Geschichtsglauben: Studien zum Spannungsfeld von Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft und Religion 351513185X, 9783515131858

Geschichte entsteht, wenn Menschen vielgestaltige Spuren der Vergangenheit als bedeutungstragenden, sinnvollen Zusammenh

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German Pages 106 [110] Year 2022

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Table of contents :
EDITORIAL
INHALT
GESCHICHTSGLAUBEN – ZUR EINFÜHRUNG (Christoph Dartmann, Hamburg)
GESCHICHTSWISSENSCHAFT, GLAUBE UND NATIONALGESCHICHTSSCHREIBUNG UM 1900 (Angelika Schaser, Hamburg)
POLITIK UND WISSENSCHAFT WÄHREND DER ETABLIERUNG EINER UNIVERSITÄREN MITTELALTERHISTORIE: JULIUS VON FICKER (Christoph Dartmann, Hamburg)
INSCHRIFTEN IN OLYMPIA ALS BEISPIEL DER (RE)KONSTRUKTION VON GESCHICHTE IN DER GRIECHISCHEN POLIS (Kaja Harter-Uibopuu, Hamburg)
DIE SIEDLER VON OPHIR. GESCHICHTSMYTHEN UND LEGITIMATIONSIDEOLOGIEN IN RHODESIEN (SIMBABWE) (Christoph Marx, Duisburg/Essen)
GESCHICHTSGLAUBEN. EIN KOMMENTAR (Achim Landwehr, Düsseldorf)
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Geschichtsglauben: Studien zum Spannungsfeld von Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft und Religion
 351513185X, 9783515131858

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Geschichtsglauben Studien zum Spannungsfeld von Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft und Religion Herausgegeben von Christoph Dartmann und Kaja Harter-Uibopuu

Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Band 19

Franz Steiner Verlag

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Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Alessandro Bausi (Äthiopistik), Christof Berns (Archäologie), Christian Brockmann (Klassische Philologie), Christoph Dartmann (Mittelalterliche Geschichte), Philippe Depreux (Mittelalterliche Geschichte), Helmut Halfmann (Alte Geschichte), Kaja Harter-Uibopuu (Alte Geschichte), Stefan Heidemann (Islamwissenschaft), Ulla Kypta (Mittelalterliche Geschichte), Ulrich Moennig (Byzantinistik und Neugriechische Philologie), Barbara Müller (Kirchengeschichte), Sabine Panzram (Alte Geschichte), Werner Riess (Alte Geschichte), Jürgen Sarnowsky (Mittelalterliche Geschichte), Claudia Schindler (Klassische Philologie), Martina Seifert (Klassische Archäologie), Giuseppe Veltri ( Jüdische Philosophie und Religion) Aus dem Herausgebergremium verantwortlich für diesen Band: Christoph Dartmann und Kaja Harter-Uibopuu Band 19

Geschichtsglauben Studien zum Spannungsfeld von Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft und Religion Herausgegeben von Christoph Dartmann und Kaja Harter-Uibopuu

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Lahusen’s Jod-Eisen-Lebertran „Jodella“, Sammelbild: Friedrich I., Barbarossa. Ernennung zum deutschen König zu Frankfurt a. M., 1152. Privatbesitz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13185-8 (Print) ISBN 978-3-515-13186-5 (E-Book)

EDITORIAL In der Reihe Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne haben sich geisteswissenschaftliche Fächer, die u. a. die vormodernen Gesellschaften erforschen (Äthiopistik, Alte Geschichte, Byzantinistik, Islamwissenschaft, Judaistik, Theologie- und Kirchengeschichte, Klassische Archäologie, Klassische und Neulateinische Philologie, Mittelalterliche Geschichte) in ihrer gesamten Breite zu einer gemeinsamen Publikationsplattform zusammengeschlossen. Chronologisch wird die Zeit von der griechisch-römischen Antike bis unmittelbar vor der Reformation abgedeckt. Thematisch hebt die Reihe zwei Postulate hervor: Zum einen betonen wir die Kontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter bzw. beginnender Früher Neuzeit, und zwar vom Atlantik bis zum Hindukusch, die wir gemeinsam als „Vormoderne“ verstehen, zum anderen verfolgen wir einen dezidiert kulturgeschichtlichen Ansatz mit dem Rahmenthema „Sinnstiftende Elemente der Vormoderne“, das als Klammer zwischen den Disziplinen dienen soll. Es geht im weitesten Sinne um die Eruierung sinnstiftender Konstituenten in den von unseren Fächern behandelten Kulturen. Während Kontinuitäten für die Übergangszeit von der Spätantike ins Frühmittelalter und dann wieder vom ausgehenden Mittelalter in die Frühe Neuzeit als zumindest für das lateinische Europa relativ gut erforscht gelten können, soll eingehender der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Kulturen des Mittelalters im Allgemeinen auf die antiken Kulturen rekurrierten, sie fortgesetzt und weiterentwickelt haben. Diesen großen Bogen zu schließen, soll die neue Hamburger Reihe helfen. Es ist lohnenswert, diese längeren Linien nachzuzeichnen, gerade auch in größeren Räumen. Vielfältige Kohärenzen werden in einer geographisch weit verstandenen mediterranen Koine sichtbar werden, wobei sich die Perspektive vom Mittelmeerraum bis nach Zentralasien erstreckt, ein Raum, der für die prägende hellenistische Kultur durch Alexander den Großen erschlossen wurde; auch der Norden Europas steht wirtschaftlich und kulturell in Verbindung mit dem Mittelmeerraum und Zentralasien – sowohl aufgrund der Expansion der lateinischen Christenheit als auch über die Handelswege entlang des Dnepr und der Wolga. Der gemeinsame Impetus der zur Reihe beitragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besteht darin aufzuzeigen, dass soziale Praktiken, Texte aller Art und Artefakte/Bauwerke der Vormoderne im jeweiligen zeithistorischen und kulturellen Kontext ganz spezifische sinn- und identitätsstiftende Funktionen erfüllten. Die Gemeinsamkeiten und Alteritäten von Phänomenen – die unten Erwähnten stehen lediglich exempli gratia – zwischen Vormoderne und Moderne unter dieser Fragestellung herauszuarbeiten, stellt das Profil der Hamburger Reihe dar. Sinnstiftende Elemente von Strategien der Rechtsfindung und Rechtsprechung als Bestandteil der Verwaltung von Großreichen und des Entstehens von Staatlichkeit, gerade auch in Parallelität mit Strukturen in weiterhin kleinräumigen

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Editorial

Gemeinschaften, werden genauso untersucht wie Gewaltausübung, die Perzeption und Repräsentation von Gewalt, Krieg und Konfliktlösungsmechanismen. Bei der Genese von Staatlichkeit spielen die Strukturierung und Archivierung von Wissen eine besondere Rolle, bedingt durch ganz bestimmte Weltvorstellungen, die sich z. T. auch in der Kartographie konkret niederschlugen. Das Entstehen von Staatlichkeit ist selbstverständlich nicht nur als politischer Prozess zu verstehen, sondern als Gliederung des geistigen Kosmos zu bestimmten Epochen durch spezifische philosophische Ansätze, religiöse Bewegungen sowie Staats- und Gesellschaftstheorien. Diese Prozesse der longue durée beruhen auf einer Vielzahl symbolischer Kommunikation, die sich in unterschiedlichen Kulturen der Schriftlichkeit, der Kommunikation und des Verkehrs niedergeschlagen hat. Zentrum der Schriftlichkeit sind natürlich Texte verschiedenster Provenienz und Gattungen, deren Gehalt sich nicht nur auf der Inhaltsebene erschließen lässt, sondern deren Interpretation unter Berücksichtigung der spezifischen kulturellen und epochalen Prägung auch die rhetorische Diktion, die Topik, Motive und auktoriale Intentionen, wie die aemulatio, in Anschlag bringen muss. Damit wird die semantische Tiefendimension zeitlich weit entfernter Texte in ihrem auch symbolischen Gehalt erschlossen. Auch die für uns teilweise noch fremdartigen Wirtschaftssysteme der Vormoderne harren einer umfassenden Analyse. Sinnstiftende Elemente finden sich auch und v. a. in Bauwerken, Artefakten, Grabmonumenten und Strukturen der jeweiligen Urbanistik, die jeweils einen ganz bestimmten Sitz im Leben erfüllten. Techniken der Selbstdarstellung dienten dem Wettbewerb mit Nachbarn und anderen Städten. Glaubenssysteme und Kultpraktiken inklusive der „Magie“ sind gerade in ihrem Verhältnis zur Entstehung und Ausbreitung des Christentums, der islamischen Kultur und der Theologie dieser jeweiligen Religionen in ihrem Bedeutungsgehalt weiter zu erschließen. Eng verbunden mit der Religiosität sind Kulturen der Ritualisierung, der Performanz und des Theaters, Phänomenen, die viele soziale Praktiken auch jenseits der Kultausübung erklären helfen können. Und im intimsten Bereich der Menschen, der Sexualität, den Gender-Strukturen und dem Familienleben gilt es ebenfalls, sinn- und identitätsstiftenden Elementen nachzuspüren. Medizinische Methoden im Wandel der Zeiten sowie die Geschichte der Kindheit und Jugend sind weitere Themengebiete, deren Bedeutungsgehalt weiter erschlossen werden muss. Gemeinsamer Nenner bleibt das Herausarbeiten von symbolträchtigen Elementen und Strukturen der Sinnhaftigkeit in den zu untersuchenden Kulturen gerade im kulturhistorischen Vergleich zu heute. Die Herausgeber

INHALT Christoph Dartmann Geschichtsglauben – Zur Einführung ...................................................................... 9 Angelika Schaser Geschichtswissenschaft, Glaube und Nationalgeschichtsschreibung um 1900 ................................................................................................................. 25 Christoph Dartmann Politik und Wissenschaft während der Etablierung einer universitären Mittelalterhistorie: Julius von Ficker ..................................................................... 43 Kaja Harter-Uibopuu Inschriften in Olympia als Beispiel der (Re)Konstruktion von Geschichte in der griechischen Polis ........................................................................................ 61 Christoph Marx Die Siedler von Ophir. Geschichtsmythen und Legitimationsideologien in Rhodesien (Simbabwe) ...................................................................................... 75 Achim Landwehr Geschichtsglauben. Ein Kommentar...................................................................... 97

GESCHICHTSGLAUBEN – ZUR EINFÜHRUNG Christoph Dartmann, Hamburg

Glaubt man der Berichterstattung in Fernsehen und Radio, ereignet sich beinahe an jedem Wochenende historisch Bedeutsames. Kaum ein Spieltag der deutschen Fußball-Bundesliga der Herren findet statt, ohne dass ein Kommentator oder eine Kommentatorin auf historisch Einmaliges oder Erstmaliges hingewiesen hätte: besonders schnelle Tore, besonders hohe Siege, besonders spektakuläre Spielverläufe etc. Am 17. September 2016 war zum Beispiel mit Niklas Süle ein damals 21-jähriger Defensivspieler der TSG 1899 Hoffenheim im Aktuellen Sportstudio des ZDF zu Gast. Seine herausragenden Qualitäten brachte die Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein auf den historischen Begriff: Süle sei der jüngste Spieler, der in der Bundesligageschichte der TSG Hoffenheim eingesetzt worden sei und ein Tor erzielt habe. Zugleich sei er der erste Spieler, der es aus der Nachwuchsschule dieses Vereins in die Nationalmannschaft gebracht habe. Dieses Beispiel verrät einiges über ein gängiges vorwissenschaftliches Bild davon, was Geschichte ausmacht: Geschichte hat mit Zahlen und Fakten zu tun – ein großer Teil der Ereignisse, die als Teil der Fußballgeschichte präsentiert werden, beruht auf quantifizierbaren, numerisch darstellbaren und daher leicht evaluierbaren Sachverhalten. Daneben hat Geschichte etwas Bedeutsames an sich – sie verleiht bestimmten Personen oder Konstellationen das Odeur des über den Moment hinaus Geltung Besitzenden. Denn an sich ist Fußball ja ein in hohem Maße repetitives Geschehen mit sehr einfachen Grundregeln: Der Ball ist rund, das Spiel dauert neunzig Minuten, der nächste Gegner ist immer der schwerste, und entscheidend ist, was auf dem Platz passiert. Um dieser ewigen Wiederkehr des Gleichen zu entkommen, evoziert die Berichterstattung den historisch bedeutsamen Moment. Dass diese Rhetorik etwas hohl zu werden droht, liegt auf der Hand – im Fall der TSG 1899 Hoffenheim beansprucht der Vereinsname zwar eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen soll; ihre Bundesligageschichte begann aber erst im Jahr 2008, handelt es sich doch um die kürzlich erst aus MarketingGründen gestylte Erfindung einer Tradition, um einem neu etablierten Club ein historisches Image zu verschaffen. Insofern sind die Verweise der Moderatorin auf die historischen Erfolge ihres Gesprächspartners Komplimente, deren Ironie zumindest manchen Beobachter*innen aufgefallen sein dürfte. Der Glaube an die Geschichte lebt offenbar. Es wäre ein Leichtes, an zahllose andere Gelegenheiten zu erinnern, zu denen Geschichte und Traditionen evoziert werden – sei es als Resonanzraum für Argumente und Meinungen, sei es auch nur als Produktdesign oder Markenimage. Letzteres reicht von der Biedermei-

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Christoph Dartmann

er-Musterung in der Schublade aktueller IKEA-Kommoden bis zur Neuauflage des Allianz-Werbespots aus den 1970er Jahren. Unter dem Stichwort ‚Geschichtsglauben‘ soll aber an dieser Stelle nicht die gesamte Breite geschichtskultureller Praktiken und Wahrnehmungen zum Thema gemacht werden. Vielmehr steht die Frage nach dem Spannungsfeld von Geschichtsglauben und Geschichtswissenschaft im Fokus unseres Interesses. Allerdings ist dieses Spannungsfeld nur vor dem Hintergrund zu erfassen, dass auch jenseits der wissenschaftlichen Diskurse die Überzeugung, der Glaube lebt, dass Geschichte bedeutsam ist. Das Rahmenthema des Hamburger Historikertags von 2016 „Glaubensfragen“ war bewusst ambivalent formuliert. Einerseits adressierte es die Frage nach der Bedeutung von Religion für Kulturen und Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart. Nachdem das Selbstverständnis der Moderne über Jahrzehnte von der unreflektierten Erwartung einer zunehmenden Säkularisierung von Kultur und Gesellschaft gespeist war, zählt die „Rückkehr des Religiösen“ seit einigen Jahren zu den zentralen Theoremen der Gegenwartsanalyse in den „multiple modernities“.1 Damit ist allerdings weniger ein wachsendes Wiederaufgreifen traditioneller und institutioneller religiöser Praktiken gemeint als der zunehmende Rückgriff auf Religion als Deutungsmodell für menschliches Agieren. Es überrascht nicht, dass diese Wiederentdeckung religiöser Motivierungen und Sinnstiftungen in den öffentlichen Debatten der Gegenwart auch in der Geschichtswissenschaft aufgegriffen worden ist und zu einer neuen Sensibilität für vergangene Religiositäten und für die Interferenzen zwischen Religion und Politik, aber auch Kultur, Recht und Ökonomie geführt hat. Nicht zuletzt die Relevanz religiöser Diversität wird für die Gegenwart wie die Vergangenheit intensiv debattiert.2 Neben der Bedeutung religiöser Themen in der Geschichtswissenschaft adressierte der Titel des Historikertags andererseits aber auch das nie restlos aufzulösende Spannungsfeld von methodisch kontrolliert erworbenem Wissen und nicht voll rationalisierbaren Überzeugungen. Jenseits des fragwürdigen Diktums „glauben heißt nicht wissen“3 gingen die Organisatoren des Treffens davon aus, dass „das unhinterfragte und ungeprüfte Für-Wahr-Halten („Glauben“) bestimmter Standpunkte ein grundlegendes Moment menschlicher Weltdeutung in allen Lebensbereichen ist.“4 In der öffentlichen Debatte ist das zuletzt dort zur Sprache gekommen, wo der Erfolg nachweisbarer Falschmeldungen, der berüchtigten Fake News, damit begründet wird, dass Menschen dazu neigen, den Informatio1 2

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POLLACK, Rückkehr; zentral dazu GRAF, Wiederkehr. Der Begriff der „multiple modernities“ nach Eisenstadts Begriffsbildung: vgl. DERS., Vielfalt. Einen vor allem auf die Neuzeit bezogenen Forschungsüberblick bietet GROßE KRACHT, Religionsgeschichte. Die stark intensivierte Forschung zur Konstruktion religiöser Identitäten, zum Umgang mit Diversität ist aktuell kaum zu überblicken. Eine bahnbrechende Forschungsinitiative der deutschen Mediävistik dokumentiert: BORGOLTE – DÜCKER – MÜLLERBURG – SCHNEIDMÜLLER (Hgg.), Integration. WEITLING, Evangelium, S. 6. Glaubensfragen. 51. Deutscher Historikertag [Universität Hamburg, 20.–23. September 2016], online abrufbar unter: https://www.historikertag.de/Hamburg2016/leitthema/index.html [22.06.2018].

Geschichtsglauben – Zur Einführung

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nen zu vertrauen, die die eigenen Überzeugungen bestätigen beziehungsweise den Rahmen eigener Identitätsentwürfe und Zugehörigkeitsgefühle stabilisieren.5 Grundsätzlicher heben neurobiologische Überlegungen darauf ab, wie stark unbewusste Impulse und Gefühle das menschliche Denken steuern.6 Gelegentlich ist auch in der Geschichtswissenschaft der Versuch unternommen worden, diese Überlegungen zur Grundlage einer neuen Methodik beziehungsweise „Memorik“ zu machen.7 Unabhängig davon, wie überzeugend solche Versuche ausfallen, markieren sie jedenfalls die Herausforderung, vor die die Reflexion über das Vorrationale die Geschichtswissenschaft stellt. Auch jenseits der Religion hat sie es mit „Glaubensfragen“ zu tun, was ihre Praktiker selbst für wahr, gut, angenehm oder erschreckend halten – und vor allem, was vorreflexiv als selbstverständlich Gegebenes vorausgesetzt wird. Diese Einladung „zu einer Selbstreflexion über die Grundlagen des Faches“8 gewinnt dann besondere Schärfe, wenn es um den Glauben an die Bedeutung von Geschichte für das menschliche Leben geht. Die in diesem Band dokumentierte Sektion ‚Geschichtsglauben‘ hat den Versuch unternommen, sich dieser Herausforderung zu stellen, um zu einem Nachdenken einzuladen, auf welchen Überzeugungen geschichtswissenschaftliche Praxis beruht. Dabei kann es nicht nur um das Aufzeigen vorreflexiver Einflüsse auf die historiographische Arbeit gehen. Vielmehr steht auch zur Debatte, welche Bedeutung Geschichte eigentlich für moderne Gesellschaften besitzt, die sich über lange Zeit vor allem durch ökonomisches Wachstum und optimistische Zukunftsperspektiven definiert haben. Zeugnis der Infragestellung der Bedeutung von Geschichte ist der bis heute andauernde Druck, unter dem staatlich finanzierte Einrichtungen stehen, die Geschichte erforschen oder vermitteln und die sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie seien letztlich unproduktiv und damit gesellschaftlich irrelevant. Die jenseits des Milieus professioneller Historiker*innen zu beobachtende Begeisterung für Geschichte kann diesen Druck kaum mildern, schlimmer noch: Gerade wenn Lai*innen so umfangreich in Archiven recherchieren und über Vergangenes schreiben, könnte der Eindruck entstehen, Geschichte sei ein interessantes Steckenpferd zum Zeitvertreib, mit dem sich jede*r beschäftigen könne, die/der eben keine anderen, wichtigeren Aufgaben zu erledigen habe. Dass Geschichte irgendwie wichtig ist, scheint trotzdem nicht grundsätzlich infrage zu stehen. Schließlich dient sie zumindest als Anlass für mehr oder minder gelungene öffentliche Ereignisse, die bei der Gelegenheit von Jubiläen veranstaltet werden.9 Ob zum Beispiel die Reformationsdekade und das Jubiläumsjahr 2017, die die Evangelische Kirche anlässlich des 500sten Jahrestags des Thesen5 6 7 8 9

BAVEL – PEREIRA, Brain, S. 213–224. ROTH, Fühlen. FRIED, Schleier. Glaubensfragen. Zu Jubiläen und der Magie ‚runder‘ Jahreszahlen vgl. RÜSEN, Zeit, S. 325–335; MÜLLER – FLÜGEL – LOOSEN – ROSSEAUX (Hgg.), Jubiläum; vgl. auch MITTERAUER, Anniversarium, S. 23–89.

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anschlags Martin Luthers ausgerufen hat, wirklich erfolgreich waren, wird sich kaum je bestimmen lassen.10 Aber dieser Anlass erschien den Beteiligten geeignet, die Bedeutung der Reformation für die Geschichte – ob Deutschlands oder der Welt, sei dahingestellt – in Erinnerung zu rufen. Und das Reformationsjubiläum ist nur das letzte prägnante von zahllosen Beispielen, wie solche runden Jahrestage für öffentliche Festivitäten einer Stadt, einer Firma, eines Vereins oder ähnliches genutzt werden. Den emotionalen Wert von Alter und Tradition belegen auch die Firmen, die ihre Produkte mit einem älteren Gründungsjahr zu bewerben versuchen unabhängig davon, seit wann dieses Label tatsächlich auf dem Markt ist.11 Das englische Kürzel für diese Marketingstrategie, auf eine vermeintliche Gründung zu verweisen, wird mittlerweile auch jenseits der angelsächsischen Welt breit übernommen.12 Das Alter einer Marke soll ihr so die Aura von Tradition und möglicherweise besonderer Qualität verleihen, um die Konsumierenden einzuladen, „Teil einer Geschichte“ zu werden.13 Die Grenze von einer Marketingstrategie zu politischer Agitation wird dort überschritten, wo die sogenannten „Identitären“, ein verfassungsfeindlicher, xenophober Verein mit antidemokratischer Zielsetzung, ein Shirt verkaufen, auf dem „Europa nostra, est. 732“ zu lesen ist.14 Hier wird der Anspruch, die eigentlichen „Eigentümer“ Europas oder Bewahrer vermeintlicher europäischer Traditionen zu sein, verknüpft mit der Evokation der Schlacht von Tours und Poitiers. Zunächst steht dieses Shirt in einer Reihe mit vielfältigen Versuchen, Geschichte zu einer eindimensionalen Tradition einer kontinuierlichen Konfrontation zwischen europäischen Christ*innen und nichteuropäischen Muslim*innen umzudeuten. Mit dieser bewussten Falschdarstellung historischer Abläufe belegt das Shirt aber zugleich, wie beliebig sich öffentliche Kommunikation über die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft hinwegsetzt – in diesem Fall über das Wissen darüber, dass die Schlacht des Jahres 732 keineswegs eine grundsätzliche Entscheidung über die Grenzen der Expansion des arabischen Großreichs der Umayyaden anstrebte oder herbeiführte, sondern aus sich überkreuzenden Allianzen und Feindschaften zwischen mehreren christlichen und muslimischen Akteuren auf der Iberischen Halbinsel und im Frankenreich resultierte.15 Mit dem Beispiel des 10 Den Versuch einer Bilanz unternehmen die Beiträge in: KÄßMANN (Hg.), Welt; Claussen– RHEIN (Hgg.), Reformation. 11 So verweist das Modelabel Hollister, dessen erstes Ladenlokal im Jahr 2000 eröffnet worden ist, auf eine fiktive Gründungsgeschichte im Jahr 1922, die als „est. 1922“ auf zahlreichen Produkten evoziert wird. Vgl. BBC NEWS, Hollister branding 'fictitious', online abrufbar unter: http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/8340453.stm [22.06.2018]. 12 Ein Beispiel stellt der Fanschal est. 1904 FC Schalke 04 dar. Vgl. https://www.amazon.de/Schal-Fanschal-FC-Schalke-04/dp/B0135CMAZW [22.06.2018]. 13 So zum Beispiel der Aufruf, sich an einer Marketing-Aktion der Shopping-Arkaden am Potsdamer Platz mit einem getwitterten Selfie zu beteiligen. Vgl. https://potsdamerplatz.de/mythos-potsdamer-platz/ [04.07.2018]; https://ansaetze.wordpress.com/2016/10/02/werde-teil-der-geschichte/ [04.07.2018]. 14 https://phalanx-europa.com/de/herrenshirts/236-europa-nostra.html [19.07.2018]. 15 BORGOLTE, Christen, S. 258–260.

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Merchandise-Produkts eines antidemokratischen politischen Vereins ist ein weiterer zentraler Aspekt angesprochen, der die Bedeutung von Geschichte auch noch in der Gegenwart belegt: Die Auseinandersetzung um politische Grundorientierungen wird unter anderem als Auseinandersetzung um die Deutung von Geschichte geführt. Das Potenzial von Bemühungen, Geschichte neu und im Widerstreit zu fachwissenschaftlichen Diskussionsstandards zu deuten, nutzen im Moment Akteur*innen im rechtsradikalen Spektrum, die nicht davor zurückscheuen, auch rechtsextreme Motive wie die Relativierung der Schoah oder den Stolz auf die militärischen Leistungen der Deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs aufzugreifen.16 Hier wird die Umdeutung von Geschichte, das Aufbrechen eines geschichtskulturellen Konsenses gezielt eingesetzt, um politische Weltbilder öffentlichkeitswirksam zu platzieren und Menschen unterschiedlicher politischer Traditionen in eine nationalistische, antidemokratische Bewegung zu integrieren. Die Geschichtswissenschaft steht vor der Herausforderung, sich zu entscheiden, wie sie sich zu dieser neuen Wucht von öffentlicher Geschichtspolitik verhalten soll, auch wenn sie von deren Protagonist*innen weitgehend ignoriert wird. Geschichte wird so in ganz unerwarteter, aber auch unerwünschter Weise politisch brisant und belegt daher noch einmal in ganz anderer Weise den Glauben daran, dass Geschichte wichtig ist. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Beobachtungen zum Glauben an die Bedeutung von Geschichte wie auch zur Bedeutung religiösen Glaubens für Geschichte hat der Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg eine Sektion organisiert, die aus dem besonderen Profil der Hamburger Historiker*innen hervorgegangen ist. Wegen der Genese der Universität Hamburg aus einem Hamburgischen Kolonialinstitut verfügt die Geschichtswissenschaft hier traditionell über eine in Deutschland nicht selbstverständliche breite Auffächerung ihrer geographischen Schwerpunkte.17 Schon bevor sich der aktuelle Trend einer wachsenden Aufmerksamkeit für Globalgeschichte und Area-Studies jenseits des klassischen geschichtswissenschaftlichen Kanons manifestierte, gehörte die Geschichte Asiens, Afrikas und der Amerikas zu den Schwerpunkten von Forschung und Lehre am Hamburger Historischen Seminar beziehungsweise dem heutigen Fachbereich Geschichte. Im Gefolge der neuen Sensibilität für die problematischen Machtrela16 Vgl. zum Beispiel die Rede des thüringischen AFD-Vorsitzenden Björn Höcke in Dresden am 17. Januar 2017, deren Wortlaut transkribiert ist: https://pastebin.com/jQujwe89 [07.04.2018]. In ähnlicher Absicht auch die Rede des Parteivorsitzenden Alexander Gauland anlässlich eines Treffens des radikaleren Flügels der AFD am Kyffhäuser am 2. September 2017, vgl. hierzu den Artikel: Gauland provoziert mit Äußerung zur Nazizeit, in: Die Zeit online, 14. September 2017, online abrufbar unter: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/afd-alexander-gauland-nazi-zeitneubewertung [04.07.2018]. SABINE AM ORDE, Gauland relativiert NS-Verbrechen, in: taz Online, 15.09.2017, online abrufbar unter: http://www.taz.de/!5447579/ 16.11.2017]. Zu dieser Strategie zum Brückenschlag ins dezidiert rechtsextreme Lager: SALZBORN, Angriff, S. 101–118. 17 NICOLAYSEN – SCHILDT (Hgg.), Jahre.

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tionen europäischer Akteure, aber auch europäischer Wissensregime in einer vernetzten Welt bietet diese Tradition eine Chance, in besonders intensiver Weise die Herausforderung aufzugreifen, sich kritisch mit dem schwierigen Erbe eigener Kolonialgeschichten auseinanderzusetzen. Als „eigene Kolonialgeschichte“ ließe sich das Agieren von Hamburger*innen weltweit benennen, die zum Beispiel im Rahmen der Politik des Deutschen Kaiserreichs von kolonialer Ausbeutung oder kolonialen Kriegen profitierten.18 Das Stichwort „Wissensregime“ lädt aber darüber hinaus dazu ein, die Verquickung von Wissensproduktion und -aneignung, von Deutungshoheit, akademischen Institutionen und politisch-ökonomischer Dominanz zu reflektieren. Konkret bedeutet das für die Geschichtswissenschaft, sich mit ihrer eigenen Rolle auseinanderzusetzen, zur Narration von der Überlegenheit der okzidentalen Zivilisation beigetragen zu haben, eigene Sinnzuschreibungen und Narrative als allein vernunftgemäß durchgesetzt zu haben. Damit hat die Geschichtswissenschaft dazu beigetragen, divergierende Weltverständnisse und Zeitverhältnisse zu diskreditieren, ihnen Bedeutung und Rationalität abzusprechen und ihre Träger*innen in den „Warteraum der Geschichte“ zu verbannen.19 Hier bekommt der Glaube an die Bedeutung dessen, was als Geschichte wissenschaftlich erforscht wird, noch einmal eine besondere Dimension, ermöglicht er doch das unreflektierte Weiterführen nicht legitimierbarer Wissensdispositive und der in sie eingeschriebenen Machtasymmetrien. Fasst man die bisherigen Ausführungen zusammen, lädt die Frage nach ‚Geschichtsglauben‘ dazu ein, geschichtskulturelle Praxis und das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft in dreierlei Hinsicht zu reflektieren: – Interferenzen zwischen Geschichte und religiösen Überzeugungen und Praktiken, – Glaube an die Bedeutsamkeit von Geschichte für kulturelle Formationen, – Rekurs auf die Historizität des Menschen und die Geschichte als Koordinaten eines eurozentristischen Weltverständnisses.

INTERFERENZEN ZWISCHEN GESCHICHTE UND RELIGIÖSEN ÜBERZEUGUNGEN UND PRAKTIKEN Die universitär verankerte Geschichtswissenschaft verdankt ihr Entstehen während des 19. Jahrhunderts der säkularisierten Weiterführung religiöser Wissensbestände. Die Vorstellung, das unendlich vielfältige, unüberschaubare Geschehen auf der Welt lasse sich als Teil eines sinnvollen, kohärenten und linearen Prozesses verstehen, entnahm die Geschichtsphilosophie der christlichen Vorstellung

18 Dieses Thema steht im Zentrum der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung“, das am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg tätig ist. Vgl. aus diesem Kontext die Publikation ZIMMERER (Hg.), Platz. 19 Zu diesem Fragehorizont vgl. den Vortrag von FLÜCHTER, Indien [04.07.2018]; dieser Vortrag rekurriert auf CHAKRABARTY, Provincializing.

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einer Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen.20 Christliche Autoren wie Augustinus, Frechulf von Lisieux, Otto von Freising oder auch Joachim von Fiore entwickelten Geschichtsdeutungen, die zentrale Etappen christlicher Religionsgeschichte, also historische Ereignisse nach modernem Verständnis, als Momente eines von Gott gewährleisteten Prozesses deuteten, der zur Wiederkehr Christi und zum Jüngsten Gericht führen sollte.21 In der säkularisierten Version der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts verschwanden das Wirken eines transzendenten Gottes und auch der von ihm herbeigeführte Zielpunkt der Geschichte – das Ende der Zeiten in einem neuen, ewigen Reich. Was blieb, tradierte aber die Vorstellungen des sinnvollen Zusammenhangs allen Geschehens in der [einheitlich gedachten] Geschichte, die zugleich als lineare Fortschritts- oder Entwicklungsgeschichte gelesen wurde: als Geschichte eines zu sich selbst kommenden Weltgeists oder als Geschichte der Verschärfung und letztendlich Überwindung der Klassengegensätze. Zugleich fand diese Geschichte ihr Zentrum zwar nicht mehr in der Geschichte der christlichen Religion beziehungsweise des christlichen Kults, wohl aber in der Entwicklung von Staaten und Gesellschaften in Europa beziehungsweise im europäisch geprägten Okzident. Die universitäre Geschichtswissenschaft, die im Historischen Seminar Rankescher Prägung ihren institutionellen Ort fand, definierte sich als empirische Wissenschaft und erhob damit den Anspruch, sich von der spekulativen Geschichtsphilosophie eines Georg Wilhelm Friedrich Hegel grundsätzlich zu unterscheiden. Dennoch zehrte auch sie von den unreflektierten Voraussetzungen ihres vermeintlichen Widerparts, wenn sie gleichfalls nationale oder allenfalls europäische Geschehnisse als Kern der Geschichte fokussierte, wenn sie immer noch den Zusammenhang des Historischen als Geschichte postulierte und wenn sie wie Hegel in den politisch-staatlichen Akteuren und Aktionen das Eigentliche der Geschichte suchte. Über diese unbewusste Weiterführung transformierter christlicher Deutungsmuster war die Geschichtswissenschaft zugleich von einem Milieu bürgerlicher Gelehrsamkeit geprägt, das stark vom Selbstbewusstsein eines modernen Kulturprotestantismus zehrte und die „Zuversicht“ besaß, „daß die protestantische, monarchische Welt der Neuzeit einen Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung bedeutet.“22 Für die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend professionalisierende Geschichtswissenschaft bedeutete dies, dass für sie wenigstens in zweierlei Hinsicht Geschichtsglauben relevant war. Zum einen stand sie vor der Herausforderung, den Einfluss religiöser Überzeugungen auf die historiographische Arbeit zu minimieren beziehungsweise einzuhegen. Sie zehrte ja von dem Selbstverständ20 Diese Kontinuität hat zunächst herausgestellt: LÖWITH, Weltgeschichte. Zusammenfassend zu Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie zum Beispiel BABEROWSKI, Sinn. Zur Fortführung säkularisierter religiöser Vorstellungen zuletzt LANDWEHR, Anwesenheit, S. 9–30. 21 Vgl. GOETZ, Geschichtsbild; STAUBACH, Tempora, S. 167–206. 22 IGGERS, Geschichtswissenschaft, S. 27. Vgl. auch knapp in der Retrospektive RAPHAEL, Geschichtswissenschaft, S. 66–80. Eine ältere Zusammenschau bei NIPPERDEY, Geschichte 1800, S. 498–533, und DERS., Geschichte 1866, S. 633–654.

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nis, durch eine umfassende Quellenkritik und Kenntnis des gesicherten historischen Materials Tatsachen zu erheben, die dann in die Deutung der Geschichte einflossen – wie stand es aber um die Beeinflussung des historischen Urteils durch religiöse Überzeugungen? Es ist auffallend, dass diese Frage vor allem dann gestellt wurde, wenn Historiker nicht einem protestantisch-bildungsbürgerlichen Milieu zuzurechnen waren, sondern wenn sie sich wie die in diesem Band behandelten Julius von Ficker und Albert von Ruville in je eigener Weise und mit unterschiedlichem Erfolg der Vorwürfe zu erwehren hatten, ihr Katholizismus gefährde die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit.23 Zum anderen trug die Geschichtswissenschaft auch jetzt noch Konzepte von Zeitlichkeit und Historizität weiter, die trotz ihrer säkularisierenden Transformationen von christlichen Vorstellungen imprägniert blieben, etwa der Überzeugungen vom Zusammenhang der einen Geschichte, von der Linearität der Zeit, vom christlichen Europa als Taktgeber der Weltgeschichte. Davon wird gleich noch ausführlicher zu handeln sein.

GLAUBE AN DIE BEDEUTSAMKEIT VON GESCHICHTE Dass Geschichte oder zumindest Vergangenes für die Gegenwart von Bedeutung ist, ist eingangs bereits ausführlich thematisiert worden. Für die Geschichtswissenschaft bedeutet diese Spielart des Verständnisses von ‚Geschichtsglauben‘ einerseits die Chance, ihre Fortexistenz auf einen gesellschaftlichen Konsens gründen zu können. Als problematisch erweist sich allerdings die genauere Nachfrage, welche Themen oder Epochen eigentlich heute (noch) relevant sind, denn gesellschaftliche Interessen und fachwissenschaftliche Schwerpunktsetzungen können sich weit voneinander entfernen. Andererseits zeugt das breite gesellschaftliche Interesse an Geschichte beziehungsweise Vergangenem auch von der begrenzten Reichweite wissenschaftlich produzierter oder zumindest wissenschaftlich verantworteter Geschichtserzählungen. Im breiten Spektrum der Repräsentation und Indienstnahme von Vergangenem für aktuelle Interessen und Bedürfnisse spielen fachwissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse eine eher untergeordnete Rolle. Im Bereich moderner Mittelalterevokationen etwa, für den im Englischen der Begriff des ‚Mediaevalism‘ eingeführt ist, ist mittlerweile zu beobachten, dass sich Mittelalterreferenzen oft gar nicht mehr direkt auf mittelalterliche Artefakte oder Konfigurationen beziehen, sondern sich in der Moderne ein eigenes Repertoire an ‚Mittelalterlichem‘ angesammelt hat, das als Fundus und Assoziationsraum für neue Evokationen dieser Vergangenheit dient.24 Die Spielarten derartiger Evokationen reichen von der spielerischen Aneignung von Mittelalterlichem im ‚Reenactment‘ über hoch kommerzialisierte Unternehmungen wie Mittelaltermärkte oder Filme, die zwischen Historie und Fantasy changieren, bis zur politischen Inanspruchnahme vermeintlicher historischer Traditionen. Viel23 Vgl. hierzu die Beiträge von SCHASER und DARTMANN im vorliegenden Band. 24 ELLIOTT, Medievalism; BERNAU – BILDHAUER (Hgg.), Film; GROEBNER, Mittelalter.

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fach geht es dabei nicht um das Mittelalter der Fachwissenschaft, sondern ein populäres Mittelalter, das sich aus den modernen Imaginationen einer fernen Epoche speist. Diese Spannung zwischen einer sehr breiten geschichtskulturellen Aneignung von Vergangenem und den sehr viel präziseren, aber weniger anschaulichen und identifikatorischen Geschichtsbildern der Fachwissenschaft lädt universitäre Akteur*innen dazu ein, nach neuen Chancen der Vermittlung oder des Anschlusses an populäre Vorstellungen zu fragen. Zugleich lädt diese Spannung aber auch dazu ein, nach den Engführungen zu fragen, die den wissenschaftlichen Zugriff auf vergangene Geschichtskulturen eingeschränkt haben. Die Etablierung und Professionalisierung universitärer Geschichtsschreibung war ja von dem Pathos unterfüttert, man könne die Quellen benennen, die möglichst objektiv und möglichst nah an dem historischen Geschehen entstanden seien und daher einen besonders hohen Quellenwert besäßen.25 Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass große Teile des überlieferten Materials aus dem Kanon relevanter Quellen ausgesondert worden sind, während zugleich die Erschließung der als besonders wertvoll erachteten Überlieferung mit großem Aufwand vorangetrieben worden ist. Die Geschichte von Unternehmungen wie den Monumenta Germaniae Historica (MGH) oder den Regesta Imperii legt davon beredtes Zeugnis ab, schließlich widmeten sich beide Unternehmungen zunächst der Konstruktion einer nationalen Geschichtserzählung, die auf die politischen Geschäfte der Zentralregierung in Auseinandersetzung mit anderen, partikularen Akteuren fokussiert war.26 Wie die allmähliche Erweiterung der einzelnen Unterreihen der MGH zeigt, ist dieser Fokus nur allmählich und zögerlich erweitert worden. Mit der Aussonderung irrelevanter Quellen korrelierte das Selbstverständnis von modernen Historiker*innen, selbst eine wissenschaftliche, rationale Weltsicht zu besitzen und deswegen unterscheiden zu können, welche Informationen aus der Vergangenheit als Bausteine zu einer realistischen ‚Rekonstruktion‘ der Geschichte dienen können und welche nicht – rechtliches Schriftgut wie Gesetze oder Urkunden erschienen brauchbar, Mythos oder Wundererzählungen hingegen nicht.27 Damit projizierte die moderne Geschichtswissenschaft ihre Interessen auf vergangene Akteur*innen, die je nach Qualität ihrer Überlieferung sozusagen in eine virtuelle, zeitenübergreifende Historikercommunity integriert wurden oder eben nicht. Die Frage nach Geschichtsglauben als der Überzeugung, Vergangenes sei für die Gegenwart relevant, erschließt demgegenüber für die Gegenwart wie die Vergangenheit die Möglichkeit, jedwede Evokation von Geschichte oder von Historischem gleichberechtigt zu erforschen.28 Damit vermeidet die Geschichtswissenschaft den Anachronismus, ihre Vorstellungen von Wahrheit, vertrauenswürdigen Informationen und Realität 25 Vgl. noch einmal die Literatur oben in Anm. 22. 26 FUHRMANN, Menschen; zur Geschichte der ‚Regesta Imperii‘ im 19. Jahrhundert vgl. den Beitrag von DARTMANN in diesem Band sowie ZIMMERMANN, Regesta; BERNWIESER, Regesta, S. 189–205. 27 DARTMANN, Wunder, S. 11–17. 28 Dazu nachdrücklich der Beitrag von HARTER-UIBOPUU in diesem Band.

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auf eine Vergangenheit zu übertragen, in der ganz andere Diskursregeln über die Zulassung oder die Ablehnung von Sprechen über Vergangenes entschieden. Das eröffnet für die Geschichtswissenschaft Perspektiven, die derzeit das vielversprechende Projekt einer ‚Public History‘ vor allem für die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit verfolgt: Geschichtskultur in der Vielfalt ihrer Inhalte, Medien und Akteur*innen zum Gegenstand der Forschung und Reflexion zu machen.29 Damit können zugleich die Orte, die Inszenierungen und die Performanzen erfasst werden, an/in denen Vergangenheit(en) erinnert wurden und werden. Wie sich am Beispiel des in diesem Band behandelten antiken Olympia zeigen lässt, waren derartige Referenzen auf Vergangenes nicht lediglich eine öffentliche Repräsentationsform, sondern erwiesen sich als umkämpfte Ressource im doppelten Sinne: Sie sollten eine bestimmte Deutung konfliktiven Geschehens festschreiben und durch Monumentalisierung dauerhaft absichern, schufen damit aber zugleich verletzliche Objekte, deren Modifikation, Unsichtbarmachung oder Zerstörung zugleich die beanspruchte Deutungshoheit gefährdete.30 In ähnliche Richtung weist auch die Geschichte der Erforschung, Interpretation und Aneignung der Ruinen von Great Zimbabwe, in deren Verlauf sich wissenschaftliche und politische Interessen und Indienstnahmen immer wieder überkreuzten. Ähnlich wie im Fall des antiken Olympia wurden hier statt Inschriften die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zugleich als Ressourcen in politisch-kulturellen Deutungskonflikten genutzt, die wiederum neue wissenschaftliche Initiativen nach sich zogen. Diese Geschichte der Aneignung der Überreste einer vergangenen Zeit setzt sich bis in die Gegenwart hinein fort.31 Geschichtsglauben verstanden als unreflektierte Überzeugung von der Bedeutung von Geschichte für die Gegenwart ermöglicht es daher, in die Reflexion des Verhältnisses zwischen Fachwissenschaft und anderen Bereichen aktueller wie vergangener Geschichtskulturen einzutreten, und sensibilisiert zugleich für den konfliktiven Charakter, den die Evokation von Vergangenem in aller Regel besessen haben dürfte, auch wenn die monumentale oder anders medial aufbereitete Deutung der Geschichte dies vermutlich meist zu verschleiern versucht. Damit stellt das Nachdenken über Geschichtsglauben aber zugleich auch immer die Frage nach den Machtverhältnissen, die Geschichtskulturen prägen und durch sie gestützt werden.

29 Eine Vermessung des Feldes unternimmt LOGGE, History, S. 141–153. 30 Vgl. den Beitrag von HARTER-UIBOPUU in diesem Band. 31 Vgl. den Beitrag von MARX in diesem Band.

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REKURS AUF DIE HISTORIZITÄT DES MENSCHEN UND DIE GESCHICHTE ALS KOORDINATEN EINES EUROZENTRISTISCHEN WELTVERSTÄNDNISSES Ein weiterer Beitrag, der während der Sektion in Hamburg vorgetragen worden ist, aber nicht zur Publikation geführt werden konnte, thematisierte in sehr grundsätzlicher Weise, in welch hohem Maße auch noch die aktuelle Praxis vom Erbe einer auf den Westen fokussierten, in kolonialen Horizonten entstandenen Geschichtswissenschaft geprägt ist. In Fortführung seiner Überlegungen zum Empire of Knowledge, die der aus Indien stammende, in Kalifornien tätige Historiker Vinay Lal bereits 2002 publiziert hat, hat er sich in sehr grundsätzlicher Weise damit auseinandergesetzt, dass das Zeit- und Geschichtsverständnis der Geschichtswissenschaft wesentlich von europäischen Traditionen bestimmt ist.32 Konkret hat Lal vor allem fünf Faktoren benannt, die ihm eine unreflektierte Fortsetzung dieser Traditionen zu belegen scheinen: – Die europäische Geschichte mit ihrer Epochenabfolge und den Zuschreibungen zu den Charakteristika der einzelnen Epochen dient nach wie vor als Modell für die Strukturierung der Geschichte in anderen kulturellen Zusammenhängen. – Zentral ist dabei die Vorstellung von einer Linearität der Geschichte, die in der Regel von Narrativen eines kontinuierlichen Fortschritts grundiert ist. – Im Zuge dieser Geschichte wird der europäischen Geschichte immer ein Vorsprung zugewiesen, der anderen Kulturen die Herausforderung zuschreibt, den europäischen Errungenschaften nachzustreben und damit die Geschichte von Anderen nachzu(er)leben. – Der Blick auf die Geschichte anderer Weltregionen projiziert Konstellationen der europäischen Vergangenheit auf spätere Phasen der nichteuropäischen Geschichte – ähnlich früheren Reisenden, die während des Besuchs anderer Kontinente der eigenen Vergangenheit zu begegnen meinten. – Während die Geschichte anderer Weltregionen so aufs engste an die europäische Geschichte gebunden wird, wird die europäische Geschichte selbst als weitgehend autonomes Geschehen dargestellt, das kaum von außereuropäischen Akteuren oder Faktoren beeinflusst gewesen sein soll. Diese Punkte hat Lal in seinem Beitrag genutzt, um sich zugleich kritisch mit aktuellen Konzepten auseinanderzusetzen, Welt- oder Globalgeschichte zu schreiben. Gegen solche Unternehmungen spricht in seinen Augen die Beobachtung, dass der Standpunkt, von dem aus die Welt und ihre Geschichte geschildert wird, der der politisch-ökonomischen Zentren sei, allen voran der der USA. Dem gegenüber propagiert Lal das Modell, die Geschichte von vielen Welten nebeneinander zu erforschen, um zugleich die Historiker*innen aus dem „globalen Sü-

32 LAL, Empire; zur Geschichtswissenschaft ebd., S. 116–122.

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den“ als gleichberechtigte Gesprächspartner*innen in die Debatten einzuschließen. In diesen konkreten Ausführungen hat Lal Überlegungen weitergeführt, die er an anderer Stelle bereits publiziert hat. Sie weisen auf eine sehr grundsätzliche Dimension des Themas ‚Geschichtsglauben‘ hin, die bisher lediglich angeklungen ist. Die Geschichte als Gegenstand einer Wissenschaft zu behandeln fußt auf sehr weitreichenden, kulturell determinierten Voraussetzungen. Allein der Kollektivsingular ‚Geschichte‘ suggeriert, dass es in dieser Wissenschaft nicht nur um die Summe alles Vergangenen geht, sondern dass dieses Vergangene zugleich auch in einem sinnvollen Zusammenhang zueinander steht. Diese Form einer diachronen Sinnstiftung hat die Geschichtswissenschaft von der Geschichtsphilosophie geerbt, die wiederum grundlegende Deutungsmuster der christlichen Heilsgeschichte fortführt.33 Doch damit nicht genug. Allein schon die Konzipierung der vergangenen Zeit ist eine Operation, die auf dieser Tradition basiert. Die Synchronisierung von Ereignissen in verschiedenen Weltregionen anhand ihrer Einordnung in eine lineare Abfolge von Jahren ist eine Organisationsform von Vergangenheit, die Eusebius von Caesarea in seiner Chronik zu Beginn des 4. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung entwickelt hat.34 Die Selbstverständlichkeit dieses chronologischen Systems in der Gegenwart macht vergessen, dass sowohl die Anfangspunkte der Berechnungen als auch die Dauer eines Jahres und erst recht die Zählung von Jahren kulturell variierende Faktoren sind. Die Umetikettierung des Anno domini in Common Era ändert daran nichts Grundsätzliches. Während die Geschichtswissenschaft sich bisher eher zurückhaltend mit der Geschichte der Zeit auseinandergesetzt hat, ist in der Soziologie bereits ausführlich über verschiedene Konstruktionsweisen von Zeit reflektiert worden.35 Die in der Geschichtswissenschaft meist angewandte Organisation nach Stunden, Tagen, Monaten und Jahren, also nach gleichförmig ablaufenden, möglichst exakt zu bestimmenden Einheiten stellt nur eine Sonderform der vielen Möglichkeiten dar, den Gegensatz von Jetzt und Nicht-Jetzt, die Abfolge von vorher und nachher zu erfassen und zu beschreiben. Das lässt sich schon anhand der Geschichte von Kalendern und Praktiken zur Zeitmessung und Zeiteinteilung aufzeigen – etwa in der Abfolge und Differenz verschiedener Berechnungen der Dauer eines Jahres oder auch einer Stunde, wenn die Einteilung eines Tages in eine bestimmte Anzahl von gleich langen Stunden dazu führt, dass die Stunde je nach Jahreszeit länger oder kürzer ausfällt. Viel nachdrücklicher wird die kulturelle Konstruktion von Zeit aber darüber hinaus dadurch plausibel, dass man an die Seite des „universalen und homogenen Zeitverständnisses“ die erfahrene Zeit der Gegenwart oder Vergangenheit stellt.36 Viele Beobachtungen dazu ließen sich zusammenstellen. Die älte33 LANDWEHR, Anwesenheit, S. 9–30 und 281–316; in Auseinandersetzung mit KOSELLECK, Zukunft. Zur Transformation von Heilsgeschichte in Geschichtsphilosophie vgl. daneben LÖWITH, Weltgeschichte; BABEROWSKI, Sinn. 34 BRINCKEN, Chronologie; BORST, Computus. 35 GRAF, Zeit. Vgl. den soziologischen Klassiker von ELIAS, Zeit. 36 GRAF, Zeit.

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re Mentalitätengeschichte hat zum Beispiel versucht, mittelalterliche Zeiterfahrung unterhalb gelehrter Debatten darüber, was eigentlich Zeit ist, und unterhalb ausgearbeiteter Mechanismen zur Zeitmessung und Zeitberechnung zu erfassen. Diese Überlegungen betonen das Spannungsfeld zwischen dem starken Bewusstsein von der Wiederkehr des Gleichen im Zuge von Jahreszeiten und kirchlichem Festkalender und der Erfahrung des allmählichen Flusses der Zeit. Zugleich betont sie die unterschiedlichen Rhythmen verschiedener sozialer Gruppen, die nicht miteinander in einen gleichen Takt hätten gebracht werden müssen. Diese Zeiten standen neben den christlichen Vorstellungen von einem paradiesischen Urzustand und dem ewigen Leben, das nach dem Ende aller Zeiten bei Gott versprochen war.37 Einen wichtigen Beitrag zur Geschichte von Zeiterfahrungen und Zeitpraxis hat Achim Landwehr vorgelegt, der in der Frühen Neuzeit in Europa das Emergieren der Gegenwart als eines zu gestaltenden Zeitraums konstatiert. Auch die aktuellen Überlegungen zur Beschleunigung und Verdichtung von Zeit, die Hartmut Rosa als kritische Analyse der Gegenwart vorgelegt hat, setzen bei den Zeiterfahrungen Einzelner und ihren systemischen Verschränkungen an.38 Es wäre reizvoll, die kulturelle Formierung von Zeitvorstellungen, die in der geschichtswissenschaftlichen Praxis in aller Regel nicht eigens reflektiert wird, weiter zu verfolgen. So ließe sich an Augustinus‘ Reflexionen über die Zeit in den Confessiones anschließen, in denen er betont, dass das Vergangene (praeterita) ebenso wie das Zukünftige (futura) jeweils nur in der Gegenwart seien (praesens): Man „sollte […], genau genommen, etwa sagen: Zeiten ‚sind‘ drei: eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem. Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht.“39 Jenseits von Augustins Reflexion individuellen Zeitbewusstseins könnte von hier ausgehend ein Modell entwickelt werden, das den Gegenstand von Geschichtswissenschaft sehr viel enger an die Gegenwart anbindet, als es in der historiographischen Praxis vielfach der Fall ist. Geschichte wäre demnach nicht das Vergangene, sondern das in der Gegenwart erinnerte Vergangene. Die geschichtstheoretische Reflexion ist sich dessen bewusst, dass lediglich „historisch übermittelte[s] Material“40 in der Gegenwart verfügbar ist, während die Vergangenheit als solche unzugänglich bleibt. Wie stark dieses Bewusstsein aber die Praxis der Geschichtswissenschaft prägt oder ob in ihr nicht doch ein weniger aufgeklärter Glaube in die Rekonstruierbarkeit oder Erfahrbarkeit von Vergangenheit wirkt, wäre zumindest kritisch zu reflektieren. Lal hat vor allem aus seiner Kenntnis indischer Traditionen die Kontingenz der Zeitvorstellungen thematisiert, die die Geschichtswissenschaft prägen und die sie transportiert. Für eine Selbstreflexion historiographischer Praxis erschließt das 37 GURJEWITSCH, Weltbild; HUTH, Zeit, S. 384–388. 38 LANDWEHR, Geburt; ROSA, Beschleunigung. 39 AUGUSTINUS, Bekenntnisse, hier Kapitel 11, 20, 26, S. 181. Im Original: AUGUSTINUS, Confessiones, S. 281: „tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris.“ 40 LANDWEHR, Anwesenheit, S. 45.

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als dritte Dimension die Frage, bis zu welchem Punkt die kulturelle Formierung basaler Vorstellungen – die Zeit ist nur ein Beispiel unter vielen – dominant sind. In diesem Sinne stünde ‚Geschichtsglauben‘ für das Set an Basiskonzepten, die die Geschichtswissenschaft prägt und perpetuiert, ohne sich davon vollständig Rechenschaft zu legen. Weit über das Themenspektrum der folgenden Beiträge hinaus lädt die Frage nach ‚Geschichtsglauben‘ daher dazu ein, sich der Voraussetzungen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens zu vergewissern. Dabei geht es vor allem um die Verbindungen, aber auch die Differenzen zwischen wissenschaftlicher Praxis und wissenschaftlichen Arbeitsweisen zur außeruniversitären Geschichtskultur. In der Zusammenschau lassen es die einleitenden Überlegungen wie auch die nachfolgenden Fallstudien plausibel erscheinen, bei aller Wertschätzung wissenschaftlicher Methodik und Reflexion auch den Dialog mit der breiteren Öffentlichkeit zu suchen. Schließlich wirken außerwissenschaftliche Prozesse ebenso wie jenseits der Wissenschaft verankerte Vorstellungen massiv auf die akademische Praxis ein. Werden sie kritisch reflektiert und die Ergebnisse dieser Reflexion wiederum in öffentliche Diskurse eingespeist, kann die Geschichtswissenschaft nicht nur ihre eigenen Grundlagen hinterfragen, sondern auch zu einer Selbstaufklärung moderne Gesellschaften beitragen. Das sollte, so die Hoffnung, dazu beitragen, jenseits dogmatischer Fixierungen auf letztgültige Wahrheiten die Reflexionspotenziale von Wissenschaft in einer Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen, in der im Moment allzu oft die unterdifferenzierte, laut verkündete einfache Wahrheit die nachdenklichen Stimmen zu übertönen droht.

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GESCHICHTSWISSENSCHAFT, GLAUBE UND NATIONALGESCHICHTSSCHREIBUNG UM 1900 Angelika Schaser, Hamburg Geschichtswissenschaft und Glaube waren im 19. Jahrhundert ein viel diskutiertes Thema. Die Protestanten sahen im Katholizismus seit der Reformation eine überholte Variante des Christentums, eine Sichtweise, die durch protestantische Aufklärer im 18. Jahrhundert verstärkt wurde und schließlich zu einer Gleichsetzung von Protestantismus mit Wissenschaftlichkeit und Fortschritt führen sollte.1 Die Mehrheit der deutschen (protestantischen) Historiker folgerte daraus, dass katholischer Glaube und Wissenschaft nicht kompatibel seien, denn Katholizismus beinhalte „Autoritätshörigkeit, Absage an die geistige Freiheit des Individuums, Wissenschaftsfeindlichkeit und Bildungsunfähigkeit.“2 Katholiken, so hatte Christopher Dowe 2006 resümiert, wurden mit Ultramontanen gleichgesetzt, und als „rückwärtsgewandt, mittelalterfixiert [und] fortschrittsfeindlich“ charakterisiert.3 Der Glaube der Protestanten wurde dagegen sehr viel milder beurteilt, Forderungen wie „der Historiker müsse atheistisch denken“4 waren damals nicht mehrheitsfähig. Die Religionszugehörigkeit erschien bis weit in das 20. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit. Katholische Historiker setzten sich mit den Positionen der protestantischen Professoren auseinander, die den Professionalisierungsprozess des Faches dominierten. Auch sie gingen zum Teil wenig freundlich mit ihren protestantischen Kollegen um. So wurde z.B. das „Nordlicht“ Heinrich von Sybel, der 1856 vom bayerischen König Maximilian II. auf einen Lehrstuhl in München berufen worden war, als Scharlatan bezeichnet, dessen „‚Wissenschaftlichkeit‘ der Tagesmode anhänge.“5 Wenn auch die zunächst geforderte ‚Voraussetzungslosigkeit‘ bald relativiert, und das Eingebundensein von Historikern in verschiedene Glaubensund Wertesysteme betont wurde, so war man sich doch über die Konfessionsgrenzen hinweg größtenteils einig, dass sorgfältiges Quellenstudium Ergebnisse erwarten ließ, die von den jeweiligen Voraussetzungen des Forschers weitgehend unabhängig sein könnten. 1 2 3 4 5

Vgl. dazu RAAB, Wissenschaft, S. 63, und ALTERMATT, Katholizismus. DOWE, Bildungsbürger, S. 12. Ebd. KÖHLER, Philosophie, S. 242; zu VON RUVILLE, Goldgrund, ebd., S. 240–243. [Jörg], Programm, S. 405. Zitiert nach SCHNICKE, Disziplin, S. 464. Vgl. auch BAUMGARTEN, Professoren, S. 119 und 126. Der Historiker, Archivar und Politiker Joseph Edmund Jörg war seit 1852 Redakteur der Historisch-politischen Blätter.

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Wieweit die Geschichtswissenschaft um 1900 dabei eher von Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken oder mehr von Gemeinsamkeiten der Fachgelehrten geprägt war, ist noch offen. Denn die Konflikte wurden oft nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch in der Tagespresse öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt, während die alltägliche Zusammenarbeit zwischen Historikern unterschiedlicher Konfession in der Regel keine Berichterstattung wert war. Verpflichtende Normen und gelebte Praxis konnten hier weit auseinanderfallen. So waren an der Universität Halle, die damals im § 4 der UniversitätsStatuten das protestantische Bekenntnis ihrer Dozenten einforderte, 1907/08 sowohl der Rektor als auch der Prorektor katholisch.6 An diesem Beispiel wird deutlich, wie sich Vorschriften und Universitätsalltag voneinander unterscheiden konnten. Je nach Quellengrundlage fallen die Antworten auf die Frage, wie sich die Zusammenarbeit zwischen katholischen und protestantischen Historikern gestaltete, unterschiedlich aus. Dowe, der an den deutschen Universitäten mit Blick auf die Studenten kein „zweites konfessionelles Zeitalter“ erkennen kann, sieht deutlich stärkere „antikatholische Vorbehalte in Teilen der Professorenschaft“.7 Zwicker betont die wachsenden Konflikte zwischen katholischen und nichtkatholischen Studenten nach 1900.8 Und Schraut verweist darauf, dass über den Studienalltag katholischer Studentinnen, die sowohl in Münster wie in München bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend an den philosophischen Fakultäten studierten,9 immer noch wenig bekannt ist.10 An den Universitäten reagierten katholische Historiker in der Regel mehrheitlich mit der Trennung der „historische[n] Methoden von weltanschaulichen Prämissen“.11 In Ländern mit überwiegend katholischer Bevölkerung wie in Bayern wurde dagegen nicht nur die Besetzung eines Teils der Professuren mit Katholiken gefordert. Das Zentrum und Katholiken wollten damit an den Universitäten katholische Positionen vertreten sehen, die „katholische Wahrheit“ sollte in der Darstellung von Geschichte „zum Ausdruck kommen“.12 In den Diskussionen ging es dabei neben den Interpretationen und Methoden der Geschichtswissenschaft auch um Definitionshoheit, Einfluss, Anerkennung und Schlüsselpositionen. Professoren beanspruchten, Stellen im Kooptionsverfahren zu besetzen. Die Fakultäten wollten „nach rein fachwissenschaftlichen Kriterien die besten Kandidaten“ ermitteln und vorschlagen.13 Dabei verlangte die Mehrheit der protestantischen Professoren vom Staat, „die rein wissenschaftliche, ‚voraussetzungslose‘ 6

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Rektor war der Altphilologe und Althistoriker Georg Wissowa (1859Ð1931), Prorektor der Jurist August Finger (1858Ð1935). Vgl. dazu auch: http://www.catalogus-professorumhalensis.de/wissowageorg.html und http://www.catalogus-professorum-halensis.de/ fingeraugust.html [4.8.2017]. DOWE, Bildungsbürger, S. 301. ZWICKER, Student Organizations. HUERKAMP, Bildungsbürgerinnen, S. 37f. und 92. SCHRAUT, Bildung, S. 45. DOWE, Bildungsbürger, S. 265. SIMON, Staat, S. 155. Ebd., S. 153.

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Argumentation zu schützen und zu verteidigen gegen den Anspruch von ‚Parteien‘, ihre ‚partikulären‘ … Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen“.14 Dem gegenüber stellte auch der Staat, in Preußen insbesondere in Gestalt Friedrich Althoffs, wissenschaftspolitische Ansprüche an die Universitäten, die nicht selten die Konfliktlinien zwischen Lehrstuhlinhabern und außerordentlichen Professoren und Privatdozenten zur Ausrichtung von universitärer Lehre und Forschung nutzten.15 Erinnert sei hier nur an den „Fall Spahn“,16 in dem die Auseinandersetzungen um die Neubesetzung einer Professur im Fach Geschichte mit einem katholischen Historiker 1901 an der Universität in Straßburg zu einem Schlagabtausch führten, der von Theodor Mommsens Glaube an einen „kriegerischen Dualismus der katholisch-romanischen und der protestantischgermanischen Völker“17 befeuert wurde. In den zeitgenössischen wissenschaftsund konfessionspolitischen Diskussionen vermischten sich aufgrund dieser Voraussetzungen Fragen nach methodisch abgesichertem Wissen und anerkannten Forschungsergebnissen mit offen oder versteckt geäußertem Zweifel, ob Katholiken angesichts der Ansprüche des Papsttums überhaupt freie Forschung betreiben könnten. Obwohl sich die deutsche Geschichtswissenschaft als protestantische Geschichtswissenschaft entwickelte,18 blieb die verbindende Klammer zwischen den nichtprotestantischen und protestantischen Vertretern des Faches die selbstbewusste Überzeugung, dass das Wissen um die Vergangenheit zentrale Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft habe und damit auch einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des Deutschen Reiches leisten könne. Daher waren Forschungen, Unterricht und Vorträge auf die Geschichte der eigenen Nation und deren aktuelle politische Gestaltung ausgerichtet. Nicht nur die deutsche Geschichtswissenschaft verstand sich dezidiert als „Beitrag zu einer nationalpolitischen Pädagogik“.19 Das Spannungsverhältnis zwischen Geschichtswissenschaft, Glauben und nationaler Mission um 1900 soll hier am Werk des Historikers Albert von Ruville (1855–1934)20 ausgelotet werden. Im ersten Teil des Artikels stehen zunächst die Kennzeichen des Faches im Vordergrund, wie sie sich um 1900 herausgebildet hatten. Im zweiten Abschnitt wird die Geschichtswissenschaft aus der Perspektive eines Außenseiters beleuchtet: Hier steht die Sichtweise des Hallenser Historikers von Ruville im Mittelpunkt, der 1909 vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte und 1912 ein Buch vorlegte, in dem er die übliche Argumentation umdrehte: Er erklärte den Katholizismus zur Voraussetzung für die professionelle Geschichtsschreibung, da der Katholizismus die wahre Religion sei und der Geschichtswissenschaft daher als Wahrheitsgrundlage dienen müsse. Im Fazit folgt ein Plädoyer, das fachliche Selbstverständnis und die Wissenschaftspraxis in der 14 15 16 17 18 19 20

Ebd. Ebd., S. 124–126. ROSSMANN, Wissenschaft; WEBER, „Fall Spahn“. HÜBINGER, Gelehrte, S. 79. SCHNICKE, Disziplin, S. 222. SIMON, Staat, S. 646. Grundlage zu seiner Biographie bildet der Text SCHASER, Propagandaprofessor.

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Geschichtswissenschaft nicht nur am Beispiel der bekannten und gut erforschten Historiker zu untersuchen, sondern den Blick auf heute weniger bekannte Historiker zu lenken.21 1. KENNZEICHEN UND ‚EIGENGESETZMÄßIGKEITEN‘ DES FACHES Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde das Fach Geschichtswissenschaft an deutschen Universitäten ausgebaut. In diesem Zusammenhang wurden die Denominationen, Aufgaben, Spezialisierungen und die Lehrpraxis im Fach diskutiert. Dies alles geschah vor dem Hintergrund der Reichsgründung und der damaligen nationalen und konfessionellen Auseinandersetzungen sowie in der wachsenden Konkurrenz zu den Naturwissenschaften. Professoren, Universitäten und Ministerien waren daran beteiligt, zum Teil fanden die Auseinandersetzungen auch öffentlich statt. In Abgrenzung zur Theologie und zu den Philologien, in Berlin in enger Zusammenarbeit mit den historisch arbeitenden Nationalökonomen, wurde am Profil der Historischen Institute gearbeitet. Die Spezialisierungen in Alte, Mittelalterliche und Neuere Geschichte schien vielen angesichts der Fülle von historischen Arbeiten und Quelleneditionen notwendig, die Universalgeschichte schien manchen ausgedient zu haben. Während die Ministerien und einzelne Professoren gerne daran festhalten wollten, meinten andere, „dass die Universalgeschichte aufgehört habe, ein geeignetes akademisches Lehrfach zu bilden und dass eine … pragmatische Zusammenfassung … des gesamten Stoffes der Geschichte der Menschheit nicht mehr eine Aufgabe der Wissenschaft, sondern nur für die Kompilation sei.“22 Trotz wachsender Kritik am Konzept der Universalgeschichte und an der älteren Politikgeschichte stand weiterhin die politische Geschichte im Mittelpunkt. Neue Ansätze konnten in der Regel nur mit einer „stark gemäßigten bzw. partiellen Traditionskritik und gleichzeitiger Bewahrung der Zugehörigkeit zur vorherrschenden Fachrichtung“23 erfolgreich platziert werden. Gerade Historiker ohne Lehrstuhl versuchten im „Zentrum des Fachs“24 zu bleiben und in der kontroversen Diskussion um die „Einheit der Geschichte“ und die Ausbildung von Teildisziplinen und Spezialisierungen mit detaillierter Quellenarbeit und umfangreicher Lektüre die etablierten Kollegen zu überzeugen.25 Belesenheit, intensives Quellenstudium und methodische Sorgfalt sollten die Bedeutung der eigenen Forschungsthemen unterstreichen, die keinesfalls als „eng“, „partiell“ oder „speziell“ präsentiert wurden.26 An der Vorstellung von der „Allgemeinheit“ der Geschichtserkenntnis hielten auch diejenigen fest, die die politische Geschichte mit 21 Diesen Ansatz verfolgte HUTTNER, Geschichtswissenschaft, S. 29f. 22 So erinnerte sich der Tübinger Historiker Reinhard Pauli, zitiert nach PALETSCHEK, Duplizität, S. 41. 23 KOLÁ , Geschichtswissenschaft, S. 519. 24 Ebd. 25 SAXER, Vermittlungsweisen, S. 44f. 26 KOLÁ , Geschichtswissenschaft, S. 521.

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neueren wirtschafts- und sozialhistorischen Perspektiven zu erweitern suchten. Kontrahenten, so hat Kolá in seiner Untersuchung der Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900 festgestellt, warfen sich gerne „gegenseitig ‚Spezialistentum‘ vor und beanspruchten für sich selbst die alleinige Vertretung der ‚Allgemeinen Geschichte‘“.27 Auch die Standards für die Lehre im Fach Geschichte wurden um die Jahrhundertwende ausführlich diskutiert. Gefordert wurde, dass die Studenten mit den „urkundlichen und erzählenden Quellen … vertraut“28 zu machen seien, dass sie die Forschungskontroversen kennenlernen sollten, um an konkreten Beispielen die wichtigsten Methoden zu erlernen und zum selbständigen Forschen zu gelangen. So entwarf Karl von Noorden 1873 für das Historische Seminar der Tübinger Universität ein Statut, das auch heute noch aktuell erscheint: Die Aufgabe des Seminars war es demnach, in erster Linie zukünftige Lehrer auszubilden, die Studenten zum selbständigen Studium anzuleiten und in den Übungen themenbezogene Referate, Vorstellungen der neuesten Literatur, die Interpretation von Quellen und die „kritische Bearbeitung abgemessener Abschnitte aus dem Gebiet der alten, mittleren und neueren Geschichte“ anzuleiten.29 Allerdings gibt es an dieser Stelle nicht nur Parallelen: Sylvia Paletschek weist darauf hin, dass die Studenten damals als Abschlussarbeiten für das höhere Lehramt in der Regel 15 Seiten einreichten und auch an Dissertationen „selten länger als ein Jahr gearbeitet wurde.“30 Nicht nur was, sondern auch wie an den Universitäten gelehrt und gearbeitet werden sollte, wurde lebhaft diskutiert. Der Greifswalder Historiker Ernst Bernheim legte um die Jahrhundertwende ein einflussreiches Lehrbuch zur historischen Methode vor,31 das in mehreren Auflagen und Sprachen erschien.32 Die Zunahme der Studentenzahlen und deren beklagte mangelnde Disziplin beim Vorlesungsbesuch erforderten laut Bernheim neue Lehrformen, reformierte Vorlesungen und mehr Seminare, in denen forschendes Lernen eingeübt werden sollte. Die Vorlesungen sollten nicht vorrangig Faktenwissen vermitteln (das in Büchern nachzulesen war), sondern auf strukturelle Fragen und Interpretationen eingehen. In Seminaren sollten die Studierenden in engem Kontakt mit den Lehrenden zur eigenen wissenschaftlichen Praxis angeleitet werden.33 Die forschungsorientierte Lehre wurde um 1900 an deutschen Universitäten zur Grundlage des Lehrbetriebs.34 Insbesondere quellenkundliche Übungen wurden zunehmend „als ein Qualifikationselement im großen Wettkampf um die historischen Lehrstühle angesehen“, so dass sie häufig von Privatdozenten angeboten wurden.35 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Ebd. PALETSCHEK, Duplizität, S. 46. Karl von Noorden, zitiert nach PALETSCHEK, Duplizität, S. 47. PALETSCHEK, Duplizität, S. 55. BERNHEIM, Lehrbuch. GESTRICH, Universitätsunterricht, S. 131–140. Ebd., S. 137–139. PALETSCHEK, Erfindung, S. 515; SIMON, Staat, S. 647f. SAXER, Vermittlungsweisen, S. 39–45, Zitat S. 42.

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Diese Entwicklungen spiegeln sich alle auch im Historischen Institut der Universität Halle.36 Zu den Vertretern der Universalgeschichte zählte dort der Althistoriker Eduard Meyer,37 der als erster Professor für Alte Geschichte von 1889 bis 1902 in Halle sehr einflussreich war.38 Er setzte sich für die Freiheit der Wissenschaft und der Wissenschaftler in dem von ihm gegründeten „Spirituskreis“ ein.39 Die Mitglieder dieser Gruppe verstanden sich als Teil einer Gelehrtenelite und als „Abwehrfront“ in den Auseinandersetzungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.40 Der Zugang zu diesem Kreis wurde streng reglementiert. Von Ruville hatte zu diesem wichtigen Netzwerk der Geisteswissenschaftler als NichtOrdinarius in Halle wohl keinen Zutritt. Sein Name taucht in den Arbeiten zum Spirituskreis nicht einmal in den Personenregistern auf.41 Außerhalb dieses Machtzirkels stehend, wird von Ruville vielleicht schon vor seiner Konversion die von etablierten Kollegen beschworene „voraussetzungslose Wissenschaft“ kritisch verfolgt haben. Diese Forderung ist immer wieder gegen (nichtprotestantische) Außenseiter in Position gebracht worden, wie auch neue Themen und Methoden gerne als „zu speziell“ und „zu eng“ abgewertet wurden.42 Mommsen hatte diese „Voraussetzungslosigkeit“ 1901 in der Auseinandersetzung im „Fall Spahn“ als wichtigste Basis der Geschichtswissenschaft in seinem Zeitungsartikel in den Münchner Neuesten Nachrichten publikumswirksam hervorgehoben. Auf ihr beruhte seiner Sicht nach „unsere Selbstachtung, unsere Standesehre, unser Einfluss auf die Jugend.“43 Die Kritik an dieser vorgeblich „voraussetzungslosen Geschichtswissenschaft“ wurde in Deutschland insbesondere von der katholischen Opposition erhoben, die „die Einsicht formulierte, dass es eine Interpretation ohne ‚bestimmte philosophische, religiöse und moralische Prinzipien‘ nicht geben kann“.44 2. GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND GLAUBE AUS DER SICHT VON ALBERT VON RUVILLE – „UNIVERSITÄTSPROFESSOR IN HALLE“45 In einer Situation, in der jüdische und katholische Historiker unter starkem Druck standen – Baumgarten z.B. ermittelte für das 19. Jahrhundert an fünf protestanti36 FREITAG, Halle. 37 Online abrufbar unter: http://www.catalogus-professorum-halensis.de/meyereduard.html [4.8.2017]. 38 MEIßNER, Universalhistoriker. 39 MEYER, Spirituskreis, S. 72. 40 Ebd., S. 80–82. 41 Vgl. MÜHLPFORDT – SCHENK, Spirituskreis; SCHENK – ME ER, Studien; AUDRING, Gelehrtenalltag. 42 SIMON, Staat, S. 156. 43 MOMMSEN, Universitätsunterricht. 44 SIMON, Staat, S. 156. 45 So der Zusatz zum Verfassernamen, den von Ruville seit der Ernennung zum Professor 1905 in seinen Schriften drucken ließ.

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sche Universitäten 31 katholische Geisteswissenschaftler, von denen acht aus der katholischen Kirche austraten46 – entschied sich von Ruville im Jahr 1909, zur katholischen Kirche überzutreten.47 Ein bemerkenswerter Schritt, wurde doch gerade „in den geschichtlichen Fächern die konfessionelle ‚Reinheit‘ noch strenger als in anderen Disziplinen kontrolliert.“48 Wer war dieser Historiker, der mit diesem Religionswechsel gegen den Strom schwamm? Im April 1888 hatte der 1855 geborene von Ruville beim Militär seinen Abschied genommen, um zu studieren. Er war damals 33 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder. Die Aufgabe einer Stellung als Oberleutnant zugunsten einer ungewissen wissenschaftlichen Laufbahn stieß in seiner Familie offenbar auf wenig Verständnis.49 Als Studienort wählte von Ruville Berlin. Dort war es wohl Reinhold Koser, der von Ruville zu Archivarbeiten in London anregte. 1892 schloss von Ruville sein Studium in Berlin mit einer Dissertation über die preußisch-englischen Beziehungen im Jahre 1762 ab. Das Gutachten seines Erstgutachters Max Albert Wilhelm Lenz, dem sich der Zweitgutachter Paul SchefferBoichorst angeschlossen hatte, schlug für die Arbeit das Prädikat „docte et diligenter scripta“50 vor. Die mündliche Prüfung wurde von den Prüfern zum Teil nur mit „knapp genügend“ bewertet. Auch die Habilitation in Halle sollte sich als Vabanquespiel erweisen: Mit vier zu drei Stimmen wurde sein Habilitationsgesuch an der Philosophischen Fakultät angenommen, am 30. Juni 1896 erhielt er die venia docendi für Mittlere und Neuere Geschichte.51 Seine Lehrtätigkeit leistete von Ruville seitdem ohne Vergütung, er erhielt lediglich Vorlesungshonorare, die je nach der Zahl seiner Studenten und der Anzahl der angebotenen Veranstaltungen einmal höher und einmal niedriger lagen. Daran änderten auch die Verleihung des Professorentitels 1905 und die Ernennung zum außerordentlichen Professor am 31. August 1921 nichts.52 Trotz des Eklats, den seine Konversion 1909/1910 auslöste, konnte er nach seiner Konversion kontinuierlich Lehrveranstaltungen an der Universität Halle anbieten. Semester für Semester bot er ein bis drei Lehrveranstaltungen an, bis 1929 darunter immer eine „gratis“, „privatissime und gratis“ bzw. „privatim.“53 Nur in den Sommersemestern 1899 und 1910 sowie während seines Kriegseinsatzes 1915 bis 1916 lehrte er nicht. Von der plakativen katholi46 BAUMGARTEN, Professoren, S. 116. BAUMGARTEN bezog für den Untersuchungszeitraum 1815 bzw. Eröffnung der Universitäten im 19. Jahrhundert bis 1914 (S. 29) in ihre Studie nur die „planmäßigen und persönlichen Ordinarien“ mit ein, nicht Privatdozenten und Extraordinarien (S. 27). Sie wertete hauptsächlich Daten für die Universitäten in Berlin, München, Göttingen, Heidelberg, Kiel und Gießen aus (S. 23). 47 SCHASER, Propagandaprofessor. 48 KOLÁ , Geschichtswissenschaft, S. 418. 49 KOCH, Ruville. 50 Promotionsakte im Archiv der Humboldt Universität zu Berlin, Phil. Fak. 309 Bl. 436–475. 51 Universitätsarchiv Halle, Rep 21 Phil. Fak. Nr. 25, Fakultätsakten 1893Ð1897. 52 Universitätsarchiv Halle, PA 13442. 53 Das ergab die Auswertung der gedruckten Vorlesungsverzeichnisse der „Königlich vereinigten Friedrichs-Universität Halle Wittenberg“ im Universitätsarchiv Halle, in denen zu dieser Zeit handschriftlich die Zahl der Teilnehmer ebenso wie die ausgefallenen Veranstaltungen vermerkt wurden.

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schen Perspektive scheint er sich in seinen Lehrveranstaltungen zugunsten einer deutschnationalen Orientierung gelöst zu haben. Seine thematischen Schwerpunkte in der Lehre waren die deutsche Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Nationalstaatsbildung vom Großen Kurfürsten bis zur Reichsgründung 1871, die Kolonialgeschichte von den Kreuzzügen bis zur Gegenwart, englische Geschichte und Militärgeschichte. Seit 1910 waren seine Lehrveranstaltungen im Rahmen der „Kolonial- und Auslandswissenschaften“ angesiedelt, die damals in Halle neu eingerichtet wurden. Zum Teil wurde seine Lehre seitdem in den Vorlesungsverzeichnissen parallel für das Fach Geschichte und in den „Kolonialwissenschaften“ ausgewiesen. Über weite Strecken boten Ordinarien Veranstaltungen zu denselben Themen an, von Ruville stand also in direkter Konkurrenz zu den ordentlichen Professoren des Historischen Seminars. Bei den Studenten scheint er akzeptiert und beliebt gewesen zu sein. Um 1900 zählte von Ruville also zu dem wachsenden Heer von Privatdozenten und Extraordinarien, die sich vor dem Ersten Weltkrieg „zu mehr als drei Viertel (80%) in Nicht-Ordinarienvereinigungen“54 organisierten. Zu dieser Zeit stieg nicht nur die Zahl der Studenten, sondern auch die der auf Lehrstühle hoffenden Privatdozenten stark an. Deren Situation hatte sich durch die Einführung der schriftlichen Habilitation zwischen 1880 und 1900, die den Zugang zu den Professuren regeln sollte, nicht entspannt.55 Auch wenn einzelne Privatdozenten immer wieder von den etablierten Kollegen unterstützt wurden, indem sie Professorentitel und Bezahlung für ihre Kollegen forderten,56 blieb die finanzielle Lage der Nicht-Ordinarien schwierig. So versuchten viele, durch umfangreiches Publizieren ihr Einkommen aufzubessern. Dabei mussten sie nach Themen suchen, die ein großes Lesepublikum versprachen. Dies stellte eine Gratwanderung für die Vielschreiber ohne Lehrstuhl dar: Wenn sie diesen Arbeiten Literatur zugrunde legten und nicht umfangreiche Quellenstudien betrieben, wurde das von den Fachkollegen häufig kritisiert.57 Die Universität Halle (1694 gegründet), eine der mittelgroßen Universitäten um 1900, galt damals als „renommierte Aufstiegsuniversität.“58 In den Arbeiten zur Geschichte der Universität Halle wird von Ruville bis auf den Eintrag in den Professorenkatalog nicht thematisiert.59 Nach dem Wirbel um seine Konversion 1909 und diversen Schriften und Gegenschriften wollte er nach eigenen Angaben eigentlich gerne zu seinen „geschichtlichen Forschungsarbeiten zurückkehren.“60 54 BAUMGARTEN, Professoren, S. 116; VOM BRUCH, Universitätsreform. 55 SAXER, Vermittlungsweisen, S. 42. 56 So etwa 1903 für Theo Sommerlad, der in Halle die Wirtschafts- und Sozialgeschichte vertrat; vgl. HERTNER, Teilfach, S. 193–206. 57 Vgl. dazu die Kritik an den Arbeiten von Martin Philippson bei STAMM-KUHLMANN, Borussentum, S. 116f. 58 BAUMGARTEN, Professoren, S. 201. VOM BRUCH, Rez. BAUMGARTEN, Professoren. 59 Online abrufbar unter: http://www.catalogus-professorum-halensis.de/ruvillealbertvon.html [8.8.2017]. Sein Name wird auch nicht erwähnt in: FREITAG, Halle. Ebenso fehlt sein Name in den Arbeiten zum Spirituskreis, vgl. Anm. 39. 60 VON RUVILLE, Vorwort, in: DERS., Goldgrund, S. V-IX, hier S. V.

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Da er nun jedoch davon überzeugt war, dass es „an der Wiedergeburt der katholischen Geschichtswissenschaft, d.h. der auf die ewige Wahrheit gegründeten“ Geschichtswissenschaft zu arbeiten gelte,61 schrieb er ein programmatisches Buch dazu, dem er den Titel ‚Der Goldgrund der Weltgeschichte‘ gab. Von Ruville knüpft in seiner Darlegung der katholischen Geschichtswissenschaft an die Diskussionen im Fach an und zog die postulierte Objektivität der universitären (preußischen) Geschichtsschreibung in Zweifel. Das Inhaltsverzeichnis strapaziert den Terminus Gold aus dem Titel in verschiedenen Varianten: Mit „Goldadern“ und „Der Goldtempel“ sind die beiden ersten Kapitel überschrieben, das vierte, fünfte und sechste Kapitel mit „Die Goldbrücke“, „Das Goldgerüst“ und „Malen im Goldnetz“. Lediglich das dritte („Nachbildungen“) und sechste Kapitel („Verzeichnungen“) kommen aus gutem Grund unvergoldet daher: Hier werden die Entwicklung des Protestantismus und die protestantische Geschichtsschreibung thematisiert. Gold steht hier für die Wahrheit, die göttliche Wahrheit, die Basis des Lebens und der Wissenschaft. Von Ruville erklärt in diesem Buch den Katholizismus als Voraussetzung für die professionelle Geschichtsschreibung, da der Katholizismus die wahre Religion sei und der Geschichtswissenschaft daher als Wahrheitsgrundlage dienen müsse. Er erinnert daran, was „die katholische Kirche der Menschheit an Werten geschenkt“ habe und welche „wirkliche, praktisch verwertbare Wahrheit“ sie bereit stelle.62 Seine Schlussfolgerung lautet: „Es gibt keinen religiösen Indifferentismus, auch in der Wissenschaft nicht, sondern nur wahre oder falsche Religionsanschauungen. Bei sonst sachgemäßen Verfahren führt die wahre Anschauung zu richtigen, die falsche zu unrichtigen Ergebnissen.“63 Er antizipiert in diesem Buch, dass die Mehrheit der Historiker die Quellenkritik von der religiösen Überzeugung zu trennen suchte. Sie gilt als ein besonders unabhängiges Gebiet, wo es die wissenschaftliche Technik zur Meisterschaft gebracht habe. Hier soll nur die strenge Methode herrschen. Darin liegt aber eben ein tief eingewurzeltes Vorurteil, eine Spezialisteneinseitigkeit verborgen. Unter Methode wird nur die philologische Untersuchung, die Schrift- und Sprachvergleichung, die diplomatische Prüfung, die Feststellung der Abhängigkeiten, die zwischen den Schriften und Werken bestehen, und ähnliches verstanden. Das sind alles sehr schöne und wichtige Dinge, die nicht unterschätzt werden dürfen. Aber einmal sprechen hier überall die Auffassung, die Gedankenwelt, der Glaube des Autors in bedeutsamer Weise mit. Ob man so oder so interpoliert, ob man diese oder jene Beziehung annimmt, hängt doch gar sehr von der Stellung des Schreibenden zum Inhalt, von seinem Ideengang, also in letzter Linie von seiner Weltanschauung ab.64

Damit rührte von Ruville an den Grundfesten des Wissenschaftsverständnisses der etablierten Historiker, die Religion und Wissenschaft in getrennten Sphären behandelt wissen wollten und ihren (protestantischen) Glauben außerhalb der Berufswelt verankert sahen. 61 62 63 64

Ebd., S. VIII. Ebd., S. VII. Ebd. Ebd., S. 213.

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Wie nicht anders zu erwarten, wurde das Erscheinen des Buches in katholischen Kreisen begrüßt und gefeiert. „Binnen weniger Wochen“, konnte man im Katholik 1913 lesen, „war die erste Aufl[age] dieser Schrift vergriffen“ und wurde das 5.-7. Tausend gedruckt.65 „In siegreicher Beweisführung und mit scharfen Streiflichtern auf die historischen Forschungsmethoden wendet sich der Verfasser gegen die Losung von der Ausschaltung allen Übernatürlichen aus der Geschichtsforschung (Ranke, Schlosser, Lindner, auch Harnack u.a.)“.66 Auch im Historischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft wurde der Erfolg des Buches erwähnt und maßgeblich dem Namen des Verfassers zugeschrieben. Dennoch kritisierte der Rezensent, dass sich Ruville wohl doch zu wenig in der katholischen Forschung auskenne, wenn er fordere, dass das katholische Geschichtsbild „selbstverständlich … immer wieder mit den Quellen und Forschungsergebnissen konfrontiert werden“ und nötigenfalls abgeändert werden müsse.67 Anders sah dies Hans Preuss in seiner Rezension im streng lutherischen Theologischen Literaturblatt: Er urteilt, dass „der bekannte Konvertit“ seine These, dass die Weltgeschichte nur vom Standpunkt des Katholizismus aus zu verstehen sei, nicht unter Beweis stellen könne. Bei aller Kritik an dem Buch weist auch Preuss der von Ruville erhobenen Forderung nach einem religiösen Verständnis der Weltgeschichte „neben, ja über der streng wissenschaftlichen Forschung“ größte Bedeutung zu: „Nachdem die Detailarbeit zur Myopie zu führen gedroht hat, sehnt sich unsere Zeit nach einer zusammenschauenden Betrachtung der Geschichte, nach dem Verständnis ihres Sinnes, der nur dem Frommen sich erschliessen kann“.68 Ähnlich fällt das Urteil von Carl Mirbt in der Theologischen Literaturzeitung69 aus, wobei der Rezensent noch „die Vorliebe des Verfassers für bildliche Redeweise“, insbesondere das in unterschiedlichen Kombinationen auftretende Gold kritisiert.70 In der Deutschen Literaturzeitung wird das Buch des „Konvertiten Ruville“ als „eine Apologie der katholischen Kirchenlehre als Geschichtsprinzip“ bezeichnet.71 Die Inhaltsangabe endet mit dem Hinweis, dass „die kirchliche Zensur gerechtfertigt und die katholische Voreingenommenheit als notwendig hingestellt [wird]. Eine Kritik des Inhalts erübrigt sich wohl.“72 Ähnlich urteilte Köhler in der Theologischen Rundschau. Er schreibt zu dem Buch des „durch seinen Uebertritt zum Katholizismus bekannt gewordenen Hallenser Historiker[s] A. v. Ruville“:73 „Es liegt allerdings eine ganze Welt zwischen v. R[uvilles] geschichtlicher Methode und dem, was man gemeinhin wissenschaftlich nennt.“74 Für die etablierten Historiker hatte sich Ruville mit diesem Buch nicht nur an den Rand 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Rezension zu: VON RUVILLE, Goldgrund, in: Der Katholik. Ebd. GRUPP, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund. PREUSS, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund, das Zitat Sp. 58. Die 1875 gegründete Rezensionszeitschrift galt als Organ der sog. „liberalen Theologie“. MIRBT, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund, das Zitat Sp. 405. BRAUN, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund, Sp. 1584. Ebd., Sp. 1585. KÖHLER, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund, S. 240. Ebd., S. 242.

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der Geschichtswissenschaft manövriert. In ihren Augen hatte er sich damit von der Wissenschaft verabschiedet. Neben den Besprechungen in katholischen und protestantischen Theologieund Literaturzeitschriften findet sich auch eine Rezension von Walter Goetz in der Historischen Zeitschrift. Er sah Ruville „rüstig in den Görresschen Spuren“75 wandern. Auch Goetz schien es dabei „zwecklos, in eine Diskussion mit Anschauungen einzutreten, die sich … außerhalb jeder wissenschaftlichen Erkenntnis befinden.“76 Welche Schlussfolgerungen zog von Ruville nun für seine zukünftigen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten aus seinen programmatischen Überlegungen? Er widmete sich weiterhin überwiegend mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Themen und versuchte, breite Leserkreise zu erreichen. Seine Überzeugung von der Wahrheit der katholischen Positionen blieb weiterhin die Basis seiner Schriften. Dennoch wurden seine Bücher nicht durchgehend abgelehnt. Albert von Ruvilles Buch zu den Kreuzzügen, das er nicht anhand der Quellen erarbeitet hatte, wurde wegen der katholischen Grundhaltung zwar meist kritisch, zum Teil aber auch lobend als gut zu lesende Übersicht auf neuestem Forschungsstand vorgestellt, die den „kolonialen Charakter“ der Kreuzzüge betone.77 Seine im Rahmen der Kolonial- und Auslandswissenschaften in Halle entstandenen historischen Abhandlungen lagen wohl so im Trend der Zeit, dass sie nicht immer als „katholische Geschichtsschreibung“ stigmatisiert wurden. Am Ende des Ersten Weltkriegs galt von Ruville als „Fachmann für englische Geschichte“.78 Schon seine dreibändige Biographie zu William Pitt79 war von deutschen und englischen Kollegen gelobt worden. Von Ruville wurde bescheinigt, mit dieser Darstellung eine Forschungslücke gefüllt zu haben und durch die Auswertung neuer Archivalien sowie durch intensives Studium publizierter Quellen „häufig zu neuen Resultaten“ gelangt zu sein.80 Seine Erfahrungen als Militär sowie seine Archivarbeiten in England trugen zur Festigung seines Rufes als England-Kenner im Ersten Weltkrieg sicherlich bei. Der 1917 gehaltene und ein Jahr später publizierte Vortrag zu den englischen Friedensschlüssen81 etwa wurde weitgehend positiv unter aktuellen politischen Gesichtspunkten besprochen. Die Kritik richtete sich in zwei Rezensionen lediglich gegen die als zu englandfreundlich empfundenen Passagen bzw. Ergebnisse.82 Die gemeinsame nationale Grundhaltung ließ hier wohl die konfessionellen Gegensätze in den Hintergrund treten. Die insgesamt zurückhaltende Resonanz auf von Ruvilles Arbeiten macht zuletzt deutlich, dass Albert von Ru75 GOETZ, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund, S. 149. 76 Ebd., S. 150. 77 GERLAND, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund, das Zitat 525; FICKER, Rez. RUVILLE, Goldgrund; STERNFELD, Rez. VON RUVILLE, Goldgrund. 78 KRAUSE, 7. Juli, S. 245. 79 VON RUVILLE, William Pitt. 80 WEBER, Rez. VON RUVILLE, William Pitt, S. 504. 81 VON RUVILLE, Friedensschlüsse. 82 MICHAEL, Rez. VON RUVILLE, Friedensschlüsse; JANTZEN, Rez. VON RUVILLE, Friedensschlüsse.

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villes Geschichtsschreibung öffentlich wohl wenig rezipiert worden ist. Wie weit die überwiegend skeptische Haltung gegenüber seinen Werken nach 1909 seiner „katholischen Grundhaltung“ geschuldet war und inwieweit die bereits vor der Konversion bei der Kritik an seiner Habilitationsschrift anklingenden Vorbehalte gegenüber dem spätberufenen Historiker die Marginalisierung seiner Arbeiten förderten, geht aus den Rezensionen nicht immer hervor. Der Eindruck, die Konversion und das Buch Goldgrund der Weltgeschichte hätten zum Ausschluss von Ruvilles aus der Geschichtswissenschaft geführt, bestätigt sich jedoch nur, wenn man die Reaktionen auf die öffentliche Diskussion seines Religionsübertritts und die Rezensionen zum Goldgrund der Weltgeschichte isoliert betrachtet. Ruville lehrte, forschte, publizierte weiter und seine Arbeiten wurden rezensiert. Als von Ruville am 5. Juni 1934 starb, informierte sein in Hamburg lebender Sohn die Universität über seinen Tod. Auf der Trauerfeier, die am 9. Juni 1934 gehalten wurde, legte der Mediävist Walther Holtzmann im Namen der Fakultät einen Kranz am Grabe von Ruvilles nieder und würdigte sein wissenschaftliches Lebenswerk. Die Konversion des Kollegen, der laut Todesanzeige „wohlvorbereitet durch den Empfang der heiligen Sakramente der römischkatholischen Kirche“ verstorben war, erwähnte Holtzmann nicht.83 Die Universität schien mit diesem katholischen Kollegen ihren Frieden gemacht zu haben. Mögen die Unterschiede zwischen Katholizismus und Protestantismus auch noch so groß gewesen sein: Von Ruville gelang es, als Patriot, Nationalist und Angehöriger eines Adelsgeschlechts, in dem Staatsloyalität seit Ende des 18. Jahrhunderts wohl mehr zählte als konfessionelle Zugehörigkeit, diese beiden Welten in seiner Person zu vereinen, auch wenn diese Kombination im privaten und beruflichen Umfeld nicht immer konfliktfrei herzustellen war. Heute fällt beim Lesen der Schriften zur deutschen und englischen Geschichte von Ruvilles weniger das Trennende als das Gemeinsame der deutschen Nationalgeschichtsschreibung um 1900 auf. 3. FAZIT Mindestens vier „Glaubenssätze“ kennzeichneten die universitäre Geschichtswissenschaft um 1900: Historiker waren mehrheitlich davon überzeugt, dass die deutsche Geschichtswissenschaft eine Führungsrolle bei der Professionalisierung dieser Wissenschaft einnahm, dass die Geschichte eine grundlegende Bedeutung für den Nationalstaat habe, dass bei der Besetzung von Lehrstühlen die Qualitätsstandards nur durch Kooptionsverfahren deutscher Professoren garantiert werden könnten und dass professionelle Geschichtswissenschaft nicht mit katholischem Glauben zu vereinbaren sei. Katholische Geschichtsforschung und universitäre Geschichtswissenschaft stellten sich um 1900 den Zeitgenossen in der Öffentlichkeit als Gegensätze dar, die nur wenige Berührungspunkte aufzuweisen schienen. Polemische Auseinan83 Universitätsarchiv Halle, PA 13442.

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dersetzungen wie sie z.B. zwischen Theodor Mommsen und Georg von Hertling 1901 in den Münchner Neuesten Nachrichten ausgetragen wurden, stießen auf ein großes Echo. Dies war nicht nur in Deutschland so; auch in Frankreich und in den USA wurden solche konfessionellen Auseinandersetzungen geführt und katholische Historiker marginalisiert.84 Gleichzeitig betonten Katholiken immer wieder ihre Begeisterung für Kaiser und Reich, wenn etwa der katholische Studentenverein „Germania“ 1895 auf seinem 30jährigen Stiftungsfest in Münster ein Stück aufführte, in dessen letztem Akt beim Klang der Nationalhymne „Germania im glänzenden Waffenkleide … dem Kaiser Wilhelm die Krone auf das Haupt“85 setzte. Von Ruville qualifizierte sich in seiner Zunft durch seine Beiträge zur deutschen Nationalgeschichtsschreibung und die Legitimierung nationaler Forderungen wie die nach Kolonien. An von Ruville lässt sich zeigen, dass Werk und Lehre einzelner Historiker durchaus differenzierter rezipiert und gewürdigt wurden, als die Konzentration auf polemische Schriften vermuten lassen, die anderen narrativen Regeln folgten als die fachwissenschaftlichen Beiträge. Vielleicht war es gerade die „Akzentverlagerung auf den Forschungsprimat“ in deutschen Universitäten um 1900, dem auch von Ruville folgte, die „eine Nivellierung der sozialen und konfessionellen Ständeschranken nach sich“ zog.86 Die im 19. Jahrhundert entwickelte Nationalgeschichtsschreibung stellte das verbindende Element für Neuzeithistoriker verschiedener Konfessionen dar und prägte und prägt die europäische, westliche und christliche Geschichtsschreibung bis heute. „Sie ist ein hervorragendes Mittel, um Euroskepsis zu nähren, Territorien einzufordern und ‚Fremde‘ auszugrenzen oder auch nur, um endlich wieder national ‚normal‘ zu werden“, wie Stefan Berger spitz, aber zutreffend formulierte.87 Die Grundwerte dieser Geschichtsschreibung, die alle übrigen Gebiete, Religionen und Gesellschaften dieser Welt zum „Anderen“ erklärte, hatte Mahatma Ghandi wohl im Blick, als er erklärte: „I believe in the saying that a nation is happy that has no history“.88 Soweit wird man als Historikerin nicht gehen wollen. Sicher ist jedoch, dass die heutigen Bemühungen um eine postnationale Geschichtsschreibung hin zu einer globalen Perspektive veränderte Arbeitsweisen und Sichtweisen verlangt. Neue Denkansätze, Methoden und Formen der Zusammenarbeit sind gefragt. Auch das Bild der Geschichtswissenschaft um 1900 wartet hier noch auf Neuinterpretationen. Da immer noch Studien zu vielen geschichtswissenschaftlichen Instituten und zu einzelnen Historikern und deren Werken fehlen, bleibt zu erforschen, welche Bedeutung der Konfessionszugehörigkeit in der Geschichtswissenschaft zukommt und wie sich das Verhältnis zwischen katholischen und protestantischen (und jüdischen) Historikern im beruflichen Alltag gestaltete. Konvertiten scheinen dabei nicht nur in dem geschilderten Fall eine be84 85 86 87 88

ALLITT, Catholic Converts, S. 237–246. XXX. Stiftungsfest des katholischen Studentenvereins „Germania“, hier S. 17. HÜBINGER, Rez. PALETSCHEK, Die permanente Erfindung. BERGER, Nationalgeschichte, S. 154. GHANDI, Jail Experiences, S. 183 und 187, zitiert nach LAL, Empire, S. 122.

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sondere Rolle gespielt zu haben. Einige provozierten und polarisierten, andere wiederum betätigten sich als Brückenbauer zu den Nichtkatholiken, wie etwa Christopher Dawson (1889–1970) in England und Carlton Hayes (1882–1964) in den USA.89 BIBLIOGRAPHIE Unveröffentlichte Quellen Archiv der Humboldt Universität zu Berlin, Phil. Fak. 309 Bl. 436Ð475. Universitätsarchiv Halle, PA 13442. Universitätsarchiv Halle, Rep 21 Phil. Fak. Nr. 25, Fakultätsakten 1893Ð1897.

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POLITIK UND WISSENSCHAFT WÄHREND DER ETABLIERUNG EINER UNIVERSITÄREN MITTELALTERHISTORIE: JULIUS VON FICKER Christoph Dartmann, Hamburg

Wer das römische Pantheon besichtigt, stößt auf die monumentalen Gräber der italienischen Könige Vittorio Emanuele II. († 1878) und Umberto I. († 1900). Die Ikonographie beider Gräber, die sich in halbrunden Nischen gegenüberliegen, stilisiert die beiden ersten Monarchen des neuen italienischen Königreichs zu Nachfolgern der mittelalterlichen Herrscher im regnum Italiae: Beide Gräber inszenieren als zentrale Elemente ihrer Ikonographie Nachbildungen der ‚Eisernen Krone‘, eines frühmittelalterlichen Originals, das bis heute im Schatz des Doms von Monza erhalten ist.1 Seinen Namen trägt der aus sechs verzierten Goldplatten bestehende frühmittelalterliche Kronreif, weil in seinem Inneren ein Metallreif angebracht ist. Der Legende nach ist dieser eiserne Reif aus einem der Nägel angefertigt worden, mit denen Christus ans Kreuz geheftet worden ist. Königin Theodelinde soll die Krone gestiftet haben, mit der dann zunächst die Langobarden, dann die Franken und ihre ostfränkisch-deutschen Nachfolger zu Königen des regnum Italiae gekrönt worden sind – jenes Italischen Königreichs, das weite Regionen Ober- und Mittelitaliens umfasste. Auch wenn die Forschung mittlerweile die Entstehung der Krone aufs 9. Jahrhundert datiert und sie keineswegs kontinuierlich Verwendung fand, fungiert sie bis heute als Symbol für italienische Königsherrschaft im Frühmittelalter.2 Es liegt auf der Hand, dass die Evokation der Eisernen Krone auf den Gräbern im Pantheon Vittorio Emanuele II. und Umberto I. bzw. das neue Königreich Italien in die Tradition des mittelalterlichen Königtums stellt. Allerdings war diese Inanspruchnahme mittelalterlicher Traditionen alles andere als selbstverständlich. Schließlich fungierten die nordalpinen Kaiser bis zu den Habsburgern in Personalunion auch als Könige eines Reichs in Nord- und Mittelitalien. Bis 1866 waren die Habsburger die wichtigsten Gegner des Risorgimento, der Zusammenführung Italiens unter der Regierung des Kö1

2

BUCCELLATI – AMBROSIONI, Corona; NAHMER, Krone. Zur umstrittenen Nutzung der Krone als Symbol des neuen italienischen Nationalstaats vgl. MAYER, Mythos, S. 285–293; vgl. auch BONNEFOIT, Italia Canovas, S. 36–59. Diese ikonische Qualität der Eisernen Krone zeigt sich unter anderem daran, dass sie als Symbol für das wichtigste italienische Institut zur Erforschung des Frühmittelalters genutzt wird, des Centro italiano di studi sull’alto medioevo in Spoleto. Zu seiner Geschichte vgl. MENESTÒ, Omaggio.

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nigshauses Savoyen. Hinter dem bis heute sichtbaren monumentalen Rekurs auf das Mittelalter im Dienste der Entfaltung einer neuen politischen Ordnung verbirgt sich also eine kontroverse, bis in tagespolitische Fragen hineinreichende Auseinandersetzung. Wie strittig die invention of tradition war, wird selbstverständlich in der Ikonographie der Gräber nicht transparent gemacht.3 Das Mittelalter wird also in sehr direkter Weise zum politischen Argument im Gewand überzeitlicher Kontinuität und überzeitlichen Konsenses. Damit wird das Mittelalter zugleich als eigene Vorgeschichte konzipiert, nicht als ferner idealisierter Ursprungsmythos, sondern als Epoche mit unmittelbarer Relevanz für die Gegenwart. Die folgenden Ausführungen sollen der Frage nachgehen, wie weit sich Geschichtswissenschaft von politischer Aktualität abgekoppelt hat und abkoppeln kann. Denn es liegt ja auf der Hand, dass zumindest in Deutschland das Mittelalter in aller Regel nicht mehr herangezogen wird, um Argumente für die Diskussion drängender Gegenwartsfragen zu finden. So käme im 21. Jahrhundert wohl kein prominenter Politiker auf die Idee, sich in die Tradition eines mittelalterlichen Herrschers zu stellen oder etwa die föderalistische Struktur der Bundesrepublik Deutschland unter Rekurs auf die Beziehung zwischen Heinrich dem Löwen und Friedrich Barbarossa zu erörtern.4 Als sich die moderne Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert als universitäre Disziplin breit etablierte, sah das noch völlig anders aus. Verfolgt man etwa die Darstellung Friedrich Barbarossas in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, sticht ins Auge, wie ungefiltert politische Optionen und Gegenwartsinteressen aufs Mittelalter projiziert wurden.5 Das gilt nicht nur für den prominenten und immer wieder behandelten Streit zwischen Sybel und Ficker über die Bewertung des mittelalterlichen Kaisertums der Ottonen, Salier und Staufer oder für prominente politische Historiker wie Sybel selbst, sondern auch für weitaus weniger exponierte Fachvertreter. Zumindest bis in die 1860er Jahre hinein war die Grenze zwischen Politik und Geschichtswissenschaft und insbesondere auch zwischen der geschichtswissenschaftlichen Erforschung und der politischen Bewertung des Mittelalters permea3 4

5

Zur Erfindung vermeintlich alter Traditionen im Dienste moderner Nationalstaaten grundlegend HOBSBAWM – RANGER, Invention. Selbst das von damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten gezeichnete Vorwort zum 1995 erschienenen Ausstellungskatalog „Heinrich der Löwe und seine Zeit“ verzichtet auf den vielleicht naheliegenden Gedanken, das Thema der nationalen oder gar europäischen Bedeutung eines hochmittelalterlichen ‚Landespolitikers‘ zu thematisieren, und betont vielmehr die Distanz zwischen mittelalterlicher Vergangenheit und bundesrepublikanischer Gegenwart: SCHRÖDER, Geleitwort, S. 5. Ob die rechtsradikale Geschichtsklitterung der Gegenwart auch zur Auferweckung von Wiedergängern aus der Asservatenkammer nationalchauvinistischer Mythen des deutschen Mittelalters führen wird, bleibt abzuwarten. Das Kyffhäusermonument erfährt jedenfalls eine neue Aufmerksam in diesem Sinne. Vgl. die Versuche Alexander Gaulands, ausgerechnet dort ein neues Geschichtsbewusstsein in Deutschland zu lancieren: SABINE AM ORDE, Gauland relativiert NS-Verbrechen, in: taz Online, vom 15.09.2017, online abrufbar unter: http://www.taz.de/!5447579/ 16.11.2017]. Hier und im Anschluss greife ich eigene Ergebnisse auf: DARTMANN, Weise. Vgl. auch die anderen Beiträge in diesem Sammelband.

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bel. Die Darstellung und Bewertung hochmittelalterlicher Geschichte wurde zum Beispiel im Vormärz genutzt, um zugleich über die Frage deutscher Nationalstaatlichkeit, über die Stellung von Monarchen, Adeligen und Bürgern in einem Gemeinwesen oder auch über die Beteiligung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an einer Fortschrittsgeschichte zu diskutieren. Dabei lassen sich die politischen Positionen der Historiker und ihre fachlichen Bewertungen zum Teil sehr eng aufeinander beziehen, etwa wenn an Material des 12. oder 13. Jahrhunderts das Modell einer konstitutionellen Monarchie durgespielt oder wenn das Verhältnis zwischen systematischer Entfaltung staatlicher Strukturen und der Anerkennung traditionaler Rechtspositionen reflektiert wird.6 Auch die Verarbeitung der gescheiterten Revolution von 1848/49 schlug sich sehr unmittelbar in historiographischen Werken nieder, die jetzt nationalgeschichtliche Positionen sehr viel schärfer akzentuierten, um zum Beispiel, wie Johann Gustav Droysen, die preußischen Hohenzollern als Träger eines deutschen Nationalgedankens in ideeller Form an die Herrscherdynastie der Staufer ‚anzusippen‘. Somit setzten Heinrich von Sybel und Julius Ficker in ihrer Kontroverse über die Bewertung der mittelalterlichen Kaiserpolitik, die aus einem Vortrag Sybels vom November 1859 resultierte, die Tradition einer höchst politischen, auch direkt tagespolitische Problemlagen adressierenden Mittelalterforschung fort, die sich seit der Restaurationszeit etabliert hatte. Das änderte sich zumindest hinsichtlich der Geschichte des hochmittelalterlichen Kaiserreichs grundlegend. Auf den ersten Blick erscheint es paradox: In dem Moment, in dem es endlich einen Deutschen Kaiser gab, entfernte sich zumindest die Forschung zur mittelalterlichen Kaisergeschichte vom politischen Alltag und wurde das Geschäft von Fachleuten, die immer weniger darum bemüht waren, ihre Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Diese Professionalisierung und dieser Verlust öffentlicher Relevanz erscheint umso paradoxer, als zugleich die Geschichtskultur des Kaiserreichs von 1871 in vielfältigsten Formen das Mittelalter evozierte.7 Wilhelm I. selbst wurde in die Tradition mittelalterlicher Herrscher gestellt, und zugleich wurde oder blieb das Mittelalter ein wesentlicher Bestandteil dessen, was aus moderner Perspektive als Geschichtsfolklore erscheinen könnte, aber zu wichtigen Elemente der kaiserzeitlichen Geschichtskultur zählte. Dabei handelte es sich zumindest in Teilen um politisch-ideologisch höchst aufgeladene, aufwendig gestaltete Ensembles aus historischen oder historistisch gestalteten ‚Bühnen‘ und ‚Kulissen‘, die in vielfältiger Weise ‚bespielt‘ wurden. Zu den Erinnerungsorten im wörtlichen Sinne zählen die stark rekonstruierend restaurierten Artefakte des Mittelalters ebenso wie neu errichtete Monumente, also etwa die wiedererrichtete und neu ausgestattete Kaiserpfalz in Goslar oder der 1880 eingeweihte Kölner Dom, aber ebenso das 1890 begonnene Barbarossadenkmal auf dem Kyffhäuserburgberg. Derartige Monumente konnten die Kulisse für historische Feste und Umzüge darstellen, in denen das Mittelalter in Wort und Musik, aber ebenso in entsprechenden Kostümierungen evoziert wurde. 6 7

DARTMANN, Weise, S. 138–146; vgl. auch KEUPP, Strukturverweigerern. Hier und im Anschluss DARTMANN, Weise, S. 155–167.

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Die Parallelisierung des Deutschen Reichs von 1871 mit dem mittelalterlichen Kaiserreich trug zu einer starken Präsenz des Mittelalters in der politisch geprägten Geschichtskultur des späteren 19. Jahrhunderts bei. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass die universitäre Geschichtsforschung sich zunehmend spezialisierte und aus der Öffentlichkeit zurückzog. An die Stelle pointierter, auch tagespolitische Aktualität suchender Wertungen trat eine methodisch zunehmend verfeinerte Forschungsarbeit, deren Ergebnisse kaum noch über die Kreise der Experten hinaus zu vermitteln waren. Daneben standen breiter wirkende Darstellungen wie die ‚Geschichte der deutschen Kaiserzeit‘, an der Wilhelm von Giesebrecht bis zu seinem Tod im Jahr 1889 arbeitete und deren letzter Band erst posthum 1895 erschien, oder die weitaus konziseren ‚Bilder aus der deutschen Vergangenheit‘ von Gustav Freytag.8 Beide Werke wurden zwar in mehreren Auflagen gedruckt, fanden aber in der Mediävistik allenfalls eingeschränkt Anerkennung. Im Fall von Freytags Werk verwundert es nicht, da er als Journalist und Schriftsteller eine glänzende Karriere machte, in der er sich rasch vom universitären Milieu entfernte. Von Giesebrecht übernahm als Nachfolger Sybels die Leitung des Historischen Seminars an der Münchener Universität, befand sich aber in seiner vornehmlich an der Historiographie des Mittelalters orientierten Darstellungsweise methodisch nicht auf der Höhe der aktuellen Entwicklung der Geschichtswissenschaft im kaiserzeitlichen Deutschland.9 Die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte und ihre publikumswirksame Darstellung waren auseinandergetreten. Julius Ficker (1826–1902), von 1852 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst 1879 Professor in Innsbruck, zählt zu den prominentesten Historikern der Generation, die diesen Prozess der Professionalisierung bei schwindender Breitenwirkung mediävistischer Forschungen maßgeblich geprägt hat. Bis heute ist er vor allem wegen der Kontroverse mit Sybel über die Bewertung des mittelalterlichen Kaisertums in Erinnerung.10 Zugleich hat er aber eine Vielzahl von Grundlagenwerken verfasst, die breites Quellenmaterial erschließen und systematisch präsentieren und deswegen bis in die gegenwärtige Forschung hinein fortwirken. Wegen seiner Prominenz und des langfristigen Fortwirkens seiner Publikationen ist es erstaunlich, dass seit der Biographie, die sein Schüler Julius Jung fünf Jahre nach Fickers Tod veröffentlich hat, keine gründlicheren Beiträge erschienen sind, die sich über die prominente Kontroverse hinaus mit dem Leben und Œuvre dieses Historikers auseinandersetzen.11 Das kann auch an dieser Stelle nicht geleistet 8

Zu Freytag und Giesebrecht DARTMANN, Weise., S. 155–158. Zu Giesebrecht vgl. auch JOHRENDT, Friedrich Barbarossa, S. 190–203. 9 Jedenfalls lassen die Arbeiten Julius Fickers deutlich erkennen, dass er der Auswertung von Urkunden einen weitaus höheren Wert beimaß als der der Historiographie, auf die sich Giesebrecht vornehmlich stützt. So explizit FICKER, Forschungen, S. XII–XIII. Im Vorwort der von ihm überarbeiteten Regesten der späten Staufer von 1881 unterstreicht er ebenfalls sehr nachdrücklich die Erweiterung der Erkenntnisse gegenüber der älteren Vorlage, die vornehmlich auf eine breitere Kenntnis der urkundlichen Überlieferung zurückzuführen ist: BÖHMER – FICKER, Regesten, S. VIII–XI. 10 Vgl. BRECHENMACHER, Gegenwart. 11 JUNG, Julius Ficker, S. 293–302.

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werden. Vielmehr soll gezeigt werden, wie Fickers politisches Engagement der 1860er Jahre auch nach Jahrzehnten noch seine Forschungen prägte, wie eng also für ihn seine vermeintlich apolitische Grundlagenforschung und seine Positionierung in öffentlichen Debatten miteinander verbunden blieben. Zugleich äußerte sich Ficker pointiert zu seinem Selbstverständnis, seine katholische Religiosität mit seinem Ethos als ‚nüchternem‘ Gelehrten in Einklang zu bringen. Damit nimmt Ficker eine besonders ambivalente Stellung ein: Einerseits erscheint er in der Kontroverse mit Sybel als Historiker, dessen Wertungen in sehr unmittelbarer Weise an tagespolitische Debatten anschließen, konkret an der Ablehnung einer protestantisch-preußisch dominierten kleindeutschen Lösung der Frage nach einem Nationalstaat. Andererseits hat er ab den 1860er Jahren Forschungen vorgelegt, die zum Teil bis in jüngste Zeit hinein fortwirken. Deswegen – und zugleich wegen der Verengung seiner Rezeption auf die Kontroverse mit Sybel – soll er im Anschluss als Musterbeispiel für das Ringen um Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit von tagespolitischen Streitpunkten behandelt werden.12 Über den Einzelfall hinaus ermöglicht dieser Zugang, zugleich auch in grundsätzlicher Weise nach der politischen Prägung mediävistischer Forschungsstrategien auch über die 1860er Jahre hinaus zu fragen. Damit kann Geschichtsglauben als Voraussetzung für Geschichtswissenschaft in doppelter Perspektive erfasst werden: einerseits als ein nicht mehr zu begründender Glauben an die Relevanz des eigenen Fachs, andererseits als Interferenz von religiös motivierten Positionsbestimmungen und gelehrter Praxis. Die Kontroverse um die mittelalterliche Kaiserpolitik, die sich anhand der öffentlichen Festrede Heinrich Sybels anlässlich des Geburtstags König Maximilians II. von Bayern vom November 1859 entwickelte, ist vielfach thematisiert worden.13 An dieser Stelle sei lediglich auf folgende beide Aspekte des Sybel-Ficker-Streits hingewiesen. Erstens: Über lange Zeit wurde die Kontroverse zwischen dem Protestanten Heinrich von Sybel und dem Katholiken Julius Ficker vor allem in den Zusammenhang um die Diskussion über eine protestantischkleindeutsche bzw. konfessionell ausgeglichene großdeutsche Antwort auf die Frage nach einem deutschen Nationalstaat gestellt. Jüngere Publikationen betonen hingegen stärker den tagesaktuellen Anlass des Jahres 1859, der zumindest für Sybels Rede einflussreich gewesen sein dürfte: das Ringen um eine Beteiligung Preußens am Krieg der Österreicher gegen das Königreich Sardinien-Piemont. Sollte das auch kurz nach Ende der Kriegshandlungen der Fall gewesen sein, han12 Es entbehrt nicht der Ironie, dass Jung in seiner Biographie Fickers die Übereinstimmung der historischen Ansichten seines Protagonisten mit den Überzeugungen von Bismarcks identifiziert: ebd., S. VI–IX. 13 Die zentralen Texte versammelt: SCHNEIDER, Universalstaat. Es wäre lohnend, diese 1941 zum ersten Mal erschienene Textsammlung in das Panorama der Mediävistik des Dritten Reichs einzuordnen, in der neben ‚Nation‘ und ‚Universalstaat‘ auch ‚Ordnung‘ zu einem Leitbegriff geworden ist, an den nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahtlos angeschlossen werden konnte. Vgl. einstweilen für die Nachkriegszeit KLUGE, Kontinuität. Für ‚Ordnung‘ als Leitkategorie der Mediävistik im Dritten Reich vgl. knapp SCHNEIDMÜLLER – WEINFURTER, Ordnungskonfigurationen, S. 17–18.

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delte es sich bei Sybels Rede um ein klassisches Beispiel wissenschaftlicher Politikberatung. Zweitens blieb die öffentliche Wirksamkeit der Kontroverse zwischen Sybel und Ficker eher eingeschränkt. Als Politiker oder politiknaher Experte wusste Sybel zwar seine Argumente pointiert vorzutragen, aber die Reaktionen Fickers fielen zu detailorientiert und umständlich aus, um noch für einen großen Kreis über das Fachpublikum hinaus verständlich zu bleiben. Zwar erreichten die Wellen der Aufregung auch die überregionale Presse und das Preußische Abgeordnetenhaus, die These von einem Scheitern des deutschen Kaisertums an der Eroberung Siziliens unter Heinrich VI., die Ficker in langatmigen, mit verfassungshistorischen Details gespickten Ausführungen entwickelt, besaß jedoch nicht die gleiche Prägnanz wie Sybels scharfes Urteil über das gesamte deutsche Kaisertum von Otto dem Großen bis zu Friedrich Barbarossa. Ficker argumentierte zwar präziser, wurde dadurch aber für Nichtfachleute uninteressant. Zwischen 1859 und 1862 erschienen von Sybel und Ficker je zwei Schriften, in denen sie ihre Positionen detailliert austauschten, aber zugleich auch in scharfer Form gegenseitig die persönliche Integrität in Zweifel zogen. Nach dem Abebben der Polemik setzte Ficker in den Folgejahren seine Forschungen zur mittelalterlichen Verfassungs- und Rechtsgeschichte fort. Neben umfangreichen „Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens“, deren erster Band 1868 erschien, war Ficker vor allem mit der Verwaltung des Nachlasses von Johann Friedrich Böhmer beschäftigt.14 Dieser Frankfurter Privatgelehrte hatte neben einem ansehnlichen Vermögen auch umfangreiches Material hinterlassen, das er im Zuge seines Projekts einer chronologischen Übersicht über die Quellen zur deutschen Reichsgeschichte des Mittelalters, den sogenannten ‚Regesta Imperii‘, gesammelt hatte. Ficker organisierte einerseits die Fortführung der Arbeiten an diesem monumentalen Regestenwerk, indem er seine eigenen Arbeiten mit denen einiger Schüler koordinierte, die Lücken auffüllen, das Regestenwerk fortsetzen und in Teilen die bereits vorliegenden Regesten von Böhmer überarbeiten sollten. Die Fortführung der ‚Regesta Imperii‘ war möglich, weil Böhmer in seinem Testament Kapital für diesen Zweck bereitgestellt hatte. Ficker selbst sollte 1881 den ersten Band der überarbeiteten Regesten des Kaiserreichs unter den jüngeren Staufern (1198–1272) vorlegen.15 Andererseits sorgte Ficker für den Druck einer umfangreichen Sammlung mittelalterlicher Herrscherurkunden, deren Abschriften sich in Böhmers Nachlass befanden. Neben der Finanzierung der Drucklegung lag die Herausforderung für dieses Projekt darin, sich mit der Berliner Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica (MGH) abzustimmen, deren Urkundenpublikationen in den Diplomata-Bänden den Anspruch erhoben, die gültige und maßstabsetzende Edition der mittelalterlichen deutschen Königs- und Kaiserurkunden zu sein. Deswegen nahm Ficker in seine ‚Acta imperii selecta‘ vor allem Urkunden auf, deren Edition durch die MGH zur damaligen Zeit nicht absehbar 14 Seine eigene Tätigkeit erläutert Ficker in den Vorworten zu den in diesen Jahren entstandenen Publikationen: FICKER, Forschungen, S. V–LIII; FICKER, Acta, S. V–LXVI. Zur Organisation des Nachlasses von Böhmer vgl. auch NIEDERKORN, Julius von Ficker. 15 BÖHMER – FICKER, Regesten, S. VIII–XI.

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war, um sie wenigstens in einer vorläufigen Fassung zugänglich zu machen, wie er in seinem Vorwort unterstreicht – in der von Böhmer übernommenen recht eigenwilligen Orthographie: „Denn es handelte sich ia zunächst darum, so manches, was im harren auf die ausgabe der monumente durch iahrzehnte unbenutzt gelegen hatte, endlich zugänglich zu machen, um eine mehr vorläufige, später durch besseres zu ersetzende publication, deren werth doch auch vorzugsweise dadurch bedingt erscheinen muss, dass sie möglichst bald erscheinend dem nächsten bedürfnisse möglichst lange dienen kann.“16 Diese Urkundensammlung erschien in zwei Bänden im Jahr 1870. Neben dieser Arbeit an der Publikation des von Böhmer nachgelassenen Materials hat sich Ficker in den 1860er Jahren vor allem intensiv mit den in vier Bänden publizierten ‚Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens‘ befasst, einem besonders lang fortwirkenden Werk.17 In seinem Vorwort skizziert er zunächst die Entstehung der Mammutpublikation: Eigentlich sei es ihm nur um eine knappe Abhandlung gegangen, die der Rolle des Richters im mittelalterlichen Gericht, näher dem Hof- und Reichsgericht vor allem im Hochmittelalter gewidmet sein sollte. Ficker war aufgefallen, dass es im deutschen und italienischen Teilreich unterschiedliche Verfahrensweisen gegeben habe. In Deutschland habe der Richter lediglich die Gerichtssitzung geleitet und ein Urteil verkündet, das von dem „Beistand“ des Gerichts – also einer Art Schöffen – gefällt worden sei. In Italien habe hingegen spätestens seit dem Hochmittelalter der Richter selbst das Urteil gefällt. Dieses Verfahren führt Ficker auf den Einfluss des Römischen Rechts zurück, das vor allem seit etwa 1100 immer breiter rezipiert worden sei, und zwar nicht nur in der theoretischen Arbeit der Rechtsschulen, sondern auch allmählich zunehmend in der Rechtspraxis. Die Vertiefung in diese begrenzte Frage habe ihn aber bemerken lassen, dass die gesamte Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens noch nie systematisch erforscht worden sei. Um dieses Defizit der Forschung zu beheben, habe er systematisch Material erhoben, bis das vorliegende monumentale Werk entstanden sei. Dabei habe er vor allem urkundliches Material in großer Breite erschlossen, während für ihn die mittelalterliche Geschichtsschreibung von untergeordneter Bedeutung geblieben sei.18 Nach dieser wissenschaftsimmanenten Begründung der Arbeit kommt Ficker anschließend noch einmal auf seine Auseinandersetzung mit Sybel zu sprechen.19 Diese Passagen belegen vor allem das hohe Maß persönlicher Verbitterung, mit der der Streit um die mittelalterliche Geschichte geführt worden ist. Ficker verweist explizit auf die Unterstellungen, die wechselseitig ausgetauscht worden sind: Grobheit, Erschleichung und Lüge, Ehrabschneidung und Unwissenschaftlichkeit. Mit einiger Genugtuung verweist er darauf, dass in der wissenschaftlichen Debatte die Position Sybels keine Zustimmung gefunden habe, während er Unterstützung erhalten habe – und das auch von Autoren, die Sybel durchaus 16 17 18 19

FICKER, Acta, S. XIX. FICKER, Forschungen. FICKER, Forschungen, Bd. 1, 1868, S. V–XV. Ebd., S. XV–XIX.

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schätzten. Zugleich moniert Ficker, dass Sybel auch weiterhin die Öffentlichkeit von Parlament und Zeitung genutzt habe, um seine Gegner anzugreifen. Jenseits persönlicher Verletzungen und Beleidigungen beinhaltet das Vorwort zur ‚Reichsund Rechtsgeschichte Italiens‘ auch noch einmal in nuce das Wissenschaftsverständnis Fickers: Wissenschaft müsse von „Unbefangenheit der Forschung“ geprägt sein, statt „der lockenden Lehre von der Verarbeitung der Geschichte nach politischen und sittlichen Prinzipien“ nachzugeben20, dürfe nicht auf eine „Nutzanwendung auf moderne Streitfragen“ zielen und damit „politischen Zwecken“ verpflichtet sein.21 Zustimmend zitiert er in diesem Zusammenhang Hermann Reuter, der in einer ‚Geschichte Alexanders III. und der Kirche seiner Zeit‘ 1864 Sybel eine „Vergewaltigung der Geschichte“ vorwirft, weil er als „geistreicher Historiker […] ein Bild der Ohnmacht des grossen Staufers [= Friedrichs Barbarossa] gezeichnet hat, dessen Farben nicht der beglaubigten Ueberlieferung entnommen sind“.22 Wie zentral für Ficker die Differenz zwischen gesellschaftlichpolitischen Überzeugungen und der wissenschaftlichen Arbeit des Historikers war, markiert er zugleich darin, dass er den Vorwurf scharf zurückweist, er handele als Katholik aus ultramontanen Motiven heraus: „er [= Sybel] versucht damit meine Ansicht als Produkt ultramontanen Eifers hinzustellen und die Aufrichtigkeit der von mir ausgesprochenen wissenschaftlichen Ueberzeugungen zu verdächtigen.“23 Diese Unterstellung habe breite Resonanz gefunden: „die ihm [= Sybel] geneigte politische, wie wissenschaftliche Tageslittertur [fand] nicht Worte genug, hervorzuheben, wie gründlich er mich vernichtet habe, insbesondere natürlich auch der ausgegebenen Losung gemäss meinen kirchlichen Standpunkt betonend.“24 Dass Ficker an dieser Stelle noch einmal seinen Streit mit Sybel aufgriff, lässt sich mit dem Schwerpunkt seiner umfangreichen verfassungs- und rechtsgeschichtlichen Studien begründen. Mit den Verhältnissen in Italien während des 12. und 13. Jahrhunderts behandelt dieses Werk aus einer neuen Perspektive genau die Zeit und die Region, die im Zentrum von Fickers These steht, das Kaiserreich sei bis zum Tod Friedrichs Barbarossa in einem vielversprechenden Zustand gewesen und sei erst durch den Erwerb Siziliens und die Verlagerung des Machtzentrums in den Süden entscheidend geschwächt worden, also unter Heinrich VI. und vor allem unter Friedrich II. Diese These rekapituliert er in seinem Vorwort noch einmal in einer kurzen Passage, deren Klarheit sich deutlich von ihren anderen Präsentationen unterscheidet.25 Sie möchte Ficker nicht als Resultat seiner politischen, religiösen oder weltanschaulichen Ideale verstanden wissen, sondern als Ergebnis unbefangener Forschung. Den Einfluss außerwissenschaftlicher Positionen auf die Arbeit des Historikers markiert Ficker nicht nur als methodisches

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Ebd., S. XVI. Ebd., S. XVII und XVIII. Ebd., S. XVI. FICKER, Forschungen, Bd. 1, 1868, S. XVII. Ebd., S. XVIII. Ebd., S. XV.

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Defizit, sondern als moralische Schwäche, als Unaufrichtigkeit, die metaphorisch mit sexueller Gewalt gleichgesetzt wird. Aus diesem Wissenschaftsmodell ergibt sich folgerichtig der Verzicht auf ein tagespolitisches Engagement des Historikers. Überspitzt ließe sich formulieren, dass sich in Fickers Augen die Wissenschaftlichkeit von Fachpublikationen unter anderem daran erweise, dass sie für Leserinnen und Leser jenseits der Wissenschaft uninteressant seien. Ficker ist sich durchaus bewusst, dass seine umfang- und detailreichen Studien zur italienischen Rechtsgeschichte kaum ein breiteres Publikum erreichen konnten. In den Schlussbemerkungen zum dritten Band erörtert er, warum er darauf verzichtet hat, seine Erkenntnisse in die Form einer „erzählende[n] Darstellung“ zu bringen, „welche geeignet wäre die Ergebnisse auch einem weitern Leserkreis […] zugänglich zu machen.“ Stattdessen habe er sich dazu entschieden, nicht nur „Ergebnisse der Forschung, sondern die Forschung selbst“ vorzulegen mit dem Ziel, seine Darlegungen intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten.26 Diese Darstellungsform ist wohl dafür verantwortlich, dass Fickers ‚Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens‘ über Generationen hinweg nicht lediglich als Quellen zur Geschichte der Geschichtswissenschaft rezipiert worden sind, sondern zumindest in Teilen die Forschung nachhaltig geprägt haben. Das lässt sich besonders deutlich an Publikationen ablesen, die die Regierung Friedrichs II. in Ober- und Mittelitalien in den letzten Jahren vor seinem Tod thematisieren. Ihr widmet Ficker am Ende des 1869 erschienen zweiten Bands seiner ‚Forschungen‘ umfangreiche Ausführungen, die das Bild einer systematischen Ausdehnung des süditalienischen Verwaltungsstaats auf Ober- und Mittelitalien zeichnen.27 Bereits in seinem südlichen Teilreich habe er ein Regierungssystem entwickelt, dass in hohem Maße zentralisiert gewesen sei, um die kaiserliche Politik möglichst unumschränkt durchzusetzen. Dieses System habe auf einer strikten Hierarchie eines penibel arbeitenden Beamtenapparats gefußt, der in der Lage gewesen sei, in alle Regionen hinein zu wirken. Fickers Darstellung evoziert Vorstellungen einer in hohem Maße zentralisierten Bürokratie, deren Wirken von jeder komplementären Kontrollgewalt in Regionen oder Kommunen unabhängig allein dem Monarchen und seinem Hof verantwortlich gewesen sei. Dieses Modell, so Ficker weiter, habe Friedrich II. in den letzten Jahren seiner Regierung auf Nord- und Mittelitalien übertragen, wo unter der Leitung seiner Generalvikare gleichfalls ein strikt dem Monarchen unterworfener Verwaltungsapparat etabliert worden sei. Dabei habe Friedrich versucht, die Traditionen feudaler oder kommunaler Macht in gleichem Maße beiseite zu schieben, die doch dort weitaus stärker verwurzelt gewesen seien als im süditalienischen Reich. Und nach Ficker hätte dieses Projekt, „ein einheitliches, geordnetes und kräftiges Staatswesen herzustellen,“ „das auf dem Gesichtspunkte unbeschränktester Machtbefugniss des Herrschers beruht“, durchaus erfolgreich sein können, wenn nicht der erbitterte Widerstand der Päpste die Pläne durchkreuzt hätte.28 An dieser Stelle bleibt unklar, wie 26 FICKER, Forschungen, Bd. 3, 1872, S. 537–541, die Zitate S. 540. 27 Ebd., Bd. 2, 1869, S. 492–561. 28 Die Zitate ebd., S. 560.

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Ficker dieses Projekt bewertet, das Jacob Burckhardt wenig früher als Prototyp unumschränkter, tyrannischer und darin zugleich konsequent rein rational organisierter Staatlichkeit dargestellt hatte.29 Unzweifelhaft ist aber, dass Ficker damit entscheidend zum Bild des letzten staufischen Kaisers als einem seiner Zeit weit voraus herrschendem Monarchen beigetragen hat. Deutlicher wird Fickers Einschätzung des Wirkens Friedrichs II. in seinem 1881 publizierten Vorwort zur Neuauflage der Regesten des Reichs unter den jüngeren Staufern. Obwohl die Abteilung mit den Jahren 1198–1272 die Regierung Philipps von Schwaben, Ottos IV., Friedrichs II., Heinrichs (VII.), Konrads IV., Heinrich Raspes, Wilhelms von Holland und Richards von Cornwall behandeln soll, beschränkt sich Ficker in dieser Einleitung allein auf ausführliche Bemerkungen zur Person und Regierung Friedrichs II.30 Er begründet dies damit, dass sich seine Einschätzung des Staufers fundamental von der seiner Vorlage unterscheidet, dem von ihm überarbeiteten Regestenwerk Friedrich Böhmers. Nach Fickers Darlegung hatte sich Böhmer darauf festgelegt, sowohl die Persönlichkeit Friedrichs II. als auch seine Auseinandersetzung mit den Päpsten zu verurteilen. Dies habe er, Ficker, bei der Überarbeitung nicht in jedem Eintrag korrigieren oder ergänzen können, sondern nur den Weg gesehen, in seiner Vorbemerkung die grundsätzlichen Unterschiede beider Positionen zu erläutern und seine Sicht Friedrichs II. zu begründen.31 Dabei unterscheidet er zwischen der Persönlichkeit des Herrschers und seiner Bedeutung für den Gang der Geschichte. Für die Persönlichkeit schließt sich Ficker dem weitgehend negativen Urteil Böhmers an: „die ungebundenheit seiner sitten, seinen unglauben und aberglauben, die undanbarkeit und untreue in persönlichen verhältnissen, die neigung zu trug, tücke und grausamkeit, das ist an und für sich gar nicht zu bestreiten“.32 Auch wenn manche Züge vielleicht milder zu beurteilen seien, stünde doch im Zentrum seine „selbstsucht [als] der hervorstechendste zug seines characters.“33 Auch sein Wirken bewertet Ficker weitgehend kritisch: Er habe die welthistorische Aufgabe, die ihm gestellt gewesen sei, nicht angenommen, nämlich die Kaisermacht gerade in Deutschland wieder zur Geltung zu bringen und die konstitutionellen und politischen Verhältnisse in seinem dortigen Herrschaftsgebiet wieder zu ordnen und zu befrieden. Allerdings konzediert Ficker, Friedrich habe durchaus die Möglichkeit dazu besessen und auch über die nötigen Einsichten und Machtmittel verfügt. Er hätte nur die Eingriffe, die er in Sizilien und Oberitalien verwirklicht habe, auch nördlich der Alpen anstreben müssen. Dies habe er aus persönlicher Schwäche unterlassen und sei so seiner welthistorischen Verantwortung nicht gerecht geworden. Dabei hätten ihn keine „umfassendere[n] staatsmännische[n] gesichts-

29 BURCKHARDT, Kultur, S. 4–6. Zur Wirkungsgeschichte in der modernen Historiographie vgl. THOMSEN, Modernität. Komplementär dazu DELLE DONNE, Vater. Pointiert auch RADER, Friedrich II., S. 509–528. 30 Hier und im Anschluss BÖHMER – FICKER, Regesten, S. XI–XXXIII. 31 Die Begründung für dieses Vorgehen ausführlich ebd., S. VIII–XI. 32 Ebd., S. XIII. 33 Ebd., S. XVI.

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punkte“ geleitet, vielmehr war „es […] zweifellos die ihm persönlich zusagender aufgabe, für welche er sich entschied, nicht die wichtigere und schwierigere.“34 Noch einmal referiert Ficker an dieser Stelle die bereits in den ‚Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens‘ breit dargelegte vermeintliche Übertragung des süditalienischen politischen Systems auf das oberitalienische Reich. Im Dienste einer Einigung Italiens als Basis für den Kampf gegen das Papsttum habe er sich dort von dem „gedanke[n … ] der vollsten unumschränktheit des herrschers, der kein an und für sich feststehendes recht im staate mehr anerkennt, der die unbedingte verfügung über gut und personen der unterthanen lediglich dem eigenen belieben anheimstellt“, leiten lassen. Dies habe er zur „iedes mass überschreitende[n] finanzielle[n] aussaugung“ der Bevölkerung genutzt und allenfalls die „masse des volks“ vor der „willkür der grossen und beamten“ geschützt, die aber ihrerseits „iedes schutzes gegen die willkürlichste behandlung durch den kaiser entbehrten.“35 Dieses in schwärzesten Farben gehaltene Bild relativiert Ficker allerdings im Anschluss wieder durch den Verweis auf die problematischen politische Verhältnisse „in Oberitalien, wo die parteiungen selbst innerhalb der einzelnen gemeinwesen alle grundlagen ständiger staatlicher ordnung zersetzt hatten“; dort war „die unumschränkte gewalt eines über den parteien stehenden herrschers die einzige staatsform […], von der sich eine wiederherstellung geordneter zustände erwarten, welche sich wenigstens als durchgangspunkt nicht vermeiden liess.“36 Damit erklärt Ficker die von ihm konstatierte durchgängige Modernisierung staatlicher Strukturen im Sinne einer protoabsolutistischen Monarchie als historische Notwendigkeit im nördlichen Italien und zugleich als welthistorisches Desiderat des deutschen 13. Jahrhunderts. Somit führt er auch nach zwei Jahrzehnten die Überlegungen fort, die er anlässlich des Streits mit Sybel bereits 1861 formuliert hatte: dass nicht die Übernahme der römischen Kaiserkrone der entscheidende Faktor für die Entwicklung Deutschlands im Mittelalter gewesen sei, sondern der Abbruch seiner Entwicklung in der späteren Stauferzeit. Dies datiert Ficker nun aber erst auf die Regierung Friedrichs II., nicht aber, wie in den 1860er Jahren, schon auf die Verbindung zwischen dem süditalienischen Königreich und dem römisch-deutschen Imperium unter Heinrich VI. Als Grund benennt er grundsätzliche charakterliche Defizite Friedrichs, die in der Darstellung Fickers umso deutlicher hervortreten, als er mit der Zentralisierung der Reichsverwaltung in Oberitalien selbst ein Modell entwickelt hat, dessen Umsetzung auch für das nordalpine Reich große Potenziale besessen hätte. Somit wird die Modernität Friedrichs – nach Jacob Burckhardt der „erste moderne Mensch auf dem Thron“37 – im Guten wie im Schlechten zu einem zentralen Deutungsschema, das in Fickers Überlegungen eine immer größere Bedeutung gewinnt. Die Vorbemerkungen zu Böhmers überarbeiteten Regesten adressieren nicht nur noch einmal die Frage nach dem Scheitern des mittelalterlichen Kaiserreichs, 34 35 36 37

Beide Zitate ebd., S. XVII. Die Zitate BÖHMER – FICKER, Regesten, S. XXI. Ebd., S. XXI. BURCKHARDT, Kultur, S. 4.

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sondern auch nach den Gegenwartsbezügen der Geschichtswissenschaft. Auch dieses Thema zählte zu den Streitpunkten der Kontroverse mit Sybel, die Ficker immer wieder neu aufgriff. Einleitend lobt er die Göttinger Historiker, allen voran Georg Waitz, die trotz „entschiedene[r] gegensätze der richtung der auffassung der geschichte“ Böhmer mit einem Preis ausgezeichnet haben.38 Die Fähigkeit, zwischen der wissenschaftlichen Leistung eines Historikers und seinen durchaus strittigen Bewertungen des historischen Geschehens zu unterscheiden, lege „dem deutschen wissenschaftlichen sinn, dem deutschen rechtssinn“ Ehre ein.39 Dieses zweistufige Wissenschaftsmodell, das zwischen der objektiven Arbeit an historischen Fakten und ihrer subjektiv gebundenen Bewertung unterschiedet, entfaltet Ficker im weiteren Verlauf seiner Ausführungen, in dem er seine Differenzen zu Böhmer erläutert. Dabei fällt auf, dass er zwischen berechtigten und sowohl wissenschaftlich als auch moralisch bedenklichen subjektiven Faktoren unterscheidet. Grundsätzlich billigt er es als legitimen Charakterzug Böhmers, sich in seiner Arbeit immer auch von seiner Sympathie zu historischen Akteuren zu einer lebhaften Parteinahme verleiten zu lassen haben. Das sei auch dort zu beobachten, wo es keinen Bezug zu umstrittenen Fragen der eigenen Gegenwart gegeben habe. Es habe sich vielmehr um die „neigung [gehandelt], die wissenschaftliche überzeugung zugleich zur herzenssache werden zu lassen“.40 Dies erkennt Ficker als legitimen Mechanismus an, weil er es für schlechterdings unmöglich hält, bei historischen Urteilen oder auch bei Plausibilitätsüberlegungen solche subjektiven Parteinahmen zu vermeiden. Daher widerspreche ein solcher Einfluss eigener Überzeugungen und Gefühle auch nicht „dem redlichsten Streben nach geschichtlicher Wahrheit“, könne vielmehr sogar als „eine bürgschaft für die subiective Glaubwürdigkeit“ betrachtet werden. Im Gegensatz dazu streitet Ficker aufs vehementeste ab, Böhmer habe sich bewusst in den Dienst „neuer […] parteibestrebungen“ gestellt.41 Insbesondere scheint in diesem Vorwort noch einmal durch, wie schwer der Vorwurf des Ultramontanismus wog. Im Lichte des preußisch-deutschen Kulturkampfs der 1870er Jahre erscheint es besonders signifikant, wie deutlich Ficker an dieser Stelle Position bezieht. Einerseits lasse es sich auch und gerade bei der Bewertung der mittelalterlichen Kirche nicht vermeiden, dass die eigenen Überzeugungen des Historikers sein Urteil über die Vergangenheit, hier konkret die Konfrontation Friedrichs II. mit den Päpsten, mit beeinflusse.42 Andererseits dürfe man sich aber nicht von den Vorstellungen der eigenen Gegenwart leiten lassen. Gefordert sei, „dass man in solchen dingen nicht neuere vorstellungen rückwärts zum masstabe nehmen dürfe, dass man von der damaligen sachlage und den damaligen anschauungen ausgehen müsse, von dem verhältnisse der geistlichen zur weltlichen gewalt, wie es gerade damals anerkannt war.“ Nur dies könne den An-

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BÖHMER – FICKER, Regesten, S. VII–VIII, das Zitat S. VII. Ebd., S. VII. Ebd., S. XI. Die Zitate ebd., S. XII. Vgl. BÖHMER – FICKER, Regesten, S. XV.

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forderungen genügen, die an eine „rein geschichtliche erwägung“ zu stellen sein.43 Damit markiert Ficker sehr deutlich, wo für ihn der legitime Einfluss der Positionen eines Historikers auf seine Arbeit aufhören muss: bei der Orientierung seiner wissenschaftlichen Arbeit an den akuten Zeitfragen der Gegenwart. In Auseinandersetzung mit Sybels zunächst explizit auf aktuelle Relevanz zielender Argumentation vertritt Ficker zunehmend deutlich die Position, Geschichtswissenschaft und politische Debatten lägen auf verschiedenen Ebenen. Darin mag sich zunächst eine defensive Strategie äußern, sich angesichts der kulturellen Dominanz protestantischer Historiker nicht dem Vorwurf des Ultramontanismus auszusetzen. Zugleich formuliert Ficker aber auch ein Wissenschaftsideal, das auf die Abkopplung der Geschichtswissenschaft von öffentlichen Debatten angelegt ist und sein Ziel in einer möglichst leidenschaftslosen, professionell perfektionierten Erhebung von Daten findet. Das unvermeidbare subjektive Urteil des Historikers erscheint nach Ficker als unvermeidbarer Störfaktor. Wo aber politische Überzeugungen und Interessen die Feder führen, steht für ihn die moralische und professionelle Integrität des Geschichtswissenschaftlers in Frage. Aus dieser Perspektive wird die politisch-gesellschaftliche Irrelevanz der historischen Arbeit zu einem besonderen Qualitätsmerkmal, garantiert sie doch die Wissenschaftlichkeit des Faches. Vermutlich haben die Erfahrungen aus den hitzigen Debatten um die deutsche Kaiserpolitik der 1860er Jahre Ficker dazu gebracht, aus einer defensiven Position heraus dieses Wissenschaftsmodell zu favorisieren und zu entwickeln, das die scheinbare Zeitenthobenheit seiner Forschungen gewährleisten sollte. Wie erfolgreich er damit war, zeigt ein kurzer Blick auf die Wirkungsgeschichte der Fickerschen Initiativen der 1860er und 1870er Jahre. Die Regesta Imperii, deren Fortleben über den Tod Johann Friedrich Böhmers weitgehend Fickers wissenschaftsorganisatorischem Engagement zu verdanken ist, werden bis heute fortgeführt und sind in wesentlichen Grundzügen bis heute dem Programm des 19. Jahrhunderts verpflichtet.44 Diese wissenschaftliche Praxis sichert dem Regestenunternehmen, wie Ficker es mit konzipiert hat, die Anerkennung als einem Grundlagenwerk, das beinahe zeitlose Gültigkeit zu haben scheint. Darüber hinaus lässt sich aber auch an der deutschsprachigen Forschung zu Friedrich II. zeigen, wie langfristig Fickers Oeuvre beinahe bis in die Gegenwart hinein fortwirkt. Die These, Friedrich II. habe in seinen letzten Regierungsjahren im Italischen Reich in Ober- und Mittelitalien eine moderne, zentralisierte Verwaltung nach süditalienischem Vorbild etabliert, wurde immer wieder aufgegriffen. Die ebenso umstrittene wie epochenmachende Biographie des Staufers von Ernst Kantorowicz von 1927 referiert diese These zum Beispiel ausführlich – sie erscheint beinahe wie ein Fremdkörper inmitten bilderreiche Passagen, in denen das Caesarentum des Kaisers mit Hilfe programmatischer Aussagen und Artefakte be43 Die Zitate ebd., S. XXIII. 44 Zur Geschichte der Regesta Imperii vgl. als Textanthologie ZIMMERMANN, Regesta Imperii; vgl. auch BERNWIESER, Regesta Imperii, sowie die Selbstpräsentation der Regesta Imperii im Internet: http://www.regesta-imperii.de/unternehmen/archiv.html [05.06.2020].

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schworen wird.45 Der 1931 vorgelegte Ergänzungsband, in dem Kantorowicz die Quellen und die Literatur belegt, auf denen seine Darstellung beruht, zeigt, dass sein Bild vom „Oberitalienische[n] Staat“ weitgehend auf Fickers ‚Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens‘ beruht.46 Knapper verweist auch Karl Hampe in seiner zuerst 1932 vorgelegten einbändigen Darstellung ‚Das Hochmittelalter. Geschichte des Abendlandes von 900–1250‘ auf die Ergebnisse Fickers, wie bereits der einleitenden Formulierung abzulesen ist: „Damit war die Bahn frei für eine Verbindung Siziliens mit Reichsitalien. Die Übertragung des absolutistischen und zentralistischen Beamtenregiments des Südens auf die Mitte und den Norden […] wurde nun […] mit erstaunlicher Raschheit durchgeführt“. Es folgt eine knappe Zusammenfassung der Reichsverwaltung im Italischen Regnum nach der Darstellung Fickers.47 Wie langfristig dieses Bild fortwirkt, lässt sich noch an jüngeren Handbüchern ablesen. Während in englischen oder italienischen Publikationen das Reichsregiment allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt, referiert noch der zweite Band der monumentalen Biographie Friedrichs II., die Wolfgang Stürner 2000 vorgelegt hat, Fickers Thesen unter der Überschrift „Die neue Verwaltungsstruktur Reichsitaliens und die Reformen im Regnum“ in einem eigenen Kapitel.48 Erst im Anschluss ist das Bild des Staufers grundlegend revidiert worden.49 Diese überraschend langfristige Wirkung der ‚Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens‘ zeugen davon, wie erfolgreich es Ficker gelungen ist, seine Vorstellungen von einer von aktuellen Bezügen befreiten Geschichtswissenschaft in praktische Forschungen zu übersetzen und so zu präsentieren, dass sie als zeitenthobene Grundlagenwerke erscheinen. Diese Wahl ermöglicht es, die politische Agenda bis zur Unkenntlichkeit zu übertünchen, die ihn dazu brachte, die progressiven Potenziale staufischer Staatlichkeit zu akzentuieren. Für Julius Ficker wäre es vermutlich kaum erträglich gewesen, seine Tätigkeit als Historiker unter der Überschrift „Geschichtsglauben“ abgehandelt zu wissen. Zu deutlich hatte er sich zeitlebens gegen Unterstellungen verwahren müssen, als Katholik außerwissenschaftlichen Loyalitäten verpflichtet zu sein, die sein wissenschaftliches Urteil trübten. Diese Unterstellungen begründen auf einer individuellen Ebene, dass er zwar um die Bedeutung religiöser Orientierungen für die Arbeit von Historiker*innen wusste, sie aber aus dem Wesentlichen dieser Arbeit herauszuhalten beanspruchte. Geschichtswissenschaft und Glauben mussten aus dieser Perspektive als Widerspruch erscheinen, weswegen Ficker es als moralisches Defizit eines Wissenschaftlers bewertet hätte, sein historisches Urteil von religiösen Überzeugungen beeinflussen zu lassen. Hinzu trat die Vorstellung, Ge45 KANTOROWICZ, Kaiser, S. 442–451. Für die Faszination, die dieser Historiker bis heute ausübt, ist bezeichnend, dass bis in die Gegenwart hinein verschiedene Publikationen sein Werk ausleuchten. Einen Überblick ermöglicht ANTENHOFER, Ernst Kantorowicz. Zuletzt auch FRANK – RANDO, Ernst Kantorowicz; LERNER, Ernst Kantorowicz. 46 KANTOROWICZ, Kaiser. Ergänzungsband, S. 195–198. 47 HAMPE, Hochmittelalter, S. 387–388, das Zitat S. 387. 48 STÜRNER, Friedrich II., S. 488–496. 49 Vgl. neben dem Sammelband von GÖRICH – KEUPP – BROEKMANN die neueren Biographien von HOUBEN, Kaiser; RADER, Friedrich II.

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schichte habe sich zuerst um die Eruierung historischer Fakten zu bekümmern, deren Korrektheit und Bedeutung jenseits subjektiver Wertungen zu beweisen oder zu widerlegen ist. In dieser Position spiegeln sich nicht allein individuelle Überzeugungen, sondern auch die fachwissenschaftlichen Entwicklungen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zwischen Restauration und Wilhelminischem Kaiserreich. So markiert der Kulturkampf nur den Gipfel der Spannungen zwischen multireligiöser Realität und protestantisch-bildungsbürgerlichen Selbstverständlichkeiten, die nichtprotestantische Historiker vor erhebliche Herausforderungen stellte. Bezeichnend dafür ist zum Beispiel, wenn in einem Nachruf auf Paul Scheffer-Boichorst, dem vielleicht prominentesten Schüler Fickers, konzediert wird, der Verstorbene sei „obgleich Katholik doch wie sein grosser Lehrer völlig unbefangen in seinen Arbeiten und unbekümmert um das Ziel“ gewesen.50 Eine weitere Tendenz des jungen Kaiserreichs war die Professionalisierung der Politik und der damit einhergehende Rückzug unter anderem der professionellen Historiker aus den Parlamenten. Während die Nationalversammlung in der Paulskirche noch als Professorenparlament bespöttelt werden konnte, war es im Kaiserreich kaum noch möglich, als Gelehrter wie als Abgeordneter gleichermaßen zu reüssieren.51 Zugleich lässt sich bei Ficker und seinen Schülern exemplarisch beobachten, wie sich die Fachwissenschaft von der Geschichtserzählung verabschiedete, um stattdessen umfangreichste Materialbestände aufzuarbeiten. Die damit einhergehende Spezialisierung auf Überlieferungsfragen machte Forschungsergebnisse für eine breitere Öffentlichkeit kaum noch vermittelbar. Es zeugt von einem tiefen Glauben an die Bedeutung von Geschichte, wenn ein derart hermetisch arbeitender Wissenschaftsbetrieb zugleich zu einer tragenden Säule des deutschen Bildungssystems wurde. Zu diesem Glauben trug die feste Verankerung der Geschichte, unter anderem der mittelalterlichen Geschichte, in der öffentlichen Geschichtskultur erheblich bei. Monumente wie historistische Großbauten oder Geschichtsdenkmäler zeugen ebenso davon wie Feste, die als historische Reminiszenzen gestaltet wurden. Zugleich belegt der Aufbau von Museen und Archiven die Verankerung des Geschichtsglaubens im kulturellen Bewusstsein. Und noch die Omnipräsenz des Mittelalters bis hin zur Benennung von Gebäuden und Schiffen – vom Postdampfer Barbarossa bis zu gleichnamigen Hotels oder Apotheken – zeugt vom positiven Image dieser Epoche, das sogar von Lahusen’s Jod-Eisen-Lebertran „Jodella“ genutzt wurde, um den „denkbar beste[n] und wirksamste[n] Lebertran“ zu bewerben.52 Diese breite Akzeptanz des Mittelalters, auch dieses unreflektierte positive Image erlaubte es Historikern wie Julius Ficker, sich explizit als apolitische Ge-

50 Nachruf auf Paul Scheffer-Boichorst von DÜMMLER, Nachrichten, das Zitat S. 770. Vgl. auch den Beitrag von ANGELIKA SCHASER in diesem Band. 51 MUHLACK, Professor; LENHARD-SCHRAMM, Konstrukteure. Zur Professionalisierung der Politik und dem Ausscheiden der Professoren aus den Parlamenten NIPPERDEY, Geschichte, S. 590–601 und S. 635–636. 52 https://wkgeschichte.weser-kurier.de/lebertran-als-heilsbringer/ [05.06.2020].

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lehrte zu verstehen, ohne damit den Fortbestand seiner Disziplin wegen fraglicher Relevanz zu gefährden. Ihr Engagement in drängenden Zeitfragen durfte nach diesem Wissenschaftsmodell nicht in die Forschungen und Publikationen einfließen. In diesem bewussten Verzicht, zeitgenössisches Engagement in wissenschaftlicher Mittelalterpräsentation erkennbar werden zu lassen, begegneten sich die professorale und die populäre Mittelalterrezeption des 19. Jahrhunderts. Denn auch die Monumente, die wie die eingangs angesprochenen Grabmäler im römischen Pantheon das Mittelalter zitieren, entwerfen ein über jede Aktualität erhabenes, überzeitliches Bild von dieser Epoche. Möglicherweise hat diese Monumentalisierung und Apolitisierung des Mittelalters mit dazu beigetragen, dass diese Epoche in der gegenwärtigen politischen Diskussion allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Der neuerdings zu beobachtende Rekurs auf eine christliche Identität Europas im Dienste einer Abschottungspolitik westlicher Wohlstandsgesellschaften oder eines aggressiven kulturellen Rassismus lassen es allerdings plausibel erscheinen, dass die lange aus der politischen Öffentlichkeit verdrängte Geschichte des Mittelalters im Wiedergänger eines vermeintlich säkularen Kampfes zwischen Christentum und Islam eine neue Brisanz gewinnen kann. Dass die Fähigkeit zum kritischen und reflektierten Umgang mit Geschichte spätestens dann von hoher Bedeutung wird, erscheint dann als mehr als nur eine Glaubensfrage.

BIBLIOGRAPHIE Quellen JOHANN FRIEDRICH BÖHMER – JULIUS FICKER, Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII), Conrad IV, Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard. 1198– 1272 (Regesta Imperii 5,1), Innsbruck 1881. JULIUS FICKER (Hg.), Acta imperii selecta. Urkunden deutscher Könige und Kaiser mit einem Anhange von Reichssachen. Gesammelt von Joh[ann] Friedrich Böhmer, Bd. 1, Innsbruck 1870.

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INSCHRIFTEN IN OLYMPIA ALS BEISPIEL DER (RE)KONSTRUKTION VON GESCHICHTE IN DER GRIECHISCHEN POLIS Kaja Harter-Uibopuu, Hamburg

Inschriften sind in griechischen Städten und Heiligtümern omnipräsent und dienen ebenso als Ausdruck gegenwärtiger Verhältnisse wie als steinerne Zeugnisse für die Vergangenheit. Dabei werden sie im öffentlichen Raum bewusst gesetzt, weder ihre Position, die wiederum Lesbarkeit und Wirkung bestimmt, noch der darauf wiedergegebene Text sind zufällig. Zumeist steht die Polis dahinter, die somit Einfluss auf diejenigen Informationen nehmen kann, die ihre Bevölkerung wahrnimmt. Wie auf diese Weise auch das Bild der eigenen Geschichte nachhaltig geprägt werden kann, steht im Zentrum des hier vorliegenden Beitrages. Dazu werde ich von vier Beispielen aus Olympia ausgehen, das als panhellenisches Heiligtum in besonderem Maße dazu geeignet war, über das Medium Inschrift einen Ort der Kommunikation zwischen den griechischen Städten zu bieten. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie dieses bei der Rekonstruktion vergangener Ereignisse und damit bei der Konstruktion historischer Vorstellungen zum Einsatz kam. In der Frage nach dem Umgang der Griechen mit ihrer eigenen Geschichte hat H.-J. Gehrke in zahlreichen Vorträgen und schriftlichen Beiträgen das Konzept der Intentionalen Geschichte überzeugend etabliert.1 Einen Ausgangspunkt bietet die Vorstellung eines „kulturellen Gedächtnisses“, die A. und J. Assmann definierten.2 Er geht dabei davon aus, dass Geschichte eine notwendige Grundvoraussetzung für die Existenz sozialer Gruppen sei, da sie in deren Selbstverständnis „für die kollektive Identität, die soziale Kohärenz, das politische Verhalten und die kulturelle Orientierung solcher Einheiten wichtig, ja wesentlich und ausschlaggebend ist oder sein kann“.3 Erst Erinnerungen, die über die Lebenszeit der einzelnen Mitglieder hinaus andauerten, könnten den Zusammenhalt schaffen, der diese Gruppen auszeichnet. Gehrke stellt die Identitätsfrage der Gruppe in den Mittelpunkt und stellt als charakteristisch heraus, dass Sagen oder Mythen und historische Ereignisse ineinander gehörten. Sie seien zwei Versionen von Geschichte, die von den Gruppen selbst als feste Größe, unbestreitbare Tatsachen 1

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Aus den zahlreichen Publikationen zu diesem Thema sei stellvertretend auf die Werke aus jüngerer Zeit verwiesen: GEHRKE, Was ist Vergangenheit?, S. 62–81; GEHRKE, Geschichte; GEHRKE, Representations, S. 15–33. ASSMANN, Gedächtnis; ASSMANN, Erinnerungsräume. Dazu GEHRKE, Representations, S. 15–16. GEHRKE, Geschichte, S. 37.

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gesicherte und geglaubte Wahrheit betrachtet würden, während wir aus heutiger Sicht darin Konstruktionen wahrnehmen. Aus der Darstellung der Geschichte können wir heute – nach Gehrke – vielmehr als die eigentlichen historischen Ereignisse die Intentionen der einzelnen Gruppen als Akteure herauslesen, die sich mit ihren Vätern und Vorfahren identifizierten.4 Dieses Konzept lässt sich nicht nur auf die Frühgeschichte gewinnbringend anwenden und trägt wesentlich zum Verständnis der homerischen Epen und anderer lokaler Mythen bei, sondern bildet auch einen Leitfaden durch spätere Selbstdarstellungen griechischer Stadtstaaten. Diese müssen als eigene Gruppen gefasst werden, da sie sich selbst immer zuerst als Spartaner, Athener oder Korinther mit eigener Geschichte, Sitten und Eigenheiten und erst dann als Griechen begriffen. Zudem erlaubt das Konzept der intentionalen Geschichte, für das Gehrke deutlich die Wichtigkeit der Performanz hervorhebt, auch eine intensive Auseinandersetzung mit dokumentarischen Quellen, also Inschriften und Papyri, ebenso wie mit Bildquellen.5 Gerade Olympia mit seinen Bauten, Statuen, Weihegeschenken und Inschriften, die den Rahmen für seine Feste und Riten bilden, ist ein hervorragendes Beispiel für Gehrkes Annahme, dass Geschichte gegenwärtig und omnipräsent sei. A. Chaniotis hat das Konzept der „intentionalen Geschichte“ in besonderer Weise für die epigraphischen Quellen aus dem griechischen und römischen Altertum anwendbar gemacht.6 Inschriften seien wie Bausteine, die als isolierte Quellen überliefert sind, und erst zu einem Bild zusammengesetzt werden müssten, während literarische Texte bereits ein bestimmtes Konstrukt überlieferten. Dennoch sei es notwendig, auch in Inschriften in erster Linie Texte zu sehen, die einen Autor und Adressaten hätten und mithin der Kommunikation in der Öffentlichkeit dienten. Sie seien „Produkte von Komposition und Intention“. Chaniotis prägt dafür den Begriff „Mnemopoetik“: Die Erinnerung (μνήμη) steht in enger Verbindung mit der Konstruktion (aus dem Griechischen Verb ποιεῖν „machen“) und der Komposition, der Poetik. Auf dauerhaftem Material publiziert setzen sie ein strukturiertes und konstruiertes Bild von der Vergangenheit voraus, das den Menschen der Zukunft überliefert werden soll. Inschriften konstruieren also die Erinnerung der Zukunft und lassen darin deutlich Intention erkennen. Bereits die Auswahl der geeigneten Texte und Aufstellungsorte sind bewusste Selektion in der Präsentation der Vergangenheit. Die Schriftartefakte dienten darüber hinaus aber auch als hypomnemata (Erinnerungsstützen) zur Kontrolle des Verständnisses der Adressaten von ihrer eigenen Vergangenheit und formierten Erinnerungsorte. Schließlich wissen wir davon, dass sie auch als Monumente als historische Zeugnisse verstanden wurden und bewahrt und restauriert, aber auch absichtlich

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GEHRKE, Representations, S. 17–18. Ausführlich GEHRKE, Geschichte, S. 13–36. Zum Folgenden CHANIOTIS, Mnemopoetik, S. 132–169. Einen Versuch, Inschriften im Konzept der intentionalen Geschichte einen festen Platz zuzuweisen, stellen auch LAMBERT, Connecting with the Past, S. 225–238, und LAMBERT, Inscribing the Past, S. 253–275, dar.

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zerstört werden konnten.7 Diese Charakteristika weisen natürlich auch die ausgewählten Beispiele aus Olympia auf. Das Heiligtum von Olympia im Westen der griechischen Halbinsel Peloponnes ist zweifellos das berühmteste panhellenische Heiligtum und war – in unterschiedlicher Ausprägung – auch eines der bedeutendsten. Die Spiele, die dort alle vier Jahre Griechen aus allen Bereichen der Oikoumene zusammenführten, waren der bekannteste Aspekt des faszinierenden Heiligtums, aber bereits vor der Blütezeit der Spiele war es das Orakel des Zeus, das dem Ort besondere Bedeutung verlieh. Entgegen dem heutigen Eindruck, dass Olympia ein friedvoller Ort sein müsse, finden sich vor allem Waffenweihungen, mit denen erfolgreiche Staaten ihre Siege über Nachbarn oder weiter entfernte Feinde feierten. Zeus war zuerst ein Kriegsgott, und Olympia war der Ort, an dem um Rat in militärischen Angelegenheiten angesucht wurde. Entsprechend war gerade Olympia auch der Ort, an dem an militärische Erfolge erinnert und somit Geschichte geschrieben wurde.8 Die Ausgrabungen in Olympia werden seit 1875 vom Deutschen Archäologischen Institut geleitet und haben neben den bekannten und eindrucksvollen architektonischen und statuarischen Überresten auch eine große Menge von Inschriften zu Tage gefördert. Ca. 1500 Texte sind bis heute publiziert, ein erstes Corpus erschließt diese dokumentarischen Quellen bereits 1896, nach zahlreichen Einzelpublikationen in Grabungsberichten und Spezialaufsätzen wurden die Neufunde 2013 in Wien veröffentlicht, ein dritter Band der olympischen Inschriften ist bereits in Berlin in Arbeit.9 Schätzt man nun die Größe der Altis, des heiligen Bezirkes von Olympia, auf ca. 3 km2, mit den umliegenden Gebäuden und Foren auf ca. 6 km2, so ist die Dichte der Texte natürlich sehr hoch. Vor allem entlang der offiziellen Wege durch die Altis waren zahllose Inschriften vom VeranstalterStaat Elis, anderen griechischen Staaten und schließlich auch von Privatpersonen gesetzt worden. Olympia ist für den Besucher auch ein „Lesebuch“, ein Lehrstück, das die Geschichte und die Gegenwart des Heiligtums eindrucksvoll in Szene setzte. Von besonderer Bedeutung sind Inschriften natürlich vor allem dort, wo sie als direkte Belege Ereignisse dokumentarisch überliefern, von denen keine oder kaum literarische Zeugnisse berichten. Hierzu gehört ein vergleichsweise umfangreicher Komplex von Waffen, die mit der gleichen Weihinschrift versehen dem Zeus in Olympia dediziert wurden: acht Hoplitenschilde (die allerdings teils stark fragmentiert sind), fünf korinthische Helme und eine Beinschiene sind erhalten, sie alle tragen Inschriften „Die Argiver weihten (dies) dem Zeus aus dem Sieg über die Korinther“.10 Die Funde stammen aus verschiedenen Brunnen und Grä7 8

CHANIOTIS, Mnemopoetik, S. 134–135. Aus der umfangreichen Literatur zu Olympia hier zusammenfassend: SINN, Das antike Olympia, v.a. S. 58–67; SINN, Olympia: Stellung der Wettkämpfe, S. 31–54; SINN, Olympia: Zeustempel, S. 79–97 (v.a. 79–83). 9 DITTENBERGER – PURGOLD, Inschriften [IvO]; SIEWERT – TAEUBER, Inschriften [NIvO]. 10 NIvO Nr. 131–142 und IvO Nr. 250–251, mit kurzem Kommentar und weiterführender Literatur. Taeuber und Siewert erkennen argivische Buchstabenformen in allen Inschriften, die drei verschiedenen Schreiberhänden zuzuordnen sind. Dagegen geht JACKSON, Argos,

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ben in einem Kontext der 470er Jahre. Der Grabungsbefund lässt allerdings vermuten, dass die Waffen am südlichen Wall des archaischen Stadions aufgestellt waren. Im Zuge der Renovierungsarbeiten wurde das Monument, welches die Waffen bildeten, abgenommen und nicht wieder aufgestellt. Da die Renovierung bald nach 500 v. Chr. angesetzt werden muss, bildet diese einen sicheren terminus ante quem, der auch im Einklang mit der Form der Waffen und den Buchstabenformen steht.11 Letztere sind in den Anfängen der direkten schriftlichen Überlieferung in Griechenland, also vom ausgehenden 8. bis in das beginnende 5. Jh. hinein sehr charakteristisch und erlauben vielfach eine gute relative Chronologie. Jeffery setzt die entsprechenden Inschriften um 500 v. Chr. an. 12 Die möglichen historischen Umstände des Sieges können weiter eingegrenzt werden: Argos erlitt im Jahr 494 v. Chr. in der Schlacht von Sepeia eine dramatische Niederlage gegen seinen langjährigen Kontrahenten Sparta.13 Die überlieferte Zahl von 6000 getöteten Argivern ist zwar nicht wörtlich zu nehmen, bedeutet aber sicher, dass ein Großteil des Bürgerheeres gefallen war, ein Schlag von dem sich die Stadt lange nicht erholte. Der Sieg, an den Argos mit der Waffenweihung erinnern wollte, musste also vor dieser entscheidenden Schlacht stattgefunden haben.14 Pausanias, ein Reiseschriftsteller des 1. Jh. n. Chr., auf den im Weiteren noch eingegangen werden wird, erwähnt ein weiteres Schriftartefakt: einen Schild auf dem Schatzhaus der Megarer, der nach seiner Inschrift ebenfalls aus der Kriegsbeute eines Sieges über Korinth stammt.15 Bei diesem Sieg sei den Megarern von Argos geholfen worden, so „sage man“: λέγονται. Auf diese Unterstützung wäre dann aber in der Inschrift nicht hingewiesen worden, obwohl die Angabe eines Kampfbündnisses durchaus nicht unüblich war. Für die dort erwähnte Schlacht gibt es verschiedene Ansatzpunkte, die vom späten 8. Jh. bis in das späte 6. Jh. reichen.16

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S. 302–305, von acht bis neun Handwerkern aus, die für die Beschriftung der Waffen auf dem Monument notwendig gewesen seien; allerdings ist hier den versierten Epigraphikern Taeuber und Siewert Glauben zu schenken. Darüber hinaus führen Jacksons Schlussfolgerungen zu weit (305–306). Die zwei nachgewiesenen Weiheformeln unterscheiden sich unwesentlich: Τἀργεῖοι τοῖ Διϝὶ τν Ϙορινθόθεν (Helm NIvO Nr. 131) und Τἀργεῖοι ἀνέθεν τοῖ Διϝὶ τν Ϙορινθόθεν (Helm NIvO Nr. 133 und IvO Nr. 250; Beinschiene NIvO Nr. 142; Schildbeschläge NIvO Nr. 139 et al.). Zum archäologischen Befund KUNZE, VIII. Bericht, S. 91–95, und die detaillierte Analyse von JACKSON, Argos, S. 296–298. Zur Datierung immer noch maßgeblich JEFFERY, Local Scripts, 169, Nr. 18: 500–480?. Allerdings passt das mögliche Ende der Zeitspanne – wiewohl mit einem Fragezeichen versehen – schlecht mit der Fundsituation überein. Hdt. 6,77–80.83 und 7,148; TOMLINSON, Argos, S. 93–100; JACKSON, Argos, S. 299. SIEWERT – TAEUBER, NIvO, S. 173. Paus. 6,19,12–14. Vgl. die Analyse mit weiterführender Literatur bei TAUSEND, Amphiktyonie, S. 99–102, der in der bei Pausanias erwähnten Episode eine kurzfristige militärische Unterstützung der Megarer unter Pheidon von Argos am Anfang des 7. Jh. v. Chr. sieht, die erst wesentlich später beim Bau des Schatzhauses durch die Aufstellung des Schildes gewürdigt wurde. Die argivischen Waffenweihungen – die Tausend nicht erwähnt – passen nicht zu dieser Datierung.

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Durch die beiden Weihungen – die des Schildes durch die Megarer und die der Waffen durch die Argiver – aus dem Kampf gegen die Korinther wollen beide Poleis die Erinnerung der Zukunft konstruieren und sind dabei durchaus erfolgreich, wie die Schilderung des Pausanias mehr als 500 Jahre nach dem zu erinnernden Ereignis zeigt. Ob sich die beiden wirklich auf die gleiche Zeit oder gar auf eine konzertierte Aktion der beiden Gegner Korinths beziehen lassen, ist nicht sicher. Auffällig ist aber, dass – nach den erhaltenen Zeugnissen – keine der beiden Seiten die Beteiligung der anderen erwähnt. Allerdings ist der megarische Schild nur in seiner Beschreibung bei Pausanias und das argivische Monument nicht zur Gänze erhalten, so dass der Schluss, die Städte haben ihre eigene Rolle deutlich überhöht, nicht mit letzter Sicherheit zu ziehen ist. Dennoch: auch durch bewusstes Weglassen in monumentalen Darstellungen konnte man Geschichte konstruieren. Ein zweiter Aspekt kann diesen Punkt verdeutlichen: Die Waffen, die die Argiver weihten, müssen auf einen für sie bedeutenden Sieg hingewiesen haben.17 Gerade dabei ist es aber auffällig, dass das Siegesmonument nach der Renovierung des Stadions nicht wiedererrichtet worden war. Verantwortlich für die Aufstellung eines derartigen Monuments war nicht nur der Staat, der es weihte, sondern vor allem auch die Heiligtumsverwaltung von Olympia, die in den Händen von Elis lag. Immer wieder wurden Weihgeschenke im Rahmen von Revisionen ausgesondert und feierlich bestattet, da sie das Heiligtum nicht mehr verlassen durften. Gerade die Erdanschüttungen der Tribünenwälle des Stadions bieten dafür eine hervorragende Möglichkeit und waren voll von Votivgaben.18 Möglicherweise ist in der ‚Archivierung‘ der argivischen Waffen ein Zugeständnis an Sparta zu sehen, das sich nach dem Sieg bei Sepeia einer Verherrlichung des ehemals starken Opponenten entgegenstellte. Was auch immer der Grund für die Demontage der Waffen gewesen sein mag, die Geschichte der peloponnesischen Mächte in Olympia wurde neu (re)konstruiert. Das beste Zeugnis dafür ist Pausanias, der bei seinem Rundgang nur mehr den Schild der Megarer und ihren Sieg über die Korinther kennt, einen argivischen Erfolg über die gleiche Stadt erwähnt er nicht. So bilden die kurzen Texte, die einen für das Heiligtum fast alltäglichen Vorgang der Waffenweihung beschreiben, die von Chaniotis erwähnten kleinen Bausteine, aus denen wir heute nur die Geschichte schreiben können, die uns die Argiver, Megarer und schließlich die Eleier erkennen lassen wollten. Die Anziehungskraft, die das Zeusheiligtum auf die griechischen Staaten besaß, war auch die Grundlage für die Publikation von zahlreichen staatlichen und völkerrechtlichen Rechtsakten, die notwendigerweise nicht nur den beteiligten Parteien, sondern auch allen anderen Griechen kundgetan werden sollten. Dabei zeichnet sich Olympia durch die hohe Anzahl an erhaltenen Bronzeinschriften aus. Dieses Material war zwar im griechischen Osten häufig in Verwendung, 17 Dennoch erscheint die Rechnung von JACKSON, Argos, S. 305–306, basierend auf einem Vergleich mit den ostraka für Themistokles zu hoch. Zu den tropaia in Olympia vgl. SINN, Das antike Olympia, S. 62–63. 18 SINN, Das antike Olympia, S. 133.

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überlebte aber vor allem wegen der vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten schlechter. So wurde Bronze oft eingeschmolzen, um in Bautätigkeiten und in der Waffenherstellung neuen Gebrauch zu finden.19 Vielfach zeigen Nagellöcher der Tafeln, dass die Publikation an Wänden erfolgte, andererseits gibt es auch beidseitig beschriebene Bronzen, die sich dafür natürlich nicht eigneten. Wie in anderen Städten auch – Argos scheint dafür ein gutes Beispiel zu sein, wie nach einem Fund zweier Kisten mit Bronzetafeln bekannt ist – waren die Platten und Plättchen in Olympia ebenfalls an öffentlichen Gebäuden, aber auch an Tempelwänden angebracht.20 Größtenteils enthalten die Bronzen in Olympia staatsrechtlich relevante Texte, private Weihungen sind in dieser Form weitaus weniger erhalten. Wiederum ist mit zwei Redaktionsstufen zu rechnen, aus denen sich folgende Fragestellungen ergeben: Was wollte die Polis, die den Beschluss fasste oder den Rechtssatz aufzeichnen ließ, überliefern? Was ließen auf der anderen Seite die Eleier zur Publikation im Heiligtum von Olympia zu? Zwar lässt sich kein vollständiges Bild der Texte zeichnen, die man in Olympia im 7., 6. und 5. Jh. v. Chr. lesen konnte, aber auch hier wurde Geschichte (re)konstruiert. Drei aneinanderpassende Fragmente einer Bronzetafel sind als IvO Nr. 16 publiziert und enthalten einen umfangreichen Text zur Neuordnung der Verhältnisse in der kleinen triphylischen Gemeinde Skillous.21 Der Text wird nach den Buchstabenformen in das dritte Viertel des 5. Jh. v. Chr. datiert, wobei nicht ganz sicher ist, ob es zu diesem Zeitpunkt unabhängig war oder bereits wieder Elis unterstand. Es wird jedenfalls in der Urkunde als Gemeinwesen mit eigener Verwaltung wahrgenommen.22 Die erhaltenen Vorschriften richten sich an zwei Männer, Nikarchidas und Pleistainos, die wohl Bürger von Skillous sind und während einer stasis, einer internen Krise, Elis die Treue gehalten hatten.23 Nun sollten sie die Folgen des Bürgerkrieges beseitigen, wobei in diesem Fall nicht das Versöhnende im Mittelpunkt steht, wie es aus anderen, ähnlichen Dokumenten bekannt ist.24 Vielmehr wird zum Schluss des erhaltenen Texts festgehalten, dass alle, die in die Verbannung gegangen waren, als Mörder verurteilt werden sollten – wohl in ihrer Abwesenheit (Z. 21). Die Strafzahlungen, die am Anfang des Textes für Fehlverhalten der Angeklagten im Rahmen der Gerichtsverfahren oder nach diesen vorgesehen sind, werden durchgehend dem olympischen Zeus zugedacht (Z. 4–5; Z. 8). Möglicherweise schloss sich dem erhaltenen Text noch ein Teil mit weite19 Vgl. zur Verwendung von Bronze als Beschreibmaterial ROBERT, Collection Froehner I, S. 47–48; ROBERT, Hellenica X, S. 289–290; KIYANRAD et al., Metall, S. 299–301. 20 So etwa NIvO Nr. 6, der Freundschaftsvertrag zwischen Sybaris und den Serdaiern, 530–510 v. Chr., der wohl am Schatzhaus der Sybariten angebracht war (NIvO 35). Vgl. auch NIvO Nr. 2; 5; 5A; 7; 8, et al. Zum Fund in Argos KRITZAS, Tablets, S. 275–301. 21 KOERNER, Gesetzestexte, Nr. 44, S. 121–137. 22 NIELSEN, Triphylia, S. 545. 23 Die anderen Deutungsmöglichkeiten referieren KOERNER, Gesetzestexte, S. 130, und WOLFF, Sparta, S. 63–64. KOERNER bietet auch eine umfangreiche rechtshistorische Analyse des schwierigen Textes. Vgl. zu den historischen Ereignissen auch GEHRKE, Stasis, S. 299. 24 Zur Amnestie als erfolgreichem Mittel zur Aussöhnung von Streitparteien in Städten nach einer stasis siehe jüngst DREHER, Amnestie, S. 71–94.

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ren Nachwirkungen wie Vermögensregelungen, verschiedenen Verboten und ähnlichem mehr an. Fraglich bleibt, warum diese Handlungsanweisung in Olympia publiziert wurde, wenn sie doch auch den beiden Akteuren ausgehändigt, in Skillous bekannt gemacht und dann dort archiviert hätte werden können. Der Text kann als ein gutes Beispiel für ein typisches Phänomen der juristischen Epigraphik gelten: Er wirkt auf den ersten Blick trocken und distanziert, enthält Rechtsakte und bestätigt deren Autorität. Dennoch muss man mit Chaniotis festhalten, dass natürlich auch Inschriften Autoren und Adressaten hatten und Produkte von Komposition und Intention waren. Dies gilt sicher im Falle der Beschlüsse für die entsprechenden Vorlagen.25 Wenn nun also in Olympia eine Urkunde publiziert wurde, in der festgehalten war, dass die aus der Stadt Skillous Geflüchteten und Vertriebenen rechtsgültig und somit straflos als Mörder verfolgt werden durften, so ist das zunächst die Bekanntmachung eines Rechtsaktes, der zur Information der Bevölkerung diente und ihre Handlungen gegenüber den Skillountiern bestimmen konnte. Sodann ist es aber auch der Beginn einer neuen Überlieferung, die – wie immer in diesen Fällen – von der obsiegenden Partei geschrieben wurde. Diese Überlieferung, die den Sieg der Elis-freundlichen Gruppe eindrucksvoll in den Mittelpunkt rückt, löschte gleichzeitig die Erinnerung an die unterlegene Gruppe derjenigen, die sich gegen die Stadt gestellt hatten, die das Heiligtum des Zeus verwaltete. Auch hier wurde die Erinnerung der Zukunft durch eine Inschrift begründet.26 Ähnliches darf man auch für eine andere Gattung von Rechtstexten festhalten, die in Olympia in großer Zahl gefunden wurde: Sprüche und Entscheidungen aus zwischenstaatlichen Vermittlungen und Schiedsgerichten, die auf steinernen Stelen eingemeißelt wurden. Konflikte zwischen Staaten, die zumeist um eine gemeinsame Grenze oder ein an dieser liegendes Gebiet entstanden, wurden vielfach friedlich beigelegt, indem eine mehr oder weniger neutrale Macht um Vermittlung oder Entscheidung ersucht wurde. Aus Olympia sind ca. zehn derartige Entscheidungen erhalten. Die Aufstellung im panhellenischen Heiligtum erfolgte, so erfahren wir aus den Texten, zusätzlich zu einer Aufstellung bei den beiden Streitparteien und in der Richterstadt.27 Ein besonderes Beispiel – vor allem auch im Hinblick auf die Publikation des Schiedsspruches – ist eine Entscheidung in einem Streit zwischen Sparta und Messene um ein verhältnismäßig kleines Gebiet an der gemeinsamen Grenze, die Dentheliatis ca. aus dem Jahr 138 v. Chr.28 Die Bedeutung liegt dabei nicht auf dem Landstrich selbst, der weder strategisch noch wirtschaftlich von so großer Wichtigkeit war, als vielmehr auf der Geschichte der beiden Kontrahenten. Nach mehr als drei Jahrhunderten unter spartanischer Herrschaft wurde Messenien im 25 Vgl. oben bei Anm. 6. 26 Vgl. oben bei Anm. 6. 27 HARTER-UIBOPUU, Schiedsverfahren, S. 159–160, zur Publikation derartiger Schiedssprüche. Zur Geschichte der zwischenstaatlichen Schiedsgerichtsbarkeit in der griechischen Welt zusammenfassend AGER, Governance, S. 497–511. 28 IvO Nr. 52; Tac. ann. 4,43; AGER, Arbitrations, Nr. 159, S. 446–450. Vgl. auch LURAGHI, Kulte, S. 172–181.

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beginnenden 4. Jh. v. Chr. mit Hilfe anderer griechischer Mächte, allen voran den Boiotern, befreit. Sparta war in seine Schranken gewiesen, und eine neue Hauptstadt der Region, Messene, wurde gegründet.29 Jeder noch so kleine Erfolg gegen die ehemals mächtigsten Peloponnesier wurde ab jetzt propagandistisch genutzt und einem breiten Publikum wirkungsvoll präsentiert. Das Heiligtum in der Dentheliatis, das der Artemis Limnatis geweiht war, war lange das Symbol der spartanischen Herrschaft über Messenien. Umso nachvollziehbarer scheint es, dass die Messenier ab dem Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit immer wieder versuchten, diesen Besitz als rechtswidrig darzustellen und damit die spartanische Eroberung Messeniens als Unrecht zu geißeln. Mit dem Bericht von Tacitus über die Gesandtschaften an den Senat im Jahr 25 n. Chr., 400 Jahre nach der Gründung Messenes, ist ein wertvolles literarisches Testimonium erhalten, das die Argumentationslinien der beiden Kontrahenten verdeutlicht.30 Während sich die Spartaner auf annalium memoria, carmina vatum und eine Entscheidung des C. Caesar und M. Antonius berufen, weisen die Messenier in Rom darauf hin, dass es Inschriften auf Stein und Bronze gebe, die ihren Anspruch bekräftigen könnten.31 Nicht nur Philipp II. von Makedonien nach seinem Sieg über die Griechen, auch Antigonos (III.), L. Mummius Achaicus, die Milesier als Schiedsrichter und schließlich Atidius Geminus hätten jeweils für sie entschieden.32 Betrachten wir zunächst den Text der Inschrift. Nach der zentriert und deutlich größer geschriebenen Überschrift „Entscheidung über Land zwischen den Messeniern und den Lakedaimoniern“ unterrichtet ein Beschluss der Eleier über die Publikation des Schiedsspruches der Milesier, die gleich folgen wird (A Z. 3– 27). Die Messenier hatten nach Elis Gesandte geschickt, deren Namen wie üblich genannt werden und die ein Schreiben übergeben hatten, in dem die bestehende Verwandtschaft und Freundschaft der Städte erneuert wurde. Mit diesem Verweis auf die gemeinsame Geschichte wird die Bitte der Messenier eingeleitet, den Schiedsspruch der Milesier, der mit einem Siegel versehen beigefügt war, in Olympia publizieren zu dürfen. Dem Ansinnen wird – wiederum unter Verweis auf die gemeinsame Verwandtschaft und Freundschaft – stattgegeben, die Gesandten werden von den Eleiern feierlich empfangen, belobigt und erhalten Gastgeschenke von höchstem gesetzlich vorgesehenem Wert sowie eine Einladung zu einem Festmahl. Als nächstes folgt das Begleitschreiben der Milesier an die Eleier im Wortlaut, das den messenischen Gesandten mitgegeben worden war (B Z. 28– 40). Erst dann findet sich der Text des Spruches selbst (C Z. 41–70). Die beiden Texte B und C sind im Unterschied zum Dekret der Eleier (A) in der im Hellenismus verbreiteten Koine abgefasst, nicht im elischen Dialekt, und unterscheiden sich so bereits im Duktus von der Einleitung. Der Spruch der Milesier enthält eine Beschreibung des Schiedsverfahrens, das in Milet vor einem Gremium von 600 Richtern stattfand, also einem typischen 29 30 31 32

Aus der umfangreichen Literatur siehe v.a. LURAGHI, Messenians. LURAGHI, Messenians, S. 16–27. Zu dieser Rolle von Inschriften vgl. CHANIOTIS, Mnemopoetik, S. 141–143. Tac. ann. 4,43,1–3.

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Geschworenengericht, das in diesem Fall aus einer Volksversammlung im Theater ausgelost worden war (C Z. 45–49). Das Schiedsverfahren wurde ursprünglich in Rom eingeleitet. Die Messenier und Spartaner hatten sich an die neue Schutzmacht gewandt, der Senat aber überantwortete die Entscheidung der Stadt Milet als unabhängiger Richterin (C Z. 49–52). Dabei erhielten die Milesier – ebenso wie jeder römische iudex in einem städtischen Verfahren – ein Prozessprogramm mit der genauen Rechtsfrage, über die sie zu entscheiden hatten. Diese lautete: „Wem von beiden gehörte das umstrittene Land zu dem Zeitpunkt, als L. Mummius als Consul oder Proconsul in der Provinz war?“ (C Z. 52–55). Aus dem bereits über zwei Jahrhunderte dauernden Streit zwischen den beiden Nachbarn war also ein bestimmter Zeitpunkt ausgewählt worden, zu dem der Besitzstand entscheidend sein sollte.33 Um diesen Anspruch zu begründen, wurde die Geschichte des Streitgegenstandes natürlich in aller Ausführlichkeit berichtet, zum Teil wurde dabei bis in die Frühgeschichte – für uns die mythische Vergangenheit – argumentiert.34 Die Messenier obsiegten in dem Streit klar, wie das aufgezeichnete Stimmenverhältnis deutlich macht. Sparta konnte nur 16 Stimmen erringen, auf die Messenier entfielen 584 (C Z. 68–70). Wenn man die Inschrift genau betrachtet, so heben sich die letzten Worte aus dem ansonsten eng in scriptio continua geschriebenen Text deutlich ab. Die zweite Hälfte der vorletzten Zeile ist wohl bewusst mit so großen Abständen gesetzt, dass das für Sparta schmähliche Ergebnis „16“ alleine in der untersten Zeile besonders sichtbar zu stehen kommt. Der Verfahrensablauf erlaubt weitere Überlegungen zur ‚Konstruktion‘ und ‚Rekonstruktion‘ von Geschichte. 600 Richter können nicht recherchieren oder versuchen, die Wahrheit zu dem vorgebrachten Streit herauszufinden. Das Verfahren dauerte lediglich einen Tag, die beiden Parteien hielten jeweils zwei Plädoyers, die zeitlich genau begrenzt waren (15 Metreten und 5 Metreten Wasser für die Wasseruhr, C Z. 55–59). In diesen versuchten sie mit allen rhetorischen Mitteln, oftmals gestützt durch Dokumente, Zeugenaussagen und ähnliche Beweismaterialien, die Richter von ihrer Sicht zu überzeugen.35 Die Milesier werden also Reden gehört haben, die ihnen historisch angeblich gesichertes Wissen vermitteln sollten – aus der Sicht der jeweiligen Partei. Durch ihre Entscheidung für eine der beiden Parteien, die ohne Diskussion der vorgebrachten Beweise unmittelbar nach den Reden erfolgte, wurde eine der beiden dargestellten Varianten anerkannt und ‚verifiziert‘, die andere verworfen. Nichts Anderes war in einem so großen Gremium, das den demokratischen Geschworenengerichtshöfen des 4. Jh. v. Chr. nachempfunden ist, möglich. Damit wurde aber dann auch die sanktionierte Ver33 HARTER-UIBOPUU, Schiedsverfahren, S. 170–171. 34 Vor dem Senat in Rom im Jahr 25 n. Chr. argumentieren die Messenier mit der Teilung der Peloponnes unter den Herakliden, bei der die Dentheliatis ihrem König Chresphontes zugeschrieben worden war. Zur Bedeutung dieser Landnahme LURAGHI, Messenians, S. 48–61. Die gleiche Argumentation findet sich im Streit zwischen Sparta und Megalopolis (IvO Nr. 47, Z. 35–36), wo die Ansprüche der Arkadier mit diesem Argument bestätigt werden; dazu HARTER-UIBOPUU, Schiedsverfahren, S. 91–92 und 153–154. Allgemein TOD, Arbitration, S. 133–135. 35 HARTER-UIBOPUU, Schiedsverfahren, S. 151–157.

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sion der eigenen Geschichte von der siegreichen Streitpartei auf Inschriften publik gemacht.36 In diesem Fall obsiegten die Messenier, ihre Darstellung des Konflikts wird mit einem entsprechenden Schreiben der Richterstadt Milet nach Olympia zur Aufstellung übermittelt. Vielfach beruhen moderne Recherchen zur Geschichte zweier Poleis auf diesen vornehmlich unabhängigen und verlässlichen Rechtstexten, die jedoch in Bezug auf ihre unparteiliche Darstellung der Verhältnisse hinterfragt werden müssten. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist eine erst jüngst und bislang nur zum Teil publizierte Steininschrift aus Messene, die den jahrelangen Streit der Stadt mit ihrem Nachbarn Megalopolis um zwei Grenzgebiete dokumentiert. Erst wenn man die sieben Verfahrensstufen genau analysiert, die Parteienstellungen herausarbeitet und den Text unter den Gesichtspunkten der Gerichtsrhetorik liest, ist zu erkennen, dass Messene, die vermeintliche Siegerin des Streits, einen wesentlichen Teil der Grenzgebiete verloren haben muss. Diese Tatsache wird auf der Inschrift, die an einem prominenten Platz neben dem Bouleuterion von Messene aufgestellt war und allein durch ihre schiere Größe bereits beeindruckt, kunstvoll verschwiegen.37 Auch hier wird die künftige Wahrnehmung der eigenen Geschichte konstruiert. Abschließend muss aber für den Schiedsspruch der Milesier im Streit zwischen Messene und Sparta im Besonderen noch auf den Aufstellungsort eingegangen werden. Inschriften sind nie nur einfach Texte, sondern stets im Kontext ihrer Präsentation zu sehen. Die Größe des entsprechenden Schriftfeldes, die Lesbarkeit des Textes, Paragrapheneinteilungen oder Hervorhebungen sind ein Element, aber auch der Platz der Publikation, die Anbringung an einem bestehenden Monument oder Gebäude oder aber die Schaffung eines neuen Memorialkomplexes sind Faktoren, die bei der Aufstellung der Inschrift berücksichtigt wurden. S. Lambert nennt diesen Faktor die „monumental intentionality“ und hebt zurecht hervor, dass er in der epigraphischen Publikation große Bedeutung haben muss.38 IvO 52 ist nicht etwa auf einer steinernen Stele angebracht, sondern prangt auf einem der prominentesten Monumente Olympias: der Basis der Nike des Paionios. Diese dreieckige Säule war bereits am Ende des 5. Jh. v. Chr. aufstellt worden und trug acht Meter über dem Boden eine geflügelte Nike, von Messeniern und Naupaktiern nach einem Sieg über ‚Feinde‘ aus dem Zehnten der Beute geweiht. Pausanias referiert die messenische Erinnerung, dass die Aufstellung nach der Schlacht von Sphakteria erfolgte, in der die Athener 425 v. Chr. die Spartaner besiegt hatten.39 Auch dieser Pfeiler ist ein Beispiel für das Auslassen eines Bündnispartners, in diesem Fall sogar des mächtigeren Kampfgenossen Athen. 36 Zur Publikation HARTER-UIBOPUU, Schiedsverfahren, S. 159, und THÜR, Formen des Urteils, S. 469. 37 THÜR, Dispute over Ownership, S. 293–316; LURAGHI – MAGNETTO, Megalopolis and Messene, S. 509–550, mit einer kritischen Edition des publizierten Textes, Übersetzung, Fotos und Karten des Streitgebiets. 38 LAMBERT, Connecting with the Past, S. 236. 39 Die Weihinschrift IvO Nr. 259 nennt keinen konkreten Anlass. Pausanias vermutet einen messenischen Sieg über Oiniadai, referiert aber auch die messenische Überlieferung (5,26,1). LURAGHI, Messenians, S. 191–192.

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Die Messenier betonen im Angesicht der üblichen spartanischen Übermacht selbstbewusst ihren Anteil am Sieg und stellen das Monument gegenüber dem Ostgiebel des Zeustempels auf. Die Nike auf dem Pfeiler blickt direkt auf einen goldenen Schild, den die Spartaner dreißig Jahre zuvor nach einem Sieg über Athener, Argiver und Ionier in der Schlacht von Tanagra geweiht hatten, und ist eine kühne Antwort darauf.40 Auf genau dieser Basis, die in der Umgebung vor dem Zeustempel ein einmaliges Monument darstellte, wurde nun, im ausgehenden 2. Jh. v. Chr., der erneute Sieg über die Spartaner gefeiert, gut lesbar und in angemessener Höhe. Der Erfolg der Messenier im 5. Jh. v. Chr. bildet damit den monumentalen Rahmen für den Schiedsspruch, der damit in die Tradition der Lokalgeschichte aufbereitet für griechisches und römisches Publikum in Olympia gestellt wird. Derartige raffinierte Kombinationen von Text und Monument verstärken die zu vermittelnde Botschaft und dienen damit ebenso der Konstruktion von Geschichte wie der Gestaltung der zukünftigen Erinnerung.41 Für das Heiligtum von Olympia sind wir in der glücklichen Lage, durch den Reisebericht des Pausanias feststellen zu können, wie die Wirkung von Inschriften als historischen Zeugnissen auf das gebildete Publikum gewesen sein könnte. Der Geograph und Reiseschriftsteller stammte aus Kleinasien und lebte im 2. Jh. n. Chr. Er kam sicher aus einer wohlhabenden Familie und verfügte über eine sehr gute und umfangreiche klassische Bildung.42 In den zehn Büchern der Beschreibung Griechenlands bildet die Schilderung Olympias, die alleine zwei Bücher umfasst, eindeutig einen Höhepunkt. Mit Pausanias in der Hand werden die Monumente und Bauten von Olympia lebendig. Er beschreibt die Statuen, die auf den heute noch erhaltenen Basen standen, inzwischen aber verloren sind. Vor allem aber gibt er zahlreiche Zusatzinformationen, erläutert die knappen epigraphischen Testimonien und erzählt die Geschichten, die zu den Monumenten gehören. Ein typisches Beispiel ist etwa die Siegerinschrift eines Boxers, IvO Nr. 144: Die Statuenbasis wurde gegenüber der Nordostecke des Zeustempels gefunden und trägt eine für Olympia typische Siegerinschrift „Euthymos, der Lokrer, Sohn des Astykles, siegte dreimal in Olympia, sein Bildnis wurde aufgestellt, damit die Menschen es betrachten können“.43 Die Statue wurde von Euthymos selbst aufgestellt, der Künstler, der sie gestaltete, war der Samier Pythagoras. Diese Angabe findet sich auch bei Pausanias, der die Statue und die Inschrift gesehen hatte.44 Er informiert zudem darüber, dass die Siege des West-Lokrers an den Spielen der 74., 76. und 77. Olympiade stattfanden, also in den Jahren 484, 476 und 472 v. Chr. Das Ereignis datiert mithin also gut sechs Jahrhunderte vor der Reise des 40 SINN, Das antike Olympia, S. 63–66 und 221–223. 41 Vgl. zum Aufstellungsort und zur Verbindung verschiedener historischer Ereignisse durch nachfolgende Publikation auf oder neben bestehenden Monumenten CHANIOTIS, Mnemopoetik, S. 143–147. 42 HABICHT, Pausanias' Guide, S. 13–18 und 141–144; PRETZLER, Pausanias, S. 21–28. 43 Basis aus pentelischem Marmor, H 0.33 – B 0.88 – T 0.86; verwendet als Unterstein, der darauf liegende Oberstein, der Auskunft über die Art der Statue hätte geben können, ist verloren (Fund 5.3.1878; Gipsabguss in Berlin). 44 Paus. 6,6,4–10.

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Pausanias und vor seinem Besuch in Olympia. Doch Pausanias‘ Wissen ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Euthymos sei, so laute die Sage (φάσις), in Wahrheit ein Sohn des Flussgottes Kaikinos gewesen. Dieser Angabe folgt ein kurzer Bericht über Grashüpfer in seiner italischen Heimat. Als nächstes werden Erklärungen zum fehlenden Sieg bei den Spielen der 75. Olympiade und einem Rechtsfall und der Bestrafung des Gegners Theagenes von Thasos angeführt. Den Abschluss bilden – für uns mythische – Erzählungen über den Kampf des Euthymos gegen den Geist eines von Odysseus verlassenen Gefährten. Man wird mit M. Pretzler davon ausgehen müssen, dass Pausanias diese Zusatzinformationen vor allem in Olympia selbst bei seinem Studium des Heiligtums erfahren hatte, möglicherweise von lokalen ‚Wissenden‘, die im Heiligtum beschäftigt waren, oder von ‚Reiseführern‘.45 Wichtig ist an dieser Stelle, aufzuzeigen, dass die einfache zweizeilige Siegerinschrift in Olympia eben nicht alleine steht, sondern in den Kontext einer Geschichte eingebunden ist, die ein halbes Jahrtausend später einem interessierten Forscher erzählt werden kann und dabei eindeutig mythische und – wohl – reale Elemente ansatzlos miteinander verbindet. Hier wird nicht nur die Geschichte der epizephyrischen Lokrer, also der Heimat des Sporthelden, sondern auch die Geschichte des Heiligtums, in dem seine Statue aufgestellt war, konstruiert und für Pausanias rekonstruiert. Die Inschriften beginnen in einem Umfeld, das auch in der Kaiserzeit immer noch von mündlich tradiertem Wissen bestimmt ist, zu leben. Auf diese Art und Weise könnten zahlreiche weitere epigraphische Zeugnisse vorgestellt werden, die auf die eine oder andere Art ihren Beitrag zum Geschichts(lehr)buch Olympia leisten. Die Kommunikation mit dem Leser, die für die Inschriftenkultur typisch ist, wurde von den griechischen Stadtstaaten von Anfang an auch dazu genutzt, ein bestimmtes Bild von der eigenen Vergangenheit zu erzeugen. Neben historischer Wahrheit findet sich natürlich auch Konstruktion, eine Verbindung mit dem Mythos, der in unseren Augen unhistorisch ist und ergründet und von den historischen Realitäten getrennt werden muss. Dies ist allerdings, wie Gehrke überzeugend darlegt, lediglich eine moderne Sicht auf die Geschichte, die die Griechen in anderer Weise rezipierten. Neben der Frühgeschichte werden in den Inschriften kontemporäre Ereignisse festgehalten, die die Basis für die Geschichtsauffassung kommender Generationen bilden, und wiederum spielt die Intention der Akteure eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus sind Inschriften Anknüpfungspunkte für Geschichte, die von ihnen ausgehend mündlich tradiert wird und uns nur in seltenen Fällen schriftlich überliefert ist. Nicht zuletzt aber kann man diese historischen Texte durch ihren monumentalen Kontext um eine Ebene des Schauens und Erfahrens erweitern, die den literarischen Quellen zumeist fremd, für die Inschriften aber bewusst eingesetzt und von hoher Bedeutung ist. Für die griechische und römische Geschichte ist der Beitrag der Epigraphik längst evident, die hier vorgestellten Beispiel sollen aber auch dazu anregen, in unserer eigenen Lebenswelt Schriftartefakte, die dauerhaft in der Öffentlichkeit publiziert sind, in neuem Licht zu betrachten. 45 PRETZLER, Pausanias, S. 235–249.

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DIE SIEDLER VON OPHIR. GESCHICHTSMYTHEN UND LEGITIMATIONSIDEOLOGIEN IN RHODESIEN (SIMBABWE) Christoph Marx, Duisburg/Essen Als der deutsche Afrikareisende Carl Mauch im Jahr 1871 als erster Europäer die Ruinenanlage Great Zimbabwe, die größten vorkolonialen Steinbauten südlich der Sahara, zu Gesicht bekam, war er schnell überzeugt, dass die Ruine auf dem Berge eine Nachbildung des Salomonischen Tempels auf dem Berge Moria, die Ruine in der Ebene eine Nachbildung jenes Palastes ist, worin die Königin von Saba während ihres Besuches bei Salomo wohnte.1

Carl Mauch (1837–1875) war ein Grundschullehrer, der aus dem schwäbischen Ludwigsburg kam und sich als Autodidakt in der Geologie versuchte. Mauch hatte sich seit 1867 in Südafrika aufgehalten, wo zahlreiche Gerüchte über alte, von Weißen errichtete Bauten nördlich des Limpopoflusses kursierten. Damit zog er die Aufmerksamkeit der Geographen in Deutschland auf sich, die seine Reise weiterhin mit Interesse verfolgten, ihn finanziell unterstützten und seine waghalsigen Interpretationen der Zimbabwe-Ruinen verbreiteten. Vor allem die viel gelesene Zeitschrift Petermanns Geographische Mitteilungen, die publizistische Drehscheibe der deutschen Forschungsreisen im späten 19. Jahrhundert, veröffentlichte Mauchs Briefe und Reiseberichte. Zudem wurde er vom deutschen Missionar Merensky, bei dem er sich einige Zeit aufhielt, entsprechend instruiert. Merensky hatte als Hobby-Historiker seit langem alle Angaben der Afrikaner gesammelt, die von großen Steinruinen im Gebiet nördlich des Limpopo-Flusses berichteten.2 Seine wichtigsten Gewährsleute waren jedoch die Portugiesen, die nach der ersten Umseglung des afrikanischen Kontinents durch Vasco da Gama ihr Augenmerk neben Indien besonders auf den Südosten Afrikas gerichtet hatten. Sie hatten aus verschiedenen Quellen Hinweise auf Goldvorkommen in der Region erhalten und traten bald mit den afrikanischen Potentaten in Handelsbeziehungen. Obwohl sich der Handel in ihrer Gegenwart abspielte, waren die Portugiesen schnell bei der Hand, den Goldabbau in eine frühe Vergangenheit zu datieren und mit biblischen Erwähnungen eines geheimnisvollen Goldlandes Ophir zu verbinden. Dieses Land war nie lokalisiert worden, darum lag es für sie nahe, die Goldvorkommen in Südostafrika auf die entsprechenden Bibelstellen zu beziehen. Die Erwähnung im Buch der Könige lautet:

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MAUCH, Reisen, S. 51. GARLAKE, Simbabwe, S. 67.

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Christoph Marx Auch Schiffe erbaute der König Salomo zu Ezjon-Geber, das bei Elat am Ufer des Schilfmeeres in Edom liegt. Hiram sandte seine Leute, kundige Seefahrer, auf Schiffen mit den Leuten Salomos aus. Sie fuhren nach Ophir und holten von dort 420 Talente Gold, die sie Salomo brachten.3

Weitere, kurze Erwähnungen von Ophir in anderen Büchern der Bibel helfen aber nicht weiter, dieses Gebiet zu lokalisieren.4 So rankten sich um das Goldland alle möglichen Legenden. Bereits die Portugiesen begannen, das Goldland Ophir in einen direkten Zusammenhang mit den Steinbauten von Zimbabwe zu bringen. Offenbar wurden sie von bibelkundigen Muslimen auf deren eigene Theorien aufmerksam gemacht.5 Einer der wichtigsten Kompilatoren des 16. Jahrhunderts, Joao dos Barros, lieferte eine Erklärung, die das Vorbild für spätere Deutungen abgab: Betrachtet man die Lage und die Bauweise dieses so weit im Landesinnern befindlichen Gebäudes, und nimmt man hinzu, daß die Mohren zugeben, es nicht errichtet zu haben, zumal es dafür zu alt ist und die Einheimischen nicht einmal mehr die Charaktere seiner Inschrift über dem Tor verstehen, so dürfen wir wohl annehmen: Dies ist der Ort, den Ptolemaios Agysymba nannte ... Nimmt man alle Tatsachen zusammen, so scheint es: Irgendein Fürst, der sich im Besitz der Minen befand, ließ das Bauwerk als Zeichen dessen errichten. Im Lauf der Zeit verlor er sie dann wieder, waren sie doch so weit von seinem Königreich entfernt!6

Die Wahllosigkeit der fremden Kultur, die mit Simbabwe in Verbindung gebracht wurde, zeigte sich schon frühzeitig, als ein Missionar an Petermanns Geographische Mitteilungen meldete, Mauch sei von seiner Missionsstation weitergereist, um „die Ruinen mit Ägyptischen Alterthümern“ zu entdecken.7 Das war 1868, doch es sollte noch drei Jahre dauern, bis Mauch die Ruinen von Simbabwe tatsächlich zu Gesicht bekam. Mauchs erste, recht präzise Beschreibungen der Ruinen bestätigten August Petermann in seiner Überzeugung, es könne sich nur um Ophir handeln. 8 Denn schon drei Jahre zuvor mutmaßte der Redakteur, die gerade entdeckten südafrikanischen Goldfelder seien das alte Ophir.9 Mauch teilte diese Einschätzung, denn noch bevor er die Ruinen erstmals zu Gesicht bekam, war er überzeugt davon, dass die Gebäude von Weißen errichtet worden waren.10 Er wunderte sich, keinerlei Inschriften zu entdecken, wofür er aber schnell die Erklärung parat hatte, denn nirgends in der Bibel sei etwas von Schriftzeichen an Salomos Tempel überliefert.11 Mauch fand auch bald afrikanische „Zeugen“, die ihm erzählten, dass die Erbauer der Gemäuer Weiße gewesen seien. Ein alter Mann, den Mauch mit Geschenken und Bier gesprächig machte, erzählte ihm, dass sein 3 4 5 6

1 Könige 9,26–28. 1 Chronik, 29,4; 2 Chronik, 8,7–18, 1 Könige 22,48. MARCONNES, Sofalas, S. 67–70. Die Bezeichnung „Mohren” in portugiesischen Quellen dieser Zeit meint Mauren und steht synonym für Muslime, nicht für Schwarze. 7 PETERMANN, Karl Mauch’s dritte Reise, S. 190. 8 PETERMANN, Carl Mauch's Entdeckung, S. 124–126. 9 PETERMANN, Goldfedern, S. 145. 10 SOMMERLATTE, Gold und Ruinen, Tagebucheintrag v. 31. 8. 1[8]87, S. 156. 11 MAUCH, Reisen, S. 52.

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Vater noch als „Hohepriester“ in Simbabwe geopfert habe.12 Seine Beschreibung der dabei durchgeführten Riten überzeugte Mauch endgültig: Die Ähnlichkeit dieser Opfer mit jenen vom Israelitischen Kult vorgeschriebenen ist eine unverkennbare. Die Grundzüge sind deutlich vorhanden, wenn auch das Detail Vieles zu wünschen übrig lässt.13

Bestärkt wurde er in seinen Befunden von der Überzeugung, dass die Bauten und dort gefundene eiserne Gegenstände „nicht von Schwarzen verfertigt werden“ konnten.14 Später soll Mauch seine Identifizierung Zimbabwes kritischer gesehen oder sogar zurückgenommen haben, während seines Aufenthalts nutzte er jeden noch so kleinen Hinweis zur Stützung seiner Ophir-These.15 AMATEUR-ARCHÄOLOGEN IM DIENST VON CECIL RHODES Mauchs Bericht erregte großes Aufsehen und das Interesse der Kolonialpioniere, die sich nun anschickten, das Gebiet zwischen Limpopo und Sambesi in die Kolonie Rhodesien zu verwandeln. Nach einigen weiteren weißen Besuchern der Ruinen, die in der Regel zur Spezies der Großwildjäger und Händler gehörten, bemächtigte sich der Bergbauunternehmer und imperialistische Politiker Cecil Rhodes des Zugriffs auf die Ruinen. Seine British South Africa Company (BSAC) beanspruchte seit 1890 das Gebiet zwischen Limpopo und Sambesi, das nach ihm als Rhodesien benannt wurde. Rhodes beauftragte einen Amateur-Archäologen mit Erfahrung in Vorderasien und im Mittelmeerraum, Theodore Bent, mit der Untersuchung der Ruinen. Bent war der erste mehrerer selbsternannter Experten, die mit unsachgemäßen Ausgrabungsarbeiten begannen und damit unwiederbringlichen Schaden für die Wissenschaft anrichteten, wobei Bent noch vergleichsweise sorgfältig arbeitete und seine Funde dokumentierte. Privat äußerte Bent seine Zweifel noch während er mit den Ausgrabungen beschäftigt war: „Ich denke, es sind Eingeborenen-Bauten ... Alles, was wir bisher haben, stammt von Eingeborenen.“16 Öffentlich verkündete er das Gegenteil und lieh seine wissenschaftliche Autorität einer Interpretation, die von den neuen Kolonialherren nur zu gern übernommen wurde.17 Denn das Interesse von Rhodes rührte nicht aus seiner Neugier auf die Vergangenheit der Afrikaner, die er seiner Herrschaft unterwarf. Vielmehr

12 MAUCH, Reisen, S. 50; OFFE, Carl Mauch, Tagebucheintrag v. 22. Februar 1872, S.40–43; GARLAKE, Simbabwe, S. 68. 13 MAUCH, Reisen, S. 51. 14 EBD., S. 123. 15 VERST, Karl Mauch, S. 85–90. Verst weist darauf hin, dass Mauch durch seine Afrikareise bekannt werden wollte und sich eine Karriere erhoffte, was vermutlich einer der Gründe war, warum er möglichst sensationelle Ergebnisse vorlegen wollte. Demgegenüber ist das Buch von HERTEL, Ruinen, nicht viel mehr als eine historisch kontextualisierende Zitatsammlung. 16 GARLAKE, Simbabwe, S. 72. 17 BENT, Cities, S. 220. Auch GILL, Comparison, S. 10 spricht von den Erbauern als “a race possessing a hight type of industrial life at a far distant period”.

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war er auf der Suche nach einer probaten Legitimationsideologie für die Kolonialherrschaft. Weil Bents Bericht diesbezüglich nicht ganz eindeutig ausgefallen war, der Autor überdies kurz darauf das Zeitliche segnete, beauftragte Rhodes einen anderen „Forscher“, der in bemerkenswerter Weise archäologische Inkompetenz mit umso größerem Beharrungsvermögen hinsichtlich einmal gefasster Thesen verband. Es war der Journalist Richard Nicklin Hall, der gemeinsam mit einem Geologen weitreichende Untersuchungen und Ausgrabungen an den Ruinen in Angriff nahm. Weil Hall davon ausging, dass es sich um eine sehr alte Ruine handle und ein afrikanischer Ursprung völlig außerhalb seines Vorstellungsvermögens lag, begann er zu graben. Wenn eine Ruine sehr alt ist, muss man sehr tief graben, bis man auf die antiken Spuren stößt. Von dieser Annahme angehend, räumte Hall zuerst das weg, was er als „Schmutz und Abfall der Kaffernbevölkerung“, als Spuren einer rezenten Besiedlung, bezeichnete. Damit zerstörte er die wichtigsten archäologischen Schichten innerhalb der großen Umfassungsmauer und einen beträchtlichen Teil der Datenbasis für eine archäologische Rekonstruktion.18 Dies ist der Hauptgrund, warum über die Funktion der Gebäude von Great Zimbabwe wenig gesichertes Wissen existiert, wobei diese Wissenslücken wiederum Platz für den Spekulationshumus bilden, auf dem wilde und bizarre Erklärungen gedeihen. Die angerichteten Schäden waren so verheerend, dass Rhodes höchstpersönlich Halls weitere Arbeiten stoppte und alle Ausgrabungen fürs erste einstellte. Hall ließ sich durch solche Behinderungen nicht in seiner Thesenbildung beeinträchtigen und veröffentlichte ein dickleibiges Buch, in dem er seine Interpretationen über einen antiken Hintergrund der Ruinen verbreitete.19 Der irische Journalist und Linguist Augustus Henry Keane, bekannt für seine rassistischen Positionen, griff diese Thesen auf, um den nicht-afrikanischen Ursprung und damit die Behauptungen Bents, Halls und Rhodes zu bestätigen.20 Trotz der unhaltbaren Behauptungen sind diese Bücher heute als Quelle durchaus von Interesse, da sie zahlreiche Funde und ihre Fundorte beschreiben, aus denen man wenigstens annäherungsweise Schlüsse ziehen kann, die andere archäologische Erkenntnisse bestätigen oder falsifizieren können.21 ERSTE WISSENSCHAFTLICHE AUSGRABUNGEN 1905 schließlich fand die erste wirklich wissenschaftliche Untersuchung der Ruinen statt. Ein Archäologe mit reicher Ägypten-Erfahrung, David Randall-MacIver wurde beauftragt, die Stätte zu untersuchen, natürlich mit dem Hintergedanken, 18 19 20 21

GARLAKE, Simbabwe, S. 79. HALL, Ruins. KEANE, Gold, S. 181–194. Der südafrikanische Archäologe Thomas Huffman hat in mehreren Publikationen mit den Mitteln der kognitiven Archäologie die Bedeutung der Ruinen im Kontext der Shona-Kultur zu entschlüsseln versucht: HUFFMAN, Symbols und besonders DERS., Snakes.

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nun auch von wissenschaftlicher Seite die Ophir-These bestätigt zu bekommen. Doch er kam nach eingehenden Untersuchungen sowohl von Great Zimbabwe als auch anderer Ruinenstätten zu ganz anderen Schlüssen. Als erster vertrat er die Auffassung von einem afrikanischen Ursprung und konnte dies immanent anhand kultureller Vergleiche feststellen. Doch was ihm fehlte, waren die handfesten Beweise in Form einer Datierung, die erst in den 1950er Jahren, nach der Entwicklung der Radiokarbon-Methode, möglich wurde. Sein Buch Medieval Rhodesia datierte die Ruinen aber immerhin schon annähernd in den richtigen Zeitraum, nämlich den des europäischen Mittelalters.22 Damit stellte er erstmals einen historischen Zusammenhang her zwischen den Ruinen und den Imperien der Shona, insbesondere dem Mwene Mutapa-Reich, mit denen die Portugiesen tatsächlich in Kontakt getreten waren.23 Hall widersprach Randall-MacIver vehement; wie sehr ihn dies beschäftigte und wie wichtig ihm das angeblich hohe Alter der Anlage war, lässt sich daraus erkennen, dass er ein zweites Buch von fast 500 Seiten schrieb, um den Archäologen zu widerlegen.24 Obwohl mit Mauchs Entdeckung die Ruinen erstmals der direkten Beobachtung und Erforschung zugänglich wurden, zeigte der Ophir-Mythos eine erstaunliche Beharrungskraft, ja er schlug nur noch tiefere Wurzeln. Randall-MacIvers Ergebnisse wurden zwar von der Fachwelt, keineswegs aber von den rhodesischen Siedlern akzeptiert. Die Legenden und Mythen schossen weiter ins Kraut und schlugen sich auch in der Benennung einzelner Teile der Ruine nieder. So wurde die große Umfassungsmauer in der Ebene als „Tempel“ bezeichnet, die Bergruine als „Akropolis“. Diese Namen hielten sich als offizielle Bezeichnungen bis zum Ende der Kolonialherrschaft, also bis 1980.25 DIE POPULARISIERUNG DES MYTHOS Die Herausforderung, die von der wissenschaftlichen Falsifizierung des OphirMythos ausging, trug zu seiner Popularisierung bei. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Nicht zufällig befasst sich der erste Roman in afrikaanser Sprache mit den Simbabwe-Ruinen und dem dort angesiedelten Reich der Königin von Saba.26 22 RANDALL-MACIVER, Rhodesia, S. 63: “The date of the Elliptical Temple, then, is not earlier than the fourteenth or fifteenth century.”. 23 Zu den portugiesischen Kontakten mit den Shona-Reichen s. MARX, Pelze, Kap. 1. 24 HALL, Pre-Historic Rhodesia. 25 HUFFMAN, Guide, S. 11 spricht noch von der Akropolis, vermeidet aber den Begriff Temple. Allerdings hat er nur ein Jahr vorher die Theorie zurückgewiesen, Zimbabwe reiche vor die Zeit des europäischen Mittelalters zurück: Ders., Solomon, S. 21–24. Vgl. dagegen ältere Ausgaben des offiziellen Führers durch die Ruinen: SOUTHERN RHODESIA PUBLICITY BUREAU, Zimbabwe Ruins, S. 8 schreibt entgegen den archäologischen Befunden von einem „ungelösten Rätsel“; WALLACE, Zimbabwe Ruins, S. 10, schließt einen afrikanischen Ursprung kategorisch aus; JONES, Guide, S. 11 spricht von einer verschwundenen Kultur. Vgl. dagegen den Tour Guide, der nach der Unabhängigkeit erschien und eindeutig den afrikanischen Ursprung der Anlage betont: GARLAKE, Great Zimbabwe, S. 9–11. 26 DU TOIT, koningin.

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Der Autor war S. J. du Toit, eine zentrale Figur des frühen burischen Kulturnationalismus; darum kann man davon ausgehen, dass die Wahl des Themas für einen Roman mit programmatischem Charakter für die afrikaanse Sprachbewegung kein Zufall war. Der britisch-südafrikanische Bestseller-Autor Henry Rider Haggard veröffentlichte 1885 sein viel gelesenes Buch King Solomon's Mines, das wiederum die Spielfilme von Steven Spielberg über den Indiana Jones inspirierte. Rider Haggard war eine Art südafrikanischer Karl May, der das Genre des Reiseberichts mit der Abenteuer-Erzählung verband und mit sexueller Symbolik aufgeladene Romane schrieb, die großen Publikumserfolg im südlichen Afrika wie in Europa gleichermaßen erzielten. Sein Roman King Solomons Mines, der auch mehrfach verfilmt wurde, verknüpfte in geschickter Form rassistische Stereotype mit kolonialen Ideologien in einer Geschichte der Simbabwe-Ruinen als steinernen Zeugen der antiken Beherrschung des südlichen Afrika. Er kontrastiert den hochkulturellen Hintergrund der Steinbauten mit der Barbarei und Primitivität der heutigen Bewohner.27 In seinem späteren Roman She griff Rider Haggard ethnographische Erkenntnisse über die Rolle einer Regenmacherin bei den Lobedu im Nordtransvaal (Südafrika) auf und vermischte sie mit dem Mythos der Königin von Saba, die Herrschaft einer weißen Frau über „primitive Afrikaner“ in einem verborgenen Reich in Zentralafrika auszumalen.28 Voll grausiger Szenen, z.B. über menschliche Mumien, die als Fackeln benutzt wurden, und angereichert mit angsterregenden Landschaftsbeschreibungen ließ sich auch dieser Roman mit Simbabwe in Verbindung bringen, obwohl die Ruinenstätte in diesem Text nicht direkt erwähnt wird. Der Ophir-Mythos schlug sich in zahlreichen Namensgebungen im südlichen Afrika nieder: So war eine der ersten ertragreichen Goldminen in Südafrika die Sheba-Mine im Osttransvaal, und bis heute heißt ein Vorort der Goldstadt Johannesburg Ophirton. Selbst ein seriöser Schriftsteller und Politiker wie der Südafrikaner Alan Paton machte sich 1956 mit einigen Freunden auf die erfolglose Suche nach der Lost City of the Kalahari.29 DEUTSCHE „EXPERTEN“ Schon bald nach Mauchs Besuch begannen im fernen Deutschland alle möglichen „Experten“ sich zu den Ruinen zu äußern, die sie nie gesehen hatten, was ihrer Überzeugung, es könne sich nicht um Arbeiten von Afrikanern gehandelt haben, keinerlei Abbruch tat. Stattdessen argumentierten sie aus einer angeblichen Kenntnis der „Neger“ heraus. Der Missionar Carl Beuster etwa zeigte sich in einem Brief an die in Berlin ansässige Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie 27 HAGGARD, Schatzkammer. 28 HAGGARD, Sie; KRAMER, Ethno-Fiction. 29 PATON, Lost City; Paton unternahm die Reise mehr aus Abenteuerlust als aus einem wirklichen Glauben, dass eine solche Stadt existierte. Das Buch wurde aus Patons Nachlass publiziert.

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und Urgeschichte überzeugt, dass „die Bauwerke von Zimbabye nie und nimmer, weder in geschichtlicher noch in vorgeschichtlicher Zeit, von irgend einem hiesigen afrikanischen Völkerstamm herrühren können.“30 Auch Beuster vertrat mit Emphase die Ophir-These und meinte, der konische Turm von Simbabwe sei eine „Sonnensäule“ und stünde mit dem „Baalsdienst“ in Verbindung.31 Das Interesse in deutschen Gelehrtenkreisen an den Ruinen wurde erneut angestachelt durch zwei Publikationen des rassistischen Imperialisten und Kolonialpropagandisten Carl Peters. Peters mühte sich daran ab, mit teilweise haarsträubenden Spekulationen den Nachweis zu erbringen, dass die Kolonie Südrhodesien, die in der Great Zimbabwe lag, schon einmal ein Kolonialgebiet gewesen sei; so versuchte er etwa eine etymologische Beziehung zwischen dem Fluss Save und der Königin von Saba sowie zwischen Ophir und der Küstenstadt Sofala herzustellen. Er wollte beweisen, dass es sich nicht nur um Ophir handle, sondern dass „das Zambesi-Gebiet wahrscheinlich auch das Ziel der grossen ägyptischen Puntfahrt der Königin Hatschepsu um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christo war.“32 Ophir könne nicht in Indien gelegen haben, wie oft vermutet wurde, weil die „dort erobernd auftretenden arischen Stämme wohl schwerlich einer fremden Rasse [nämlich der semitischen] die militärische Festsetzung zu bergmännischen Unternehmungen gestattet haben würden.“ Er war überzeugt, das biblische Goldland sei in Ländern mit „minderwertigen Rassen“ zu suchen, weil diese leichter zu unterjochen waren.33 Die Vorstellung eines afrikanischen Ursprungs erschien ihm absurd: Ich möchte demgegenüber fragen, wo sonst in Afrika Neger ein solches Riesenmass von Arbeit geleistet haben ... Solche Leistung erinnert mehr an die Erbauer der Pyramiden, als an die Gewohnheiten der Negerseele.34

Wesentlich fundierter war ein Aufsatz des damals prominenten Altertumsforschers und Sanskrit-Experten Gustav Oppert, der über eine philologisch genaue Überprüfung der einzelnen Bibelzitate die Ophir-These zu erhärten versuchte. Allerdings war der Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation, es habe zu Salomos Zeit Schiffsreisen nach Südostafrika gegeben, bloße Spekulation.35 Der Ethnologe Robert Hartmann hatte bereits 1876 nach der Betrachtung von Mauchs Zeichnungen der Ruinen gemeint, Simbabwe könne nur „alte BantuArbeit“ sein.36 Sein Kollege Felix von Luschan konsultierte Randall-McIver während eines Südafrika-Besuchs, dessen Argumente ihn überzeugten. Denn er hielt im Februar 1906 einen Vortrag vor der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in welchem er darlegte, dass Simbabwe keineswegs Ophir, sondern einer afrikanischen Kultur zugehörig sei. Für die Lokalisierung von Ophir 30 31 32 33 34 35 36

BEUSTER, Ruinen, S. 289. EBD., S. 291. PETERS, Goldland, S. Vf. PETERS, Goldene Ophir, S. 28. PETERS, Goldland, S. 258. OPPERT, Tharschisch, S. 252. HARTMANN, Vortrag, S. 189.

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in Rhodesien, so Luschan, bestehe „nicht der Schatten eines Beweises“. Sämtliche Funde gehörten „klipp und klar zur Kaffernkultur.“37 Konkret wies er den afrikanischen Charakter in Simbabwe gefundener Gegenstände nach.38 Luschan führte als erster die Ophir-These auf ökonomische Interessen von Weißen zurück: Auffallenderweise stossen die Zweifel an der Gleichstellung von Ophir und Rhodesien an Ort und Stelle gerade bei den Leuten auf den allerheftigsten Widerspruch, die an den dortigen Minen finanziell beteiligt sind. 39

Sein Vortrag ist der erste wirkliche Schritt im deutschen Sprachraum in Richtung auf eine Verwissenschaftlichung der Debatte über Simbabwe. Eine weitere dissentierende Stimme war Rudolf Pöch, ein Schüler Luschans, der in den Mitteilungen der k.u.k. Geographischen Gesellschaft in Wien Luschans Befunden zustimmte. Er warf den Vertretern der Ophir-These den methodischen Fehler vor, „nach Urhebern der Bauten außerhalb des Landes zu suchen, ohne sich vorher zu fragen, wie weit die ganze Simbabye-Kultur aus dem Lande selbst erklärt werden kann.“40 Für ihn war der afrikanische Charakter der Bauten über jeden Zweifel erhaben, und er wies dies anhand etlicher Details nach und bezog sich dabei ebenfalls auf Randall-McIver. Er bestritt, dass Afrikaner keine Steinbauten gekannt hätten, und verwies auf die mittlerweile über 200 bekannten Steinruinen in Rhodesien. Zudem habe die Untersuchung von Skeletten in Gräbern mit Grabbeigaben aus Gold ergeben, dass es sich bei den Toten eindeutig um Afrikaner gehandelt habe.41 Luschans und Pöchs Ansichten blieben keineswegs unbestritten. In der an Luschans Vortrag anschließenden Diskussion wies Paul Staudinger, Mitglied des deutschen Kolonialrates, Luschans These zurück mit der Begründung: Auch sind die Neger, d.h. so wie wir sie jetzt kennen, nicht dazu angelegt, solche Türme und andere Anlagen aus Steinen ohne besonderen Zweck zu bauen. Wenn wirklich Neger die Errichter von Bauten von Simbabwe waren, so taten sie es unter Anleitung von fremden Bauherren.42

Damit drückte er die Meinung der Mehrheit der anwesenden Gelehrten aus. Ihm erschien es plausibler, ein aus dem Norden Afrikas stammendes Volk sei für die Bauten verantwortlich, doch sah er sich außerstande, dieses Volk zu identifizieren. Auch der Ethnologe Franz Stuhlmann meinte in seinem Buch Beiträge zur Kulturgeschichte von Ostafrika, dass die Bauten „nun und nimmer allein von Negern ausgeführt sein können.“43 Er vermutete die Erbauer seien Kolonisten aus

37 VON LUSCHAN, Bericht, S. 873. 38 DERS., Holzgefäß, S. 444f. S. dazu auch SIX-HOHENBALKEN, Felix von Luschans Beiträge, S. 174–176. 39 VON LUSCHAN, Bericht, S. 890f. 40 PÖCH, Simbabye-Frage, S. 433. 41 EBD., S. 443. 42 PROTOKOLL LUSCHAN, S. 918. 43 STUHLMANN, Beiträge, S. 849f.

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Südarabien oder vom Persischen Golf gewesen.44 Stuhlmanns Vorstellung einer Degeneration führte ein neues Thema in die deutsche Diskussion ein: Die Zimbabwe-Kultur war zur Zeit der Ankunft der Portugiesen offenbar nicht mehr auf ihrem Glanzpunkt, sie muß aber gleich bei ihrem Beginn auch mit großen Mitteln, mit einer Art Goldfieber eingesetzt haben, und allmählich wird sie degeneriert und vernegert sein.45

Der deutsche Afrikareisende Georg Schweinfurth veröffentlichte eine umfangreiche Rezension von Stuhlmanns Buch, in der er wie Stuhlmann bestritt, „daß Eingeborene je derartiges aus eigener Initiative hätten hervorbringen können.“46 FORSCHUNGEN DER 1920ER JAHRE Schließlich gaben die Rhodes Trustees und die British Association 1928 eine weitere wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag. Sie betrauten damit die britische Archäologin Gertrude Caton-Thompson, die in den Talruinen neben der großen Umfassungsmauer und anderen Ruinenstätten genaue Untersuchungen anstellte und MacIvers Ergebnisse nicht nur bestätigte, sondern wesentlich detailreicher belegen konnte. Allerdings trug sie selbst nicht unbedingt zur Rezeption ihrer Forschungsergebnisse in der Siedlerschaft bei. So heftete sie die zahlreichen schriftlichen Eingaben, Denkschriften und Interpretationsversuche, die ihr von Siedlerseite zukamen, demonstrativ in einem Ordner ab, der das Schild insane trug, was den Siedlern nicht verborgen blieb. Vermutlich dürfte auch die Tatsache, dass sie eine Frau war, bei der Zurückweisung ihrer Ergebnisse eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt haben. Selbst ein liberaler südafrikanischer Politiker wie Leslie Blackwell war noch in den 40er Jahren überzeugt, die Ruinen seien außerafrikanischen Ursprungs und meinte: Miss Caton Thompson, the archaeologist, who spent some months there fifteen years ago, thinks that they are of Bantu origin, and rejects the more interesting theories that they are the remains of a lost master race. But, as one who has lived among the Bantu most of his life, I am slow to believe that any one of their tribes of peoples could have devised or carried out Zimbabwe. Speaking, not as an archaologist, but as a South African who has visited these ruins on not less than half a dozen occasions, I feel sure that they were the work of a foreign race, Phoenician or Arab or Semitic.47

Etwa zur selben Zeit behauptete ein anonymer Autor anlässlich einer Notiz über Ausgrabungen am Roten Meer: „The origin of the first Temple of Zimbabwe (upon the ruins of which stand the present imposing ruins of a second and later temple) remains a mystery despite the investigations of successive archaeologists.”48

44 45 46 47

EBD., S. 851. STUHLMANN, Beiträge, S. 852. SCHWEINFURTH, Bemerkungen, S. 193. BLACKWELL, Farewell, S. 229. Blackwell war Politiker und anschließend Richter am südafrikanischen Supreme Court. 48 J.P.C., Clue, S. 19.

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In den 20er Jahren kam mit der Kulturkreislehre ein neuer Interpretationsansatz auf, dessen Methode ursprünglich von Leo Frobenius entwickelt wurde. Er zeichnete die Verbreitungsgebiete sog. Kulturelemente auf Landkarten ein. Wenn eine ganze Reihe dieser Verbreitungsgebiete geographisch zur Deckung zu bringen waren, ging er davon aus, es handele sich um einen Kulturkreis. Der innere Zusammenhang dieses Kulturkreises wurde dann erst im Nachhinein hergestellt, ohne nach der Funktion dieser sog. Kulturelemente im Alltagsleben der Menschen zu fragen. Frobenius nahm Überlagerungen von Kulturkreisen an und verstand die Kulturkreislehre als dezidiert historische Ethnologie. Er schätzte diese Kulturschichten auf ein sehr hohes Alter und schon deswegen erübrigte sich weitgehend die Frage nach der Bedeutung der Kultur im hier und jetzt. Der Rückbezug auf vergangene Zeiten war im Grunde eine Enthistorisierung, wie Frobenius selbst es in einem merkwürdigen Satz formulierte: „Kein Ländergebiet der gesamten Erde aber ist so reich an Dokumenten abgelaufener und ahistorischer Geschichte menschlicher Kultur wie Südafrika.“49 Er unterstellte den Afrikanern, an Gebräuchen festzuhalten, die für sie aufwendig und anstrengend waren, aber von ihnen keineswegs mehr verstanden wurden: Kein Zweifel, daß das heutige Negervolk von einem einstigen Zusammenhang der vielen Scherblein und Trümmerlein, die es in seinen zerschlissenen und abgegriffenen Erinnerungen und Überlieferungen besitzt, nichts mehr weiß, geschweige denn von seiner einstigen Erhabenheit etwas ahnt.50

Ende der 1920er Jahre, als Caton-Thompson ihre archäologischen Grabungen durchführte, kam Frobenius mit einem ganzen Forscherteam nach Rhodesien, wo er, allerdings nicht archäologisch, zwei Jahre lang forschte. Frobenius’ Ziel war es, die Kultur, zu der die Ruinen zu rechnen waren, als Ganzes zu betrachten. Zu diesem Zweck mussten Felsenzeichnungen, mündliche Überlieferungen, alte Bergwerke, Ausgrabungen und die Ruinen selbst in einen Zusammenhang miteinander gebracht werden. Die Resultate fasste er in seinem Buch Erythräa zusammen, wobei zweierlei auffällt: Frobenius bemühte sich, die Erkenntnisse von Caton-Thompson herunterzuspielen, obwohl er ihre archäologische Kompetenz nicht in Frage stellte, indem er auf die Überlegenheit seines interdisziplinären Ansatzes verwies. Caton-Thompson könne die Ruinen gar nicht adäquat beurteilen, weil sie diese nur isoliert sehe.51 Interessanterweise brachte der einzige und originelle Versuch von Frobenius, zu einer Datierung zu gelangen, als er Ascheablagerungen in einer Felsspalte zählte, die von den jährlichen Feuern auf abgeernteten Feldern stammten, ihn auf die Zeit um 1000 n. Chr.52 Entgegen seiner eigenen Befunde hielt er dennoch am Mythos vom hohen Alter der Simbabwe-Kultur fest. Sein eigenes, interdisziplinäres Verfahren zeigt deutlich, dass er nicht unbefangen an seine Forschung heranging. Denn als Forschungsziel hatte er offenbar schon vor der Abreise aus Europa formuliert: 49 50 51 52

FROBENIUS, Erythräa, S. 27. EBD., S. 242. EBD., S. 247–251. EBD., S. 283–285.

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Nach altbewährter Methode galt es vor allem, in die Tiefen des ethnologischen Tatbestandes hinabzusteigen. Es galt, den Versuch zu machen, ein Bild des alten sakralen Staates und seiner religiösen Grundlagen zu gewinnen. Es galt, etwaige Beziehungen zwischen diesem geistigen Gebilde und dem der Ruinen und Minen aufzuklären und zu diesem Zwecke Ausgrabungen vorzunehmen.53

Mündliche Überlieferungen verstand er nur als Überlieferungen aus lange vergangenen Epochen, in denen er Rudimenten alter Kultur nachzuspüren versuchte. Damit einher ging die auffallende Ablehnung und sein Desinteresse an der gegenwärtigen Kultur der Afrikaner, die er, wie die Vertreter der Ophir-These, als degenerierte Erscheinung der in unbestimmte Vergangenheit zurückdatierten Hochkultur kontrastierte: Die Buschmänner sind von der neueren Völkerkunde immer wieder als Vertreter einer ‚ursprünglich primitiven‘ Kultur in Anspruch genommen worden, ohne dass jemals ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, ob sie nicht wie manches andere Volk vor allem Zeugnis ablegen für eine mehr oder weniger umfangreiche Kulturverarmung.54

Für Frobenius war Simbabwe Teil des von ihm definierten „süderythräischen Kulturkreises“. Er brachte die verschiedenen Kulturelemente in ein kohärentes System und bot ein in sich schlüssiges Bild einer Kultur an. Es war jedoch versehen mit allen Konnotationen der rätselhaften Riten und seltsamen Gebräuche, die ihren Sinn nur in sich selbst fanden, aber keinerlei funktionalen Bezug zur Lebensrealität der Afrikaner hatten. Die süderythräische Kultur war charakterisiert u.a. durch rituellen Königsmord, sakrales Königtum, Menschenopfer, eine hervorgehobene Stellung von Frauen, aber auch sakrale Prostitution. Frobenius betonte, man müsse die Lebensweise der Afrikaner als Degenerationserscheinung von dem eigentlichen Kern trennen: Die Dramatik, die hier bis zu den erschütterndsten Tiefen vordringt, hat ursprünglich mit der breitphlegmatischen oder nach langen Aufspeicherungen in kurzen Explosionen sich äußernden afrikanischen Seele nichts zu tun.55

Die phantastischen Züge des Kulturbildes, das Frobenius entwarf, wurden noch dadurch unterstrichen, dass er sie als Teil der verlorenen südlichen Hälfte der Menschheitskultur ausgab, die gleichzeitig auch zeitlich vor der bekannten Geschichte angesiedelt war. 56 Er suchte in Afrika das ganz Andere, aber diese Suche war keineswegs von Sympathie für die Menschen Afrikas und ihre gegenwärtige Kultur motiviert. Er betrieb ausdrücklich eine morphologische Kulturforschung,57 keine Erforschung von Gesellschaften. Sein augenscheinliches Desinteresse, ja seine Missachtung der Lebenswelt der Menschen Afrikas versperrte ihm den Blick für eine funktionale Zuordnung derjenigen kulturellen Elemente, die er vorfand. Statt sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen, konstruierte er im Nach53 54 55 56 57

EBD., S. 47. EBD., S. 39. Ähnlich schon TYLOR, Culture, S. 42. FROBENIUS, Erythräa, S. 222. EBD., S. 337–340. EBD., S. 250.

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hinein, was die verschiedenen Elemente im Innersten zusammenhält, nämlich die Kultur. Kultur wird damit zu einem übermenschlichen Subjekt der Geschichte, sie wird essentialisiert und zu einem Surrogat für funktionale Erklärungen. Afrikaner wurden nicht von einer nachvollziehbaren Handlungsrationalität geleitet, sondern sie waren Sklaven eines übermächtigen Kulturerbes, dessen Imperativen sie stumpf gehorchten. Der Steyler Missionar Pater Wilhelm Schmidt hatte eine andere Spielart der Kulturkreislehre entwickelte, der Paul Schebesta angehörte. Dieser publizierte seine Interpretation im Jahr 1926. Die Perspektive hatte sich jetzt vom biblischen Ophir gelöst,58 und Schebesta verglich die afrikanischen Kulturen untereinander. Gleichwohl bleibt er bei einer Fremdherrschaft, wenn auch einer afrikanischen, nämlich der eines von Norden eingewanderten Clans der Manamatapa, die die ansässigen Bantu unterjocht und ein Reich gegründet hätten.59 Schebesta entdeckte Ähnlichkeiten zur Kultur von Buganda, namentlich in den Resten eines „Mutterrechts“ und der ovalen Bauform der Königsresidenzen auf Anhöhen. Später sei in Simbabwe ein Kulturrückgang eingetreten: „Dieser wurde bedingt durch die Zermürbung der Herrscherschicht von Seiten verschiedener äußerer Feinde und durch Absorption seitens fremder ins Land eingefallener Völker.“60 Sein vergleichender Ansatz führte ihn zur Schlussfolgerung, es habe eine Kulturschicht gegeben, die sich in verschiedenen Teilen Afrikas wiederfinde und die durch einen Sonnenkult geprägt gewesen sei. Darum glaubt er auch als sicher annehmen zu können, dass Simbabwe „eine Begräbnisstätte oder vielmehr ein Tempel irgendeines verstorbenen Sonnenkönigs gewesen ist.“61 Diese Kulturschicht umfasste nicht nur die Kalanga Rhodesiens, sondern Buganda, Bunyoro und die Mangbetu in Ostafrika sowie Altägypten, „welches in einer seiner Schichten eine sehr große Übereinstimmung mit den genannten Völkern aufweist.“62 Schebestas Schlussfolgerung ist geradezu salomonisch: Insofern deckt sich mein Resultat mit jenem vieler Archäologen, als die Zimbabwe-Kultur keine Bantu-Kultur ist, und daß sie letzten Endes von außen kommt; jedoch ist sie als afrikanisch anzusprechen, weil sie in Afrika weit verbreitet ist und nicht direkt von auswärts importiert wurde, wie es die Archäologen wollen.63

Der Kern der Ophir-Theorie, nämlich die Herkunft von außen, bleibt auch bei Schebesta erhalten, wenn auch nur noch indirekt und vermittelt über kulturell höherstehende Afrikaner. Ein weiterer Vertreter der Kulturkreislehre, Frobenius eigener Schüler Heinz Wieschhoff, widersprach seinen Thesen, aber noch in den 1960er und 1970er Jahren bezogen sich rhodesische Historiker wie Harald von Sicard auf die diffusio58 59 60 61 62 63

SCHEBESTA, Zimbabwe-Kultur, S. 511f. EBD., S. 485. EBD., S. 511. EBD., S. 514. EBD., S. 520. EBD., S. 522. Andere Studien Schebestas zum Thema sind: SCHEBESTA, Zugehörigkeit, und SCHEBESTA, Rez. Leo Frobenius.

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nistischen Theorien der Kulturkreislehre, während eine Generation später David Beach diese als unhaltbar zurückwies. Aus den auffallenden Ähnlichkeiten in der Beschreibung der Kultur von Simbabwe lässt sich die Vermutung ableiten, dass Autoren wie Frobenius und Schebesta über vage ethnographische Informationen verfügten, die über das hinausgehen, was sie aus den Ruinen selbst an Informationen herauslasen. Doch wurden Spekulationen über sakrales Königtum, die hervorgehobene Stellung von Frauen, Regenmachen, Ahnenkult sowie die religiöskultische Funktion der Bauwerke aus dem Kontext der Lebenswelt der Shona herausgerissen, deformiert, enthistorisiert und in eine mythische Erzählung integriert. Im Jahr 1935 veröffentlichte die Zeitschrift des Native Affairs Department von Rhodesien posthum den Artikel des Jesuitenpaters Francisque Marconnes, der zahlreiche schriftliche Quellen zu Rate zog, nicht zuletzt arabische, und aufgrund weitreichender Spekulationen mit den dort gefundenen sehr vagen geographischen und historischen Angaben gegen Caton-Thompson den ‚Beweis‘ erbringen wollte, dass Great Zimbabwe das Ophir Salomons war.64 Erst 1956 wurden erneut wissenschaftliche Ausgrabungen durchgeführt, bei denen erstmals die Radiokarbon-Datierung zur Anwendung kam, deren Ergebnisse MacIver und Caton-Thompson bestätigten. Allerdings kann allzu leicht eine bewertende Dichotomie zwischen den professionellen Archäologen als wissenschaftlichen Lichtgestalten und den Amateuren konstruiert werden. Denn auch die Archäologen waren keineswegs frei von rassistischen Vorannahmen und der Überzeugung, alle Entwicklungen in Afrika seien von außen induziert worden. Denn oft geht die Identifizierung des afrikanischen Ursprungs der Ruinen mit deren Abwertung einher. Mit dieser Erkenntnis ändern sich die Beobachtungen, denn nun sind die Ruinen nichts Besonderes mehr, sondern ziemlich primitiv. Caton-Thompson etwa führte die Architektur Zimbabwes zurück auf „an infantile mind, a pre-logical mind, a mind which having discovered the way of making or doing a thing goes on childishly repeating the performance regardless of incongruity.“65 In den 1950er Jahren meldete sich auch der in Südafrika tätige Anthropologe Raymond Dart zu Wort. Dart hatte sich eine hohe wissenschaftliche Reputation erworben durch seine Funde und Interpretation des Australopithecus im Jahr 1924, dem sog. missing link zwischen Primaten und frühen Menschen. Dart, der in sehr starkem Maß die Verbindung von Kultur und Biologie beförderte, stellte eine recht verworrene Theorie auf, der zufolge abermals von außen kommende zivilisierte Völker das südliche Afrika kolonisiert hätten.66 Er brachte das ganze scheinbar wissenschaftliche Instrumentarium der Rassenwissenschaft in die Diskussion, die von Ethnien als rassisch-biologisch klar abgrenzbaren Gruppen ausging.

64 MARCONNES, Sofalas. 65 CATON-THOMPSON, Zimbabwe Culture, S. 103. 66 DART, Influences.

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LEGITIMATION DES KOLONIALISMUS Während der 1923 begonnenen Siedlerherrschaft in Rhodesien, insbesondere während der Regierungszeit von Ian Smith (1964–1978), wurde jeder Versuch unterbunden, eine andere Interpretation der Ruinen zu veröffentlichen als die regierungsoffizielle, die den Ophir-Mythos zum Zentrum hatte. Der Kurator der archäologischen Stätten Rhodesiens, Peter Garlake, verlor seine Stelle, weil er nicht bereit war, die eindeutigen Erkenntnisse der Archäologie zugunsten eines Mythos zu verleugnen, und er musste sogar das Land verlassen. Dieses hartnäckige kontrafaktische Festhalten erscheint zunächst nicht mehr denn eine kuriose Fußnote der Kolonialgeschichte zu sein, doch es steckte mehr dahinter, wenn man den Eifer beobachtet, mit dem ein imperialistischer Politiker wie Cecil Rhodes sich persönlich für Forschungen über den phönizischen Ursprung einsetzte und die Ruinen seiner direkten Kontrolle unterstellte. 1892 besuchte er selbst die Stätte, der ihn begleitende burische Politiker David de Waal aus der Kapkolonie zeigte sich überzeugt, dass am konischen Turm der von Phöniziern erbauten Anlage „in all probability great festivities had frequently taken place in honour of the Phallus“.67 Etwa 20 Jahre später reiste ein burischer Pfarrer nach Rhodesien und besuchte die Ruinen. Für D. F. Malan, der nur wenige Jahre später, 1915, eine politische Karriere beginnen sollte, die ihn 1948 in das Amt des ersten Premierministers des Apartheidstaates trug, stand fest: Africans were obviously not capable of such architecture – these were clearly the remnants of an old civilisation that came from the outside world, probably because it was drawn to the gold mines that remained scattered throughout the area, and was either destroyed or left on its own accord. In all probability, the ruins scattered throughout Rhodesia were the remains of the ancient civilisation of the half-mythical civilisation of Monomotapa.68

Für ihn war auch das Mwene-Mutapa Reich (Monomotapa) nicht afrikanisch.69 Der rassistische Grundkonsens tritt deutlich zutage in den Äußerungen von Malans wichtigstem politischen Gegenspieler Jan Smuts, der 1917 mit Bezug auf Great Zimbabwe nach dem Untergang von attempts at civilisations auf dem Kontinent äußerte: Where are those civilisations now? They have all disappeared and barbarism once more rules over the land ... Former civilisations in Africa have existed mostly for the purpose of exploiting the native populations, and in that way, and probably also through inter-mixture of blood, carried in them the seeds of decay.70

Die Bedeutung des Mythos muss offensichtlich in Sinnbedürfnissen der Kolonialgesellschaften oder der kolonisierenden Gesellschaften, d.h. der Siedlerkolonien71 und europäischen „Mutterländer“, gesucht werden, weshalb Bewohner von Rho67 DE WAAL, Honour, S. 339f. Die Idee, dass es sich um einen Phalluskult gehandelt habe, geht offenbar auf Hall zurück: HALL, Ruins, S. 199. 68 KOORTS, D. F. Malan, S. 110f. 69 EBD. 70 SMUTS, Great South Africa, S. 15. 71 Zu Siedlerkolonien und ihrem spezifischen Rassismus s. MARX, Siedlerkolonien.

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desien wie Südafrika ein so ausgeprägtes Interesse an den Ruinen zeigten. Für burische Nationalisten im südlichen Nachbarland waren die Afrikaner „eine unterwürfige, willenlose, tatenlose Masse.“72 Daraus leiteten sie einen zivilisationsmissionarischen Auftrag ab, der Herrschaft, als Vormundschaft deklariert, mit sozialer und territorialer Rassentrennung verband. Auffallend ist die Wahllosigkeit, auf welche Völker die Steinbauten zurückgeführt wurden; diese hatten nur gemeinsam, sich außerhalb Afrikas und im Mittelmeerraum zu befinden: Phönizier, Ägypter, Juden, vorislamische Araber wurden als Urheber genannt, zuweilen in unhistorischer Weise vermengt. Die Beliebigkeit dieser Erklärungsmuster verweist darauf, dass es nicht primär um eine historisch nachvollziehbare Herleitung ging, sondern darum, den afrikanischen Ursprung der Steinbauten auszuschließen. Damit eng verbunden war die Vorstellung, wonach alle zivilisatorischen und kulturellen Impulse in Afrika von außen kamen, der Kontinent selbst kulturgeschichtlich steril sei. Die meisten Autoren betonten einen Zusammenhang der Ruinen mit einem nicht näher identifizierten religiösen Kult. In Verbindung damit ist ein ausgeprägtes Interesse an sexuellen Symboliken unübersehbar, man kann bei einigen Autoren geradezu von sexuellen Obsessionen sprechen.73 Benedict Anderson hat in seiner Nationalismustheorie darauf hingewiesen, dass der Nationalismus Menschen in einer Weise mobilisiert, wie es sonst nur Religionen vermögen. Allerdings entwickelte sich unter den Siedlern Rhodesiens kein Nationalismus, da sie sich als Briten verstanden und in ihrem Siedlungsraum keine neue Identität bildeten. Ihre historischen Begründungsmythen griffen darum auf allgemeinere Vorstellungen eines zivilisatorischen Niveaugefälles zurück und waren wegen des zugrundeliegenden Kausalnexus von Kultur und Biologie rassistisch. Da die Siedler eine Minderheit im Land waren ohne Aussicht, die demographischen Verhältnisse zu ihren Gunsten umzukehren, ging es für sie, die Europa dauerhaft verlassen hatten, um in Rhodesien eine neue Existenz zu gründen, buchstäblich um Leben und Tod. Dies erklärt die geradezu religiöse Inbrunst, mit der historische Imaginationen aufrechterhalten und beschworen wurden. Die Siedler hatten kein Interesse daran, sich gemeinsam mit der unterworfenen und kolonialisierten Mehrheit als Angehörige einer Nation zu verstehen, sondern sie sahen sich als durch zivilisatorische Überlegenheit legitimierte Angehörige einer britischen Herrenrasse. Darum sind zwei Legitimationsmuster nur die beiden Seiten derselben Medaille, nämlich 1. die historische Legitimation der eigenen Siedlung und kolonialen Herrschaft und 2. die Kulturunfähigkeit und Geschichtslosigkeit der Afrikaner. Aus Siedlersicht war klar, dass schon in frühen Jahrhunderten Europäer oder nicht-afrikanische Völker dort eine Zivilisation gebildet hatten. Diese war die einzige, die dort jemals existiert hatte, womit sich die Barbarei der Afrikaner umso stärker kontrastieren ließ. Gleichzeitig konnte man den unbequemen Umstand, dass die Afrikaner seit der Jahrtausendwende Imperien gebildet hatten, aus dem Geschichtsbild ausblenden. Tatsächlich wurde während der Kolonialzeit in 72 VAN SCHOOR, Samewerking, S. 4. 73 Etwa FROBENIUS, Erythräa, S. 28. Vgl. auch DERS., Schicksalskunde, S. 76f.

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den Schulen Rhodesiens, auch in denjenigen für Afrikaner, europäische und keine afrikanische Geschichte gelehrt. Vielmehr eigneten sich die Siedler mit Great Zimbabwe die Geschichte des Landes an und erklärten die afrikanischen Bewohner für geschichtslose Völker. So stellte sich die Siedlerkolonie Rhodesien im Jahr 1952 bei einer großen Ausstellung in Kapstadt vor mit Great Simbabwe in prominenter Position.74 Auf der anderen Seite ist wenig überraschend, dass die afrikanische Unabhängigkeitsbewegung, als sie sich Ende der 1950er Jahre zu formieren begann, genau das Symbol ihrer angeblichen Unterlegenheit für sich als zivilisatorische Leistung beanspruchte, eifrig die archäologischen Forschungsergebnisse rezipierte und den Namen des angestrebten Nationalstaats Zimbabwe daraus ableitete.75 Allerdings wurde mit dem Bezug auf Great Zimbabwe implizit ein Führungsanspruch der Shona artikuliert, den Premierminister Robert Mugabe im Zug groß angelegter Massaker an der Minderheit der Ndebele in den frühen 1980er Jahren durchzusetzen suchte. DEKADENZ UND DEGENERATION Bereits Mauch meinte beobachtet zu haben, dass sich die Shona von anderen Afrikanern äußerlich unterschieden, und zwar durch semitische Gesichtszüge.76 Nur selten gewahrt man negerartige Gesichtszüge, eine schmale und etwas gebogene Nase, keineswegs stark aufgeworfene Lippen lassen viele Physiognomien durchaus nicht hässlich erscheinen. Es dürfte diess auf Arabische, Malayische oder Israelitische Verbindungen früherer Zeiten deuten.77

Die Beschreibungen und Einordnungen von Great Zimbabwe waren durchgehend mit Rassenideologien vermengt. Dies schlug sich besonders in der Diskussion um die Lemba nieder, eine Bevölkerungsgruppe, die in kleinen Siedlungsenklaven unter den Shona und Ndebele leben. Sie praktizieren eine Reihe von Bräuchen, die es in ihrer Nachbarschaft nicht gibt und die zahlreiche Autoren als jüdisch identifizierten. So hält sich hartnäckig die Vorstellung, es handle sich um einen der verlorenen Stämme Israels,78 während der Historiker David Beach auf die naheliegende Vermutung kam, die Lemba pflegten muslimische Bräuche und seien möglicherweise die Nachkom-

74 WITZ, Apartheid's Festival, S. 191. 75 Allerdings produzierten auch schwarze Nationalisten teilweise sehr skurrile Geschichtskonstruktionen, z. B. MULUKA, Dzimbahwe. Wissenschaftlich seriöser, aber, wie der Untertitel erkennen lässt, mit vereinnahmender Tendenz für den postkolonialen Nationalstaat: MATENGA, Soapstone Birds. 76 MAUCH, Reisen, S. 7; s. auch S. 97. 77 EBD., S. 41. 78 Dies wird detailliert und kritisch diskutiert in LE ROUX, Lemba.

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men von Shona-Muslimen, die von den Portugiesen im 17. Jahrhundert aus der Küstenregionen vertrieben wurden.79 Der Missionar Carl Beuster zeigte sich überzeugt, dass die Lemba etwas mit den Ruinen zu tun hätten, denn sie unterschieden sich von allen Nachbarvölkern, etwa indem sie die Beschneidung praktizierten. Allerdings sah Beuster in ihnen keineswegs die Nachkommen der früheren Herrscher – schließlich waren sie ja Schwarze –, sondern die Nachkommen von deren Untertanen.80 Andere Autoren folgten Mauch und beurteilten die Shona-Bevölkerung als späte Nachkommen der ursprünglichen Siedler. Als solche aber waren sie „Mischlinge“, oder wie es zeitüblich hieß, als Bastardrasse, wobei der afrikanische Anteil im Lauf der Jahrhunderte so stark wurde, dass ein Rückfall in die Barbarei unausweichlich war. Wenn Evolution in der Regel an einen Fortschrittsbegriff gekoppelt ist, so findet sich im Zusammenhang mit den mythischen Bildern von Ophir die rückläufige Evolution, die Dekadenz81 oder, biologisch gewendet, die Degeneration. DAS FORTLEBEN DES OPHIR-MYTHOS Trotz der Eindeutigkeit der archäologischen Forschungsergebnisse spukt der Ophir-Mythos nach wie vor.82 Mit dem weltweiten Wiedererstarken des Kulturnationalismus und ansatzweise einer Kolonialapologetik ist mit einer neuen Konjunktur zu rechnen. Heute wird der Ophir-Mythos in Kreisen rassistischer und rechtsextremer Gruppierungen weitergetragen, etwa vom Herausgeber der einschlägigen Zeitschrift The Mankind Quarterly, Robert Gayre, der sich selbst als Archäologen bezeichnet.83 Der Hobbyhistoriker Herbert Sommerlatte, der Mauchs Tagebücher veröffentlichte, publizierte Aufsätze, in denen er so tat, als sei bis heute noch nicht geklärt, ob Simbabwe nicht doch Ophir gewesen sei. Ebenso enthält eine von Heinrich Pleticha 1985 herausgegebene Quellensammlung nur drei Textausschnitte von seriösen Forschern, dafür sonst alle möglichen Phantasien bis hin zu den bekannten Theorien von Erich von Däniken, der die Bauten auf Außerirdische zurückführte.84 Daraus wird deutlich, dass die Vorstellung, Afrikaner hätten keine eigene Kultur entwickelt und Innovationen seien darum stets von außen gekommen, keineswegs allein auf die weißen Siedler im südlichen Afrika beschränkt ist. Selbst einzelne Afrikaner haben dies mittlerweile übernommen: 1965 veröffentlichte ein angeblicher Zulu-Heiler namens Credo Mutwa ein Buch, in dessen historischem 79 80 81 82

BEACH, Shona, S. 213, DERS., Zimbabwean Past, S. 183f. BEUSTER, Ruinen, S. 292. FROBENIUS, Erythräa, S.112. Zum Forschungsstand s. das Buch des führenden simbabwischen Archäologen: PIKIRAYI, Zimbabwe Culture. 83 Zu Gayre und seiner Zeitschrift s. BILLIG, Rassistische Internationale, S. 95–100. Vgl. auch GAYRE, Zimbabwe, und DERS., Indaba. 84 PLETICHA, Simbabwe.

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Teil er von einer phönizischen und später einer arabischen Reichsbildung im südlichen Afrika fantasierte, die zu einer massenhaften Versklavung der afrikanischen Bevölkerung geführt hätte.85 Die Ruinen von Simbabwe seien die steinernen Zeugen der Unterdrückung durch die Araber. Mutwa ist ein Traditionalist und trat für eine nicht-diskriminierende Form der Apartheid ein. Heute, im Südafrika der Präsidenten Thabo Mbeki und Jacob Zuma und einer von diesen propagierten kulturnationalistischen Ideologie, tritt Mutwa als eine Art Kulturguru auf, dem die Zuständigkeit für den Freedom Park bei Pretoria übertragen wurde. Noch 1992, d.h. zwei Jahre nachdem die Abschaffung der Rassentrennungspolitik in Gang gesetzt worden war, wurde im Nordtransvaal eine künstliche Ruinenstadt errichtet mit eingebautem 300-Zimmer-Hotel, Spielkasinos und Nachtclubs. Diese Kunststadt, angeblich die Ruinen einer vor 3000 Jahren durch ein Erdbeben zerstörten Hochkultur, wurde als Lost City bezeichnet. RASSENTRENNUNG ALS LEHRE AUS DER GESCHICHTE Die eigentliche, kolonialrassistische Botschaft des Ophir-Mythos erklärt das hartnäckige Weiterleben des Mythos im Südafrika der Apartheid.86 Im Jahr 1938 hielt ein damals berühmter burischer Schriftsteller, Christian van den Heever, eine Rede anlässlich der Hundertjahrfeier des Großen Trek, einer nordwärts gerichteten Wanderbewegung burischer Pioniere. Er meinte, der Trek sei „eine Zivilisationstat“ gewesen, er hätte die „Grundlegung einer neuen Nation in Südafrika“ ermöglicht. Man erkenne nun, dass Südafrika durch die Voortrekker für eine weiße Rasse bewohnbar gemacht wurde und dass durch ihr Auftreten hier ein unüberwindbarer Vorposten der westlichen Zivilisation geschaffen wurde. Dies ist sicher eine Leistung von großer Bedeutung, denn Afrika hat schon früher weiße Zivilisationen gekannt, aber sie sind wie ein Tropfen Wasser im großen Treibsand der Barbarei verschwunden, und was noch merkwürdiger ist: Die Geschichte bietet viele Beispiele für die Überwältigung einer schwarzen Rasse durch eine weiße, wodurch die weiße jedoch völlig demoralisiert und verbastardisiert wurde.87

Ein burischer Politiker sagte 1938 über die Haltung der Buren zu den Afrikanern, sie hätten „instinktiv“ erkannt, dass Blutvermischung der Gleichstellung folgt, und der Blutvermischung folgt die Vernichtung des Volkes. Andere Zivilisationen sind in Afrika in früheren Jahrhunderten auf diese Weise zu Grunde gegangen.88

85 MUTWA, My People, S. 57–66. Auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Indaba. Ein Medizinmann der Bantu erzählt die Geschichte seines Volkes. 86 In dem Zusammenhang ist das Vorwort zu Frobenius' Buch aufschlußreich, das Danksagungen an südafrikanische Gesprächspartner enthält, zu denen etliche burische Nationalisten gehören, die später an der Ausarbeitung der Apartheid-Ideologie beteiligt waren. FROBENIUS, Erythräa, S. 30f. 87 VAN DEN HEEVER, Voortrekker, S. 61. 88 VERWOERD, ossewa.

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Der Verweis auf Great Zimbabwe war unübersehbar. 20 Jahre später wurde dieser Politiker, Hendrik Verwoerd, Premierminister Südafrikas (1958–66) und war der Mastermind der Apartheid, der Politik der Rassentrennung. Der Ophir-Mythos beruhte nicht auf historischem Wissen, sondern auf Meinungen, die wie ein religiöses Bekenntnis geglaubt wurden. Dies gilt, über das Fallbeispiel hinaus, für die geisteswissenschaftliche Grundlegung der Rassentrennungspolitik generell, die nicht auf einem gesicherten Wissen über Afrikaner beruhte, sondern auf bloßen Annahmen.89 Der Ophir-Mythos entstammte als Bibelzitat einem religiösen Zusammenhang, doch der Mythos selbst war nicht heilsgeschichtlich angelegt. Er vermittelte keine Gewissheit für die Zukunft, aber er enthielt einen Auftrag für ihre Gestaltung: Die Siedler blieben die Handelnden in ihrer eigenen Geschichte, es vollzog sich kein vorbestimmtes Schicksal, vielmehr konnten sie die Entwicklung beeinflussen. An sie wurde die Erwartung gerichtet, dem historischen Vorbild Ophir nicht zu folgen, sondern durch die Vermeidung von Rassenmischung ihre eigene Zukunft zu sichern. So bot der Ophir-Mythos gleichzeitig eine Legitimation kolonialer Herrschaft als historisches Vorbild und ein abschreckendes Beispiel für den Verlust der zivilisatorischen Überlegenheit durch Degeneration. BIBLIOGRAPHIE DAVID NORMAN BEACH, The Shona and Zimbabwe 900–1850. An outline of Shona history (Zambeziana 9), Gweru 21990. DERS., A Zimbabwean Past. Shona dynastic histories and oral traditions (Zambeziana 21), Gweru 1994. J. THEODORE BENT, The Ruined Cities of Mashonaland (Rhodesiana reprint library 5), Facsimile Reprod. der 3. Aufl., Bulawayo 1969 [zuerst 1896]. CARL BEUSTER, Die Ruinen von Zimbabye im Maschona-Lande, übermittelt u. referiert v. Dr. Max Bartels, in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (Zeitschrift für Ethnologie) 25 (1893), S. 289–293. MICHAEL BILLIG, Die rassistische Internationale. Zur Renaissance der Rassenlehre in der modernen Psychologie, ins Dt. übers. v. Gerd Rübenstrunk, Frankfurt 1981. LESLIE BLACKWELL, Farewell to Parliament. More reminiscences of bench, bar, Parliament and travel, Pietermaritzburg 1946. GERTRUDE CATON-THOMPSON, The Zimbabwe Culture. Ruins and Reactions (Class library of African studies 1), London 21971. J. P. C., A Clue to the Mystery of Zimbabwe?, in: Forum 1, 9 (1938), S. 19. RAYMOND DART, Foreign Influences of the Zimbabwe and Pre-Zimbabwe Eras, in: NADA 32 (1955), S. 19–30. DAVID DE WAAL, In Honour of the Phallus, in: BEN MACLENNAN (Hg.), The Wind makes Dust. Four Centuries of Travel in Southern Africa, Kapstadt 2003, S. 339f. STEPHANUS JOHANNES DU TOIT, Die koningin van Skeba, Kapstadt 1985. LEO FROBENIUS, Erythräa. Länder und Zeiten des heiligen Königsmordes (Veröffentlichungen des Forschungsinstitutes für Kulturmorphologie), Berlin–Zürich 1931. DERS., Schicksalskunde (Schriften zur Kulturkunde 5), Weimar 1938 [zuerst 1932]. 89 MARX, Wissen.

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GESCHICHTSGLAUBEN. EIN KOMMENTAR Achim Landwehr, Düsseldorf VOM GLAUBEN AN DAS GEWORDENE Geschichtsglauben: Muss es nicht ein wenig überzogen anmuten, eine solche begriffliche Kategorie zu bemühen, um historisches Interesse oder geschichtswissenschaftliches Arbeiten zu bestimmen? Muss Glaube denn nicht eher als etwas gelten, das man empfindet, von dem man erfüllt ist, das mit dem Gefühl für das Unerklärliche und Übernatürliche ebenso einhergeht wie mit der Ehrfurcht vor dem Gegebenen? Ausgerechnet dadurch soll nun der Umgang mit Geschichte gekennzeichnet sein? Wäre die Geschichtswissenschaft damit nicht doch in eine etwas allzu große Nähe zur Theologie gerückt? Und wäre damit die Kategorisierung historischen Arbeitens als ‚Geisteswissenschaft‘ nicht doch ein wenig zu weit getrieben, wenn man damit die Überzeugung von der Existenz von Geistern gleich mit meinte? Rhetorische Fragen, die sich recht schnell beantworten lassen. Die theologischen Wurzeln eines historischen Denkens, wie es sich im abendländischchristlichen Kontext entwickelt hat, sind schon längst bemerkt und aufgedeckt worden. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn ein größerer Teil der hier versammelten Beiträge das 19. Jahrhundert im Blick hat. In diesem Zeitraum konnten historische Erklärungsmodelle eine wissenschaftliche wie auch außerwissenschaftliche Dominanz für sich reklamieren, wie sich unter anderem auch an Darwins Evolutionstheorie oder ex negativo an Nietzsches Polemik gegen die Dominanz der Historie ablesen lässt. Es ist auch derjenige Zeitraum, in dem deutlich erkennbar theologische Welterklärungsinstanzen allmählich von historischen überlagert wurden (ohne diese gänzlich zum Verschwinden zu bringen). Wollte man wissen, warum die Dinge sind, wie sie sind, schaute man nun seltener nach oben, sondern immer öfter nach hinten. Diesen Blickwechsel mit einer Zunahme an Rationalität gleichzusetzen, wäre aber vorschnell. Viel eher hatte sich der Glaube einen neuen Ort gesucht. Das Vergangene und das Gewordene sollten nun zeigen, was das Göttliche nicht mehr umstandslos zu zeigen vermochte. Auch wenn ein solcher Geschichtsglaube im 19. Jahrhundert besonders prominent war, so besitzt dieser Zeitraum doch wahrlich kein exklusives Vorrecht auf dieses (Selbst-)Überzeugungsmuster. Vermengt in einem komplexen, letztlich nicht eindeutig aufzulösenden Mischungsverhältnis mit unterschiedlichen Formen der Transzendenz ist dieser Glaube vielmehr tief eingelassen in europäische Traditionen. Wieso aus dem menschlichen Bedürfnis zum Erzählen von Geschichten im europäischen Zusammenhang die Überzeugung erwachsen konnte, die eine

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große Geschichte sei mehr als nur eine Erzählung, lässt sich wohlmöglich nie vollständig ergründen. Aber dass der Bewahrung von Traditionen, dem Aufbau eines kulturellen Gedächtnisses, dem gezielten Erhalt materieller Überlieferungen sowie schließlich dem Glauben an den einen großen historischen Gesamtzusammenhang eine besondere Bedeutung zukommt, darf – durch eine ethnologische Brille betrachtet – durchaus verwundern. Und dass ist eben keine exklusive Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern lässt sich in großer Variationsbreite durch die ganze europäische Geschichte verfolgen. Dass wesentliche Grundlagen für diesen Umgang mit Geschichte bereits in der griechischen Antike gelegt wurden, gehört zu den vermeintlichen Trivialitäten – dass man solche Umstände aber nie als allzu selbstverständlich nehmen sollte, ebenso. Weniger selbstverständlich ist unter Umständen die Selbsterkenntnis, dass auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Formen des Geschichtsglaubens zu unserem täglich‘ Brot gehören, auch wenn wir üblicherweise nicht geneigt sind, diese historische Nahrung als Glaubensform wahrzunehmen. Eines sollte daher klar sein: Wenn in den hier versammelten Beiträgen Glaubensformen in der Antike, aber vor allem im 19. und 20. Jahrhundert zum Thema gemacht werden, kann das nicht mit einer denunziatorischen Geste geschehen, die den alten Fehler aller Rationalismen und Aufklärungsprojekte wiederholen würde: in der vermeintlichen Gewissheit um das eigene Wissen sich selbst in die Lage zu versetzen, vergangene Glaubensformen als solche zu entlarven. Nein, im Zweifelsfall ist der Balken vor dem eigenen Kopf immer noch größer als der Splitter im Auge des anderen. Das macht ja bereits die Anlage des gesamten hier vorliegenden Unterfangens deutlich. Schließlich müsste es hoffnungslos selbstwidersprüchlich anmuten, das Phänomen des Geschichtsglaubens ausgerechnet dadurch zum Vorschein bringen zu wollen, dass man es einer geschichtlichen Betrachtung unterzieht. GLAUBEN WOZU? Dass wir es mithin beim Umgang mit Vergangenem nicht einfach nur mit der Dokumentation des Geschehenen zu tun haben, nicht nur mit der neutralen und distanzierten Feststellung des bereits Eingetretenen, dürfte nach der Lektüre der Beiträge kaum noch zu bezweifeln sein. Auf nahezu absurde Weise macht dies der Beitrag von Christoph Marx über das sagenhafte Ophir wohl am deutlichsten – und zwar gerade weil dieses Exempel uns zeitlich so sehr auf die Pelle rückt, gerade weil noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein immer wieder Beispiele dafür auftauchen, dass man daran glauben will, die Festungsanlage von Great Zimbabwe sei von Einwanderern erbaut worden, die einer vermeintlich höheren Entwicklungsstufe entstammten (und wenn es sich dabei um Außerirdische handeln muss), und sei mindestens alttestamentarischen Ursprungs, weil man auf gar keinen Fall daran glauben will und darf, es könnte sich tatsächlich um ein Gebäudekomplex handeln, der auf die Leistungen der lokalen Bevölkerung zurückgeht. Der Glaube an die eigenen, beschränkten, sehr provinziellen und europäisch fun-

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dierten Geschichtsparameter ist so stark, dass die vor Ort angetroffenen Verhältnisse gedanklich so lange zurechtgebogen werden, bis sie in das eigene Schema passen, und dabei auch alle Gegenbeweise souverän missachtet werden. Man kann ein solches Verhalten mit dem Vokabular der Sozialpsychologie als kognitive Dissonanz bezeichnen. Man kann es auch als Glaubensüberzeugung ansehen, die sich nicht mal eben von ein paar archäologisch fundierten Gegenargumenten einschüchtern lässt. Wozu aber dieser Glaube? Weshalb die Überzeugung von der Bedeutsamkeit des Historischen für das eigene Hier und Jetzt? Woher stammt und worauf zielt diese Kraft, die nicht nur Bäume versetzen, sondern auch Menschenmassen bewegen und begeistern, Geographien verschieben, die Zeiten verwirbeln, Zugehörigkeiten stiften, Ausgrenzungen erzeugen und sogar ewiges Leben (zumindest in der dokumentarischen Überlieferung) garantieren kann? Weil der Glaube an das Gewordene und das in der Zeit Sich-Verändernde, nicht anders als andere Glaubensformen, Sinnstiftungen bereithält. Die begrenzte Lebensdauer von Individuen wie von Kollektiven und die zumindest unterschwellig vorhandene, wenn nicht sogar explizit gemachte Ahnung von der eigenen Bedeutungslosigkeit im Angesicht all der unübersehbar vielen Geschehnisse, vermag durchaus die Sinnfrage zu provozieren. Hat die eigene Existenz – gleichgültig ob individueller oder kollektiver Art – überhaupt noch eine Bedeutsamkeit, wenn ihr doch schon so viele andere Existenzformen vorangegangen sind und ihr so viele andere Existenzformen noch nachfolgen werden? Wird das eigene Dasein dann nicht zu einem Nichts im Ozean aller vergangenen, aktuellen und potentiellen Lebensformen? Wohl nicht, wenn Sinnstiftung dadurch gewährleistet werden kann, die eigene Existenz als verbundenen, bedeutsamen und letztlich sogar notwendigen Bestandteil in einem angenommenen großen Ganzen zu konzipieren. Und dieses große Ganze erstreckt sich auch über die Zeit. Glaube gewährleistet also Sinn. Dafür ist noch nicht mal eine Religion oder eine Kirche nötig. Und dieser Glaube darf auch nicht vorschnell als irrational, irreführend und damit verdammenswert verstanden werden. Er kommt vielmehr einem menschlichen Grundbedürfnis entgegen, auch und gerade in seiner historischen Ausgestaltung. In einem Parforceritt führen uns das die vorliegenden Beiträge vor Augen, die im antiken Olympia beginnen, das europäische Mittelalter streifen und bis zur deutschen Geschichtswissenschaft und in das südliche Afrika des 19. und 20. Jahrhunderts führen. Dass es in allen vorgestellten Fällen in der einen oder anderen Weise um Formen des Glaubens, der Geschichtsversessenheit und nicht zuletzt auch der Identität geht, kann kaum ein Zufall sein – und kann auch nicht wirklich überraschen. Dass sich im antiken Olympia ebenso zahlreiche Belege dafür finden, mittels historischer Verweisstrukturen kollektive Identitäten herzustellen, wie im europäischen 19. Jahrhundert, das sich sein eigenes Mittelalter bastelt, und dass die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts sich selbst ebenso den Auftrag erteilte, trotz aller glaubensmäßigen Divergenzen konfessionsübergreifend für die nationale Identitätsbildung zuständig zu sein, wie es den europäischen Kolonisatoren des südlichen Afrika ein Selbstverständnis war, die Ruinenanlage von

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Zimbabwe der eigenen Tradition zuzuordnen – all das kann im Grundsatz nicht verblüffen, wenn es auch in der hier vorgeführten Genauigkeit beeindruckt. Was hingegen immer wieder überraschen muss, ist die Überzeugung jeweiliger Gegenwarten, für sich mittels unterschiedlicher historischer Werkzeuge – Inschriften, Artefakte, Archäologie, Ethnologie und natürlich immer wieder: Schriftlichkeit – Gewissheit über die Vergangenheit zu erlangen. Antike oder mittelalterliche Kollektive zeichnen sich ebenso durch die Gewissheit aus, mittels bestimmter Memorialtechniken an der Ewigkeit teilzuhaben, wie historisierende Kollektive seit dem 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart nicht daran zweifelten, mittels etablierter wissenschaftlicher Methoden die Wahrheit über die Vergangenheit sprechen zu können. Dass die Rede vom Geschichtsglauben, der den Beiträgen als gemeinsames Dach dient, paradox wirkt, hängt eben wesentlich mit der Entwicklung eines europäisch-westlichen Geschichtsverständnisses in den letzten etwa 250 Jahren zusammen, das wir gerne als ‚modern‘ zu bezeichnen geneigt sind. Vor dem Hintergrund eines solchen Geschichtsverständnisses sollte eigentlich die Zumutung eines Geschichtsglaubens genauso beantwortet werden können wie die Angebote mehr oder minder obskurer Religionsgemeinschaften, die an der Haustür klingeln, um über den Glauben zu reden – dass sie nämlich wiederkommen dürften, sobald sie etwas wüssten. Und genau das ist es, was die historische Profession in ihrer Gesamtheit antreibt und was wesentlich zum großen gesellschaftlichen Interesse an historischen Themen beiträgt: der Glaube daran, dass die Bedeutung von Geschichte lebendig erhalten werden kann. Das ist die Art von Geschichtsglauben, auch und gerade eines gegenwärtigen Geschichtsglaubens, der größere Aufmerksamkeit verdient. WISSEN UND WAHRHEIT Beginnen wir unchronologisch mit dem Mittelalter, dann erweist sich Christoph Dartmanns Argument, das Mittelalter habe für uns gegenwärtig nicht mehr die politische Relevanz, die sie noch in der Diskussion zwischen Heinrich v. Sybel und Julius v. Ficker einnehmen konnte, als fraglos treffend. Denn unser Mittelalter, an dem sich entsprechende tagesaktuelle Auseinandersetzungen ausfechten lassen, hört schon länger auf den Namen Nationalsozialismus. Ebenso kann man Christoph Dartmann aber bei der Einschätzung folgen, dass das Mittelalter dann doch nicht so weit entfernt ist, wenn man inzwischen innerlich stocken muss, sobald man den Ausdruck „Abendland“ verwendet. Der distanzierende Blick in das Mittelalter-Verständnis des 19. Jahrhunderts kann eine selbst-ethnologisierende Funktion übernehmen. Hier wird uns der Spiegel vorgehalten: Wenn die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts mit dieser Unbedingtheit an der staats- und nationtragenden Bedeutung des Mittelalters festhalten wollte, wie agieren wir dann im frühen 21. Jahrhundert? Und es war, wie uns Christoph Dartmann vorführt, gerade die Unsichtbarkeit dieses Geschichtsglaubens als Glaubensform, die dazu geführt hat, eine solche Vereinnahmung von

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Vergangenheit als apolitisch und allein der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet erscheinen zu lassen. Der uns von Kaja Harter-Uibopuu präsentierte Ansatz einer intentionalen Geschichte kann weiterhin helfen, Möglichkeiten und Probleme einer Identitätsbildung als Geschichtsglauben vorzuführen. Wenn es einerseits beeindruckt, dass griechische Stadtstaaten mittels einer Inschriftenpolitik aktiv historische Identitätsbildung betrieben, so wird andererseits offenbar – und zwar bis in die Gegenwart hinein –, was geschieht, wenn sich solche Identitäten objektivieren, wenn sie sich von ihrem Gemacht-worden-Sein abkoppeln können. Der Glaube an die eigene Geschichte erreicht dann eine Festigkeit, die sich nur noch mit Mühe historisch unterlaufen lässt. Erst mit der entsprechenden zeitlichen Distanz mag es gelingen, einen solchen Glauben zu erschüttern. Dann kann man den Anderen, in unserem Fall also: den Verstorbenen nachweisen, dass sie eine invention of tradition betrieben haben und es sich bei ihren Identitätskollektiven um imagined communities handelt. Das geschieht aber meist vor dem Hintergrund des bereits benannten Paradoxons, das in der Ethnologie wohlbekannt ist, nämlich des Glaubens an den Glauben der Anderen, der sich selbst nicht als Glauben zu erkennen vermag. Die Inschriften von Olympia führen uns aber noch eine weitere Form des Geschichtsglaubens vor, die ebenfalls bis in unsere Gegenwart hinein von hoher Relevanz ist. Es handelt sich um die Überzeugung, dass die Kenntnis der Vergangenheit zu juristisch validen Wahrheiten führt. Kaja Harter-Uibopuu beschreibt den Fall einer Gebietsstreitigkeit zwischen Sparta und Messene aus dem Jahr 138 v. Chr. Um diesen Streit zu klären, der schließlich zuungunsten Spartas ausging, wurden vom Schiedsgericht die Besitzverhältnisse über Jahrhunderte in die Vergangenheit hinein zurückverfolgt, auch in zeitliche Fernen, für die jede verlässliche Dokumentation fehlt und die nur als mythisch bezeichnet werden können. Das Ergebnis des Schiedsgerichts war auf dieser ‚Faktenlage‘ eindeutig, der Richterspruch wurde in Olympia öffentlich angebracht und eine Berufung auf diese Entscheidung war auch noch in späteren Zeiten möglich. Der Glaube an die Wahrheit der Geschichte sorgte für Rechtssicherheit über einen langen Zeitraum hinweg, basierte aber zugleich auf der für uns befremdlichen Idee, dass möglichst alte Rechtsansprüche die Grundlage für aktuelle Besitzverhältnisse bilden sollen. Das erscheint auf den ersten Blick irritierend – erweist sich aber auf den zweiten Blick als durchaus vertraut, weil auch unser Rechtssystem mit seinem Medium der Gerichtsverhandlung darauf beruht, vergangene Zustände zu eruieren. Auch unser Rechtssystem basiert also auf einem Geschichtsglauben, insofern es möglich sein soll, herauszufinden, was in der Vergangenheit geschehen ist, um dieses Wissen zur Grundlage gegenwärtiger Entscheidungen zu machen. Man könnte alternativ auch die Sterne befragen, die Götter anrufen, rohe Machtverhältnisse und das Recht des Stärkeren entscheiden lassen oder Naturgesetze heranziehen. Aber unser Geschichtsglauben ist stärker. Dieses Vorgehen ist nicht schlecht, funktioniert mit den gängigen Einschränkungen sogar recht gut. Bemerkenswert ist es aber allemal und als selbstverständlich sollte man es nicht nehmen.

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Der Glaube an den Glauben der anderen ist aber nicht nur ein ethnologisches Phänomen, sondern ebenso ein historisches. Angelika Schaser führt sie mit ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Blick vor, diese Überzeugung von Albert von Ruville und seiner Kollegenschaft in der Historikerzunft um 1900, die auch bis heute noch nicht ausgestorben ist, dass man mit so etwas wie einer historischen Wahrheit hantieren könne. Wieso die historische Wahrheit äquivalent ist zum Glauben der Ethnologen an den Glauben der Indigenen? Nun, weil eines der historischen Grundgesetze besagt, dass sich immer alles ändert. Aber ausgerechnet für die selbst hervorgebrachte, so genannte historische Wahrheit soll das nicht gelten. Diese Überzeugung ist eine Form, die der Geschichtsglauben annehmen kann. Im Falle des Historikers Albert von Ruville haben wir es natürlich mit einer sehr individuellen Situation zu tun, die nicht nur einen Menschen betrifft, der sich in einer borussophilen und protestantischen Universitätslandschaft dazu entschließt, vom protestantischen zum katholischen Glauben zu konvertieren, dabei um die persönlichen Nachteile für seine akademische Karriere durchaus wissend. Über das Individuelle hinaus kann Ruville auch, wie Angelika Schaser verdeutlicht, stellvertretend für die spezifische Melange von Wissenschaft, Glaube und Nation in der Geschichtswissenschaft um 1900 stehen. Denn hier werden sehr bewusst und für die Zurückschauenden auf recht irritierende Weise unterschiedliche Glaubensformen miteinander vermengt, in der Überzeugung, dass sich gerade daraus die vom Glauben unabhängige (kann man also sagen: unglaubliche?) Wahrheit ergeben soll. War es in einer vom Kulturkampf geprägten deutschen Wissenschaftslandschaft um 1900 für die protestantische Seite durchaus üblich, dem katholischen Gegenüber die Voraussetzungen für wissenschaftliches Arbeiten abzusprechen, drehte der Konvertit Ruville den Spieß um: Er warf der protestantischen Geschichtsschreibung vor, methodisch den Anspruch auf Objektivität und historische Wahrheit aufgrund ihrer Glaubensüberzeugungen gar nicht einlösen zu können. Im gleichen Atemzug gestand er aber seiner eigenen, katholischen Position genau diese Fähigkeit zu, dabei die strukturellen Probleme konfessionell bestimmter Geschichtsschreibung souverän übersehend. Auf der Basis einer eher befremdlichen geschichtswissenschaftlichen Mathematik schien Ruville tatsächlich davon auszugehen, dass im katholischen Fall Minus mal Minus irgendwie Plus ergeben müsse. Der Fall Ruville, wenn man ihn denn so bezeichnen möchte, führt uns damit hinein in eine wesentliche Schwierigkeit historischen Arbeitens: Historiker*innen wissen etwas, weshalb sie ihr eigenes Arbeitsgebiet als Wissenschaft bezeichnen können. Sie haben Methoden entwickelt und Theorien entworfen, die diesen Wissenschaftsstatus zu untermauern vermögen; sie haben es aber vor allem geschafft, sich in einem letztlich politischen, oder genauer: wissenschaftspolitischen Konkurrenzkampf in derjenigen Institution zu etablieren, die zumindest für den europäisch-westlichen Kontext dafür verantwortlich ist, über den Wissenschaftsstatus eines Themengebiets zu entscheiden – in der Universität. Seither sollte die Geschichtsschreibung als Wissenschaft zunächst einmal nichts mehr mit Fragen des Glaubens zu tun haben, es sei denn, sie machte diesen Glauben selbst zum Thema. Nun gibt es aber immer wieder wissenschaftstheoretische Zweifel daran, ob geis-

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tes- bzw. kulturwissenschaftliches Arbeiten im Allgemeinen beziehungsweise die Geschichtswissenschaft im Besonderen denn tatsächlich als Wissenschaft gelten könne. (Karl Poppers Elend des Historizismus ist hierfür ein immer noch prominentes Beispiel.) Solange man auf einer wissenschaftstheoretischen Argumentationsebene verbleibt, lässt sich ein solcher Zweifel auch kaum widerlegen. Aber Gottseidank – und ein solcher Ausruf ist in einem Kommentar zu Fragen des Geschichtsglaubens durchaus angebracht – besitzt die Geschichtswissenschaft Mittel und Wege, um in diesem Fall zurückzuschlagen. Denn sie kann ihrerseits der Wissenschaftstheorie vorführen, dass diese selbst alles andere als eine schon ewig bestehende Produzentin überzeitlich gültigen Wissens ist, sondern dass sich auch die logisch-rationalen Kriterien, die sich diese Wissenschaftstheorie zur Grundlage gemacht hat, sehr spezifischen historisch-kulturellen Kontexten entstammen. Das Säurebad der Historisierung verschont niemanden. Damit sind wir aber bei dem, wie ich denke, wesentlichen Grund angekommen, weshalb die Rede vom Geschichtsglauben paradox anmutet. Weil sie eine Bewegung rückgängig macht, oder wohl eher: konterkariert, die das Verständnis vom famosen Kollektivsingular Geschichte seit den Zeiten der Aufklärung erfolgreich absolviert hat. Um nämlich zu dem Kollektivsingular zu werden, den wir alle so gut kennen und mit dem wir alltäglich scheinbar selbstverständlich umgehen, musste diese ‚Geschichte‘ in der Lage sein, in einer Doppelbewegung zahlreiche kulturelle Elemente auszuschließen und auszuscheiden, um sie sich anschließend nur umso wirkmächtiger wieder einzuverleiben. Der prominenteste Fall ist möglicherweise die Abtrennung von der Poesie (eine Diskussion, die in der abendländischen Tradition bereits seit Aristoteles geführt wird). Die Etablierung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert ging nicht zuletzt damit einher, sich von literarischen Darstellungsformen abzukoppeln, nur um diese dann subkutan wieder der eigenen Geschichtsschreibung einzuverleiben. Genauso trennt sich die historische Wissenschaft als Wissenschaft von Fragen der Ethik und Moral, nur um dann beständig moralische Urteile zu fällen; sie trennt sich von der Idee einer überzeitlich gültigen Rationalität, gewinnt daraus aber einen eigenen Begriff geschichtswissenschaftlicher Vernunft; sie distanziert sich von der Idee der Natur, entwickelt daraus aber eigene Selbstverständlichkeiten; sie trennt sich vom Mythos und dessen zeitlicher Unbestimmtheit, um sich mit der Chronologie einen neuen Mythos zu erschaffen. Vor allem aber löst sie sich von einer göttlichen Vorsehung, um ‚die Geschichte‘ selbst zum Heilsversprechen zu machen, um die Erklärung für alles Geschehen aus der Vertikale in die Horizontale zu kippen, vom Blick in den Himmel zum Blick auf die Zeitleiste umzuleiten. Die Rede vom Geschichtsglauben ist deswegen so bedeutsam, weil meines Erachtens immer noch nicht hinreichend die Konsequenzen diskutiert werden, die sich aus der Tatsache ergeben, dass wir ‚die Geschichte‘ zu einem Gottersatz gemacht haben.

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GESPENSTER Wollen wir unseren eigenen Geschichtsglauben einmal so richtig erschüttern, dann sollten wir vielleicht unserem eigenen Unglauben nicht mehr über den Weg trauen. Ich hege zum Beispiel einen tiefen Unglauben gegen Gespenster, glaube in der Tat nicht daran, dass es sie gibt – und muss mich doch immer wieder eines Besseren belehren lassen. Insbesondere die Gespenster der Vergangenheit wollen uns nicht so recht in Ruhe lassen. Im Beitrag von Christoph Marx begegnen sie uns gleich reihenweise. Schließlich versammeln sich solche Gespenster gerne an so genannten geschichtsträchtigen Orten. Daher kann es kaum wundern, wenn an der Ruinenanlage von Zimbabwe alttestamentarische Paläste ebenso begegnen wie Ptolemaios, portugiesische Entdecker und nationalistisch-eurozentristische Überzeugungen des 19. Jahrhunderts – sie alle sind gleichzeitig anwesend, um ihr Unwesen zu treiben. Die verunsichernde, die glaubenserschütternde Frage ist und bleibt allerdings: Welches Unwesen treiben wir, wenn wir uns dieser und vielen anderen Geschichten zuwenden? Auch wir produzieren heute schon Gespenster, von denen wir noch nicht wissen, in welchen anderen Zeiten sie auftauchen werden. Insofern schließe ich mich – wenn auch nicht ganz ironiefrei – der zitierten Rezension von Ruvilles wunderbar betiteltem Buch Der Goldgrund der Weltgeschichte an, in der es hieß: „In siegreicher Beweisführung und mit scharfen Streiflichtern auf die historischen Forschungsmethoden wendet sich der Verfasser gegen die Losung von der Ausschaltung alles Übernatürlichen aus der Geschichtsforschung“. Bei dieser Wendung gegen die Ausschaltung alles Übernatürlichen kann ich mir Schützenhilfe holen bei Jacques Derrida und dessen in geschichtswissenschaftlichen Kreisen noch nicht hinreichend rezipierten Geschichtstheorie, die er 1993 unter dem Titel Marx Gespenster veröffentlicht hat. Darin entwirft Derrida etwas, das er als Hantologie bezeichnet. Die Hantologie ist die Lehre vom Gespenstischen, und Derrida setzt sie explizit einer Ontologie entgegen. Denn im Gegensatz zum Seienden, bei dem üblicherweise die Koordinaten eines Hier und Jetzt vorausgesetzt werden können, zeichnet sich das Gespenstische gerade dadurch aus, dass man nichts über das Wann und Wo weiß. Deswegen zeigt die Hantologie ein Raum-, vor allem aber ein Zeitproblem an. Die Hantologie erweist sich als Lehre von der Heimsuchung, weil man bei Gespenstern nie weiß, aus welchen Zeiten sie auftauchen, weil sie ebenso der Vergangenheit entstammen wie von der Zukunft künden können. Diese Gespenster zeigen einem bestimmten historischen Hier und Jetzt vor allem eines an: ihre Ungleichzeitigkeit mit sich selbst. Solange uns solche Gespenster nicht verlassen haben – und es gibt kaum Anzeichen dafür, dass das jemals geschehen könnte –, leben wir nicht gegenwärtig und gleichzeitig mit uns selbst. Wir kennen solche Gespenster zur Genüge, von denen man meinte, man sei sie längst losgeworden, handelt es sich nun um Nationalismen, religiöse Fundamentalismen, Rassismen und andere mehr. Aber es sind eben nicht nur die Gespenster aus der Vergangenheit, sondern auch diejenigen aus der Zukunft, seien es nun drohende Schulden- und Finanzkrisen, demographische Entwicklungen, der

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Klimawandel – oder eben der Kommunismus, von dem Marx und Engels im Kommunistischen Manifest ja sagen konnten, dass es sich um ein Gespenst handele, das in Europa umgehe, aber eben um kein Gespenst aus der Vergangenheit, sondern um eines, das vom Kommenden künde – es sind all diese Geisterwesen, die uns immer wieder aufzeigen, dass wir nicht einfach nur Gegenwart sind. Die Gespenster der Geschichte sind also in vielfacher Weise dazu in der Lage, unseren eigenen Geschichtsglauben zu erschüttern, weil sie uns beständig darauf hinweisen, dass mit uns und neben uns beständig abwesende Zeiten anwesend sind, dass unsere Gegenwart nie gleichzeitig mit sich selbst ist, sondern immer noch Vergangenheiten und Zukünfte existieren, die entweder nicht vergehen oder nicht anbrechen wollen. Diese abwesenden Zeiten sind – in ihrer ganzen Ungegenwärtigkeit – sehr präsent. Vielleicht wäre es daher angemessen von der Geschichtswissenschaft nicht als einer Geisteswissenschaft zu sprechen, sondern als einer Gespensterwissenschaft – von einer Wissenschaft, die sich um die Anwesenheit abwesender Zeiten kümmert. BIBLIOGRAPHIE Quellen ARISTOTELES, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994.

Literatur BENEDICT ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M.–New York 1996. JACQUES DERRIDA, Marx‘ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 2004. ERIC HOBSBAWM – TERENCE RANGER (Hg.), The invention of tradition, Cambridge 1983. ETHAN KLEINBERG, Haunting history. For a deconstructive approach to the past, Stanford 2017. REINHART KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989. WOLFGANG KÜTTLER – JÖRN RÜSEN – ERNST SCHULIN (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a. M. 1997. ACHIM LANDWEHR, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016. KARL LÖWITH, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, in: DERS., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie (Sämtliche Schriften 2), Stuttgart 1983, S. 7–239. KARL R. POPPER, Das Elend des Historizismus (Gesammelte Werke in deutscher Sprache 4), Tübingen 72003. JAN MARCO SAWILLA, „Geschichte“: Ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des „Kollektivsingulars Geschichte“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31, 3 (2004), S. 381–428. MARTIN URBAN, Warum der Mensch glaubt. Von der Suche nach dem Sinn, Frankfurt a. M. 2005.

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HAYDEN WHITE, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991.

Tobias Nowitzki

Antike Ritualmagie Die Rituale der ägyptischen Zauberpapyri im Kontext spätantiker Magie hAmbURgER sTUDiEn zU gEsEllschAfTEn UnD KUlTUREn DER VORmODERnE – bAnD 17 2021. 494 Seiten 978-3-515-13090-5 gEbUnDEn 978-3-515-13091-2 E-bOOK

Die spätantiken Zauberpapyri aus Ägypten bieten einen reichen Fundus an Informationen über die in der Spätantike alltägliche Praxis der Magie sowie die Magier und ihre Kundschaft. Die Magier gestalteten ihre Rituale sehr differenziert, immer passend zum jeweiligen Ziel des Rituals. Doch welche Dienstleistungen genau boten die Magier ihrer Kundschaft an? Was hatten die Rituale gemein? Und wie wurden sie an die jeweilige Situation angepasst? Tobias Nowitzki betrachtet erstmals alle Rituale des Corpus gemeinsam – inklusive der erst in den letzten Jahren edierten Stücke – und ordnet sie unterschiedlichen Arten der Magie zu. Er geht den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der verschiedenen Zauberarten nach und setzt dieses Corpus schließlich in Bezug zu verwandten Formen der Magie. Als Vergleichsbeispiel dient das jüdische Buch

der Geheimnisse, Sefer Ha-Razim. Anhand dieses Vergleiches kann Nowitzki Hinweise auf gemeinsame Strömungen in der Gedanken- und Vorstellungswelt der spätantiken Magie ziehen. DER AUTOR Tobias Nowitzki hat Geschichte und Latein an der Universität Hamburg studiert und dort in Alter Geschichte zur antiken Magie promoviert. Derzeit arbeitet er als Lehrer für Latein und Geschichte. AUs DEm inhAlT Einleitung | Magiedefinition | Ritualdefinition | Quellen magischer Macht | Sexualmagie | Mantik | Heilzauber | Schutzzauber | Gunstzauber | Schadenzauber | Varia | Jüdische Magie | Fazit | Literatur- und Quellenverzeichnis | Liste der Zauber | Register

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Werner Riess (Hg.)

Colloquia Attica III Neuere Forschungen zu Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. (Dys-)Funktionen einer Demokratie HaMburger studien zu gesellscHaften und Kulturen der vorModerne – band 16 2021. 288 Seiten mit 3 s/w-Abbildungen und 5 Tabellen 978-3-515-13067-7 Kartoniert 978-3-515-13070-7 e-booK

Wie funktional reagierte Athen auf Krisen im 4. Jahrhundert v. Chr.? Modernitätskonzepte wie ein zunehmendes Expertentum, Rationalisierung sowie Individualisierung trugen zur Stabilität des ökonomischen, sozialen und politischen Systems bei. Die reichsten Athener finanzierten die Flotte, aber der Durchsetzung der Interessen von Lobbygruppen waren enge Grenzen gesetzt. Positive wie negative Konsequenzen von Gerüchten, denen vor allem die Eliten ausgesetzt waren, beförderten die Funktionalität des Systems. Das Rechtswesen wurde mit Schutzmaßnahmen gegen Überlastung versehen und die egalitäre Praxis von Ehrbezeugungen schuf einen gewissen Ausgleich zwischen Demokratisierung und Oligarchisierung. Aristoteles und die Redner betonen unterschiedliche Facetten der politischen Institutionen. Isokrates befürwortet einen verantwortungsvollen „Imperialismus“, der von den Bundesgenossen freiwillig anerkannt würde. Selbst die Philosophen, die in Distanz zur politischen

Praxis stehen, üben keine fundamentale Systemkritik. Menander oszilliert schließlich zwischen Demokratie und Oligarchie und gestaltet somit einen gesellschaftlichen Umbauprozess im Frühhellenismus mit, der frei von Verwerfungen blieb. der Herausgeber Werner Riess ist Professor für Alte Geschichte an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Kriminalitätsgeschichte des Imperium Romanum in kulturvergleichender Perspektive, Randgruppen- und Außenseiterforschung, Apuleius und die Zweite Sophistik, Gewalt in der Antike, das klassische Athen (besonders Recht, Rhetorik, Komödie), antike Magie sowie die Digital Classics. Mit beiträgen von Dorothea Rohde, Vincent Gabrielsen, Claudia Tiersch, Christian Mann, Stephen Lambert, Adele C. Scafuro, Karen Piepenbrink, Martin Dreher, Katarina Nebelin, Werner Riess

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Geschichte entsteht, wenn Menschen vielgestaltige

vormoderne und moderne Gesellschaften? Die

Spuren der Vergangenheit als bedeutungstragen-

Autorinnen und Autoren laden zu einer Reflexion

den, sinnvollen Zusammenhang lesen und erzäh-

der geschichtskulturellen Praxis und des Selbst-

len. Geschichtswissenschaft basiert ebenso wie

verständnisses der Geschichtswissenschaft ein.

andere Praktiken der Geschichtskultur auf dem

Sie zeichnen nach, wie von der Antike bis zum

Glaubenssatz, dass eben diese Spuren mehr sind als

20. Jahrhundert der Zusammenhang von bedeut-

ein zufälliges Durcheinander unendlicher Episoden.

samen Ereignissen betont worden ist, um aktuellen

Doch worauf beruht diese Überzeugung und wann

Bedürfnissen nach Tradition und Identität zu die-

wird ein Ereignis zu einem ‚Teil der Geschichte‘?

nen – oder um Gespenster aus Vergangenheit und

Welche Bedeutung hatte und hat Geschichte für

Zukunft zu beschwören.

ISBN 978-3-515-13185-8

9 783515 131858

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