung und Verschiebung derselben – mit dem Ziel, ihre Widersprüchlichkeit, Kontingenz, historische Gewordenheit und folglich ihre Veränderbarkeit aufzuzeigen. Dahingehend

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wird schließlich das subversive Moment einer dekonstruktiven Haltung sichtbar, welches sich in dieser Auseinandersetzung zum Ziel setzt, zu einer kritischen Solidarität in Theorie und Praxis von GCE beizutragen.

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Intersektionale Assemblage Wege zu transkultureller feministischer Solidarität Sonja Köhler

Unterschiedliche Feminismen verfolgen unterschiedliche Ziele, aber wie Sara Ahmed festhält: »Any feminism that leaves some women behind is not for women. Feminism requires fronting up to who has been left behind.« (Ahmed 2017: 207f.) Diesem Aufruf zur Berücksichtigung der Lebenslagen verschiedener Frauen*, die nicht nur von Sexismus, sondern vielfach auch von Rassismus, Klassismus, Transantagonismus, Nationalismus, Antisemitismus und vielen weiteren möglichen Formen von Unterdrückung betroffen sind, kann – sofern der Anspruch von Feminismus darin gesehen wird, die soziale Ordnung der Welt gerechter zu machen – mit einem intersektionalen feministischen Ansatz gefolgt werden. Dass damit auch Kritik an Herrschaft an sich verbunden ist, die diese Mechanismen von Unterdrückung nicht nur möglich macht, sondern sie für das Fortbestehen eines gewissen Machtanspruchs auch benötigt, unterstreicht bell hooks: »Feminism is a struggle to end sexist oppression. Therefore, it is necessarily a struggle to eradicate the ideology of domination that permeates Western culture on various levels, as well as a commitment to reorganizing society so that the self-development of people can take precedence over imperialism, economic expansion, and material desires.« (hooks 2000: 26) Obwohl es an dieser Auslegung immer wieder Zweifel gibt – großteils von weißen, bürgerlichen und bisweilen auch marxistischen Feministinnen* des Globalen Nordens –, ist es bei einem genaueren Blick auf das herrschaftliche Konstrukt des Patriarchats aufgrund seiner Verwobenheit mit verschiedenen Unterdrückungsformen unumgänglich, auch Rassismus, Antisemitismus, Kapitalismus, Nationalismus und jeweils regional spezifische Unterdrückungsmechanismen in einer feministischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Aber auch aus einer menschenrechtlichen

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Perspektive ergibt sich die dringende Notwendigkeit, nicht nur einen Kampf gegen Sexismus, sondern gegen jegliche strukturelle Ungerechtigkeit zu führen, die ausgeübt wird, um einen Machtanspruch aufrechtzuerhalten. Für Herrschaftssysteme, die an der Atomisierung der Gesellschaft maßgeblich interessiert sind und deren Machterhaltung sich auf jeweils unterschiedlich gewichtete Achsen heteropatriarchaler, kapitalistischer, rassistischer, antisemitischer, nationalistischer, religiöser Denk- und Handlungsstrategien stützt, stellen kollektive Zusammenschlüsse, die einen herrschaftskritischen Anspruch verfolgen und deren Basis intersektional ausgerichtete, transkulturelle feministische Solidarität bildet, womöglich die größte Gefahr dar. Zumindest – wohlgemerkt in einer um die ideologische Bedeutung des Machtbegriffs entleerten Variante – analog zu Hannah Arendts Begriff von Macht, wonach niemals eine einzelne Person über Macht verfügt, sondern diese immer nur im wechselseitigen Konsens mit einem unterstützenden Volk permanent hergestellt wird. Sobald dieser Konsens vonseiten des Volkes nicht mehr besteht, wird nach Arendt dem jeweiligen Herrschaftssystem die für die Herrschaft nötige Macht entzogen (vgl. Arendt 2014: 45ff.). Diese Definition von Macht und die von Arendt in den 1970er Jahren so vehement betonte Unterscheidung von Gewalt und Macht mag damals schon zu idealistisch-simplifizierend ausgefallen sein. Rudolf Rocker beispielsweise betont bereits in den 1930er Jahren einen anderen Standpunkt: »Große Massenbewegungen, ja ganze Revolutionen waren nötig, um den Vertretern der Macht jedes kleine Zugeständnis abzutrotzen, zu welchem sie sich freiwillig nie bequemt hätten.« (Rocker 2015: 74) Heute jedoch hat diese Betrachtungsweise von herrschender Macht jedenfalls kaum eine reale Grundlage, um einem herrschenden System Macht zu entziehen, beinhaltet aber die wichtige Aussage, dass selbstreferenzielle Macht innerhalb einer Gruppe nur bestehen bleiben kann, solange die Gruppe zusammenhält. Oder – übertragen auf einen intersektional-feministischen Solidaritätsansatz – mit bell hooks Worten: »If women willingly allow racist/sexist thinking to shape our relationships with one another, we cannot blame patriarchy for keeping us apart.« (hooks 1995: 224) In diesem Beitrag setze ich mich demnach mit verschiedenen Zugängen zu Intersektionalität kritisch auseinander, um darauf aufbauend eine Modifikation in Richtung intersektionaler Assemblage zu diskutieren, die die Fluidität von Subjektpositionierungen anhand makrostruktureller Achsen von Unter-

Intersektionale Assemblage

drückung stärker in den Blick nimmt und sich demnach analytisch zwischen den aufeinander einwirkenden mikro- und makrostrukturellen Ebenen bewegt. Intersektionale Assemblage soll als Basis für eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Problemen des von Chandra T. Mohanty (2002) ursprünglich als Ansatz für transkulturelle Forschung vorgeschlagenen Modells der feministischen Solidarität fungieren. In diesem Modell sollen sowohl transkulturelle Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten hegemonialer Strategien der Unterdrückung und des feministischen Widerstands dagegen als Grundlage dienen, um eine widerständige politische Praxis sowohl im wissenschaftlichen als auch im aktivistischen Kontext zu ermöglichen. Dabei ist es mein Ziel, zu erkunden, welche Voraussetzungen nötig sind, um diese Form der Solidarität aufzubauen, und welche Chancen ein auf den ersten Blick so theoretisch-abstraktes Konzept wie die intersektionale Assemblage hat, tatsächlich in praktisch-aktivistischem Widerstand gegen Herrschaft anwendbar und – vielmehr noch – von Nutzen zu sein. Zunächst wende ich mich dafür kritischen Beiträgen der Intersektionalitätsdebatte zu – einerseits vonseiten eines marxistischen Feminismus, andererseits aus der Perspektive feministisch geprägter Kritischer Theorie. Beide Zugänge – obwohl aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen argumentierend – plädieren für die Notwendigkeit, theoretisch-analytische Gesellschafts- und Herrschaftskritik am makrostrukturellen Rahmen zu orientieren. Ausgehend von diesen Überlegungen werden mögliche Vorteile einer sowohl mikro- als auch makrostrukturelle Ebenen verschränkenden Erweiterung von Intersektionalität durch Jasbir K. Puar´s (2007) Konzept der Assemblage als intersektionale Assemblage und deren Chancen besprochen, eine geeignete Grundlage für die Bildung einer transkulturellen feministischen Solidarität zu liefern.

Was Intersektionalität ist, nicht ist oder vielleicht ist Wie das 1977 erschienene Statement des Combahee River Collective zeigt,1 wurde die Verwobenheit verschiedener Achsen von Unterdrückung wie

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Bereits in der Einleitung verweist das Combahee River Collective (1982) in A Black Feminist Statement, dass sich der Ausgangspunkt ihrer Analyse und Praxis auf die Verwobenheit verschiedener Achsen der Unterdrückung wie Rassismus, Sexismus, Heterosexismus und Klassismus bezieht (vgl. Combahee River Collective 1982: 210ff.).

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Sexismus, Rassismus, Klassismus, die spezifische makro- und demnach auch mikrostrukturelle Realitäten von Diskriminierung bedingt, in (vor allem antirassistisch-)feministischen Kreisen schon lange diskutiert, bevor Kimberlé Crenshaw (1989) diesem Mechanismus zur Aufrechterhaltung hegemonialer Gesellschaftsstrukturen mit der Bezeichnung Intersektionalität einen Namen gab. Dennoch scheint der Begriff nach wie vor breit gefächerte Ressentiments auszulösen. Während einerseits grundlegend darüber diskutiert wird, welche Ebene Intersektionalität als analytisches Instrument adressieren kann, soll oder darf – also ob sich Intersektionalität aus einem antikategorialen Anspruch hervorgehend auf die mikrostrukturelle Ebene beziehen oder sich doch anhand strukturell-gesellschaftlicher Verhältnisse auf makrostrukturelle Mechanismen konzentrieren soll –, werden andererseits als dem Intersektionalitätsansatz inhärent angenommene Spezifika infrage gestellt. Seitens einer marxistisch-feministischen Kritik wird thematisiert, dass aufgrund einer zu starken Fokussierung auf individuelle Betroffenheitslagen die Berücksichtigung von Klasse generell und vielmehr noch Klasse als Verhältnis verloren geht (vgl. Gordon 2016: 348ff.) und außerdem Geschlecht – auch hier wieder in der Bedeutung als Verhältnis gedacht – durch die Absage intersektionaler Ansätze an falsche Homogenitätsillusionen, bei der unter anderem Geschlecht als homogene Kategorie angenommen wird, zu einem »Streit um Differenz zwischen Frauen« und somit zu einer »Privatisierung einer gesellschaftlichen Problemlage« (Soiland 2008: 9) beiträgt. Durch die Priorisierung von Kapitalismus als Basis sozialer Ungleichheit und die damit einhergehende Einengung jeglicher herrschaftskritischer Analyse auf die Relevanz bestimmter Kategorien beziehungsweise Verhältnisse in Bezug auf kapitalistische Produktions- und Reproduktionsprozesse geraten Strategien aus dem Blick, die zu einer auch unabhängig von Kapitalismus funktionierenden Herstellung und Aufrechterhaltung von Herrschaft führen, also einer per se patriarchalen Ordnung der Gesellschaft analog hegemonial geformter und dem Individuum nicht rein aufgezwungener, sondern zynisch zur Subjektivierung freigestellter Kategorien (vgl. Sauer 2012: 7). Durch diese verkürzte, weil nicht intersektionale Analyse der Basis von Kapitalismus, wird Kapitalismus an sich ebenfalls verkürzt verstanden. Weiters wird durch die Annahme, dass die Sichtbarmachung individuell unterschiedlicher Betroffenheitslagen von Unterdrückung mithilfe des Intersektionalitätskonzepts den Blick auf eine umfassendere gesellschaftskritische Analyse verstellt und privatisiert, die eigentliche Privatisierung hegemonial-ma-

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krostruktureller Diskriminierungsmechanismen zynischerweise ins Gegenteil verkehrt. Bereits Zillah R. Eisenstein plädierte 1981 diesbezüglich für eine stärkere Unterscheidung zwischen einer Theorie der Individualität und der atomistischen Ideologie eines liberalen Individualismus, um zu vollständigeren feministischen Analysen zu kommen: »Until a conscious differentiation is made between a theory of individuality that recognizes the importance of the individual within the social collectivity and the ideology of individualism that assumes a competitive view of the individual, there will not be a full accounting of what a feminist theory of liberation must look like in our Western society.« (Eisenstein 1981: 5) Hegemoniale Makrostrukturen wirken logischerweise in die individuellen Betroffenheitslagen Einzelner hinein – genau darin besteht die intendierte Wirkung von patriarchalen, kapitalistischen, rassistischen, nationalistischen Herrschaftssystemen. Sie bestimmen Mikrostrukturen, in denen die Einzelnen auf einem Spektrum zwischen gesellschaftlich-privilegiert bis hin zu unterdrückt positioniert werden, wobei diese Positionierungen innerhalb von Mikrostrukturen aktiv reaktualisiert werden. Makro- und Mikrostrukturen müssen somit in ihrer reziproken Bezugnahme aufeinander gedacht werden. Weitere Kritik an Intersektionalität wird von Vertreter*innen einer feministisch geprägten Kritischen Theorie geübt. Am Beispiel von Antisemitismus betonen sie, dass aufgrund der Zuordnung von jüdischen Personen als Repräsentant*innen des Allgemeinen – also des weißen, patriarchalen, kapitalistischen Universalen, das Intersektionalität laut Karin Stögner (2017) durch eine zu starke Fokussierung auf identitätspolitische, partikularistische Ansätze als das zu bekämpfende Ziel deklariert –, »Antisemitismus als intersektionale Ideologie par excellence«, in der Sexismus, Rassismus, Nationalismus und Kapitalismus als stets miteinander verschränkt erscheinen, unerkannt bleibt, weswegen von Stögner eine »Intersektionalität von Ideologien« (Stögner 2017: 26f.) vorgeschlagen wird. Trotz der berechtigten Kritik an der unbewusst bis hin zu bewusst hergestellten Unsichtbarkeit von Antisemitismus, die nicht nur im Ansatz von Intersektionalität, sondern auch in anderen Konzepten der Macht- und Herrschaftskritik zu finden ist, bleibt die Argumentation unklar, weshalb beispielsweise Rassismus, der ebenso nur in einer Verknüpfung von Sexismus, Nationalismus und Kapitalismus begreifbar wird – also eben in jenen hegemonialen Ordnungs- und Unterdrückungsstrategien, die Stögner für Antisemitismus als Spezifikum verstanden haben will – diese besondere Position als intersektionale Materie versagt bleibt. Vielmehr

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noch: Warum wird hier eine Hierarchisierung verschiedener Achsen von Unterdrückung als notwendig erachtet, die ja gerade in einem als macht- und herrschaftskritisch verstandenen intersektionalen Ansatz den hierarchischen Ordnungspraktiken diametral entgegenstehen sollte? Ebenso wird die untrennbare Verschränkung makro- und mikrostruktureller Elemente mit der begrifflichen Verschiebung des Fokus von Intersektionalität auf Ideologien und dem schlichten Verweis auf die dialektische Durchdringung derselben künstlich vereinfacht. Am interessantesten bei einer Auseinandersetzung der vielfältigen Kritikpunkte an Intersektionalität ist es wohl, dass immer wieder von einem expliziten Intersektionalitätskonzept ausgegangen wird, das es jedoch, wie es bei aus aktivistischen Kontexten hervorgegangenen Konzepten häufig vorkommt, bis zum heutigen Tag nicht gibt (vgl. Collins/Bilge 2016: 1ff.). Obwohl es zwar einige Versuche zur Begriffsbestimmung und engeren Rahmenfassung gab und gibt, ist nach wie vor ungeklärt, welche Inhalte mit Intersektionalität als Forschungsansatz angemessen bearbeitet werden können, welcher analytische Bezugsrahmen verwendet werden soll (vgl. Ferree 2018: 217) oder mit welcher Methodik empirisch-intersektional gearbeitet werden kann (vgl. McCall 2005: 1771ff.). Collins und Bilge fassen diesen Punkt wie folgt zusammen: »If we were to ask [them], ›What is intersectionality?‹ we would get varied and sometimes contradictory answers. Most, however, would probably accept the following general description: Intersectionality is a way of understanding and analyzing the complexity in the world, in people, and in human experiences. The events and conditions of social and political life and the self can seldom be understood as shaped by one factor. They are generally shaped by many factors in diverse and mutually influencing ways. When it comes to social inequality, people’s lives and the organization of power in a given society are better understood as being shaped not by a single axis of social division, be it race or gender or class, but by many axes that work together and influence each other. Intersectionality as an analytic tool gives people better access to the complexity of the world and of themselves.« (Collins/Bilge 2016: 1f.) Diese allgemein gehaltene Beschreibung von Intersektionalität als Weg, die Komplexität der Welt fassbar zu machen und innerhalb dieser Komplexität handlungsfähig zu werden, beendet keineswegs die im akademischen Kontext stets betonte Suche nach Präzisierung. Aber sie eröffnet Möglichkeiten, die Welt in ihrer Komplexität wahrzunehmen und untersuchen zu können.

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Abseits der dogmatisch anmutenden Festlegung des Intersektionalitätskonzepts auf eine entweder mikro- oder makrostrukturelle Ebene können diese Ebenen auch in einer sich permanent gegenseitig konstituierenden Reaktualisierung, also in ihrem reziproken Wirken aufeinander, verstanden werden. Dies findet sich beispielsweise in einem staats- und hegemonietheoretischen Intersektionalitätsansatz, der aufzeigt, dass »[…] strukturelle Gegebenheiten, institutionell-staatliche Praktiken und Normen sowie interpersonale Interaktionen und individuelle Identitätsprozesse mehrfache, interdependente Diskriminierungen bzw. Privilegierungen produzieren [und] wie multiple Machtvektoren also auch Subjektivitäten und Identitäten hervorbringen« (Sauer 2012: 7). Obwohl der Staat Herrschaftsverhältnisse und damit Unterdrückungsmechanismen institutionalisiert, werden staatliche Manifestationen wie Staatsdiskurse und -praxen von Individuen aktiv angeeignet und auch entworfen, wodurch die Konstruktion gesellschaftlicher Ordnung sowie die Hierarchisierung der ihr immanenten Diskriminierungskategorien flexibel bleiben (vgl. Sauer 2012: 3ff.). Diesen Gedanken unterstreicht auch Patricia Hill Collins (2017) anhand ihres dreidimensionalen intersektionalen Analysemodells von Macht und Herrschaft. Sie kommt ebenfalls zur Konklusion, dass Widerstand bereits in Herrschaft eingeschrieben ist, da das Agieren von Subjekten innerhalb und auch unabhängig von jeweils unterschiedlich konstituierten Gemeinschaften immer in Rückwirkung auf soziale Institutionen geschieht, die komplexe soziale Ungleichheiten organisieren und vor allem von einer unterdrückten Perspektive aus antihegemoniale Diskurse und Praxen ermöglichen (vgl. Collins 2017: 25ff.). Dementsprechend würde die Reduktion von Intersektionalität entweder auf eine mikrostrukturelle oder auf eine makrostrukturelle Ebene entscheidende Prozesse unberührt lassen, die eine Unsichtbarmachung verschiedener herrschaftlicher Praxen der Unterdrückung erleichtern, und somit die Entwicklung widerständig-aktivistischer Ansätze erschweren. Eine Möglichkeit, die Flexibilität von Herrschaftsstrukturen auf der Makroebene wie Patriarchat, Kapitalismus, Rassismus oder Kolonialismus anhand einer Auseinandersetzung mit mikrostrukturellen Aspekten aufzuzeigen und ihr entsprechend zu begegnen, kann in intersektionaler Assemblage gesehen werden. Unterschiedliche Einflussfaktoren auf die Subjektpositionierungen innerhalb eines makrostrukturellen Herrschaftssystems können hiermit erkannt und Widerstandsmöglichkeiten dadurch sichtbar gemacht werden.

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Was intersektionale Assemblage ist Bezugnehmend auf Überlegungen zur gegenseitigen Wirkmächtigkeit der mikro- und makrostrukturellen Ebene, die durch hegemoniale Mechanismen tatsächlich flexibel auf mikrostrukturell verortete gesellschaftliche Veränderungen reagieren und somit neben ihrer angenommenen Starrheit doch auch als dynamisch sichtbar werden, scheint es für die Entwicklung herrschaftskritischer Strategien vielversprechend, diese Ebenen in ihrem Spannungsverhältnis in einem theoretisch-analytischen Modell zu berücksichtigen. Wendy Brown (1993) wendet sich diesem Prozess, allerdings um auf die Problematik dieser Dynamik hinzuweisen, anhand der Aufsetzung einer die Intersektionalität berücksichtigenden Rechtsverordnung zu, in der die Diskriminierung von Personen beispielsweise aufgrund ihrer Körpergröße bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, Wohnungen oder der Nutzung von öffentlichen Einrichtungen untersagt wurde (vgl. Brown 1993: 399). Auch Jasbir K. Puar (2007) sieht im Konzept der Intersektionalität die Tendenz – sowohl makro- als auch mikrostrukturell –, kategoriell zugeschriebene Positionen zu verfestigen, weswegen erst durch das Aufbrechen derselben mithilfe einer Erweiterung um Assemblagen Spielraum entstehe, um Herrschaftssystemen gefährlich zu werden: »Intersectional identities are the byproduct of attempts to still and quell the perpetual motion of assemblages, to capture and reduce them, to harness their threatening mobility.« (Puar 2007: 213) Puar geht davon aus, dass Intersektionalität im Sinne Crenshaws retroaktiv, also auf Makrostrukturen reagierend, ein Raster herstellt – auf das es sich selbst bezieht – und diesen komplexen Prozess irrtümlicherweise als resultierendes Produkt anstatt als perpetuierend-flexiblen Vorgang versteht, der Veränderungspotenzial in sich trägt. Hingegen wird Assemblage beschrieben als das, was vor, jenseits oder nach jeglichem Raster besteht und somit sowohl zeitlich als auch räumlich nicht fix positioniert werden kann. Mehr noch: Assemblage ist selbst Verhältnis, die Verbindung zwischen Konzepten (vgl. Puar 2012: 50ff.). Im Kontext der Auswirkungen makro- und mikrostruktureller Ebenen auf Herrschaft würde das heißen, dass Konzepte gerade durch die Verbindung von der Makroebene und der Artikulation derselben auf der Mikroebene entstehen, wodurch das Konzept der Assemblage sich nicht nur zwischen diesen beiden Ebenen bewegt, sondern genau dieses Dazwischen ist. Durch diese Betrachtungsweise werden die Begriffe der Mikro- oder Makroebene

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(temporär) obsolet, weil sich Assemblagen eben zwischen diesen bewegen und das eigentlich konstituierende Merkmal für ihre Konzeptualisierung sind. Weiters werden Kategorien in der Assemblage-Theorie nicht als Einheiten oder Subjektmerkmale gedacht, sondern als Geschehnisse, Handlungen und Begegnungen zwischen Körpern. Assemblagen wiederum entstehen im Prozess der Deterritorialisierung von und der Reterritorialisierung in diese Kategorien (vgl. Puar 2012: 58). Gemeint ist hiermit, dass in einem Moment der Deterritorialisierung von Geschehnissen die Geschehnisse selbst unvorhersagbar sind und für diesen Moment auch außerhalb jeglicher sozialer Skripthaftigkeit verlaufen können. Durch die Reterritorialisierung der tatsächlich erfolgten Handlung hingegen wird die retroaktive Einordnung in kategoriale Schemata angestoßen, also eine Einpassung in das jeweilige soziale Skript. Als Beispiel hierfür kann die Aufführung der chilenischen feministischen Intervention gegen Gewalt an Frauen* (Un violador en tu camino, Übersetzung: Ein Vergewaltiger auf deinem Weg, von dem interdisziplinären Frauenkollektiv LASTESIS) in Österreich dienen: Eine Passantin, die weder Deutsch noch Spanisch spricht, sieht eine große Gruppe von Frauen* mit schwarzen Augenbinden, die eine gemeinsame Choreografie aufführen und dazu wütend einen Text sprechen. Deterritorialisierung bedeutet hier, dass das Geschehnis ohne Vorkenntnis der ursprünglichen Intervention in Chile und ohne die jeweiligen Sprachkenntnisse im ersten Moment nicht ausreichend in ein kategoriales Schema eingeordnet werden kann. Das Geschehnis selbst ist in diesem ersten Moment die Kategorie, was in diesem Fall wahrscheinlich bedeutet, dass das Geschehnis als unspezifizierter Protest wahrgenommen wird. Der weitere Verlauf dieses Geschehnisses muss jedenfalls als unvorhersehbar eingeordnet werden. Erst durch Assemblagen, also die Bedeutungsherstellung aufgrund von zusätzlicher Information, die beispielsweise durch das Nachfragen bei anderen anwesenden Personen erfolgen, kann das Geschehnis retroaktiv als feministische Intervention gegen Gewalt an Frauen* reterritorialisiert und dementsprechend in ein soziales Skript mit den dazugehörigen Kategorien eingeordnet werden. Durch die theoretische Analyse solcher Vorgänge anhand von Assemblagen werden somit die Lücken und Bewegungsmöglichkeiten, die vor, während und nach einer Handlung bestehen und die das handelnde Subjekt einer spezifischen Kategorie zuordnet, ebenso beachtet wie die makrostrukturellen Kategorien selbst. Dieser detaillierte Zugang legt den Fokus stärker auf die Mobilität und Fluidität von Aspekten menschlichen Handelns, erweitert also das Kontinuum von herrschaftlichen und widerständigen um weitere Kon-

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zepte dazwischen und darüber hinaus. Dadurch kann die Problematik der zu groben, an der gesellschaftlichen Bedeutung des Globalen Nordens orientierten Kategorienbildung (nicht nur) der standardisierten Trias von race, class und gender überwunden werden (vgl. Brah/Phoenix 2004: 82, Rendtorff 2012: 4). Innergesellschaftliche Differenzierungen (auf der Mikroebene) und eine Berücksichtigung der unterschiedlichen Gewichtung verschiedener Achsen der Unterdrückung zwischen verschiedenen Herrschaftssystemen sowie der Relevanzverschiebungen innerhalb desselben Herrschaftssystems (auf der Makroebene) können somit als Assemblage selbst, also als Verbindung dieser Konzepte, analysiert werden. Diese im Assemblage-Konzept betonte Beweglichkeit zwischen den Ebenen – die auch in einer »traditionell«-intersektionalen Perspektive in der Vorstellung von dynamischen Konsequenzen der Interaktion zwischen verschiedenen Achsen der Unterdrückung und der dementsprechend entlang dieser Achsen fließenden Betroffenheit, die dynamisch-aktive Aspekte von Entmachtung erzeugen, zu finden ist (vgl. Crenshaw 2002: 177) –, eröffnet die Überlegung widerständiger Strategien, die Herrschaftssysteme dazu drängen, sich zu flexibilisieren oder sich gar aufzulösen. Trotz der Notwendigkeit, die Beweglichkeit von Aspekten der Subjektpositionierungen sowie die Bewegung von Subjekten an sich in ihrer Bedeutung in den Blick zu bekommen, um unterdrückende hegemoniale Strukturen als angreif- und veränderbar wahrnehmen zu können, kann dies nicht getrennt von Überlegungen zu den makrostrukturell unterschiedlich gesetzten Subjektpositionierungen und Subjekten gedacht werden, wie Sara Ahmed verdeutlicht: »The idealization of movement, or transformation of movement into a fetish, depends on the exclusion of others who are already positioned as not free in the same way.« (Ahmed 2015: 152) Was Ahmed als kritische Auseinandersetzung mit der Bedeutungssetzung eines unreflektierenden, verallgemeinernden Begriffs von Bewegung als ausschlaggebende Koordinate, um zum Status eines freien queeren Subjekts zu gelangen, als Fetisch formuliert, deutet auch auf die Tendenz hin, Bewegung in ihrer quasireligiösen Dimension als Verwertungselement kapitalistischer Systeme2 zu übersehen, die für gewisse kategorisierte Subjekte ermöglicht 2

Karl Marx prägte in seinem Werk Das Kapital (1867) den Begriff des Warenfetisch. Der Warenfetisch ist die kapitalistische Praxis, Produkten eine quasireligiöse Komponente zu verleihen, also Eigenschaften, die das Produkt an sich nicht besitzt, sondern nur

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und gefördert, während dies für andere untersagt und sanktioniert wird. Dies ist der Fall, wenn von kapitalistisch verwertbaren Subjekten Flexibilität, also Bewegung beispielsweise in Form von Teilnahmen an internationalen Konferenzen erwartet wird, wodurch nationalstaatliche Grenzen hin zu einem globalen Arbeitsmarkt überschritten werden. Sofern diese nationalstaatlichen Grenzen jedoch von Subjekten übertreten werden, die an diesem globalen Arbeitsmarkt partizipieren möchten, aber aufgrund der rassistischen Konstruktion von ›guter‹ und ›schlechter‹ (Arbeits-)Migration daran gehindert werden, wird Bewegung als etwas Bedrohliches konstruiert und die Grenzübertretung sowohl physisch als auch metaphorisch für diese Subjekte so schwierig wie möglich gemacht – mit Konsequenzen, die bis hin zum Tod führen können wie das Sterben von Personen auf der Flucht im Mittelmeer belegt. Dieser Prozess der Bildung von Hierarchien anhand der Er- oder Verunmöglichung von Bewegung zeigt, dass sich Herrschaft nicht nur über Ausschluss und Unterdrückung bestimmter Subjekte herstellt, sondern durch genau die Inklusionsversprechen, die von einer »flexiblen Normalisierung und Integration« (Engel 2015: 195) getragen werden und somit den Ausschluss von anderen Subjekten, deren diskriminierte gesellschaftliche Position schlussendlich zu einer selbstverschuldeten wird, bedingen. Bewegung in diesem Zusammenhang als Imperativ der Befreiung zu verstehen, blendet somit nicht nur den hegemonialen Aspekt der Aufrechterhaltung von kapitalistischen Wirtschaftssystemen anhand beweglicher und somit flexibel verwertbarer Subjekte aus, sondern übersieht außerdem privilegierende sowie unterdrückende Formen, die sich in Bezug auf Bewegung für verschiedene Subjekte verschieden gestalten. Genau an dieser Schnittstelle kann aber dennoch die Relevanz von Bewegung als widerständige Strategie festgemacht werden. Die drastischen Maßnahmen, die Staaten bisweilen ergreifen, um die Kontrolle über die praktischkonkrete sowie theoretisch-abstrakte Bewegung von Subjekten aufrechtzuerhalten, zeugen von dem vonseiten des Staates wahrgenommenen Bedrohungspotenzial dieses Ansatzes: »Wenn nun der Sicherheitsstaat Identität und Bewegung der Einzelnen (einschließlich seiner Bürger [sic!]) als Gefahrenquellen und Risiken ansieht, zielt der erweiterte Einsatz biometrischer Daten als Grundlage der als Zuschreibung vorhanden sind (vgl. Marx 2013: 85ff.). Bei der Bezeichnung Ahmeds, Bewegung werde zu einem Fetisch, kommt diese quasireligiöse Komponente zum Tragen.

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Identifizierung und einer Automatisierung der Gesichtserkennung weit mehr noch auf die Schaffung einer neuartigen Population von Menschen, die potenziell zu entfernen und zu inhaftieren sind.« (Mbembe 2017: 54) Auch wenn Achille Mbembe mit dem Begriff der Identität arbeitet, der im Konzept der Assemblage kritisch hinterfragt wird, wird hier das Potenzial der Kombination eines Intersektionalitätsansatzes mit Assemblage-Theorie deutlich: Durch Intersektionalität wird das Erkennen von Strategien zur Herstellung und/oder Aufrechterhaltung von Macht in Herrschaftssystemen ermöglicht, in diesem Beispiel also die Herstellung und entsprechende Nutzung technologischer Überwachungsinstrumente mithilfe eines spezifischen Konzepts von Identität und der dementsprechenden Kategorisierung. Assemblage-Theorie konzentriert sich zusätzlich auf die Verbindung der beteiligten Konzepte, die in diesem Fall den Prozess der Konstruktion einer »gefährlichen Identität« (Ahmed 2015: 127) ermöglichen, die laut Sara Ahmed vor allem dann zur Gefahrenquelle wird, wenn ihre Bewegung unbemerkt bleibt. Die Möglichkeit der unbemerkten Bewegung zeigt nicht nur Herrschaftssystemen die Unmöglichkeit auf, die dem gefährlichen Subjekt immanente Attacke – die immer auch Attacke auf ebendiese Herrschaftssysteme ist – hinsichtlich des Zeitpunkts, des Orts, der Art und Weise ihrer Realisierung einzuordnen. Vielmehr entsteht auch ein Moment der Un-Wahrnehmbarkeit zwischen »gefährlichen« und »ungefährlichen« Subjekten. Dadurch tritt ein System der Kontrolle über die jeweilige Bevölkerung in Kraft, das zeigt, dass es nicht weiß, wonach es eigentlich sucht (vgl. Puar 2007: 184ff.). Wenn die Bewegung von bestimmten Subjekten als bedrohlich, als Angriff auf die rechtsstaatliche Konstruktion eines als demokratisch definierten Nationalstaates interpretiert wird – die Re-Phrasierung von Fluchtbewegungen als ›importierter Terrorismus‹ ist ein Beispiel dafür (vgl. Parlamentskorrespondenz Nr. 116 2016) –, wird unter Umständen der soziale Vertrag, der die demokratische Staatsform an eine rechtsstaatliche Ausrichtung bindet, dieses Nationalstaates gewissermaßen präventiv angegriffen, also vor dem ›eigentlichen‹ Angriff, was für als »gefährlich« wahrgenommene Subjekte eine gefährliche Situation darstellt: »Recognizing strangers becomes a moral and social injunction. Some bodies are in an instant judged as suspicious, or as dangerous, as objects to be feared, a judgment that is lethal. There can be nothing more dangerous to

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a body than the social agreement that that body is dangerous. We can simplify: it is dangerous to be perceived as dangerous.« (Ahmed 2017: 143) Assemblagen, die den Prozess der Nutzung von Überwachungsinstrumenten zur Differenzierung der Population in gefährlich, ungefährlich und vielleicht-gefährlich sowie die jeweiligen reaktualisierten Identitätskategorien in den Blick nehmen, ermöglichen demnach eine tiefergehende Analyse der im Intersektionalitätsansatz verwendeten Achsen der Unterdrückung. Was ich somit in diesem Artikel durch den Ansatz der intersektionalen Assemblage vorschlagen möchte, ist, die Bedrohlichkeit von theoretisch-abstrakt sowie praktisch-konkret verstandener Bewegung hervorzuheben, die makrostrukturell (mit-)geformte Identitätskategorien in ihrer mikrostrukturellen Fluidität akzentuiert und somit Räume der Widerständigkeit und Veränderungsmöglichkeiten abseits einer herrschaftsbegünstigenden Fixierung von Subjektpositionierungen schafft, in denen die hegemoniale Kontrolle und Instrumentalisierung derselben erleichtert ist. Durch die Betonung der Signifikanz des Dazwischen wird die Verbindung der Konzepte in den Vordergrund gerückt und dadurch die Wirkmächtigkeit der mikrostrukturellen Ebene deutlich, auf Makrostrukturen einwirken zu können und, mehr noch, diese in enthierarchisierender Weise zu verändern. Dadurch wird jegliche fatalistische Tendenz, Macht und Herrschaft als gegeben und unveränderlich zu betrachten, hinfällig. Weiters werden im Rahmen einer intersektionalen Assemblage aufgrund der breiter gefächerten Möglichkeiten zur Analyse von Herrschaft, deren Mechanismen sowie deren Realisierungen auf der mikrostrukturellen Ebene Verknüpfungen zum Modell der feministischen Solidarität nach Chandra T. Mohanty (2002) erkennbar. Sie zeigen Umsetzungsmöglichkeiten in einem transkulturellen praktisch-aktivistischen Kontext auf.

Mit intersektionaler Assemblage zu transkultureller feministischer Solidarität Obwohl immer wieder vielseitige Kritik an Intersektionalität geäußert wird, erscheint es aus einer feministischen Perspektive, die nicht ausschließlich in eurozentrischen Denkmustern verhaftet bleibt, sondern auch transkulturelle Ausbeutungsmechanismen einer vorgeblich Nationalstaatlichkeit sprengenden, liberale Werte und Diversität proklamierenden neoliberalen

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Wirtschaftspraxis in den Blick nimmt, als logische, obgleich trivial wirkende Konsequenz, dass Widerstand gegen diese Form der das Patriarchat verstärkenden Herrschaft auf intersektionaler und transkultureller Ebene erfolgen muss. Anders gesagt: In einem global organisierten Ausbeutungssystem muss der Kampf dagegen ebenso global organisiert werden (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009: 15f.). Dass dabei Intersektionalität als wesentliches Element eines auf Transkulturalität ausgerichteten feministischen Ansatzes fungieren muss, zeigt sich bereits bei der Erarbeitung makro- sowie mikrostruktureller kultureller Spezifika innerhalb eines Nationalstaates (die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion kann hier als makrostruktureller Faktor genannt werden, spezifische Praktiken und Rituale innerhalb dieser Religionszugehörigkeit zählen zu den mikrostrukturellen Komponenten), vielmehr jedoch noch bei Analysen, die den Globalen Norden wie den Globalen Süden als Referenzen fassen. Diese Überlegung findet sich im Modell der feministischen Solidarität, das Chandra T. Mohanty als Vorschlag für die Entwicklung internationalfeministischer Curricula an Universitäten und für die Durchführung von transkultureller Forschung in ihrem 2002 erschienenen Artikel »Under Western Eyes Revisited« vorträgt. Dieses Konzept zeichnet sich auf einer wissenschaftlichen Ebene von anderen international orientierten Ansätzen durch eine ausgewogene Bezugnahme auf einerseits innerstaatliche Unterdrückungsmechanismen und andererseits Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Herrschaftssystemen und Widerstandsformen zwischen einer lokalen, »westlichen« und einer globalen, »nicht-westlichen« Perspektive aus. Dadurch verbindet sich eine lokale, selbstreferenzielle Position mit einer globalen, häufig durch Othering3 geprägten Wahrnehmung zu einer nuancierten, realitätsnahen Betrachtung der Möglichkeiten feministischer Solidarität (vgl. Mohanty 2002: 518ff.). Obgleich Mohanty sowohl mit den Formulierungen transnational und transkulturell arbeitet, wird in diesem Beitrag der Fokus auf die transkulturelle Perspektive gelegt, da mit diesem Begriff Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf makro- und mikrostruktureller Ebene besser beleuchtet

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Die Beschreibung von Othering als Differenzierungsprozess zwischen dem Selbst und dem Anderen findet sich in verschiedenen philosophischen Auseinandersetzungen, die von Max Stirner, Georg W.F. Hegel über Simone de Beauvoir bis hin zu den postkolonialen Auseinandersetzungen von Edward Said und Gayatri C. Spivak reichen und in jeweils unterschiedlichen Kontexten entstanden sind.

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werden können als mit dem zu groben Konstrukt des Nationalen. Darüber hinaus birgt das Modell praktisch-aktivistische Implikationen, die die Schnittstelle von Theorie und Praxis hervorheben (vgl. ebd.: 501). Die Verbindung von feministischer Wissenschaft und feministisch-aktivistischer Praxis sowie die Berücksichtigung von fluid gedachten Mikro- und Makrostrukturen bilden in diesem Ansatz den Ausgangspunkt weiterer Überlegungen und bieten sich somit für eine Verknüpfung mit intersektionaler Assemblage an: »This curricular strategy is based on the premise that the local and the global are not defined in terms of physical geography or territory but exist simultaneously and constitute each other. It is then the links, the relationships, between the local and the global that are foregrounded, and these links are conceptual, material, temporal, contextual, and so on.« (Mohanty 2002: 521) Demnach ist die wechselseitige Bezugnahme selbst, die zwischen der Berücksichtigung physisch-geografisch nicht verortbarer lokaler und globaler Gegebenheiten entsteht, der ausschlaggebende Faktor für die Er- oder Verunmöglichung transkultureller feministischer Solidarität. Die Bedeutung, die den zwei Polen lokal und global beigemessen wird, bildet sich durch das Verhältnis – die Assemblage –, in dem sich diese Positionen bewegen. Somit variiert die Basis für Solidarität, die sich jeweils durch eine Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede makrostruktureller Unterdrückungsmechanismen, der daraus resultierenden vielseitigen Betroffenheitslagen sowie der mikrostrukturellen Widerstandsformen bildet, und bleibt dadurch nicht-fassbar fluide. Diese Betrachtungsweise ermöglicht in einer erweiterten Fassung die Erarbeitung einer Solidaritätsgrundlage von enger gefassten innerstaatlichen bis hin zu global verstandenen transnationalen Kontexten und verdeutlicht durch das Aufzeigen von Spezifika, dem Sichtbarmachen des Partikularen, Mechanismen des Universalen (vgl. Mohanty 2002: 501ff.). Ein Beispiel hierfür kann in der transkulturellen solidarischen Rezeption der feministischen chilenischen Intervention gegen Gewalt an Frauen*, Un violador en tu camino (Übersetzung: Ein Vergewaltiger auf deinem Weg), gesehen werden. Mit Blick auf Chile und Österreich können die Unterschiede des Partikularen – wie der spezifischen Regierungsform in Chile und dem aktuellen Aufstand dagegen sowie der ständigen Gefahr der Ausübung von sexueller Gewalt bis hin zum Mord durch die Polizei – unter Umständen das Auffinden von Gemeinsamkeiten, des Universalen, erschweren, was in diesem Beispiel in der strukturellen Gewalt gegen Frauen* gefunden werden kann, die sowohl in Chile als auch in Österreich durch patriarchale Herrschaftsformen

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ermöglicht und gefördert wird. Die spezifische Form eines patriarchalen Nationalstaats mag sich nicht nur in diesem Beispiel, sondern in unzähligen weiteren unterscheiden. Gewisse Charakteristika überschneiden sich jedoch und führen gerade am Beispiel von Un violador en tu camino zu einer breit getragenen Welle an Solidarität. Diese erhält ihre Bedeutung eben nicht nur aufgrund einer Analyse der Situation für Frauen* in Chile als unterstützenswert, sondern in ebenjenen Gemeinsamkeiten, die den feministischen Kampf in Chile als einen transkulturellen feministischen Kampf mit seiner Relevanz unabhängig der jeweiligen Verortung hinsichtlich nationalstaatlicher Kriterien, wahrnehmbar werden lassen. Die breit getragene feministische Sorge um den Verlust einer kollektiven analytischen Basis im Hinblick auf Geschlecht durch eine zu stark differenzfokussierte Orientierung mag zwar vor allem in Bezug auf die macht- und herrschaftsbedrohende Bedeutung von feministischer Solidarität als Denkund Handlungsgrundlage verständlich erscheinen, ist jedoch häufiger Resultat einer wenig nuancierten, reflexhaften Ablehnung jeglicher Differenzgedanken als einer fundierten, so viele Aspekte als möglich berücksichtigenden Analyse (vgl. Prengel 1990: 129ff.). Rosemary Hennessy hält zwar fest: »While capitalist social formations have historically made use of culturalideological oppression and the ideologies of identity and difference they employ in order to justify various ways of extracting and accumulating surplus value, in theory capitalism could persist without them.« (Hennessy 2000: 90) Dennoch schließt sie mit der Feststellung, dass eine gewisse soziale Beziehungsstruktur der Ausbeutung existenziell für die perpetuierende Wiederherstellung von Kapitalismus ist. Diese Beziehungsstruktur kann in der Geschlechterordnung gefunden werden. Psychoanalytisch geprägte Argumentationen wie die von Barbara Rendtorff (2012), die die spezielle Position der Kategorie Geschlecht im Gefüge verschiedener Diskriminierungsprozesse betonen, geben interessante Impulse. So führt Rendtorff die Position der Kategorie Geschlecht auf die Dimension von Sexualität und Fortpflanzung zurück, die potenziell als entgrenzend und zu einem (apersonalen) Anderen hin als unabgeschlossen wahrgenommen wird. Die Geschlechterordnung diene demnach dazu, die in diesem Zusammenhang spürbare Endlichkeit des menschlichen Lebens zu verdecken, die auch an der »beunruhigenden Angewiesenheit auf den Anderen und der eigenen Nicht-Vollständigkeit« (Rendtorff 2012: 7) erkennbar ist.

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Dabei bleibt ein wesentlicher Aspekt unerwähnt, der diese Argumentation, auch ohne in einen biologistischen Determinismus verfallen zu müssen, überhaupt erst möglich macht – nämlich die biologische Grundlage der Reproduktionsfähigkeit, die sowohl linear als auch nonlinear zur Geschlechterordnung verläuft. Das Vorhandensein funktionstüchtiger reproduktiver Organe, die die Reproduktion von Menschen ermöglichen, ist die Basis für die kontinuierliche Existenz menschlichen Lebens überhaupt und kann trotz immenser Bemühungen, diesen Prozess im Labor nachzustellen, nicht von Personen mit funktionstüchtigen reproduktiven Organen, also der Gruppe der gesellschaftlich als Frauen kategorisierten Personen, getrennt werden. Demnach ist ›Geschlecht‹ als herrschaftlich implementiertes gesellschaftliches Ordnungsmuster, das durch die Assemblage – also das Verhältnis zwischen dem Vorhandensein reproduktiver Organe, das häufig generalisiert und dadurch manchmal fälschlicherweise weiblich wahrgenommenen Körpern zugeschrieben wird, und dem Interesse an der Reproduktion der (›nicht-gefährlichen‹) Bevölkerung – überhaupt erst Bedeutung erlangt, für die Aufrechterhaltung von herrschender Macht und Ausbeutung (noch) grundlegend. Nachdem aber die Fähigkeit zur Reproduktion beziehungsweise die Förderung oder die Sanktionierung von Reproduktion ständig durch unter anderem Nationalismus, Rassismus, Klassismus, hegemonialer Religion überformt wird, bleibt diese weiblichen Körpern zugeschriebene Fähigkeit an sich zwar ein Spezifikum, ist aber immer ebenfalls Querschnittsmaterie verschiedener Achsen hegemonialer Unterdrückungsmechanismen (vgl. hooks 1995: 244). Trotz der Notwendigkeit, die Bedeutung der Spezifikationen verschiedener gesellschaftlicher Kategorien wie beispielsweise von ›Geschlecht‹ herauszuarbeiten, ist es wichtig, keine Hierarchisierung verschiedener hegemonialer Mechanismen der Unterdrückung vorzunehmen, um widerständige Strategien überhaupt erst als widerständig entwerfen zu können, ohne in die vielen Fallen zu gehen, die Widerstand potenziell in politisch-ökonomische Vereinnahmung verwandeln (vgl. Brown 1993: 399). Diese Kooption ist laut Nancy Fraser in der zweiten Welle der Frauenbewegung – unter anderem mit Beteiligung sozialistisch ausgerichteter feministischer Bewegungen – geschehen, indem geschlechterorientierte Liberalisierungsprozesse des Arbeitsmarktes angestoßen wurden, die für Frauen* in ironischer Weise zu einer neoliberalen Verschärfung von (Lohn-)Arbeit geführt haben (vgl. Fraser 2013: 29ff.). Profitieren würden davon vor allem bürgerlich-liberale weiße Frauen*, die so-

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mit eher ihre Verbindungen zur weißen patriarchalen Herrschaft stärken als zu Betroffenen von Sexismus und Rassismus. Anhand eines Inklusionsangebots, das neoliberal geprägt ist und strukturelle Diskriminierung als Leistung verschleiert, deuten Herrschaftssysteme makrostrukturelle systematische Unterdrückungsmechanismen in mikrostrukturelle selbstverantwortliche Handlungsfähigkeit um und kommen somit simultan durch Partikularisierung sowie Homogenisierung zu einer vollständigeren Kontrolle über die jeweilige Bevölkerung. Dies zeigt die Notwendigkeit, bei jeglicher Herrschaftskritik die Assemblagen, das »Dazwischen« analytisch zu berücksichtigen, wodurch die vielseitigen Bedeutungen der Verbindungen des Partikularen mit dem Universalen erkennbar werden (vgl. Puar 2007: 26): »The factioning, fractioning and fractalizing of identity is a prime activity of societies of control, whereby subjects (the ethnic, the homonormative) orient themselves as subjects through their disassociation or disidentification from others disenfranchised in similar ways in favor of consolidation with axes of privilege.« (Puar 2007: 28) Diese Fragmentierungsmechanismen in Form von Inklusionsversprechen treten ebenfalls bei einer näheren Betrachtung von Rassismus und Antisemitismus in Erscheinung, wodurch eine umfassendere intersektional ausgerichtete, transkulturelle feministische Solidarität in den jeweiligen Kämpfen gegen Rassismus sowie Antisemitismus erschwert wird. Während bell hooks (1995) die Unverzichtbarkeit von Solidarität in Kämpfen sowohl gegen Rassismus als auch gegen Antisemitismus aufgrund der gemeinsamen geschichtlichen Betroffenheit durch Ausbeutung und Unterdrückung hervorhebt, beschreibt sie den von Karin Stögner (2017) kritisierten Mechanismus mancher ihrer Schwarzen Student*innen, weiße jüdische Personen dem weißen Universalen zuzuordnen, sie demnach nicht als ebenfalls von Unterdrückung Betroffene anzuerkennen und folglich keine gemeinsame Basis für Solidarität zu sehen (vgl. hooks 1995: 206ff., Stögner 2017: 26). Anders als Stögner sieht hooks das Problem nicht im Intersektionalitätsansatz per se, sondern im Fehlen einer komplexen Sprache, die es ermöglicht, jüdische Identitäten und die Beziehungen zu Schwarzen Identitäten in ihrer Vielseitigkeit benennen und diskutieren zu können, und zwar unter der ständig zu vergegenwärtigenden Prämisse, dass sowohl Antisemitismus als auch Rassismus eine herrschaftserhaltende Fragmentierungsstrategie der »white male supremacy« (hooks 1995: 205ff.) war und ist.

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Die Anwendung von intersektionaler Assemblage als Analysetool könnte eine solche komplexe Sprache hervorbringen. Sie könnte es zum einen ermöglichen, hinter makrostrukturelle Herrschaftssysteme und deren Strategien zu blicken und diese zu thematisieren. Zum anderen böte sie die Gelegenheit, die unterschiedlichen Zusammenhänge zu erkennen, die verschiedene Konstrukte auf makro- und mikrostruktureller Ebene sowie im Dazwischen herstellen. Auf diese Weise könnten die komplexen Differenzen und Gemeinsamkeiten verschiedenster von hegemonialer Unterdrückung Betroffener entsprechend beachtet werden, um eine konstruktive Basis für transkulturelle feministische Solidarität zu bilden. Da sich Betroffenheitslagen von Diskriminierung nicht nur intersektional, sondern innerhalb makrostruktureller Kategorien auch beweglich gestalten, entstehen je nach physisch-geografischen, zeitlichen, sozialen, politischen situativen Aspekten unterschiedliche Realitäten, die durch das Assemblage-Konzept benennbar und verarbeitbar werden. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, ist es vor allem für ein sensibles Projekt wie das der transkulturellen feministischen Solidarität unbedingt erforderlich, eine tatsächlich belastbare Grundlage aufzubauen, die die vielfachen Spannungen, die solch einem Projekt immanent sind, nicht nur aushält, sondern im besten Fall auch für sich nutzbar machen kann. Hierfür ist es notwendig, sich die unterschiedlichen Fragmentierungsmechanismen bewusst zu machen und vielmehr noch auf diese antworten zu können, ohne in sich gegenseitig bekämpfende Individuen zu zerfallen. Das kann nur durch intersektionale Assemblagen, also eine vorherige, sich ständig reflektierende breite Analyse der unterschiedlichen Verbindungen solidarischer Personen gelingen. Trotz dieser herausfordernden Ausgangslage hat transkulturelle feministische Solidarität das Potenzial ein entschiedenes Gegengewicht zu Diskriminierung erzeugenden Macht- und Herrschaftssystemen zu bilden und dadurch diesen etwas entgegenzusetzen: »A transnational feminist practice depends on building feminist solidarities across the divisions of place, identity, class, work, belief, and so on. In these very fragmented times it is both very difficult to build these alliances and also never more important to do so.« (Mohanty 2002: 530) Oder um es etwas knapper und drastischer ausdrücken: »No wonder feminism causes fear; together, we are dangerous.« (Ahmed 2017: 18)

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Transformative Körper Architekturlaboratorien in der österreichischen Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre Alexa Baumgartner

Welche Rolle spielt Architektur als gebaute Realität in Bezug auf die Dekonstruktion traditioneller Geschlechterverhältnisse? Wie kann Architektur Widerstand und Subversion in unserer Gesellschaft eröffnen? Aus Sicht des spanischen Philosophen und Queer-Theoretikers Paul B. Preciado ignorieren Architekt*innen seit den 2000er Jahren – mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen – die Veränderungen und Transformationen in den gegenwärtigen Queer-, trans* Gender- und Crip-Bewegungen. Immer noch werden feministische oder queere Architekturpraktiken mit weiblichen Architektinnen in Zusammenhang gebracht oder verhaltene Debatten über berühmte, homosexuelle Architekten geführt (vgl. Preciado 2012: 121). Es stellt sich also die Frage, wo hinsichtlich aktueller feministischer und queerer Theorien die Potenziale in der Architektur liegen, wie sie zutage gefördert werden können und an welchen Punkten Architektur selbst subversiv beziehungsweise widerständig werden kann. Preciado (ehemals Beatriz, jetzt Paul B.) beschreibt in seinem 2013 erschienenen Buch Testo Junkie. Sex, Drugs, and Biopolitics in the Pharmacopornographic Era unter anderem autobiografisch Experimente mit überdosiertem Testosteron und die dadurch ausgelösten körperlichen Reaktionen. Unter dem heutigen, von ihm definierten »pharmakopornografischen Regime« würden biomolekulare und pornografische Prozesse sexuelle Subjektivität produzieren (vgl. ebd.: 125). Auf faszinierende Art und Weise zeigt Preciado, wie Pillen, Gels oder andere Flüssigkeiten es ermöglichen, den eigenen Körper, die eigene Identität und die eigene Umwelt zu steuern und neu zu definieren. Anhand seines erweiterten Verständnisses von Architektur werden diese Sub-

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stanzen selbst zu architektonischen Praktiken: als technologischer Teil in unseren Körpern. »Architecture can now be downloaded, eaten, sniffed, installed, copied, grafted, transferred, genetically modified, transplanted. Like desire, architecture exists without object. […] we need architects to be aware of their own mutation and to become activists.« (Ebd.: 130) Einerseits bezieht sich Preciado auf die Theorien von Judith Butler, Eve Kosofsky Sedgwick und Teresa de Lauretis, die von performativ konstruierten Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten ausgehen (vgl. Preciado 2018: o.S.). Andererseits greift er Michel Foucaults Konzept von Architektur als biopolitische Technik auf und versucht dieses – wie er selbst sagt – zu »queeren« (vgl. Preciado 2017: o.S.). Paul B. Preciado beschreibt Architektur als eine Technologie performativer Subjektproduktion. Er verwendet einen erweiterten Architekturbegriff, der über die Idee traditioneller Baukunst, Repräsentationssystemen, Plänen, Diagrammen etc. hinausgeht. Zudem widerspricht er der Vorstellung der meisten Architekt*innen, die glauben, ihre Entwürfe für bereits definierte Identitäten auszuarbeiten (vgl. ebd.: o.S.). »Architecture doesn’t house a gender or sexual subject that does already exist. But that rather comes to construct, in a performative way, the subject that it claims to shelter.« (Ebd.: o.S.) Architektur wird also die Möglichkeit zugeschrieben, traditionelle Geschlechterverhältnisse zu dekonstruieren und Alternativen zu rekonstruieren. Laut Preciado sollten sich Architekt*innen diesem Potenzial bewusst werden. Doch wie kann man sich eine solche subversive Architektur in gebauter Realität vorstellen? Um dieser Frage nachzugehen, soll im Folgenden ein Blick auf die österreichische Architekturavantgarde der 1960er und 1970er Jahre geworfen werden. Mittels der Betrachtung dieser Bewegung sollen Projekte, Entwürfe und Studien diskutiert werden, die die Lücke zwischen Postgender-Theorie und architektonischer Praxis schließen können. Der Beitrag behandelt die Besonderheiten dieser Bewegung: So wird die Veränderung der Wahrnehmung, Vorstellung und Haltung gegenüber dem Körper in den Arbeiten der österreichischen Avantgardist*innen dargelegt. Anhand von posthumanen und Postgender-Theorien, die eine alternative Auffassung von Technologie, menschlichen Körpern, Natur und Sexualität besitzen, soll die Aktualität der damaligen Projekte erörtert werden. Es wird gezeigt, wie die österrei-

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chischen Architekt*innen die Auflösung traditioneller Formen des Wohnens und Zusammenlebens planten, und über neue Möglichkeiten kybernetischer Organismen im virtuellen Raum spekulierten. Zunächst soll aber beschrieben werden, wie sich die Avantgardebewegung innerhalb der damaligen Gesellschaft selbst als widerständig verstand und bereits damals den Architekturbegriff erweiterte – allen voran Hans Hollein in seinem Manifest »Alles ist Architektur« von 1967. Durch das Antizipieren eines poststrukturalistischen Denkens sowie durch vernetztes Zusammenarbeiten entfernten sich die Akteur*innen immer mehr von den traditionellen Baumeistern.

Die österreichische Architekturavantgarde Im Vergleich zu anderen internationalen Gruppen der Zeit zeichnet sich die österreichische Architekturavantgarde der 1960er und 1970er Jahre besonders durch die intensive Beschäftigung mit dem Körper und der Körperlichkeit aus. Gerade österreichische Architekt*innen, aber auch Künstler*innen und Schriftsteller*innen waren im Vergleich zu ihren internationalen Kolleg*innen besonders früh und intensiv an den körperlichen und psychologischen Auswirkungen ihrer Projekte interessiert. Sie entwarfen und realisierten – oft in kollektiver Zusammenarbeit – eine Vielzahl von Eins-zu-eins-Prototypen, wobei der temporäre Aspekt für die Installationen entscheidend war. So schrieb Laurids Ortner, ehemaliges Mitglied des Kollektivs Haus-Rucker-Co, 1976 zu temporärer oder provisorischer Architektur und formulierte die Möglichkeit, angestrebte Transformationen durch Architektur physisch zu simulieren: »Provisorische Architektur ist aggressiv. Sie knackt eingebrannte Sehgewohnheiten. Eine Schule des Staunens mit scharfen Akzentuierungen, die maßgeschneidert auf die jeweilige Situation, Probleme kompromißlos lösen können.« (Ortner 1976: o.S.) Nachdem den Besucher*innen eine körperliche Erfahrung vermittelt wurde, konnte die provisorische Architektur weggeräumt und an einen anderen Ort gebracht werden. Das visuelle Wahrnehmen und Empfinden reichte den Architekt*innen also nicht aus. Sie wollten ihre Installationen physisch erlebbar machen und sie zeitlich begrenzen, um sie als Visionen an Ort und Zeit stehen zu lassen.

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In Österreich wurde ab den späten 1960er Jahren der Körper zum Ausgangspunkt für ein radikales Umdenken in der Architektur. Die gebaute Umgebung wurde infrage gestellt. Anhand von Experimenten mit neuen Technologien und Medien – einschließlich neu entdeckter pharmazeutischer Substanzen wie Drogen und Hormonen – schufen die österreichischen Architekt*innen eine Reihe von ›Architekturlaboratorien‹, in denen Körper auf neue und unbekannte Weise erlebt werden konnten. Die Installationen – unter anderem von Hans Hollein und Walter Pichler oder den Kollektiven Haus-Rucker-Co, Coop Himmelblau, Zünd-Up beziehungsweise Salz der Erde (eine Hommage an die Rolling Stones) sowie von Günther Domenig und Eilfried Huth – versetzten die Benutzer*innen in Form von Kapseln, Helmen oder Anzügen in eine neue und selbstkonditionierte Umgebung. Dort wurde der Körper in eine Reihe von physischen und psychologischen Prozessen eingebunden, um die gegenwärtige gesellschaftliche Unterdrückung zu überwinden. Der menschliche Körper ging eine Symbiose mit Architektur ein, die als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Subversion betrachtet wurde. International am bekanntesten sind wohl die Projekte des Kollektivs HausRucker-Co, gegründet von Laurids Ortner, Günter Zamp Kelp und Klaus Pinter im Jahr 1967 in Wien. Es arbeitete von 1967 bis 1971 am Mindexpanding Program, welches das menschliche Bewusstsein und die gebaute Umgebung in verschiedenen Maßstäben und Stufen erweitern sollte, beginnend mit den realisierten Helmen Flyhead, Viewatomizer und Drizzler weiter zu den Prototypen Mind Expander I, Ballon für Zwei und Gelbes Herz bis zum städtebauli-

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chen Konzept Pneumakosmos1 (vgl. Blomberg 2014: 30-31). Daneben ist auch das Kleidungsstück Electric Skin von 1968 besonders erwähnenswert. Ebenfalls bekannt sind die Arbeiten des Kollektivs Coop Himmelblau, das 1968 von Wolf D. Prix, Helmut Swiczinsky und Michael Holzer in Wien gegründet wurde. An ihrer Idee der Villa Rosa arbeiteten sie von 1966 bis 1970 und realisierten sie schließlich eins-zu-eins als Installation mit dem Weißen Anzug (beide Projekte werden später im Beitrag genauer vorgestellt). Um 1969 entstand auch das Projekt Astroballon (Herzraum), das beinahe 40 Jahre später, im Jahr 2008, auf der 11. Internationalen Architekturausstellung La Biennale di Venezia als Neuauflage gezeigt wurde. Die Installation wurde unter dem Titel Feedback Space vorgestellt und zeigte eine aktualisierte und vor allem technisch weitaus ausgereiftere Version der Idee von 1969. »Now this dream has become reality. If you step in and touch the handle, you can see and hear your heartbeat. This means that your body is part of the architecture and at the same time your body is changing architecture. […] Not architecture is changing the human being, but the human being is able to change architecture.« (Prix 2008: o.S.)

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Die drei realisierten, tragbaren Helme laufen auch unter dem Titel Environment Transformer und irritieren die optische und akustische Wahrnehmung der Träger*innen. Die Helme wirken als Filter, erzeugen einen diffusen Eindruck der Umgebung und intensivieren die Wahrnehmung. Sie werden teilweise auch in den weiteren gebauten Installationen getragen. Das Sitzmöbel Mind Expander I ist ausgelegt für zwei Personen und besteht aus einer Sitzschale sowie einem transluzenten Helm, der beide Personen umhüllt. Anhand von audiovisuellen Installationen will das Möbel die Kommunikation der beiden fördern. Der Ballon für Zwei ist eine temporäre Installation in Form einer pneumatischen Kapsel, die aus einem Fenster gehängt wird und zwei Sitzmöglichkeiten im Inneren bietet. Die Erstaufführung fand 1967 in der Apollogasse in Wien statt. Das Gelbe Herz ist eine aufblasbare und transportable Entspannungszone für zwei Personen. Es wurde 1968 an der Wiener Ringstraße erstmals gezeigt. Die Installation wird – ähnlich zum Herzschlag – ständig rhythmisch aufgeblasen. Der Rhythmus entspricht dem der Besucher*innen. Darauf aufbauend zeigen die Zeichnungen zum Pneumakosmos eine Wohneinheit für 10 bis 15 Benutzer*innen, die wie das Gelbe Herz in ihrer Form einer Glühbirne ähnelt. Dem Konzept folgend kann sie in eine größere Megastruktur gesteckt und so mit Energie versorgt werden. Das Mindexpanding Program will die Gesellschaft mit alternativen Räumen konfrontieren, außergewöhnliche Nutzungen anbieten und auf diese Weise neue Wahrnehmungsregionen schaffen. Die fünf Programmschritte werden als Gegenprogramm zum Alltag verstanden (vgl. Zamp Kelp [o.J.]).

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Für Wolf D. Prix bewies die transparente, doppelsphärische Installation, bei der anhand von Sensoren der menschliche Herzschlag gemessen und reproduziert wurde, dass der Körper nicht nur Teil von Architektur wird, sondern diese auch aktiv verändert und formt. Im ständigen Feedback zwischen Mensch und Architektur entstand ein schwebender, transparenter und lichtreflektierender Raum. Dieser repräsentierte in sich das Neue und Unbekannte sowie Unabhängigkeit und Individualität. Architektur reagierte direkt auf ihre Nutzer*innen. Prix verwies auf das Projekt Feedback-Circuit-Programm von 1971, in dem die nonverbale Kommunikation von Körperlichkeit als grundlegender Parameter für Stadtentwicklung agierte. Heute würde das als »Netzwerk« bezeichnet werden, so Wolf D. Prix (vgl. ebd.: o.S.).

Denken und Arbeiten im Netzwerk Die Idee des Netzwerks als nicht hierarchisches, offenes und dennoch verbindendes System oder Geflecht kann in Zusammenhang mit dem Denkmodell des Rhizoms von Gilles Deleuze und Félix Guattari gebracht werden. Die feministische Theoretikerin Rosi Braidotti bezieht sich auf Deleuze und Guattari, wenn sie argumentiert, unsere Realität habe sich von Dualität zu Pluralität entwickelt (vgl. Braidotti/Vermeulen 2014: o.S.). Demnach leben wir in einem flexiblen und vielfältigen System, befinden uns in ständigem Wandel und Mobilität. Deleuze und Guattari betrachten unser Leben als offene Karte, die »in allen ihren Dimensionen verbunden, demontiert und umgekehrt werden [kann], sie ist ständig modifizierbar. Man kann sie zerreißen und umkehren; sie kann sich Montagen aller Arten anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe oder gesellschaftlichen Formation angelegt werden.« (Deleuze/Guattari 1977: 21) Für sie ist das biologische System eines Rhizoms ein fluider und heterogener Organismus ohne Anfang und ohne Ende. »Das Rhizom [ist] ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierenden Gedächtnis und Zentralautomat; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.« (Ebd.: 35) Der rhizomatische Charakter beschreibt eine multiple und konstante Transformation, er entwickelt sich zu einem kontinuierlichen Werden und bildet Vielheit. Mit dieser Metapher beschreiben Deleuze und Guattari ein post-

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strukturalistisches Geflecht, ein größeres und vielfältiges System, in dem Hierarchien durch Vielheit ersetzt werden (vgl. ebd.: 13f.). Rosi Braidotti de- und rekonstruiert die Ideen von Deleuze und Guattari weiter und erklärt, wir würden die Energie aus der Zukunft nutzen können, um die Bedingungen der Gegenwart umzukehren (vgl. Braidotti/Vermeulen 2014: o.S.). In ihren posthumanen Ansätzen spricht sie von kognitiven Erweiterungen und Verteilungen, die helfen sollen, eine andere Welt zu wollen und zu begehren, um dadurch neue soziale Bindungen und Gemeinschaftlichkeit im globalen Maßstab zu finden. »We need to borrow the energy from the future to overturn the conditions of the present. […] We need to empower people to will, to want, to desire, a different world, to extract – to reterritorialize, indeed – from the misery of the present joyful, positive, affirmative relations and practices. […] What we should be speaking about are extended minds, distributed cognition, experiments with forms of affirmative relational ethics that take these parameters into account.« (Ebd.) In der Tat finden wir in der österreichischen Avantgarde die ersten posthumanen Körper der Architektur, die in Verbindung mit neuesten Technologien und Medien versuchten, den gegenwärtigen Zustand zu überwinden und eine neue, selbstkonditionierte Umwelt zu schaffen. Hier reagierte Architektur in ihrem Maßstab und ihrer Funktionalität auf den menschlichen Körper und es entstand eine Symbiose, die – aufgrund noch nicht vorhandener technologischer Möglichkeiten – ›abstrakte‹ Vorgänge in eine zukünftige, virtuelle Realität startete. In Bezug auf das rhizomatische Denken von Gilles Deleuze und Félix Guattari kann Architektur so die Möglichkeit zugeschrieben werden, sowohl Unerwartetes als auch Vielfältigkeit zu produzieren. Um Rosi Braidottis Aussage auf die österreichische Avantgarde umzulegen, könnte man behaupten, dass sich die Österreicher*innen die Energie der Zukunft geliehen haben, um die Benutzer*innen ihrer Installationen zu befähigen, eine andere Welt zu wollen. Die Architekt*innen der österreichischen Avantgarde versuchten, noch nicht Denkbares denkbar zu machen und sich das Potenzial einer offenen Zukunft anzueignen. Stets waren die Arbeiten mit einer Gesellschaftskritik verbunden. So lehnten sie in den Entwürfen und Prototypen das konservativkatholische Idealbild ab, wie es in Österreich in den 1960er Jahren vorzufinden war. Nicht nur die Architektur wurde zur Avantgarde, sondern auch der Körper selbst, eingebettet in ein komplexes, technologisches Umfeld.

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Hans Hollein arbeitete von 1974 bis 1976 an der Eröffnungsausstellung MAN transFORMS des Cooper-Hewitt-Museums in New York und versuchte, dieses posthumane System und die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Architektur, Design, Mode, Kunst, Wissenschaft und Körper in einer Mindmap zu zeigen. »Die Ausstellung ist daher interdisziplinär und verwendet Material aus verschiedenen Wissenschaften. Sie will zeigen, daß Design der menschlichen Tätigkeit und Kreativität zugrundeliegt, daß alle unsere Bestrebungen von ›Design‹ bestimmt werden. Sie wird trachten, die komplexen Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten von Design und Designsystemen in vielen Erscheinungen aufzuzeigen.« (Hollein 1989: 17) Bereits 1967 schrieb Hollein in seinem Manifest Alles ist Architektur, Architektur sei ein Medium der Kommunikation. Der Mensch transformiere und erweitere seine Umwelt physisch und psychisch durch Architektur und bestimme so seine Umgebung. »Seinen Bedürfnissen und seinen Wünschen gemäß setzt er Mittel ein, diese Bedürfnisse zu befriedigen und diese Wünsche und Träume zu erfüllen. Er erweitert sich selbst und seinen Körper.« (Hollein 1967: o.S.) Hollein bemerkte zudem, Architektur könne gegenwärtige Lebensformen transformieren und Alternativen vermitteln. Er erweiterte den Architekturbegriff: Architektur wird zum Medium von Widerstand und Subversion in der Gesellschaft. Hollein erweitert den Leitsatz von Joseph Beuys »Alles ist Kunst, jeder ist ein Künstler«, indem er schreibt: »Alle sind Architekten. Alles ist Architektur.« (Ebd.: o.S.) Auch die Form des (Zusammen-)Arbeitens von Architekt*innen, Künstler*innen und Designer*innen verändert sich ab den 1960er Jahren radikal. Inspiriert von Musiker*innen gründeten Architekt*innen weltweit – auch in Österreich – Kollektive, um lang- oder kurzfristig zu kooperieren. Oft fanden sich Kolleg*innen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Der Netzwerkgedanke wurde also auch auf der Ebene des Arbeitens und Produzierens relevant. Rund um das Wien der Nachkriegszeit sind diese Vernetzungen und Kooperativen besonders gut zu verfolgen, da die Stadt in den 1950er Jahren durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges isoliert war. Österreich und so auch Wien war in amerikanische, britische, französische und sowjetische Besatzungszonen unterteilt. Erst mit dem österreichischen

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Abb. 1: Hans Hollein, Man transFORMS, Ansatzpunkt: Anordnung aufeinander bezogener Themen (ein Teil des »Globus«), ab 1974 [Ausschnitt]

© Privatarchiv Hollein

Staatsvertrag 1955 erlangte das Land seine volle Unabhängigkeit zurück und erklärte sich für neutral. In den folgenden Jahren regulierte die Regierung

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den Kultur- und Kunstbereich und setzte dabei auf Wertekonservatismus und Veränderungsfeindlichkeit. »Der hier besonders eklatante Widerspruch zwischen wirtschaftlichem Fortschritt und einer Weigerung des Um- und Weiterdenkens in gesellschaftlichen und kulturellen Belangen war zweifelsohne ein wesentlicher Auslöser und Motor für die Schärfe und Radikalität vieler der hier entstandenen künstlerischen Formulierungen […].« (Badura-Triska/Klocker 2012: 10) Gruppierung und Abgrenzung war für junge Architekt*innen und Künstler*innen wichtig. Da es von Wien aus schwierig war, ein internationales Publikum zu erreichen, war die Kunst- und Architekturavantgarde auf die Unterstützung weniger privater oder katholischer Galerien angewiesen, beispielsweise auf die Galerie nächst St. Stephan. Junge Architekt*innen, Künstler*innen und Designer*innen vernetzten sich vor Ort und kollaborierten, um ihre Projekte und Aktionen Wirklichkeit werden zu lassen. Beeinflusst durch die Theorien von Marshall McLuhan, Herbert Marcuse, Timothy Leary oder Wilhelm Reich wurde Wien und seine Umgebung zum globally interconnected village – zum globalen Dorf.2 Dabei nahm das Gefühl der Verpflichtung und das Interesse für die alten Wiener Baumeister immer mehr ab. Stattdessen wurde ein kollektives, interdisziplinäres und antihierarchisches Arbeiten unter den Architekt*innen angestrebt. Trotz vielfach strenger Separierungen in Gruppen und nach Ideologien, die sowohl Freiräume als auch Differenzierungen schufen, fand dennoch ständig direkter oder indirekter Austausch statt. Günther Feurstein – Architekt, Lehrer und Vermittler sowie Schlüsselfigur der österreichischen Szene dieser Jahre – beschreibt die Auflösung und Produktivität mit folgender Metapher: »[E]s sind – wie ich glaube – in der kulturellen Szene immer Flüsse, Ströme, Bäche und Bacherln, die fließen, die irgendwo hinkommen, auftauchen […].« (Feuerstein 2017: 5)

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Marshall McLuhan definierte das »globale Dorf« erstmals 1962 in seinem Buch Die Gutenberg-Galaxis: Das Ende des Buchzeitalters. In seinem Buch Krieg und Frieden im globalen Dorf von 1968 beschreibt er dann, wie der Globus anhand von Elektrotechnik und des unmittelbaren Informationsflusses überall und jederzeit zu einem Dorf schrumpft.

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Frauen in der österreichischen Avantgarde Aus geschlechtertheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, welche Rolle Frauen in diesem interdisziplinären und mehrdimensionalen Netzwerk von Architekt*innen und Künstler*innen der 1960er Jahre rund um Wien einnahmen. Walter Pichler beschreibt sie »als die verbindenden Elemente zwischen den verschiedenen Gruppierungen« (Pichler im Gespräch mit Breitwieser [Matt 2011: 323]). Frauen waren oft maßgeblich an Entwürfen, Ausarbeitungen oder Aktionen beteiligt, so zum Beispiel Ana Brus, Edith Adam oder Elisabeth Pichler. Dennoch standen viele von ihnen im Schatten ihrer Ehemänner. Zu den sehr wenigen Frauen, die als Künstler*innen oder Architekt*innen autonom aktiv waren, gehören die Künstlerinnen Valie Export, Kiki Koglenik, Maria Lassnig, Ingrid Wiener oder die Architektin Angela Hareiter. Die österreichische Medien- und Performancekünstlerin sowie Filmemacherin Valie Export ist eine zentrale Figur der internationalen feministischen Kunstszene der 1960er und 1970er Jahre. Bekannt sind unter anderem ihre Aktionen Tapp- und Tastkino und Aus der Mappe der Hundigkeit von 1968, die sie gemeinsam mit ihrem damaligen Partner Peter Weibel performte, sowie die Arbeit Aktionshose: Genitalpanik von 1969. »Ich kann bei meinen Arbeiten von einem ›medialen Aktionismus‹ sprechen, die Medien und der Körper, der Kontext und das Konzept waren und sind meine Materialien.« (Export/Roussel 1995: 117) Später prägte sie den Begriff des Feministischen Aktionismus, wobei sie ihre Inspirationen aus amerikanischen Magazinen und Büchern bezog (vgl. ebd.: 118 und 120). »In den 60er Jahren gab es keine Frauenbewegung in Wien, auch keine einzige Künstlerin, die sich mit feministischen Gedanken oder mit den neuen Medien, die ja ebenfalls zum avantgardistischen Ausdruck gehörten, beschäftigte. […] Für das Publikum war es unverständlich, daß eine Frau sich so aggressiv verhält, daß eine Künstlerin so einen radikalen öffentlichen Ausdruck findet.« (Ebd.: 120 und 122) In der österreichischen Architekturavantgarde der 1960er und 1970er Jahre war Angela Hareiter eine der wenigen Akteurinnen. Bevor sie Ende der 1960er Jahre über ihren Partner Laurids Ortner mit Haus-Rucker-Co kooperierte und von 1970 bis 1974 Mitglied des Kollektivs Missing Link wurde, entwarf sie unter

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ihrem eigenen Namen einige visionäre Projekte. Zwischen 1965 und 1967 erarbeitete sie in einem ersten Schritt das Projekt Plastik explodiert, in dem sie das Potenzial von PVC als zukünftiges Material in der Architektur hervorhob. Die Leichtigkeit von Plastik ließ neue kognitive Erfahrungen zu. Es inspirierte die Benutzer*innen sowohl physisch als auch psychisch, da dadurch neues sensorisches Vergnügen entstand (vgl. Labedade/Vernant o.J.). In einem nächsten Schritt untersuchte Hareiter im Projekt Live Information die mobile Zelle als zukünftige und interaktive Wohnform. Noch vor ihren männlichen Kollegen, beispielsweise den Mitgliedern von Coop Himmelblau, definierte sie die Zelle als eine dem Körper angepasste Raumkapsel, ausgestattet mit neuesten Technologien für die audiovisuelle und haptische Erweiterung der Benutzer*innen (vgl. ebd.). Dieses nomadische Element kann in eine größere Struktur, eine sogenannte Megastruktur eingebunden werden, die sie im darauffolgenden Schritt mit dem Projekt Future House entwarf. Hier standen Kommunikation, Mobilität und Interaktivität im Mittelpunkt der architektonischen Umgebung. Wohnraum wurde zu einem Gebrauchsgegenstand und verlor jeglichen repräsentativen Charakter (vgl. ebd.).

Abb. 2: Angela Hareiter, Auszug von Future House, 1966- 1967

© Archiv Angela Hareiter

In einem letzten Schritt schuf sie mit Kinderwolken eine mobile und mitwachsende Struktur, die ebenfalls in die Megastruktur oder die reale Stadt

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eingehängt werden kann. Diese soll die gesellschaftliche Aktivität und Freiheit fördern und wächst mit dem Alter ihrer Benutzer*innen mit (vgl. ebd.).

Gesellschaft neu denken Architektur und Umgebung sowie die darin lebende Gesellschaft ›mitzuplanen‹ war allen internationalen Avantgardebewegungen der 1960er Jahre gemein. Als Reaktion auf die strenge Rationalisierung im Wohnbau der Nachkriegsjahre entstand eine Vielzahl von Entwürfen, Studien und Konzepten für innovative Wohnbauprojekte unter Einbezug neuester Entwicklungen, wie das Wissen zu Massenproduktion, Vorfabrikation, Telekommunikation sowie die Produktion synthetischer Materialien. Nur wenige Ideen davon wurden jedoch realisiert. Fast alle Entwürfe wurden als Megastrukturen gedacht und entworfen: groß angelegte, in sich geschlossene Stadteinheiten, deren Wohnformen Individualität und Freiheit zuließen.

Eilfried Huth und Günther Domenig In Österreich erarbeitete das Grazer Kollektiv Eilfried Huth und Günther Domenig eines der international ausgereiftesten Projekte seiner Art (vgl. Banham 1976: 160): Neue Wohnform Ragnitz. Das Konzept dafür entstand ab 1965. Ursprünglich handelte es sich um eine konkrete Bebauungsstudie im gleichnamigen Tal in der Nähe von Graz. Da sich die Studie für die Auftraggeber*innen zu weit von den üblichen Wohnbauvorstellungen entfernt hatte, wurden Domenig und Huth für ihre Arbeit zwar noch entlohnt, aber nichtsdestotrotz entlassen. Dennoch arbeiteten die jungen Architekten weiter an ihrem realutopischen Projekt und gewannen damit 1969 sogar den Grand Prix d’Urbanisme et d’Architecture in Cannes (vgl. Domenig/Huth 1974: 12f.). Ragnitz besteht aus einem vorfabrizierten Träger- und Versorgungssystem, einem urbanen dreidimensionalen Gerüst, in das modulare und innovative Wohneinheiten eingehängt werden. Die clusterförmige Anordnung der Wohnelemente sollte Umbauten ermöglichen, beispielsweise im Falle eines Generationenwechsels. Die Verwendung moderner, also synthetisch hergestellter Fertigteile sollte den Bewohner*innen Teilhabe, Eigenbau und Individualität ermöglichen. Eigentum wurde hier durch kreative Eigenleistung ersetzt (vgl. ebd.: 15). Der in die Wohneinheiten integrierte Konzentraum, eine variable Kapsel, fungierte als Rückzugsort und Raum für die individuelle Ent-

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faltung des Familienlebens. Hier konnten sich einzelne Familienmitglieder frei und uneingeschränkt bilden und informieren. Domenig und Huth beobachteten »Zwangskontakte und Behinderungen der individuellen Entfaltung« (ebd.: 292) in üblichen Wohnverhältnissen. »Die Hierarchie in der Familie ergibt dann die Priorität der Tätigkeit, der sich die anderen Familienmitglieder unterwerfen müssen.« (Ebd.: 292) In der Neuen Wohnform Ragnitz sollten sich die Familienangehörigen nicht mehr gezwungen fühlen, das Haus verlassen zu müssen (vgl. ebd.: 292), um ihren jeweiligen Interessen nachzugehen. Diese konnten stattdessen parallel in unterschiedlichen Räumen ermöglicht werden. Domenig und Huth beschreiben den Konzentraum als Ort der Rückkoppelung sowie des Austausches und der Kommunikation innerhalb der Neuen Wohnform Ragnitz (vgl. ebd.: 297). Anhand digitaler Vernetzung der Konzenträume eröffnen diese eine parallele und befreite Realität. Deutlicher und radikaler führten sie diese Ansätze in ihrem Ausstellungsprojekt Medium Total (1970) für die Galerie nächst St. Stephan in Wien weiter. Bereits damals versuchten sie, die begrenzten Ressourcen unseres Planeten mitzudenken, indem sie zum Beispiel folgende Frage stellten: »[W]as passiert, wenn jeder Haushalt, wie das in Amerika schon der Fall war, ein Auto hat« (Huth 2012: 176)? Ihre Antwort darauf war die Idee des totalen Mediums, einer gelben Masse, welche die gebaute Umwelt als fluide und kybernetisch anmutende Zellmembran ersetzen wird. Im Medium lebt eine Weiterentwicklung der Menschheit, die Suprahominiden, die ihre Kolonisation auch auf Mond und Mars ausweiten werden (vgl. Domenig/Huth 1974: 137). Der kybernetische Organismus wird dann von einem »immateriellen Netz elektronischer Systemautomatik« (ebd.: 137) durchzogen, das es ihm ermöglicht, auf jede Aktivität reagieren zu können. Die Menschen durchlaufen also eine Evolution, werden als »Fortpflanzungs- und Kopfwesen« Teil des Systems und leben im »Urschlamm« (Huth 2012: 176f.). Inwiefern Domenig und Huth eine geschlechtsneutrale Gesellschaft projizieren, bleibt offen. Eilfried Huth spricht aber vom Ende der Existenz der Menschheit und der damit verbundenen kulturellen Werte: »Die Ausformung innerhalb von Medium Total […] wird andere Wahrnehmungen erlauben und damit andere Bedeutung haben.« (Domenig/Huth 1974: 179) Eilfried Huth und Günther Domenig lösten 1975 ihre Zusammenarbeit auf, Huth wird später zu einem Pionier partizipativer Ansätze im österreichischen Wohnbau.

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Haus-Rucker-Co Im Gegensatz zu Domenig und Huth stellten sich Haus-Rucker-Co die Zukunft wesentlich naiver vor. Ihr Mindexpanding Program zeigte eine Möglichkeit, eine ›bessere‹ Zukunft zu erreichen: Der menschliche Körper nutzt verschiedene Komponenten wie Helme und Kapseln und gelangt so in die Metaebene des Übergangs. Haus-Rucker-Co realisierten mit einer Serie von Installationen ihre persönliche Interpretation einer ›psychedelischen Architektur‹, stark beeinflusst von Timothy Leary und seiner therapeutischen Erforschung des kontrollierten Konsums psychedelischer Drogen. »Zukunft ist für viele Leute furchterregend. Voll von grausamen Robotern, geheimnisvollen Strahlen und künstlichen Katastrophen. Zukunft wie wir sie sehen ist hellgelb. Wie Vanille-Eiscreme. Erfrischend, gut riechend, weich. VANILLE-ZUKUNFT.« (Haus-Rucker-Co/Porsch 1969/2009: 756) Der Künstler Klaus Pinter wurde speziell für die Gestaltung der bunten Sehmuster in das Kollektiv geholt: »Ich kannte mich mit 3D-Illusionismen aus, ohne mich einzurauchen.« (Pinter im Gespräch mit Stief [Matt 2011: 326]) Haus-Rucker-Co präsentierten 1968 zum ersten Mal das Gelbe Herz in der vier Stockwerke tiefen Baugrube des Polizeipräsidiums an der Wiener Ringstraße (vgl. Klotz 1984: 80-83). Die pneumatische Raumkapsel in Form einer Glühbirne kann als eine ›psychedelische Droge‹ betrachtet werden: Das Bewusstsein der Benutzer*innen wird anhand der Wirkung von Architektur erweitert und transformiert. Durch eine Luftschleuse gelangen zwei Personen auf eine durchsichtige Kunststoffliege. Die farbenfrohen Muster auf der transluzenten Membran der Kapsel erzeugen – gemeinsam mit dem repetitiven Ein- und Auslassen von Luft in die Installation – einen psychedelischen Effekt für die Benutzer*innen. Der Herzschlag der beiden Liebenden im Gelben Herzen wird mit dem ›Herzschlag‹ der Architektur synchronisiert – die Maschine versetzt die Liebenden in einen orgastischen Zustand. »Das Gelbe Herz gibt die Möglichkeit, die reale Umwelt für bestimmte Zeitabschnitte zu verlassen, einen Raum aufzusuchen, der einen starken Gegensatz zur natürlichen Umgebung darstellt. Die Zeit, die man im Gelben Herz verbringt, hat ihren eigenen Rhythmus, dem man sich anpassen muß. Die optischen und akustischen Eindrücke verhelfen den Benützern zu einer neuen Art der Entspannung. Die weiche pulsierende Bewegung des Appara-

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tes bewirkt eine allgemeine Auflockerung des Befindens. Gelöst und locker kehrt man in den Alltag zurück.« (Bogner/Haus-Rucker-Co 1992: 29) Die Installationen von Haus-Rucker-Co sind zumeist für zwei Personen programmiert. Das ist einerseits eine Besonderheit innerhalb der Projekte der österreichischen Architekturavantgarde, andererseits gibt dieses Charakteristikum Anlass für Kritik: Haus-Rucker-Co wollten Liebe protegieren (vgl. Haus-Rucker-Co/Porsch 1967/2009: 756), jedoch ausschließlich heterosexuelle Liebe. Die Projektbeschreibung des Mind Expander I von 1967 ist als Benutzungsanleitung für den männlichen Part formuliert. In dem Projekt geht es um ein Möbelstück als Zufluchtsort: »Der Sessel hat einen Schalensitz für 2 Personen, einen Mann und eine Frau […] Sie [als Mann] helfen dem Mädchen beim Einsteigen. Dann kommen Sie. Das Mädchen sitzt etwas höher und seine Beine liegen über Ihrem rechten Oberschenkel.« (Ebd.: 755) Der Dandyismus der Zeit wird hier klar spürbar. Laurids Ortner beschreibt ihre Projekte der 1960er Jahr aus heutiger Sicht aber als wirklich naiv. »Aber wenn Sie den Text jetzt vorlesen, versinke ich im Boden über diese Naivität. Haus-Rucker-Co, the love protector! Es war vollkommen aberwitzig. Aber die Texte, abgefasst wie ein Slogan für Waschmittel, transportierten genau das, worum es ging. Die Sprache der Werbung zu transferieren war noch relativ unbesetzt.« (Ortner im Gespräch mit Fessler [Matt 2011: 294])

Coop Himmelblau Wesentlich radikaler formulierten Coop Himmelblau ihre Ideen für eine individualisierte und befreite Architektur in ihrem Projekt Villa Rosa. An dem pneumatischen Prototyp arbeiteten sie zwischen 1966 und 1970. Die Installation teilt sich in drei Phasen und sollte sich verändern, »wie Wolken« (Coop Himmelblau/Porsch 1968/2009: 750). In der Villa Rosa durchschreiten die Benutzer*innen folgende Abläufe: »[1] Dem pulsierende Raum mit drehbaren Bett, Projektionen und Tonprogrammen. Mit der Zuluft werden dem wechselnden audiovisuellen Programm entsprechende Gerüche eingeblasen. [2] Dem pneumatisch dimensionierbaren Raum. Acht aufblasbare Ballons verändern die Raumgröße von minimalem bis maximalem Volumen. [3] Dem Raum im Koffer

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– mobiler Raum. Aus einem helmförmigen Koffer kann eine klimatisierte Hülle mit Bett aufgeblasen werden.« (Ebd.: 750)

Abb. 3: Coop Himmelblau, Villa Rosa mit Weißen Anzug, 1966- 70

© Felix Waske

Die Benutzer*innen tragen einen Weißen Anzug und werden durch technologisch produzierte, sensorische Einflüsse stimuliert und befreit. Der Anzug besteht aus einem weißen Helm, der mit einer pneumatischen Weste verbunden ist. Beide sind wiederum mit der Hauptstruktur verbunden und ermöglichen eine vollständige Transformation der eigenen Identität. Coop Himmelblau antizipiert hier eine ichbezogene Wohnform, wie sie Peter Sloterdijk 40 Jahre später in seinem letzten Buch der Trilogie Sphären mit dem Konzept des »Selbstcontainers« oder der »Egosphäre« beschreibt (Sloterdijk 2004: 568). Sloterdijk verwendet die Metapher des Schaums für die heutige, individualisierte Gesellschaft: In ihm lebt jeder Körper in einzelnen Sphären, die wiederum durch Medien miteinander verbunden sind. Das Apartment von Alleinlebenden, der Selbstcontainer, führt zur Selbstpaarung, der sogenann-

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ten Autoerotik. Das Apartment selbst wird zum Miniatur-Erototop (vgl. ebd.: 582ff.). Der Weiße Anzug repräsentiert eine solche Egosphäre und transformiert seine Benutzer*innen auf zwei sensorischen Ebenen: Exponiertheit und Lust. »Im Helm des ›Weißen Anzugs‹ gab es zwei Projektionen: einen pornografischen Film und eine Unfallsequenz. In Sekundenschnelle sah man einen Crash, während durch eine Zuleitung der Geruch von Operationsblut ›eingespielt‹ wurde; gleichzeitig drückte die Anzugweste auf die Nieren. Beim Pornofilm wurde einfach Parfum eingespielt, ›olfaktorische Erotik‹, und die Weste streichelte ›teilweise‹.« (Gössel 2010: 45) Die Arbeiten mit realen Körpern, Körperflüssigkeiten, anderen Substanzen und Objekten zeigen eine ästhetische und hoch technologisierte Sprache. Die junge Generation von Architekt*innen wollte bewusst durch realisierte Architektur kommunizieren und sozialpolitische oder umweltpolitische Themen darin verarbeiten. Anhand von Ausstellungen, Installationen und partizipativen Veranstaltungen im öffentlichen Raum sowie Beiträgen in Fernsehen und Presse versuchten die Österreicher*innen ihre Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen (vgl. Feuerstein 2017: 3).

Architektur als Experimentierfeld Die technischen Errungenschaften, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden, ermöglichten eine neue, bewusste Perspektive auf den menschlichen Körper. Den jungen Architekt*innen wurde anhand von neuen Technologien, Medien und Materialien ein einzigartiges Experimentierfeld eröffnet. Stabil gedachte Grenzen von Körper, Architektur und Technologie wurden aufgelöst und ermöglichten neue Grenzen sowie Identitäten zu definieren. Bedeutend war eine Reihe von biologischen, chemischen und physikalischen Entdeckungen, die neue Möglichkeiten und Repräsentationen für den menschlichen Körper lieferten. Plötzlich war es möglich, autark in den Weltraum zu reisen. Die Antibabypille erlaubte es, (Hetero-)Sexualität von Reproduktion zu trennen.

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Hans Hollein: Synthetische Substanzen als Architektur Hans Hollein entwickelte 1967 eine Serie von »Architekturpillen« für sein Nonphysical Environmental Control Kit, darunter beispielsweise die Pillen Einfamilienhaus in ländlicher Umgebung, Architektur oder non-physical environment. Im Jahr 1968 entwarf er für seinen Ausstellungsbeitrag auf der Triennale in Mailand (gemeinsam mit dem Unternehmen Svoboda und Peter Noever) eine Werbekampagne für Svobodair, ein fiktives Spray zur Umweltveränderung, genauer gesagt, um die Stimmung am Arbeitsplatz zu heben (vgl. Hollein/Noever 1968: o.S.). »no drive? SVOBODAIR boss in bad mood? SVOBODAIR down? SVOBODAIR no ideas? SVOBODAIR boring work? SVOBODAIR exhausted? SVOBODAIR troubles? SVOBODAIR feeling blue? SVOBODAIR Dow-Jones down? SVOBODAIR dingy office? SVOBODAIR irritated by chain smokers? well, shoot ›em down with SVOBODAIR« (ebd.) Für Hollein sollte Architektur in ihrer traditionellen Form zurücktreten und reine Infrastruktur werden. Sie sollte die Möglichkeit bieten, allen Anforderungen des individuellen Körpers zu entsprechen und eine personalisierte Sphäre zu schaffen. Fasziniert von den Errungenschaften der Raumfahrt, in dessen Kontext der Begriff Cyborg erstmals verwendet wurde, sah Hollein den Raumanzug als perfektioniertes Beispiel für Architektur. »Hier wird eine ›Behausung‹ geschaffen, die weitaus perfekter als jedes ›Gebäude‹ außerdem noch eine umfassende Kontrolle der Körperwärme, der Nahrungszufuhr und Fäkalverwertung, des Wohlbefindens und dergleichen in extremsten Umständen bietet, verbunden mit einem Maximum an Mobilität.« (Hollein 1967: o.S.)

Cyborgs und der Möglichkeitsraum Die weitreichende Faszination für Cyborgs als kybernetische Organismen und als potentielle Eröffner*innen des virtuellen Raums zeigt sich in vielen Überlegungen von Akteur*innen der Architekturavantgarde der 1960er und 1970er Jahre. Besonders interessant ist dabei, dass Cyborgs oft durch Frauen verkörpert wurden – so beispielsweise in den Entwürfen der Modekollektion Electric Skin von Haus-Rucker-Co aus dem Jahr 1969. Zu den farbenfrohen Kleidungsstücken aus PVC, dem innovativen Material der Zeit, wurden

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Brillen oder Teile der bereits beschriebenen Helme Flyhead, Viewatomizer und Drizzler getragen. Durch das Bekleiden mit der Electric Skin wurde die Haut der weiblichen Körper elektrisch, also mit neuer Energie aufgeladen: Technologie (die Bekleidung) und Organismus (die menschliche Haut) trafen im Zwischenraum aufeinander und verwandelten diesen in einen kybernetischen Raum. Laut Rosi Braidotti sehen wir hier ein Beispiel für ›die Cyborg‹ als verbindende Einheit: »connection-making entity, it is a figure of interrelationality, receptivity, and global communication that deliberately blurs categorical distinctions (human/machine; nature/culture; male/female; oedipal/nonoedipal).« (Braidotti 1994: 105) Wie kam es dazu, dass gerade der weibliche Körper das Neue, Andere und (bald) Mögliche repräsentierte? Und wie wurde dies von Feminist*innen rezipiert? Einen optionalen theoretischen Unterbau für die weibliche Verkörperung der Cyborgs in den Entwürfen findet man ein Jahrzehnt später bei Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (1980). In ihrem antihierarchischen, rhizomatischen Denken stellen Deleuze und Guattari das Konzept des »Frau-Werdens« (»devenir-femme« oder »becoming-woman«) an den Anfang jedes Werdens (Deleuze/Guattari 1997: 396). Das Multiple, Interaktive oder Fluide (Frau-Werden) stellen sie dem Festen oder Repräsentativen (Mann-Sein) gegenüber. Nach Deleuze hat der erwachsene Mann kein Werden, aber er kann Frau werden, wenn er sich an minoritären Prozessen beteiligt (vgl. Deleuze/Parnet 1996). Das Konzept des Frau-Werdens wurde von vielen Theoretiker*innen kritisiert, so auch von Rosi Braidotti im fünften Kapitel ihres Buches Nomadic Subjects. Embodiment und Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory (1994). Braidotti fasst nochmals zusammen, dass die Frau als das ›Andere‹ dem Mann als der Norm, der Regel und dem Logos gegenübergestellt wird. Alle Linien der Deterritorialisierung gehen durch die Phase des Frau-Werdens, welches der Schlüssel, die Voraussetzung und der Startpunkt aller Prozesse des Werdens ist (vgl. Braidotti 1994: 114). Dabei kritisiert Braidotti: »[I]t is as if all becomings were equal, but some were more equal than others.« (Ebd.: 115) Braidotti ist nicht überzeugt von Deleuzes und Guattaris Forderung nach Auflösung geschlechtlicher Identitäten durch Neutralisierung von Geschlechterdichotomien. Wie soll jemand eine Subjektivität dekonstruieren, die er*sie nie kontrolliert hat? Sexuelle Differenz kann nicht als eine Differenz unter vielen, sondern muss als die grundlegende, fundamentale strukturelle Diffe-

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renz in unserer Gesellschaft betrachtet werden, die nicht so leicht aufgelöst werden kann. Jede*r zeichnet seine eigene Karte vom persönlichen Ausgangspunkt (vgl. ebd.: 116ff.).

Donna Haraway: die Cyborg als Instrument Produktiver und konkreter beschreibt die Naturwissenschaftshistorikerin und Frauenforscherin Donna Haraway in ihrem Aufsatz Ein Manifest für Cyborgs (1985) die Cyborg als ein Instrument des Auflösens und NeuZusammensetzens. Die Cyborg ist für Haraway ein neu definiertes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst (vgl. Haraway 1995: 8). Haraway definiert unsere technologisch vermittelte Gesellschaft als Post-Gender-Welt der Cyborgs. Unsere Körper und Identitäten bestehen aus Codes und jede Person könne demnach zerlegt und neu zusammengesetzt werden. Keine »natürlichen Architekturen« beschränken dabei die Gestaltung (ebd.: 7). »Die Biopolitik Foucaults ist nur eine schwache Vorahnung des viel weiteren Feldes der Cyborg-Politik. Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs. Cyborgs sind unsere Ontologie. Sie definieren unsere Politik.« (Ebd.: 2) Donna Haraway ersinnt keine Maschine, keine Technologie zur Verwandlung dieses neuen Selbst. Für sie sind es die Feminist*innen selbst, die sich die Werkzeuge aneignen und kodieren sollen. So können sie das gegenwärtige Selbst überschreiten und eine neue Identität schaffen. Haraway beschreibt die Cyborg als einen komplexen Organismus, der auf Kodierungsstrategien beruht, und wirft die Frage auf: »Warum sollten unsere Körper an unserer Haut enden oder bestenfalls andere von Haut umschlossene Entitäten umfassen?« (Ebd.: 14) Paul B. Preciado führt die Argumentation weiter, wenn er sagt, dass die Cyborg einen neuen techno-organischen Zustand, eine Art »weiche Maschine« (vgl. Preciado 2013: 31) beschreibt. Er unterstreicht, dass die Cyborg nicht als ›harte Mensch-Maschine‹ verstanden werden muss, sondern aufgrund unseres biologischen, chemischen und physikalischen Wissens wesentlich abstrakter betrachtet werden soll. Für ihn wird sie in den Entwürfen für die Electric Skin von Haus-Rucker-Co repräsentiert.

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»This is the age of soft, featherweight, viscous gelatinous technologies that can be injected, inhaled – ›incorporated.‹ […] The cyborg named a new techno-organic condition, a sort of ›soft machine‹ …or a body with ›electric skin‹ (to put it in Haus- Rucker & Co. terms).« (Ebd.: 77 und 31)

Conclusio Abschließend stellt sich die Frage, wie genau die Wirksamkeit der Entwürfe und Projekte der österreichischen Architekturavantgarde hinsichtlich der Dekonstruktion von traditionellen Geschlechterverhältnissen verstanden werden kann. Zunächst soll hervorgehoben werden, dass die Projekte der Architekt*innen die Möglichkeit bieten, zeitgenössische posthumane und Postgender-Theorien in physischer Realität zu diskutieren, zu kritisieren und weiterzudenken. Die Konkretisierung von Eins-zu-eins-Installationen bildet Angriffsfläche und reale Grundlage. Eine gesellschaftliche Kritik ist in allen Projekten klar zu erkennen. Tatsächlich zeigten die österreichischen Avantgardist*innen ein breites Spektrum von ersten posthumanen Körpern in architektonischen Konzepten. Diese sprechen natürlich die formale, materielle und konzeptionelle Sprache ihrer Zeit und würden/werden heute ästhetisch und theoretisch anders produziert und gedacht. Wie zu Anfang erwähnt, fordert Paul B. Preciado die Architekt*innen auf, sich ihrer Mutation bewusst zu werden und Aktivist*innen zu werden. Für die österreichischen Avantgardist*innen war Architektur ganz klar ein Medium, um Visionen und Alternativen zu zeigen. An der Vielschichtigkeit der Projekte erkennt man, dass Architektur sowohl physisches und reales als auch rein konzeptionelles und hoch theoretisches Medium sein konnte. Die Architekt*innen nahmen zukünftige Bedingungen und Zustände vorweg und strebten neue Umgebungen in ihren Architekturen an. Der menschliche Körper verbunden mit Technologie wird zum Ausgangspunkt noch nicht vorhandener Möglichkeiten und damit auch von noch nicht denkbaren Geschlechtermodellen. Die Grenzen des eigenen Körpers und der eigenen Identität werden verschoben und können so übertreten werden. Die Avantgardist*innen bewiesen die Relevanz von Architekturexperimenten in Form von temporären, mobilen und vernetzten Eins-zu-einsLaboratorien. So starteten sie die Produktion einer befreiten, individualisierten und globalisierten Identität. Dass genau diese Identität auch heute noch wünschenswert ist, soll an dieser Stelle nicht behauptet werden. Statt-

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dessen sollte die Manier des Experimentierens, Realisierens, Laborisierens und Prototypisierens der österreichischen Architekturavantgarde durchaus ernsthaft betrachtet und von Architekt*innen heute aufgegriffen werden. Denn Architektur eröffnet die Möglichkeit, Theorie und Vision zu realisieren. Sie soll nicht nur Bedürfnissen und Anforderungen entsprechen, sondern zu Inspiration, Andersdenken und Akzeptanz führen. In Form von temporären und mobilen Installationen kann Architektur zum Laboratorium für die Transformation von Geschlechterverhältnisse werden. Sie könnte notwendige Debatten um Körperlichkeiten und Geschlechternormen in eine breite Gesellschaftsschicht vermitteln und diese überhaupt erst in Gang setzen. Und sie kann damit Expert*innen verschiedener Disziplinen dazu anregen, sich zu überlegen, wie in der realen und gebauten Umgebung konkret Geschlecht und Geschlechterverhältnisse de- und rekonstruiert werden könnten.

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Information zu den Autor*innen

Alle Autor*innen in diesem Sammelband sind Mitglieder oder Alumnae des Doktoratskollegs Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation: Räume – Relationen – Repräsentationen der Universität Innsbruck. Das Kolleg ist an die Forschungsplattform Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck angebunden und widmet sich der Untersuchung der Transformation von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen in ihren historischen, räumlichen und wechselseitigen Beziehungen, Bedingungen und Wirkungen.   Sandra Altenberger ist Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC) am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind postkolonial-feministische Theorie(n), Rassismuskritik, kritische Geschlechterforschung und Intersektionalität. Alexa Baumgartner forscht und lehrt am Institut für Architekturtheorie der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Körper und Architektur, Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre sowie posthumane und Postgender-Theorien. Flavia Guerrini ist Assistenz-Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft und dem Center für interdisziplinäre Geschlechterforschung (CGI) der Universität Innsbruck. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der kritischen Geschlechter- und Sozialforschung, in der Geschichte von Social Care sowie bei qualitativen und diskursanalytischen Forschungszugängen.

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Geschlecht und Geschlechterverhältnisse bewegen

Sonja Köhler ist Dissertantin an der bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck und arbeitet zum Thema »Jüdisch-religiöser Feminismus in Israel«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Intersektionalität und der transkulturellen feministischen Solidarität. Eliah Lüthi promoviert mit Schwerpunkt auf Mad Studies und einer Dissertation zu Psych-Zusammenhängen, Psychiatriekritik und Widerständen im Bereich Disability Studies und Inklusive Bildung an der bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck. Katharina Lux forscht zur Geschichte der Frauenbewegungen und feministischer Theorie. Sie hat Philosophie und Geschichte studiert und ist Universitätsassistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Seit 2009 arbeitet sie mit der Redaktion der Zeitschrift »outside the box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik« zusammen. Verena Sperk ist Germanistin und Linguistin. Sie ist Universitätsassistentin im Bereich kritische Geschlechterforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck und promoviert zu Komik als Möglichkeit der feministischen Intervention. Andrea Urthaler ist Zeithistorikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der zeithistorischen Frauen- und Geschlechterforschung, in der Sozialen Bewegungsforschung – insbesondere Frauenbewegung(en) in der Regionalgeschichte – Raum Südtirol und in Transnationalen Perspektiven der Geschichtswissenschaft. Tanja Vogler ist Psychologin und schreibt ihre Dissertation am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Sie promoviert zu queeren Bewegungen aus einer diskursanalytischen und subjektwissenschaftlichen Perspektive.

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2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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