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German Pages 385 [388] Year 2001
Sacha Zala · Geschichte unter der Schere politischer Zensur
Sacha Zala
Geschichte unter der Schere politischer Zensur Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich
R. Oldenbourg Verlag München 2001
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Stiftung Felix Leemann (Lugano) und des Kantons Graubünden. 1999 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Inauguraldissertation angenommen.
Die Deutsche Bibliothek - C I P Einheitsaufnahme Zala, Sacha: Geschichte unter der Schere poitischer Zensur ; amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich / Sacha Zala. - München : Oldenbourg, 2001 Zugl.: Bern, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-486-56546-X
© 2001 Oldenbourg Wissenschaftsverlag G m b H , München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggesaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei G m b H , München ISBN 3-486-56546-X
Inhalt Vorwort
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I.
Einleitung
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1. Problem, Fragestellung und Methode
9
II.
2. Literatur, Forschungsstand und Quellenlage
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3. Aufhau der Arbeit
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Amtliche Akteneditionen. Akten, Diplomatie und Politik. 1800-1945
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1. Vom Wesen der Farbbücher. 1800-1945 Ausbreitung im Zuge der Parlamentarisierung Quellenkritische Problemkomplexe der Selektion, der Edition und der Echtheit Farbbücher zum Ersten Weltkrieg Farbbücher zum Zweiten Weltkrieg Erste Zwischenbilanz
23 25
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939 Revolutionäre Enthüllungen „Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" „Die Große Politik der Europäischen Kabinette" „British Documents on the Origins of the War" „Documents diplomatiques français" Zweite Zwischenbilanz
47 47 52 57 77 84 89
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1861-2000 Der lange Weg zur Professionalisierung Institutionelle Lösungen Probleme während der Zwischenkriegszeit und des 103 Zweiten Weltkrieges Bedürfnisse des Kalten Krieges Ausblick Dritte Zwischenbilanz
92 94 97
III. Die „Documents on German Foreign Policy". Akten, Wissenschaft und Politik. 1943-1960 1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946 Vom Nachteil der eigenen und vom Nutzen der feindlichen Archive Die alliierte Planung der Aktenbeute
28 31 37 46
103 115 137 139
143 144 144 148
6
Inhalt
„A tale of pirate gold hunting" oder der große Aktenfund . . . Die nachrichtendienstliche Auswertung Vierte Zwischenbilanz 2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1946-1960. Die Transformation des nachrichtendienstlichen zum historischen Projekt Die „Nazi-Soviet Relations" als Akt der Propaganda im Kalten Krieg Die Durchführung des historischen Editionsprojektes Fünfte Zwischenbilanz 3. Auswirkungen und Folgen der „Documents on German Foreign Policy " am Beispiel der Schweiz. 1945-1975 Ein Weißbuch für die außenpolitische Öffnung Affären, Intrigen und amtliche Forschungen Obstruktion der „Documents on German Foreign Policy" und die NATO Enthüllungen und Preisgabe des Neutralitätsmysteriums . . . . Aktensperre, Farbbücher und amtliche Historie als Entgegnung Sechste Zwischenbilanz
163 177 197 199 200 210 226 247 250 252 261 283 308 317 322
IV. Schlussbetrachtungen
327
V.
Anhang
339
1. Dokumente
339
2. Abkürzungsverzeichnis
352
3. Quellen- und Literaturverzeichnis
354
4. Register.
371
Vorwort Langjährige Forschungsprojekte haben es in sich, das Leben des Forschenden und seines Umfeldes, mitunter bis zu seinen täglichen sozialen Beziehungen, nachhaltig zu prägen. In all den Jahren, während derer ich mich mit diesem Thema befasst habe, durfte ich von vielen Personen Unterstützung, Hilfe und manchmal, zum Glück, auch größte Geduld erfahren. Nach getaner Arbeit gehört es nun zu den angenehmsten Pflichten, ihnen zu danken. Zu größter Dankbarkeit bin ich meiner verehrten Lehrerin Frau Prof. Dr. Judit Garamvölgyi verpflichtet, die meinen wissenschaftlichen Werdegang begleitet und entscheidend geprägt hat. Als ihren Assistenten hat sie mich nicht nur gefördert, sondern auch hartnäckig und unermüdlich immer wieder auf den eigentlichen Weg zurückgeführt, als andere Fragestellungen das Abschließen dieser Arbeit bedrohten. Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Georg Kreis, der freundlicherweise das Koreferat übernommen hat. Bedanken muss ich mich ebenfalls bei Herrn Prof. Dr. Jürg Steiner, der mich zu einem Auslandsemester an die University of North Carolina at Chapel Hill eingeladen hat, was meine Archivrecherchen in den USA entscheidend erleichtert hat. Dem Bundesarchivar Herrn Prof. Dr. Christoph Graf danke ich für seine bereitwillige Unterstützung bei den Gesuchen um Akteneinsicht, nicht nur im Schweizerischen Bundesarchiv. Großer Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Paul R. Sweet, dem ehemaligen leitenden Herausgeber der Documents on German Foreign Policy, der mir 1994 in East Lansing (MI) Einsicht in seine persönlichen Akten gewährte. Frau Prof. Dr. Madeleine Herren hat mir im Rahmen eines von ihr geleiteten Projektes des Nationalen Forschungsprogrammes 42 über Internationalisierungsprozesse als Instrument Schweizerischer Außenpolitik die Möglichkeit gegeben, gleichzeitig auch über ganz andere Fragestellungen zu forschen und zu publizieren. Für die unzähligen anregenden Gespräche und ihre wohlwollende Geduld in der Schlussphase meiner Dissertation bin ich ihr zu großem Dank verpflichtet. Nebst einer eingehenden kritischen Lektüre und sehr hilfreichen Hinweisen verdanke ich Frau Prof. Dr. Marina Cattaruzza, dass sie mir im Rahmen meiner Assistenz beim Lehrstuhl für Neueste allgemeine Geschichte an der Universität Bern mit sanftem und förderndem Druck die Zeit verschaffte, um diese Druckversion vorzubereiten. Die Stiftung Felix Leemann (Lugano) hat 1998 meine Lizentiatsarbeit mit dem ersten Preis ihres akademischen Wettbewerbes ausgezeichnet. Dieser substantiell dotierte Preis hat auch dazu beigetragen, dass ich mir die nötige Zeit für den Abschluss dieser Arbeit verschaffen konnte. Der Jury, bestehend aus den Herren Proff. Dres. Arturo Colombo, Raffaello Ceschi, Alessandro Pastore, Mauro Natale und Aw. Andrea Pozzi, sei hiermit nochmals gedankt.
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Vorwort
Als Italienisch Sprechender wundere ich mich oft über die facettenreichen und singulären Aspekte der deutschen Syntax. Die Neuregelung der Rechtschreibung habe ich lebhaft begrüßt und insgeheim mit der Hoffnung verbunden, meine sprachliche Unsicherheit würde im Rahmen einer deutschen allgemeinen .Verunsicherung' eher unbemerkt bleiben. Dass die vorliegende Fassung sprachlich nun doch nicht so unsicher daherkommt, ist das große Verdienst von Frau lie. phil. Rina Dey, welche die letzte Fassung des Manuskripts akribisch gelesen hat. Die größte Arbeit hat aber meine Lebenspartnerin, Frau lie. phil. Andrea Schweizer geleistet, die stets die undankbare Aufgabe hatte, meine Texte zuerst zu korrigieren. Als Historikerin hat sie nicht nur Stil und Sprache verbessert, sondern hat mich trotz eigener beruflicher Belastung und Dissertationsprojekt immer an ihrem enzyklopädischen Fundus von Wissen teilhaben lassen. Keine Worte der Dankbarkeit können ihre große tägliche Unterstützung wirklich ausdrücken. Die Geschichte der sprachlichen Korrekturen dieser Arbeit dürfte eine neue Dimension, gar eine theoretische Revision des Begriffes linguistic turn einleiten. In der Tat vermochten es meine Lektorinnen nicht immer, mich von ihren Korrekturvorschlägen zu überzeugen. Aller Argumente zum Trotz hat mich mein von der Eleganz und Melodie, aber auch von der Schwülstigkeit des Italienischen her geprägtes Sprachempfinden manchmal dazu bewogen, meine ursprüngliche Formulierung doch beizubehalten. Mögen mir die geneigte Leserin und der geneigte Leser diese Sätze, die hier und da aus dem engen Korsett der deutschen Sprachlehre zu entfliehen versuchen, verzeihen. Bern, im August 2000
I. Einleitung Gewiss sind wohl allen Historikern 1 , die noch das Vergnügen hatten, die Zeit vor dem irrtümlich verkündeten Ende der Geschichte auf der .richtigen' Seite bewusst mitzuerleben, die ominösen retouchierten Bilder aus der Sowjetunion bestens in Erinnerung. Abgedruckt neben dem Original, dienten sie im Westen als unmittelbarer optischer Beweis dazu, den totalitären Umgang mit der Wahrheit in der kommunistischen Hemisphäre zu verteufeln. In der Tat verleitete die Betrachtung des bewährten Gruppenbildes der bolschewistischen Führung, auf dem uns an Trotzkis Stelle munter eine Blumenvase entgegenlächelte, zu düsteren Gedanken. Denn wenn selbst bei der Photographie - die für unser naives, noch vor dem Zeitalter beliebiger virtueller Realitäten des Cyberspace geprägtes Gemüt als tatsächliches Abbild der Wirklichkeit galt - derartige Falsifikationen möglich waren, was wäre dann zu erwarten bei all denjenigen Quellen, wie den anrüchigen diplomatischen Akten, deren Verfälschung keinerlei ausgeklügelter technischer Mittel bedürfte? Zugegeben: Dass in der Sowjetunion stalinistischer Prägung Verfälschungen bei der Veröffentlichung von historischem Material üblich waren, hat sicherlich niemanden überrascht, denn sie waren dem totalitären Staat inhärent. Erstaunlich ist allerdings, wie unsystematisch das gleiche Problem in demokratischen Systemen thematisiert worden ist.
1. Problem, Fragestellung und Methode Kein Problem hätte je eine disruptivere Wirkung in der Geschichtsschreibung entfalten können als dasjenige der Objektivität. Denn jene war die positivistische Messlatte, die es zu überwinden gegolten hätte, um der Historie den Eintritt in den auserlesenen Kreis der szientistisch aufgefassten Wissenschaften des 19. Jahrhunderts zu gewähren. So ist es keineswegs verwunderlich, dass eine durchaus pragmatische quellenpositivistische Handhabung zuerst dafür sorgte, dass dieses Problemfeld durch Leopold von Rankes Objektivitätspostulat - in der Inkarnation „bloß [zu] zeigen, wie es eigentlich
1 Als Assistent zweier Professorinnen ist mir durchaus bewusst, dass nicht alle Historiker Männer sind. Einfachheitshalber verwende ich hier einen Kunstgriff, den ich von Ulrich Speck, dem Ubersetzer von Richard J. EVANS, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M. und New York 1998, S. 244, Anm. 1, gelernt habe: „Der Begriff .historians' ist im Englischen geschlechtsneutral. Im Deutschen ist der Begriff .Historiker' männlich, gemeint sind aber immer Historiker und Historikerinnen."
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I. Einleitung
gewesen"2 ist - erfolgreich ausgeblendet wurde. Dank der Annahme einer real existierenden Vergangenheit, die vom Historiker durch Entsagung Ranke wünschte gar sein „Selbst gleichsam auszulöschen"3 - und Einfühlung in das Geschehene bloß erkannt werden musste, gelang es dem Historismus, eine Problematisierung des Objektivitätsbegriffes zu verhindern: In einem fast transzendentalen Zustand schwebender Grazie hätte der in die Vergangenheit katapultierte Historiker tatsächlich im Stande sein sollen, .wahre' Historie zu erzeugen. Rankes Auffassung wurde aber nicht überall fraglos akzeptiert, und bereits sein jüngerer Zeitgenosse Johann Gustav Droysen disqualifizierte sie unzimperlich, aber deutlich genug, als „eunuchisch"4. Das Problem der Objektivität in der Wissenschaft ist keineswegs rein historischer Natur und wurde mit unterschiedlicher Zielrichtung verschiedentlich diskutiert, sei es beispielsweise philosophisch von Friedrich Nietzsche5 oder wissenssoziologisch von Max Weber6. Doch ein historischer Ansatz unendlich viel bescheidener als diese gelehrsamen Abhandlungen - , der sich dafür aber letztlich weder in den Fallstricken instrumentaler Historie verfangen noch mit ambivalenten und beliebig austauschbaren Ethik-Begriffen jonglieren möchte,7 sollte daher einem stringenten empirischen Vorgehen folgen. So wird hier das große Problem der Objektivität bereits in einem ersten Schritt auf einen Teilaspekt reduziert: Brennpunkt soll vorerst das Verhältnis zwischen Staat und Geschichtswissenschaft bilden. „L'oubli, et je dirai même l'erreur historique" - schrieb 1882 trefflich und visionär Ernest Renan in seiner berühmten Vorlesung Qu'est-ce qu'une Nation? - „sont un facteur essentiel de la création d'une nation, et c'est ainsi que le progrès des études historiques est souvent pour la nationalité un danger."8 L e o p o l d v o n RANKE, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 3 3 / 3 4 , Leipzig 1874, S. VII. 3 L e o p o l d v o n RANKE, Englische Geschichte vornehmlich im Siebzehnten Jahrhundert (Einleitung z u m Fünften Buch), in: ders., Sämmtliche Werke, B d . 15, Leipzig 1870 3 , S. 103. In einem Brief an seinen Sohn v o m 8. 3 . 1 8 8 4 spottete J o h a n n Gustav D r o y s e n über Rankes „großefs] W o r t " : J o h a n n Gustav DROYSEN, Texte zur Geschichtstheorie, hrsg. v o n Günter BLRTSCH und J ö r n RÜSEN, Göttingen 1971, S. 87. Sogar Rudolf Vierhaus qualifizierte diesen Ranke'sehen Ausspruch als „pathetisch": Rudolf VIERHAUS, „Rankes Begriff der historischen Objektivität", in: Reinhart KOSELLECK, Wolfgang J. MOMMSEN und J ö r n RÜSEN ( H g . ) , Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 1: Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, S. 6 3 - 7 6 . 2
J o h a n n Gustav DROYSEN, Historik, D a r m s t a d t 1 9 7 1 6 , S. 2 8 7 . Friedrich NIETZSCHE, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Zürich 1984. 6 M a x WEBER, „Politik als B e r u f " , in: Gesammelte politische Schriften, M ü n c h e n 1921, S. 3 9 6 - 4 5 0 , und M a x WEBER, „Wissenschaft als B e r u f " , in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. v o n H o r s t BAIER, M . Rainer LEPSIUS, Wolfgang J. MOMMSEN, Wolfgang SCHLUCHTER, Johannes WLNCKELMANN, Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 17, Tübingen 1992, S. 7 2 - 1 1 1 . 4
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F ü r meine Kritik an M a x Weber, vgl. unten S. 53. Ernest RENAN, Qu'est-ce qu'une Nationf C o n f é r e n c e faite en Sorbonne le 11 mars 1882, Paris 1934, S. 2 5 .
7 8
1. Problem, Fragestellung und Methode
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Damit postulierte Renan einerseits das Spannungsverhältnis zwischen Geschichtsforschung und Nation, indem er den historischen Fehler implizit als konstitutives Element der Nation definierte, und andererseits erklärte er eine kritische historische Wissenschaft als Gefahr. Diese Erkenntnis deutet letztlich aber auch auf die legitimatorische Funktion der Geschichtsschreibung für den Staat hin, ein Phänomen, das spätestens seit der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts als konstitutives Element für die imaginäre Gemeinschaft9 der Nation nicht mehr abgestritten werden kann. Diese funktionalen und wissenschaftsexternen Aspekte, gar Erwartungen, die an die Historie gerichtet werden, implizieren das politische Interesse, Geschichte im Sinne der Machteliten darzustellen. Das Extrem einer solchen Teleologie wäre das Orwell'sche Schreckgespenst eines totalitären Staates mit einem „Wahrheitsministerium", dessen Aufgabe darin bestünde, im Archiv aufbewahrte Quellen „nachzuprüfen und Angaben darin abzuändern und zurechtzufrisieren": „Einen Tag um den anderen und fast von Minute zu Minute wurde die Vergangenheit mit der Gegenwart in Einklang gebracht. Auf diese Weise konnte für jede von der Partei gemachte Vorhersage der dokumentarische Beweis erbracht werden, dass sie richtig gewesen war; auch wurde nie geduldet, dass man eine Verlautbarung oder Meinungsäußerung aufhob, die den augenblicklichen Gegebenheiten widersprach. Die ganze Historie stand so gleichsam auf einem auswechselbaren Blatt, das genausooft, wie es nötig wurde, radiert und neu beschrieben werden konnte. In keinem Fall wäre es möglich gewesen, nach Durchführung des Verfahrens nachzuweisen, dass eine Fälschung vorgenommen worden war." 1 0
So karikiert und unwahrscheinlich die totalitäre Projektion George Orwells der (damals) real existierenden Sowjetunion erscheinen mag, so wenig aber lässt sich das Problem abstreiten: Auch Demokratien können Mühe mit der eigenen Geschichte bekunden. Eine empirisch durchgeführte allgemeine Diskussion des Verhältnisses zwischen Staat und Geschichtswissenschaft würde aber die Kräfte eines Einzelunternehmers bald überfordern. Deswegen wird hier in einem zweiten Schritt die Fragestellung nochmals eingeschränkt. Die Linse wird auf staatliche Quellen eingestellt, präziser: auf amtliche Akteneditionen zur Außenpolitik. Diese Eingrenzung erlaubt einerseits, einen allzu abstrakt aufgefassten Staatsbegriff zu vermeiden, und andererseits, politische Einflussnahmen leichter aufzuspüren, denn Objektivitätskriterien lassen sich im Falle von Akteneditionen härter definieren als bei der darstellenden Historiographie: entweder sind die Dokumente in die Sammlung aufgenommen worden, oder sie wurden unterdrückt; entweder sind die Aktenstücke vollständig und korrekt wiedergegeben worden, oder sie wurden zensiert, manipuliert, verVgl. dazu Benedict ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 1993 2 . 1 0 George ORWELL, 1984, (Roman) übersetzt von Kurt Wagenseil, Frankfurt/M. 1995 24 , S. 137 und 39. 9
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I. Einleitung
fälscht, ja gar frei erfunden. Mehr noch: Wenn Eliten unangenehme darstellende Werke durch politische Verleumdung des Autors leicht entschärfen können, so haftet den sich unter staatlicher Kontrolle befindenden Quellen aller Fortschritte unserer Wissenschaft seit Ranke zum Trotz - der Geruch der Wahrhaftigkeit an. Aus diesem Grund und letztlich auch, weil sich die amtlichen Quellenproduzenten und ihre Nachfolger meist viel zu ernst nehmen, um gelassen auch jene ihrer schriftlichen Überreste, die sie nicht in ihrem größten Glanz erscheinen lassen, veröffentlicht zu sehen, eignen sich Akteneditionen verlässlicher und einfacher als Indikator für staatliche Interventionen als darstellende Historiographie. Doch auch damit sind noch nicht alle methodischen Probleme aus dem Weg geschafft. Die bereits zweimalige Verdichtung der Fragestellung erweist sich tatsächlich immer noch nicht als operational, denn sie impliziert eine ,wahre' oder zumindest .gültige' Auswahl, an der es die zu untersuchende zu messen gilt. Ferner sollte, um zu einem definitiven Urteil über Auswahlkriterien, allfällige Kürzungen, Auslassungen oder gar Unterdrückungen in einer Quellensammlung zu gelangen, theoretisch die Gesamtheit des jeweiligen Archivmaterials mit der Edition systematisch verglichen werden. Dies zumindest wird tatsächlich beispielsweise von Winfried Baumgart, Matthias Peter und Hans-Jürgen Schröder postuliert. 11 Nebst grundsätzlichen methodischen Einwänden muss freilich die ketzerische Frage, ob sich der arbeitsmäßige und zeitliche Aufwand einer solchen Methode und Fragestellung überhaupt lohne, klar verneint werden. 12 Einerseits ist die für die Edition notwendige Auswahl der Dokumente nicht mit harten Kriterien allgemeingültig definierbar, und andererseits könnten die wie auch immer gearteten Resultate aus einer quantitativen Analyse der ganzen Aktenmasse kaum die historische Relevanz einzelner Dokumente widerspiegeln. Außerdem muss eine einseitige Aktenselektion nicht unbedingt auf intentionale Verdunkelungsversuche hindeuten, denn die getroffene Auswahl kann auf die persönlichen Interessen der Bearbeiter, deren Forschungsfragestellungen, zeitbedingte Erscheinungen, ja gar auf deren falsches Bewusstsein zurückgeführt werden. So dürfte ein solches quantitatives Vorhaben schließlich gegen eine etwas zu simpel aufgefasste historistische Sichtweise, welche implizit .wahre'
11 Winfried BAUMGART, Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 his zur Gegenwart, Bd. 5: Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871-1918), Erster Teil: Akten und Urkunden, Darmstadt 2 1991, S. 13. Matthias PETER und Hans-Jürgen SCHRÖDER, Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn 1994, S. 207. Gregor SCHÖLLGEN, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, München 1984, S. 9. 12 Gleicher Meinung ist Annelise THIMME, „Friedrich Thimme als politischer Publizist im Ersten Weltkrieg und in der Kriegsschuldkontroverse", in: Alexander FISCHER, Günter MOLTMANN und Klaus SCHWABE (Hg.), Russland. Deutschland. Amerika. Russia. Germany. America. Festschrift für Fritz T. Epstein zum 80. Geburtstag, Wiesbaden 1978 (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 17), S. 212-238, hier S. 231.
1. Problem, Fragestellung und Methode
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Geschichte durch die (einzige),wahre' Aktenselektion zu erreichen trachtet, nicht ganz immun sein. Die dritte Verdichtung erweist sich somit zwangsläufig als eine methodische. Statt die Selektion der Akten aufgrund (vermeintlich allgemeingültiger) Objektivitätskriterien diskutieren zu wollen, wird hier der Fokus auf die handelnden Historiker gerichtet. Postuliert wird ein Spannungsverhältnis zwischen den deontologischen 13 Prinzipien des Historikers als Wissenschaftler und den Interessen des politisch Opportunen - letztlich also der Staatsräson. So interessieren hier primär jene Konfliktfälle, wo der Staat auf die Arbeit der Historiker als Herausgeber von amtlichen Akteneditionen Einfluss nimmt. Zugegeben: Dieser Ansatz birgt die latente Gefahr, zu stark auf den Historiker als Wissenschaftler zu fokussieren und damit die politische Seite des Historikers als Bürger zeitweise auszublenden. Dem Einwand aber, dass vor lauter Hegemonie der herrschenden Klasse und vor lauter falschem Bewusstsein der Historiker-Bürger gar nicht zum Historiker-Wissenschaftler vorstoßen kann, wird hier gelassen begegnet. Denn den Resultaten der Arbeit vorgreifend kann bereits an dieser Stelle festgehalten werden, dass beide Seelen des Historikers - freilich von Fall zu Fall mit sehr unterschiedlicher opportunistischer Ausprägung - vorhanden sind und dass die wissenschaftliche mit ihrem deontologischen Kodex Auswüchse der politischen zumindest wahrnimmt. Der Vorwurf, diese Methode tendiere zu einer Heroisierung der Arbeit der Historiker und blende wichtige Aspekte wie die Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses, die Selbstzensur von Historikern oder generell eine Diskussion von darstellenden Werken aus, übersieht den Fokus und den Sinn der Fragestellung. Gewiss vermag diese dreifache Verdichtung der Fragestellung keineswegs einen allgemeinen historiographischen Ansatz zu ersetzen: Sie beabsichtigt dies aber eben gar nicht. Vielmehr versucht sie, das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Geschichtswissenschaft anhand des speziellen Teilaspekts der Problemkomplexe um die Akteneditionen empirisch greifbar zu diskutieren: nicht mehr und nicht weniger. Es sei übrigens ausdrücklich bemerkt, dass sich die hier skizzierte Dichotomie zwischen den beiden Seelen des Historikers dezidiert gegen eine simplizistische Auffassung von so genannt wertfreier Wissenschaft richtet. Quellenmäßig lässt sich das Vorhaben mit den Akten und Korrespondenzen der amtlichen Historiker bewerkstelligen. Dieser Einstieg in die Akten der Herausgeber liefert nicht nur Belege für Konflikte mit dem zensierenden 13 .Deontologie' wird hier als deontologische (Berufs-) Ethik verstanden, im Sinne derjenigen „Form normativer Ethik, dergemäß sich Verbindlichkeit und Qualität moralischer Handlungen und Urteile aus der Verpflichtung zu bestimmten Verhaltensweisen bzw. Handlungsmaximen herleiten - prinzipiell unabhängig von vorgängigen Zwecken und möglichen Konsequenzen des Handelns" ( H i s t o r i s c h e s Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim RITTER, Darmstadt 1972, S. 114). Als Verhaltensweisen und Handlungsmaximen der Berufsethik der Historiker werden hier die Grundprinzipien wissenschaftlicher Redlichkeit angenommen.
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I. Einleitung
Staat und verdeutlicht dessen Machtstrukturen, sondern zeigt ebenfalls die zeitgenössischen politischen Interessen auf, ein opportunes Schmieden der Historie zu forcieren. Die Fragestellung erweitert sich also in eine genuin historische Dimension: gefragt werden soll nicht bloß, was unterdrückt wurde, sondern warum. Letztlich richtet sich der Fokus also auf die politischen Intentionen. Ausgehend von einem Interesse am Problem der Objektivität konkretisiert sich der dreifach limitierende Schritt in einem Bündel von spezifischen Fragestellungen. Leiten wird uns die Frage nach dem staatlichen Umgang mit der Edition von historischem Material. Gestützt auf die nicht weiter zu präzisierende Annahme, dass der Staat von der Geschichte eine legitimatorische Funktion erwartet, wird hier nach den politischen Einflüssen gefragt, die ein solch funktionales Produkt in der Form gedruckter Aktenstücke im Spannungsfeld mit der historischen Objektivität zu konstruieren vermögen. Dies ist letztlich eine Frage der Macht. Relevant sind indes auch die Fragen, wieso der Staat auf Historiker zurückgreift, statt autonom mit seiner Beamtenschaft zu operieren; und welche institutionellen Lösungen getroffen werden, um die Historiker zu vereinnahmen beziehungsweise ihre Autonomie nach außen zu projizieren. Ferner interessieren die Reaktionen der Historiker auf politische Einflussnahmen: Wie geht der Historiker-Wissenschaftler mit seinen deontologischen Prinzipien damit um? Schließlich wird die Frage angegangen, inwiefern amtliche Akteneditionen aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt brauchbar sind, eine Frage, die umso relevanter ist, als Historiker, aus Bequemlichkeit, aber auch aus Sachzwängen, oft allzu unbekümmert mit Dokumentensammlungen umzugehen pflegen, mithin also historische Konstrukte reflektieren. Von der methodischen Warte aus bleibt schließlich noch die Frage zu klären, anhand welcher Fälle der Quellenwert amtlicher Akteneditionen aufzuzeigen sei. Um eine möglichst breite Analyse zu ermöglichen, werden zuerst die Anfänge amtlicher Edition von historischem Material anhand des Phänomens der Farbbücher 14 betrachtet. Anschließend werden die großen klassischen Akteneditionen der Großen Mächte diskutiert, die im Zuge der Kriegsschuldkontroverse nach dem Ersten Weltkrieg produziert wurden: die deutsche Große Politik der Europäischen Kabinette (1871-1914), die britischen Documents on the Origins of the War (1898-1914) und die französischen Documents diplomatiques français (1871-1914). Es folgen die amerikanische Serie der Foreign Relations of the United States (1861 ff.) und das internationale Publikationsunternehmen der Documents on German Foreign Policy (1918-1945).
14 Für eine Definition der Farbbücher vgl. unten S. 23 f.; ferner: Sacha ZALA, „Diplomatie Documents", in: Derek JONES (Hg.), Censorship. A World Encyclopedia, Chicago 2001 (im Druck).
2. Literatur, Forschungsstand und Quellenlage
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2. Literatur, Forschungsstand und Quellenlage Die Literatur über Akteneditionen kann trotz tausendfacher Rezensionen unumwunden als spärlich bezeichnet werden. Dieses Forschungsdefizit liegt in der Natur der Sache. Bei neu erscheinenden Sammlungen stürzt sich der im .Quellenrush' berauschte Historiker zuerst auf den Inhalt oder, wie es Edward Carr anfangs der sechziger Jahre noch luzide ausführte, auf die „historical facts". 15 Freilich ist dieser Quellenpositivismus nicht zufällig, denn obschon die Aktenbestände (teilweise) freigegeben werden, bleiben die persönlichen Akten der herausgebenden Historiker lange verschlossen, was eine Analyse mit dem hier verwendeten Ansatz gar nicht erst ermöglicht. Trotz der anfänglichen Euphorie bei der Quellenlektüre neigt der Historiker auch gelegentlich zur Vorsicht und wüsste grundsätzlich, was Forest L. Griever stellvertretend für die ganze Zunft apodiktisch bemerkt hat: „there will always be scholarly concern over what might have been ,left out' of an edited collection of documents" 16 . Gleichzeitig sind sich auch die im amtlichen Auftrage arbeitenden Historiker bewusst, wie ein Historiker des Department of State frustriert kommentiert hat, dass außenstehende Experten „are inevitably suspecting the Department of suppression of record". 17 Wer sich für den Wert von Akteneditionen interessiert, wird bald bemerken, dass selten leicht zugängliche wissenschaftliche Abhandlungen anzutreffen sind. Dies, obschon unter Historikern über jede einzelne Quellensammlung eine diffuse opinio communis bezüglich derer Qualität herrscht (und unbeachtet mancher quellenkritischer Bedenken im Falle einzelner Akteneditionen, diese, in einem für Historiker typischen quellenpositivistischen Reflex, allzu leichtfertig verwendet werden). Die benützte Literatur kann grob in vier Kategorien unterteilt werden: Rezensionen über Akteneditionen, memoirenartige Artikel von an Akteneditionen beteiligten Historikern, allgemeine Quellenkunden und schließlich Monografien zur politischen Geschichte. Nach den vielen spezifischen Rezensionen erschöpft sich die Literatur über Akteneditionen bald. Die Brauchbarkeit der Rezensionen, die häufig nichts mehr als den Inhalt einzelner Bände wiedergeben, ist relativ bescheiden. Zudem müssen sie häufig selbst quellenkritisch hinterfragt werden, da sie zum Teil im Zuge von Kon15 Edward Hallett CARR, What Is History? The George Macauly Trevelyan Lectures Delivered at the University of Cambridge January-March 1961, New York 1961. 16 Forest L. GRIEVER, in: International Journal of International Law 77 (1983), S. 400 f., zit. nach Antoine FLEURY, „Les Documents Diplomatiques Suisses. Histoire d'une publication majeure des historiens suisses", in: Geschichtsforschung in der Schweiz. Bilanz und Perspektiven. 1991, hrsg. von der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, Basel 1992, S. 397-409, hier S. 408. 17 Memo, von E. Wilder SPAULDING an Assistant Secretary Archibald MACLEISH, [Washington,] 3. 2.1945, N A , RG 59, Central File [CF] 1 9 4 5 ^ 9 , Box 4, 026 Foreign Relations/2-345, S. 2.
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I. Einleitung
troversen entstanden sind. Beispielsweise wurden viele Artikel in der Zwischenkriegszeit im Banne der Kriegsschuldkontroverse funktional zu nationalen Interessen verfasst. Eine erfreuliche Ausnahme in diesem sonst kargen Literaturbestand bildet nach wie vor die vom italienischen Historiker und Berater des Ministero degli affari esteri, Mario Toscano, inzwischen vor mehr als dreißig Jahren aufgelegte große ,Einführung' zu den Documentary and Memoir Sources^. Sehr nützlich ist ebenfalls die zwar stellenweise großzügig auf Toscano aufbauende, dafür handliche Quellenkunde von Winfried Baumgart.19 Ebenfalls ergiebig ist der nachfolgende Band in der gleichen Serie von Hans Günter Hockerts.20 Daneben geben bloß vereinzelte Einführungen in das Studium der Geschichte Auskunft, am besten diejenige von Matthias Peter und Hans-Jürgen Schröder.21 Hinweise auf den Umgang mit Akteneditionen findet man schließlich vereinzelt und verstreut in Forschungen zur politischen Geschichte. Eine eingehendere Behandlung des deutschen Falles bieten beispielsweise die Dissertationen von Ulrich Heinemann und Wolfgang Jäger.22 Erst die 1996 unter dem Titel Forging the collective memory erschienene, von Keith Wilson herausgegebene Sammlung von mehrheitlich bereits erschienenen Aufsätzen hat sich eingehend, wenn auch zum Teil nur punktuell, sehr verdienstvoll mit dem Thema auseinandergesetzt.23 Bezeichnenderweise hat sich auch ein Einstieg in die Problematik über die Fälschungsforschung als vollkommen unergiebig erwiesen. Trotz der in letzter Zeit florierenden Ausstellungen24 und Kongresse25 zum Thema Fälschung wurde das Problem eher kunsthistorisch auf Kunstobjekte oder, wenn textkritisch bezogen, fast ausschließlich in Bezug auf die Antike 26 oder 18 Mario TOSCANO, The History of Treaties and International Politics, I: An Introduction to the History of Treaties and International Politics: The Documentary and Memoir Sources, Baltimore 1966. 1 9 BAUMGART, Quellenkunde. 20 Hans Günter HOCKERTS, Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 6: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg (1919-1945), Erster Teil: Akten und Urkunden, Darmstadt 1996. 2 1 PETER und SCHRÖDER, Zeitgeschichte, S. 2 0 6 - 2 5 6 . Sehr knapp behandeln das Thema: Erwin FABER und Imanuel GEISS, Arbeitsbuch zum Geschichtsstudium. Einführung in die Praxis wissenschaftlicher Arbeiten, Heidelberg 1983, S. 81-84 und 185. 22 Ulrich HEINEMANN, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 59). Wolfgang JÄGER, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1984 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 61). 23 Keith WILSON (Hg.), Forging the Collective Memory. Government and International Historians through Two World Wars, Oxford 1996. 24 Zum Beispiel die Ausstellung Fake ? The Art of Deception im Jahre 1990 im British Museum in London; ferner siehe unten Anm. 29. 25 Zum Beispiel: die Konferenz Forged Documents 1989 in Houston; ferner siehe unten Anm. 27. 26 Für einen Essay, welcher vor allem die antiken Fälschungen und deren Demontage
2. Literatur, Forschungsstand und Quellenlage
17
das „Mittelalter als Zeitalter der Fälschung" 27 angegangen. Auch Umberto Ecos Beitrag Tipologia della falsificazione, in welchem er eine allgemeine Semiotik der Falsifikation und eine Typologie der falschen Identifikation vorschlägt, erweist sich in unserem Kontext als nicht ergiebig.28 Als Abstecher in die Zeitgeschichte werden selbstverständlich die berüchtigtsten Fälschungen, wie Die Protokolle der Weisen von Zion oder die Hitler-Tagebücber; in den Publikationen mindestens erwähnt, doch weder typologisch, phänomenologisch noch in ein historisches Kontinuum bis zur Gegenwart eingeordnet. Defizite bestehen weiterhin ebenfalls bei der Terminologie. .Fälschung', .Betrug', .Täuschung' sind normative Begriffe und als solche nicht nur dem historischen Wandel, sondern auch der Entwicklung der Rechtskodifizierung unterworfen. Was in der Frühen Neuzeit noch als legitim aufgefasst werden konnte, wäre heute längst unter der Kategorie des „Betrugs oder der Täuschung, der Beleidigung oder der Verleumdung, der Verletzung des geistigen Eigentums und des Urheberrechts" subsumiert. 29 Schließlich ist im wissenschaftlichen Diskurs der Vorwurf der Fälschung eine heikle Angelegenheit. Er wird in Auseinandersetzungen auch instrumenteil gebraucht, um Kollegen zu disqualifizieren und zu diffamieren.30 Kurz: Für die Fragestellung bezüglich amtlicher Akteneditionen bleiben nach wie vor große Forschungsdefizite sowohl in systematischer als auch in konzeptueller Hinsicht bestehen. Die Mängel der Forschungsliteratur wirken sich in mancher Beziehung auf die Quellen aus. Erstens schreien sie geradezu nach einem quellenkritischen, distanzierten Umgang nicht nur mit den Quellen, sondern auch mit der Literatur. Zweitens implizieren sie die Suche nach wenig erschlossenen Quellen. seit dem Humanismus thematisiert, siehe: A n t h o n y GRAFTON, Fälscher und Kritiker. Der Betrug in der Wissenschaft, Berlin 1991. Graftons These beleuchtet das enge w e c h selseitige Verhältnis zwischen Fälscher und Kritiker und für letztere die zeitgenössische I m m a n e n z ihrer Kritik: „der Kritiker verwirft Fälschungen aus persönlichen Gründen und ausgehend von den A n n a h m e n seiner eigenen Zeit über die Welt, aus der diese angeblich kommen, darum werden mit der Zeit zumindest einige seiner Entlarvungen ihrerseits entlarvt werden." (S. 9 6 ) A u c h der Historiographie der Zeitgeschichte dürften solch einleuchtende Schlüsse nicht fremd erscheinen. Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Histórica, München, 16.-19. September 1986, 6 Bde., H a n n o v e r 1988 (Schriften der M o n u m e n t a Germaniae Histórica, Bd. 33.1), S. 6 9 - 8 2 . 27
U m b e r t o E c o , „Tipologia della falsificazione", in: Fälschungen im Mittelalter, Bd. 1, S. 6 9 - 8 2 . 2 9 Gabriele HOOFFACKER, Literarische Fälschungen der Neuzeit, Ausstellung v o m 16. 9. bis 14. 11. 1986 Bayerische Staatsbibliothek und M o n u m e n t a Germaniae Histórica, München 1986, S. 9. 3 0 Dies w u r d e beispielsweise bei der unzimperlich geführten Reichstagsbrand-Kontroverse deutlich: U w e BACKES, K a r l - H e i n z JANSSEN, E c k h a r d JESSE, Henning KÖHLER, H a n s MOMMSENund F r i t z TOBIAS warfen in ihrem W e r k Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende (München 1 9 8 6 ) den A u t o r e n der Quellensammlung Der Reichstagsbrand. Eine wissenschaftliche Dokumentation, hrsg. von Walther HOFER, E d o u a r d CALIC, Christoph GRAF und Friedrich ZIPFEL (2 Bde., M ü n c h e n 1978) vor, Fälschungen an Zeugenaussagen und D o k u m e n t e n v o r g e n o m m e n zu haben. 28
18
I. Einleitung
Diese Abhandlung stützt sich dementsprechend auf unveröffentlichte Materialien, vor allem aus Aktenbeständen des Department of State in den National Archives in Washington, aus bislang größtenteils gesperrten Beständen des Eidgenössischen Politischen Departements im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern und schließlich auf die privaten Akten von Prof. Dr. Paul R. Sweet, dem ehemaligen amerikanischen leitenden Herausgeber der Documents on German Foreign Policy, die ich freundlicherweise im März 1994 in East Lansing (MI) konsultieren durfte und die nun in den Archives of the Hoover Institution on War, Revolution and Peace, Stanford University in Stanford (CA) für die Forschung zugänglich sind.
3. Aufbau der Arbeit Das Forschungsinteresse für die Fragestellung wurde durch einen Artikel des ehemaligen leitenden Herausgebers der Documents on German Foreign Policy, Paul R. Sweet, in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte geweckt, worin dieser politische Einflussnahmen seitens der britischen und der schweizerischen Regierung auf die westalliierte Edition aufzeigte, mit welchen er konfrontiert gewesen war.31 Darauf aufbauend wurden die schweizerischen und die amerikanischen Akten durchgearbeitet. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse legten bald nahe, den Schwerpunkt auf eine systematischere und breiter aufgefasste Untersuchung zu verschieben. Der während der Forschung in den National Archives erlebte Ärger über den .pathologischen Klassifikationsreflex' 32 aus der Zeit des Kalten Krieges, nämlich die Tatsache, dass die wichtigsten Akten trotz genereller Aktenerschließung für die betreffende Periode weiterhin geheim gehalten werden, war dabei zusätzlicher Ansporn, die Arbeit aller Schwierigkeiten zum Trotz weiterzuführen. In einem ersten Teil diskutiert diese Arbeit die historische Entwicklung amtlicher Akteneditionen zur Außenpolitik in den letzten zwei Jahrhunderten. Im ersten Kapitel wird das (europäische) Phänomen der Farbbücher analysiert. Diese Publikationen, die synchron zur Parlamentarisierung deren neue Legitimitätsanforderungen widerspiegelten, stellen die erste Form amtlicher Editionen von historischem Material dar und verdeutlichen paradigmatisch die quellenkritischen Probleme, die sich aus dem Spannungsfeld politischer Opportunitätserwägungen ergeben. Zentral dabei ist die KonzepPaul R. S w e e t , „Der Versuch amtlicher Einflussnahme auf die Edition der .Documents on German Foreign Policy, 1933-1941'. Ein Fall aus den fünfziger Jahren", in: 31
VfZ 3 9 ( 1 9 9 1 ) , S. 2 6 5 - 3 0 3 .
Vgl. dazu Robert Steele, ehemaliger Direktor des US Marine Corps Intelligence Center, zitiert in Benjamin W i t t e s , „shhh! The Cold War Is Over. So W h o Are We Keeping All Those Secrets From?", in: Washington CityPaper 13, Nr. 48 ( 3 32
9 . 1 2 . 1 9 9 3 ) , S. 2 3 - 2 7 , h i e r S. 2 4 .
3. Aufbau der Arbeit
19
tualisierung der Problemkomplexe hinsichtlich der Selektion, Edition und Echtheit, welche als Grundlage für die nachfolgenden Kapitel gebraucht werden. Das nächste Kapitel thematisiert den europäischen .Krieg der Dokumente' und befasst sich mit der .ersten' der großen klassischen Akteneditionen der Zwischenkriegszeit, der vom Auswärtigen Amt im Zuge der virulenten Kontroverse um die Kriegsschuldfrage und im Sog der Propagandamaschinerie die in Deutschland aufgezogen wurde, um dem als schmachvoll empfundenen Versailler Friedensvertrag innen- wie außenpolitisch entgegenzuwirken - herausgegebenen Großen Politik der Europäischen Kabinette. Leiten wird die Frage der Ubergabe der Edition von historischen Materialien von Diplomaten an Historiker. Dieser Wechsel war notwendig geworden, da amtliches Material als Folge der Kriegspropaganda allgemein in Verruf gekommen war. Mit der Berufung von nach außen unabhängig auftretenden Historikern trachtete der Staat danach, sich eine durch externe Referenten quasi wissenschaftlich beglaubigte Legitimation zu sichern. In diesem Kapitel werden auch die britische Edition der Documents on the Origins on the War und die französischen Documents diplomatiques français diskutiert, jene Dokumentensammlungen, die im Zuge der Kriegsschuldkontroverse die erzwungene Antwort auf die deutsche Publikation darstellten, da diese vor allem in den USA bereits erfolgreich einen für Deutschland günstigen Revisionismus bewirkt hatte. Das Kapitel über die großen Aktensammlungen der Zwischenkriegszeit verdeutlicht das Phänomen des gegenseitigen Unter-Druck-Setzens durch Akteneditionen, was eine neue qualitative Dimension amtlicher Dokumentensammlungen eröffnete. Wurden die meistens innenpolitisch bestimmten Farbbücher im 19. Jahrhundert von den Mächten noch weitgehend gefällig untereinander bereinigt, waren die großen Akteneditionen der Zwischenkriegszeit primär außenpolitisch ausgerichtet und daher in der Regel keiner äußeren Selektion unterworfen. Obschon die Literatur es verpasste, einen breiteren, vergleichenden Ansatz über die Frage der Akteneditionen zu thematisieren, wurden die Aktensammlungen der Zwischenkriegszeit verschiedentlich im Rahmen klassischer diplomatiegeschichtlicher Studien am Rande behandelt. Darüber hinaus nahmen verschiedenste Beiträge im Zuge von Kontroversen die .gegnerischen' Editionen peinlich genau unter die Lupe. Darauf konnte in einem synthetisierenden Arbeitsgang zurückgegriffen werden, und es wurde daher als legitim betrachtet, sich in letzteren Kapiteln hauptsächlich auf gedruckte Quellen und Literatur zu stützen. In einem nächsten Schritt wird die amerikanische Serie der Foreign Relations of the United States diskutiert, deren Genese und Handhabung ganz andere Muster als die europäischen Editionen aufweisen. Dennoch durchlief die seit 1861 ununterbrochen 33 aufgelegte Serie ähnliche Entwicklungsstufen wie die europäischen. Die in den zwanziger Jahren einsetzende Professiona33
Ausgenommen das Jahr 1869.
20
I. Einleitung
lisierung der Edition durch die Berufung von akademisch ausgebildeten Historikern spiegelte die qualitative Verbesserung der großen europäischen Aktensammlungen wider. Im Gegensatz zu den europäischen Mächten standen die Amerikaner aber nicht unter dem Druck der Kriegsschuldkontroverse und mussten daher nicht auf externe Garanten zurückgreifen: Die Historiker waren offiziell im Dienste des Department of State und nebst der Edition auch mit politischen Aufgaben beschäftigt. Das weitgehend auf unbearbeiteten Aktenbeständen aufbauende Kapitel zeigt anhand verschiedener Nahaufnahmen, wie politische Druckversuche die Edition beeinflussten und wie die amtlichen Historiker diesen durch die diskrete Mobilisierung ihrer Wissenschaftsverbände entgegenzuwirken suchten. In einem zweiten Teil wird das internationale Publikationsunternehmen der Documents on German Foreign Policy diskutiert. Dabei reicht die Analyse weit zurück bis zur generalstabsmäßig sorgfältig geplanten und durchgeführten Aktenerbeutung der amerikanischen und britischen Armee in Deutschland während der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges. Die Amerikaner hatten sich davon zuerst nützliche nachrichtendienstliche Informationen für die Kriegsführung gegen das weiterkämpfende, mit Deutschland verbündete Japan versprochen. Aber bereits während des Krieges beabsichtigte das Foreign Office deutsche Akten zu erbeuten und zu veröffentlichen. Diese Absicht war stark geprägt von der Erfahrung mit der deutschen Aktenedition der Großen Politik in der Zwischenkriegszeit und richtete sich prinzipiell gegen einen erwarteten deutschen Revisionismus in Bezug auf die Kriegsschuldfrage. Im Zuge der Entnazifizierung und als Teil des reeducation-program edierten amerikanische, britische und später französische Historiker in der Folge die erbeuteten deutschen Akten im Rahmen der Serie der Documents on German Foreign Policy, die später unter dem Titel Akten zur deutschen auswärtigen Politik auch eine deutsche Auflage erfuhr. Dieses Kapitel schildert die Transformation vom militärischen und nachrichtendienstlichen zum historischen Projekt und reflektiert mithin auch das politische Klima, in welchem die Publikation der Documents on German Foreign Policy im Rahmen des Kalten Krieges instrumentalisiert wurde. Das letzte Kapitel setzt sich mit der politischen Rezeption der Documents on German Foreign Policy in den fünfziger und sechziger Jahren auseinander, wobei die bis dahin verwendete Perspektive aus der Sicht der Großmächte verlassen wird. Statt die Edition von innen zu betrachten, wird deren externe Rezeption (und Einflussnahme) anhand des Fallbeispiels eines Neutralen, der Schweiz, untersucht. Dabei zeichnet sich immer deutlicher ein weitgehend unbekanntes Bild der schweizerischen Historiographie der Nachkriegszeit ab, eine amtliche Geschichtsschreibung, welche sich reaktiv auf die Enthüllungen der Documents on German Foreign Policy herausbildete. Der schweizerische Bundesrat versuchte, eine unabhängige historische Aufarbeitung der schweizerischen Geschichte während des Zweiten Weltkrieges zu
3. Aufbau der Arbeit
21
verhindern oder, wenn dies durch die alliierten Enthüllungen nicht mehr möglich war, in wesentlichen Teilen zu steuern. Denn sie hätte die eng definierte Neutralitätsauffassung im Spannungsfeld des Kalten Krieges in Frage gestellt. Interessant ist dabei die auf politischer Ebene erstaunlich rezeptive Bereitschaft der Westmächte, und insbesondere hoher NATO-Offiziere, eine Enthüllung der für die Schweiz (politisch) neutralitätsbelastenden francohelvetischen Militärkooperation von 1939/1940 zu verhindern. Das Kapitel über die Schweiz stieß im Zuge der Debatte über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges auf ein gewisses Interesse. Daher erschien dieses Kapitel, amtlich gedruckt, wenn auch offensichtlich erst nach einigen Schwierigkeiten, im Juli 1998. 34 Interessanterweise beauftragte der Bundesrat in seinem Beschluss vom 19. Dezember 1996 die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg u. a. auch, „offizielle historische Aufarbeitungen" und „Reaktionen auf ausländische Quelleneditionen" zu untersuchen. Wenn der Historiker darüber reflektiert, wie stark die Geschichtswissenschaft von politischen Akteuren an den Schalthebeln der Macht je nachdem gelenkt, verhindert oder gefördert wird, so soll dies keineswegs nur Düsteres bedeuten, denn gleichzeitig zeigt es deutlich genug, welche große politische Bedeutung der Historie beigemessen wird. Trotz des großen Argers, wenn staatliche Intervention historische Forschung verhindert oder gezielt lenkt, können wir getrost den Worten von George P. Gooch Glauben schenken: „Luckily for historians, attempts to mislead posterity rarely succeed, however long we have to wait for the truth." 3 5
Sacha ZALA, Gebändigte Geschichte. Amtliche Historiographie und ihr Malaise mit der Geschichte der Neutralität. 1945-1961, Bern 1998 (Dossier des Schweizerischen Bundesarchiv, Bd. 7). Daher erschien der später verfasste Aufsatz zuerst: Sacha ZALA, „Das amtliche Malaise mit der Historie: Vom Weißbuch zum Bonjour-Bericht", in: SZG 47 (1997), S. 759-780 (Diese Sondernummer der SZG ist ebenfalls in Buchform erschienen: Georg KREIS und Bertrand MULLER (Hg.), Die Schweiz und der Zweite Weltkrieg, Basel 1997). 3 5 George P. GOOCH, „Foreword", in: Georges BONNIN (Hg.), Bismarck and the Hohenzollern Candidature for the Spanish Throne. The documents in the German Diplomatic Archives, London 1957, S. 11. 34
II. Amtliche Akteneditionen Akten, Diplomatie und Politik 1800-1945 Die staatliche Praktik, historische Materialien zur Außenpolitik zu veröffentlichen, reicht in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück. Das über die Zeit konstante Ziel dieser Handlung von Regierungen war die Legitimation der eigenen Politik und stellt mithin einen Ausdruck des Parlamentarisierungsprozesses dar. Das Augenmerk dieses Teiles der Arbeit reicht zeitlich von den Anfängen dieser Praktik über ihren Höhepunkt in der Zeit des Hochimperialismus bis hin zur Zäsur des Zweiten Weltkrieges. Das erste Kapitel diskutiert das europäische Phänomen der Farbbücher und versucht durch eine quellenkritische Problematisierung der Editionstechniken und -praktiken, die Fragestellung auf eine genuin politische Ebene zuzuspitzen und somit ein Instrumentarium bereitzustellen, das durch die ganze Arbeit angewendet wird. In einem zweiten Schritt wird der europäische .Krieg der Dokumente' dargestellt. Die seit 1917 die alten Monarchien erschütternden politischen Umwälzungen brachten neue Eliten an die Macht, die durch Publikation von Dokumenten ihrerseits nach Legitimation trachteten. Zentrales Moment bildete dabei die im Zuge der Versailler Nachkriegsordnung entflammte virulente Kriegsschuldkontroverse. Durch die Veröffentlichung von Akten versuchte die junge Weimarer Republik, die Last der Schuld zu verringern, ein Unternehmen, das derart glückte, dass es die Mächte der Entente ebenfalls zwang, eigene Publikationen folgen zu lassen. Das dritte Kapitel verlässt die europäische Sicht und diskutiert mit der amerikanischen Edition der Foreign Relations of the United States ein historisch zwar anders bedingtes und entstandenes Unternehmen, das aber editionstechnisch eine parallele Entwicklung zu den europäischen durchlief. Nebst Überlegungen zur Professionalisierung des Berufs des Historikers fokussiert die Darstellung auf eine Rekonstruktion politischer Einflussnahme auf die betrachteten Publikationen und deren Zensur.
1. Vom Wesen der Farbbücher 1800-1945 Farbbücher, manchmal im Deutschen auch Buntbücher genannt, sind ad hoc erscheinende amtliche Druckschriften, limitierte Sammlungen diplomatischer Aktenstücke zu bestimmten (vornehmlich außen-) politischen Fragen.
24
II. Amtliche Akteneditionen
Sie werden von einer Regierung - häufig während oder nach einer internationalen Krise - veröffentlicht, um die (parlamentarische) Öffentlichkeit zu informieren sowie die eigene Politik zu legitimieren oder die eines fremden Staates zu kritisieren. 1 Herausgegeben werden sie im Namen der Regierung oder des Außenministeriums. Die Bearbeiter bleiben anonym, denn es handelt sich dabei um Beamte und nicht um unabhängige Historiker. Ihren Namen verdanken sie den Farben der Einbände, welche die verschiedenen Regierungen nach ziemlich konsistenter Praktik anwandten. So wurden die britischen Dokumentensammlungen, welche das Kabinett dem Parlament zur Legitimation der verfolgten Außenpolitik vorlegte, in blaue Einbände gefasst. Diese Tradition prägte die Bezeichnung .Blaubuch' für offizielle britische Publikationen diplomatischer Korrespondenzen. Einige von ihnen enthielten aber so wenige Dokumente, dass sie ihrer Dünnheit wegen nicht mit einem Deckel versehen und daher als .Weißbücher' bezeichnet wurden. Daher blieb die Benennung bis ins 20. Jahrhundert nicht konsolidiert und gab gelegentlich auch Anlass zu Missverständnissen. So wurde zum Beispiel sowohl in der Literatur wie in der Presse die britische Aktenpublikation Correspondence Respecting the European Crisis aus dem Jahre 1914 manchmal als .Weißbuch' (white paper) und manchmal als .Blaubuch' (blue book) bezeichnet. Denn die erste, überstürzte Ausgabe war bereits zwei Tage nach der Kriegserklärung am 6. August ohne Einband erschienen, während eine spätere Auflage mit dem traditionellen blauen Einband versehen wurde. 2 Um die Bedeutung dieser Gattung publizierter Dokumentensammlungen einschätzen zu können, soll hier zuerst ihre Entstehungsgeschichte entlang der drei Phasen Entstehung, Höhepunkt und Regression skizziert werden. Darauf aufbauend folgen anschließend quellenkritische Überlegungen. 3
1 .Amtliche Druckschriften' definieren PETER und SCHRÖDER, Zeitgeschichte, S. 226. F ü r Definitionen von .Farbbüchern' vgl. z . B . BAUMGART, Quellenkunde, S. 73; TOSCANO, Treaties, S. 88; dtv-Wörterbuch zur Geschichte, München 1972; Meyers Großes Konversations-Lexikon, Leipzig 6 1 9 0 5 . Die letzte Definition unterstreicht den amtlichen Charakter, um all jene pamphletartigen Publikationen meist polemischen Inhaltes auszuschließen, die sich mit der Bezeichnung Farbbuch pseudo-offiziellen Glanz versprechen. Vgl. ferner ZALA, „Diplomatie D o c u m e n t s " .
Memo, der Division of Historical Policy Research, beigelegt zum Office Memo, .restricted' danach hinabgestuft zu .unclassified' von Howland H . SARGEANT (Office of the Assistant Secretary of Public Affairs) an Francis H . RUSSELL (Office of Public Affairs), [Washington,] 3. 8. 1949, N A , R G 59, L o t Files, L o t 8 7 D 2 3 6 , Historical Studies Division, Research Memorandums (.slash series'), 1 9 4 6 - 1 9 5 4 , R M - 5 0 / 1 1 , „Certain Publications of D e p a r t m e n t of] S[tate] & other Foreign Offices".
2
Eine gute Übersicht über das Wesen der Farbbücher bietet TOSCANO, Treaties, S. 8 8 103. BAUMGART, Quellenkunde, S. 7 3 - 7 7 , baut darauf auf. Die folgenden Ausführungen stützen sich ebenso auf Toscano. 3
1. Vom Wesen der Farbbücher. 1800-1945
Ausbreitung im Zuge der
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Parlamentarisierung
Die Entstehung der Farbbücher hat ihre Wurzeln in den britischen parlamentarischen Praktiken während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 1624 griff nämlich die britische Regierung erstmals zum Mittel gezielter Publikation diplomatischer Korrespondenzen, um in beiden Parlamentskammern die Oppositionskritik zu widerlegen. Während des 18. Jahrhunderts wurde diese Praktik kaum mehr oder nur bei im Parlament extrem virulenten und kontrovers diskutierten außenpolitischen Angelegenheiten angewandt. Die Regierung griff lieber zur bewährten und überall verbreiteten Praktik, ihre Politik durch offizielle Reporter mittels speziellen Pamphleten vor dem Publikum verteidigen zu lassen.4 Erst die napoleonischen Kriege zwangen die britische Regierung, sich an eine breitere Öffentlichkeit zu wenden. Die militärischen Niederlagen gegen die napoleonischen Truppen und die große, schmerzhafte Kriegslast, welche die britische Bevölkerung in der Folge tragen musste, veranlassten die Regierung, die hinter den Kulissen geführten diplomatischen Verhandlungen in ihrem Sinne apologetisch darzustellen, um zu zeigen, dass eine Verständigung mit dem französischen Diktator unmöglich sei. Diese .Propagandaübung' stand unter der Leitung von Außenminister George Canning, welcher zwischen 1807 und 1809 die Praktik der Auflegung von Blaubüchern in ihrem modernen Sinne konstituierte. U m Missverständnissen vorzubeugen und um Anachronismen zu vermeiden: Diese Praktik spiegelte noch nicht die Zwänge und Informationsbedürfnisse einer parlamentarischen Demokratie des 21. Jahrhunderts wider, sondern entstand während einer nationalen Notlage eines noch nicht auf allgemeinem Wahlrecht aufgebauten politischen Systems. Nichtsdestotrotz werden die Muster der späteren Entwicklung bereits an diesem Beispiel aus dem beginnenden 19. Jahrhundert klar sichtbar. Jedenfalls sah sich die britische Regierung auch nach Napoleons Niederlage veranlasst, weiterhin zum Mittel der Blaubücher zu greifen, sogar in gesteigertem Maße. Während des Wiener Kongresses legte das britische Außenministerium der Öffentlichkeit wiederum Dokumente vor, um ihre kritisierte kontinentale Politik zu rechtfertigen. Die Praktik zementierte sich weitgehend und kulminierte im letzten Kabinett von Henry J. T. Palmerston in den Jahren 1859 bis 1865. Mit der zunehmenden Parlamentarisierung in Europa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden auch anderorts ähnliche politische Rahmenbedingungen wie in Großbritannien. So folgten auch andere europäische Kabinette der britischen Praktik, dem Parlament amtliche Dokumentensammlungen zur Außenpolitik in farbigen Einbänden zu präsentieren. Diese Nachahmung entsprach, wie Baumgart richtig bemerkt, „zunächst noch der allgemeinen Parlamentarisierung". 5 Die Franzosen legten, zumin-
4 5
TOSCANO, Treaties, S. 88. BAUMGART, Quellenkunde,
S. 74.
26
II. Amtliche Akteneditionen
dest seit den Anfängen des zweiten Kaiserreiches, Gelbbücher auf, die Deutschen Weißbücher6, die Italiener Grünbücher, das zaristische Russland Orangebücher, Österreich-Ungarn Rotbücher und Belgien Graubücher. Die Farbenwahl scheint anfänglich arbiträr erfolgt zu sein, doch einmal etabliert, wurde die Praktik gewöhnlich konsistent befolgt.7 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kann als zweite Phase in der Entwicklung der Farbbücher angesehen und als deren Höhepunkt charakterisiert werden. In diesen Jahren florierte das Auflegen von Farbbüchem, und sie spielten eine wichtige politische Rolle. Obschon sie formell nach wie vor dem Parlament vorgelegt wurden, war der eigentlich verfolgte Zweck, eine breitere Öffentlichkeit im Sinne der Regierung zu beeinflussen. Die Auflage der gedruckten Exemplare stieg, und Farbbücher wurden nun häufig auch zum Verkauf angeboten.8 Diese Entwicklung hin zu einer breiter aufgefassten propagandistischen Funktion bestimmte zunehmend den Charakter der Editionen und zementierte eine (noch) selektivere Bestimmung der zu veröffentlichenden Materialien. Nicht genug: In dieser Zeit etablierte sich auch die diplomatische Gepflogenheit internationaler Courtoisie, vor der Publikation von Korrespondenzen die darin involvierten Regierungen um Erlaubnis nachzufragen. Um die Jahrhundertwende begann schrittweise die dritte Phase, diejenige der Regression. Das Auflegen von Farbbüchern ging zurück. Hierfür fügt Toscano mehrere Gründe an: Die Ausweitung des Wahlrechtes habe erstens zu weniger qualifizierten Parlamentariern geführt; zweitens habe trotz einer größeren Partizipation die öffentliche Meinung wegen der ständig wichtiger werdenden sozialen Frage eher auf innenpolitische Angelegenheiten fokussiert und die Außenpolitik in den Hintergrund gedrängt; schließlich habe diese gesellschaftliche Entwicklung das Prinzip begünstigt, außenpolitische Angelegenheiten in die Hände von überparteilichen Bürokraten und Spezialisten zu legen.9 Abgesehen von der ersten Erklärung - zu dieser Zeit waren Farbbücher ohnehin bereits für die Öffentlichkeit bestimmt - können wir den angeführten Argumenten grundsätzlich zustimmen.
Meyers Großes Konversations-Lexikon (Leipzig 6 1905) spricht für Deutschland auch vom „deutschen Graubuch oder Weißbuch, das 1884 (sie) zum erstenmal dem Reichstag mitgeteilt wurde." Die schwankende Bezeichnung scheint sich später endgültig zu Gunsten von .Weißbuch' festgelegt zu haben. 7 Dies die Farben aus dem .Konzert der Mächte'. Die gleichen Farben wurden aber auch von anderen Regierungen benutzt: weiß von Portugal und Griechenland, rot von Spanien und den USA (wobei von letzteren die Farbcharakterisierung ,rot' nicht offiziell verwendet und nicht immer konsistent angewandt wurde, sondern sich einfach aus der roten Farbe der Quellensammlung Foreign Relations of the United States ergab), gelb von China, grün von Rumänien und Mexiko, grau von Japan, orange von den Niederlanden etc. 8 In Großbritannien schon seit 1830. TOSCANO, Treaties, S. 89. 9 TOSCANO, Treaties, S. 90. 6
1. Vom Wesen der Farbbücher. 1800-1945
27
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachte erneut einen vorläufigen, relativen Kulminationspunkt. Danach sanken Auflagen und die Bedeutung von Farbbüchern rapide. Die Publikationen bestanden in der Folge häufig, wie zum Beispiel für die Konferenz von Lausanne, nur noch aus identischen Sammlungen internationaler Vereinbarungen, die jeweils in der eigenen .nationalen Farbe' aufgelegt wurden. 10 Farbbücher wurden nunmehr nur in außerordentlichen Fällen herausgegeben. So veröffentlichten im Herbst 1939, kurz nach den Kriegserklärungen, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und in der Folge eine ganze Reihe von Staaten ihre Farbbücher. Zur quantitativen Veranschaulichung der verschiedenen Phasen seien paradigmatisch folgende Zahlen genannt: Italien legte in der Zeit von 1861 bis 1914 107 Grünbücher auf, 1915-1923 deren 9 und keine mehr bis 1949; Frankreich 1871-1914 107 Gelbbücher und 1914-1939 nur deren 16; Deutschland legte 1870-1913 48 Weißbücher meistens über kolonialpolitische Angelegenheiten auf und das zaristische Russland 1906-1915 bloß 17 Orangebücher. 11 Grafik 1 veranschaulicht beispielhaft für den italienischen Fall die Entwicklung entlang der zweiten und dritten Phase der Farbbuchgeschichte. Farbbücher sind keine wissenschaftlichen Editionen, sondern folgen der Logik tagespolitischer Interessen. Daher rücken die darin enthaltenen Dokumente, obschon sie grundsätzlich als Uberreste gelten sollten, in gefährliche Nähe zu Traditionsquellen. 12 In der Forschung werden Farbbücher als Surrogat in Sachgebieten verwendet, wo (noch) keine umfassenden Aktenserien vorliegen. Der Wert von einzelnen Farbbüchern kann, außer für allgemeingültige quellenkritische Überlegungen, im Allgemeinen nicht angegeben werden. So gilt es hier zu differenzieren zwischen Farbbüchern zu einzelnen kolonialpolitischen Konflikten, die nach eingehender „Autopsie" 13 gebraucht werden können, sowie solchen zum Ausbruch der Weltkriege, die heute eindeutig überholt sind - außer in Fällen, wo es noch keine umfassende Edition gibt, wie zum Beispiel für die belgischen Graubücher zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 14 . TOSCANO, Treaties, S. 91. Zahlenmaterial aus BAUMGART, Quellenkunde, Anm. 4. 10 11
12
BAUMGART, Quellenkunde,
S. 7 4 .
S. 74 und TOSCANO, Treaties, S. 92,
Diesen prägnanten Ausdruck braucht BAUMGART, Quellenkunde, S. 75. 14 Correspondance diplomatique relative à la guerre de 1914 (24 juillet-29 août), s.l. s.d. [Anvers 1914]. Correspondance diplomatique relative à la guerre de 1914 (24 juillet20 août). Réimpression textuelle publiée par la Légation de Belgique a la Haye, La Haye 1914. Correspondance diplomatique relative à la guerre de 1914-1915, hrsg. Royaume de Belgique, Ministère des Affaires Etrangères, 2 Bde., Paris 1915. Einen Überblick über belgische Dokumentationen liefert: Théodore HEYSE, „La Documentation de guerre en Belgique depuis 1919", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 10 (1932), S. 53-81. 13
28
II. Amtliche Akteneditionen
Grafik 1: Anzahl italienischer Grünbücher
1861-1961
(in
Fünfjahresperioden)
Farbbücher werden unmittelbar nach den Ereignissen benützt und von darauffolgenden Akteneditionen rasch überholt. In der Regel hüten sich Historiker nach einer ersten Aufarbeitungsphase, Farbbücher zu benützen, des enormen Aufwandes wegen, den ein systematischer Vergleich mit den Originalen oder den nachträglich publizierten Sammlungen impliziert. Nach der erfolgten Publikation der .wissenschaftlichen' Editionen behalten die Farbbücher wegen ihres speziellen Charakters bloß noch einen historiographischen Wert, indem Auslassungen und Manipulationen die tagespolitischen Interessen sehr offensichtlich verdeutlichen. Quellenkritische
Problemkomplexe der Selektion, und der Echtheit
der
Edition
Drei Problemkomplexe - Selektion, Edition und Echtheit - sollen im Folgenden paradigmatisch die quellenkritischen Grenzen für die Benutzung von Farbbüchern in der historischen Forschung aufzeigen. Bei der Selektion können wir zwischen einer inneren und einer äußeren unterscheiden. Wie bereits bemerkt, hing die sukzessive Verbreitung von Farbbüchern mit einer schrittweisen Parlamentarisierung der europäischen politischen Systeme zusammen. Diese Entwicklung zwang die Regierungen, ihren außenpolitischen Kurs stärker in der Öffentlichkeit zu präsentieren, zu verteidigen und zu legitimieren. Es steht daher außer Zweifel, dass eine Publikation zu solchen Zwecken sicherlich nur diejenigen Dokumente berücksichtigte, die diesem Ziele dienten. Aktenstücke, welche die Argumente der
1. Vom Wesen der Farbbücher. 1800-1945
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Opposition belegt hätten, wurden sorgsam ausgelassen. Das gleiche geschah auch mit Aktenstücken, welche eine falsche Einschätzung der Lage durch die Regierung veranschaulicht, offensichtliche politische Fehler preisgegeben oder Peinlichkeiten aller Art enthüllt hätten. Im Gegensatz dazu wird mit der äußeren Selektion die zunehmend verfolgte diplomatische Gepflogenheit und „Höflichkeitsregel" 1 5 charakterisiert, für die Publikation von Aktenstücken von oder über ausländische Regierungen diese offiziell um ihre Genehmigung nachzufragen. Diese Praktik kannte aber auch Ausnahmen. So wurde vor allem während kriegerischer Auseinandersetzungen beim jeweiligen Gegner von der Unterrichtung abgesehen. Dies lässt paradoxerweise, zumindest in einem Punkt, den Quellenwert von Kriegsfarbbüchern mit Aktenstücken des Feindes gegenüber gewöhnlichen höher erscheinen, denn für die Gegenpartei wäre es ein leichtes Spiel gewesen, auf allfällige Manipulationen der eigenen Akten durch die Rivalen hinzuweisen und somit der gegnerischen Publikation die Glaubwürdigkeit zu entziehen. Die Tragweite dieser Zensurpraktik kann kaum unterschätzt werden. Ein veranschaulichendes Beispiel für die gezielte, selektive Auswahl liefert der italienische Ministerpräsident, Francesco Crispi, in einem Telegramm an die italienische Botschaft in London vom 28. April 1888. In diesem teilte Crispi mit, dass die Situation im Parlament die sofortige Präsentation des Grünbuches über die Lage in Massaua verlange. Damit könne aber der britischen Regierung die Unterbreitung der Druckfahnen, gemäß den Vereinbarungen, die von Crispís Vorgängern eingegangen worden waren und welche er in dieser Angelegenheit auch lieber gewissenhaft beachtet hätte, nicht gewährleistet werden. Nichtsdestoweniger könne man dem Premierminister Marquess of Salisbury versichern, dass dieser Verstoß rein oberflächlicher Natur und ohne Konsequenzen sei: „In fact, we have not hesitated to suppress everything that directly or indirectly, implied the existence of any accord or understanding whatsoever with England or Egypt. We say no more than what has been revealed in the Blue Book: perhaps even less. We chose to err on the side of caution rather than to give Salisbury the slightest cause for dissatisfaction and I prefer to be accused of omissions rather than of indiscretion." 16
Einen zweiten Problemkomplex stellen editorische Praktiken dar. Problematisch sind namentlich Auslassungen, Auszüge ohne Angaben von Auslassungen, Änderungen im Text ohne entsprechende Hinweise, selektive Anführung von Marginalien etc. Erstaunlicherweise neigen Historiker dazu, Auslassungen, vor allem wenn sie entsprechend durch Auslassungszeichen 15 So benannte sie Headlam-Morley, der es als historischer Beirat des Foreign Office ja wissen musste. J. W. H E A D L A M - M O R L E Y , „Einleitung", in: Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges. 1898-1914, hrsg. von G . P. G O O C H und Harold TEMPERLEY [Bd. 1 1 der englischen Originalausgabe British Documents on the Origins of the War. 1898-1914 (in der Folge BDOW), London 1926], Berlin 1926, S. XVII-XXX, hier S. XVIII. 1 6 Abgedruckt in englischer Übersetzung in: T O S C A N O , Treaties, S. 92, Anm. 5.
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markiert werden, weniger zu problematisieren, vermutlich weil sie selbst freilich zu ganz anderen Zwecken - mit Auslassungspunkten arbeiten. Doch können solche Auslassungen im Extremfall genauso entstellende Wirkungen wie regelrechte Fälschungen hervorrufen. Maßnahmen zur Geheimhaltung von Übermittlungskodierungen gelten als weiteres quellenkritisches Problem. Die Herausgeber von Farbbüchern griffen dafür zu verschiedenen Mitteln, wie Paraphrasierung und Tarnung von Telegrammen als andere diplomatische Korrespondenzen. Die Paraphrasierung konnte im Extremfall eine vollständige Umstellung und Umschreibung des Textes bedeuten. Als weitere Schutzmaßnahme für die Geheimhaltung der Kodierung wurden Telegramme als von Kurieren überbrachte, daher offen verfasste Berichte umgeschrieben und als solche getarnt publiziert. Beides kann zu einer Entstellung des Inhaltes führen, und ein Vergleich einiger publizierter paraphrasierter Aktenstücke mit deren Originalen beförderte, wie Toscano notierte, wiederholt kuriose Entstellungen ans Tageslicht. Der letzte der drei großen Problemkomplexe ist jener der Echtheit und Fälschung. Bereits bei den Editionspraktiken und Geheimhaltungsmaßnahmen haben wir textliche Manipulationen angetroffen, die, obschon problematisch, noch nicht die volle Dimension einer Fälschung annehmen. Bezogen auf die Farbbücher meint Baumgart, dass man sie nur selten als Fälschungen betrachten könne. 18 Diese Einschätzung ist aber besonders für die Farbbücher über den Ausbruch beider Weltkriege mit größter Vorsicht zu genießen. Ausgehend von der Annahme eines politisch instrumentalisierten Gebrauchs der Farbbücher sollten wir bei denjenigen, die sich auf kriegerische Auseinandersetzungen beziehen (zumindest für den Abdruck der eigenen Aktenstücke), den höchsten Grad an Entstellung erwarten. Im Folgenden werden wir nur noch auf solche fokussieren. In der Tat ist die Frage berechtigt, ob im Zeitalter totaler Kriege globalen Ausmaßes überhaupt eine .ehrliche' Publikation von Farbbüchern denkbar ist. 19 Wenn das Clausewitz'sche Diktum zutrifft, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, dann sollte erwartet werden, dass unter solchen Voraussetzungen auch bei der historischen Methode andere .Mittel' und bei der Objektivität andere .Maßstäbe' angewandt werden.
TOSCANO, Treaties, S. 93. BAUMGART, Quellenkunde, S. 75. 1 9 Zum totalen Krieg vgl. Roger CHICKERING und Stig FÖRSTER (Hg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914-1918, Cambridge 2000. 17
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Farbbücher zum Ersten Weltkrieg Die Farbbücher zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden von der deutschen Geschichtswissenschaft im Zuge der heftig umkämpften Kriegsschuldfrage in den zwanziger Jahren eingehend durchleuchtet und kritisch, ja zeitweise polemisch und entstellend diskutiert. Bereits 1915 diskutierte Ludwig Bergsträsser in einem Aufsatz in der der Zeitgeschichte sonst kritisch gegenüberstehenden Historischen Zeitschrift die Auflegung der Farbbücher zum Kriegsausbruch. Er konnte aufzeigen, wie das Material dieser „Streitschriften" „sehr lückenhaft und ebenso verdächtig sei" und „dass einzelne Daten gefälscht worden" seien. 20 Ähnliche Verdachtsmomente hegte auch Moriz Ritter 1920 wiederum in der HZ,2i und in der Folge entwickelte sich diese Kritik zu einer großen Sammlung von eifrig nachgewiesenen Schwachstellen in den gegnerischen Publikationen. Im Kampf um die Kriegsschuldfrage wurde diese politisch höchst relevante Beschäftigung mit der Zeitgeschichte für Teile einer deutschen Gelehrtengeneration zur .heiligen' Forschungsaufgabe schlechthin. Einen eklatanten Fall, der zu seiner Zeit als Sensation empfunden wurde, lieferte die Demontage des russischen Orangebuches zum Kriegsausbruch 1914. 22 Die Publikation der russischen Quellen war, wie diejenige der anderen Kriegsmächte, unmittelbar nach Kriegsausbruch erfolgt. 23 Die propagandistische Publikationswelle hatte die deutsche Regierung mit ihrem Weißbuch 2 4 eröffnet, das dem Reichstag bereits am 4. August vorgelegt worden war. Die von Kurt Riezler besorgte Publikation enthielt aber „durch vollständige Unterdrückung der entscheidenden Stücke" 2 5 „nur eine ganz kleine
L u d w i g BERGSTRÄSSER, „ D i e diplomatischen K ä m p f e vor Kriegsausbruch. Eine kritische Studie auf G r u n d der offiziellen Veröffentlichungen aller beteiligten Staaten", in: H Z 114 (1915), S. 489-592, hier S. 493f. 2 1 M o r i z RITTER, „Deutschland und der A u s b r u c h des Weltkrieges", in: HZ 121 (1920), S. 22-92: Die in den Farbbüchern von 1914 dargebotenen Schriftstücke „sind wegen mehrfacher Auslassungen wichtiger Stellen, zu denen noch gelegentlich Fehlgriffe in der Datierung hinzukommen, nicht unverdächtig" (ibid., S. 24f). Er verweist auf Fälschungen in der Herstellung eines ganzen D o k u m e n t e s oder in der Einschiebung einzelner Stellen (ibid., S. 25, A n m . 1). 22 Recueil de Documents diplomatiques. Négociations ayant précédé la guerre. 10/23 Jullet-24 Jullet/6 Août 1914, hrsg. v o m Ministère des Affaires Etrangères, Petrograde 1914. 2 3 Eine detaillierte Chronologie der Auflegung der Farbbücher bietet BERGSTRÄSSER, Diplomatischen Kämpfe, S. 489^192. 24 Vorläufige Denkschrift zum Kriegsausbruch vom 3. August 1914 (Reichstagsdrucksachen, 13. Legislaturperiode, II. Session, Nr. 19). A m 9. A u g u s t wurde sie in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung abgedruckt und später als Buch unter dem Titel Wie Russland Deutschland hinterging und den Europäischen Krieg entfesselte (Berlin 1914) herausgegeben. 1914 erschien sie auch unter dem Titel Deutsches Weißbuch. Aktenstücke zum Kriegsausbruch. Mit nachträglichen Ergänzungen, s.l. s.d. [1914], 2 5 Vgl. dazu das zeitgenössische Gutachten des Staatsrechtlers H e r m a n n KANTORO20
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und einseitige Auswahl" 26 , die darüber hinaus „durch und durch verfälscht" 27 war, und verfehlte somit im Allgemeinen den beabsichtigten Zweck der Schuldabwehr am Ausbruch des Krieges. 28 Daraufhin folgten die Publikationen der Ententemächte. Das dokumentenreiche englische Blaubuch - zuerst überstürzt ohne blauen Einband aufgelegt - folgte unmittelbar zwei Tage nach der Kriegserklärung an Deutschland am 6. August. 29 Tags darauf erschien auch das russische Orangebuch, während sich die Franzosen für die .Edition' ihres Gelbbuches 30 verdächtigerweise 31 bis zum 1. Dezember Zeit ließen. Im November war ein Blaubuch der serbischen Regierung erschienen, und Mitte Februar 1915 folgte das österreichisch-ungarische Rotbuch. 32 Generell lässt sich sagen, dass die Publikationen der Ententemächte kurzfristig eine überzeugendere Wirkung erzielten. Seit der Oktoberrevolution und den bolschewistischen Enthüllungen 33 wurde aber auch bei diesen Editionen eine „massive Tendenz" ersichtlich und eine Vielzahl von „regelrechte[n] Fälschungen" 34 enttarnt, zuerst im zaristischen Orangebuch. 1922 erschien die Publikation des deutschen Diplomaten Freiherr von Romberg Die Fälschungen des russischen Orangebuches.35 Gestützt auf die WICZ, Gutachten zur Kriegsschuldfrage, (1927) aus dem Nachlass hrsg. von Imanuel GEISS, Frankfurt/M. 1967, hier S. 95. 26
27
HEADLAM-MORLEY, „ E i n l e i t u n g " , S. X V I I .
Vgl. KANTOROWICZ, Gutachten, S. 87-95, hier S. 89. Kantorowicz gibt an, dass beinahe drei Viertel der abgedruckten Aktenstücke amtlich verfälscht wurden (ibid., S. 92).
28
29
Vgl. BAUMGART, Quellenkunde,
S. 75 f.
Am 6. August wurde dem Parlament das White Paper, Miscellaneous Nr. 6 (1914) (Command Papers 7467) vorgelegt. Am 21. August und im September folgten Ergänzungen: White Paper, Miscellaneous No. 8 (Command Papers 7444) und White Paper, Miscellaneous No. 10 (Command Papers 7596). Wegen der sehr starken Nachfrage wurden diese Publikationen in der Folge durch einige Parlamentsreden ergänzt und, mit einer Einleitung versehen, in einer populäreren Form als Blaubuch Great Britain and the European Crisis (London 1914) herausgegeben. 1915 folgte der Band Miscellaneous No. 10 (1915). Collected Diplomatic Documents Relating to the Outbreak of the European War. Presented to Both Houses of Parliament by Command of His Majesty. May 1915 (London 1915). Daraufhin wurde die Sammlung in die gängigsten europäischen Sprachen übersetzt und erreichte die unglaubliche Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren. 30 Documents diplomatiques. 1914. La Guerre Européenne, Bd. 1, Pièces relatives aux négociations qui ont précédé les déclarations de guerre de l'Allemagne à la Russie (1er Août 1914) et à la France (3 Août 1914). Déclaration du 4 Septembre 1914, hrsg. vom Ministère des Affaires Etrangères, Paris 1914. 31
32
KANTOROWICZ, Gutachten,
S. 65.
Österreich-ungarisches Rotbuch. Diplomatische Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914. Volksausgabe, Wien 1915. Für eine Kritik über dessen Verfälschung vgl. KANTOROWICZ, Gutachten, S. 81-86. 33 Vgl. unten S. 47 f. 34
35
BAUMGART, Quellenkunde,
S. 76.
Gisbert Freiherr von ROMBERG (Hg.), Die Fälschungen des russischen Orangebuches, Berlin und Leipzig 1922. Daraufhin folgte sofort die englische Ubersetzung The
1. Vom Wesen der Farbbücher. 1800-1945
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bolschewistischen Enthüllungen konnte er aufzeigen, wie die offizielle russische Edition durch verschiedene Manipulationen zu einem Viertel 36 verfälscht und eine große Anzahl von Dokumenten „in einer für Deutschland nachteiligen Weise gekürzt" 3 7 worden war. Geschickt publizierte er die Originale und die veröffentlichte Version in roter und schwarzer Tinte, um die Unterschiede augenblicklich sichtbar zu machen. Die russischen Änderungen betrafen Auslassungen, welche friedenspolitische Bemühungen der Mittelmächte suggeriert oder eine starre Position Russlands gezeigt hätten. Insgesamt wurde somit durch die zaristische Publikation ein Bild konstruiert, welches die Mittelmächte als vollkommen intransigent gegenüber den konzilianten Ententemächten darstellte. 38 Das Beispiel des russischen Orangebuches liefert nicht nur überzeugende Materialien für Aktenfälschungen, sondern belegt auch die selektive Aufnahme von Aktenstücken in Farbbücher. So fehlten bezeichnenderweise im Orangebuch die Telegramme des russischen Botschafters in Paris. Diese aber zeigten nicht nur die französischen Bemühungen, Russland durch verschiedene Versicherungen für ihre geheimen Mobilisationspläne zu gewinnen, sondern auch die französische Einschätzung der Unabdingbarkeit eines Konfliktes auf. Eifrig und genüsslich wies die deutsche Kriegsschuldforschung auf Fälschungen auch im französischen Gelbbuch hin, was die französischen Fachkreise mit Gefühlen von Empörung über die eigene Regierung bis hin zur offenen Apologie aufnahmen. 39 Als bestes Beispiel für den „maquillage du Falsifications of the Russian Orange-Book, London und New York 1923. Die Zentralstelle für die Erforschung der Kriegsursachen gab 1925 ebenfalls heraus: Das Russische Orangebuch von 1914, ergänzt durch die inzwischen bekannt gewordenen neuen Dokumente, Berlin 1925. 3 6 KANTOROWICZ, Gutachten, S. 63. 3 7 Alfred von WEGERER, „Die Unterlagen des Versailler Urteils über die Schuld am Ausbruch des Weltkrieges", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 1087-1106, hier S. 1096. Zu Wegerer vgl. unten Anm. 57. 3 8 GOOCH, Revelations, S. 103 und TOSCANO, Treaties, S. 93. 3 9 Die ganze Bandbreite der verschiedenen französischen Positionen über die Verfälschung des Gelbbuches wurden eindrücklich in drei nacheinanderfolgenden Voten auf einer Sitzung der Société d'Histoire moderne am 8.11. 1936 geliefert. Pierre Renouvin, der Sekretär der herausgebenden Kommission der Documents diplomatiques français und leitender Redaktor der Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale, präsentierte das Ergebnis seiner Editionsarbeit und wies nebenbei auf eine Abänderung eines Dokumentes des Gelbbuches hin (S. 5). Jules Isaac hingegen donnerte dezidiert gegen die „manipulations d'où est sorti le fâcheux Livre Jaune" (S. 24) und verglich verfälschte Stellen des Gelbbuches mit den neu herausgekommenen Bänden der Documents diplomatiques: „Confrontation indispensable à l'historien, mais pénible au bon citoyen. Où irait-on si l'on admettait, même en temps de guerre, la légitimité de pareils procédés?" (S. 26). Eine ganz andere Argumentationsweise verfolgte das von Apologie strotzende Votum von Camille Bloch, dem Direktor der Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale: Die Intention der Bearbeiter des Gelbbuches sei nicht die Lieferung von unwiderlegbaren Informationen für die Historiker gewesen - „ils n'y ont même pas pensé, assurément" (sic!) -, sondern die einer Einwirkung auf die Weltöffentlichkeit durch das Her-
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Livre Jaune"40 und dessen „tripatouillages" 41 kann ein Telegramm von Maurice Paléologue, französischer Botschafter in St. Petersburg, vom 31. Juli 1914 angeführt werden, das so „frei erfunden" 4 2 abgedruckt wurde, dass die russische Mobilmachung als Antwort auf österreichische Maßnahmen und deutsche Vorbereitungen dargestellt werden konnte, während aus dem Originaldokument ersichtlich wurde, dass der Diplomat lediglich die Nachricht der russischen Mobilmachung übermittelt hatte. 4 3 Im Jahre 1926 gab die deutsche Zentralstelle für die Erforschung der Kriegsursachen 4 4 sogar eine eigene Ausgabe des französischen Gelbbuches 4 5 heraus, in welcher „die nachweisbaren Fälschungen im einzelnen ersichtlich" 4 6 wurden. Akribische Vergleiche von Farbbüchern mit später erschienenen Quellensammlungen brachten weitere Belege für die eigenartigen Editionspraktiken, die etwa zwei Drittel der Dokumente betrafen und in vier verschiedenen Grundformen auftauchten. 4 7 Zuerst wurden Datierungen manipuliert: Durch Retouchierung der Chronologie und geschicktes Zusammenmischen von Telegrammen konnten diplomatische Aktionen in ein viel günstigeres Licht gerückt werbeibringen eines Gegenstückes zu den anderen Farbbüchern. Im Klartext meinte er, dass Frankreich sich durch die anderen Farbbücher genötigt gesehen habe, das eigene zu verfälschen (S. 33)! Für die Voten vgl. Pierre RENOUVIN, „La politique française en juillet 1914 d'après les Documents diplomatiques français", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 15 (1937), S. 1-21. Jules ISAAC, „Observations complémentaires sur les Documents français", in: ibid., S. 22-32. Camille BLOCH, „Quelques réflexions", in: ibid., S. 33. 40
ISAAC, „ O b s e r v a t i o n s " , S. 2 4 .
41
Camille BLOCH, „Réflexions", S. 33.
42
WEGERER, „ U n t e r l a g e n " , S. 1 0 9 6 .
WEGERER, „Unterlagen", S. 1095f. (in deutscher Übersetzung). Das Original wurde erst 1936 in den Documents diplomatiques français. 1871-1914 (in der Folge DDF), 3. Serie, Bd. 11, Dok. 432, S. 356, korrekt abgedruckt. Der Inhalt des Telegr. vom französischen Botschafter in St. Petersburg, Paléologue, an Außenminister Viviani war lediglich: „La mobilisation générale de l'armée russe est ordonnée." Dieses Beispiel wird auch angeführt in TOSCANO, Treaties, S. 94 und BAUMGART, Quellenkunde, S. 76. 4 4 Für eine Beschreibung der propagandistischen Tätigkeit der Zentralstelle vgl. unten S. 65-67. 45 Französisches Gelbbucb von 1914. Berichtigter und durch die nachträglich bekanntgewordenen Dokumente ergänzter Wortlaut der ersten amtlichen Veröffentlichung der Französischen Regierung über den Kriegsausbruch, hrsg. von der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen mit einem Vorwort von Alfred von Wegerer, Berlin 1926 (Beiträge zur Schuldfrage, Bd. 5). Vgl. zur apologetischen französischen Rezeption, die aber verschiedene Unzulänglichkeiten der Edition unterstrich: Gaston HLRTZ, „Wegerer (A. von). Das französische Gelbbuch von 1914. Berichtigter und ergänzter Wortlaut der ersten amtlichen Veröffentlichung der französischen Regierung über den Kriegsausbruch", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 4 (1926), S. 350-356. 4 6 WEGERER, „Unterlagen", S. 1095. 4 7 Vgl. dazu Bernadotte E. SCHMITT, „France and the Outbreak of the World War", in: Foreign Affairs 15 (1937), S. 516-536, hier v.a. S. 519-522. Andere Belege für gefälschte Aktenstücke liefern beispielsweise von französischer Seite: RENOUVIN, „Politique française", S. 5; ISAAC, „Observations", S. 24-26. Eine zeitgenössische kritische deutsche Betrachtung bietet: KANTOROWICZ, Gutachten, S. 65-68. 43
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den. Die zweite und verbreitetste Art manipulierender Edition stellte das Auslassen von unerwünschten Passagen dar, wie beispielsweise von solchen, welche die Mittelmächte entlastet hätten. So blieb dem Leser des Gelbbuches von 1914, unter vielem anderen, auch die Bemerkung des französischen Botschafters in London vom 24. Juli vorenthalten, dass „l'Allemagne n'avait pas intérêt à soulever une guerre générale". 48 Ergänzungen stellten eine dritte Form von Manipulation dar. Dadurch wurden beispielsweise unerwünschte Aussagen relativiert oder eigene auf den Krieg gerichtete Maßnahmen als Antworten auf solche der Mittelmächte umgedeutet, wie wir es bereits beim Telegramm von Paléologue gesehen haben. Die schlimmsten Manipulationen wurden schließlich viertens bei der Darstellung der Handlungen der eigenen Regierung erreicht, wenn mehrere Passagen kurzerhand sinnentfremdend umgeschrieben wurden. 49 Es ist somit keineswegs verwunderlich, dass die deutsche Kriegsschuldforschung abschließend urteilte, „dass die französischen Dokumente über den Kriegsausbruch^] wie sie im Französischen Gelbbuch von 1914 veröffentlicht worden sind, nicht den Anspruch erheben können, als wissenschaftliche Dokumente zu gelten." 50 Auch das englische Blaubuch war nicht immun gegen Kritik. 51 Viele der darin abgedruckten Dokumente trugen den Vermerk „paraphrased and parts omitted", 5 2 oder mit anderen Worten, neben der berüchtigten, zur Geheimhaltung der Chiffrierung angewendeten Umschreibung, wurde „ein gewisser Teil der Urkunden [...] um ganze Abschnitte, Sätze oder Satzteile gekürzt." 53 Schon bald nach der Publikation wurde in Deutschland der Vorwurf laut, im Blaubuch fehlten wichtige Aktenstücke und Tatsachen seien „geschickt verschwiegen" 54 worden. In der Tat hatte sich die englische Regierung einen unklugen faux pas erlaubt. Noch während des Druckes entschied der britische Außenminister Sir Edward Grey, ein Dokument aus der Sammlung zu entTelegr. von Paul CAMBON, französischer Botschafter in London, an BIENVENUMARTIN, Ministre des Affaires étrangères par intérim, London 24. 7. [1914], in: DDF. 1871-1914, Serie III, Bd. 11, Dok. 23, S. 22-23, hier S. 23. 4 9 Schmitt (wie oben Anm. 47) bietet detaillierte Beispiele für diese .Editionspraktiken'. 5 0 „Gelbbuch 106", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 262-265, hier S. 262. Ebenfalls polemisch aus deutscher Warte: [August] B[ACH], „Frankreich im Juli 1914. Zur Kritik der französischen Dokumente", in: Berliner Monatshefte 15 (1937), S. 430-435. 51 Für Beispiele der .Editionspraktiken' beim Blaubuch vgl. z.B. KANTOROWICZ, Gutachten, S. 68-80. 5 2 Zum Beispiel Dokument 2. Die britischen Herausgeber der Serie British Documents on the Origins of the War. 1898-1914 begannen aber schon im ersten publizierten Band XI (The Outbreak of War. Foreign Office Documents June 28th-August 4th 1914, London 1926) die bemerkenswerte Praktik - wenn auch nicht in allen Fällen - , Abweichungen zu den im Blaubuch abgedruckten Dokumenten systematisch anzugeben! 5 3 Georges DEMARTIAL, „Die neuen englischen diplomatischen Dokumente über den Kriegsausbruch", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 423-429, hier S. 423. 5 4 Graf Max MONTGELAS, „Die englischen Dokumente zum Kriegsausbruch", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 97-140, hier S. 97. 48
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fernen, zu spät aber, u m die Nummerierung der nachfolgenden D o k u m e n t e n o c h rechtzeitig abändern zu können. So wurde unter der D o k u m e n t n u m mer 28 - zur großen Schadenfreude der deutschen Forscher - lediglich ein „ N i l " gesetzt. 5 5 Angeblich wurde das D o k u m e n t aus Rücksicht auf den russischen Botschafter in L o n d o n aus dem bereits fertig gesetzten Satz gestrichen. Später, 5 6 bei der Bekanntgabe des Inhaltes, beurteilte Major a.D. Alfred von Wegerer 5 7 - der unabhängige' Herausgeber der Zeitschrift der Zentralstelle für die Erforschung der Kriegsursachen, die Kriegsschuldfrage,58 welcher aber in Wirklichkeit im Dienstverhältnis z u m Auswärtigen A m t stand 5 9 - das Aktenstück polemisch als die „denkbar schwerste Belastung" 6 0 für die Grey'sehe Politik im Juli 1914. Das Phänomen der Paraphrasierung und der Auslassungen hinterließ seine Spuren auch in der englischen Publikation. Die deutsche Kriegsschuldforschung errechnete eifrig, dass von den 169 D o k u -
Vgl. BERGSTRASSER, „Diplomatische Kämpfe", S. 495. Das inkriminierte Dokument erschien 1926 in Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprungdes Weltkrieges. 1898-1914[Bd. 11], Dok. 132, S. 158-160, mit einer erklärenden Anmerkung über dessen Auslassung im Blaubuch von 1914. 5 7 Alfred von Wegerer, ein ehemaliger Offizier, war ein „Amateur" (Wolfgang SCHIEDER, „Der Erste Weltkrieg", in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, hrsg. v. C. D. KERMIG, Bd. 6, Freiburg 1972, S. 842-874, hier S. 847), der als Leiter der Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen eine große publizistische Tätigkeit gegen die .Kriegsschuldige' betrieb. Seinem „révisionnisme réactionaire" (Jacques DROZ, Les Causes de la Premiere Guerre mondiale. Essai d'historiographie, Paris 1973, S. 16) verdankte er später die Promotion zum „Dr. h. c.". Um Missverständnissen vorzubeugen: von Wegeres Arbeit war dilettantisch; hier und in der Folge werden seine Kommentare bloß aus historiographischer Sicht verwendet. 5 8 Im ,Quellenkrieg' der deutschen Kriegsschuldfragenforschung spielte die Monatszeitschrift Die Kriegsschuldfrage. Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung (hrsg. von der Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen, ab 1929 erschien sie unter dem .neutraleren' Titel: Berliner Monatshefte. Zeitschrift für Neueste Geschichte) eine eminent wichtige Rolle (siehe dazu unten S. 65-67 und Anm. 186-187). Vgl. z.B. den Artikel „Britische Dokumente über den Ausbruch des Krieges", in: ibid. 5 (1927), S. 2-10. In diesem Beitrag wurden beispielsweise englische Aktenstücke aus dem Blaubuch mit den Originalen verglichen und die Auslassungen rot abgedruckt, um zu veranschaulichen, „in welchem Ausmaß im englischen Blaubuch von 1914 einzelne Dokumente .paraphrasiert' worden sind und Auslassungen stattgefunden haben." (S. 2) Als weiteres Beispiel dieser Art siehe die Mitteilung von August BACH, „Die doppelte Fälschung eines französischen Dokumentes", in: ibid. 5 (1927), S. 1229 f. 55 56
5 9 Vgl. Imanuel GEISS, „Die manipulierte Kriegsschuldfrage. Deutsche Reichspolitik in der Julikrise 1914 und deutsche Kriegsziele im Spiegel des Schuldreferats des Auswärtigen Amtes, 1919-1931", in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 34 (1983), S. 31-60, hier S. 37. Ebenfalls Ernst SCHRAEPLER, „Die Forschung über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Wandel des Geschichtsbildes 1919-1969", in: GWU 23 (1972), S. 321338, hier S. 328. 60 WEGERER, „Unterlagen", S. 1094. Vgl. weitere Beiträge gegen das britische Blaubuch von 1914: „Britische Dokumente über den Ausbruch des Krieges", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 2-10; „Aus den neuen Britischen Dokumenten", in: ibid. 5 (1927), S. 266 f. In diesen Beiträgen wurden Abweichungen zum Blaubuch in roter Tinte abgedruckt.
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menten des Blaubuches etwa deren 100 gekürzt oder .paraphrasiert' worden waren. Von deutscher Warte aus mussten sich die Briten den Vorwurf gefallen lassen, dass „es sich keineswegs um Kürzungen [handelte], die Nebensächliches enthielten und sich etwa auf Raumersparnis zurückführen ließen, sondern die Auslassungen sind fast ausnahmslos solche Stellen, die einer starken Entlastung Deutschlands in der Kriegsschuldfrage hätten dienen müssen." 6 1 Georges Demartial meinte abschließend, nachdem er das Blaubuch mit der neuen Edition der britischen Dokumente hatte vergleichen können, dass die britische Sammlung beweiskräftiger gewesen sei als „die dürftige deutsche Sammlung und anständiger als die russischen und französischen Dokumenten-Veröffentlichungen, denn man findet in ihr keine fabrizierten Urkunden." Dennoch - wie bereits gesehen - könne nicht von einer absoluten Ehrlichkeit gesprochen werden: „Sagen wir sie sei halbehrlich gewesen. Für Diplomaten ist dies schon recht schmeichelhaft." 62 Farbbücher zum Zweiten Weltkrieg Das Bekanntwerden des Ausmaßes der nationalsozialistischen Gräueltaten spätestens mit der militärischen Zerschlagung des .tausendjährigen Reiches' und die Zerstückelung Deutschlands in Besatzungszonen unter alliierter Kontrolle verhinderten - abgesehen von in der Geschichtsforschung marginalisierten Revisionisten - eine vergleichbare Kriegsschulddebatte, wie sie in der Zwischenkriegszeit geführt worden war. Nach einer anfänglichen Phase der Desorientierung und schamhaften Selbstbesinnung legte sich die deutsche Geschichtswissenschaft auf die Verteufelung der Person Hitlers fest, postulierte eine bereinigende Diskontinuitätsthese, blendete ihre eigene Vordenkerrolle während des Nationalsozialismus konsequent aus 63 und fokussierte auf politisch ergiebigere Themen, wie etwa dasjenige des deutschen Widerstandes. 64 Entsprechend gab es keine ernsthaften Versuche, eine Kriegsschuldkontroverse zu initiieren, sondern es wurde von prominentesten Vertretern der Zunft in bester Kontinuitätsmanier die alte Kriegsschuldfrage von 1914 wieder aufgewärmt. 1951 setzte Gerhard Ritter „in aller Stille" im Zuge einer deutsch-französischen Verständigung bei der Ausarbeitung einer vierzig Artikel umfassenden Resolution mit französischen und deutschen HistoWEGERER, „Unterlagen", S. 1092. DEMARTIAL, „Dokumente", S. 423. 6 3 Zur Kontroverse über die Rolle deutscher Historiker während des Nationalsozialismus vgl. Marina CATTARUZZA, „Ordinary men? Gli storici tedeschi durante il nazionalsocialismo", in: Contemporanea 2 (1999), S. 331-340. 6 4 Interessanterweise wurde dies prononciert von Hans Rothfels gefordert, welcher vom .Dritten Reich' in die U S A hatte emigrieren müssen. Klaus HILDEBRAND, Das Dritte Reich, München 4 1991, S. 209: „Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der D D R hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte des deutschen Widerstandes in einem nicht zu übersehenden Maß politische Funktionen erfüllt." 61
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II. Amtliche Akteneditionen
rikern, „mit dem Ziel, geschichtliche Vorurteile auszuräumen die bis heute das gegenseitige Verhältnis der beiden Nationen trübten", einen Punkt durch: „Die D o k u m e n t e erlauben es nicht, im Jahre 1914 irgendeiner Regierung oder einem Volk den bewussten Willen zu einem europäischen Kriege zuzuschreiben." 6 5 Die in der Folge seit den sechziger Jahren heftig geführte Fischer-Kontroverse brachte die Kriegsschuldfrage z u m Ausbruch des E r s ten Weltkrieges in einer methodisch moderneren Dimension erneut hervor. Bezogen auf unsere Fragestellung betreffend des Wertes von Farbbüchern über den Beginn des Zweiten Weltkrieges 6 6 muss festgehalten werden, dass, abgesehen von den offensichtlich gefälschten nationalsozialistischen Propagandaprodukten, ein Vergleich der gedruckten Aktenstücke mit den Originalen, w o dies der Quellenlage wegen n o c h möglich gewesen war, auch bei anderen Farbbüchern „serious distorsions of the t r u t h " 6 7 zu Tage gebracht hat. Bei einer Analyse der deutschen Weißbücher 6 8 wird der Historiker schon durch die unmittelbare optische Wahrnehmung des Reichsadlers über dem Hakenkreuz auf dem Titelblatt quellenkritisch genügend gewarnt. D e n noch muss auch für diesen Fall der Nachweis der Fälschung zuerst erbracht werden. In dem E n d e 1 9 3 9 erschienenen zweiten deutschen Weißbuch, Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, wetterte J o a c h i m von Ribbentrop gegen „die verlogene Propaganda unserer Feinde" und versicherte in bester nationalsozialistischer Demagogie, „durch authentische amtliche Dokumente noch einmal den unwiderleglichen Nachweis zu erbringen, dass es ausschließlich und allein England war, das den Krieg verschuldet und ihn gewollt hat, um Deutschland zu vernichten [... und] dass England von vornherein entschlossen war, mit Gewalt den Weg des Führers zu durchkreuzen, dessen genialer Staatskunst es gelungen war, schlimmste Verbrechen von Versailles ohne jedes Blutvergießen und ohne jeden Eingriff in die Interessen Englands zu beseitigen, und der in der gleichen Weise auch eine friedliche Lösung der deutsch-polnischen Frage erzielt haben würde, wenn England nicht Polen als Werkzeug seines Kriegswillens missbraucht und durch diese verbrecherische Politik Europa in den Krieg gestürzt hätte." 69 6 5 Gerhard RITTER, „Vereinbarung der deutschen und französischen Historiker", in: Die Welt als Geschichte 12 (1952), S. 145-148, hier S. 145 und 148. 6 6 Farbbücher stellen häufig .bibliografische Knacknüsse' dar und sind wegen der geringen Auflagezahl schwer auffindbar. Die Farbbücher zum Zweiten Weltkrieges sind einfacher als die zum Ersten aufzufinden, letztlich auch dank eines geschäftstüchtigen Verlegers im Basler Birkhäuser Verlag, welcher nach Kriegsausbruch die Serie Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch auflegte, in welcher die verschiedenen Farbbücher in deutscher Ubersetzung veröffentlicht wurden. 6 7 TOSCANO, Treaties, S. 94. 68 Weißbuch der Deutschen Regierung. Urkunden zur letzten Phase der deutsch-polnischen Krise, unveränderter Abdruck der vom Auswärtigen Amt der Deutschen Regierung herausgegebenen Originalausgabe der Urkunden zur letzten Phase der deutschpolnischen Krise, Basel s.d. [1939] (Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch. September 1939, Fase. 2). Vgl. weitere bibliografische Angaben zu nationalsozialistischen Weißbücher unten Anm. 89 und 90. 69 Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. 1939 Nr. 2, hrsg. vom Auswärtigen Amt,
1. Vom Wesen der Farbbücher. 1 8 0 0 - 1 9 4 5
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Ribbentrops propagandistischer Interpretation wurde durch die Selektion und Verfälschung der Aktenstücke nachgeholfen. Bezeichnenderweise wurden in Folge der deutsch-sowjetischen Annäherung seit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939 im zweiten deutschen Weißbuch etliche Stellen, welche für eine inopportune Irritation der durch die gemeinsame polnische Teilung zum neuen Nachbarn gewordene Sowjetunion gesorgt hätten, fein säuberlich zensiert. Die synoptische Darstellung in Tabelle 1 soll anhand von Auszügen aus einer Aufzeichnung von einer Unterhaltung Ribbentrops mit dem polnischen Botschafter Jozef Lipski am 21. März 1939 paradigmatisch die Tragweite solcher textueller Eingriffe aufzeigen. Dabei werden sowohl .Ergänzungen' wie .Auslassungen' inopportuner Textstellen sichtbar gemacht. Die deutsche Aufzeichnung dieses Gesprächs wurde Ende 1939 im zweiten deutschen Weißbuch abgedruckt, während die entsprechende Aufzeichnung von Botschafter Lipski im 1940 von der polnischen Exilregierung herausgegebenen Weißbuch veröffentlicht wurde. Zum Vergleich mit Ribbentrops Fassung betrachten wir die in den Akten zur deutschen auswärtigen Politik abgedruckte Version als die authentische. Weitere Belege für nationalsozialistische Fälschungen finden sich beispielsweise in der Aufzeichnung eines anderen Gespräches zwischen Ribbentrop und dem polnischen Botschafter Lipski vom 26. März 1939. Durch Hinzufügen des folgenden frei erfundenen Satzes, welcher in der authentischen Fassung fehlt, wurde die polnische Position als extrem intransigent und drohend, ja fast auf einen Krieg abzielend, dargestellt und somit der Abbruch der deutsch-polnischen Verhandlungen gerechtfertigt: „ H e r r Lipski entgegnete, er habe die unangenehme Pflicht darauf hinzuweisen, dass jegliche weitere Verfolgung dieser deutschen Pläne [Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich und Schaffung einer exterritorialen A u t o - und Eisenbahnverbindung zwischen dem Reich und Ostpreußen, SZ], insbesondere soweit sie einer R ü c k kehr Danzigs z u m Reich beträfen, den Krieg mit Polen bedeute." 7 0
Die in der ursprünglichen und authentischen Fassung enthaltene Passage, die im krassen Widerspruch mit dem obigen verfälschten Zusatz stand: „Botschafter Lipski erwiderte, dass Polen sicherlich auch weiterhin die Fragen studieren und alles tun wolle, u m zu einer Einigung zu gelangen."
wurde kurzerhand in einen neuen Satz umgemünzt:
Berlin 1939. „Geleitwort des Reichsministers des Auswärtigen von Ribbentrop", ohne Seitennummerierung. 70 Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. 1939 Nr. 2, D o k . 208, S. 191 f. Als authentische Fassung betrachten wir die Akten zur deutschen auswärtigen Politik [in der Folge ADAP], 1918-1945, Serie D , Bd. 6, D o k . 101, S. 1 0 1 - 1 0 4 . Den Hinweis auf die Verfälschung der Aufzeichnungen der Ribbentrop-Lipski-Gespräche verdanke ich TOSCANO, Treaties, S. 94 f.
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II. A m t l i c h e A k t e n e d i t i o n e n
Tabelle 1 Zweites Deutsches Weißbuch*
Akten zur deutschen auswärtigen Politik**
. . . nicht gegen Polen gerichtet. Hierbei gab ich [von R i b b e n t r o p , SZ] deutlich zu verstehen, dass m a n die Frage gemeinsam einmal beraten k ö n n e , falls das allgemeine deutsch-polnische Verhältnis eine befriedigende E n t w i c k l u n g nehme; m a n k ö n n e hierbei an eine Teilnahme Polens an der Garantier u n g des slowakischen Staates denken. Leider habe ich... . . . Auf den möglichen Inhalt einer solchen Aussprache [Beck-Hitler, SZ] eingehend, erklärte ich H e r r n Lipski zunächst, er müsse zugeben, dass Deutschland an der Schaffung u n d der heutigen Existenz Polens nicht unbeteiligt sei u n d dass Polen seine heutige territoriale A u s d e h n u n g dem schwersten U n g l ü c k Deutschlands verdanke, n ä m lich der Tatsache, dass Deutschland den Weltkrieg verloren habe.
. . . nicht gegen Polen gerichtet. Hierbei ließ ich leicht durchblicken, dass m a n die Frage vielleicht gemeinsam einmal beraten könne, falls das allgemeine deutsch-polnische Verhältnis eine befriedigende E n t w i c k l u n g nehme. Leider habe ich...
Allgemein werde die K o r r i d o r R e g e l u n g . . . . . . Ich k ö n n t e mir vorstellen, dass m a n in einem solchen Falle die slowakische Frage im erwähnten Sinne zu behandeln in der Lage wäre.
Botschafter Lipski versprach...
. . . Auf den möglichen Inhalt einer solchen A u s sprache eingehend, erklärte ich H e r r n Lipski z u nächst, er müsse zugeben, dass Deutschland an der Schaffung u n d der heutigen Existenz Polens nicht unbeteiligt sei. Wenn nämlich Deutschland in Brest-Litowsk eine andere Politik mit Russland eingeschlagen hätte, d a n n gäbe es heute kein Polen. A u c h w ä h r e n d der Schleicher-Regierung habe die Möglichkeit bestanden, dass sich ein marxistisches Deutschland mit der S o w j e t u n i o n v e r b ü n d e t hätte. A u c h d a n n w ü r d e Polen heute k a u m m e h r existieren. D i e Basis, auf der eine deutsch-polnische Verständigung beruhen könne, w e r d e lediglich d u r c h die deutschen u n d polnischen Nationalisten gegeben. Polen müsse sich darüber klar sein, dass es keinen Mittelweg einschlagen könne. E n t w e d e r Polen bleibe als ein nationaler Staat bestehen, der auf ein vernünftiges Verhältnis zu Deutschland u n d seinem F ü h r e r hinarbeite, o d e r aber eines Tages w e r d e eine marxistische polnische Regierung da sein, die alsd a n n v o m bolschewistischen Russland absorbiert w e r d e n w ü r d e . Wir w ü n s c h t e n aufrichtigst, dass Polen eine starke nationale Regierung behielte, so wie sie die O b e r s t e n - G r u p p e des Marshalls Pilsudski darstelle. D i e nächste Chance, zu einer Verständigung mit Polen zu k o m m e n , liege bei dieser G r u p p e . D i e heutige geographische Lage verdanke Polen d e m schwersten Unglücksfall, nämlich der Tatsache, dass Deutschland den Weltkrieg verloren habe. Auf dieser Tatsache b e r u h e auch die geografische, f ü r Polen günstige Lösung. Allgemein w e r d e die Korridor-Regelung . . . . . . Ich k ö n n t e mir vorstellen, dass m a n in einem solchen Falle die slowakische Frage z u r allgemeinen Zufriedenheit zu behandeln in der Lage wäre. Botschafter Lipski wusste mir hierauf wenig zu erwidern. Er sprach aber nochmals seine Besorgnisse wegen der deutschen Schutzerklärung f ü r die Slowakei aus. Ich erklärte Botschafter Lipski nochmals, dass D a n z i g f r ü h e r o d e r später d o c h einmal z u m Reich z u r ü c k k e h r e n werde. Eine gemeinsame deutsch-polnische Politik werde auch in Z u k u n f t reiche F r ü c h t e tragen k ö n n e n . Die Behandlung, die wir der ukrainischen Frage hätten zuteil w e r d e n lassen, zeige, wie loyal sich Deutschland verhalte. A u s der Enttäuschung, die bei den U k r a i n e r n z u m A u s d r u c k käme, k ö n n e er sehen, wie schnurgerade w i r unsere Politik f ü h r t e n . Wie ich seinerzeit in Warschau Außenminister Beck versichert hätte, seien w i r bereit, die ukrainische Frage in rein polnischem Sinne aufzufassen. Botschafter Lipski versprach...
* Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. 1939 Nr. 2, Nr. 203, S. 187-189. ** Akten zur deutschen auswärtigen Politik. 1918-1945, Serie D, Bd. 6, Dok. 61, S. 58-60.
1. Vom Wesen der Farbbücher. 1800-1945
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„Botschafter Lipski antwortete hierauf ausweichend, indem er sich erneut auf das von ihm übergebene Memorandum bezog."71
Ribbentrops Marginalie auf dem Original des polnischen Memorandums ,,F[ührer] nicht die Ebene, auf der wir verhandeln können" 72 zeigt deutlich genug die tatsächliche deutsche Position und deren Absichten. Das beigelegte polnische Memorandum wurde erwartungsgemäß korrekt im Weißbuch abgedruckt, weil in diesem Falle die Entlarvung und der Nachweis der Fälschung von der polnischen Regierung sehr einfach hätten erbracht werden können. Dies zeigt, wie raffiniert die Fälschung angegangen wurde. Durch Weglassen von unerwünschten Passagen aus dem Original und Hinzufügen von relativ kurzen textuellen Ergänzungen konnte die Position Polens in einem für Deutschland günstigen Licht dargestellt werden. Weil das Gespräch tatsächlich stattgefunden hatte und der Gesprächsverlauf nach Ribbentrops Aufzeichnung in groben Zügen korrekt wiedergegeben worden war, war es für den Zeitgenossen, welcher keine Einsicht in die Originale hatte, äußerst schwierig, die Fälschung nachzuweisen, wie dies sonst im Falle grober Fälschungen bereits aufgrund zugänglicher Informationen und einer Quellenkritik der äußeren Merkmale möglich ist, wie zum Beispiel bei anderweitigem Aufenthalt des Verfassers als gemäß den Absenderangaben auf dem fraglichen Dokument. 73 Wie wir schon für die Farbbücher über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gesehen haben, waren Auslassungen, Änderungen und euphemistisch bezeichnete Paraphrasierungen keineswegs nur eine deutsche Besonderheit. Beispielsweise wurden auch für das 1940 von der polnischen Exilregierung herausgegebene Weißbuch 74 ernsthafte Auslassungen nachgewiesen. 75 Systematische Vergleiche der abgedruckten Aktenstücke im französischen Gelb-
Teile dieser neuen Formulierung wurden aus sonst ausgelassenen Paragrafen entnommen. 72 ADAP. 1918-1945, Serie D, Bd. 6, Dok. 101, S. 104. 73 Ein solches Beispiel einer „grobefn] und gemeine[n]" Fälschung liefert der so genannte Sinowjew-Brief, welcher am 25. 10. 1924, fünf Tage vor den festgesetzten Neuwahlen in Großbritannien, in der Tageszeitung Daily Mail erschien und zum Klassenkampf aufrief. Der ausgelöste politische Schock kurz vor der Wahl half mit, die schon angeschlagene Labor Party von 193 auf 151 Parlamentsmandate zurückzusetzen. Was den Brief betrifft, so konnte Grigori Sinowjew nachweisen, dass er an besagtem Tag gar nicht in Moskau gewesen war, wie dies in den Absenderangaben der Fälschung angegeben wurde. Vgl. dazu Michael KADEREIT, „Die ,Red Letter'-Affäre und der Meisterspion", in: Karl CORINO (Hg.), Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, Nördlingen 1988, S. 46-55, Zitat S. 48. Ebenfalls Gill BENNETT, History Notes. ,A most extraordinary and mysterious business': The Zinoviev Letter of 1924, London 1999. 74 Les relations polono-allemandes et polono-soviétiques au cours de la période 19331939. Recueil de documents o f f i c i e l s , hrsg. von der République de Pologne, Ministère des Affaires Etrangères, Paris 1940. 7 5 TOSCANO, Treaties, S. 9 5 . 71
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II. Amtliche Akteneditionen
buch, 7 6 im britischen Blaubuch, 7 7 im finnischen blauweißen Buch 7 8 und in anderen Farbbüchern 7 9 mit den Originalen könnten weitere interessante Belege für die Praktik von Auslassungen unerwünschter Passagen liefern. 80 Die schwedischen und norwegischen Weißbücher 8 1 stellen für unsere Betrachtung eine besondere Gattung 8 2 dar, da sie erst nach dem Kriege, ab Februar 1947, veröffentlicht wurden. Durch die zeitliche Verzögerung stanMinistère des Affaires Etrangères, Le livre jaune français. Documents diplomatiques 1938-1939. Pièces relatives aux événements et aux négociations qui ont précédé l'ouverture des hostilités entre l'Allemagne d'une part, la Pologne, la Grande-Bretagne et la France d'autre part, Paris 1939. 77 Blaubuch der Britischen Regierung über die deutsch-polnischen Beziehungen und den Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Großbritannien und Deutschland am 3. September 1939, von der Britischen Regierung autorisierte ungekürzte und unveränderte Ubersetzung der englischen Originalausgabe der Documents, Miscellaneous, No. 9, 1939, Basel 1939 (Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch. September 1939, Fase. 1). 78 L'évolution des relations finno-soviétiques dans le courant de l'Automne 1939 à la lumière des documents officiels, hrsg. vom Ministère des Affaires Etrangères de Finlande, Helsinki 1940. Deutsche Ubersetzung: Blauweiß-Buch der Finnischen Regierung. Dokumente über die Entwicklung des finnisch-russischen Konflikts und den Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Finnland und der Sowjet-Union am 20. November 1939, von der Finnischen Regierung autorisierte, ungekürzte und unveränderte Ubersetzung der finnischen Originalausgabe des Blauweiß-Buches, Basel 1940 (Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch. September 1939, Fase. 6). 7 9 Siehe weitere Farbbücher: das belgische Graubuch The Official Account of What Happened. 1939-1940, hrsg. vom Belgian Ministry of Foreign Affairs, London 1941; das griechische Weißbuch The Greek White Book. Diplomatic Documents Relating to Italy's Aggression against Greece, hrsg. vom Greek Ministry for Foreign Affairs, London 1942. - Das faschistische Italien legte nach dem Kriegsausbruch 1939 keine Grünbücher auf, obschon der vom geschäftstüchtigen Birkhäuser Verlag in Basel 1940 in seiner Farbbuchreihe Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch. September 1939 aufgenommene Band den Anschein eines Farbbuches erwecken sollte: Die Stellung Italiens zum internationalen Konflikt. Rede des Grafen Galeazzo Ciano, Minister für Auswärtige Angelegenheiten, 16. Dezember 1939 - XVIII. mit Dokumenten im Anhang, autorisierte Ubersetzung der im Verlag Istituto per gli Studi di Politica Internazionale, Milano, erschienenen Originalausgabe L'Italia di fronte al conflitto, ohne die im Anhang enthaltenen Kommentare der italienischen Presse, Basel 1940 (Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch. September 1939, Fase. 7). 76
8 0 Hier wird auf eine Weiterführung solcher Nachweise, welche keine weiteren Erkenntnisse phänomenologischer Art erbringen würden, verzichtet. Wie für die Farbbücher für den Ersten Weltkrieg gilt auch hier die Faustregel, dass Farbbücher nach Erscheinen wissenschaftlicher Akteneditionen überholt sind. 81 Für genaue bibliografische Angaben siehe TOSCANO, Treaties, S. 316 (Anm. 140), S. 318-320 (Anm. 142-144). 8 2 Um Missverständnissen vorzubeugen: ein Beispiel für eine verspätete Auflage eines Farbbuches gab es schon 1920-1921, als in Bulgarien die Stambulinski Regierung in Nachahmung der revolutionären Regierungen Deutschlands und Österreichs ein Orangebuch über die bulgarische Kriegsintervention herausgab, um die Fehler der Kriegspolitik ihrer innenpolitischen Gegner zu unterstreichen. Für bibliografische Angaben und Nachweise partieller Ubersetzungen in Deutsch und Französisch siehe TOS-
CANO, Treaties, S. 96, Anm. 15.
1. Vom Wesen der Farbbücher. 1800-1945
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den sie einer völlig veränderten geopolitischen Lage gegenüber. Dies gab den Herausgebern zwar eine freiere Hand bei der Selektion der Dokumente als es für die Farbbücher anderer Regierungen aus der Kriegszeit der Fall gewesen war, verlangte aber gleichzeitig die Anwendung von strengeren Objektivitätskriterien bei der Editionsarbeit. Dieser Hintergrund veranlasste Toscano, die skandinavischen Publikationen zwar technisch als Farbbücher zu bezeichnen, jedoch gleichwohl einzuräumen, dass sie den meisten Eigenschaften von wissenschaftlichen Akteneditionen genügten. Trotz der relativ günstigen Atmosphäre liefern folgende historiographische Überlegungen dennoch gewisse Korrekturen. Zum einen verdankten diese Farbbücher ihre Entstehung nämlich einer politischen Kontroverse, die entstand, als die schwedische Kriegspolitik nach Kriegsende arg unter Beschuss kam, weil viele Regierungsentscheide, die unter starkem deutschem Druck gefällt worden waren, kaum mit den Verpflichtungen eines Neutralen in Einklang zu bringen waren. Daher sind gewisse apologetische Tendenzen a priori nicht auszuschließen. Zum anderen wurde die Edition der schwedischen und norwegischen Weißbücher einem gemeinsam vereinbarten Plan unterstellt. Bei der daraus folgenden engen editorischen Zusammenarbeit wurde die Publikation von Dokumenten vermieden, die in einem dieser Staaten zu negativen Reaktionen Anlass gegeben hätten. Diese sonst in der Geschichte beispiellose Arbeitsmethode kann als Höhepunkt der im 19. Jahrhundert beginnenden diplomatischen Gepflogenheit der Nachfrage um Publikationserlaubnis angesehen werden. Diese Praktik hat - wie Toscano im Widerspruch zu seiner obigen positiven Einschätzung selbst zugibt - „undoubtedly resulted in the suppression of certain data whose nature is impossible to determine." 8 3 Eine besondere Gattung stellen schließlich Farbbücher aus vom Feind erbeuteten Archiven dar. Das Phänomen der Archivplünderung im Kriege lässt sich in der Geschichte weit zurückverfolgen und erreichte mit Napoleon die höchste Form seiner politisch-symbolischen Bedeutung. Während Bonaparte .einzig' davon träumte, die ergatterten Archive in einem Palast entlang der Seine als machtpolitisches Symbol zu exponieren, schritt die deutsche Führung ab 1914 zum instrumentalen Gebrauch der Archive als Waffe der Propaganda und veröffentlichte erbeutete Aktenstücke aus dem besetzten Belgien 8 4 . Nach dem Friedensvertrag griff man als Instrument der Kriegsschuldforschung erneut auf diese Dokumente zurück. Diesmal nicht, um eine belgische Schuld zu beweisen und die deutsche Besetzung Belgiens zu legitimieren, sondern um Deutschland von der Kriegsschuld zu entlasten. Die Edition wurde von Bernhard Schwertfeger in einer Form besorgt, welche einen wissenschaftlichen Anschein erwecken sollte, die aber viele Merkmale
TOSCANO, Treaties, S. 98 und 316. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung veröffentlichte im Sommer 1915 in sieben Reihen die „Belgischen Aktenstücke 1905-1914", welche später in Buchform erschienen. 83
84
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II. Amtliche Akteneditionen
eines Farbbuches enthielt. Entsprechend distanzierte sich der Herausgeber v o n den früheren propagandistischen, „auf Erweisung einer belgischen Schuld abzielenden" deutschen Veröffentlichungen der belgischen D o k u mente und gelobte: „Das belgische Material wird objektiv und ohne den leisesten Versuch einer Färbung zu Deutschlands Gunsten vorgelegt; [ . . . ] sachliche Nüchternheit [hat] für Herausgeber wie Bearbeiter das oberste Gesetz gebildet." 85 Bezeichnenderweise erschienen aber, nebst einer zu lang geratenen Einleitung z u m Dokumentenband, 8 6 zwei ausführliche Kommentarbände, 8 7 w e l che die Lektüre der D o k u m e n t e im .richtigen' Licht einleiten sollten. 8 8 Die Praktik, feindliche D o k u m e n t e z u m eigenen Vorteil zu veröffentlichen, w u r d e v o n der Propagandamaschine des nationalsozialistischen Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges zur Perfektion gesteigert. D u r c h die anfänglichen militärischen Erfolge des Blitzkrieges gelangten U n mengen v o n Archivalien in den besetzten Ländern unter deutsche Kontrolle. Im Dritten Weißbuch stand in der Vorbemerkung: „Nach der Besetzung von Warschau sind wichtige Teile der Archive des früheren Polnischen Außenministeriums in deutsche Hand gefallen. Das Auswärtige Amt hat mit der Durchsicht der umfangreichen Aktenstücke begonnen und wird sie, soweit sie für die Vorgeschichte des Krieges von Bedeutung oder sonst von allgemeinem Interesse sind, fortlaufend veröffentlichen. Die erste Folge dieser Dokumente wird in Faksimiledruck mit deutscher Übersetzung hiermit der Öffentlichkeit übergeben. Die Dokumente sprechen für sich selbst und bedürfen keines Kommentars." 89
85 Bernhard SCHWERTFEGER, Der Feblspruch von Versailles. Deutschlands Freispmch aus belgischen Dokumenten. 1871-1914, Berlin 1921, S. XI. und IX. So schrieb Schwertfeger: „Die von mir herausgegebenen Veröffentlichungen ,Zur europäischen Politik' [ . . . ] stehen in keinem - wie auch immer gearteten - Zusammenhange zu den 1914 erfolgten, auf Erweisung einer belgischen Schuld abzielenden, deutschen Publikation aus belgischen Archiven." 86 Die .erklärende' Einleitung erstreckt sich über 105 Seiten des 400-seitigen Bandes. 8 7 Bernhard SCHWERTFEGER, Die Belgischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges. 1885-1914. Vollständige Ausgabe der vom Deutschen Auswärtigen Amt herausgegebenen Diplomatischen Urkunden aus den Belgischen Staatsarchiven. Erster Kommentarband: Der Fehlspruch von Versailles. Deutschlands Vorkriegspolitik dargestellt auf Grund der belgischen Gesandtenberichte; Zweiter Kommentarband: Der geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralität. Dargestellt auf Grund deutscher und belgischer amtlicher Akten, Berlin 19252 (Amtliche Aktenstücke zur Geschichte der Europäischen Politik 1885-1914). 88 Vgl. dazu Bernhard SCHWERTFEGER, „Belgische Dokumente, belgische Neutralität, deutsche und französische Aktenpublikation. Persönliche Erinnerungen", in: Berliner Monatshefte 15 (1937), S. 234-247. 89 Drittes Weißbuch der Deutschen Regierung, Polnische Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Erste Folge, hrsg. vom Auswärtigen Amt der Deutschen Regierung, unveränderter Abdruck der vom Auswärtigen Amt der Deutschen Regierung herausgegebenen Originalausgabe, Basel 1940 (Dokumente und Urkunden zum Kriegsausbruch. September 1939, Fase. 10), S. V.
1. V o m Wesen der Farbbücher. 1 8 0 0 - 1 9 4 5
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Auch weitere Weißbücher wurden aus erbeuteten Beständen zusammengesetzt. 90 Die bewährte Strategie dieser Farbbücher war der Faksimiledruck. Dadurch wurde versucht, die Authentizität der Aktenstücke zu beweisen und Fälschungsvorwürfe präventiv im Keime zu ersticken. Es ist aber klar, dass auch im Faksimile Auslassungen, Textänderungen und Fälschungen nicht auszuschließen sind. Ein amerikanischer nachrichtendienstlicher Bericht vom 6. Mai 1945 belegt diese Vermutung. Als in der zweiten Hälfte des Aprils 1945 eine spezielle Gruppe des amerikanischen G-2, des militärischen Nachrichtendienstes, gezielt nach dem Verbleib der Akten des Auswärtigen Amts suchte, 91 fand sie im Schloss Ebersdorf in Thüringen - zu diesem Zeitpunkt noch in der Reichweite der sich zurückziehenden deutschen Artillerie - viele Akten vor allem französischer, aber auch niederländischer, griechischer, norwegischer und polnischer Provenienz. Besonders interessant ist, dass die Amerikaner im Schloss nebst den Archivlokalitäten auch technische Laboratorien und Einrichtungen zur Fälschung von Dokumenten vorfanden. Die geflüchteten deutschen Beamten waren offensichtlich an der Bearbeitung eines umfangreichen Dossiers gewesen, welches die deutsche Politik im Eisass, in Lothringen und in der Tschechoslowakei hätte legitimieren sollen. Ein weiteres dickes Dossier war in Vorbereitung zur Beweisführung, dass Frankreich und Großbritannien den Balkan besetzt hätten, wenn dies nicht präventiv durch Deutschland geschehen wäre. Nebst einer Abhandlung über einen neuen Staat in den Niederlanden unter gemeinsamem deutschem und britischem Protektorat wurde schließlich noch an einem Dokument gebastelt, welches hätte beweisen sol90
Dokumente zur englisch-französischen Politik der Kriegsausweitung, Hrsg. v o m Auswärtigen A m t , Berlin 1 9 4 0 (Auswärtiges A m t , 1940, Nr. 4). Sie w u r d e n aus A k t e n zusammengetragen, welche den deutschen Truppen bei ihrer A k t i o n in N o r w e g e n in die Hände gefallen waren. Darin befanden sich englische militärische Befehle v o n gefangen genommenen Einheiten und in O s l o gefundene D o k u m e n t e aus dem norwegischen Außenministerium. - Weitere Dokumente zur Kriegsausweitungspolitik der Westmächte. Die Generalstabsbesprechungen Englands und Frankreichs mit Belgien und den Niederlanden, hrsg. v o m Auswärtigen A m t , Berlin 1 9 4 0 (Auswärtiges A m t , 1940, Nr. 5). Diese Dokumentensammlung enthält militärische A k t e n , Karten und Materialien, welche die Wehrmacht in Frankreich fand. - Die Geheimakten des französischen Generalstabes, hrsg. v o m Auswärtigen A m t (Deutscher Verlag), Berlin 1941 (Auswärtiges A m t , 1939/41, Nr. 6). Idem; der Band erschien 1941 ebenfalls in einer englischen, französischen und italienischen Edition. - Dokumente zum Konflikt mit Jugoslawien und Griechenland, hrsg. v o m Auswärtigen A m t (Deutscher Verlag), Berlin 1941 (Auswärtiges A m t , 1939/41, Nr. 7). D e r Band setzt sich zusammen aus deutschen Aktenstücken und Materialien sowie aus diplomatischen und militärischen A k t e n der französischen Vertretungen in Belgrad und Athen, welche die Deutschen in Frankreich fanden. - Eine weitere Serie aus erbeuteten A k t e n w u r d e in der Reihe Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung veröffentlicht. Fritz Berber trug in einem Band dieser Serie A k t e n aus den A r c h i v e n der tschechoslowakischen Regierung zusammen: Europäische Politik 1933-1938 im Spiegel der Prager Akten, Essen 1941 (Verlagsanstalt). 91
Vgl. Kapitel „ A k t e n im Krieg und während der Besatzung, 1 9 4 3 - 1 9 4 6 " , S. 1 4 4 - 1 9 9 .
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II. Amtliche Akteneditionen
len, dass der Angriff gegen die Sowjetunion ein Defensivkrieg gewesen war. Im Bericht wurde mit Genugtuung festgehalten: „The examination of these documents proved to my satisfaction that there were flagrant instances of falsification, such as superimposed dates on documents, replaced letterheads and perhaps complete forgeries. For instance, the laboratory had a complete set of the letterhead paper and envelopes of the Foreign Offices of Europe. It had, moreover, typewriters taken f r o m the French Foreign Office (and so labelled), the French General Staff and several other Foreign Offices, also the British Consulates in N o r w a y and Crete." 9 2
Erste
Zwischenbilanz
Die historiographischen Erläuterungen in diesem Kapitel haben für unsere Fragestellung den Nachweis der politischen Funktion von Farbbüchern und deren tagespolitisch bedingte Ausrichtung ausreichend deutlich erbracht. Zusammenfassend können wir folgende vier Punkte festhalten: Erstens: Farbbücher gehören zu den innen- und außenpolitischen Instrumenten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und sie hatten ihren Höhepunkt in der Zeit des Hochimperialismus. Durch die beiden Weltkriege erlebten sie eine kurzweilige Renaissance, was aber ihren Niedergang nicht aufzuhalten vermochte. Zweitens: Farbbücher wurden instrumenteil für eine klar definierte politische Funktion konzipiert und tagespolitisch bedingten Motivationen und Zwängen unterstellt. Ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als sie als Propagandainstrument an eine breitere Öffentlichkeit adressiert wurden, war ihr Niedergang bereits vorgezeichnet. Drittens: Quellenkritisch ergeben sich für die Benutzung von Farbbüchern die sehr heiklen Problemfelder der inneren und äußeren Selektion, der Edition und der Echtheit. Viertens: Farbbücher wurden nicht von Historikern nach den Postulaten historischer Objektivität und Akribie ediert, sondern von Beamten nach der Logik des politisch Opportunen zusammengestellt, bereinigt und zensiert. Sie stellen daher keine Akteneditionen im wissenschaftlichen Sinne dar und werden dementsprechend in der Forschung einzig als Surrogat verwendet. Für das weitere Vorgehen wird die Fragestellung insofern eingeschränkt, als das Augenmerk auf wissenschaftliche Akteneditionen gerichtet wird. Von Interesse werden aber noch jene Fälle sein, in welchen sich die Publikation von Farbbüchern und wissenschaftlichen Aktenserien gefährlich annähern oder gar überschneiden. Die historische Entwicklung, welche schließlich zur Konzeption von wissenschaftlichen Akteneditionen führte, bringt uns aber „Report on Intelligence Investigation in the Weimar, Leipzig, Kassel-Brunswick and Bremen Areas of Germany, April 14 to May 5, 1945" ,secret' von Robert PELL an Botschafter Robert MURPHY [Ζ. Z. in Paris], s.l., 6. 5 . 1 9 4 5 , N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 6759, 862.414/5-1445, S. 4 und 7: „they were piecing together a document". 92
2. D e r europäische Krieg der D o k u m e n t e . 1 9 1 7 - 1 9 3 9
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zunächst zurück in die Zwischenkriegszeit zur kontroversen Auseinandersetzung um die Frage des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges.
2. Der europäische Krieg der Dokumente 1917-1939 Der Erste Weltkrieg fegte drei europäische Kaiserdynastien von ihren Thronen und verbannte deren letzte gekrönte Häupter auf die Schattenseite der Historie. Der Untergang der Monarchie im Feuerwerk der Revolution setzte endgültig eine Zäsur in der Geschichte des russischen, des deutschen und des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches. Der tiefgreifende Systemwechsel und der radikale Bruch mit der geschichtlichen Kontinuität weckten in diesen Ländern nicht nur das Bedürfnis nach einer moralischen Abrechnung mit den alten Regimes, sondern boten zugleich die einmalige Opportunität, die Siegel der Archive zu brechen und in deren entlegendsten Mäandern zu stöbern, um die bestgehüteten Geheimnisse der niedergegangenen kaiserlichen Ära zu enthüllen. Es versteht sich von selbst, dass weder die Muße zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit noch die Liebe zum historischen Detail, sondern einzig immediate politische Interessen und Legitimationsdefizite die neuen Machthaber dazu trieben, die skrupellose imperialistische Machtpolitik der vorangegangenen Dynastien wirksam zu demaskieren. Während sie noch die alten Archive plünderten, hatten sie selbstverständlich bereits für ihre eigenen neuen Stahlkammern gesorgt. Revolutionäre
Enthüllungen
In der Kunst der Enthüllung übten sich bezeichnenderweise als Erste die Bolschewisten. Schon zwei Tage nach dem Beginn der Oktoberrevolution verkündete Lenin vor dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress im Dekret über den Frieden, dass die Regierung „unverzüglich darangehen [wird], alle Geheimverträge zu veröffentlichen". 93 Daraufhin lüfteten die Revolutionäre die Schleier über den zaristischen Archiven und begannen unter persönlicher Leitung von Lenin und Trotzki 9 4 eine Serie von einschlägigen dokumentari-
Dekret über den Frieden, 26. 10. [8. 11.] 1917, in: W. J. LENIN, „Rede über den Frieden v o r d e m Zweiten Gesamtrussischen Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, Sowjetkongress", in: ders., Werke, B d . 2 6 : September 1917-Februar 1918, Berlin 1961, S. 2 3 9 - 2 4 3 , hier S. 2 4 1 . I m Schlusswort der Rede betonte Lenin nochmals: „Genossen, es gibt n o c h eine Frage, der Sie größte Aufmerksamkeit zuwenden müssen. D i e Geheimverträge müssen veröffentlicht w e r d e n . " Ibid., S. 2 4 4 - 2 4 7 , hier S. 2 4 5 . 93
Petr. I. PRONICEV, „Publications of Diplomatie D o c u m e n t s by the Russian Ministry of Foreign Affairs", in: Diplomatic Sources and International Crises. Proceedings of the 94
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II. Amtliche Akteneditionen
sehen Belegen in der Presse zu platzieren, mit dem deklarierten Ziel, die kapitalistisch imperialistische Diplomatie zu diskreditieren, welche die Welt in den größten aller Kriege gestürzt habe. So erfuhr eine erstaunte "Weltöffentlichkeit von der Existenz verschiedenster geheimer hegemonialer Vereinbarungen der Großmächte. Darunter befanden sich solche mit höchster politischer Brisanz und Tragweite, wie der so genannte Londoner Geheimvertrag vom 26. April 1915, in welchem die Ententemächte Italien im Falle seines Kriegseintritts auf ihrer Seite umfangreiche territoriale Zugeständnisse verbrieften; die Abmachungen von 1915, mit welchen Großbritannien und Frankreich Russland den künftigen Besitz Konstantinopels und der Meerengen zusicherten; das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, in welchem Frankreich und Großbritannien die Aufteilung des asiatischen Teiles des osmanischen Reiches diskret unter sich vereinbarten: ein Arrangement, das im krassen Gegensatz zu den britischen Versprechungen gegenüber den Juden und den Arabern stand. Diese Beispiele illustrieren anschaulich das Sprengpotenzial dieser Enthüllungen. Den bolschewistischen Intentionen gemäß, den Revolutionsfunken in die Welt hinauszutragen, folgten den Berichten in der russischen Presse Ubersetzungen in den geläufigsten Sprachen. Im April 1918 gab Seymour Cocks für die Union of democratic control in London eine englische Ubersetzung wichtiger Geheimverträge der Großmächte heraus, 9 5 und 1919 folgte eine französische Kompilation von Emile Laloy. 9 6 A b 1922 beendete die sowjetische Führung allmählich die bislang wahllose Publikationspraktik und schritt zu einer Phase mit zielgerichteter Strategie, indem sie monografische Dokumentationsbände in Buchform edierte, welche in Frankreich, Großbritannien, Italien, in den U S A und besonders in Deutschland direkt vor Ort in der jeweiligen Sprache gedruckt und aufgelegt wurden. Als Beispiel dieser Propaganda-Aktionen in situ sei die Dokumentensammlung L'intervento dell'Italia nei documenti segreti dell'Intesa?7 angeführt, welche das offensichtliche Ziel verfolgte, die ohnehin seit dem Friedensvertrag nationalistisch erhitzten Gemüter Italiens weiter zu erregen. 98
4th Conference of Editors of Diplomatie Documents, hrsg. von Leopoldo NuTI, R o m 1998, S. 23-27, hier S. 24. 9 5 Seymour COCKS (Hg.), The Secret Treaties and Understandings. Text of the available documents with introductory comments and explanatory notes, London 1918. 9 6 Emile LALOY (Hg.), Les documents secrets des archives du Ministère des Affaires Etrangères de Russie, Paris 1919. Ein weiteres Beispiel stellte die von René Marchand zusammengestellte und aus dem Russischen übersetzte Dokumentensammlung dar: Un livre noir. Diplomatie d'avant-guerre d'après les documents des archives russes, 3 Bd., Paris s.d. [1922-1934], 97 L'intervento dell'Italia nei documenti segreti dell'Intesa, Roma 1923. 9 8 Die sowjetische Veröffentlichungspolitik kann in drei Phasen eingeteilt werden. In der ersten Phase spielte nebst der Publikation in der Tagespresse das Krasny Archiv (Rotes Archiv), eine spezialisierte Fachzeitschrift, in welcher die Publikation von Akten zwischen 1922 und 1944 konsistenter als in der Presse fortgesetzt wurde, eine eminente Rolle. Davon zeugen mehrere Ubersetzungen daraus ins Englische, sogar nach
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
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Die bayerische Revolution v o m 7./8. N o v e m b e r 1918 fand in ihrem F ü h rer einen eifrigen, aber unglücklichen Epigonen des bolschewistischen Vorbildes. Schon am 23. N o v e m b e r veröffentlichte nämlich der durch die revolutionäre U m w ä l z u n g an die Spitze des bayerischen Staatswesens gelangte Ministerpräsident Kurt Eisner auszugsweise Berichte des bayerischen Gesandten in Berlin aus der Zeit der Julikrise 1914: eine spektakuläre Enthüllung, die nicht nur Proteste des Auswärtigen A m t s in Berlin auslöste, sondern „alsbald die Welt überraschte". Die, wie seine Kritiker bemerkten, „willkürlich ausgewählten bayerischen A k t e n s t ü c k e " 9 9 und die von ihm besorgte Edition waren „derart gestutzt und entstellt [...], dass daraus der deutsche Wille zu einem großen Krieg herausgelesen werden k o n n t e " . 1 0 0 D u r c h die Brandmarkung der ehemaligen herrschenden Klasse als Kriegsverbrecher wollte Eisner „jede A r t Konterrevolution ,in die Luft sprengen'." 1 0 1 A u c h in diesem Falle dienten die beabsichtigten und zurechtgebogenen Enthüllungen instrumentell zur Legitimierung der neuen Machtverhältnisse. Sogar der Sozialdemokrat Karl Kautsky, welcher in der Kriegsschuldfrage politisch auf der gleichen Seite stand, musste zugeben, dass Eisner bei der Publikation „[l]eider" die Unvorsichtigkeit begangen hatte, „sie mehr als Journalist zu behandeln, dem es auf die Wirkung ankommt, denn als Historiker, dem es u m die Vollständigkeit und Unversehrtheit seiner Quelle zu tun i s t . " 1 0 2 dem Zweiten Weltkrieg. Die zweite Phase konzentrierte sich auf die zielgerichtete Auflage von pamphletartigen Dokumentationen. Erst in der dritten Phase, die ab 1931 einsetzte, begann eine systematische große Aktenedition, die von Otto Hoetzsch ins Deutsche übersetzt und, von tendenziösen Anmerkungen befreit, von 1931 bis 1943 unvollständig unter dem Titel Die Internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus. Dokumente aus den Archiven der Zaristischen und der Provisorischen Regierung 1878-1917 erschien. Zur Aktenedition vgl. Otto HOETZSCH, „Die russische Aktenpublikation zur Vorgeschichte und Geschichte des Weltkrieges", in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte 5, N.F. Bd. 1 (1931), S. 348-376. Zur sowjetischen Publikationspraktik in dieser Zeit vgl. TOSCANO, Treaties, S. 107-111, BAUMGART, Quellenkunde, S. 30-37 und 64-69 und Gfeorge] P. GOOCH, Recent Revelations of European Diplomacy, London 1927, S. 97-114. Pius DIRR, „Vorwort", in: Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, im Auftrage des Bayerischen Landtages hrsg. vom Abgeordneten Dr. P. DIRR, Vorsitzender und Berichterstatter des zuständigen besonderen Ausschusses des Landtags, München und Berlin 1922, S. I I I - X I , hier S. IV und VI. 1 0 0 BAUMGART, Quellenkunde, S. 16. Im Zuge der Revisionspropaganda wertete der eifrige, vom Auswärtigen Amt besoldete Wegerer Eisners „Abänderung des wirklichen Textes" als „Fälschung" (WEGERER, „Unterlagen", S. 1100). Der Jurist Hermann Kantorowicz spricht von der „sogenannten Eisnerschen Fälschung" und charakterisiert sie als „bloßer Auszug" (KANTOROWICZ, Gutachten, S. 61 und dort ebenfalls Anm. 4). Eine synoptische Darstellung der amtlichen Mitteilung Eisners vom 23.11. 1918 und die Wiedergabe des vollständigen Wortlautes der Korrespondenzen des Grafen Lerchenfeld, bayerischer Gesandter in Berlin, bieten die Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, S. 1-16. 101 DIRR, „Vorwort", S. VII. 1 0 2 Karl KAUTSKY, Wie der Weltkrieg entstand. Dargestellt nach dem Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts, Berlin 1919, S. 35 99
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II. Amtliche Akteneditionen
Bestimmt können wir die revolutionären Enthüllungen, trotz ihres (neo-) amtlichen Imprimaturs, nicht unter die Kategorie der offiziellen Aktenserien subsumieren. Die Begründung dafür ist ihre unsystematische, desorganisierte Erscheinungsart in der Tagespresse „sans méthode apparente", 1 0 3 statt in einer - mindestens dem Anschein nach - wissenschaftlich geleiteten E d i tion. D e n n o c h zeigen sie paradigmatisch die für die Geschichtswissenschaft fundamentalste Folge des Ersten Weltkrieges auf: die Öffnung der Archive. Kriege, Systemwechsel, Staatenzusammenbrüche und Machtübernahmen schafften und schaffen seither immer wieder (zumindest vorübergehend) Zugang zu den Archiven des Unterlegenen, wie uns der Zusammenbruch der D D R 1 0 4 und der Sowjetunion 1 0 5 nochmals deutlich vor Augen geführt hat.
103 PIERRE RENOUVIN, „La publication des documents diplomatiques français (18711 9 1 4 ) " , in: Revue historique 5 6 ( 1 9 3 1 ) , S. 2 6 6 - 2 7 3 , hier S . 2 6 6 . 1 0 4 So ist es keineswegs verwunderlich, dass sich auch die deutschen Historiker auf dem 39. Historikertag 1992 eingehend mit der Verwendung der Stasi-Akten beschäftigten. Vgl. dazu Klaus-Dietmar H E N K E , Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Die Debatte über die Stasi-Akten und die DDR-Geschichte auf dem 39. Historikertag 1992, München 1993. Für den wiedervereinten Staat werden diese nun zugänglichen D D R Quellen einen beträchtlichen Legitimationsbeitrag liefern. Für die Forschung wird die ,Aktenflut' bedeuten, dass der Staat mit seinen Mitteln zuerst diejenige Politikgeschichte fördern wird, welche im Wettstreit um die .bessere Vergangenheit' für die B R D günstigere Resultate zu liefern verspricht, und erst in einem zweiten Schritt wird auch eine Sozialgeschichte ermöglicht, in welcher die B R D im Vergleich der beiden deutschen Gesellschaften nicht a priori besser abschneiden muss. Vgl. dazu den Essay von Paul ERKER, „Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefizite", in: Geschichte und Gesellschaft 1 9 ( 1 9 9 3 ) , S. 2 0 2 - 2 3 8 . 1 0 5 Die Öffnung der sowjetischen Archive - inzwischen wäre es wohl korrekter von vorübergehender Öffnung zu sprechen, denn teilweise sind die Stahlkammern nun schon wieder verschlossen - nach dem Scheitern des Putschversuches im August 1991 offenbarte ein Eldorado für Enthüllungen. Wie Berthold Unfried treffend formulierte, war 1992 „das Jahr des großen ,gold-rush' auf die Archive, als sich die commis-voyageurs der Historie auf die Aktennuggets stürzten." Westliche Konsortien versuchten damals, Exklusivrechte auf die Archivbenützung mit harten Devisen zu erwerben, was dazu führte, dass in der Folge der freie Archivzugang gelegentlich von „merkantilefn] Archiwerwertungsstrategien" anstatt der früheren politischen Geheimhaltung erschwert wurde. Siehe dazu Berthold UNFRIED, „Vom Nutzen und Nachteil der Archive für die Historie. Stalinismusforschung und Komintern-Historiographie nach Öffnung der russischen Archive", in: Zeitgeschichte 2 2 ( 1 9 9 5 ) , S. 2 6 5 - 2 8 4 , hier S. 2 6 7 . Vgl. ebenfalls Brigitte STUDER, „Die Öffnung der russischen Archive. Neue Perspektiven für die historische Forschung", in: Neue Zürcher Zeitung ( 2 6 . 7 . 1 9 9 4 ) , S. 3 7 und Brigitte STUDER und Berthold UNFRIED, „At the Beginning of a History: Visions of the Comintern After the Opening of the Archives", in: International Review of Social History 42 (1997), S. 419-446. - Für ein Beispiel Enthüllungsgeschichtsschreibung vgl. Michael S. VOSLENSKY, Das Geheime wird offenbar. Moskauer Archive erzählen 1917-1991, München 1995. Für ein Beispiel des politisch instrumentellen Umgangs mit den sowjetischen Akten vergleiche die Enthüllungen über die Beziehungen Sowjetrusslands zur Kommunistischen Partei Italiens, welche politisch hohe Wellen schlugen: Corriere della Sera ( 2 0 . 6 . 1 9 9 2 ) , S. 1 und 5 .
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
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Wie werden nun die klassischen offiziellen großen Aktenserien der Zwischenkriegszeit definiert? Wo wird die Trennungslinie zwischen propagandistischen Dokumentationspamphleten und wissenschaftlichen Quellensammlungen gezogen? So gestellt, führt die Frage in die Irre, denn die großen Aktensammlungen zur Vorkriegspolitik der Großmächte enthalten Merkmale beider Gattungen. Auch die pragmatische, von Baumgart freilich in einem anderen Kontext vorgeschlagene Unterscheidung zwischen ¿zeitgenössischen Druckwerken' und ,späteren wissenschaftlichen Akteneditionen' 106 scheint uns nicht weiterzuhelfen, denn sie impliziert eine strukturelle Unfähigkeit zur zeitgenössischen Objektivität und integriert sich damit in die langandauernde Kontroverse über die Machbarkeit der Zeitgeschichte überhaupt, deren Argumente längst bekannt und erschöpft sind. Ein weiteres Problemfeld stellt der Umgang mit dem von Baumgart hier normativ im positivem Sinne verwendeten Adjektiv .wissenschaftlich' dar. Als pragmatischer Ausweg aus der typologischen und begrifflichen Unschärfe sollen hier die Beispiele der deutschen, britischen und französischen amtlichen Akteneditionen in der Zwischenkriegszeit angeführt werden, deren Entstehungsgeschichte und Durchführung das Spannungsfeld zwischen Politik und Geschichte verdeutlichen. Diese großen und aufwändigen Aktenserien müssen zuerst historisch im Kontext der leidenschaftlich und polemisch diskutierten Frage des Ausbruches des Ersten Weltkrieges situiert werden, welche von Annelise Thimme mit Recht als „nationale Großkontroverse" bezeichnet wurde, weil sie nicht nur die Historikerzunft anging, sondern zum Politikum schlechthin wurde. 107 Im Kontext dieses regelrechten „Weltkrieg[es] der Dokumente" 108 (Bernhard Schwertfeger), in welchem in der Auseinandersetzung um die so genannte .Kriegsschuldlüge' „Akten als Waffen" 109 (Klaus Hildebrand) dienten, fokussieren wir zuerst auf Die große Politik der europäischen Kabinette,110 die deutsche Aktenpublikation zur Quellenkunde,
106
BAUMGART,
107
Annelise THIMME, „Politischer Publizist", S. 212f. So der Titel eines Werkes von Bernhard SCHWERTFEGER, Der Weltkrieg der
S. V I I .
108 Dokumente. Zehn Jahre Kriegsschuldforschung und ihr Ergebnis, Berlin 1929. 1 0 9 Klaus HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik 1871-1918, München 1 9 8 9 (Enzyklo-
pädie deutscher Geschichte, Bd. 2), S. 53.
110 Die Große Politik der Europäischen Kabinette. 1871-1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes (in der Folge GP), im Auftrage des Auswärti-
gen Amtes hrsg. von Johannes LEPSIUS, Albrecht MENDELSSOHN BARTHOLDY und Friedrich THIMME, 4 0 Bde., Berlin 1 9 2 2 - 1 9 2 7 . Bereits die Geschichte der Benennung der Serie zeugt vom beabsichtigten propagandistischen Zweck. Zuerst wurde sie als Die
europäische
Geheimpolitik
1871 bis 1914 betitelt, was in den Überlegungen des Aus-
wärtigen Amts nicht nur die anderen Regierungen aufgefordert hätte, dem deutschen Publikationsbeispiel zu folgen, sondern auch auf Lenins und Wilsons Verurteilung der Geheimdiplomatie hingewiesen hätte. Vgl. dazu Fritz T. EPSTEIN, „Die Erschließung von Quellen zur Geschichte der deutschen Außenpolitik. Die Publikation der Akten des Auswärtigen Amts nach den beiden Weltkriegen - ein Vergleich der Methoden", in: Die Welt als Geschichte 2 2 ( 1 9 6 2 ) , S. 2 0 4 - 2 1 9 , hier S. 2 0 6 , Anm. 2 .
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II. Amtliche Akteneditionen
Vorgeschichte des Weltkrieges, welche als .erste' 1 1 1 große Edition in diesem Kampf produziert und „in ihrer Entstehung so massiv und so urtümlich von den Leidenschaften des Tageskampfes bestimmt worden [ist]." 1 1 2 Die Geschichte dieser monumentalsten aller bis dahin aufgelegten außenpolitischen Akteneditionen belegt paradigmatisch den akrobatischen Balanceakt zwischen historischer Objektivität und Staatsräson. „Die Deutschen Dokumente
zum
Kriegsausbruch"
Die ersten Schritte zu einer amtlichen Veröffentlichung deutscher D o k u mente zur Julikrise von 1914 unternahm der Rat der Volksbeauftragten. Die revolutionäre Regierung beabsichtigte damit, auf die bevorstehenden Friedensverhandlungen in einem für Deutschland günstigen Sinne einzuwirken. Ein durch die eigenen Akten erbrachtes vollständiges Schuldbekenntnis würde, so das Argument, „den völligen Bruch des neuen Regimes mit dem alten" 1 1 3 derart unterstreichen, dass sich die neue Staatsmacht von den Siegern nachsichtige und erträgliche Friedensbedingungen versprechen konnte. Deutschland hatte zudem bereits kurz nach dem Waffenstillstand die Bildung einer internationalen Expertenkommission vorgeschlagen, die zur Klärung der Kriegsschuldfrage uneingeschränkten Zugang zu den Archiven der am Krieg beteiligten Mächte hätte erhalten sollen; eine Forderung, die freilich am Widerstand der Siegermächte scheiterte. So entschloss sich die revolutionäre Regierung, die Akten zum Kriegsausbruch im Alleingang zu publizieren. Mit der Editionsaufgabe wurde der Sozialdemokrat Karl Kautsky beauftragt, welcher kurz nach der Revolution des 9. Novembers 1918 als beigeordneter Staatssekretär in das Auswärtige A m t aufgenommen worden war. Obschon er bald wegen des kurz vor der Jahreswende erfolgten Austrittes seiner Parteigenossen aus dem Rat der Volksbeauftragten auf die Stellung im Auswärtigen Amt verzichtete, behielt er diese Aufgabe weiterhin als unbezahlter „freier Historiker". Kautsky ging, wie er später selbst beteuerte, rankeanisch an die gestellte Arbeit, „nicht als Ankläger, sondern als Geschichtsschreiber, der erforschen will, wie die Dinge gekommen sind." 1 1 4 Dennoch war er zu Beginn seiner Forschung von der deutschen Schuld überzeugt. Die angekündigte Dokumentensammlung löste eine hitzige und gehässige Kontroverse aus, ehe sie überhaupt gedruckt wurde. 1 1 5 Kautsky argumen-
111 Um einem häufigen Missverständnis vor allem in der deutschen Literatur vorzubeugen: die erste große amtliche Aktenedition im modernen Sinne war Les origines diplomatiques de la guerre de 1870-1871, welche das französische Außenministerium von 1910 bis 1930 in 29 Bänden herausgab. Vgl. unten S. 86. 112 BAUMGART, Quellenkunde, S. 8. I' 3 KAUTSKY, Weltkrieg, S. 7. 114 KAUTSKY, Weltkrieg, S. 11. 115 Zur Kautsky-Kontroverse vgl. die beiden Dissertationen: JÄGER, Forschung, S. 34-
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
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tierte mit der These, dass dem deutschen Volke kein größerer Dienst erwiesen werden könne, als durch das Aufdecken der Lügen, die es irregeführt hätten, denn dadurch würde es „moralisch vor aller Welt in jeder Weise entlastet". 116 Kautskys Gegner, wie die Historiker und Publizisten Hans Delbrück, Max Graf Montgelas, Dietrich Schäfer, Theodor Schiemann und andere, bestritten seine Deutung und vertraten die Gegenthese, dass Deutschland mildere Friedensbedingungen erhalte, wenn seine Unschuld am Ausbruch des Krieges plausibel belegt würde; Kautskys Publikationsvorhaben schade somit dem Ansehen Deutschlands, verunmögliche eine Apologie der deutschen Politik und erschwere eine künftige Revision des Friedensvertrages. 117 Auch Max Weber gesellte sich zu Kautskys vehementesten Kontrahenten. In einem Artikel in der Frankfurter Zeitung vom 17. Januar 1919 schrieb er unumwunden, zu einem Zeitpunkt, in dem versucht werde, das Problem der Kriegsschuldfrage „mit dem Mittel einer (noch dazu: einseitigen!) Publikation von Akten über den unmittelbaren Anlass des Ausbruchs zu lösen", scheine es immerhin notwendig, „die Kindlichkeit eines solchen Beginnens ausdrücklich zu betonen." 118 In einem weiteren, „auf einer Reihe von verwickelten Überlegungen", 119 aber faktisch im offiziellen Auftrage verfassten Artikel vom 22. März betonte Weber, dass die wiederholten „schweren Bedenken gegen eine einseitige deutsche Publikation" 120 unvermindert fortbestünden. In seinem zur gleichen Zeit entstandenen Essay über Politik als Beruf untermauerte er theoretisch - wenn auch in einer etwas verklausulierten Form - seine Opposition gegen eine einseitige deutsche Aktenveröffentlichung. Weber wich dem Dilemma der „Wahrheitspflicht" und deren Folgen elegant aus, indem er der „absoluten Ethik" eine dialektische Synthese zwischen den „zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen" der „Gesinnungsethik" und der „Verantwortungsethik" - „die zusammen erst den echten Menschen ausmachen" 121 entgegensetzte und gleich normativ begründete. und HEINEMANN, Niederlage, S. 7 4 - 7 8 . Für Kautskys Sicht vgl. K A U T S K Y , Weltkrieg, S. 7-12. 116 K A U T S K Y , Weltkrieg, S. 179. 1 1 7 Vgl. J Ä G E R , Forschung, S. 35. 1 1 8 Max WEBER, „Zum Thema der ,Kriegsschuld'", in: ders., Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 381-389, hier S. 383. 1 1 9 Begleitschreiben vom 20. 3. 1919 von Max WEBER an die Redaktion der Frankfurter Zeitung zum in Anm. 120 angegebenen Artikel, abgedruckt in: ibid., S. 487. 1 2 0 Max W E B E R , „Die Untersuchung der Schuldfrage", in: ibid., S. 3 9 4 f . , hier S. 3 9 4 . 121 Max WEBER, „Politik als Beruf", in: ibid., S. 396-450, hier S. 441 und 449. „Endlich: die Wahrheitspflicht. Sie ist für die absolute Ethik unbedingt. Also, hat man gefolgert: Publikation aller, vor allem der das eigene Land belastenden Dokumente und auf Grund dieser einseitigen Publikation: Schuldbekenntnis, einseitig, bedingungslos, ohne Rücksicht auf die Folgen. Der Politiker wird finden, dass im Erfolg dadurch die Wahrheit nicht gefördert, sondern durch Missbrauch und Entfesselung von Leidenschaft sicher verdunkelt wird; dass nur eine allseitige planmäßige Feststellung durch unparteiische Frucht bringen könnte, jedes andere Vorgehen für die Nation, die derartig ver43,
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II. Amtliche Akteneditionen
In der Folge wurde Kautsky massiv angegriffen, nicht selten sogar von amtlichen Stellen, sowie als „Großsiegelbewahrer des Marxismus echtester Prägung" 122 verspottet und stigmatisiert. Nebst einer ganzen Reihe methodischer Vorbehalte und editorischer Einwendungen, wie zum Beispiel die vom späteren Herausgeber der Großen Politik kritisierte „uneingeschränkte (sie!) Aufnahme der Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.", 1 2 3 die ohnehin keinen entscheidenden Einfluss auf die Außenpolitik gehabt hätten, wurde vor allem kritisiert, Kautsky habe jenes Material unterschlagen, welches seiner These widersprochen hätte. Die Dokumentation liefere somit „trotz ihrer relativen Vollständigkeit kein abgewogenes Bild der Ereignisse". 124 Es war von bitterer Ironie für Kautsky, dass andererseits gerade die „relative Vollständigkeit" dem Kabinett aufgestoßen war und dieses, um außenpolitische Komplikationen zu vermeiden, kurzerhand die Streichung „unwesentliche!/] Dokumente aus neutralen Quellen" 1 2 5 befahl. Gleichzeitig wurde aber in Deutschland die insistente Forderung laut, Kautskys Auswahl durch .geeignete' Gelehrte ergänzen zu lassen. Kautsky trug seine Sammlung bis zur Jahreswende 1918/1919 zusammen, und Ende März 1919 lag sie, wie er später beteuerte, „im Wesentlichen" fertig vor und hätte sofort in Satz gegeben werden können. 126 Die Edition wurde aber wegen ihrer außenpolitisch nun unerwünschten Tendenz und wegen tagespolitisch motivierter Rücksichtnahmen für die Dauer der Friedensverhandlungen dilatorisch ad acta gelegt. 127 Erst nach der Unterzeichnung des Vertragswerkes, dessen Artikel 230 die deutsche Regierung unter anderem auch dazu verpflichtete, „Urkunden und Auskünfte jeder Art [...] zur erschöpfenden Würdigung der Schuldfrage" zu liefern, 128 und erst nachdem Kautsky im September 1919 als verantwortlicher Herausgeber vom nationaler gesinnten General a.D. Max Graf Montgelas 129 und von Professor Walter fährt, Folgen haben kann, die in Jahrzehnten nicht wieder gutzumachen sind. Aber nach .Folgen' fragt eben die absolute Ethik nicht." Ibid., S. 441. 1 2 2 Friedrich THIMME, „.Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1 8 7 1 - 1 9 1 4 ' . Persönliche Erinnerungen", in: Berliner Monatshefte 15 (1937), S. 2 1 5 - 2 2 3 , hier S. 215. Kautskys Vorgehen bei der Wiedergabe der Randbemerkungen des Kaisers bezeichnete Thimme polemisch als das „hämische Vergnügen f...] dem Volk einmal .einen Kaiser in Unterhosen' vorzuführen." Zitiert nach Annelise THIMME (Hg.), Friedrich Thimme. 1868-1938. Ein politischer Historiker, Publizist und Schriftsteller in seinen Briefen, Boppard am Rhein 1994 (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 46), S. 45, Anm. 79. THIMME, „Große Politik. Persönliche Erinnerungen", S. 215. HEINEMANN, Niederlage, S. 76. Vgl. ebenfalls JÄGER, Forschung, S. 40. 1 2 5 Undatierte Aufzeichnung des Auswärtigen Amts „Aktenveröffentlichung über den Kriegsausbruch", zit. nach HEINEMANN, Niederlage, S. 76. 1 2 6 KAUTSKY, Weltkrieg, S. 8. 1 2 7 HEINEMANN, Niederlage, S. 75. 128 Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten, im Auftrage des Auswärtigen Amtes, Charlottenburg 1919 (Materialien betreffend die Friedensverhandlungen, Teil VII), S. 105 [S. 209]. 1 2 9 Später veröffentlichte Max Graf MONTGELAS: Leitfaden zur Kriegsschuldfrage, 123 124
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
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Schücking abgelöst worden war, konnten die Dokumente „ohne Kürzungen oder irgend welche Änderungen des Textes" - wie die neuen Editoren versicherten, aber in der Tat mit einigen Auslassungen 1 3 0 - unter dem offiziellen Titel Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch endlich im Dezember 1919 erscheinen. 131 Eine weitere Unterdrückung der anfänglich urbi et orbi angekündigten Publikation hätte nicht mehr fortgesetzt werden können, denn selbst in der Einschätzung des Auswärtigen Amts hätte dies den Siegermächten „neuen Grund [ge]geben, zu behaupten, dass wir noch Schlimmes zu verheimlichen haben und auch in weiten Kreisen des Deutschen Volkes den Eindruck bestärken, dass der Krieg von der damaligen Regierung doch wohl beabsichtigt worden sei". 1 3 2 Die dilatorische Haltung der deutschen Regierung hatte außerdem bezweckt, die Publikation der österreichischen Akten, von denen eine Entlastung Deutschlands erhofft worden war, abzuwarten. So antizipierte die sozialistische Regierung Österreichs noch im September 1919 das Erscheinen der Kautsky-Dokumente mit der Auflage einer eigenen Sammlung von Aktenstücken zur Julikrise und konnte nach der sowjetischen als Erste 1 3 3 sub(vom Mitherausgeber der „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch"), Berlin und Leipzig 1923. 1 3 0 Geiss berichtet, dass (mindestens) einige Aktenstücke, welche die Neutralen Schweden und Dänemark kompromittiert hätten, in der Endfassung ausgelassen wurden. Imanuel GEISS (Hg.), Julikrise und Kriegsausbruch 1914, 2 Bde., Hannover 1963, hier Bd. 1,S. 32. 131 Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Vollständige Sammlung der von Karl Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke mit einigen Ergänzungen, im Auftrage des Auswärtigen Amtes nach gemeinsamer Durchsicht mit Karl Kautsky hrsg. von Graf Max Montgelas und Walter Schücking, 4 Bde., Charlottenburg 1919. Die Sammlung wurde aber im Volksmunde und in der Literatur häufig „Kautsky-Dokumente" genannt. Vorangegangenes Zitat: ibid., Bd. 1, S. XI. Der seltsam klingende Untertitel zeugt von der mühevollen und schwierigen Genese. Über die erweiterten Neuauflagen der Deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch informiert aus beteiligter Sicht: Max Graf MONTGELAS, „Die neue Ausgabe der .Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch'", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 754-768. 1 3 2 Undatierte Aufzeichnung „Aktenveröffentlichung über den Kriegsausbruch" des Kriegsschuldreferates, zit. nach HEINEMANN, Niederlage, S. 75. 1 3 3 Im Juli 1919 hatte zwar die Reichskanzlei im Auftrage des Reichsministeriums das Weißbuch Vorgeschichte des Waffenstillstandes. Amtliche Urkunden (Berlin 1919) veröffentlicht, um den Anfängen der Dolchstoßlegende entgegenzuwirken und war, wie Kautsky nicht beipflichtend bemerkte, dazu „bestimmt, auf die siegreichen Nationen während der Friedensverhandlungen zu Gunsten Deutschlands Eindruck zu machen." (KAUTSKY, Weltkrieg, S. 36) Diese Publikation kann aber nicht zu den .wissenschaftlichen' Editionen zur Vorgeschichte des Krieges gezählt werden, weil sie erstens Farbbuchcharakter aufweist und zweitens nur die Zeit vom 14.8. 1918 bis zum 11. 11. 1918 abdeckt. Für unsere Fragestellung ist sie insofern relevant, als „[einzelne Sätze oder Satzteile, die in der ersten Auflage aus außenpolitischen Gründen ausgelassen", in später erweiterte Auflagen integriert wurden. Amtliche Urkunden zur Vorgeschichte des Waffenstillstandes 1918, Auf Grund der Akten der Reichskanzlei, des Auswärtigen Amtes und des Reichsarchivs hrsg. vom Auswärtigen Amt und vom Reichsministerium
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stanzielle Enthüllungen zum Kriegsausbruch liefern. 134 Nebst klaren Hinweisen auf die dubiosen Editionspraktiken des Mitte Februar 1915 aufgelegten Rotbuches beabsichtigte Roderich Gooß, der Bearbeiter der Edition, die Verantwortung der alten österreichischen Regierung am Kriegsausbruch zu unterstreichen. Dabei wurden Wilhelm II. und die deutsche Regierung als die „ahnungslosen und weniger kriegswilligen Bundesgenossen" 1 3 5 hingestellt und weitgehend entlastet. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Kautsky nach der Archiveinsicht im Grunde zu ähnlichen Folgerungen wie der von ihm kritisierte 136 Gooß gelangte, wenn auch freilich mit unterschiedlicher Akzentuierung: Die Machthaber Deutschlands, „die von solcher Unfähigkeit oder Streberhaftigkeit oder Leichtfertigkeit waren, dass sie sinnlos das Volk in ein Abenteuer hineinritten, aus dem sie schließlich keinen anderen Ausweg mehr fanden als die Kriegserklärung an Russland und Frankreich", 137 treffe wohl die Schuld, „unsäglich leichtfertig, kurzsichtig, kopflos gehandelt [zu] haben", 1 3 8 aber dennoch könne ihnen keine berechnende und kaltblütige Ausnützung des Thronfolgermordes zur Entfesselung eines europäischen Krieges nachgewiesen werden. 139 Insgesamt lässt die Kontroverse um die Kautsky-Dokumente den Explosivitätsgrad erkennen, den die Kriegsschuldfrage schon in der jungen Weimarer Republik erreicht hatte. Im Artikel 231 des Versailler Vertrages hatten die alliierten und assoziierten Regierungen erklärt und Deutschland durch die Annahme des Vertrages anerkannt, „dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben." 1 4 0 Der Artikel fand erst nach zahlreichen Entwürfen Eingang in den Vertrag und war Ausdruck der Zwänge indes Innern, Berlin 4 1928, S. VII. Vgl. die Rezension zur erweiterten Auflage von 1924: Ch. APPUHN, „Amtliche Urkunden zur Vorgeschichte des Waffenstillstandes 1918. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt und vom Reichsministerium des Innern", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 3 (1925), S. 166 f. 134 Diplomatische Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914. Ergänzungen und Nachträge zum österreichisch-ungarischen Rotbuch, hrsg. von der Republik Osterreich, Staatsamt für Äußeres, 3 Bde., Wien 1919. 135 136
BAUMGART, Quellenkunde, S. 3 8 . KAUTSKY, Weltkrieg, S. 35.
1 3 7 Karl KAUTSKY, Delbrück und Wilhelm II. Ein Nachwort Berlin 1920, S. 37, zit. nach JÄGER, Forschung, S. 36. 138
KAUTSKY, Weltkrieg,
139
G O O C H , Revelations,
zu meinem
Kriegsbuch,
S. 1 7 1 . S. 2 ; T O S C A N O , Treaties,
S. 130; BAUMGART,
Quellenkunde,
S. 9. Vgl. ebenfalls Friedrich THIMME, „Die Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes und ihre Gegner", in: Archiv für Politik und Geschichte 2, 1. Teil (1924), S. 467—492, hier S. 470. 140 Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten, S. 106 [S. 211]. Der entsprechende Passus für Osterreich wurde im Artikel 177 des Vertrages von St. Germain-en-Laye kodifiziert.
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1 9 1 7 - 1 9 3 9
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folge des Wahlversprechens, welches die alliierten Staatsmänner bei Kriegsbeginn geleistet hatten, dass nämlich Deutschland für den angerichteten Schaden einstehen müsse.141 In der Folge hatten die Sieger die deutsche Schuld juristisch im Vertragswerk festgelegt, um daraus die Reparationsforderungen ableiten zu können.142 In Deutschland aber wurde der Artikel als moralische Schuldanklage aufgefasst, welche quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Parteien zu einem regelrechten „Trauma"143 eskalierte. So wurde auch im deutschen Wissenschaftsdiskurs die Widerlegung der Alleinschuld zum eigentlichen Politikum, zur nationalen Aufgabe. Die Geschichtsschreibung wurde, um Clausewitz zu paraphrasieren, zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Ableitung der Reparationen aus der Schuld an der Kriegsentfesselung stellte gewissermaßen ein Novum dar, denn bis dahin waren Kriegsentschädigungen schlicht als die übliche Bürde des Unterlegenen aufgefasst worden. Paradoxerweise eröffnete diese neue Art von Reparationsauffassung qua Schuldanklage Deutschland ein weites Manövrierfeld: hätte die These der alleinigen Schuld plausibel genug demontiert werden können, hätte dies in den Augen der Weltöffentlichkeit gleichzeitig den Entzug der moralischen Grundlage des Vertragswerkes bedeutet und dessen mögliche Revision in Griffnähe gebracht. Um so mehr erhielt die Geschichte somit eine immanente politische Bedeutung. „Die Große Politik der Europäischen
Kabinette"
Der virulente Kampf um die Abwehr der alleinigen Kriegsschuld und die negative Rezeption für die Sache Deutschlands, welche die Deutschen Dokumente Kautskys sogar im neutralem Ausland erfuhren, führten die deutsche Regierung bald zum Entschluss, eine gewichtigere, über den begrenzten Zeitraum der Julikrise hinausgehende Aktenpublikation in Angriff zu nehmen. Eine schonungslose Offenlegung der Vorkriegsdiplomatie und deren Geheimnisse, so die Überlegung in Berlin, würde die anderen Großmächte zwingen, ihrerseits ebenfalls unangenehme dunkle Flecke ihrer expansionistischen Vorkriegspolitik zu erhellen. Diese ungeheure Komplexitätszunahme historischer Konzeptualisierung durch Hinweise auf langfristige Ursachen des Weltkrieges144 und Verweise auf die schonungslose Machtpolitik der an1 4 1 Zur Entstehung des Artikels 231 vgl. Fritz DLCKMANN, „Die Kriegsschuldfrage auf der Friedenskonferenz von Paris 1919", in: HZ 197 (1963), S. 1 - 1 0 1 , insb. S. 5 6 - 5 9 . Vgl. ferner Jörg FISCH, Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1992. 1 4 2 So ebenfalls Wolfdieter Bihl mit dem Hinweis, dass eine moralische Verurteilung formaljuristisch in der Präambel hätte erfolgen müssen: Wolfdieter BIHL (Hg.), Deutsche Quellen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges, Darmstadt 1991 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 29), S. 3. 1 4 3 BIHL, Quellen, S. 2 f. 1 4 4 Vgl. dazu aus militärgeschichtlicher Sicht Stig FÖRSTER, „Der deutsche Generalstab
58
II. Amtliche Akteneditionen
deren Großmächte im Zeitalter des Hochimperialismus hätte sicherlich einer relativierenden Auffassung der Kriegsschuldfrage gedient, welche für eine breitere Verteilung der Schuld gesorgt und somit die Versailler Friedensordnung in Frage gestellt hätte. 145 Bereits am 21. Juli 1919, als die außenpolitische .Untauglichkeit' der Sammlung Kautskys feststand und deren Publikation von der Regierung dilatorisch aufgeschoben wurde, beschloss das Kabinett Bauer, eine Edition zu veröffentlichen, welche die Zeit von 1871 bis 1914 abdecken sollte. 146 Das Projekt konkretisierte sich lange Zeit nicht, und erst Ende Februar 1920 konnte das Auswärtige Amt drei Herausgeber für die Arbeit verpflichten. Die Berufung hatte sich als langwierig und schwierig erwiesen. Schließlich war die Wahl nicht aufgrund einschlägiger wissenschaftlicher Verdienste oder editorischer Qualifikationen gefällt worden, 147 vielmehr wurden nach sorgfältigen politischen Erwägungen endlich drei in der Öffentlichkeit als Gegner der offiziellen Kriegspolitik bekannt gewordene Gelehrte ernannt. Nebst dem Völkerrechtsprofessor Albrecht Mendelssohn Bartholdy, dem schon Anfang August 1919 die Alleinherausgabe des Projektes anvertraut worden war, wählte das Auswärtige Amt im Februar 1920 den Orientalisten, Missionar und Publizisten Johannes Lepsius sowie den Historiker Friedrich Thimme 1 4 8 als gleichberechtigte Mitherausgeber. Mendelssohn Bartholdy hatte schon in Versailles zusammen mit Graf Max von Montgelas, Hans Delbrück und Max Weber durch die formelle Verfassung der so genannten Professoren-Denkschrift - jenem Gutachten zur Kriegsschuldfrage, welches das Auswärtige Amt von im Ausland geschätzten Vertretern des ,anderen' Deutschlands unterschreiben ließ - „aufs tapferste gegen die Anklage der Alleinschuld Deutschlands gekämpft" 1 4 9 . Lepsius hatte sich mit einer Aktenedition 150 über das Massaker der Türken an den Armeniern, also der Aufde-
und die Illusion des kurzen Krieges, 1 8 7 1 - 1 9 1 4 . Metakritik eines M y t h o s " , in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 5 4 ( 1 9 9 5 ) , S. 6 1 - 9 5 . Ebenfalls in: Johannes BURKHARDT, Josef BECKER, Stig FÖRSTER, Günther KRONENBITTER, Lange und kurze Wege in den ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung, München 1996, S. 1 1 5 - 1 5 8 . 145 VG] H o l g e r H . HERWIG, „Clio Deceived. Patriotic Self-Censorship in G e r m a n y After the G r e a t W a r " , in: Keith WILSON ( H g . ) , Forging the Collective Memory. Government and International Historians through Two World Wars, O x f o r d 1996, S. 8 7 - 1 2 7 . HEINEMANN, Niederlage, S. 78. Hennig KÖHLER, „Das Kissinger Diktat. E i n Schlüsseldokument zur Außenpolitik B i s m a r c k s ? " , in: ders. ( H g . ) , Deutschland und der Westen. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Symposiums zu Ehren von Gordon A. Craig, Berlin 1984, S. 3 4 ^ 3 , hier S. 39. 1 4 8 Z u Friedrich T h i m m e vgl. die Quellenedition seiner Tochter: Annelise THIMME ( H g . ) , Briefe, insbesondere die „Biographische E i n f ü h r u n g " , S. 1 5 - 6 2 . Ferner den A u f satz von Annelise THIMME, „Politischer Publizist". 146
147
149 150
THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 2 1 5 . K u r z nach Kriegsende erfolgte die Publikation einer Quellenedition über die türki-
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59
ckung einer Greueltat eines deutschen Kriegsverbündeten, im Ausland und vor allem in den USA einen guten N a m e n gemacht. 1 5 1 Thimme, dessen „nichtbestandene Habilitation ihn als Nichtordinarius z u m historischen A u ßenseiter" 1 5 2 machte, war zum Direktor der Bibliothek des preußischen Landtages berufen worden. Während des Krieges war er als Publizist hervorgetreten und bekannt geworden. D a n k seines Engagements f ü r innenpolitische Reformen verfügte er ebenfalls über eine gute Reputation im Ausland. Dennoch wunderte er sich selbst, vom ,,sozialistische[n] Ministerium des Auswärtigen" erkoren worden zu sein, denn in seiner eigenen Einschätzung galt er als rechts stehender Historiker, „der oft genug bewiesen hatte, dass er gar nicht daran dachte, die im Ausland und schmählicherweise sogar vielfach in Deutschland selbst geltenden Anschauungen über unsere Kriegsschuld zu teilen." 1 5 3 Was T h i m m e (noch) nicht wusste, war, dass das Auswärtige A m t zuvor vergeblich um die Teilnahme des ehemaligen Abgeordneten Friedrich Curtius und der bekannten Historiker Max Lehmann, H a n s Delbrück und Friedrich Meinecke geworben hatte. D e n n o c h war die Wahl eines Nationalliberalen und glühenden Patrioten, der gegen die Kriegsschuldthese eingestellt war, keineswegs unerwünscht, sondern spiegelte die politischen Intentionen des Publikationsunternehmens wider. Thimmes Wahl erwies sich aus der Sicht des Auswärtigen Amts ohnehin als eine sehr glückliche, denn in der Folge leistete er den allergrößten Teil der Editionsarbeit alleine. Gedacht war die neu konzipierte Serie zuerst als dreibändiges Werk, dessen Manuskript in vier Monaten durch nebenamtliche Arbeit hätte fertig gestellt werden sollen. 154 Schon in den ersten Arbeitssitzungen der neuen H e rausgebertroika w u r d e der Beginn des Reihenwerkes von der zuerst festgesetzten Zäsur des Bukarester Friedens vón 1913 sukzessive zurückverlegt auf diejenige der Bosnischen Krise von 1908-1909, der deutsch-englischen Verständigungsversuche von 1898-1901, den U r s p r u n g der großen europäischen Bündnissysteme seit dem deutsch-österreichischen Bund von 1879, u m schließlich zur G r ü n d u n g des deutschen Reiches anlässlich der Friedensschlüsse von Versailles und Frankfurt im Jahre 1871 zu gelangen. Ausschlaggebend dafür waren nicht zuletzt die in der so genannten Mantelnote der Siegermächte vom 16. Juni 1919 formulierten Vorwürfe, dass während „langer Jahre [...] die Regierenden Deutschlands, getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt" hätten, u m „ein unterjochtes Europa
sehen Verfolgungen: Johannes LEPSIUS (Hg.), Deutschland und Armenien 1914-1918, Potsdam 1919. Vgl. ebenfalls Johnnes LEPSIUS, Der Todesgang des Armenischen Volkes. Bericht über das Schicksal des Armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrie-
ges, Potsdam 1919 ( 4 1930, Neudr. 1982). 151 KÖHLER, „Kissinger Diktat", S. 39. 152 153 154
Annelise THIMME, „Politischer Publizist", S. 215.
THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 215. Ibid., S.216.
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zu beherrschen und zu tyrannisieren". 155 Dieselbe, auf die Gründung des Reiches zurückgehende These der deutschen Kriegsschuld hatten auch französische Historiker vehement propagiert. Nachdem die Anfangszäsur endgültig festgelegt worden war und einige Schwierigkeiten und Zwiste unter den Herausgebern mit der internen 156 Verantwortungsübertragung an Thimme geregelt worden waren, 157 verliefen die Editionsarbeiten unter Zeitdruck derart speditiv,158 dass 1922 bereits die erste Serie der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. Sie umfasste sechs Bände, welche die Zeit Bismarcks von 1871 bis 1890 abdeckten. Fünf Jahre später, im Jahre 1927, nach einer ,,einmalig[en] und bewundernswert raschen Erscheinungsweise",159 lag der vierzigste160 und letzte Band zur Großen Politik der Europäischen Kabinette der Öffentlichkeit vor. Als zentrales und neues Moment der großen Aktenserien der Zwischenkriegszeit trat die Beteuerung der Objektivität auf. Im Gegensatz zu den jeweiligen Beamten der Außenministerien, welche die zahlreichen Farbbücher nach politischen Gesichtspunkten redigierten, unterstrichen die zu diesem Zwecke herbeigerufenen Akademiker ihre Verpflichtung zu einer wissenschaftlichen Arbeitsweise. Diese Beteuerung erhielt zeitweise transzendentalen Charakter, und wir können ihr in Analogie zum hippokratischen Eid, bei welchem sich der Arzt verpflichtet, die deontologischen Prinzipien der Medizin zu respektieren, zumindest materiellen Eidcharakter attestieren. Freilich haben die scheuen Adepten der Klio stets Mühe bekundet, derart formelle und feierliche Momente zu zelebrieren, obschon sie das Bedürfnis nach Offenbarung ihrer deontologischen Integrität nie ganz zu unterdrücken vermochten, und sei es bloß unter dem Gewand einer schlichten Bescheidenheit
155 Materialien betreffend die Friedensverhandlungen, Teil IV, Charlottenburg 1919, S. 77. Thimme wies selbst auf diesen Zusammenhang hin: THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 218. 1 5 6 Nach außen blieben die Herausgeber bis zuletzt offiziell gleichberechtigt. 1 5 7 Zwischen Thimme und Lepsius gab es mehrmals Zwist. Thimme kritisierte Lepsius' Arbeitsweise als unstetig und wissenschaftlich unzureichend und distanzierte sich auch einmal öffentlich von einer „Lepsius'sche[n] Privatauffassung". THIMME, Gegner, S. 485. 1 5 8 Thimme sprach von der unbedingten öffentlichen Notwendigkeit der Fertigstellung der Arbeit. THIMME, „Aktenpublikation", S. 77. Mendelssohn Bartholdy bestätigte die zu Grunde liegenden Intentionen und beteuerte, dass die Herausgeber wussten, dass sie das Werk „nicht geduldig wie ein feines Mosaik zusammensetzen könnten, sondern es hinausschleudern müssten als einen ungefügen Block, noch ehe unser Volk und die Welt wieder zur Gleichgültigkeit des alten Vorkriegsganges zurückgekehrt wäre. Denn unsere Urkundensammlung will ja nicht der Vergangenheit dienen, sondern der Zukunft". Aflbrecht] MENDELSSOHN BARTHOLDY, „Kleine Missverständnisse über eine große Publikation", in: Europäische Gespräche 4 (1926), S. 377-390, hier S. 387. 159
BAUMGART, Quellenkunde,
S. 1 8 .
160 40 Bände erschienen in 54 Teilbänden: daher die in der Literatur manchmal irreführenden und divergierenden Angaben.
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
61
zwischen den Zeilen, bloß um zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen ist". Bei diesen Editionen, die ohnehin als deklariertes politisches Ziel eine Revision des Friedensvertrages anstrebten, bedeutete die Beteuerung des ungeschriebenen Ehrenkodexes des Historikers gleichzeitig einen Eid vor dem .Weltgericht' und erhielt daher eine eminent wichtige Funktion. Die deutschen (wie in der Folge auch die britischen und französischen) Herausgeber warfen ihre volle wissenschaftliche Reputation in die Waagschale: „An die schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe der Auswahl sind die Herausgeber herangetreten, wie es ihrem Auftrage und ihrem Gewissen entsprach: als unabhängige objektive Forscher, denen es einzig und allein um die völlige Aufklärung der geschichtlichen Zusammenhänge zu tun war. Sie sind nicht davor zurückgeschreckt, in die Sammlung der Dokumente auch solche Schriftstücke aufzunehmen, die die deutsche Politik oder einzelne ihrer Leiter in einem weniger vorteilhaften Lichte erscheinen lassen; ebensowenig haben sie Anstand genommen, Aktenstücke zu bringen, die zugunsten unserer Gegner (sie!) sprechen können. Unbedingte Ehrlichkeit, Offenheit und Sachlichkeit war und blieb das vornehmste Gebot ihrer Arbeit. Auch in den Fällen, wo ein Aktenstück nur teilweise wiedergegeben ist, liegt nirgends die Tendenz des Verschweigens zugrunde; es konnte sich hier nur darum handeln, Belangloses und Nebensächliches, das mit der darzustellenden Frage nicht organisch zusammenhing, auszuschalten." 161
Dass im gleichen Atemzug mit einer argumentativen Akrobatik bemerkt wurde, dass „viele Glossen Kaiser Wilhelms II., die nur Gefühlsäußerungen und Augenblicksstimmungen vorstellen, übergangen werden [konnten], da sie bei ihrer unpolitischen Natur keinerlei Einfluss auf die amtliche Politik gehabt haben", 162 führt uns wieder direkt zum Kern des Problems und veranschaulicht bestens den waghalsigen Balanceakt, den die Herausgeber zwischen den Objektivitätspostulaten und den unmittelbaren politischen Interessen stets durchführen mussten. Dennoch soll hier eine wichtige Errungenschaft der Edition nicht verschwiegen werden. Sie hat eine gigantische Aktenmasse erschlossen und zugänglich gemacht. Als weitere Neuerung für die Geschichtswissenschaft beteuerten die Herausgeber, dass sie bereit seien, „wo irgendein ernsthafter Forscher vor allem des Auslandes das wünschen sollte, ihm über den Inhalt nichtgebrachter Textteile genaue Auskunft zu geben." 163 Tatsächlich nahmen einige ausländische Forscher diese Gelegenheit wahr und unterzogen - wenn auch sehr punktuell - die Edition einer Gegenkontrolle. 164 So erklärte 1926 auf Anfrage der Kriegsschuldfrage der amerika-
161 „Vorwort", in: GP, Bd 1: Der Frankfurter Friede und seine Nachwirkungen 18711877, Berlin 1922, S. VII-XII, hier S. I X - X . Ähnlich bei Friedrich THIMME, „Die Aktenpublikation des Auswärtigen Amts. Ansprache, gehalten am 13. Juni 1922", in:
Preußische
Jahrbücher
1 8 9 ( 1 9 2 2 ) , S. 6 8 - 7 8 , h i e r S. 7 0 .
Ibid. Vgl. ebenfalls dazu THIMME, „Aktenpublikation", S. 75-76; THIMME, „Gegner", S. 484. 1 6 3 „Vorwort", in: GP, Bd. 7 [erster Band der zweiten Serie]: Die Anfänge des Neuen Kurses. Der Russische Draht, Berlin 1923, S. VII-XI, hier S. IX. 164 Veit VALENTIN, „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914. Samm162
62
II. Amtliche Akteneditionen
nische Historiker Bernadotte E . Schmitt, dass die Herausgeber „soweit man entdecken kann, wesentliche U r k u n d e n nicht unterdrückt" hätten und dass die Aufnahme von Aktenstücken in die Serie, welche „Deutschland z u m Schaden gereichen, [ . . . ] für die Arbeit als Ganzes V e r t r a u e n " 1 6 5 einflöße. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade Schmitt, der einen Weltkrieg später zur Herausgabe der von den Alliierten erbeuteten deutschen Akten berufen wurde, dieses Urteil nachträglich revidieren musste. 1 6 6 Aber schon während der Zwischenkriegszeit machten Gelehrte eine ganz andere Erfahrung, wie etwa der (damals noch) deutsche Historiker George W. F. Hallgarten, der, als er 1931 Akten des Auswärtigen Amts konsultieren wollte, „mit aller Macht u m die Vorlage eines jeden Aktenbandes kämpfen" musste. Tatsächlich hieß es in einer internen Aktennotiz des Auswärtigen Amts, dass Hallgartens E r suchen abzulehnen sei, da in der Großen Politik „bezüglich unsrer ostasiatischen Politik seit E n d e des neunzehnten Jahrhunderts vorsichtig alles beiseite gelassen worden [ist], was unsere gegenwärtigen oder künftigen Interessen in China kompromittieren könnte". In der Tat wurden dem deutschen Historiker etliche Aktenstücke vorenthalten. N a c h d e m „ H e r r Dr. Hallgarten [ . . . ] die Akten durchgesehen und seine Arbeit beendet" hatte - hieß es in einem Schlussvermerk - wurden die „enthefteten Stücke [ . . . ] wieder eingeh e f t e t " . 1 6 7 In einem anderen Fall aus dem Jahre 1925 wurde einem D o k t o r a n lung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes", in: HZ 131 (1925), S. 310— 318, hier S. 311. 1 6 5 Alfred von WEGERER, Sidney Β. FAY, Bernadotte E. SCHMITT, G[eorge] P. GOOCH, Georges DEMARTIAL, Corrado BARBAGALLO und Augusto TORRE, „,Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914'. Ausländische Gelehrte über die geöffneten deutschen Archive", in: Die Kriegsschuldfrage 4 (1926), S. 899-928, hier S. 909. 1 6 6 In seiner präsidialen Ansprache vor der American Historical Association am 29. 12. 1960 bemerkte Schmitt über die Große Politik: „As a piece of propaganda for the German cause, it proved extraordinarily effective." Dann präsentierte er verschiedene Belege für eine Problematisierung der Editionsarbeit. Bernadotte E. SCHMITT, „With How Little Wisdom...", in: AHR 66 (1960/1961), S. 299-322, hier S. 302. Raymond J. Sontag, Schmitts Vorgänger als amerikanischer Herausgeber der Documents on German Foreign Policy (in der Folge DGFP), hatte 1923 ebenfalls in Berlin die Gelegenheit erhalten, (nur) die Originale der in der deutschen Sammlung abgedruckten Aktenstücke einer Gegenprobe zu unterstellen. Raymond J. SONTAG, „The German Diplomatie Papers: Publication after Two World Wars", in: AHR 68 (1962/1963), S. 57-68, hier S. 58 und 62. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er dank der in Deutschland erbeuteten Aktenmasse die Große Politik einigen Stichproben unterziehen: ,,[W]hile the tests did not reveal essential documents [...] that were not printed by the editors of Die große Politik, they did reveal that the editors, in making their selection, were influenced by a desire not to make the task of the rulers of the Weimar Republic more difficult, and not to injure the reputation of foreign statesmen who were still active after World War I and who were sympathetic to Germany. The tests clearly demonstrate that Die große Politik is not the complete story of German diplomacy before World War I." Raymond James SONTAG, „Germany", in: Daniel Hfarrison] THOMAS und Lynn M[arshall] CASE (Hg.), Guide to the Diplomatic Archives of Western Europe, Philadelphia 1959, S. 8597, hier S. 87 f. 1961 fiel Sontags Urteil milder aus (siehe unten Anm. 223). 167
George W. F. HALLGARTEN, Imperialismus
vor 1914. Die soziologischen
Grund-
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
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den auf Thimmes Drängen hin die Akteneinsicht verwehrt. Thimmes A r g u mentation liest sich für einen Historiker etwas seltsam: „Bei der Auswahl des Aktenmaterials über die deutsche Politik in Ostasien [...] seien die Herausgeber bis zur äußersten Grenze des für die heutigen politischen Belange Erwünschten gegangen. Wenn jetzt durch einen jungen Studenten, dessen politischen Takt man nicht kenne, die Akten .nachgeprüft' würden und von ihm etwa das eine oder andere nicht veröffentlichte Stück verwertet würde, läge die Gefahr vor, dass unserem amtlichen Werke Unvollständigkeit vorgeworfen würde und das ganze Unternehmen in bedenklicher Weise präjudiziert werde." 168 Diese Erfahrungen stützen die scharfe Kritik des D D R - H i s t o r i k e r s Fritz Klein, dass „der Personenkreis, den man an die gehüteten Schätze des Auswärtigen Amtes heranließ, so sorgfältig ausgewählt [wurde], dass eine allzu unbequeme Opposition gegen die Editionsmethoden der G[roßen] P[olitik] nicht zu befürchten w a r . " 1 6 9 In der Tat war die Beziehung zwischen den Herausgebern und dem Auswärtigen A m t sehr komplex, vielschichtig und verworren gewesen. Diese Konfliktdimension sollte bei der Interpretation aller belegten Aussagen stets quellenkritisch vor Augen gehalten werden. Als erster, häufig nicht genügend berücksichtigter Verflechtungsfaktor galt die ökonomische Abhängigkeit. T h i m m e wurde von seinem Posten als Direktor der Bibliothek des preußischen Landtags beurlaubt und insgeheim v o m Auswärtigen A m t bezahlt, 1 7 0 später erhielt er gar die Diplomatenzulage. 1 7 1 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kriegsschuldfrage in den zwanziger Jahren garantierte allgemein eine gewisse ökonomische Sicherheit, 1 7 2 denn für die Revisionspropaganda standen ungeheure Geldsummen zur Verfügung. Das zweite problematische M o m e n t in der Beziehung stellte die Kontrolle und die Zensur des Auswärtigen A m t s dar. In der Tat hatte sich das A m t seit dem Friedensvertrag zu einer potenten und weit verzweigten Propaganda-
lagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg, Bd. 1, München 2 1963, S. V I I I - I X . Für weitere Belege der Entheftungspraktik und der Kreation neuer geheimer Dossiers im Archiv des Auswärtigen Amts, um sie den gesuchstellenden Forschern vorzuenthalten, vgl. Isabella M. MASSEY, „German diplomatic documents", in: Times Literary Supplement (16. 10. 1953), S. 661. 168 Zit. nach Norman RICH und M. H. FISHER (Hg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Bd. 1: Erinnerungen und politische Denkwürdigkeiten, Göttingen 1956, S. 180, Anm. 25. (Zuerst Englisch: The Holstein Papers, Cambridge 1955.) Vgl. ebenfalls EPSTEIN, „Erschließung", S. 207 und Anm. 207. 169 Fritz KLEIN, „Über die Verfälschung der historischen Wahrheit in der Aktenpublikation ,Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914'", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1959), S. 318-330, hier S. 319. 1 7 0 H E I N E M A N N , Niederlage, S. 81. 171 Vgl. Annelise THIMME, „Politischer Publizist", S. 229 und Anm. 39. 172 Als Relativierung der ökonomischen Abhängigkeit soll hier festgehalten werden, dass mindestens in einem Falle, wenn auch freilich in der Anfangsphase, Friedrich Thimme mit seinem Rücktritt drohte. Siehe HEINEMANN, Niederlage, S. 81.
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maschine entwickelt. 1 7 3 Aus dem E n d e 1918 kreierten ,Spezialbüro von B ü low', welches deutsche Akten z u m Kriegsausbruch sammelte und sie unter anderem für die deutsche Delegation an der Friedenskonferenz zur außenpolitischen N u t z u n g aufarbeitete, 1 7 4 wurde ein Kriegsschuldreferat geschaffen, dessen Existenz und Wirkung eines der „bestgehüteten Staatsgeheimnisse der Weimarer R e p u b l i k " 1 7 5 blieb. Diesem Kriegsschuldreferat, das über eine beachtliche personelle Besetzung und beträchtliche finanzielle Mittel 1 7 6 verfügte, oblag nebst der Sammlung und Publikation der Dokumente, welche gegen die Kriegsschuldanklage verwendet werden konnten, die interne Zensur, Kontrolle und Begutachtung für die Freigabe dieses Aktenmaterials, 1 7 7 v o r allem aber die diskrete Lenkung der gesamten weit verzweigten Kriegsschuldpropaganda. D e r Staatsrechtler und Pazifist H e r m a n n K a n t o r o w i c z hatte die ganze W u c h t der Macht des Referates zu spüren bekommen, als das von ihm in offiziellem Auftrag verfasste Gutachten zur Kriegsschuldfragei7i schließlich unterdrückt und nicht veröffentlicht wurde. E r hatte es gewagt, entgegen dem offiziellen Revisionsparadigma, die deutsche Verantwortung für die fahrlässige Herbeiführung des Krieges zu betonen. 1929 beschrieb er weitsichtig die Tätigkeit der „gigantischen Organisation" der Kriegsschuldpropaganda: ,,[S]ie verfügt über eigene parlamentarische, diplomatische, offiziöse, wissenschaftliche, pädagogische, journalistische, buchhändlerische, kaufmännische, militärische, kirchliche Unterorganisationen und Veranstaltungen: Amtsstellen, Büros, Vereine, Verbandsausschüsse, Verlagsbetriebe, Sammelwerke, Schriftenreihen, Aktenveröffentlichungen, Zeitschriften, Korrespondenzen, Ausstellungen, Enqueten, Beleidigungsprozesse, Flugblätterversand, Bearbeitung von Auswanderern und Auslandsdeutschen, Petitionen, Archive, Schulungswochen, Kinoaufführungen, Vortragsreisen, öffentliche Kundgebungen, Schriftenauslage (in Wartesälen, Lesehallen, Krankenhäusern und auf Dampfern) und so weiter, wobei überall die Kriegsschuldpropaganda teils als Haupt-, teils als Nebenzweck betrieben wird." 1 7 9
1 7 3 Eine knappe Übersicht bieten: SCHIEDER, „Erster Weltkrieg", S. 844-847; HLLDE BRAND, Außenpolitik, S. 53-57; Fritz FISCHER, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969, S. 668-671. Für eine eingehende Behandlung siehe: Imanuel GEISS, „Die manipulierte Kriegsschuldfrage. Deutsche Reichspolitik in der Julikrise 1914 und deutsche Kriegsziele im Spiegel des Schuldreferats des Auswärtigen Amtes, 1919-1931", in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 34 (1983), S. 31-60. Ferner die beiden Dissertationen: HEINEMANN, Niederlage, passim und JÄGER, Forschung, passim. 1 7 4 Für das ,Spezialbüro von Bülow', benannt nach Bernhard Wilhelm von Bülow, vgl. GEISS, „Kriegsschuldfrage", passim·, HEINEMANN, Niederlage, S. 37-39. 1 7 5 GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 31. 1 7 6 Vgl. SCHRAEPLER, „Forschung", S. 324. 1 7 7 Vgl. GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 34 und 40. 1 7 8 Vgl. oben Anm. 25. Kritisch dazu Wolfgang J. MOMMSEN, „Zur Kriegsschuldfrage 1914", in: HZ 212 (1971), S. 608-614. 1 7 9 Hermann KANTOROWICZ, Der Geist der englischen Politik und das Gespenst der Einkreisung Deutschlands, Berlin 1929, S. 448, Hinweis in GEISS, „Kriegsschuldfrage",
S. 3 2 .
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Was freilich Kantorowicz ignorieren musste, als er diesem aufs Strengste organisierten Unternehmen das Fehlen einer „letztefn] Zusammenfassung" attestierte, war, dass die „Tausende[nJ von Fäden" schließlich alle im Kriegsschuldreferat des Auswärtigen Amts zusammenliefen. 180 Bis zum Frühjahr 1921 hatte nämlich das Auswärtige Amt drei für die Öffentlichkeitsarbeit bestimmte und nach außen als unabhängig auftretende Organisationen gegründet: das Büro zur Herausgabe der politischen Akten des Auswärtigen Amtes, geleitet von den Herausgebern der Großen Politik, die Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen und den Ausschuss Deutscher Verbände. Die Überlegungen, die Kriegsschuldkampagne als private Initiativen zu tarnen, reichten bis in das Jahr 1919 zurück, als im Auswärtigen Amt mit schonungsloser Offenheit erkannt wurde, dass „amtliches Material in allen Ländern diskreditiert" ist „und der Wert des unsrigen [...] im Ausland noch unter dem Wert der Mark" liegt. Hingegen würden „Aussagen einzelner Personen", „wenn die nur glaubhaft frisiert werden", vor allem von „Rechtsfreunde[n], Pazifisten und andere[n] Schwarmgeistern]", sehr viel williger angenommen werden. 181 Die Forschungen von Imanuel Geiss zeigen eindrücklich, in welchem Ausmaß das Auswärtige Amt diese drei Organisationen „politisch, administrativ und finanziell [...] an und in der Hand" hatte: „Generell lässt sich die Tätigkeit des Schuldreferats als direkte oder indirekte Steuerung der deutschen Kriegsunschuldkampagne zusammenfassen, vor allem durch Lancierung oder Förderung von Publikationen der verschiedensten Art". Eine interne Aufzeichnung des Auswärtigen Amts beschreibt die Aufteilung der Aufgaben dieser „Frontorganisationen" des Schuldreferates: 182 „1) Büro zur Herausgabe der politischen Akten des Auswärtigen Amtes von 1871 bis 1914 [...]. Die ersten 6 Bände erscheinen in kürzester Zeit [...]. Der Text wird vor dem Druck vom Amt geprüft. 2) Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen, nach außen unabhängig [...] Aufgaben: Sammlung und Sichtung des historischen Materials über die Kriegsursachen, Auskunfterteilung an Private und Vereine. Veröffentlichung von knappen, sachlichen Darstellungen, Fertigung von Berichten und Gutachten für das Amt. Die Zentralstelle arbeitet zusammen mit Berliner Gelehrten und Politikern. [...] 3) Ausschuss Deutscher Verbände. Die wichtigsten deutschen politischen Vereine, von deutschnationalen bis zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften, haben sich auf Veranlassung des Amtes für die Kriegsschuldfrage zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, die ständig an Boden gewinnt. [...] Der Zweck, die Schuldfrage einigermaßen außerhalb der parteipolitischen Diskussion zu halten, eine maßvolle gleichmäßige Auffassung überall durchzusetzen und unüberlegte Aktionen zu verhindern, wird in zunehmendem Maße erreicht. Beeinflussung der Presse, der Redetätigkeit, Vertrieb guter Literatur, Sammlung der Auslandsbeziehungen." 1 8 3
GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 32. Bernhard Wilhelm von BÜLOW an seinen Nachfolger als Leiter des Kriegsschuldreferates, Hans FREYTAG, 21. 11. 1919, zit. nach GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 35. 1 8 2 GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 32 und 39. 1 8 3 Aufzeichnung „Schuldreferat" für Ministerialdirektor von Schubert, s.d. (aber mit 180 181
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II. Amtliche Akteneditionen
Die Arbeitsteilung der drei Organisationen war klar geregelt: Die Große Politik galt als „Kernstück wissenschaftlicher Bemühungen" 184 für die angestrebte Revision des Versailler Vertrages;185 die Zentralstelle186 mit ihrer eigenen Zeitschrift Die Kriegsschuldfragexi7 war für die Führung des .wissenschaftlichen' Revisionskampfes und die Außenpropaganda zuständig, während sich der Arbeitsausschuss Deutscher Verbände188 auf die Binnenpropaganda in Deutschland konzentrierte. Professor Richard von Delbrueck, der Leiter des Schuldreferates im Auswärtigen Amt, welcher in der Gründungsphase nach eigenen Aussagen „aus der an sich gebotenen Reserve etwas heraustreten" musste, bemerkte im Frühsommer 1921, dass bei den letzteren zwei Organisationen die größte Bereitschaft bestand, „nach den Weisungen des Amtes zu arbeiten". Dennoch musste er gleichzeitig beklagen, dass die Unselbstständigkeit derartig war, „dass ohne solche bis ins einzelne gehende Weisungen nichts" geschehe.189 Sehr bald waren aber beide Organisationen in der Lage, nach den Winken des Amts, eine gigantische Anzahl von Aktivitäten zu entfalten, was den kritischen Zeitgenossen Hermann Kantorowicz zur sarkastischen Frage verleitete: „Welches Hirn soll einem solchen Trommelfeuer auf die Dauer Widerstand leisten?" 190 Die Editionsarbeit an der Großen Politik muss auch vor dem Hintergrund dieses von einer derartig massiven .Unschuldspropaganda' verseuchten gesellschaftlichen Klimas und einer äußerst verflochtenen institutionellen Situation, welche dem scheinbar über unendliche finanzielle Ressourcen verfügenden Auswärtigen Amt eine unglaubliche Machtfülle verlieh, betrachtet werden. So ist es keineswegs verwunderlich, dass nebst vielen amtlichen .Anregungen', wie die Edition durchzuführen sei, ein Beamter im Amt eigens dadem Vermerk „Z[u] d[en] A[kten], 11/2 1922"), zit. nach GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 36. Hervorhebungen von mir, SZ. 1 8 4 GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 44. 1 8 5 In der Tat beabsichtigte die Marx-Regierung im August 1924, nach Abschluss der Publikation der Großen Politik, die ehemaligen feindlichen Regierungen aufzufordern, durch ein internationales Schiedsgericht die Kriegsursachen unparteiisch erforschen zu lassen. Vgl. dazu: EPSTEIN, „Erschließung", S. 209. 1 8 6 Die Zentralstelle wurde 1936 aufgelöst, weil das Erreichen ihrer Ziele im nationalsozialistischen Deutschland als erfüllt galt. Einen kurzen Uberblick über deren Aktivitäten bietet ein Artikel eines Mitarbeiters, den dieser nach der Liquidierung verfasste: August BACH, „Die Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen", in: Berliner Monatshefte 15 (1937), S. 272-282. 187 Pierre Renouvin erkannte sie von der ersten Nummer an als ein „œuvre de propaganda", dessen Geist in der Tradition der Zentralstelle stand: Pierre RENOUVIN, „Les Origines de la guerre. Nouveaux périodiques", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 1 (1923), S. 267. 188 PÜR e ¡ n e zeitgenössische nationalsozialistische Innenansicht vgl. Hans DRAEGER, „Der Arbeitsausschuss Deutscher Verbände", in: Berliner Monatshefte 15 (1937), S. 258-271. 1 8 9 Alle drei Zitate aus einer Aufzeichnung von Prof. Richard von DELBRUECK, 9. 6. 1921, zit. nach GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 38. 1 9 0 KANTOROWICZ, Geist, S. 449, ebenfalls zit. von GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 37.
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mit beauftragt wurde, aus der Selektion der Herausgeber außenpolitisch unerwünschte Enthüllungen zu eliminieren. 191 Das Schuldreferat übte also die „politische Zensur" 1 9 2 aus, trotz Thimmes gegenteiliger öffentlicher Beteuerungen 193 . Wie der Leiter des Schuldreferates in einer Aufzeichnung für seinen Staatssekretär mitteilte, war der Text der ersten Bände der Großen Politik „auf etwaige politische Bedenken geprüft worden, wie dies bei den KautskyAkten [...] geschah." Gleichzeitig beklagte sich Delbrueck, dass das Schuldreferat „nicht die genaue Ubersicht über die augenblickliche politische Lage und die etwa auf Persönlichkeiten des Auslandes zu nehmenden Rücksichten [habe], um die Zensur der Veröffentlichung vornehmen zu können." 1 9 4 Georges Bonnin wies schließlich nach, wie das Auswärtige Amt die Akten über Bismarcks Rolle bei der spanischen Thronkandidatur der Hohenzollern auch den Herausgebern der Großen Politik vorenthielt. 195 Thimme selbst zeigte sich nur einmal „etwas betroffen", nämlich als man ihm in der Angelegenheit russischer Akten, welche das Auswärtige Amt durch Bestechung erhalten hatte, „immer ein wenig hinters Licht zu führen gesucht hat." 1 9 6 Insgesamt lässt sich deutlich belegen, dass das Auswärtige Amt Steuerung, Kontrolle und Zensur von Akteneditionen ausübte und erst bei zufrieden stellenden Resultaten das placet zum Imprimatur gab. Bestand diese Zensur anfänglich im Weglassen von einzelnen Textstellen oder gar von ganzen Dokumenten, verschärfte sie sich in der letzten Phase der Weimarer Republik massiv. 197 Dank des steigenden Druckes aus dem rechtsnationalistischen Lager konnte das Amt die Publikation von unerwünschtem Material schließlich vollständig unterdrücken, wie das 1927 mit der Ausschaltung des störenden Gutachtens zur Kriegsschuldfrage{,)S von Hermann Kantorowicz und 1931 mit der Kaltstellung der drei unbequemen Urkundenbände des Zweiten Unterausschusses des Untersuchungsausschusses 199 des Deutschen Reichstags HEINEMANN, Niederlage,S. 81. Aufzeichnung von Prof. Richard von DELBRUECK, Leiter des Kriegsschuldreferates, 7. 5. 1921, zit. nach GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 55, Anm. 78. 1 9 3 So beispielsweise in einer Ansprache Thimmes vom 13. 6. 1922: „Wohl aber gilt unser Dank der absoluten Freiheit von jeder Zensur, der absoluten Selbstständigkeit, die das Auswärtige A m t uns [...] gelassen hat". THIMME, „Aktenpublikation", S. 69. 1 9 4 Aufzeichnung von Prof. Richard von DELBRUECK, Leiter des Kriegsschuldreferates, für Staatssekretär Edgar HANIEL von HAIMHAUSEN, 6. 5. 1921, zit. nach GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 55, Anm. 78. 1 9 5 BONNIN, Bismarck, S. 35f und Anm. 3. 1 9 6 Brief von Friedrich THIMME an Albrecht MENDELSSOHN BARTHOLDY, Berlin, 27. 7. 1924, in: Annelise THIMME (Hg.), Briefe, D o k . 140, S. 231. Im Thimme-Nachlass wurde betreffend der Konflikte mit dem Auswärtigen A m t nur diese (marginale) Stelle gefunden, was Annelise Thimme, die Bearbeiterin des Nachlasses, zu dem Schluss führte, dass Thimme zweifellos „weitgehend d'accord mit dem Auswärtigen A m t " war. Annelise THIMME, „Politischer Publizist", S. 232. 1 9 7 Vgl. GEISS, „Kriegsschuldfrage", S. 44. 1 9 8 Vgl. oben Anm. 25. 1 9 9 Der Ende August 1919 gebildete und bis 1931 tagende Untersuchungsausschuss der 191
192
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II. Amtliche Akteneditionen
über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs 1918 eindrücklich demonstriert wurde. Diese Situation erklärt die umstrittene Rezeption der Großen Politik, eine heftige und langandauernde Kontroverse, die bis in unsere Tage anhält. In Deutschland hingegen wurde die Aktensammlung von der zeitgenössischen Öffentlichkeit als Folge der Propaganda enthusiastisch 200 aufgenommen und als „eine ausgezeichnete Waffe in dem Kampfe Deutschlands um sein Ansehen in der Welt" 2 0 1 gepriesen. Denn in „der Weimarer Zeit haben die deutschen Historiker untereinander keine Kontroversen geführt [...], wohl aber wurden die Auseinandersetzungen über die Kriegsursachen von 1914 als Kampf geführt, freilich nicht intern, sondern nach draußen hin". 2 0 2 So wurde Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung war als eine Art parlamentarische Enquete konzipiert worden. Hauptaufgabe war die Untersuchung der Ursachen des Krieges, dessen Verlängerung und dessen Verluste. Der ehemalige Geschäftsführer, Eugen Fischer-Baling, legte 1954 dar, wie mit der Zeit im Untersuchungsausschuss jene Kräfte Auftrieb erhielten und tonangebend wurden, die an dem Grundsatz festhielten, „um keinen Preis deutsche Fehler oder gar deutsche Herausforderungen zuzugeben, weil sie das als ein Beschmutzen des eigenen Nestes werteten und davon eine Verschlechterung der deutschen Position im Kampf gegen den Versailler Vertrag fürchteten." Eugen FISCHER-BALING, „Der Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des ersten Weltkrieges", in: Aus Geschichte und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ludwig Bergstraesser, hrsg. von Alfred HERMANN, Düsseldorf 1954, S. 117-137, hier S. 136. Was Fischer-Baling jedoch verschwieg, war seine nicht unerhebliche Rolle bei der Unterdrückung des Kantorowicz'schen Gutachtens (vgl. die Einleitung von Imanuel Geiss, in: KANTOROWICZ, Gutachten, S. 29-43). - Für die NichtVeröffentlichung der Materialien über den Frieden von Brest-Litowsk wegen der „Inhibierung" (S. 544) des Auswärtigen Amts siehe Werner HAHLWEG, „Das hinterlassene Werk des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Zweiter Unterausschuss der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung über den Frieden von Brest-Litowsk 1918", in: Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer, hrsg. von Rudolf VIERHAUS und Manfred BOTZENHART, Münster 1966 (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 9), S. 537-554. Vgl. ebenfalls HERWIG, „Clio Deceived", S. 108-117. 200 £)¡ es SQII a b e r keineswegs bedeuten, dass es in Deutschland keine grundsätzlichen Gegner der Publikation gab, wie beispielsweise in gewissen diplomatischen Kreisen, mit welchen Thimme in langen Fehden im Berliner Tageblatt abrechnete. Vgl. z.B. für die Opposition des Fürsten Bülow: THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 220 f. Für eine Sicht der diplomatischen Kreise und ihre Opposition zum „wissenschaftliche[n] Fanatismus" (S. 474) und eine Grundsatzdarstellung der linken und rechten Kritik: THIMME, „Gegner", S. 470 und 473—475. Dennoch mussten diese kritischen deutschen Stimmen beim Erscheinen der ersten Bände verstummen (ibid., S. 482), denn danach galt es, den Publikationszwang auf die anderen Regierungen durchzusetzen. Dies soll aber keineswegs heißen, dass abseits der Öffentlichkeit keine Intrigen gegen die Quellenedition geführt worden wären (vgl. z. B. unten Anm. 231 ), aber in der Frage der Publikation gab es - wie Thimme bemerkte - „kein Zurück mehr" (ibid., S. 492). Bernhard SCHWERTFEGER, „Das große Aktenwerk des Auswärtigen Amtes und die Geschichtsforschung", in: ders., Kriegsgeschichte und Wehrpolitik. Vortrage und Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Potsdam 1938, S. 291-311, hier S. 293. 2 0 2 Konrad REPGEN, „Methoden- oder Richtungskämpfe in der deutschen Geschichtswissenschaft seit 1945?", in: GWU 30 (1979), S. 591-610, hier S. 600. Für Thimmes 201
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die Klimax der zeitgenössischen Diskussion in der Auseinandersetzung mit der französischen Kritik erreicht. 2 0 3 Die beanstandeten Mängel wurden alle mindestens im Ansatz bereits in der zeitgenössischen Kritik aufgegriffen. Sukzessiv erweiterte Quellenkenntnisse, welche nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Auswertung der erbeuteten deutschen Akten seitens der Alliierten gewonnen werden konnten und die ihren Niederschlag zweckrational zur Legitimierung der alliierten Edition der Documents on German Foreign Policy in einer Kontroverse in den Spalten des Times Literary Supplement204 im Jahre 1953 fanden, verfeinerten das Bild und brachten erst die Belege für die bislang gehegten Vermutungen. Nichtsdestotrotz soll hier ausdrücklich angemerkt werden, dass diese Kontroverse funktional zur Frage der Rückgabe der erbeuteten deutschen Akten von britischen Historikern, die dies zu verhindern trachteten, entfacht wurde und dass das Argument der Schwächen der Großen Politik von Anfang an von den Verantwortlichen für das alliierte Editionsprojekt stets vorgeschoben worden war 2 0 5 . Aufforderung zu einem größeren Engagement berufsmäßiger Historiker bezüglich Veröffentlichungen in der Zeitschrift Die Kriegsschuldfrage, vgl. seinen Aufsatz: Friedrich THIMME, „Die Auswertung der Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes für die Kriegsschuldfrage", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 387-395. 203 Vgl. beispielsweise die K o n t r o v e r s e zwischen dem französischen H i s t o r i k e r A . L a jusan und Albrecht Mendelssohn Bartholdy: „ C h r o n i q u e " , in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 3 ( 1 9 2 5 ) , S. 2 8 8 . [Albrecht] MENDELSSOHN BARTHOLDY, „ C o r r e s p o n -
dance: Une lettre de M. Mendelssohn-Bartholdy", in: ibid. 4 (1926), S. 191-192. Albrecht MENDELSSOHN BARTHOLDY, „ K l e i n e Missverständnisse über eine große Publi-
kation", in: Europäische Gespräche 4, Nr. 7 (Juli 1926), S. 377-390. [A. LAJUSAN,] „Les Relations anglo-allemandes, 1898-1901, in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 5
( 1 9 2 7 ) , S. 9 2 - 9 4 . [A. LAJUSAN,] „ L e recueil . D i e G r o ß e Politik': U n e lacune singulière",
in: ibid. (1927), S. 303-304. Die Kontroverse, von einer - wie im Times Literary Supplement üblich - anonymen Rezension augelöst, über die Documents on German Foreign Policy entwickelte sich in einer ganzen Reihe von Leserbriefen unter dem jeweiligen Titel „German diplomatic documents": Anonymer Rezensent, „Hitler and the smaller powers", in: Times Lite-
204
rary Supplement (31. 7. 1953), S. 4 9 0 . A g n e s HEADLAM-MORLEY, in: ibid. (14. 8. 1953), S. 5 2 1 . L l e w e l l y n WOODWARD und R o h a n BUTLER, in: ibid. (21. 8. 1953), S. 535. A n o n y m e r R e z e n s e n t , in: ibid. ( 2 1 . 8 . 1953), S. 535. A . J . P. TAYLOR, in: ibid. (4. 9. 1953), S. 5 6 5 . Isabella M . MASSEY, in: ibid. (11. 9. 1953), S. 5 8 1 . A g n e s HEADLAM-MORLEY, in:
ibid. (18. 9. 1953), S. 597. Anonymer Rezensent, in: ibid. (18. 9. 1953), S. 597. Llewellyn
WOODWARD und R o h a n BUTLER, in: ibid. (25. 9. 1953), S. 613. J a m e s JOLL, in: ibid. (25. 9. 1953), S. 6 1 3 . Isabella Μ . MASSEY, in: ibid. (16. 10. 1953), S. 6 6 1 . E i n e Z u s a m -
menfassung der Kontroverse bietet: F[ritz] E[RNST], „Londoner Diskussion über die deutsche Aktenausgabe ,Die Große Politik der Europäischen Kabinette'", in: Die Welt
als Geschichte
13 ( 1 9 5 3 ) , S. 2 7 4 - 2 7 5 .
205 Vgl ¿¡ e frühen Überlegungen im Jahre 1946 zum Editionsprojekt der DGFP, z.B. Memo. „Issues Involved in the Proposed Publication of German Official Documents" (wie unten S. 202, Anm. 194): „The possession of the German Foreign Office Documents and other official papers by the British and United States Governments affords a unique opportunity to publish a record of German diplomacy from 1918 to 1945 before the documents are handed back to the German Government. It is now possible to make sure that incriminating documents in these files will not be suppressed as would proba-
70
II. Amtliche Akteneditionen
Die Kritik teilte sich in editionstechnische und inhaltliche Mängel: Zu den ersteren gehörten die Vorwürfe der nicht-chronologischen Anordnung der Dokumente und des tendenziösen Anmerkungsapparates; zu den letzteren diejenigen der Unvollständigkeit, der selektiven Auswahl und der verschleiernden Kürzungen. Zunächst wurde editionstechnisch die sachlich-systematische Anordnung der Aktenstücke kritisiert. Die deutschen Herausgeber hatten nämlich statt einer streng chronologischen Reihenfolge der Dokumente, wie sie in der französischen Quellensammlung Les origines diplomatiques de la guerre de 1870-187120(> strikt befolgt wurde, eine nach sachlichen Kapiteln gegliederte gewählt. Diese Strukturierung erfolgte aus der Überlegung heraus, dass dies die „praktisch-politische Brauchbarkeit der Publikation für die große Öffentlichkeit" 207 gewährleiste und „eine beschleunigte Wirkung [...] in aller Welt" 2 0 8 herbeiführe, da dank des gezielten Zugangs zu den Akten die Verwertbarkeit der Edition für die Presse und die Laien erleichtert würde. Die sachliche Anordnung erwies sich aber für die wissenschaftliche Verwendung als unzweckmäßig. Aufgrund dieses Mangels und als Antwort auf die Kritiker gab Oberst a.D. Bernhard Schwertfeger parallel zur Edition einen .Wegweiser' 209 heraus, welcher Tabellen mit der nach Absendedatum geordneten Abfolge der Aktenstücke in der Großen Politik enthielt. Rückblickend meinte Thimme 1937, dass die systematische Methode zwar „weit mehr geglückt sei, als es durch eine völlig auf akademisch-wissenschaftlichen Prinzipien beruhende Veröffentlichung hätte geschehen können", 2 1 0 jedoch bedauerte er als Historiker nun doch das Fehlen eines chronologischen Musters bei allen Editionen der Vorkriegsakten. In der Tat hatte Thimme beim komplizierten Vorgehen der sachlichen Zusammenführung der Aktenstücke - was auch im schlimmsten Fall das Auseinanderreißen von Aktenteilen und deren Abdruck in verschiedenen Kapiteln implizierte - derart die Ubersicht verlobly happen if a future G e r m a n Government, following the example of the Weimar R e public as regards the G e r m a n diplomatic papers of 1 8 7 1 - 1 9 1 4 , were to publish the d o c uments of the period between the w a r s . " Vgl. ferner die Berichte der Herausgeber der Documents, die verschiedene Beispiele angeblich unterschlagener D o k u m e n t e sowie für T h i m m e kompromittierende K o r r e s p o n d e n z e n enthalten: James JOLL, „ R e p o r t on the p r e - 1 9 1 4 Archives of the G e r m a n F o r e i g n Ministry", O x f o r d , 1. 3. 1952 und Jacques GRUNEWALD, „ N o t e s sur les sondages effectues dans la Große Politik au sujet de la Crise Marocaine de 1 9 1 1 " s.l., Februar 1952, beide in N A , R G 59, Bureau of P u b lic Affairs - Historical Office, R e c o r d s relating to the G e r m a n D o c u m e n t s Project, 1 9 4 4 - 1 9 8 3 , B o x 18, „Conference O c t . 1 9 5 0 " . Vgl. dazu unten S. 86 und A n m . 2 8 6 . THIMME, „Aktenpublikation", S. 74. 2 0 8 THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 2 2 2 . 2 0 9 Bernhard ScHWERTFEGER, Die Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871-1914. Ein Wegweiser durch das große Aktenwerk der Deutschen Regierung, 5 Bde., Berlin 1 9 2 3 - 1 9 2 7 . F ü r eine Darstellung dessen Entstehungsgeschichte: SCHWERTFEGER, „Das große A k t e n w e r k " , S. 2 9 2 f . 206 207
210
THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 2 2 2 .
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71
ren, dass er manchen Textabschnitt mehrmals publizierte. 211 In der Nachkriegszeit erfuhr die Gliederung der Großen Politik eine massive Kritik von sowjetischer Seite: Die Methode gestatte es, „viele wichtige Momente zu verbergen, andere zu verwirren, dritte unvollständig zu beleuchten und dem Forscher alles in allem eine apologetische Konzeption des deutschen Imperialismus aufzuzwingen". Daher müsse der Forscher „vorher eine große destruktive Arbeit bewältigen, das ihm aufgezwungene Schema zerbrechen und diese Dokumente auf eine neue und richtige Weise lesen." Im Allgemeinen, dozierte apodiktisch Professor Jerussalimski, der Verfasser dieser Kritik, stellten „bürgerliche Veröffentlichungen diplomatischer Dokumente nicht nur ein Arsenal für bestimmte historische Konzeptionen apologetischen Charakters, sondern auch eine direkte Waffe des politischen Kampfes" dar. Nicht umsonst wurde ihm 1950 für seine Arbeit vom Ministerrat der UdSSR den Stalinpreis Zweiter Klasse verliehen. Auch die Anmerkungsweise der Herausgeber wurde beanstandet, in der schärfsten Form wiederum von Jerussalimski, der in einer Reihe von Fällen von „offensichtlich tendenziösen Anmerkungen" sprach. 212 In der Tat hatten die Herausgeber, trotz Thimmes gegenteiliger Beteuerungen, „die Akten soviel wie möglich allein reden [zu] lassen", 213 nebst den gewöhnlichen editionstechnischen Aufschlüsselungen, wie beispielsweise Angaben zu nicht gedruckten oder nicht gefundenen Akten sowie Querverweisen, das ganze Werk mit einer Fülle von erklärenden Glossen versehen - „destinées à corriger l'impression qui ressort de la correspondance publiée" 214 - , welche sich zeitweilig wie ein Leitfaden für eine bestimmte Interpretationsrichtung lasen. Trotz der Ausrede der Herausgeber, der Leser könne ja „die Anmerkungen mit der Hand verdecken", 215 bleibt das Verfahren methodisch unkorrekt, wie selbst der sonst eher defensiv über die Große Politik urteilende Winfried Baumgart anmerkte. 216 In inhaltlicher Hinsicht wurde einerseits bemängelt, dass die ersten Bände der Großen Politik viel unvollständiger seien als die bis zuletzt 29 Bände umfassende französische Aktensammlung Les origines diplomatiques de la guerre de 1870-187i.217 Eine relativ harmlose Kritik, denn letztere deckte freilich nur den deutsch-französischen Konflikt ab und war deshalb nicht direkt mit dem großen deutschen Unternehmen, die ganze Zeitspanne von 1871 bis 1914 zu dokumentieren, vergleichbar.218 Andererseits - und dies 211
BAUMGART, Quellenkunde,
S. 1 3 .
Afrkadij] Sfamsonowith] JERUSSALIMSKI, Die Außenpolitik und die Diplomatie des deutschen Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin (Ost) 1954 (russisch 1948), S. 26-28. 2 1 3 THIMME, „Aktenpublikation", S. 70. 2 1 4 Camille BLOCH, „Les Documents officiels sur les origines de la guerre", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 7 (1929), S. 193-215, hier S. 206. 212
215 216
217 218
MENDELSSOHN BARTHOLDY, „ K l e i n e M i s s v e r s t ä n d n i s s e " , S. 3 8 3 . BAUMGART, Quellenkunde,
S. 1 5 .
Vgl. dazu unten S. 86 und Anm. 286. Dementsprechend bekundete einer der Herausgeber der Großen Politik keine
72
II. Amtliche Akteneditionen
stellte eine viel gravierendere Kritik dar - wurde vor allem im Ausland 2 1 9 die Auswahl der Dokumente als selektiv und apologetisch kritisiert. 220 In der Tat wissen wir heute, dass nebst den oben angeführten Eingriffen des Auswärtigen Amts, welches Thimme Aktenmaterial vorenthielt und die Edition einer regelrechten Zensur unterzog, sich auch die fügsamen 221 Herausgeber der Großen Politik zuweilen aus politischen Überlegungen unter eine patriotisch inspirierte antizipierende Selbstzensur stellten. 222 So gab Thimme Ende 1928 in einem Brief an Professor Otto Becker zu, aus Rücksichtnahme auf den Anschlussgedanken die historische Argumentation der Überlegungen des Reichskanzlers von Bülow aus dem Jahre 1905 zur Aufteilung des Erbes der Habsburgermonarchie nach dem Tode Kaiser Franz Josephs nicht in die Veröffentlichung aufgenommen zu haben. 2 2 3 Im turbulen-
Mühe zuzugeben, dass „in der Tat [...] dieses große Werk gelehrter Forschung in der Vollständigkeit seiner Urkundenwiedergabe unserer Publikation überlegen ist." MENDELSSOHN BARTHOLDY, „Kleine Missverständnisse", S. 383.
219 VGL beispielsweise: [LAJUSAN,] „Recueil". In Frankreich wurde ebenfalls insistent die rhetorische Frage gestellt: „Dans quelle mesure les éditeurs garderont-ils leur liberté, pour le choix et la publication des pièces? Ne seront-ils pas enclins à une discrétion, étrangère aux préoccupations de l'historien?" Siehe „Chronique", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 3 (1925), S. 288. 2 2 0 Ironischerweise wurde in Deutschland die umgekehrte Kritik formuliert, dass nämlich die Herausgeber im Sinne der revolutionären Regierung die Auswahl mit dem Ziel trafen, die „Schuld, Nachlässigkeit oder Unfähigkeit der früheren Träger der Staatsgewalt" zu zeigen (MENDELSSOHN BARTHOLDY, „Kleine Missverständnisse", S. 386). Diese Kritik musste aber alsbald schweigen (vgl. oben Anm. 200). 221
MASSEY, „Documents", S. 661.
Eine gute Darstellung, freilich nach großzügiger Ignorierung der systembedingten verbalen Ergüsse gegen die „imperialistischen Historiker", bietet der DDR-Historiker Hans Schleier dank Einsicht in die Nachlässe von Thimme, Schwertfeger, Meinecke u. a.: Hans SCHLEIER, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975 (Akademie der Wissenschaften der DDR, Schriften des Zentralinstituts für Geschichte, Bd. 40), S. 139-157. 2 2 3 Brief von Friedrich THIMME an Prof. Otto B E C K E R , s.l., 27.12. 1928. Ein ins Englische übersetzter Auszug befindet sich in: James JOLL, „German diplomatie documents", in: Times Literary Supplement (25. 9. 1953), S. 613: „The only reason why I have printed only part of this instructions is, as you will have realised yourself, according to my honest conviction - reinforced after a careful re-reading of the material that the reproduction of the omitted part would mean a heavy blow to the idea of Anschluss and that means to our entire Foreign Policy. [...] If the now omitted portion of the despatch of the 14th April, 1905, were to be published or even merely summarised, a controversy, highly undesirable and damaging both in home and foreign affairs, would arise, which could only please French opponents of the Anschluss idea". Vgl. ebenfalls BAUMGART, Quellenkunde, S. 13. Sontag relativierte diese Auslassung. In der Tat versuchte Thimme, auch in diesem Falle die historische Objektivität mit dem politisch Opportunen zu versöhnen. So enthielt das abgedruckte Aktenstück durchaus einige zentrale Auszüge über die deutschen Bedenken, dass Österreich Deutschland „namentlich vom protestantischen Standpunkte aus" schwächen würde (Große Politik, Bd. 19, Teil 2, Dok. 6305, S. 598 f.). Ausgelassen worden war eine lange historische Argumentation (in englischer Ubersetzung abgedruckt bei: J O L L , ibid.). Unehrlich han222
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
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ten Frühjahr 1925, als die Publikation im Auswärtigen Amt arg unter Druck geriet, 224 schrieb Thimme an seinen Mitherausgeber Mendelssohn Bartholdy, „doch gewisse Rücksichten, z.B. auf die Neutralen, [zu] nehmen und nicht ohne N o t und Zwang Urteile [zu] bringen [...], die ganze Völker kränken müssen. [...] Ich habe auch sonst Stücke lieber nicht aufgenommen, die, ohne zur Feststellung der tatsächlichen Wahrheit in Kriegs- und Friedensfragen etwas beizutragen, das englische oder französische Volk verletzen müssen." 2 2 5 Einen weiteren Beleg seiner Bereitschaft, nichts Kompromittierendes zu veröffentlichen, liefert ein Brief Thimmes vom 9. September 1922, in dem er das Auswärtige Amt ersuchte, ihm zur Erstellung einer Aktenedition über Bismarck Einsicht in die Akten der Zeit von 1862 bis 1890 zu gewähren. „Es ist selbstverständlich," fügte Thimme hinzu, „dass für den Abdruck, bei dem es sich überhaupt nur um Schriftstücke von programmatischer Bedeutung, also um eine Auslese der wichtigsten Schriftstücke Bismarckscher Provenienz handelt, nur solche Schriftstücke heranzuziehen sein werden, bei denen ein politisches Bedenken nicht vorliegen kann, wofür ich nach den bei der großen Aktenpublikation gesammelten Erfahrungen einen leidlich sicheren Blick zu haben glaube." 2 2 6 Schließlich gingen die Herausgeber in ihrem Eifer, belastende Dokumente zu unterdrücken, mindestens in einem Falle so weit, dass sie sich überlegten, eine „unglückselige" Notiz von Bethmann Hollweg aus dem Archiv des Auswärtigen Amts zu entfernen und sie in den Privatbesitz der Familie zu überführen: „[M]an müsste allerdings feststellen," so Mendelssohn Bartholdy in einem vertraulichen Brief an Thimme vom 13. Januar 1921, „ob es außer dem Original, das wir vor uns hatten, auch Abschriften in anderen Akten gibt, die dann ebenfalls zu entfernen wären." 2 2 7 Nebst der Zensur des Auswärtigen Amts und der Selbstzensur der Herausgeber trat als weiteres unterdrückendes Moment auch der Eingriff ausdelte Thimme wenn er bemerkte: „Die weitere Ausführung dieses Gedankens gehört in einen anderen Zusammenhang" (Große Politik, Bd. 19, Teil 2, S. 599, Anm. *). Abschließend beurteilte Sontag: „Repeatedly one is driven to the conclusion that the text of Die Große Politik is as complete as could be expected in a collection dealing with the recent past; it is the footnotes that are misleading." (SONTAG, „Diplomatic papers", S. 61 f.) Sontags Urteil war aber noch 1959 eine Nuance schärfer ausgefallen (siehe oben Anm. 166). 2 2 4 Siehe unten Anm. 228-231. 2 2 5 Brief von Friedrich THIMME an Albrecht MENDELSSOHN BARTHOLDY, Berlin, 28. 2. 1925, in: Annelise THIMME (Hg.), Briefe, Dok. 150, S. 250. Auszugsweise ebenfalls abgedruckt in: Annelise THIMME, „Politischer Publizist", S. 230, Anm. 40. 2 2 6 BONNIN, Bismarck, S. 35 f., Anm. 3. 2 2 7 Brief von Albrecht MENDELSSOHN BARTHOLDY an Friedrich THIMME, 13. 1. 1921, zit. nach SCHLEIER, Geschichtsschreibung, S. 150. Zwei Wochen später, am Mittwoch, den 26. 1. 1921, schrieb Mendelssohn Bartholdy in einem Brief erneut, man müsse verhindern, dass das Aktenstück „nicht noch nachträglich ans Licht" komme. Daraus liest Schleier Thimmes Zustimmung für den Aktentransfer, dessen Stattfinden er aber nicht nachweisen konnte. Ibid., S. 150f.
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II. Amtliche Akteneditionen
ländischer Regierungen in Erscheinung. Dies kam nicht unerwartet, denn die Praktik, auf diplomatischer Ebene die Eliminierung unerwünschter Aktenstücke anzustreben, hatte eine lange Tradition, die sich bis zur Auflage der Farbbücher im 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Belege für die Große Politik lassen sich aus diplomatischen Aktionen Italiens 228 und des Vatikans erbringen, „welche gelegentlich einige Empfindlichkeit wegen der Publikation zeigten", 2 2 9 und ebenfalls seitens der japanischen Regierung, die gebeten hatte, keine weiteren Aktenstücke zur Ostasienpolitik in die Sammlung aufzunehmen. 2 3 0 Diese ausländischen Proteste bei der Veröffentlichung der Bände der ersten Serien, welche teilweise von einer „Intrige des Fürsten Bül o w " 2 3 1 angeheizt wurden, zwangen Thimme, in einer an das Schuldreferat gerichteten streng geheimen Denkschrift vom 4. Mai 1925, 2 3 2 wie schon häufig zuvor, „argumenta ad homines diplomáticos" 2 3 3 anzuwenden und die Aktenedition durch Hinweise auf die außenpolitisch sorgfältig abgewogenen Rücksichtnahmen zu verteidigen. So beteuerte Thimme, sich von Anfang an Senatspräsident Tommaso Tittoni, der mehrmals italienischer Außenminister gewesen war, hatte sich schon beim Erscheinen früherer Bände beschwert. Anfang 1925 wurde die Quellensammlung erneut scharfer italienischer Kritik ausgesetzt. Mussolini drückte am 15. 2. 1925 dem deutschen Botschafter in Rom, Konstantin von Neurath, sein Erstaunen darüber aus, dass solche für die deutsche Politik schädliche Publikationen überhaupt bewilligt würden. In einem an Außenminister Stresemann persönlich gerichteten Telegr. vom 16. 2. 1925 bemerkte von Neurath, dass es für die Akten über die Vorkriegszeit zu früh sei, um eine Publikation „nur nach Gesichtspunkten historischer Forschung zu gestatten". (Zit. nach EPSTEIN, „Erschließung", S. 209-210. Vgl. ebenfalls SONTAG, „Diplomatie papers", S. 60.) Thimme teilte in einem Brief an Mendelssohn Bartholdy mit, dass von Neurath in der Folge telegrafisch die Anweisung erhielt, „mit aller Energie gegenüber der italienischen Regierung geltend zu machen, dass unsere Aktenpublikation ein Akt absoluter Notwehr gegen die fortgesetzte und systematische Verunglimpfung und selbst Verleumdung unserer Vorkriegspolitik sei und dass wir bei unserer Selbstenthüllung [...] nicht die weitgehenden Rücksichten nehmen könnten, die sonst gang und gäbe gewesen wären." (Wie unten Anm. 231.) Sontag und Epstein berichteten aber, dass Stresemann in seiner Antwort vom 18. 2. 1925 an von Neurath unterstrichen habe, dass „the fanaticism for truth of our historians" keine sichere Anleitung für die Auswahl der Schriftstücke sei und daher die ausgewählten Dokumente von einem ehemaligen Diplomaten geprüft würden. Erst bei persistenten Beschwerden solle Thimmes Argumentation vorgetragen werden (SONTAG, „Diplomatie papers", S. 61; EPSTEIN, „Erschließung", S. 210). 228
Streng geheime Denkschrift von Friedrich THIMME an das Schuldreferat des Auswärtigen Amts, Berlin, 4. 5. 1925, in: Annelise THIMME (Hg.), Briefe, Dok. 154, S. 255258, hier S. 255. 2 3 0 Annelise THIMME, „Politischer Publizist", S. 230, Anm. 40.
229
231
Brief v o n F r i e d r i c h THIMME an A l b r e c h t MENDELSSOHN BARTHOLDY,
Berlin,
Februar 1925, in: Annelise THIMME (Hg.), Briefe, Dok. 149, S. 248. Gemeint ist Bernhard Fürst von Bülow, Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident von 1900 bis 1909 und Botschafter in Rom von 1914 bis 1916. Für eine öffentliche Abrechnung Thimmes mit den Bülowschen Machenschaften vgl. THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 220 f. 2 3 2 Wie oben Anm. 229. 2 3 3 Wie oben Anm. 225.
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bemüht zu haben, „die primären Grundsätze der unbedingten Wahrhaftigkeit und Offenheit [ . . . ] mit den Interessen unserer Außenpolitik zu vereinen. Auf das Sorgfältigste ist stets der Grundsatz festgehalten worden, nichts zu veröffentlichen, was neutralen Staaten und Staatsmännern zur Beschwerde gereichen könnte." Zudem sei betreffend „nicht ausgesprochen deutschfeindlich[er]" Magistraten „bei der Auswahl des Aktenstoffes und bei der Kommentierung in den Fußnoten mit möglichster Vorsicht verfahren worden." So sei beispielsweise die Selektion der Aktenstücke zur zweiten Marokko-Krise von 1911 „mit der größtmöglichsten Umsicht behandelt worden", um den damaligen französischen Ministerpräsidenten, Joseph Caillaux, davor zu bewahren, dass ihm „für den Fall, dass er wieder zur Macht gelangen sollte, nicht von den chauvinistischen französischen Parteien aus seiner schon damals deutschfreundlichen Haltung ein Strick gedreht werden könne." Weiter sei auch am „schwierige[n] und dornenvolle[n] Kapitel über die .Daily Telegraph'-Affäre [ . . . ] mit besonderer Delikatesse gearbeitet worden" und hinsichtlich des Großadmirals von Tirpitz sei ebenfalls „jede Kritik in den Fußnoten vermieden worden". 2 3 4 Gewiss, solche Aussagen der Herausgeber dürfen nicht ohne jegliche quellenkritische Interpretation aufgenommen werden. Mit Recht hat Fritz Ernst bemerkt, dass Thimmes Äußerungen gegenüber Stresemann diejenigen eines Herausgebers sind, „der alles tun will, um seine Arbeit möglichst unabhängig von offiziellen Einflüssen zu halten, und dazu die (für den Gelehrten kompromittierende) Sprache wählt, die auf einen Politiker Eindruck machen soll." 2 3 5 Dennoch sind die selektive Auswahl der Dokumente und die Auslassungen nicht zu leugnen. Trotzdem bemerkte der amerikanische Historiker Raymond J. Sontag, dass die deutsche Quellensammlung „still stands as a magnificent achievement for which historians are deeply indebted to Thimme and his colleagues." 236 Die gegenwärtige Rezeption der Großen Politik hat natürlich die seit den zwanziger Jahren andauernde Debatte integriert, obwohl nach wie vor eine eingehende Darstellung fehlt. Die heutige Diskussion lässt sich daher auf den gemeinsamen Nenner bringen, dass die Aktensammlung - obschon sie „eine amtliche Apologie der deutschen Vorkriegspolitik" (Friedrich P. Kahlenberg) 2 3 7 sei, die „unzureichend, einseitig 234
Wie oben Anm. 229. Dort S. 256 f. Zur Behandlung der Daily
der Große Politik vgl.: GP, Bd. 24: Deutschland
Telegraph-Affare
in
und die Westmächte 1907-1908, Berlin
1925 2 , Kapitel CLXXVIII: „Die Daily Telegraph-Affäre November 1908", S. 167-210. Ffritz] E[RNST], „Londoner Diskussion über die deutsche Aktenausgabe ,Die Große Politik der Europäischen Kabinette'", in: Die Welt als Geschichte 13 (1953), S. 274 f., hier S. 275. 2 3 6 SONTAG, „Diplomatie papers", S. 62. Die Bemerkung fiel in Auseinandersetzung mit Bernadotte E. Schmitt, vgl. oben Anm. 166. Für Sontags Kritik vgl. oben ebenfalls Anm. 223. 2 3 7 Friedrich P. KAHLENBERG, „Geleitwort", in: Annelise THIMME (Hg.), Briefe, S. V. Dennoch relativierte der als Präsident des deutschen Bundesarchives amtierende Kahlenberg sofort: „Man sollte die patriotischen Motive [der Herausgeber, SZ] [...] nicht 235
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und z.T. irreführend" (Michael B e h n e n ) 2 3 8 und „mit vorwurfsvollem Blick auf den Artikel 231 des Versailler Vertrages und seine juristische Fixierung der deutschen Kriegsschuld" (Ignaz Miller) 2 3 9 zusammengetragen wurde mit der notwendigen quellenkritischen Vorsicht brauchbar sei. 2 4 0 Eine abschließende Würdigung dieser zweifelsohne titanischen Editionsleistung muss zwangsläufig stets das politische Umfeld während der Enstehungsphase mitberücksichtigen. Niemand hat das besser formuliert als Friedrich Thimme selbst. N a c h Abschluss der Edition schrieb er im September 1927 in einem Brief an den Historiker Friedrich Meinecke einsichtig: „Ich war mir von vornherein klar, dass diese große Aufgabe, die ja neben dem wissenschaftlichen auch einen politischen Zweck verfolgte und diesem in Anlage und Durchführung Rechnung tragen musste, sich nicht in Vollkommenheit durchführen lassen werde; aber ich habe doch das Gefühl, dass in Anbetracht der kurzen Zeit von sechs
missverstehen. In der Zeit der Weimarer Republik standen die Motive der Kriegsschuldforschung allenthalben unter politischen Gesichtspunkten, hatten sich doch unter polemischen Vorzeichen entfaltet, noch ehe die Veröffentlichung der einschlägigen Archivalien abgeschlossen war." Ibid., S. V - V I . 2 3 8 Michael BEHNEN, Quellen zur deutschen Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus 1890-1911, Darmstadt 1977 (Ausgewählte Quellen der deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 26), S. X I X . 2 3 9 Ignaz MILLER, „Deutsche Außenpolitik vor 30 Jahren. Ein Blick in die Regierungsakten", in: NZZ (8. 12. 1993). 2 4 0 Am deutlichsten bei PETER und SCHRÖDER, Zeitgeschichte, S. 206 f. Sie weisen auf den „legitimatorischen Charakter" der Großen Politik hin, der „Wert der jeweiligen Einzelquelle bleibt von dieser Kritik jedoch unberührt. Die abgedruckten Dokumente haben [...] nach wie vor eine zentrale Bedeutung. Auch die editorische Gesamtleistung des Unternehmens ist ungeachtet von Einzelkritik nicht prinzipiell in Frage gestellt worden." - Ebenfalls bei HILDEBRAND, Außenpolitik, S. 53. - Wolfgang Mommsen bemerkt in Anlehnung an Sontag und in Auseinandersetzung mit Geiss, „dass es unberechtigt ist, die Herausgeber der .Großen Politik' im großen Stile der Unterdrückung zentraler Dokumente zu bezichtigen" (MOMMSEN, „Kriegsschuldfrage", S. 612). Winfried BAUMGART (Quellenkunde, S. 10) unterstreicht, dass Thimme trotz aller Kritik, „mit einem ausgeprägten wissenschaftlichen Ethos die riesige Arbeit bewältigte." James JOLL bemerkte in der Schlussphase der Times Literary Supplement-Kontroverse und nachdem er einige Belege für Thimmes Auslassungspraktiken erbracht hatte, dass „the Große Politik will remain one of the most important and valuable publications of its kind", auch wenn weitere Beispiele von Auslassungen ans Tageslicht kommen sollten (JOLL, „Documents", S. 613). - Kritisch hingegen ist Emily ONCKEN, Panthersprung nach Agadir. Die deutsche Politik während der Zweiten Marokkokrise 1911, Düsseldorf 1981 (Diss.), für welchen die Edition „weniger eine kritische Bestandsaufnahme als eine Anstrengung, die advokatorische Uberführung der .Kriegsschuldlüge' zu leisten" darstellte (S. 4). - Nach einer eingehenden Kritik der Großen Politik räumt selbst der DDR-Historiker Fritz Klein ein, dass auch der Forscher, „der die Mängel und die apologetischen Zielsetzungen der Sammlung kennt und verurteilt", auf ihre „ungeheure Fülle wertvollen Materials" nicht verzichten kann (KLEIN, „Verfälschung", S. 330). - Scheinbar hat Gregor Schöllgen die in der Großen Politik abgedruckten Aktenstücke, welche für seine Fragestellung relevant waren, einem systematischen Vergleich mit den Originalen unterzogen. Jedenfalls meldet er keine Unregelmäßigkeiten bei der Edition (SCHÖLLGEN, Imperialismus, S. 9).
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Jahren und der unzureichenden Hilfskräfte aus dem großen Unternehmen das Beste, was möglich ist, herausgeholt worden ist."241
Mit der Großen Politik haben wir einen wesentlichen Teil der erfolgreichen deutschen .Kriegsunschuldkampagne' der Zwischenkriegszeit dargestellt, die auch im Ausland eine gewisse Entlastung Deutschlands erreichte. Welches waren nun aber die Reaktionen der einstigen Kriegsgegner? In der Tat erzwang die Große Politik britische und französische Gegenmaßnahmen. Auf dem "Wege zum Verständnis für den Umgang des Staates mit historischen Quellen bildet diese Antwort auf die Große Politik eine bedeutende Etappe. Gleichzeitig muss aber das qualitative Aussagepotenzial der folgenden Ausführungen in methodischer Hinsicht bezüglich der Diskrepanz mit der deutschen Edition ausdrücklich relativiert werden. Denn im Gegensatz zur Großen Politik, deren Entstehungsgeschichte dank der alliierten Aktenerbeutung am Ausgang des Zweiten Weltkrieges eingehend rekonstruiert werden konnte, verfügen wir betreffend der britischen und französischen Editionen keineswegs über eine entsprechend ertragreiche und zugängliche Quellenlage und einen derart Erfolg versprechenden Forschungsstand.242 Dennoch bieten veröffentlichte Materialien und teilweise neue Forschungsergebnisse243 eine genügende Dichte, um entlang unserer Fragestellung eine Problematisierung dieser Editionen zu unternehmen. „ British Documents
on the Origins of the War"
Die Briten folgten als Erste dem deutschen Beispiel, eine umfassende offizielle Aktenedition zu veröffentlichen, und bestätigten somit den von Thimme und Schwertfeger prophezeiten Publikationszwang 244 für die andeBrief von Friedrich THIMME an Friedrich MEINECKE, Berlin, 23. 9. 1927, in: Annelise THIMME (Hg.), Briefe, Dok. 184, S. 292. 2 4 2 Selbstverständlich wären Archivrecherchen in den entsprechenden Akten des Foreign Office und des Quai d'Orsay nur zu begrüßen. Schon Fritz Ernst stellte als Ant241
wort auf die Times Literary Supplement-Kontroverse
über die Große Politik fest, dass
es interessant zu wissen wäre, „wie etwa die englischen oder französischen Editionen fahren würden, wenn sie mit den gleichen Hilfsmitteln durchleuchtet werden könnten wie die deutschen". ERNST, „Londoner Diskussion", S. 275. Für die Kontroverse vgl. oben Anm. 204. 2 4 3 Vgl. Keith HAMILTON, „The Historical Diplomacy of the Third Republic", in: Keith W I L S O N (Hg.), Forging the Collective Memory. Government and International Historians through Two World Wars, Oxford 1996, S. 29-62. Keith HAMILTON, „The Pursuit of .Enlightened Patriotism': The British Foreign Office and Historical Researchers During the Great War and Its Aftermath", in: ibid., S. 192-229. Keith WIL-
SON, „The Imbalance in British Documents
on the Origins of the War. 1898-1914:
Gooch, Temperley, and the India Office", in: ibid., S. 230-264. Uri BIALER, „Telling the Truth to the People. Britain's Decision to Publish the Diplomatic Papers of the Interwar Period", in: ibid., S. 265-288. 2 4 4 Vgl. z.B. THIMME, „Persönliche Erinnerungen", S. 220. SCHWERTFEGER, „Das große Aktenwerk", S. 293.
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II. Amtliche Akteneditionen
ren am Krieg beteiligten Mächte. Die Serie wurde „[rjeichlich spät" 2 4 5 - wie Graf Max Montgelas bissig bemerkte - von 1926 bis 1938 unter dem Titel British Documents on the Origins of the War246 herausgegeben. Ihre Entstehungsgeschichte und einige Hinweise auf Konflikte zwischen den Herausgebern und der eigenen oder anderen Regierungen liefern für unsere Fragestellung interessante historiographische Nachweise für den allmählichen Prozess zunehmender Emanzipierung des Historikers von der Staatsräson. Als Beginn des Publikationsunternehmens gab später einer der Herausgeber, George P. Gooch, das Jahr 1924 an, als Premierminister James Ramsay MacDonald den Entschluss fasste, ,die Siegel zu brechen'. 2 4 7 Die Gooch'sche Metapher entspricht aber bloß der halben Wahrheit. Als Antwort auf die deutsche Publikation der Kautsky-Dokumente war nämlich schon vor 1924 der Historische Beirat des Foreign Office, J . W. Headlam-Morley, beauftragt worden, eine ähnliche Sammlung wie die deutsche über die Julikrise vorzubereiten. N o c h während Headlam-Morley mit der Selektionsarbeit beschäftigt war, wurde aber die deutsche Absicht bekannt, eine umfassende Aktenedition in Angriff zu nehmen. Nebst den offensichtlichen Unzulänglichkeiten, welche die geplante britische Edition zur kurzen Zeitspanne der letzten Tage der Krise zwangsläufig geprägt hätten, wurde in London befürchtet, dass durch die deutsche große Publikation die britische Außenpolitik nicht immer in einem günstigen Licht erscheinen würde, sollten gewisse geheime diplomatische Abmachungen der Vorkriegszeit publik werden. 2 4 8 Erst unter diesen Voraussetzungen wird verständlich, wieso die Labour Regierung unter Premierminister MacDonald im Sommer 1924 die Entscheidung traf, die Siegel der Archive zu brechen und die Publikation eines britischen Pendants zur Großen Politik für die Periode von 1898 bis 1914 ins Auge zu fassen. Am 3. Dezember 1924 veröffentlichte die Times publikumswirksam einen Brief von Außenminister Joseph Austen Chamberlain, in welchem er das Publikationsunternehmen und die Herausgeber bekanntgab. Der Enthusiasmus der interessierten Öffentlichkeit über diesen Entscheid wich bald einer nüchternen Skepsis gegenüber der politischen Machbarkeit des Unternehmens. Denn sogar das erste Labour-Kabinett in London musste mit mehr Bedacht und Umsicht mit den Papieren seiner Vorgänger umgehen als eine revolutionäre Regierung in Berlin, die zumindest anfänglich mit Kautsky das diametral entgegengesetzte Ziel verfolgte, nämlich die Diskontinuität gerade durch schonungsloses Veröffentlichen zu unterstreichen. Diesen Bedenken wurde
2 4 5 Graf Max MONTGELAS, „Die englischen Dokumente zum Kriegsausbruch", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 97-140, hier S. 97. 246 BDOW. 1898-1914, hrsg. von G. P. GOOCH und Harold TEMPERLEY, London 1926-1938. 2 4 7 „In 1924 Ramsay MacDonald decided to break the seals". G. P. GOOCH, „British diplomacy before 1914 in the light of the archives", in: ders., Studies in Diplomacy and Statecraft, London 1946 4 , S. 86-107, hier S. 86. 248 TOSCANO, Treaties, S. 140.
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durch die Berufung zweier etablierter Wissenschaftler von internationalem Ruf, George P. Gooch und Harold Temperley, erfolgreich entgegengewirkt. 249 Wie Außenminister Chamberlain scharfsinnig erkannte, offeriere dieses Vorgehen die besten Garantien für „historical accuracy & impartiality" .250 Für unsere Fragestellung ist der Schritt, renommierten Historikern die Herausgabe von offiziellen Quellensammlungen anzuvertrauen, von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Damit rekurrierte der Staat erstmals auf gänzlich externe Autoritäten und Referenten, um die Objektivität einer Edition nach außen hin quasi zu beglaubigen. Dies hatte Konsequenzen von großer Tragweite, denn das Zurückgreifen auf externe Wissenschaftler aufgrund ihrer institutionellen Ungebundenheit, die man ja gerade gegen außen projizieren wollte, schränkte das Machtpotenzial des Staates diesen gegenüber massiv ein. Man konnte nicht öffentlich urbi et orbi verkünden, es würden unabhängige Professoren berufen, um ihnen dann hinter den Kulissen die Hände zu binden. Dafür sind - um es systemtheoretisch auszudrücken - die Logiken des staatlichen und des wissenschaftlichen Systems zu unterschiedlich: Das eine beruht auf ,Macht', das andere auf .Wahrheit'. Dennoch wäre es blauäugig, es hiermit zu belassen, denn die Interessen beider Systeme waren (und sind) nämlich nicht immer nur konfliktbeladen. Beispielsweise liefen sie während des nationbuilding im 19. Jahrhundert nicht nur über weite Strecken Hand in Hand, sondern die Geschichtsschreibung fungierte als eines der relevantesten konstitutiven Momente für die Bildung des Nationalstaates. Doch seit dem Historismus und der sukzessiven Konsolidierung einer akademisch betriebenen Geschichtswissenschaft verschärften sich die Objektivitätskriterien oder, um es Ranke nochmals sagen zu lassen, verpflichtete sich die Zunft, „bloß [zu] zeigen, wie es eigentlich gewesen ist". 251 Trotz Rankes blinder Staatsgläubigkeit verträgt sich dieses Postulat schlecht mit den Wünschen des Staates, die Akten nach seinen Interessen zurechtzubiegen. Gleichwohl wäre es wiederum blauäugig, es hiermit zu belassen, denn die Facetten und Nuancen der Macht sind zu subtil, um annehmen zu dürfen, dass durch die magische Formel herbeigezauberter Professoren alle Bedenken bezüglich Objektivität aus dem Wege geräumt wären. Nicht nur waren Formel und Mechanismen der britischen Lösung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre noch nicht ausgereift, sondern auch das Spreng249 Vgl. dazu die Rezension von R[aymond] J[ames] SONTAG, „British Foreign Policy, 1898-1812", m: Journal of Modern History 2 (1930), S. 4 7 2 ^ 8 0 , hier S. 472; BAUMGART, Quellenkunde, S. 18; TOSCANO, Treaties, S. 140. Brief vom Secretary of State for Foreign Affairs Austen CHAMBERLAIN an Prof. R. W. SETON-WATSON, [London,] 28. 11. 1924. Ein Faksimileauszug des Entwurfes findet sich in: BDOW. 1898-1914, Bd. 10, zweiter Teil: The Last Years of Peace, hrsg. von G. P. GOOCH und Harold TEMPERLEY, London 1938, S. VI bis. Der Brief wurde ebenfalls in der Times vom 3. 12. 1924 abgedruckt. 2 5 1 RANKE, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, S. VII. 250
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potenziai des behandelten Themas war noch so hoch, dass wie auch immer geartete nationale Interessen direkt gefährdet waren. Die Entstehungsgeschichte der britischen Publikation zeigt dies deutlich. Als sich die Herausgeber der Editionsarbeit zuwandten, erfuhren sie, dass Headlam-Morley „bereits eine sehr umfangreiche Sammlung der einschlägigen britischen Dokumente zwischen dem Zeitpunkt der Ermordung des Erzherzogs am 28. Juni und der britischen Kriegserklärung an Deutschland am 4. August 1914 unternommen hatte", 252 und baten ihn (gezwungenermaßen), die Dokumentensammlung als Schlussband in die Serie aufzunehmen. Somit erschien als erster Band der Letzte des geplanten Reihenwerkes, der politisch brisante Band über die Julikrise, dessen deutsche Übersetzung taktisch geschickt gleichzeitig mit der englischen Originalausgabe veröffentlicht wurde.253 Der Aufbau des Bandes unterschied sich wesentlich vom Rest der Serie: Während sich Gooch und Temperley am ,,ungute[n] Vorbild" der Großen Politik orientierten und eine sachthematische Gliederung wählten,254 hatte Headlam-Morley für eine strikt chronologische Anordnung der Dokumente optiert. Die Differenzen zwischen den Herausgebern und dem Historischen Beirat des Foreign Office erschöpften sich aber nicht in der Frage der Reihenfolge der Dokumente. In der Einleitung wies Headlam-Morley in bester diplomatischer Tradition darauf hin, die gleiche Zensurpraktik verfolgt zu haben, wie wir sie bereits bei der Edition von Farbbüchern gesehen haben: „Im Einklang mit den [ . . . ] Regeln internationaler Höflichkeit wurden die D o k u m e n t e des vorliegenden Werkes, soweit sie ein verbündetes oder neutrales L a n d besonders angehen, jeweils der betreffenden Regierung zur Genehmigung mitgeteilt. E s ist höchst befriedigend erklären zu können, dass diese in jedem Fall ohne Vorbehalt erteilt wurde und dass (außer bei ein oder zwei persönlichen Bemerkungen über lebende Personen
G . R GOOCH und H a r o l d TEMPERLEY, „Vorwort der H e r a u s g e b e r " , in: Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges. 1898-1914, S. X V X V I , hier S. X V . 2 5 3 Als Erster erschien B d . 11: The Outbreak of the War. Foreign Office Documents (June 28th-August 4th, 1914), gesammelt und zusammengestellt sowie mit einer Einleitung und N o t e n versehen v o n J. W. HEADLAM-MORLEY, Historischer Beirat des Britischen Auswärtigen Amtes, L o n d o n 1926. Die gleichzeitig aufgelegte deutsche U b e r s e t zung erschien unter dem Titel Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges. 1898-1914. Der Ausbruch des Krieges. Dokumente des Britischen Auswärtigen Amtes, v o m Britischen Auswärtigen A m t autorisierte einzige deutsche A u s gabe, Berlin 1926. F ü r die Rezeption vgl. die Rezension: Pierre RENOUVIN, „British D o c u m e n t s on the Origins of the war, 1 8 9 8 - 1 9 1 4 , Vol. X I , T h e O u t b r e a k of the war. Foreign Office documents, June, 28th, August, 4th, 1914, collected and arranged with introduction and notes by J . - W . H e a d l a m - M o r e l y " , in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 5 ( 1 9 2 7 ) , S. 6 1 - 6 3 . 252
BAUMGART, Quellenkunde, S. 19. F ü r diese Kritik vgl. die Rezension von Jacques ANCEL, „ G o o c h (G.P.), Temperley (Harold). British D o c u m e n t s o n the Origins of the war, 1 8 9 8 - 1 9 1 4 , Vol. V, T h e N e a r East. T h e Macedonian p r o b l e m and the annexation of Bosnia 1 9 0 3 - 9 " , in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 7 ( 1 9 2 9 ) , S. 5 4 - 5 6 . 254
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
81
ohne politische Bedeutung) keinerlei Auslassungen notwendig (sie!) gewesen sind; Änderungen im Text wären unter keinen Umständen in Betracht gekommen."255 „Diese Erklärung ist nicht sehr glücklich. Zuerst kommt die Pflicht der Wahrheit, dann die der Höflichkeit", 2 5 6 kommentierte unverblümt und zu Recht der französische Historiker Georges Demartial stellvertretend für die ganze Zunft. Dass sich akademische Historiker wie Gooch und Temperley, welche für die Objektivität des Unternehmens bürgten, ebenso wenig mit diesen diplomatischen Höflichkeiten anfreunden konnten, war von vornherein klar gewesen. Die Editionsarbeit von Headlam-Morley erhielt trotzdem eine grundsätzlich positive Kritik, 2 5 7 nicht zuletzt, weil er die im Blaubuch von 1914 paraphrasierten und amputierten Dokumente in der Originalfassung publizierte und jeweils - wenn auch nicht in allen Fällen 2 5 8 - mit einer entblößenden Anmerkung über die Auslassung in der ersten Veröffentlichung versah. 2 5 9 Dennoch verwundert es nicht, dass die übergangenen Herausgeber der Serie nicht ohne einen gewissen Unterton pointiert präzisierten: „Die Herausgeber übernehmen für die Einleitung oder die Anmerkungen von Herrn Headlam-Morley keine Verantwortung. Sie haben sich in dieser Hinsicht darauf beschränkt, die von ihm in Druck gegebenen Schriftstücke nach den Aktenbeständen zu prüfen und sie mit den Original-Dokumenten zu vergleichen. Sie haben in ein paar Fällen die Weglassung gewisser Urkunden genehmigt, die innere Angelegenheiten neutraler Staaten betreffen und die keinen unmittelbaren Bezug auf den Ausbruch oder den Ursprung des Krieges haben; aber sie glauben, dass kein wichtiges oder wesentliches Dokument aus den Archiven des [britischen, SZ] Auswärtigen Amtes weggelassen wurde und dass die Veröffentlichung der amtlichen Staatsdokumente in keiner Weise behindert worden ist." 260 Was in der Folge genau geschah und welche Schwierigkeiten von welcher Seite den Herausgebern bereitet wurden, sind Fragen, über die wir hier nur spekulieren können. Der britische Historiker Herbert Butterfield wusste aber immerhin zu berichten, dass „serious tension existed at times in the course of that publication", 261 und die Times beherbergte 1932 in ihren Ko-
255
HEADLAM-MORLEY,
hier S. X X V I I .
„Einleitung", in: BDOW. 1898-1914, Bd.
11, S. X V I I - X X X ,
Georges DEMARTIAL, „Die neuen englischen diplomatischen Dokumente über den Kriegsausbruch", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 423-429, hier S. 424.
256
257
So z . B . TOSCANO, Treaties, S. 147.
258 Vgl. Hermann LUTZ, „Zu den neuen britischen Dokumenten über den Kriegsausbruch", in: Die Kriegsschuldfrage 5 (1927), S. 575-580. 2 5 9 Anmerkung z.B. von Dok. 152: „Im B[lau] B[uch] No. 17 (paraphrasiert und unter Auslassung einiger Teile) veröffentlicht". 2 6 0 GOOCH und TEMPERLEY, „Vorwort der Herausgeber", S. XVI. Hervorhebung von mir, S Z . 2 6 1 Vgl. dazu Herbert BUTTERFIELD, „Official History: Its pitfalls and criteria", in: ders., History and Human Relations, London 1951, S. 182-224. In seinem Aufsatz über die offizielle Geschichte meinte Butterfield: „I believe it is true to say that the tension
82
II. Amtliche Akteneditionen
lumnen eine Kontroverse zwischen L o r d Grey, Sir Malcolm R o b e r t s o n und den Herausgebern über die Zweckmäßigkeit der Veröffentlichung der dienstlichen Vermerke auf den britischen D o k u m e n t e n , 2 6 2 eine Auseinandersetzung, die sehr an jene über die berüchtigten Marginalien Wilhelms II. erinnert. Später hingegen beteuerte G o o c h als einer der Herausgeber, das F o r eign O f f i c e hätte nicht nur keine Schwierigkeiten gemacht, sondern hätte den Widerstand der Herausgeber gegen die Versuche fremder Mächte, A u s lassungen v o n D o k u m e n t e n zu erzwingen, sogar unterstützt. 2 6 3 Von wessen Seite auch immer er ausgegangen sein mag, es steht außer Zweifel, dass politischer D r u c k derart massiv ausgeübt wurde, dass sich die Herausgeber im B a n d III der Serie veranlasst sahen, für den Fall einer Zensur von essenziellen D o k u m e n t e n expressis verbis ihren Rücktritt anzudrohen. Allerdings mussten sie sowohl vor der diplomatischen Zensurpraktik durch ausländische Regierungen als auch vor deren Wünschen nach Auslassung von so genannt unwichtigen Peinlichkeiten kapitulieren: „In accordance with the practice of the Foreign Office [...] the documents in the present volume containing information supplied or opinions expressed by certain Foreign Governments have been communicated to them for their agreement. The response in this volume has been quite satisfactory (sic!).2M The Editors have inserted asterisks to indicate gaps or omissions in documents. As a rule these gaps are due to the unimportance of the matter omitted, in which case an indication of subject is usually given. In a few instances, they are due to a desire to consult the susceptibilities of the persons or of the Governments concerned; but the Editors have omitted nothing which they consider essential to the understanding of the history of the period. They think it well here to state, what was already implied in their preface to Volume /[...] that they would feel compelled to resign if any attempt were made to insist on the omission of any document which is in their view vital or essential,"265 I m Bewusstsein, - trotz aller K o m p r o m i s s e - einen wichtigen Schritt hin zur Emanzipation des Historikers gegenüber dem Staat gemacht zu haben, wurde von den Herausgebern am E n d e der Serie noch deutlicher festgehalten:
was due to the difficulties raised by other Powers, and not to any anxiety that our Foreign Office then had on its own account." S. 187. 2 6 2 Exzerpte und übersetzte Zitate dazu wurden genüsslich in den Berliner Monatsheften 10 (1932), S. 1243ff und ibid. 11 (1933), S. 78 abgedruckt. Drohend erklärten die Herausgeber der britischen Dokumente: „Sollten uns irgendwelche neuen Einschränkungen der Freiheit, der wir uns bisher erfreuten, auferlegt werden, so würde unvermeidlich die Britische Publikation beim Vergleich mit denen anderer Nationen schlecht abschneiden und wir werden uns außer Stande sehen, die Aufgabe weiter fortzuführen, die uns 1924 anvertraut worden ist." 2 6 3 GOOCH, „British diplomacy", S. 86. 2 6 4 Im ersten Band hatte die Formulierung noch „generally satisfactory" (sic!) gelautet. Bd. 1: The End of British Isolation, hrsg. von G. P. GOOCH und Harold TEMPERLEY, London 1927, S. VII. 2 6 5 Bd. 3: The Testing of the Entente. 1904-6, hrsg. von G. P. GOOCH und Harold TEMPERLEY, London 1928, S. VIII. Hervorhebungen von mir, SZ.
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
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„The Editors are not Government Officials but private individuals employed by the Government to edit and publish documents, and in that capacity they declared that they would not acquiesce in the omission of essential material. In a few instances, owing to personal, official or national susceptibilities, they have allowed passages to be excised or documents to be withheld. But in every such case either a sufficient indication of what has been omitted has been given or another document, providing substantially the same impression or indication of policy, has been published. Their pledge to the public has thus been completely upheld." 266
Das Vorgehen von Gooch und Temperley wurde in Historikerkreisen sehr positiv gewürdigt, und sogar die Berliner Monatshefte attestierten noch 1933 anerkennend, dass die „Haltung der beiden englischen Gelehrten [...] überall mit besonderer Hochachtung aufgenommen werden" 2 6 7 wird und sogar noch 1937, dass „die gewissenhafte unparteiische Auswahl und Darbietung der Dokumente [...] warme Anerkennung" 2 6 8 verdient. Nichtsdestotrotz warf die Tatsache, dass gewissen Auslassungen zugestimmt worden war, zwangsläufig unangenehme Fragen auf. 2 6 9 Ohne in apologetische Töne zu verfallen, kann zumindest festgehalten werden, dass die Situation der britischen Herausgeber in der Tat um einiges schwieriger war als diejenige der deutschen und sowjetischen. Anders als ihre Kollegen, die sich mit den Akten politischer Systeme befassten, die abrupt zu existieren aufgehört hatten, zwang die Kontinuität des britischen Systems die Herausgeber, die politischen Implikationen sorgsamer abzuwägen. Der sowjetische Historiker Jerussalimski betrachtete die britische Publikation aus diesem Grunde als eine „noch weniger zuverlässige Quelle [...] als die deutsche"; im Grunde genommen sei sie ein „erweitertes .Blaubuch'". 2 7 0 In welchem Maße politische Überlegungen die Selektion beeinflussten, kann (noch) nicht bestimmt werden. 271 Die nicht zwingende Wiederveröffentlichung bereits publizierter Aktenstücke, deren Interpretation von der Propagandamaschinerie der Entente entscheidend verstellt worden war, zeugt aber für die britische Sammlung wie Toscano bemerkte - von einem hohen Grad an Objektivität. 2 7 2 Wie stand es demgegenüber mit der französischen Edition?
„Final Foreword", in: Bd. 10, zweiter Teil: The Last Years of Peace, London 1938, S. VI. 267 Berliner Monatshefte 11 (1933), S. 76. 2 6 8 Hermann LUTZ, „Die Britischen Dokumente", in: Berliner Monatshefte 15 (1937), S. 247-258, hier S. 248. 2 6 9 Vgl. SONTAG, „British Foreign Policy", S. 472, und BAUMGART, Quellenkunde, S. 18 f. Beide weisen beispielsweise darauf hin, dass aus den wenigen edierten Marginalien König Eduards VII. keine aufschlussreichen Informationen über seinen (notorischen) Einfluss auf die Außenpolitik gezogen werden könnten. 266
270
JERUSSALIMSKI, Außenpolitik,
S. 2 7 .
Vgl. weiterführend hierzu HAMILTON, „Pursuit", WILSON, „Imbalance", BLALER, „Telling".
271
272
TOSCANO, Treaties,
S. 1 4 1 .
84
II. Amtliche Akteneditionen
„ Documents
diplomatiques
français "
Etwas pompös, aber seinem verinnerlichten Leitsatz litteris et patriae2™ stets treu, eröffnete Bernhard Schwertfeger seine Rezension zu den damals erschienenen ersten zehn Bänden der Documents diplomatiques français (1871— 1914) 274 nicht ohne polemischen Unterton: „Es ist vielleicht der bedeutendste Erfolg der großen deutschen Aktenpublikation, dass auch Frankreich sich dazu entschlossen hat, seine Vorkriegsakten in weitestem U m fange zu veröffentlichen. Lange Zeit wurde es in Deutschland bezweifelt, ob es wohl wirklich dahin kommen werde, dass auch Frankreich dem deutschen Vorbilde folgte, und in der Tat ist auch Frankreich als letzte [ . . . ] dem deutschen Beispiel gefolgt." 2 7 5
Zwar hatte das Quai d'Orsay von 1918 bis 1921 drei Gelbbücher 276 herausgegeben, aber nach dem Erstaunen, welches die veröffentlichten Dokumente über die französisch-russischen Vereinbarungen in London hervorgerufen hatte, 277 war von jeglicher weiterer Aktenveröffentlichung abgesehen worden. Im Hinblick auf die deutsche und die englische große Publikation war Frankreich tatsächlich in Verzug geraten und hatte sich insofern in eine unangenehme Position manövriert, als es nun Angriffsfläche und Argumente für die permanenten deutschen Anschuldigungen bot, die eigene Verantwortung für den Kriegsausbruch verheimlichen zu wollen, was indirekt den Wahrheitsgehalt der deutschen Thesen vor den Augen der restlichen Forschergemeinde zu bestätigen schien. In der Tat war die Rezeption der Großen Politik - bislang die einzig verfügbare Quellenbasis - in der internationalen Forschung vor allem in den USA dermaßen präponderant gewesen, dass sich eine revisionistische Schule von Historikern gebildet hatte, 278 die, gestützt SCHWERTFEGER, „Persönliche Erinnerungen", S. 247. DDF. 1871-1914, hrsg. v o m Ministère des Affaires Etrangères, Commission de publication des documents relatifs aux origines de la Guerre de 1914, 42 Bde., Paris 1 9 2 9 1959. F ü r eine Orientierung über die Publikation vgl. die Rezensionen: A. LAJUSAN, „Ministère des Affaires étrangères. Commission de publication des documents relatifs aux origines de la guerre de 1914. Documents diplomatiques français ( 1 8 7 1 - 1 9 1 4 ) " , in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 8 (1930), S. 6 3 - 6 6 und 3 9 1 - 3 9 3 ; 9 (1931),
273 274
S. 6 8 - 7 1 u n d 4 2 1 - 4 2 4 ; 1 0 ( 1 9 3 2 ) , S. 3 0 4 - 3 0 8 u n d 4 2 2 - 4 2 5 ; 11 ( 1 9 3 3 ) , S. 1 6 8 - 1 7 0
und
2 5 0 - 2 5 6 ; 1 2 ( 1 9 3 4 ) , S. 7 3 - 7 7 u n d 1 5 6 - 1 5 8 ; 1 3 ( 1 9 3 5 ) , S . 1 7 6 - 1 7 8 u n d 3 6 3 - 3 6 6 ; 1 4 ( 1 9 3 6 ) , S . 6 5 - 6 8 u n d 2 7 3 - 2 7 6 ; 1 5 ( 1 9 3 7 ) , S. 5 2 - 5 6 u n d 2 8 7 - 2 9 0 ; 1 6 ( 1 9 3 8 ) , S . 2 1 5 - 2 1 8 ; 1 7 ( 1 9 3 9 ) , S. 6 1 - 6 3 .
Bernhard SCHWERTFEGER, „Bücherschau. Die französischen Akten", in: Berliner Monatshefte 11 (1933), S. 8 4 - 9 4 . 276 L'alliance franco-russe. Origines de l'alliance 1890-1893. Convention militaire 1892-1899 et convention navale 1912, Paris 1918; Les accords franco-italiens de 19001902, Paris 1920; Les affaires balkaniques 1912-1914, Paris 1921. 2 7 7 TOSCANO, Treaties, S. 148. 2 7 8 Diese gruppierte sich um die Historiker H a r r y Elmer BARNES ( The Genesis of the World War, N e w York 1926, deutsche Übersetzung: Die Entstehung des Weltkrieges, Stuttgart 1928) und Sidney Bradshaw FAY (The Origins of the World War, 2 Bde., N e w York 1928, deutsche Übersetzung: Der Ursprung des Weltkrieges, Berlin 1930), die in ihren Werken Deutschland unumwunden von der Schuld am Ausbruch des Weltkrieges 275
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
85
auf die deutschen Akten, Deutschland von einer prinzipiellen Verantwortung am Ausbruch des Konfliktes freisprach: 279 der beste Beweis für das effiziente und erfolgreiche Publikationsunternehmen des Auswärtigen Amts. 2 8 0 Aufgrund der für Deutschland günstigen Forschungsergebnisse stand Frankreich unter starkem Druck, und die französische Intransigenz gegenüber seinem Nachbarn, wie beispielsweise in der Reparationsfrage, geriet vor der internationalen Öffentlichkeit zunehmend in ein schiefes Licht. 281 Infolge dieses Zugzwanges verkündete die Regierung Poincaré am 19. Februar 1927 in der Kammer schließlich den Entschluss, die französischen Dokumente für die Periode zwischen den Kriegen von 1870 und 1914 amtlicherseits zu veröffentlichen. Die Maßnahme kam freilich zu spät, als dass die Sammlung ein Gegengewicht zur Großen Politik hätte darstellen können, denn um 1928 stand die Kriegsschulddebatte „längst im Banne der deutschen Akten". 2 8 2 Dementsprechend wurde die französische Serie in der Forschung größtenteils bloß marginal und subsidiär zur Großen Politik rezipiert. Das Projekt umfasste denselben Zeitraum wie das deutsche und orientierte sich ebenfalls an den gleichen Fragestellungen über die lang- und kurzfristigen (diplomatischen) Ursachen des Kriegsausbruchs. Im Jahre 1929 erblickte der erste Band das Licht der Öffentlichkeit. Dieser habe den Vorzug gehabt, „de mettre fin à la singulière campagne faite depuis plusieurs années dans les pays neutres, et même en Amérique, pour jeter la suspicion sur la France." 2 8 3 Die vollständige Umsetzung des Projektes ließ aber lange auf sich warten. Der 42. und letzte Band wurde erst 1959 veröffentlicht, dreißig Jahre nach dem ersten. Dennoch waren die Herausgeber besorgt gewesen, durch eine Dreiteilung der Serie und gleichzeitige Bearbeitung aller Teile, 284 die Arbeiten möglichst zu beschleunigen. Damit wurde beabsichtigt, die politisch interessanteren Bände der dritten Serie zur Julikrise relativ rasch zu publizieren, was aber freilich erst 1936 gelang. Nebst dieser Arbeitsteilung wiesen die freisprachen (und die deswegen prompt eine deutsche Ubersetzung erfuhren). Dagegen konterte aber bereits 1930 Bernadotte E. SCHMITT (The Coming of the War 1914, 2 Bde., New York 1930), welcher im Gegensatz zu den Revisionisten auf die These von der Kriegsschuld Deutschlands zurückgriff. 2 7 9 Vgl. Samuel Flagg BEMIS, „First Gun of a Revisionist Historiography for the Second World War", in -.Journal of Modern History 19 (1947), S. 55-59. 2 8 0 Zur aktiven Rolle des Auswärtigen Amtes bei der Beinflussung amerikanischer Historiker vgl. Ellen L. EVANS und Joseph O. BAYLEN, „History as Propaganda. The German Foreign Ministry and the .Enlightenment' of American Historians on the WarGuilt Question, 1930-1933", in: Keith WILSON (Hg.), Forging the Collective Memory. Government and International Historians through Two World Wars, Oxford 1996, S. 151-177. Herman WLTTGENS, „Senator Owen, the Schuldreferat, and the Debate over War Guilt in the 1920s", in: ibid., S. 128-150. 281 TOSCANO, Treaties, S. 148. 2 8 2 BAUMGARX Quellenkunde, S. 27. 2 8 3 Camille BLOCH, „Documents", S. 193. 284 Dig e r s t e s e r i e deckte die Zeit von 1871 bis 1900, die zweite jene von 1901 bis 1911 und die dritte von 1911 bis 1914 ab.
86
II. Amtliche Akteneditionen
Documents diplomatiques français weitere wichtige editionstechnische Neuerungen auf, welche die Akteneditionen nach dem Zweiten Weltkrieg nachhaltig beeinflussen sollten. Als organisatorisches Prinzip wählten die Herausgeber im Gegensatz zur sachthematischen Lösung der deutschen und britischen Editionen eine strikt chronologische Anordnung. 285 Diese Gliederung ließ die Akten in ihrem zeitlichen organischen Kontext erscheinen und vermied somit die kritisierte subjektive sachspezifische Einteilung der anderen Publikationen. Zur Erleichterung der Konsultation verfassten die französischen Herausgeber im Gegenzug eine „table méthodique" nach sachthematischen Kriterien. Dieses Sachverzeichnis ermöglichte einen raschen und einfachen Zugriff zu den wichtigsten Themen. Zudem führte jeder Band ein Personenverzeichnis. Die Franzosen hatten die Formel der strengen chronologischen Anordnung bereits in der Edition Les origines diplomatiques de la guerre de 1870-18712^ erfolgreich erprobt, jener Edition, welche das Quai d'Orsay - überraschend, wenn man die übliche große Zurückhaltung der französischen Regierung bei der Archivakzession bedenkt - von 1910 bis 1930 veröffentlichte und die mit Recht als die erste diplomatische Aktenedition im modernen Sinne gelten kann. Die Anmerkungen der Documents diplomatiques français wurden, „réduites à l'essentiel", 287 knapper als in vergleichbaren Editionen gehalten, beschränkten sich auf aktentechnische Angaben sowie Querverweise und vermieden also bewusst die kritisierte stark interpretative Anmerkungsweise der Großen Politik. Dank diesen Merkmalen galt und gilt die französische Serie in editionstechnischer Hinsicht als „vortrefflich" 288 und „mustergültig". 289 Wenden wir uns aber der Betrachtung unserer leitenden Fragestellungen zu, so zeigt sich die französische Publikation auch von ihrer Schattenseite. Im Gegensatz zum Foreign Office rekurrierte nämlich das Quai d'Orsay nicht ausschließlich auf ausgewiesene Wissenschaftler, sondern entschied sich für eine Mischbesetzung der Herausgeberschaft in Form einer großen Kommission. Diese Commission de publication des documents relatifs aux origines de la Guerre 1914 wurde durch Dekret vom 20. Januar 1928, unterzeichnet von Premierminister Poincaré und Außenminister Briand, ins Leben gerufen. Ihre Zusammensetzung ließ aber die Forschungsgemeinde mit Recht etwas perplex aufhorchen. 290 In der Tat waren von den 54 Kommissionsmitgliedern nur 19 Historiker. Von den restlichen waren 17 aus der Diplomatie rekrutiert, 285 f ü r eine Darstellung des Editionsunternehmens aus der Sicht der herausgebenden Kommission, vgl. S[ébastien] CHARLÉTY, „Die französische Urkundenveröffentlichung. Anlageplan, Arbeits- und Editionsgrundsätze", in: Berliner Monatshefte 7 (1929), S. 769-778. 286 287 288 289 290
Les origines diplomatiques de la guerre de 1870-1871, 29 Bde., Paris 1910-1930. DDF. 1871-1914, Serie III, Bd. 11, S. Χ. SCHWERTFEGER, „Bücherschau", S. 85.
BAUMGART, Quellenkunde, S. 2 9 . TOSCANO, Treaties, S. 1 5 0 .
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
87
zehn ex officio aufgrund ihrer beruflichen Stellung (wie zum Beispiel die Direktoren der Ministerialarchive) ausgewählt worden und schließlich wurde die Besetzung noch durch sechs „membres de l'Institut" vervollständigt. 291 Dieses französische Modell entbehrte nicht einer gewissen theoretischen und formellen Eleganz, konnten doch die Kommissionshistoriker auf die Hilfe der Zeitzeugen zurückgreifen und somit beispielsweise die echte Bedeutung von Dokumenten evaluieren und die dahinter versteckten Absichten und Intentionen rekonstruieren. Dennoch erwies sich in der Praxis die Mitgliedschaft von Maurice Paléologue, Jules Cambon, Camille Barrère und anderen Botschaftern, die während der Julikrise allesamt eine wichtige Rolle gespielt hatten, weitgehend als problematisch und wurde auch von zeitgenössischen Kommentatoren und später in den fünfziger Jahren ebenfalls von Mario Toscano beanstandet. 292 Als Antwort auf diese Kritik verfasste Pierre Renouvin 1961 einen Artikel in der Revue historique, in welchem er die Arbeitsweise der Kommission darlegte und die Kritik an deren Zusammensetzung entkräftete: Die Mitglieder der Kommission seien bloß einmal bei der Inauguralsession zusammengetreten, danach seien nur Arbeitssitzungen mit zehn bis zwölf Mitgliedern gehalten worden, an denen fast ausschließlich Historiker teilgenommen hätten. N u r ein Diplomat habe regelmäßig an den Sitzungen partizipiert; dieser habe allerdings von 1905 bis 1914 keinen wichtigen Posten innegehabt. 293 Renouvins Apologie schweigt sich jedoch über den Informationstransfer mit den .passiven' Mitgliedern aus. Wie wir schon im britischen Fall gesehen haben, sind die Facetten der Macht zu vielfältig und subtil, um eine Einflussnahme a priori auszuschließen. Hinweise zeigen in der Tat, dass die Beziehungen zwischen Historikern und Diplomaten in der Kommission äußerst gespannt waren und dass letztere öffentliches A k tenmaterial - „dont la publication serait inopportune" - , welches in ihrer privaten Obhut lag, der Kommission auch vorenthielten. 294 Diese Angaben stammen vom Sekretär der Kommission (Pierre RENOUVIN, „Les Documents diplomatiques français 1871-1914", in: Revue historique 85 (1961), S. 139152, hier S. 142). Die Zahlen differieren teilweise mit den Angaben, die aus der offiziellen Namenstafel nach Gattungen (DDF. 1871-1914,1. Serie, Bd. 1, Paris 1929, S. X I V XVI) herausgelesen werden können. Nach dieser setzte sich die 54-köpfige Kommission wie folgt zusammen: ein Präsident, 28 Historiker und Spezialisten, 17 Diplomaten (acht „en exercice et en raison de leurs functions" und neun ehemalige Botschafter) und acht Mitglieder des Instituts. Renouvin hat aus der offiziellen Kategorie Historiker und Spezialisten die Nicht-Historiker herausgestrichen und dadurch ein für sein Argument noch ungünstigeres Verhältnis in Kauf genommen. Aus diesem Grund wird hier Renouvins ehrlichere Einteilung der beschönigten offiziellen vorgezogen. 291
292
TOSCANO,
Treaties,
S. 1 5 0 .
RENOUVIN, „Documents", S. 142. 2 9 4 In einem Brief vom 24. 12. 1929 an Raymond Poincaré schrieb Maurice Paléologue, Mitglied der Kommission: „Pour des motifs qui me sont personnels, je ne veux avoir aucun rapport avec la .Commission des origines de la Guerre' [...] j'ai là-dessus [über eventuelle militärische Pläne einer französischen Besetzung Belgiens bzw. deren Nichtausführung vor einer entsprechenden deutschen Operation, SZ] des notes précises, 293
II. Amtliche Akteneditionen
88
Analog zu den anderen Editionen versicherten auch die Herausgeber der französischen Akten, ausschließlich nach den Regeln der historischen O b jektivität gearbeitet zu haben. So gab der Präsident der Kommission, Sébastien Charléty, Rektor der Académie de Paris, im Juni 1929 im ersten Band der ersten Serie, 2 9 5 „inspirée, - selon les intentions du Parlement et du Gouvernement, - d'un esprit strictement historique et rigoureusement impartial", folgendes klares Versprechen, und dies - im Gegensatz zu den britischen H e rausgebern - ohne jeglichen Hinweis auf problematische Konflikte: „Une sélection est donc indispensable, ne serait-ce que pour des raisons pratiques, qui s'imposent à tous les éditeurs de documents du même genre. Mais ce choix ne doit être inspiré que par le désir d'épargner aux lecteurs la consultation fastidieuse de pièces négligeables. Préparé par des historiens, il n'a subi l'influence d'aucun parti pris et d'aucune préoccupation étrangère à l'histoire." 296 Dass aber in Frankreich, trotz des formellen Regierungsversprechens einer „liberté totale", 2 9 7 die politischen Empfindlichkeiten gegenüber Enthüllungen nicht unbedingt weniger sensibel ausgeprägt waren als in anderen Länder, musste schließlich wenige Jahre später selbst der Sekretär der Kommission, Pierre Renouvin, eingestehen, als er 1931 in der Revue historique nun die gleiche Argumentationsweise und Sprachregelung wie die britischen Herausgeber verwendete: „II faut bien reconnaître cependant que, sur des événements aussi récents, les documents peuvent contenir des indications qu'il est délicat de publier [...]. La Commission a estimé qu'elle pouvait, sans s'écarter des principes qu'elle a mis à la base de son travail, tenir compte de ces susceptibilités. Elle a renoncé, par égard pour des personnes, à publier certains documents, ou certaines passages [...]. Mais jamais elle n'a écarté une pièce, si délicate soit-elle, qui présente, pour l'histoire des relations internationales et pour l'étude des origines de la guerre, un intérêt appréciable."298 dont la publication serait inopportune: je ne les publierai donc pas, de mon vivant, à moins que les circonstances ne l'exigent, dans un intérêt supérieur." Abgedruckt in: RENOUVIN, „Documents", S. 148f. Für weitere Hinweise siehe ibid., S. 149-152. 2 9 5 Als Erster überhaupt erschien Bd. 1 der dritten Serie, welcher die Periode vom 4. 11. 1911 bis zum 7.2. 1912 umfasste. In Deutschland unterstellte man dem Quai d'Orsay, „die Aktenveröffentlichung mit einem Zeitpunkte beginnen zu lassen, wo Frankreich durch die Abtretung eines Teiles seines Kongogebietes an Deutschland Beweise seines guten Willens und seiner friedlichen Absichten gegeben hatte." WEGERER, „Bücherschau", S. 85. 296 DDF. 1871-1914, Serie I, Bd. 1, Paris 1929, S. XIII und VI. Einen Hinweis auf eventuellen politischen Druck, welchen die „préoccupation étrangère" sehr wahrscheinlich ausübte, lieferten die Herausgeber im letzten Band des Reihenwerkes, indem sie expressis verbis mögliche quellenkritische Einwände freundlicher Regierungen entschärften: „La Commission a estimé qu'elle avait le devoir de publier tous, sans en excepter ceux qui contiennent, sur des Etats amis, des appréciations mal fondées ou des jugements inexacts." Ibid., Serie III, Band XI, Paris 1936, S. VIII. Hervorhebung von mir, SZ. 2 9 7 Pierre RENOUVIN, „La publication des Documents diplomatiques français (18711 9 1 4 ) , in: Revue
historique
5 6 ( 1 9 3 1 ) , S. 2 6 6 - 2 7 3 , h i e r S. 2 6 7 .
RENOUVIN, „Publication", S. 270 f. 1937 beteuerte er wiederum, dass „la Commission chargée [...] a mené ses investigations de la façon la plus complète, la plus serrée, et
298
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
89
Dass die Documents diplomatiques français auch viele Dokumente enthielten, welche in der Kriegsschuldkontroverse zuungunsten der französischen Regierung und deren Diplomatie sprachen,299 zeigt dennoch die Bemühungen der beteiligten Historiker, das deontologische Gebot der Objektivität, trotz aller möglichen politischen Manöver zur Purgierung der Akten, ernst zu nehmen. 300 Zweite
Zwischenbilanz
Mit diesem Kapitel wurde nachdrücklich die eminent politische Bedeutung und Funktion aufgezeigt, welche den Editionen von historischem Quellenmaterial in der Weimarer Republik für die Widerlegung der Kriegsschuldthese zukam. Zusammenfassend können wir folgende sechs Punkte festhalten: Erstens: Die revolutionären Umtriebe als Folge des Ersten Weltkrieges boten den neuen Machthabern die einmalige politische Opportunität, durch Hinausschleudern von Archivmaterial in die Öffentlichkeit und Diskreditierung der alten Regime ihre eigene Position zu legitimieren. Diese Enthüllungen verfolgten primär innenpolitische Zielsetzungen. Sekundär jedoch strebten sie auch außenpolitische an: die Bolschewisten versuchten durch Verleumdung der kapitalistisch-imperialistischen Vorkriegsdiplomatie günstigen Nährboden für die Weltrevolution zu gewinnen, und die deutsche Linke glaubte an einen vorteilhafteren wilsonianischen Friedensvertrag, wenn sie die Zäsur zum wilhelminischen Deutschland genügend deutlich unterstreichen würde. Das primäre Medium für Enthüllungen war in dieser Phase die Presse. Zweitens: Die .kollektive Hysterie', die in Deutschland nach der so empfundenen moralischen Aburteilung durch die Siegermächte ausbrach, ermöglichte dem Auswärtigen Amt, durch die geheime Einrichtung eines Kriegsschuldreferates die omnipräsente und tausendfach verästelte Propagandamaschine der .Kriegsunschuldkampagne' zu lancieren, zu steuern und zu kontrollieren. In dieser Phase verlagerte sich die Funktion der Enthüllungen durch Aktenmaterial auf den Bereich der Außenpolitik. Einen festen Bea publié tous les documents utiles: je puis donner à cet égard une assurance personnelle." Pierre RENOUVIN, „La politique française en juillet 1914 d'après les Documents diplomatiques français", in: Revue d'Histoire de la Guerre Mondiale 15 (1937), S. 1-21, hier S. 19. 299
TOSCANO, Treaties,S.
152.
300 PÜR e ¿ n e kritische Würdigung vgl. Bernadotte E. SCHMITT, „France and the Outbreak of the World War", in: Foreign Affairs 15 (1937), S. 516-536. Ferner aus französischer Sicht: RENOUVIN, „Politique française"; Jules ISAAC, „Observations"; Camille BLOCH, „Quelques réflexions". Weiterführend ist hierzu allerdings am Besten: Keith HAMILTON, „The Historical Diplomacy of the Third Republic", in: Keith WILSON (Hg.), Forging the Collective Memory. Government and International Historians through Two World Wars, Oxford 1996, S. 29-62.
90
II. Amtliche Akteneditionen
standteil dieser Propaganda bildete auch die Steuerung, Kontrolle, Zensur und Genehmigung der Akteneditionen durch das Auswärtige Amt. Bestand diese Zensur anfänglich ,bloß' in der gezielten Unterdrückung unerwünschter Passagen, dehnte sie sich in der letzten Phase der Weimarer Republik bis zur pauschalen Repression ganzer Publikationen aus. Drittens: Nach dem Ersten Weltkrieg vermochten die diskreditierten amtlichen Farbbücher ihre politische Funktion nicht mehr wahrzunehmen. An ihre Stelle traten Publikationen mit wissenschaftlichem Anstrich, wobei die Verantwortung dafür formell an unabhängige', im Ausland als integer geschätzte Persönlichkeiten übertragen wurde. Viertens: Nachdem die deutsche Regierung die Unmöglichkeit einer defensiven Entlastung durch die Veröffentlichung der unmittelbaren Vorkriegsakten zur Julikrise von 1914 (Kautsky-Dokumente) erkannt hatte, wählte sie die offensive Strategie, durch Offenlegung der eigenen Archive für die Zeit des Hochimperialismus ( G r o ß e Politik) auf die allgemeinen imperialistischen Machenschaften aller Mächte hinzuweisen und dadurch Deutschlands Rolle und Schuld zu relativieren. Fünftens: Quellenkritisch ergeben sich für die Benützung der deutschen Akteneditionen der Zwischenkriegszeit vor allem Probleme hinsichtlich der inneren Selektion, und zwar aufgrund der selektiven, auf eine Apologie Deutschlands bezüglich der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gerichteten Auswahl der veröffentlichten Aktenstücke. Nebst der Zensur des Auswärtigen Amts und der antizipierenden, fügsamen Selbstzensur der Herausgeber trat ebenfalls eine äußere Selektion durch Eingriffe ausländischer Regierungen. Sechstens: Die Edition der Großen Politik hatte einen „enormous impact on world public opinion" 301 (Mario Toscano), entfaltete in der internationalen Kriegsursachendebatte „eine einzigartige, fast sensationelle Wirkung" 302 (Wolfgang Schieder), bewirkte gar „eine Revolution in der Erforschung der neuesten Zeit" 3 0 3 (Fritz T. Epstein) und stellte politisch einen „wesentlichen Aktivposten unserer Außenpolitik" 304 (Friedrich Thimme) dar. Zudem ermöglichte und begünstigte sie vor allem in den USA eine zunehmend revisionistische Geschichtsschreibung. Die wissenschaftlichen Verdienste der Edition wurden mit der Zeit bedeutender als die ihr ursprünglich zu Grunde liegenden tagespolitischen Intentionen. 305 Trotz aller quellenkritischen Einwände und Bedenken kann und wird die Große Politik auch in der heutigen Forschung benützt. Der Gang ins Archiv wird dem Historiker aber dadurch, wie bei allen Editionen, nicht erspart.
3°'
TOSCANO,
Treaties, S. 137f.
302 SCHIEDER, „Erster Weltkrieg", S. 847. 3 0 3 EPSTEIN, „Erschließung", S. 207. 304 305
Wie oben Anm. 229. Dort S. 258. Vgl. HILDEBRAND, Außenpolitik, S. 55.
2. Der europäische Krieg der Dokumente. 1917-1939
91
Aus dem für die Zwischenkriegszeit dargelegten Umgang Großbritanniens und Frankreichs mit ihren Akten sind für unsere Fragestellung zusammenfassend folgende fünf Punkte festzuhalten: Erstens: Wie im Falle der deutschen Großen Politik, welche der genuin politischen Absicht entsprossen war, Deutschland von der Kriegsschuld zu entlasten und damit letztlich unter dem Mantel der Wissenschaft eine Revision des Versailler Vertrages zu bewirken, wurden die Entscheidungsprozesse für die britische und die französische Editionen ebenfalls von politischen Uberlegungen bestimmt. Zweitens: Freilich kam der Entschluss zur Offenlegung der eigenen Archive für die Sieger des Ersten Weltkrieges nicht ganz freiwillig zustande. Auf der Friedenskonferenz hatten sie nämlich einen entsprechenden deutschen Vorstoß noch erfolgreich abwehren können. Durch die sowjetischen Enthüllungen in der Presse und den deutschen Alleingang in der Auflage einer gigantischen Aktenedition gerieten Großbritannien und Frankreich sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch in den Verdacht, eine Aufklärung der eigenen Verantwortungen verhindern zu wollen. In der Tat mussten sie sich dem Druck des von Thimme postulierten Publikationszwangs beugen. Gleichzeitig versuchten sie mit ihren eigenen Aktenpublikationen die positive Rezeption der Großen Politik, welche in den USA unter den Historikern sogar zu einer deutschlandfreundlichen revisionistischen Schule geführt hatte, einzudämmen. Jedoch kamen ihre Serien, welche erst gegen Ende der zwanziger Jahre zu erscheinen begannen, zu spät. Bis dahin war einerseits die Kriegsschuldforschung längst von den deutschen Akten geprägt, und andererseits hatte sich die deutsche Frage im Geiste von Locamo zu verändern begonnen. Drittens: In arbeitsorganisatorischer Hinsicht divergierten das britische und das französische Unternehmen beträchtlich. Das Kabinett MacDonald verbesserte den von Deutschland gezeigten Weg und wählte für die Leitung der Edition renommierte Historiker aus dem universitären Bereich, welche für eine unabhängige und wissenschaftliche Bearbeitung der Sammlung bürgten. Im Gegensatz zu Thimme in Deutschland, der sogar nach Vollendung der Serie weiterhin im Dienste des Auswärtigen Amts blieb, gingen die Lehrstuhlinhaber Gooch und Temperley weiterhin ihren universitären Verpflichtungen nach. Die Regierung Poincaré bestimmte hingegen ein korporatistisches Organisationsmodell, eine riesige Kommission, welcher nebst ausgewiesenen Historikern auch amtierende Beamte und ehemalige Diplomaten angehörten, eine Zusammensetzung, die zeitweise für Konflikte sorgte. In editionstechnischer Hinsicht zeichnete sich die französische Sammlung durch ihre konsequent verfolgte Praktik der strikt chronologischen Anordnung der Aktenstücke aus. Damit unterscheidet sie sich in einem wesentlichen Punkt von der in der deutschen und britischen Edition gewählten sachsystematischen Gliederung, die für den wissenschaftlichen Gebrauch mit erheblichen Nachteilen verbunden ist.
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II. Amtliche Akteneditionen
Viertens: Die deutsche, die britische und die französische Aktenpublikation trugen dazu bei, einen ,,neue[n] Typ des modernen Historikers" 3 0 6 (Fritz T. Epstein) zu schaffen: einen Historiker mit staatlicher Aufgabe und Besoldung, welcher dennoch unabhängig handeln können sollte. Allerdings war diese Lösung, die sich aufgedrängt hatte, weil amtliches Material durch den Effekt der Propaganda nach dem Ersten Weltkrieg diskreditiert war, in der Praxis noch nicht ausgereift, denn es fehlten ausgeklügelte institutionelle Mechanismen, welche die Freiheit der Historiker effektiv hätten garantieren können. Sowohl bei der britischen als auch bei der französischen Edition konnte plausibel belegt werden, dass die Herausgeber verschiedentlich starkem politischem Druck ausgesetzt waren. Fünftens: In methodischer Hinsicht muss nochmals ausdrücklich auf die Diskrepanz zwischen der Quellenbasis für die Beurteilung des deutschen einerseits und der britischen und französischen Publikationsunternehmen andererseits hingewiesen werden. Konnte die Forschung für die Analyse der deutschen Edition auf die gesamte von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg erbeutete, nach England abtransportierte und erschlossene Aktenmasse aus dem Auswärtigen Amt zurückgreifen und dadurch in der Nachkriegszeit eine für unsere Fragestellung sehr ergiebige Kontroverse führen, deren letzte Absicht der Aufschiebung der Rückführung der deutschen Akten galt, so ist bislang eine sich auf eine ähnlich breit angelegte Quellenbasis stützende kritische Debatte für die British Documents on the Origins of the Wdr(1898-1914) und die Documents diplomatiques français (1871-1914) ausgeblieben. Mit den vorangegangenen Betrachtungen über die Auflage von Farbbüchern und denjenigen zu den klassischen großen amtlichen Akteneditionen der Zwischenkriegszeit wird die Darstellung europäischer amtlicher Publikationspraktiken von historischem Quellenmaterial für das 19. und für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts abgeschlossen. Der Weg führt uns nun zunächst in die USA des 19. Jahrhunderts zurück, zu jener (aus Europa) zurückgezogenen Großmacht also, die für den Umgang mit den eigenen Akten eine etwas andere Praktik anwandte.
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations" 1861-2000 Anstatt eine detaillierte Analyse der diplomatischen Entwicklungen des letzten Jahres zu liefern, verkündete Präsident Abraham Lincoln während seiner ersten Jahresbotschaft vor dem Kongress am 3. Dezember 1861 lakoFritz T. EPSTEIN, „Die Erschließung von Quellen zur Geschichte der deutschen Außenpolitik. Die Publikation der Akten des Auswärtigen Amts nach den beiden Weltkriegen - ein Vergleich der Methoden", in: Die Welt als Geschichte 22 (1962), S. 204-219, hier S. 205. 306
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1 8 6 1 - 2 0 0 0
93
nisch: „The correspondence itself, with the usual reservations, is herewith submitted."307 Er verteilte eine Sammlung von Aktenstücken zur Außenpolitik und richtete danach sein Augenmerk auf den gerade wütenden Bürgerkrieg. Die Zusammenstellung erschien in der Folge separat als 441-seitiges Regierungsdokument unter dem Titel Papers Relating to Foreign Affairs.109 Was Lincoln ohne große Ankündigungen und Pläne, vielleicht bloß der Zweckmäßigkeit einer in Kriegszeiten kurz zu haltenden Ansprache wegen, initiiert hatte, entwickelte sich zu einem Unikum unter den amtlichen Aktenpublikationen: die Foreign Relations of the United States,109 einer Serie, die unbeachtet zweier Weltkriege und aller internationalen Krisen zum Trotz seither ununterbrochen310 erscheint. Diese lange Kontinuität spiegelt diejenige des politischen Systems der USA wider. Das Fehlen von makroskopischen Zäsuren bewirkte einerseits eine kontinuierliche und rasche Erscheinungsweise, die - im Gegensatz zu Europa - nicht des Antriebs tiefgreifender internationaler Krisen und Systemwechsel bedurfte; andererseits verhinderte aber diese Absenz von Diskontinuitäten ähnlich weitgehende Enthüllungspraktiken. In diesem Kapitel soll das Reihenwerk von den Anfängen an gewürdigt werden. Ausgehend von unserer Fragestellung soll primär auf eine Periodisierung entlang der europäischen Entwicklung fokussiert werden, ferner auf die zentralen Momente der eigenartigen bürokratisch-institutionellen Organisation der Herausgabe sowie schließlich auf deren Behinderung, aber auch Förderung im Spannungsfeld zwischen tagespolitisch bedingten Interessen und wissenschaftsexternen Einflüssen. Die Foreign Relations ist die älteste aller amtlichen Aktemerze«. Dennoch ist sie in ihrem Charakter trotz ihrer langen Kontinuität keineswegs einmalig, denn sie durchlief ähnliche Entwicklungen wie die europäischen amtlichen Editionen. So können wir auch für den amerikanischen Fall entlang markanter Zäsuren in der Qualität der Publikationen eine Periodisierung der amtlichen Akteneditionstätigkeit zur Außenpolitik wagen und insgesamt mindesPapers Relating to Foreign Affairs Accompanying the Annual Message of the President [...], Washington 1861, S. 4. Hervorhebung von mir, SZ. 3 0 8 Richard W. LEOPOLD, „The .Foreign Relations' Series: A Centennial Estimate", in: The Mississippi Valley Historical Review 4 9 (1963), S. 5 9 5 - 6 1 2 , hier S. 595. 309 Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers 1861 f f , Washington 1861 ff. Korrekterweise hieß der Titel von 1861 bis 1870: Papers Relating to Foreign Affairs Accompanying the Annual Menage of the President, und von 1871 bis 1931 -.Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers. Da die Serie trotz Namensänderungen eine klare Einheit bildet, wird sie hier im Folgenden der Einfachheit halber und wie in der Literatur üblich auch für jene Periode, als dieser Titel noch nicht feststand, im Text als ,Foreign Relations' und im Anmerkungsapparat als J-RUS' abgekürzt angegeben. 307
Abgesehen vom annus horribilis 1869, dem ersten Amtsjahr der Grant Administration, als das von Außenminister Hamilton Fish geleitete Außenministerium aus unbekannten Gründen keinen Band auflegte.
310
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II. Amtliche Akteneditionen
tens vier grundverschiedene Phasen unterscheiden: 311 Die erste kann als Vorphase der Foreign Relations gelten und deckt die Zeit von der jungen Republik bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Die zweite Phase, diejenige der jungen Foreign Relations, setzte 1861 ein und erstreckte sich bis in die Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die dritte Phase begann parallel zu den großen europäischen Akteneditionen der Zwischenkriegszeit und erstreckte sich bis in die Mitte der vierziger Jahre. 312 Die vierte und letzte Phase, diejenige der Nachkriegszeit unter der Prämisse der Polarität des Kalten Krieges, kann hier von den Anfängen um das Jahr 1948 mangels erschlossenen Quellenmaterials nur bis zu den frühen siebziger Jahren archivisch verfolgt werden, doch erlauben verschiedene Hinweise einen Ausblick bis in die Gegenwart zu wagen. Der lange Weg zur
Professionalisierung
Schon in der Vorphase der Foreign Relations übte sich die junge Republik in der Publikation von außenpolitischen Materialien. Im Jahre 1790 hatte nämlich der Kongress beschlossen, dass Vertragstexte in die offiziellen Gesetzeskompilationen aufzunehmen seien. Einsetzend mit dem Jahr 1818 wurden verschiedentlich Editionen von diplomatischen Korrespondenzen offiziell gutgeheißen, zuerst eine zwölfbändige Edition über den Unabhängigkeitskrieg und 1832 sieben Bände mit Instruktionen und Korrespondenzen aus der Zeit von 1783 bis 1789. Von 1832 bis 1859 wurden im Rahmen der Edition der American State Papers sechs Bände herausgegeben, welche die USAußenpolitik von 1789 bis 1828 abdeckten. Obschon als Serien konzipiert, entsprachen diese Publikationen vom Charakter her eher europäischen Farbbüchern und erhoben dementsprechend keine höheren wissenschaftlichen Ansprüche. 313 Andere Materialien zur Außenpolitik wurden punktuell und an disparatesten Stellen in die Senatsunterlagen aufgenommen. Mit dem Beginn der Publikation der Foreign Relations im Jahre 1861 setzte die zweite Phase ein. Die jährlich aufgelegten Bände kamen bis zur Jahrhundertwende in der Regel schon ein Jahr nach den betreffenden Ereignissen heraus. 314 Dies soll uns aber nicht zu anachronistischen Kurzschlüssen über Vgl. auch TOSCANO, Treaties, S. 2 1 4 - 2 3 6 . Eine andere Periodisierung schlägt vor: William Francis SHEPPARD Jr., A History and Evaluation of „Foreign Relations of the United States: Diplomatic Papers", Fullerton 1967 (unveröffentlichte Master Thesis am California State College at Fullerton). 3 1 3 LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 596 f. Für genaue bibliografische Angaben vgl. dort, Anm. 2 - 4 . 3 1 4 Bis 1880 wurde allen Bänden für das laufende Jahr die präsidiale Kongressrede, die jeweils im Dezember stattfand, beigelegt. Danach wurden in der Regel bis zum Jahre 1906 - mit Ausnahme der Periode nach dem spanisch-amerikanischen Krieg - die Jahresfrist eingehalten. Vgl. E. Ralph PERKINS, „.Foreign Relations of the United States': 91 Years of American Foreign Policy", in: Department of State Bulletin 32 (1952), S. 1 0 0 2 - 1 0 0 7 , hier S. 1002. 311
312
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1861-2000
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eine vermeintlich totale amerikanische demokratische Transparenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verleiten, wie sie uns mancher (amtliche) Hagiograph glauben machen wollte, 3 1 5 denn die Serie war anfänglich sehr oberflächlich und für die historische Forschung durchwegs ungeeignet und unergiebig. Der Historiker Fredric Bancroft überprüfte für seine Forschungen die Dokumente der Foreign Relations 1861 und veröffentlichte die ausgelassenen Teile der darin enthaltenen Akten: „The deleted passages did change somewhat the tone of the dispatches." 316 Der primäre Zweck der Publikation war nämlich, die Administration mit einer bequem zugänglichen Sammlung von Akten, welche das relevante Material zur Entwicklung des Völkerrechtes enthielt, als Arbeitsinstrument für die Außenpolitik zu versehen. Diesen juristischen Charakter behielt die Reihe bis zum Erscheinen des Bandes für das Jahr 1917. 3 1 7 Entsprechend fehlten stets diejenigen Akten, welche eine genaue Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses hätten ermöglichen können. Die Editionsarbeit blieb ebenfalls dürftig und die Herausgeberschaft anonym. Die Abschriften waren unsorgfältig und ein kritischer Anmerkungsapparat zur Identifikation der Dokumente oder editionstechnische Angaben fehlten gänzlich. 318 Trotz einer Ausrichtung, welche sich bereits aus der Tatsache ergab, dass die kurze Zeitspanne zwischen Geschehen und Publikation die Aufnahme von vertraulichen Aktenstücken in die Serie verhinderte, und die somit keineswegs auf ein schonungsloses Enthüllen außenpolitischer Vorgänge abzielte, entflammte manche diplomatische Kontroverse. In den 1870er Jahren zitierte die anti-amerikanische Presse Großbritanniens genüsslich und extensiv aus den Foreign Relations und versah diese Exzerpte mit scharfen Kommentaren gegen die US-Regierung. Im Jahre 1875 beschwerte sich das türkische Außenministerium, weil in einem Band der Foreign Relations amerikanische Korrespondenzen mit Tripolis und Tunis unter dem Titel „Barbary States" anstatt „Turkey" erschienen waren. 319 1877 wurde der amerikanische Minister in Venezuela aufgrund einer abgedruckten unschmeichelhaften Korrespondenz aus dem Jahre 1875 des Landes verwiesen. Dieser Beanstandungen
Vgl. beispielsweise den Aufsatz des Direktors des Historical Office im Dep. of State, William M. FRANKLIN, „The Future of the .Foreign Relations' Series", in: Department of State Bulletin 61 (1969), S. 247-251: „When the series was started in 1861, it was obviously a novel republican venture based on the then shocking idea that the people had a right to know on a current basis how their foreign affairs were being conducted. [...] The reason [für die anfänglich bescheidene Rezeption, SZ], of course, was that the United States policy in those years was so limited, overt, and doctrinaire that the only secret revealed by the series in those early days was that the American Republic had no secrets to reveal." S. 247. 3 1 6 SHEPPARD, History and Evaluation, S. 20. 315
317
V g l . TOSCANO, Treaties,
S. 2 1 4 .
LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 597. 319 W 0 1 i a m ρ. SHEPPARD, „Documents of American Foreign Policy. The Case for Earlier Publication", in: World Affairs 134 (1971), S. 125-131, hier S. 125. 318
96
II. Amtliche Akteneditionen
von ausländischen Regierungen wegen, aber auch infolge internen Druckes amerikanische Diplomaten in Peking und Tokyo hatten die zu schnelle Freigabe ihrer Korrespondenzen beklagt 3 2 0 - wurde die Veröffentlichungspolitik im Department of State einer Revision unterzogen. In den achtziger Jahren wurde zum Schutz der eigenen Diplomaten ein Selektionsmechanismus entwickelt, welcher den einzelnen Ministern die Entscheidung überließ, welche Korrespondenzen für die Publikation vorzusehen waren. So ist es keineswegs verwunderlich, dass sich eine extrem selektive Auswahl der Dokumente durchsetzte. 3 2 1 Nach dem spanisch-amerikanischen Krieg ging das Department of State sogar so weit, die bis dahin unübliche Entscheidung zu treffen, den entsprechenden Band des Jahres 1898 von einem hohen Beamten, welcher an den Friedensverhandlungen teilgenommen hatte, edieren zu lassen und die Publikation bis zum Juni 1901 hinauszuzögern. 3 2 2 Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen wurden die darin enthaltenen Enthüllungen von der antiimperialistischen Presse zur Unterstützung der Anschuldigungen gegen Präsident William McKinley aufgegriffen, der Kuba-Konflikt hätte vermieden werden können, wenn er dem amerikanischen Volk die Wahrheit gesagt hätte. Allerdings hatte bereits eine kursorische Uberprüfung dieses Bandes mit den Originalen seitens des Historikers Richard W. Leopold in den sechziger Jahren grobe Fehler und Auslassungen ans Tageslicht gebracht. 3 2 3 Ziel der Sammlung war jedenfalls nicht die komplette Wiedergabe der Aktenstücke, denn kurz nach der Jahrhundertwende bemerkte der verantwortliche Chefbeamte des Department of State treuherzig, dass die Aktenstücke „are given in part." 3 2 4 Eine Dekade später, 1911, bekannte der Chef der Manuskriptenabteilung der Library of Congress, dass das brisanteste Material ausgelassen worden sei und dass diese Weglassungen und die zunehmende Verspätung bei der Herausgabe intendierten, die laufende Politik zu schützen. 3 2 5 In der Tat hatte sich seit 1906 der Rückstand von einem Jahr auf vier im Jahre 1914 und auf acht im Jahre 1921 vervielfacht. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Foreign Relations ausgerechnet während der Amtsperioden der Präsidenten Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson, die beide akademisch ausgebildete Historiker waren, einen weniger liberalen Kurs einschlugen 3 2 6 und deren Publikation einen zunehmenden Rückstand erfuhr. Diese Entwicklung kulminierte 1919 während der Kompilationsarbeiten der 320
321 322
323
324
SHEPPARD, „Documents", S. 125. LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 598, und SHEPPARD, „Documents", S. 125. PERKINS, „91 Years", S. 1002 f., und LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 598. LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 598 f. und Anm. 12.
William H. MICHAEL, History of the Department
of State of the United
States,
Washington 1901, S. 33, zit. nach. SHEPPARD, „Documents", S. 126, und PERKINS, „91
Years", S. 1003. 3 2 5 Gaillard HUNT, „The History of the Department of State, VIII", in: American Journal of International Law, 5 (1911), S. 1018, zit. nach LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 5 9 9 . 326
PERKINS, „91 Years", S. 1003.
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1861-2000
97
Foreign Relations 1912 in der Etablierung der bekannten diplomatischen Gepflogenheit, für die von ausländischen Regierungen verfassten Aktenstücke das Einverständnis für die Publikation einzuholen.327 Zusammenfassend können wir für diese zweite Phase festhalten, dass die Edition der Foreign Relations keineswegs wissenschaftliche Ziele verfolgte. Als Herausgeber amteten in einem „one-man job" anonyme Beamte des Department of State.328 Die Serie wurde zu Beginn ihres Erscheinens sehr rasch nach den Ereignissen der Öffentlichkeit übergeben, denn ihr Charakter war nicht enthüllender Natur, sondern sie diente primär als Sammlung von völkerrechtlich relevanten Dokumenten. Dennoch führten sowohl diplomatische Proteste seitens ausländischer Regierungen als auch aus den eigenen Reihen zu einer zunehmend noch vorsichtigeren Auswahl der Aktenstücke. Daraus resultierte in den beginnenden zwanziger Jahren eine zunehmende Verspätung der Auflage und die Einführung der Praktik, Aktenstücke vor deren Publikation den betreffenden ausländischen Regierungen zur Zensur vorzulegen. Mit der dritten Phase setzte die moderne Ära der amtlichen Publikation historischen Materials auch in den USA ein. Sie begann während der zwanziger Jahre parallel zum Erscheinen der großen europäischen Akteneditionen der Zwischenkriegszeit. Statt einer klaren Zäsur können wir eine etwa zehnjährige Ubergangsphase entlang einer dreifachen Entwicklung skizzieren: 1921 wurden die Zuständigkeiten für die Publikationstätigkeit im Department of State reorganisiert; 1925 wurde eine Richtlinie über die Prinzipien der .historischen Objektivität' verabschiedet, welche die Edition der Foreign Relations im Wesentlichen bis heute 329 unverändert leitet; und 1929 wurde das gesamte Publikationsprogramm des Department of State unter dem starken Druck amerikanischer Fachvereinigungen neu konzipiert. Diese drei Einschnitte tangieren drei zentrale Momente: erstens die Frage nach der bürokratisch-institutionellen Organisation der Herausgabe, zweitens diejenige nach dem Druck der Öffentlichkeit - das heißt präziser: externer Interessenverbände (pressure groups), welche sich für eine qualitative und quantitative Verbesserung der amtlichen Publikationen einsetzten - und drittens jene nach den Prinzipien, welche die Herausgabe leiteten. Institutionelle
Lösungen
Die Frage nach der institutionellen Lösung für die Edition von Aktensammlungen ist eine der relevantesten, denn in ihr liegt in nuce die ganze Problematik der Objektivität und der Unabhängigkeit der Forschung. Bisher haben wir bereits mehrere Organisationsformen angetroffen: Bei den europäischen SHEPPARD, „Documents", S. 126. Sheppard belegt, wie dieser Brauch bereits 1864 und 1883 in diplomatischen Kreisen angewandt worden war. 327
328
329
PERKINS, „ 9 1 Y e a r s " , S . 1 0 0 3 .
Vgl. z.B. FRUS. 1952-1954, Bd. 10: Iran 1951-1954, Washington 1989, S. III.
98
II. Amtliche Akteneditionen
Farbbüchern waren ad hoc bestimmte Beamte der jeweiligen Außenministerien für die Edition verantwortlich; im deutschen Falle der Großen Politik war das Auswärtige Amt im Sog der Kriegsschuldkontroverse bestrebt, im Ausland anerkannte Gelehrte zu gewinnen und ihnen - mindestens vordergründig - unabhängiges Handeln zu gewähren; bei den britischen Documents on the Origins of the War verstärkte sich diese Entwicklung, denn die gewählten akademisch schwergewichtigen Herausgeber kämpften öffentlich für ihre Unabhängigkeit; im französischen Fall wurde schließlich in der Form einer großen, aus hohen Beamten und Historikern zusammengesetzten Kommission eine korporatistische Lösung getroffen. Während ihrer ersten sechzig Jahre erfuhren die Foreign Relations das gleiche Schicksal wie die europäischen Farbbuchunternehmungen: Die Bearbeiter wurden mehrmals ausgewechselt und sie blieben anonym. 330 Dementsprechend wenig wissen wir darüber. Für das Jahr 1873 gibt das Register des Department of State immerhin preis, dass dem Büro Index and Archives die Kompetenz zufalle, die Vorbereitungen für die Papiere, welche die Botschaften und Berichte für den Kongress begleiteten, zu treffen. Damit involviert war aber auch das Büro Rolls and Library, das 1874 kreiert, 1879 abgeschafft und 1882 durch einen Kongressakt wiederum ins Leben gerufen wurde. Für das Jahr 1893 wissen wir, dass die Foreign Relations-Bände von einem Diplomaten im Diplomatie Bureau ediert wurden, obschon dies eigentlich gar nicht in die Kompetenzen dieser Dienststelle fiel. Die Odyssee der Serie ging weiter, als deren Edition 1898 dem Büro des Chief Clerk, 1901 dem Büro Indexes and Archives und 1909 der neu erstellten Division of Information übertragen wurde. Als Folge des Ersten Weltkrieges und als Ausdruck der endgültigen Etablierung des Großmachtstatus' wurde diese 1917 auf den vielsagenden Namen Division of Foreign Intelligence umgetauft, aber schon vier Jahre später, mit der Zementierung der Nachkriegsordnung, in die .zivilere' Division of Foreign Information nochmals umbenannt. 1918 setzte mit der Berufung des Historikers Dr. Gaillard Hunt, des ehemaligen Direktors der Manuskriptenabteilung der Library of Congress, ins Department of State als Herausgeber einer (nie erschienenen) offiziellen Geschichte des Ersten Weltkrieges die Entwicklung hin zu einer Professionalisierung der historischen Arbeit ein, die mit der Ernennung von Hunts Nachfolgern fortgesetzt wurde. 331 1921 schaffte Außen-
F ü r eine Darstellung der organisatorischen Zuständigkeiten im Dep. of State vgl. PERKINS, „91 Years", S. 1003; LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 599f.; Studie „Division of Research and Publication", [Washington,] s.d. [ca. 1944], N A , R G 59, L o t Files, Records of the War History Branch, Working Papers and Source Materials for Histories of Organizational Units, 1 9 3 8 - 1 9 4 9 , Dep. of State, R C , Publications to Dep. of State, SD, Special Division, B o x 57, „RP-Administration and Procedure Research and Publications" (eine Kopie findet sich ebenfalls in B o x 23); vgl. ferner unten Anm. 346. 330
In der Leitung der Division of Publication amtierten in dieser Phase die Historiker Dr. Gaillard Hunt 1 9 2 1 - 1 9 2 4 , Dr. Tyler Dennet 1 9 2 4 - 1 9 3 1 , Hunter Miller 1 9 3 1 - 1 9 3 4 ,
331
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minister Charles Evans Hughes das Büro Rolls and Library ab und errichtete eine Division of Publication. 332 Hunt wurde leitender Herausgeber im Außenministerium und gleichzeitig Direktor der neuen Publikationsdivision, welche nebst der Departementsbibliothek ebenfalls die Verantwortung für die Foreign Relations übernahm. Für deren Kompilation wurde eine Beamtenstelle zur Verfügung gestellt. 1929 wechselte die Zuständigkeit für die Edition der Foreign Relations zum Office of the Historical Adviser. Als Reaktion auf externe Kritik seitens der Vereinigungen der Völkerrechtler und der Politologen und als Folge des politischen Druckes, welchen diese Wissenschaftsverbände in der Öffentlichkeit erfolgreich ausübten, 333 expandierte das Department of State sein Publikationsprogramm und errichtete die Research Section im Büro des Historischen Beraters, um die - inzwischen einen immer größeren Rückstand einfahrende - Publikation der Foreign Relations zu beschleunigen und eine systematische Publikation von (amtlichen) Periodika zu beginnen. Das neu konzipierte Programm wurde dem Kongress sofort mit einer Anfrage nach stark aufgestockten Mitteln unterbreitet. Danach wurde es ständig vergrößert, blieb aber bis in die Kriegszeit hinein in seinen Grundzügen jenen aus dem Jahre 1929 gleich. 334 Als Folge der mit der Zeit expandierten Tätigkeitsbereiche des alten Büros des Historischen Beraters wurde durch die departementale Verordnung 560 vom 1. November 1933 die Division of Research and Publication kreiert: der Aufgabenbereich wurde in zeitgeschichtliche Forschung und Publikationstätigkeit einerseits und historische Forschung vor dem 19. Jahrhundert andererseits aufgeteilt. Das Büro des Historischen Beraters blieb verkleinert erhalten. Der neu errichteten Division übertrug man sechs Grundaufgaben: die Vorbereitung und Kompilation der Foreign Relations of the United States·, die Supervision über die Departementsbibliothek; die Vorbereitung, Aufbewahrung und Vertreibung aller Publikationen des Department of State (außer denjenigen des Historischen Beraters); die Supervision der Arbeit des Herausgebers der Territorial Papers of the United States-, die Edition und Kompilation der Session Laws, Statutes at Large, Executive Orders und Proclamations-, und schließlich die Supervision über alle Angelegenheiten betreffend departementaler Drucksachen. Während der nächsten zehn Jahre expandierte die Tätigkeit dieser Division beträchtlich, Cyril E. Wynne 1934-1939, Dr. E. Wilder Spaulding 1939-1946 und Dr. G. Bernard Noble ab 1946. 3 3 2 Vgl. dazu auch Graham H. STUART, American Diplomatie and Consular Practice, New York 1936, S. 69 und 132-139. 333 Vgl Bericht des Ausschusses über Publikationen der Eight Conference of Teachers of International Law and Relates Subjects, [Washington,] s.d. [aber verfasst für die Konferenz vom 24.-25. 4. 1946], N A , RG 59, C F 1950-54, Box 4, 026 Foreign Relations/7-146. 3 3 4 Studie „The Publications Program of the Department of State", [Washington,] s.d. [vor 1945], NA, RG 59, Lot Files, Records of the War History Branch, Box 23, „Division of Research and Publication".
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was sich organisatorisch in der departementalen Verordnung 1218 vom 15. Januar 1944 niederschlug, welche das Organigramm des Department of State vollständig reorganisierte. Schon im Jahre 1940 wurde aber die Publishing Section mit der Special Documents Section zu einer neuen Editorial Section zusammengeschlossen; die Edition der Foreign Relations wurde in der Folge der Research Section übertragen. In Ergänzung zur Verordnung 560 aus dem Jahre 1933 beauftragte diejenige vom Jahresbeginn 1944 die Division, sowohl historische Studien über internationale Beziehungen als auch Studien über die departementalen Politiken während der Kriegszeit zu verfassen. Zugleich wurde auch die Aufgabe übernommen, für die laufenden Geschäfte .historische Informationen' - sprich Legitimationsargumente - zu liefern. Im Organigramm des Department of State wurde die Division of Research and Publication dem Office of Public Information einverleibt und dieses übernahm viele der Funktionen der ehemaligen Treaty Division und des ehemaligen Office of the Editor of the Treaties. Noch im selben Jahr aber wurde durch die Verordnung 1301 vom 20. Dezember 1944 das Department wieder umgestellt, was allerdings für die Division of Research and Publication nur einer administrativen Erleichterung gleichkam, da die steigende Masse von Korrespondenzen des Department of State mit Bürgern neu von einer dafür errichteten Abteilung übernommen wurde. Von 1946 bis 1953 hieß die Division of Research and Publication neu Division of Historical Policy Research, von 1953 bis 1959 wurde sie Historical Division genannt und 1959 in Historical Office umgetauft. Im Gegensatz zu diesen ständigen Fluktuationen im Organigramm des Department of State zeigte sich aber bei den Herausgebern der Foreign Relations eine große Kontinuität. Zuerst fungierte von 1925 bis zu seinem Tode im Jahre 1932 Dr. Joseph V. Fuller in dieser Funktion und ihm folgte - nach einer Interimsperiode von vier Jahren - bis in die sechziger Jahre Dr. Ernest Ralph Perkins. Diese akademisch gebildeten Historiker, hauptberuflich in einer beamteten Stelle des Außenministeriums tätig, stellten paradigmatisch einen neuen Typ des modernen Historikers dar. Allerdings waren - wie in der Folge gezeigt wird - die institutionell gegebenen Verflechtungen mit dem politischen Teil der Administration derart eng, dass die Konflikte entlang des Spannungsfeldes zwischen dem Gebot der historischen Objektivität und der Logik des politisch Opportunen vorprogrammiert waren. Die einsetzende Professionalisierung durch akademisch gebildete Historiker zu Beginn der zwanziger Jahre bedingte ebenfalls eine klare Definition der Prinzipien zur Leitung der Aktenselektion und der Herausgabe, was wir als zweites entscheidendes Moment betrachten. Diese Entwicklung bekam eine indirekte politische Unterstützung durch Präsident Wilsons 14-PunkteProgramm, welches sich auch gegen die geheime Diplomatie gerichtet hatte. 1925 erhielt das ganze Publikationsprogramm des Department of State neue Impulse seitens der starken Leitung Dr. Tyler Dennets. Insbesondere wurde eine départementale Verordnung entworfen, welche die Prinzipien für die
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Publikation der Foreign Relations festhielt. Außenminister Frank B. Kellogg unterschrieb sie am 26. März 1925 und setzte sie damit in Kraft. Die Kellogg-Richtlinie begann mit der Feststellung, dass die Publikation diplomatischer Korrespondenz über laufende Angelegenheiten häufig eine unüberwindbare Hürde für die Führung effizienter Verhandlungen darstelle. Nach Abschluss der Verhandlungen aber sollten „as soon as practicable after the close of each year" die Korrespondenzen betreffend aller wichtigsten Politiken und Entscheidungen des Department, zusammen mit den Ereignissen, welche zur Formulierung jedes Entschlusses beigetragen hatten, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dies könne in der Form der Foreign Relations zweckmäßig erreicht werden. Es werde erwartet, dass das zusammengestellte Material, abgesehen von Auslassungen von Trivialitäten und inkonsistenter Details, bezüglich den Akten des Department substanziell vollständig sei. Somit sei die Edition als eine wichtige Aufgabe des Department zu betrachten. Zuständig für die Edition sei die Division of Publications. Nach Fertigstellung sollten aber die jeweiligen Kapitel den zuständigen diplomatischen Abteilungen zur Nachprüfung zugestellt werden. Diese hätten die Pflicht, „any omissions which appear to be required" anzuzeigen. Als legitime und nötige Auslassungen bezeichnete die Kellogg-Richtlinie fünf Kategorien: „(a) Matters which if published at the time would tend to embarrass negotiations or other business; (b) To condense the record and avoid needless details; (c) To preserve the confidence reposed in the Department by other governments and by individuals; (d) To avoid needless offense to other nationalities or individuals by excising invidious comments not relevant or essential to the subject; and, (e) To suppress personal opinions presented in despatches and not adopted by the Department. To this there is one qualification, namely, that in major decisions it is desirable, where possible, to show the choices presented to the Department when the decision was made."·'35
Nebst diesen Einschränkungen enthielt aber die Kellogg-Richtlinie auch eine Reihe von Bestimmungen zu Gunsten einer objektiven und ehrlichen Darstellung. So durften keine Änderungen des Textes, keine Auslassungen ohne entsprechenden Hinweis im Text und keine Auslassungen von Fakten, welche für den Entscheidungsprozess von primärer Wichtigkeit waren, vorgenommen werden. Weiter sollte keine Verheimlichung von Angelegenheiten, die als politische Fehler empfunden würden, stattfinden. Große Sorgfalt sollte auf die Verhinderung einer Mutilation von Aktenstücken verwendet werden. Dennoch wurde in der Kellogg-Richtlinie auch das 1919 initiierte Zensurverfahren mit fremden Regierungen erstmals explizit festgehalten und die Wirkung politisch antizipiert: ohne deren Einverständnis zur VeröffentAbgedruckt in: FR US. 1914. Supplement The World War, Bd. 1, Washington 1928, S. III-VI. 335
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lichung sollte kein ausländisches Dokument publiziert werden dürfen; 3 3 6 wenn aber an dieses Einverständnis die Forderung nach Auslassungen von Teilen eines Dokumentes gebunden werde, so sei es immerhin besser, dieses mindestens auszugsweise abzudrucken, als es vollständig zu unterdrücken. Die Kellogg-Grundsätze endeten mit der Ermahnung an alle mit der Edition und Zensur der Foreign Relations involvierten Amtsstellen „to cooperate heartily with a view to the preparation of an adequate and honest reco r d . " 3 3 7 Dies stellte also ein normatives Instrument für die Departementshistoriker dar, um Druck auf die diplomatischen Abteilungen ausüben zu können, damit diese ihre Auslassungswünsche nicht ausufern ließen. In der Folge wies die Historische Abteilung in den internen Korrespondenzen stets auf diese Regelung hin. 3 3 8 Diese Richtlinie wurde aber nicht nur für den innerdepartementalen Umgang benutzt, sondern - in der Einleitung der Bände der Foreign Relations abgedruckt - ebenfalls nach außen propagiert. Typisch für das amerikanische legalistische Rechtsverständnis trat sie bezeichnenderweise sogar an die Stelle der Objektivitätsschwüre der europäischen Editionen: Hatten jene Herausgeber das deontologische Gebot der Objektivität
1 93 6 bekräftigte Außenminister Hull nochmals, dass „this Government cannot undertake to make public confidential communications without the permission of the government which reposed confidence in this Government. It is important that this long-established rule of universal application among civilized nations should be observed if we are to have the respect and confidence of other governments, so essential to the conduct of international relations." Department of State Press Releases, 25. 1. 1925, S. 99-100, zit. nach Robert R. WILSON, „A Hundred Years of .Foreign Relations'", in: American Journal of International Law 55 (1961), S. 947-950, hier S. 950. 337 F RU S. 1914. Supplement The World War, Bd. 1, Washington 1928, S. III-VL, hier S. IV. 3 3 8 In ihren Begleitbriefen zu den Druckfahnen der FRUS-Biride, die sie den diplomatischen Abteilungen zur Zensur unterbreiten musste, schrieb die Historische Abteilung standardmäßig, dass „[It] is the policy of the Department to include in Foreign Relations ,all papers relating to major policies and decisions of the Department in the matter of foreign relations, together with appropriate materials concerning the events and facts which contribute to the formulation of such decisions and policies.' (See Department Regulation 045). Certain omissions from the published records, however, are permissible, as e.g. matters which, if published, would tend to embarrass current negotiations, or to give needless offense to other nationalities or individuals." Office Memo, .restricted' von G. Bernard NOBLE an JOHNSON (NA), [Washington,] 22. 6. 1951, NA, RG 59, CF 1950-54, Box 96, 023.1/6-2251. Für ein weiteres Beispiel vgl. Office Memo, von G. Bernard NOBLE an Ernest de W. MAYER (Abteilung für Nordeuropäische Ange336
legenheiten), [Washington,] 4. 2. 1957, N A , R G 59, C F 1950-54, B o x 96, 023.1/2-451.
Hier wies Noble nebst der obigen standardisierten Passage expressis verbis auch auf die gesetzlichen Grundlagen hin, unter welchen Auslassungen gerechtfertigt seien: alle Druckfahnen seien von der Division of Historical Policy Research überprüft worden, um zu bestimmen, ob Abschnitte „should be deleted for policy reasons under Departmental rules. While the galley proofs herewith attached are believed to satisfy the clearance requirements, they are being called to your attention in case of their possible bearing on current negotiations or for other reasons on which [the] Historical] Division] may not be informed." [Hervorhebung von mir, SZ].
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kraft der eigenen wissenschaftlichen Reputation .geschworen', wiesen die Amerikaner bescheidener und ehrlicher auf eine Norm hin, welche expressis verbis auch die Grenzen der Objektivität eingestand. Probleme während der Zwischenkriegszeit
und des Zweiten "Weltkrieges
Die nachfolgende Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg zeigt eindrücklich, wie schwierig und zuweilen konfliktgeladen sich die Zusammenarbeit zwischen beamteten Historikern und Diplomaten gestaltete. Mehr noch: Sie zeigt die Intensität des politischen Drucks auf, welche die Stabilität der Serie mehrmals durch verschiedene Krisen ins Wanken geraten ließ. Dennoch konsolidierten sich die Foreign Relations in den dreißiger Jahren. Ihre Qualität stieg dank der Professionalisierung der Editionsarbeit, und sie wurde in den Kreis der großen amtlichen Aktenreihen Europas aufgenommen. Nebst der steigenden Anzahl Bände für das jeweilige Jahr erhöhte sich in dieser Periode auch der kumulierte Rückstand, der sich schließlich bei 15 Jahren stabilisierte. Beim Kriegseintritt 1941 war der Band für das Jahr 1926 erschienen. Diese Verzögerung war auch die Folge einer neuen Editionspolitik,339 die sich aus der Eigenart des amerikanischen Modells ergab. Wegen des Grundkonzeptes einer institutionalisierten und in Jahresabständen verlaufenden Serie hatten sich nämlich für Schlüsseljahre (oder für Ereignisse, welche in der Folge eine eminent politische Bedeutung erhielten) beträchtliche Dokumentationslücken ergeben, weil bei der relativ raschen Auflage der Bände kurz nach den Ereignissen viel brisantes Material schlichtweg nicht in die Serie aufgenommen worden war. Dieses Problem war den europäischen Editionen fremd, weil sie teleologisch auf die Kriegsschuldfrage hin konzipiert und als solche deklariert worden waren und dementsprechend mit der Julikrise 1914 aufhörten. Als Lösung für das amerikanische Problem bot sich die Möglichkeit, die Lücken durch Unterserien nachträglich auszufüllen. So wurde die Fortsetzung der regulären Serie 1926 mit dem Band über das Jahr 1917 vorläufig aufgeschoben, und die Historiker im Department of State begannen an neun Bänden über den Krieg zu arbeiten, welche als Zusätze für die Bände von 1914 bis 1918 konzipiert zwischen 1928 und 1933 erschienen.340 Gleich-
Schon seit 1865 wurden in der FRUS-Serie zwar auch „Appendix" Bände aufgenommen, deren Charakter aber ganz anderer Natur als derjenige der Ende der zwanziger Jahre konzipierten „Supplements" war. Der erste Appendices to diplomatic correspondence of 1865. The Assassination of Abraham Lincoln, late President of the United States of America, Washington 1866, war nämlich lediglich eine umfangreiche Sammlung von Kondolenzschreiben. Andere Appendices zu völkerrechtlichen Fragen wurden 1895 (ein Band über verschiedene Angelegenheiten und ein anderer über Äff airs in Hawaii), 1901 (ein Band über Affairs in China) und 1902 (ein Band über Whaling and Sealing claims against Russia, sowie ein weiterer über United States vs. Mexico in the matter of the case of the pious fund of the Californias) aufgelegt. 339
340
FR US. Supplements.
The World War, 9 Bde., Washington 1 9 2 8 - 1 9 3 3 .
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zeitig wurde eine vierbändige Serie über Russland vorbereitet. 341 Die reguläre Serie wurde 1930 mit dem Band für das Jahr 1918 und 1934 mit jenem zu 1919 fortgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich eine fünfzehnjährige Verspätung akkumuliert. 342 1 939 und 1940, als die Serie bis zum Jahre 1925 fortgeschritten war, erschienen auch die zweibändigen Lansing Papers 19141920Diese Akten von Robert Lansing hatte das Department kurze Zeit zuvor zurückerhalten, nachdem er sie nach Ablauf seiner Amtszeit zuerst privat aufbewahrt hatte. Obschon die Edition im Verzug zur Publikation der regulären Serie war und die Aktenstücke nicht als offizielle Dokumente, sondern als Handakten galten, wurde sie trotzdem in die Reihe aufgenommen. Der Zweite Weltkrieg vermochte die Publikationstätigkeit der Foreign Relations - im Gegensatz zur französischen Aktenedition - nicht zu behindern und der fünfzehnjährige Verzug blieb konstant: 1945 erschien .pünktlich' der erste Band für das Jahr 1930. In den vierziger Jahren arbeiteten die Historiker im Department of State an zwei speziellen Projekten: der Edition der Papiere zu den Pariser Friedensverhandlungen 344 und einem pamphletartigen Dokumentationsband über den japanischen Aggressor 3 4 5 . Die Dokumentation über Japan wurde nach dem Überfall auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 noch im selben Monat auf Geheiß des Büros des Beraters für fernöstliche Angelegenheiten in Angriff genommen, denn die Isolationisten hatten Präsident Roosevelt beschuldigt, die Verhandlungen mit Japan betreffend der Einflusssphären in China deshalb derart kompromisslos geführt zu haben, um die U S A in den 341
FRUS. Supplements. Russia, 4 Bde., Washington 1931 f. und 1937. In einem Memo, vom Februar 1945 legte E. Wilder Spaulding aufgrund einer internen Anfrage die Gründe für die Verspätung bei der Publikation der FR US dar. Diese sei erstens bedingt durch die Tätigkeit von Spauldings Vorgängern, welche die Verspätung der Serie zwischen 1906 und 1938 von einem Jahr auf sechzehn Jahre hatten kumulieren lassen. Zweitens sei die Verspätung außerdem bedingt durch den großen Zeit- und Geldaufwand der zusätzlichen Bände, wie die World War Supplements, die Lansing Papers, Japan 1931-41 und die Paris Peace Conference-Bände, die noch im Editions- und Publikationsvorgang seien. Drittens habe man während des Ersten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit Zeit verloren. Viertens mangele es an Personal, und schließlich verursachten die Anfragen an fremde Regierungen bezüglich der Erlaubnis, ihre Papiere zu publizieren, eine weitere Verzögerung des langwierigen Prozesses von Kompilierung, Revision, Edition der Kopien, Lesen der Druckfahnen, Drucken etc. um acht oder neun Monate. Zwischen 1938 und 1944 hätte die Verspätung von 16 auf 14 Jahre herabgesetzt werden können, wenn nicht eine mehrere Monate andauernde Kontroverse wegen der Publikation bzw. Nichtpublikation von gewissen Materialien mit anderen Beamten des Außenministeriums die Arbeit weiter verzögert hätte. In der Tat sei das 1943 erreichte quorum von sieben Bänden ein Rekord, und die Division of Research and Publication hoffe für 1945 auf ein erfolgreiches Jahr, da seit 1943 18 Bände ediert oder gedruckt worden seien, zuzüglich sieben Bände der Peace Conference (Wie oben S. 15, Anm. 17). 342
343 344 345
FRUS. The Lansing Papers 1914-1920, 2 Bde., Washington 1939-1940. FRUS. The Paris Peace Conference, 13 Bde., Washington 1942-1947. FRUS. Japan 1931-1941, 2 Bde., Washington 1943.
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Krieg hineinzuziehen. Zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung beim Kriegseintritt wurden in der Division of Research and Publication alle Kräfte zur Verfügung gestellt, um die Dokumentation über die lang andauernden japanisch-amerikanischen diplomatischen Gespräche zusammenzustellen, denn es war von den politisch vorgesetzten Stellen verlangt worden, dass die Dokumentation innerhalb eines Monates zur Publikation bereit sein solle. 346 Die Arbeit war einerseits umso schwieriger, als sich die neuesten Aktenstücke über die kurz zuvor behandelten Angelegenheiten im Besitze der Amtsstellen befanden und noch nicht in das Archiv des Department gelangt waren. Andererseits aber gestaltete sich das Zensurverfahren sehr speditiv, denn analog zu den europäischen Farbbüchern von 1914 und 1939 bedurfte es keiner Zeit raubenden Zensur der Edition mit den feindlichen Regierungen und die interne Bereinigung gab, da der Auftrag von der dafür verantwortlichen diplomatischen Abteilung selbst gekommen war, ebenfalls keinen Anlass zu dilatorischen Praktiken. Die zwei, unter größter Zeitnot innerhalb zweier Monate zum größten Teil edierten Bände wurden aber von „certain officers in the Department" 347 ohne jegliche Erklärung an die Historiker länger als ein Jahr zurückbehalten 348 . Schließlich wurde der Druck erst 1943 nach der Publikation eines noch mehr pamphletartigen Farbbuches 349 autorisiert. Die Japan-Bände der Historischen Abteilung erschienen sodann in der regulären Foreign Relations-Serie, was in amerikanischen Fachkreisen mit großer Ablehnung quittiert wurde. 350 Als die regulären Bände für die entsprechende Periode von 1931 bis 1941 in der Nachkriegszeit herauskamen, wurden die schwerwiegenden Lücken des in Kriegszeiten erfolgten Publikationsunternehmens deutlich sichtbar. Die Geschichte der Publikation der Akten zu den Pariser Friedensverhandlungen 1919 ist ein exemplarischer Fall für die Darstellung politischer Einflussnahme auf die Edition von Aktensammlungen. Die detaillierte Rekonstruktion dieser Affäre, insbesondere zwischen der britischen und der
Studie „Division of Research and Publication" ,conf.' von Helen R. PLNKNEY, [Washington,] September 1945 [aber offensichtlich zurückdatiert, denn es werden Informationen bis zum November 1945 geliefert, vgl. z.B. S. 21], NA, RG 59, Lot Files, Records of the War History Branch, Draft of Histories of State Dep. Organizational Units and Functions during World War II, 1943-1949, PR, Division of Protocol to SR, Supply and Resources Division, Box 23, The Division of Research and Publication, S. 22. 347 Ibid. 3 4 8 „Remember delay of more than a year in clearing our Japan volumes so that we would not scoop .Peace and War'." Office Memo, von Ernest Ralph PERKINS an E. Wil346
der SPAULDING, [ W a s h i n g t o n , ] 862.414/2-1846.
18.2.1946,
NA,
RG
59, C F
1945^9,
Box
6759,
Peace and War. United States Foreign Policy. 1931-1941, hrsg. von Carlton Savage, Washington 1943. 3 5 0 Richard W. Leopold meinte beispielsweise, dass „[t]he volumes on Japan were a mistake and remain a blot on the series. [...] A white paper should be labeled as such." LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 604. 349
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amerikanischen Regierung, zeigt uns deutlich das postulierte Spannungsfeld zwischen Historikern mit ihrer deontologischen Verpflichtung zur Objektivität und Politikern, welche den Umgang mit Geschichte teleologisch zur Logik ihrer politischen Interessen zu fördern oder eben zu verhindern versuchten. Als 1934 die regulären Foreign Relations-Winàc für das Jahr 1919 erschienen, wurden die Akten der Pariser Konferenz ausgelassen. Mit dieser Verdeckungsstrategie war das amerikanische Außenministerium nicht alleine, denn keine der beteiligten Mächte hatte eine amtliche Aktenedition zu den Friedensverhandlungen zusammengestellt, und die 1922 von Ray Stannard Baker herausgegebenen Memoiren und Dokumente Wilsons 351 sowie andere apologetische Memoirenwerke 352 vermochten in keiner Weise eine wissenschaftliche Aktenedition zu ersetzen. So beabsichtigten die Historiker des Department of State, eine vollständige Edition der Akten über die Friedensverhandlungen herauszugeben. Dabei stellte sich jedoch das Problem, dass die Akten im Departementsarchiv unvollständig waren, denn bis in die Nachkriegszeit wurden die präsidialen Akten und diejenigen der höchsten Beamten als deren Eigentum betrachtet und nach Ablauf der Amtszeit mitgenommen. 353 Trotz dieser Situation war eine genügend breite Dokumentation vorhanden, um eine Edition vorzunehmen. Dank des hartnäckigen Einsatzes des damaligen Vorstehers der Division of Research and Publication, Cyril Wynne, gelang es dem Department of State, das nötige Einverständnis der beteiligten Mächte einzuholen. So erklärten sich 1938 die britische, französische und italienische Regierung grundsätzlich mit einer amerikanischen Veröffentlichung der Versailler-Akten einverstanden. Ausdrücklich - die folgende Ray Stannard BAKER, Woodrow "Wilson and World Settlement. Written from His Unpublished and Personal Material, Gloucester, Mass. I960 2 (3 Bde., Garden City 1922'). Die deutsche Ubersetzung erschien unter dem Titel: Woodrow Wilson. Memoiren und Dokumente über den Vertrag von Versailles anno MCMXIX, hrsg. von R. St. BAKER, in autorisierter Ubersetzung von Curt Thesing, Leipzig s.d. [1923], 3 5 2 Beispielsweise die schon 1921 in deutscher Ubersetzung erschienenen Memoiren von Robert Lansing, die er nach seiner wegen ständiger Meinungsverschiedenheiten mit Wilson erzwungenen Demission im Februar 1920 als Apologie hinsichtlich seiner eigenen Rolle verfasst hatte: Die Versailler Friedens-Verhandlungen. Persönliche Erinnerungen von Robert Lansing, Staatssekretär des Auswärtigen im Kabinett Wilson, Amerikanischer Friedensdelegierter in Paris, Berlin 1921. Vgl. aber auch die offiziöse Darstellung: David LLOYD GEORGE, The Truth about the Peace Treaties, 2 Bde., London 1 9 3 8 . 3 5 3 Ray Stannard Baker, der während der Pariser Konferenz Verantwortlicher des Pressebüros der amerikanischen Kommission gewesen war, begann im Januar 1921, also noch während Wilsons Amtszeit, mit der Aktendurchsicht für seine offiziell-offiziösen Wilson-Memoiren. Er beschreibt, wie er zwei Koffer und drei stählerne Truhen vorfand. Die Akten, die sich darin fanden, waren ungeordnet. Da Präsident Wilson während der Viererrat-Gespräche in Paris nicht von einem amerikanischen Sekretär begleitet worden war, hatte Sir Maurice Hankey, Mitglied der britischen Delegation, Protokolle angefertigt. Zur Uberlieferungsgeschichte dieser Akten vgl. Woodrow Wilson. Memoiren und Dokumente, S. 1 - 1 0 . 351
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Entwicklung wird das zeigen - soll hier auf die britische Erklärung von Sir Stephen Gaselee in einem Brief an die US-Botschaft in London vom 23. September 1938 hingewiesen werden, in welchem er erklärte, dass sich die Regierung Seiner Majestät einer vollständigen Publikation dieser Akten seitens der amerikanischen Regierung nicht verweigere.354 Die Selektions- und Editionstätigkeit wurde sofort aufgenommen, und bereits drei Jahre später - obschon in dieser Zeit auch zehn reguläre Bände der Foreign Relations für die Jahre von 1922 bis 1926 veröffentlicht wurden konnte das Department die ehemals alliierten Mächte über die bevorstehende Publikation informieren. Insbesondere im November 1941 und im Juni 1942 unterrichtete der US-Botschafter in London das Foreign Office über die amerikanische Intention, die ersten vier Bände über die Friedenskonferenz bald der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Foreign Office meldete dazu keine Einwände. Somit wurden die ersten zwei Bände im Spätjahr 1942 trotz des Krieges veröffentlicht. Die Auflage der Bände III und IV, welche die Protokolle des Zehner-Rates und diejenigen des Rates der Außenminister enthielten, erfolgte im Spätjahr 1943. Nach dem Fahrplan, welchen das Appropriations Committee des Repräsentantenhauses genehmigt und veröffentlicht hatte, hätten die Bände V und VI noch 1943 im Druck gegeben werden sollen. Aber Anfang April 1943 teilte die US-Botschaft in London in einer Depesche an das Außenministerium mit, dass sich Sir Stephen Gaselee in einer informellen Note erkundigt habe, ob die amerikanische Regierung vor der Publikation weiterer Bände der Pariser Serie das Einverständnis der britischen und der anderen involvierten Regierungen einholen werde.355 Die Historiker des Department mussten die rhetorische Frage bejahen. So übermittelte das US-Außenministerium in einem Brief vom 10. April 1943 an den US-Botschafter in London, John G. Winant, - und Anfang Mai auszugsweise an alle betroffenen befreundeten Regierungen - die Druckfahnen der Bände V und VI, welche die Protokolle von Sir Maurice Hankey über die Sitzungen des Viererrates enthielten, mit der Bitte, diese Sir Stephen Gaselee oder einem anderen Beamten des Foreign Office - wenn dies erwünscht sei - zur Bereinigung zu unterbreiten. Alle Kommentare oder Ratschläge, welche das Foreign Office machen möchte, sollten bis spätestens am 15. Juli 1943 eintreffen, damit mit dem Druck begonnen werden könne. Dieses Zeitlimit ist nicht der einzige Hinweis dafür, dass die Historiker im Department den Verdacht schöpften, Churchills Kriegskabinett wolle die beschlossene Publikation torpedieren. Denn diese zwei Bände enthielten die Protokolle der Gespräche des Viererrates und waren - „of course", wie die Historiker selbst zugaben die fundamentalsten Akten der Pariser Konferenz. Gleichzeitig aber ver-
Brief von G. Howland SHAW an John G. WINANT (US-Botschafter in London), [Washington,] 10. 4. 1943, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 4, 026 For Reis PC 1919/82745. 354
355
Ibid.
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suchten die Herausgeber, das erwartete britische Veto zu antizipieren, und unterstrichen, dass viele Auszüge aus diesen Protokollen, welche in Paris von einem Mitglied der britischen Delegation angefertigt worden waren, 356 schon zuvor publiziert worden seien, insbesondere von britischer Seite von David Lloyd George 3 5 7 . U m diesem Argument das nötige Gewicht zu verleihen, hatten die Historiker in den Druckfahnen alle entsprechenden Dokumente und Passagen kenntlich gemacht, welche textuell oder in der Substanz schon zuvor publiziert worden waren. 358 Die enorme und mühevolle Arbeitsleistung, die hinter diesen akribischen Vergleichen stand, wäre für die Edition an sich nicht nötig gewesen; sie zeigt vielmehr den Versuch auf, die erwartete britische Opposition im Keime zu ersticken. Da einige Protokolle der Pariser Verhandlungen im Archiv des Department fehlten, nahmen die Historiker diese Korrespondenz zum Anlass, um von der britischen Regierung eine Abschrift der fehlenden Aktenstücke aus den Gesprächen des Viererrates zu erbitten. In den Instruktionen wurde es allerdings dem Urteil des Botschafters überlassen, ob es zu diesem Zeitpunkt überhaupt angebracht sei, für die fehlenden Protokolle das Foreign Office anzufragen. Am 1. Juli 1943 hakte das amerikanische Außenministerium nach, um die britische Bereinigung der Bände V und VI zu beschleunigen. 359 In einer Note hatte das Foreign Office den Wunsch geäußert, man solle von einer weiteren Publikation der Akten über die Pariser Friedenskonferenz absehen. Denn Churchills Kriegskabinett wollte alles vermeiden, was einen Erfolg von Nachkriegsdiskussionen für den laufenden Konflikt hätte präjudizieren können. 360 Mit anderen Worten: Churchill wollte in jedem Fall verhindern, dass die .wahre Geschichte' über das Zustandekommen der Nachkriegsordnung nach dem Ersten Weltkrieg, welche in den Gesprächen zwischen Wilson, Lloyd George und Clemenceau unter sechs Augen und in einer grundsätzlich undemokratischen und teilweise willkürlichen Art und Weise besiegelt worden war, nicht vor dem bevorstehenden Arrangement der siegreichen Großmächte ans Licht kam. Es sei hier eine Bemerkung über Churchill gestattet. Neuere Biografen 361 Vgl. oben A n m . 353. Siehe oben bibliografische A n g a b e n in A n m . 352. 3 5 8 Brief von G . H o w l a n d SHAW [aber aufgesetzt von E. W[ilder] S[paulding] von der [Division of] R[esearch and] P u b l i c a t i o n ] ] an J o h n G . WlNANT ( U S - B o t s c h a f t e r in L o n d o n ) , [Washington,] 10. 4. 1943, N A , R G 59, C F 1945-49, B o x 4, 026 F o r Reis P C 1919/8-2745. 3 5 9 Airgram von Außenminister Cordeil HULL [aber aufgesetzt von E. Wilder Spaulding] an die U S - B o t s c h a f t in L o n d o n , [Washington,] 1. 7. 1943, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 49, B o x 4, 026 F o r Reis P C 1919/8-2745. 3 6 0 Brief von Außenminister Cordell HULL [aber aufgesetzt von E. Wilder Spaulding] an J o h n G . WlNANT ( U S - B o t s c h a f t e r in L o n d o n ) , [Washington,] 6. 8. 1943, N A , R G 59, C F 1945-49, B o x 4 , 0 2 6 F o r Reis P C 1919/8-2745. Siehe ebenfalls dazu „ M e m o r a n d u m for the President", wie A n m 374. 3 6 1 N o r m a n ROSE, Churchill. An unruly life, L o n d o n 1994: „Churchill never disguised 356
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weisen mit Recht auf seine Besessenheit hin, die historische Uberlieferung in einem für ihn und seine Interessen günstigen Lichte zu beeinflussen. Für Clive Ponting war Churchill „obsessed more than any other this century about the way his life would be interpreted". 362 Churchill schrieb eine mehrbändige Autobiografie und eine Vielzahl von historischen Büchern, Essays und Zeitungsartikeln, welche - abgesehen von den lukrativen Einnahmen, welche er für die Finanzierung seines verschwenderischen Lebensstils dringend benötigte - ausschließlich seiner Rolle in der Geschichte gewidmet waren. Churchills Nachlass ist ebenfalls nur mit größter quellenkritischer Aufmerksamkeit zu genießen. Es ist bekannt, dass er sich häufig weigerte, Angelegenheiten, welche seinem Ruf hätten schaden können, zu Papier zu bringen; gleichzeitig bewahrte er aber fein säuberlich eine Vielzahl von langen Briefen an seine Freunde auf, in welchen er seine Interpretation der politischen Ereignisse für die Nachwelt festhielt. Churchills Briefe waren so künstlich, dass Neville Chamberlain 1939 in einem Brief an seine Schwester bemerkte: „he continually writes me letters many pages long [...] of course I realise that these letters are for the purpose of quotation in the Book which he will write hereafter". 363 Anfang August konterten die Historiker in Washington. In der von E. Wilder Spaulding vorbereiteten Antwort vom 6. August 1943 teilte Außenminister Hull dem amerikanischen Botschafter in London in einem langen Brief mit, dass die Annahme des britischen Ratschlags, die Publikation der Pariser Akten aufzugeben, „would cause very serious embarrassment to Department in view of public commitments already made." Obschon die US-Regierung den Wunsch des britischen Kriegskabinetts vollständig teile, alles zu vermeiden, was den Erfolg der Nachkriegsordnung präjudizieren könnte, sei das Publikationsprojekt nicht mehr zu unterbinden, ohne dass dies „most embarrassing" sein würde. Dafür seien die Amerikaner bereit, wie seit Projektanfang angedeutet, zu akzeptieren, dass die britische Regierung „omissions from the printed record of certain passages the publication of which would obviously have unfortunate results" fordern könne. 3 6 4 In der Folge erreichte die Affäre die höchste politische Ebene. Churchill erwähnte die Angelegenheit gegenüber Präsident Roosevelt auf der Québec-
the fact that he was not writing a history of the Second World War, but his version of it." (S. 327) „The Second World War [Churchills Buch, SZ] [...] resembles a kind of historical painting, impressionistic and suggestive." (S. 328). - Clive PONTING, Churchill, London 1994. 3 « PONTING, Churchill, S. I X . PONTING, Churchill, S. X . 3 6 4 Airgram von Außenminister Cordell HULL [aber aufgesetzt von E. Wilder Spaulding] an die US-Botschaft in London (Botschafter John G. WINANT), [Washington,] 6. 8. 1943, N A , R G 59, C F 1945-49, Box 4 , 0 2 6 For Reis P C 1919/8-2745. Abgedruckt im Anhang: Dok. 1, S. 340 f.
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Konferenz. 3 6 5 Zurück in Washington richtete Präsident Roosevelt am 7. September 1943 ein sibyllinisches Memorandum an Außenminister Cordeil Hull: „Please speak to me about our publishing the notes of the conversations between Wilson, Lloyd George and Clemenceau in Paris in 1919.1 have a distinct hesitation (a) because Lloyd George is still alive and (b) because notes of these conversations ought not to have been taken down any way."366 Zwei Tage später erreichte das präsidiale Memorandum die Historiker des Department. An jenem Donnerstag, den 9. September 1943, standen die Aktivitäten der Division of Research and Publication ganz im Zeichen von R o o sevelts Versuch, die Publikation der Protokolle der Pariser Gespräche zwischen den Big Four zu verhindern. A m Morgen trafen sich E. Wilder Spaulding und P. M. Burnett (vermutlich auch Ernest Ralph Perkins), um eine Strategie zu beraten, wie dem Druck des Präsidenten auszuweichen war. Das Resultat war eine Arbeitsteilung im Versuch, die Einwände des Präsidenten zu kontern. A m Nachmittag verfasste Burnett einen Brief an Spaulding, in welchem er den Einwand des Präsidenten entkräftigte, wonach 1919 in Paris eine Vereinbarung getroffen worden wäre, keine Notizen von den Gesprächen der Big Four zu machen. Danach verfasste er noch zwei Briefe für Perkins. Darin entkräftigte er das Argument des Präsidenten, dass eine Publikation aus Rücksicht auf den noch lebenden Lloyd George abzuwarten sei, und machte eine scharfe politische Analyse der Hintergründe, welche Roosevelt und Churchill dazu bewogen hätten, die Publikation zu torpedieren. N o c h gleichentags verfasste Spaulding einen Brief für den Außenminister und unterbreitete ihm einen Antwortvorschlag auf das Memorandum Roosevelts. Hinsichtlich Roosevelts Argument, wonach bei den Sitzungen des Viererrates keine Protokolle hätten angefertigt werden dürfen, erinnerten sich Burnett und Perkins daran, dass Wilson, Lloyd George, Clemenceau und O r lando in der Tat anfänglich für Gespräche ohne jegliche Notizen optiert hätten. Bald aber hätten sich die Staatsmänner gezwungen gesehen, Protokolle verfassen zu lassen, da sie nicht in der Lage waren, sich an alle getroffenen Entscheide zu erinnern. Es wäre für die Antwort an Roosevelt nützlich - so Burnetts Ratschlag an Spaulding - , wenn man diese Praktikänderung durch die Literatur belegen könnte. Gleichzeitig gab er eine bibliografische Referenz an. 3 6 7 Gleichentags lieferte Burnett Perkins in einem Brief rhetorische
FRUS. The Conferences at Washington and Quebec. 1943, Washington 1970, S. 1334-1335 und 1338. 3 6 6 Memo, von F[ranklin] D. Rfoosevelt] an Außenminister Cordeil HULL, The White House, Washington, 7. 9. 1943, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 4, 026 For Reis PC 1919/ 8-2745. Abgedruckt in: FRUS. The Conferences at Washington and Quebec. 1943, Washington 1970, S. 1334. 3 6 7 Brief von P. M. BURNETT (RP) an E. Wilder SPAULDING (RP), [Washington,] 9. 9. 1943, NA, RG 59, CF 1945^*9, Box 4, 026 For Reis PC 1919/8-2745. Als biblio365
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Argumente, damit dieser die Antwort des Außenministers gegenüber dem Präsidenten stärken könne. So müsse der Minister erwähnen, dass Lloyd George nicht nur bereits extensiven Gebrauch von diesen Protokollen gemacht, sondern dies im apologetischem Sinne getan habe, um seine eigene Position zu stärken und zu rechtfertigen: „In other words, it is specious to argue that Mr. Lloyd George's continued existence in this world is to prevent us from bringing out the whole record objectively, when we consider that Lloyd George brought out his part of the record to promote his own case." 368 In einem zweiten Brief an Perkins analysierte Burnett die Hintergründe, welche die Einflussnahme von Roosevelt und Churchill gehabt habe. Seines Erachtens könnte ihr Zögern schwerlich mit dem Wunsche erklärt werden, Lloyd George zu schützen. Die Wurzeln des Problems seien vielmehr taktischer Natur. Nach dem Kriege würden sicher während einiger Jahre verschiedene Entscheidungsprozesse zur Friedensregelung stattfinden, während derer sicherlich viel Kritik an die Adresse der USA und Großbritannien gerichtet würden. Ein Teil dieser Kritik würde aus den eigenen Reihen kommen und einiges, natürlich, aus den feindlichen. Viel davon würden auf dem basieren, was 1919 und 1920 in Paris vereinbart worden war. In dem Falle, da alle Akten zugänglich seien, könne man diese Kritik nicht so einfach zurückweisen, als ob sie nicht publiziert worden wären. Die Akten erlaubten nämlich dem Feind zu argumentieren, er sei 1919 schlecht und ungerecht behandelt worden. Es wäre also viel einfacher für den US-Präsidenten und den britischen Premierminister, wenn diese Akten im Archiv - weg von der Öffentlichkeit - aufbewahrt würden. Bei allfälliger Kritik wäre es nicht schwierig zu antworten, denn: „Some researcher will be set to work, with instructions to answer the point specifically raised. To find a suitable answer is relatively easy: an extract here, a fragment there, can be mustered out with appropriate publicity to make a pretty good showing. Resting its case on such ad hoc evidence, the Government can worry along on day-to-day justifications, can keep the critics beaten back until the new settlement is finally drawn up and pushed through. In my opinion, this is what is in the back of the President's and Mr. Churchill's mind. To this point, the Secretary should address his argument. It is, furthermore, not an easy point to overthrow - unless the broad ground be taken that it is so wretchedly shortsighted." 3 6 9
Nach all diesen Konsultationen zwischen den Historikern der Division of Research and Publication verfasste deren Chef, E. Wilder Spaulding, noch gleichentags die vom Außenminister verlangte Antwort auf das Memoran-
grafische Referenz verwies er auf: Recueil des Actes de la Conférence, Partie I, Premier Fascicule, S. XV. 3 6 8 Erster Brief von P. M. BURNETT an Ernest R. PERKINS, [Washington,] 9. 9. 1943, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 4, 026 For Reis P C 1919/8-2745. 3 6 9 Zweiter Brief von P. M. BURNETT an Ernest R. PERKINS, [Washington,] 9. 9. 1943, N A , R G 59, C F 1945-49, Box 4, 026 For Reis P C 1919/8-2745.
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dum des Präsidenten, welche Hull unverändert an Roosevelt weiterreichte. Auch im Begleitschreiben für Hull unterstrich Spaulding die Validität der Dokumentation und vertrat die Ansicht, dass eine NichtVeröffentlichung negativer als eine Publikation kommentiert werden würde. Dem Department würde vorgeworfen werden, dass es Akten verdunkeln wolle: „Such comment will not help us or the British." 3 7 0 Im Memorandum für Roosevelt setzte sich Spaulding entschieden für die Publikation ein und versuchte, gegen die „distinct hesitation" des Präsidenten sachlich zu argumentieren. Die Publikation sei seit 1938 geplant worden und dies erst, nachdem man das grundsätzliche Einverständnis der Briten eingeholt habe. Die Protokolle des Viererrates und der Dreier-Gespräche seien im Projekt ausdrücklich erwähnt worden. Danach sei das Publikationsprojekt der Öffentlichkeit präsentiert worden, und der Kongress hätte die benötigten Kredite zugesprochen. Daraus seien schon zwei Bände publiziert worden. Weitere seien in Vorbereitung und diejenigen, welche die Gespräche zwischen Wilson, Lloyd George und Clemenceau enthielten, wären schon publiziert worden, hätten die Briten keine Einsprachen erhoben. Mehrere einflussreiche Vereinigungen, darunter diejenigen der Völkerrechtler, der Politologen und der Historiker, hätten eine Beschleunigung der Publikation gefordert im Glauben, dass die Nation so schnell wie möglich die ganze Geschichte der letzten großen Konferenz erfahren sollte. Zum Einspruch des Präsidenten, dass Lloyd George noch am Leben sei, müsse man bedenken, dass dieser selbst schon 1938 fünfzig Seiten an Exzerpten aus diesen Protokollen publiziert habe. Hinzu komme, dass auch der Graf von Viano, Luigi Aldrovandi Marescotti, in seinem Buch 3 7 1 extensiv aus diesen Protokollen zitiert habe. Auch Ray Stannard Baker 3 7 2 und André Tardieu 373 hätten bereits aus diesen Protokollen publiziert. Das grundsätzliche Argument dabei war, dass, nachdem so viele und darunter gar Lloyd George selbst - schon von diesen Dokumenten Gebrauch gemacht hätten, eine Nichtpublikation durch das Department of State schwerlich durch die Tatsache, dass Lloyd George noch am Leben sei, in der Öffentlichkeit begründet werden könne. Man sei eben diesem Projekt so verpflichtet, dass ein Rückzieher nur Verlegenheit verursachen würde, denn Kongressmitglieder und andere Befürworter des Publikationsprogrammes würden nach den Gründen für dessen Unterbrechung fragen. Man könnte in einem solchen Falle nicht lange die Wahrheit verschweigen, dass dies auf-
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Memo, von E. Wilder SPAULDING (RP) an Außenminister Cordell HULL, [Wa-
shington,] 9. 9. 1 9 4 3 , N A , R G 59, C F 1 9 4 5 - 4 9 , B o x 4, 0 2 6 F o r Reis P C 1 9 1 9 / 8 - 2 7 4 5 . 3 7 1 Luigi ALDROVANDI MARESCOTTI, Guerra diplomatica. Ricordi e frammenti di diario. 1914-1919, Milano 1936 (Der Krieg der Diplomaten. Erinnerungen und Tagebuchauszüge 1914-1919, München 1940), und Nuovi ricordi e frammenti di diario per far seguito a Guerra diplomatica. 1914-1919, Milano 1938. 3 7 2 Siehe oben Anm. 351. 3 7 3 André TARDIEU, La paix, Paris 1921 (The Truth about the Treaty, Indianapolis
1921).
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grand englischer Wünsche geschehen sei, denn die Administration wolle mit Sicherheit nicht das Risiko eingehen, dass die Öffentlichkeit meine, sie strebe die Verdunkelung der Akten an: Die Anglophoben würden aus dieser Affäre wieder Gewinn ziehen. Die Dokumente enthielten keine brisanten Enthüllungen, sondern nur summarische Zusammenfassungen, die in einer „dignified and restrained language" verfasst worden seien. Den Briten sei darüber hinaus die Möglichkeit eingeräumt worden, Auslassungen vorzuschlagen, wo eine Publikation offensichtlich unglücklich sein würde. Spaulding beendete sein Memorandum mit der Hoffnung, dass durch dieses eingeräumte Bereinigungsrecht die Angelegenheit gelöst werden könne. Für den gegenteiligen Fall versuchte er, Druck auf den Präsidenten auszuüben: „If, unfortunately, we cannot publish these minutes, I shall appreciate your suggestions as to what explanation is to be made to Congressmen and other persons who inquire as to the reason." 3 7 4 Am 12. September 1943, auf dem Wege von der Québec-Konferenz zurück nach London, besuchte Churchill Präsident Roosevelt in Hyde Park. Zu diesen Gesprächen sind keine Aufzeichnungen erhalten. 375 Churchill übermittelte aber bereits am nächsten Tag ein Telegramm „Most Secret and Personal" an seinen Außenminister, um ihn zu informieren, dass ,,[t]he President has vetoed the publication of the Council of Four minutes of the last war." 3 7 6 Somit war die differenzierte Argumentationsweise der Historiker im Department of State, die von Hull unverändert übernommen worden war, umsonst gewesen. Am 16. September informierte der Präsident den Außenminister, dass die Publikation vorläufig nicht opportun sei. Roosevelt befürchtete nämlich, dass die Veröffentlichung sensationslustige Artikel hervorrufen würde, in welchen inopportune Vergleiche zwischen den Situationen von 1919 und 1943 gezogen würden. Auf Spauldings Druckversuch, was auf allfällige Fragen von Kongressmitgliedern zu antworten sei, bemerkte Roosevelt lakonisch, in diesem Falle nur zu sagen, dass der Präsident es so verlangt habe. Diese Protokolle seien nicht vor Kriegsende zu publizieren, um internationale Kontroversen zu vermeiden: „Incidentally, in those meetings of the Big Four in Paris no notes should have been kept. Four people cannot be conversationally frank with each other if somebody is tak-
„Memorandum for the President" von Außenminister Cordell HULL [aber aufgesetzt von E. Wilder SPAULDING] an Präsident Franklin D. ROOSEVELT, [Washington,] 9. 9. 1943, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 4, 026 For Reis PC 1919/8-2745. Abgedruckt in: FRUS. The Conferences at Washington and Quebec. 1943, Washington 1970, S. 1334 f. 3 7 5 Jedenfalls haben auch die Herausgeber der FRUS keine gefunden. Ibid., S. 1336. 376 Telegr. ,most secret and personal' von Premierminister Winston CHURCHILL an Außenminister Anthony EDEN, [Québec, 13. 9. 1943], in: ibid., S. 1338. Eine Abschr. dieses und anderer Telegramme „arising out of our talks yesterday" {ibid., S. 1336) hatte Churchill am 13. 9. 1943 noch vom Zuge aus an „My Dear Franklin" zur Kenntnisnahme übermittelt. 374
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ing down notes for future publication. I feel very strongly about this and incidentally it is not going to do anybody any harm if we defer publication for a year or two." 3 7 7 Dieser Entscheid war ein Schlag für das ganze Projekt, denn die Protokolle des Viererrates stellten die wichtigste Dokumentation der Pariser Unterserie dar. 1944 waren fünf Bände schon publiziert, und die Kompilation von weiteren sieben war bereits abgeschlossen. Die Edition weiterer vorgesehener Bände wurde infolge dieser starken Opposition endgültig aufgegeben. Erst 1947, nachdem die Historiker im Department nach Roosevelts Tod und Churchills Abwahl die Veröffentlichung der restlichen Bände im November 1945 erfolgreich zu reaktivieren vermocht hatten, 3 7 8 wurde die Serie mit dreizehn Bänden abgeschlossen; 3 7 9 zwölf davon lagen schon 1944 kompiliert vor, und der letzte Band stellte bloß eine kommentierte Edition des Versailler Vertragstextes dar. 3 8 0 Dass die amerikanische Administration Mühe im U m gang mit den eigenen Historikern bekundete, zeigte sich in der Folge nochmals, als Außenminister Edward R. Stettinius Jr. den für die amerikanische Delegation für die Konferenz von San Francisco von 1946 vorgesehenen Departementshistoriker kurzfristig wieder auslud. 381
Wie oben Anm. 346. Dort S. 21. Das Memo, des Präsidenten an Außenminister Cordeil H U L L vom 16. 9. 1943 wurde abgedruckt in: FRUS. The Conferences at Washington and Quebec. 1943, Washington 1970, S. 1338, Anm. 4. 3 7 8 Nach dem Krieg, im November 1945, verfasste Perkins für Spaulding einen Entwurf der Instruktionen für die Botschaften in London und Paris betreffend der Frage nach der Erlaubnis der entsprechenden Regierungen für die Publikation der entsprechenden Bänden innerhalb der nächsten Monate. Lloyd George war ebenfalls verstorben und damit eines der Argumente Churchills und Roosevelts entkräftet. Dies wurde aber im Schreiben nicht festgehalten. Office Memo, von Ernest R. PERKINS an E. Wilder SPAULDING, [Washington,] 6. 11.1945, NA, RG 59, CF 1950-54, Box 4, 026 For Reis PC 1919/11-645. 3 7 9 Der Band IV wurde 1943 und der Band V 1944 gedruckt. Danach wurde der Band XI 1945 vorgezogen, und die Bände VI bis IX erst 1946, die restlichen 1947 veröffentlicht. 3 8 0 In der Literatur findet sich auch ein kurzer Hinweis auf diese Affäre. In den siebziger Jahren notierte Richard W. Leopold, der als Mitglied des 1957 während einer erschütternden Krise der Serie ins Leben gerufenen Advisory Committee on Foreign Relations to the Historical Division of the Department of State über beträchtliches Insider-Wissen verfügen musste, Churchills und Roosevelts Opposition zur vorgesehenen Publikation. Richard W. LEOPOLD, „The Foreign Relations Series Revisited: One Hundred Plus Ten", in: Journal of American History 59 (1973), S. 935-957, hier S. 938. 3 8 1 Für die amerikanische Delegation an der Konferenz von San Francisco war auch ein Historiker des Dep. of State vorgesehen. Dieser war mit der Aufgabe betraut, später die Geschichte der Konferenz zu schreiben. Kurz vor der Konferenz aber beschloss Außenminister Edward R. Stettinius Jr., ohne ihn nach San Francisco zu reisen. In letzter Minute beauftragte Assistant Secretary MacLeish Prof. Bernadotte Schmitt, ehemaliger Ordinarius an der Universität von Chicago und kurz vorher zum Speziellen Berater der Division of Research and Publication des Außenministeriums berufen, „to be attached to the staff of the Secretary General with a private (sic!) understanding that he should collect documents and prepare a history of the Conference." Wie oben Anm. 346. Dort S. 14. 377
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1861-2000
Bedürfnisse des Kalten
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Krieges
Mit dem Jahr 1948, synchron zur sich nun deutlich abzeichnenden Polarität des Kalten Krieges, begann die vierte und vorläufig letzte382 Phase der amerikanischen amtlichen Veröffentlichungstätigkeit von historischem Quellenmaterial. Noch vor Kriegsende aber wurde das Publikationsprogramm des Department of State nach den Erneuerungen von 1929 wieder unter die Lupe genommen. Die Resultate dieser Analyse bezogen sich auf die veränderte außenpolitische Lage der USA nach der isolationistischen Periode und wiesen darauf hin, dass ein Publikationsprogramm, welches sich nur an Experten des Völkerrechtes richte, nicht mehr genüge. Vielmehr solle ein Programm konkretisiert werden, das auch die départementale Verantwortung gegenüber den Laien erfüllen könne, weil - dies die apodiktische Erklärung - „no foreign policy will be successful unless it is based upon intelligent understanding by the public at large." Zu diesem Zweck wurde an eine monatliche Darstellung populären Stils unter .attraktivem* Titel gedacht, „to secure correct popular understanding of the elementáis of foreign relations."383 Diese Neustrukturierung - welcher vorerst noch finanzielle und kriegsbedingte Ressourcenmängel, wie die Papierknappheit, im Wege standen - unterschied zwischen Publikationen zum internen Gebrauch, solchen für den Experten und schließlich eben solchen für den Laien. Zu den ersteren zählten verschiedene Handbücher und Listen; zu denen für die Experten zählten die Bände der Foreign Relations, spezielle ad hoc-Publikationen über den Krieg und den Nationalsozialismus, das Department of State Bulletin und die Treaties and Other International Acts of the USA. Für unsere Fragestellung ist relevant, hier ausdrücklich festzuhalten, wie breit die Division of Research and Publication bis zu diesem Zeitpunkt ihre Aufgabe einerseits verstanden hatte und wie eng andererseits die Veröffentlichung von propagandistischen Pamphleten und die vornehme Edition von historischem Aktenmaterial institutionell verknüpft waren.384
382 Wegen des akkumulierten Rückstandes von inzwischen etwa dreißig Jahren und wegen der langen Editionszeit einer Serieneinheit, welche seit 1983 für die 16 Bände von 1952-1954 nicht mehr in Jahresabständen, sondern in Mehrjahresperioden zusammengefasst wird, ist es noch verfrüht, um beurteilen zu können, ob die Zäsur von 1989 auch einen Kurswechsel in der Edition der FRUS zur Folge haben wird. Denn die Publikation der neun Bände für die Periode 1961-1963 fiel vor und nach die 1989er Zäsur und für die nun laufende Edition über die Jahren 1964-1968 liegen erst einige Bände (XIII) vor. Ein Hinweis für einen Umbruch in der Serie liefert in editions technischer Hinsicht die seit 1985 (FRUS. 1955-1957, Washington 1985, Bd. 1: Vietnam) erfolgte Qualitätsverbesserung bei der Wiedergabe der Aktenmerkmale. Wie oben Anm. 334. Zwischen 1946 und 1953 wurde die Division in eine Division of Historical Policy Research und in eine Division of Publication aufgeteilt, um genau diesem Vorwurf auch institutionell glaubhaft entgegenwirken zu können. Bezogen auf die FR US war aber die Zusammenarbeit sehr eng, da der Division of Publication unter anderem sowohl die 383
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II. Amtliche Akteneditionen
Die Phase der Nachkriegszeit begann mit verschiedenen Neuerungen. Nebst einer kleinen Titeländerung der Serie 385 wurde auch eine Revision der Kellogg-Richtlinie aus dem Jahre 1925 vorgenommen. Diese stellte aber bloß eine Verdichtung und bessere Strukturierung ihrer Vorgängerin dar: 386 Insbesondere blieben die fünf Fälle unverändert, welche Auslassungen erlaubten. 3 8 7 Als gewichtigere Neuerung wurde der juristische Charakter der Sammlung gänzlich aufgegeben 388 und die Anzahl Bände pro Jahr von drei (seit 1942 für die Bände von 1927) auf fünf erhöht. Gleichzeitig wurde die Reihenfolge der Aktenstücke nach alphabetischer Folge der Staaten zu Gunsten einer neu konzipierten, sachlichen Gliederung nach thematischgeografischen Gesichtspunkten aufgegeben. 389 Da die so aufgeteilten Bände eine in sich geschlossene Einheit bildeten, war nun den Historikern des Department bei allfälligen Sicherheitsbedenken (und Veto) seitens der Diplomaten die Möglichkeit gegeben, für ein bestimmtes Jahr mindestens diejenigen Bände herauszugeben, die nicht beanstandet wurden. 390 Ebenfalls neu wurden die Namen der Bearbeiter in der Einleitung festgehalten. Dies erhöhte die Glaubwürdigkeit des Unternehmens, weil sich nun die Herausgeber, welche für eine wissenschaftliche Arbeitsweise garantierten, in der Öffentlichkeit der interessierten Fachkreise mit ihrer eigenen Reputation verantworten mussten. Mit dem Kalten Krieg änderten als Reflex auf die nun unversöhnliche Polarität mit dem Kommunismus auch die politische Logik und die Interessen zur Darstellung der Geschichte des ehemaligen gegen den Nationalsozialismus mitkämpfenden sowjetischen Kriegsverbündeten. Die Geschichte des Umgangs mit den von den Alliierten erbeuteten deutschen Akten belegt pa-
Fahnenkorrekturen als auch die Vorbereitung der Inhaltsverzeichnisse und der Indices oblag. 385 1 9 4 7 wurde der seit 1870 geführte Serientitel v o n Papers Relating to the Foreign Relations of the United States in Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers geändert. 386 D e p a r t m e n t of State Regulation 297.1 v o m 2 7 . 10. 1947, abgedruckt in: F RUS. 1932, Bd. 1, Washington 1948, S. III-IV. F ü r die Kellogg-Richtlinie siehe oben S. 101. D i e einzige nennenswerte neue F o r mulierung findet sich im ersten Punkt: „Matters which if published at the time would tend to embarrass negotiations o r other business" wurde umgeschrieben in: „To avoid publication of matters which w o u l d tend t o impede current diplomatic negotiations o r other business." Zwei Jahre später wurde diese Leitlinie mit der Regulation 0 4 5 v o m 2 7 . 5. 1949 (abgedruckt in: FRUS. 1933, Bd. 1, Washington 1950, S. I I I - I V ) erneut einer Revision unterzogen, welche jedoch keine wesentlichen Änderungen brachte und bis zur Revision v o m 5 . 1 2 . 1960 in Kraft blieb. F ü r weitere Revisionen vgl. unten Anm. 424. 387
TOSCANO, Treaties, S. 2 1 6 . Die fünf Bände der FR US. 1932 (Washington 1948), die ersten nach der neuen Gliederung, wurden wie folgt eingeteilt: Bd. 1: General·, Bd. 2: British Commonwealth, Europe, the Near East and Africa·, Bde. 3 und 4: The Far East·, B d . 5: American Republics. 3 9 0 Vgl. LEOPOLD, „Centennial E s t i m a t e " , S. 6 0 5 . 388
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radigmatisch, wie die Amerikaner eine bereitstehende propagandistische Publikation391 deutscher Akten, welche die für die Sowjets schwer belastende Geschichte der deutsch-sowjetischen Annäherung im Zusammenhang mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 aufzeigten, bewusst bis zum endgültigen Bruch mit der Sowjetunion zurückhielten.392 Für die Serie der Foreign Relations wurde eine Sammlung amerikanischer Akten konzipiert, welche die deutsche Sammlung aus amerikanischer Warte vervollständigen sollte. Weil die Serie zu diesem Zeitpunkt einen Publikationsrückstand von 17 Jahren aufwies - 1951 waren die Bände fürs Jahr 1934 erschienen - wurde derselbe Entschluss gefasst wie für das Japan-Farbbuch von 1943, nämlich die politisch erwünschte Dokumentation über die Sowjetunion vorwegzunehmen. So erschien dieser Band 393 bereits 1952. Vier Jahre später widerfuhr der von den Senatoren des Appropriations Committee in ihrem Bericht für das Jahr 1954 verlangten Dokumentation über China 394 das gleiche Schicksal, denn die virulente Kontroverse um die Gründung der Volksrepublik China 1949, die Anfang der fünfziger Jahre in den USA aufgeflammt war, hatte die ganze Kriegszeitdiplomatie Roosevelts stark in Frage gestellt. Die Publikation der Akten der Friedensverhandlungen von 1919 einerseits und derjenigen betreffend Japan, der Sowjetunion und China andererseits zeigen uns deutlich, in welchem Umfang politische Interessen die Herausgabe von historischem Material behindern oder fördern können. Diese verzögernden oder antizipatorischen Wirkungen werden in Grafik 2 nochmals veranschaulicht. Diese Grafik zeichnet die akkumulierte Verspätung für die jeweiligen Jahresbände nach. Dabei ist die trendmäßige Zunahme der Verspätung entlang aller Phasen direkt ersichtlich. Die Verbindung der speziellen Serien zur Kurve der regulären ermöglicht abzulesen, zu welchem Zeitpunkt der Serie die Spezialbände herausgegeben wurden. 1953 begann für die Foreign Relations eine bedrohliche Zeit, denn eine massive Kürzung der finanziellen Mittel hatte seit 1949 den Druck von jährlich im Durchschnitt nur drei Bänden erlaubt.395 Da die Anzahl Bände für ein Jahr seit 1948 396 aber auf fünf erhöht worden war, bedeutete dies eine strukturelle Verspätungsakkumulation trotz speditiv voranschreitender Se391 Nazi-Soviet Relations 1939-1941. Documents from the Archives of the German Foreign Office, hrsg. vom Department of State, Raymond James SONTAG und James Stuart BEDDIE, Washington 1948 (Neudruck: Westport 1976). 392 Vgl Kapitel „Die ,Nazi-Soviet Relations' als Akt der Propaganda im Kalten Krieg", S. 210-226. 393 FR US. The Soviet Union. 1933-1939, Washington 1952. Die Dokumentation enthielt keine Akten betreffend des Hitler-Stalin-Pakts, die sowjetisch-franco-britischen Verhandlungen vom Sommer 1939 und auch keine betreffend der sowjetischen Besetzung Polens im September 1939. 394 FRUS. 1942. China, Washington 1956. 3 9 5 LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 605. 3 9 6 Für das Jahr 1932. Vgl. Grafik 2: Akkumulierte Verspätung Foreign Relations (1861-1995), S. 119.
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lektions- und Editionsarbeit seitens der Historiker im Department. Zur gleichen Zeit wurde aus den republikanischen Reihen - die nun mit General Eisenhower die Besetzung der Präsidentschaft erlangt hatten und im Kongress ebenfalls die Mehrheit kontrollierten - die Forderung laut, die außenpolitische Geschichte der langen demokratischen Roosevelt/Truman-Administrationen aufzurollen. Die tagespolitischen Interessen waren leicht herauszulesen: Im Zuge der ,We Won the War and Lost the Peace'-Kontroverse, 397 welche der kommunistische Sieg in China und die erfolgreich voranschreitende Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas im kühlen Klima des Kalten Krieges in den USA entfacht hatte, hätten die Republikaner mit der Darstellung einer schwachen demokratischen Führung, welche gegenüber Stalin zu allen Konzessionen bereit gewesen war, den innenpolitischen Druck, welcher aus dem Korea-Krieg und der Entlassung von General MacArthur entstanden war, umleiten können. Dazu wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, die Historische Abteilung des Department of State sei mit Demokraten besetzt, welche die Akten der Kriegskonferenzen von Teheran, Yalta und Potsdam verdunkeln wollten. Als dieser Vorwurf von Senator William F. Knowland gegen Außenminister John Foster Dulles erhoben wurde, konterte das Department mit einer doppelten Strategie. Einerseits wurde argumentiert, 26 Bände lägen bereits fertig ediert vor, könnten aber mangels finanzieller Mittel nicht gedruckt werden. Andererseits wurde der von republikanischer Seite im Senate Appropriations Committee gestellten Forderung nach einer Dokumentation der Kriegsdiplomatie in Form eines Projektes einer beschleunigter Publikation mit zwei speziellen Unterserien der Foreign Relations nachgekommen: einer über die Kriegskonferenzen und einer zweiten über China. Dieses Programm wurde im Jahre 1953 vom Senat akzeptiert. Die höchste Priorität galt der Publikation der Akten der Konferenzen von Malta, Yalta und Potsdam von 1945. Ferner galt es, die Edition der Dokumente der anderen Kriegskonferenzen zügig voranzutreiben. Das Projekt wurde vom Weißen Haus und vom Außenminister grundsätzlich bewilligt.398 Gegen das Versprechen einer Erhöhung der finanziellen Mittel für die Foreign Relations ging Assistant Secretary of State, Carl W. McCardle, auf den Kuhhandel ein, die Veröffentlichungschronologie zu verletzen und diesen speziellen Unterserien den Vortritt gegenüber der regulären Serie zu geben.399
Die Kontroverse wurde vom ehemaligen Botschafter William C. Bullit gestartet: William C. BULLIT, „HOW We Won the War and Lost the Peace", in: Life 25, Nr. 9-10 (30. 8. und 6. 9. 1948). Vgl. dazu TOSCANO, Treaties, S. 224 f. 3 9 8 Dep. of State Instruction ,top secret' von Außenminister John Foster DULLES an die US-Botschaft in London, Washington, 2. 7. 1954, NA, RG 59, C F 195(^54, Box 95, 023.1/7-254. 3 9 9 Uber diese Angelegenheit berichten auch LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 6 0 5 607, und SHEPPARD, „Documents", S. 128 f. 397
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Grafik 2: Akkumulierte
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Verspätung Foreign Relations (1861-1995)
Anmerkung: (1) Für das Erscheinungsjahr wurde dasjenige des jeweiligen ersten Bandes angegeben. (2) Seit 1952 wurden die Jahresbände der Foreign Relations aufgegeben und mehrere Jahrgänge in einer Serie zusammengenommen (1952-1954, 1955-1957, 1958-1960, 1961-1963,1964-1968). Hier wurde ebenfalls das Erscheinungsjahr des jeweiligen ersten Bandes angegeben, obschon erhebliche zeitliche Unterschiede zwischen den Bänden einer Serie bestehen. Dies erklärt auch die grafisch scheinbar rückläufige Tendenz der Verspätung ab dem Band für das Jahr 1952.
Paradoxerweise entpuppten sich diese Einflussnahmen des Kongresses zuerst als Balsam für die ganze Serie. Die für die Drucklegung gelockerten Finanzmittel ermöglichten es, in kürzester Zeit elf Bände der regulären Serie zu veröffentlichen. Auch die Arbeiten an den vereinbarten speziellen Serien wurden prompt aufgenommen, obschon die freigegebenen Mittel nur für das Drucken und Binden, nicht aber für zusätzliche Forschungsstellen zugesprochen worden waren. Dies hatte einige personelle Umstellungen im Department zu Gunsten des Projektes zur Folge. D e r Wichtigkeit wegen, welche der vorgezogenen Publikation der Akten dieser Konferenzen zukam, hatte Außenminister Dulles bereits bei erstbester Gelegenheit, während einer Konferenz in Washington, mit Außenminister Eden über die britische Bereinigung dieser Akten gesprochen. Kurz danach beauftragte Dulles die U S Botschaft in London mit streng geheimen Instruktionen, für die offizielle Genehmigung durch das Foreign Office dort auf höchstmöglicher Ebene einer prompten Antwort wegen vorstellig zu werden. U m die Chancen einer
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positiven Antwort zu erhöhen, fügte Dulles das starke, aber etwas geschwindelte Argument hinzu, dass vom amerikanischen Militär keine Sicherheitsbedenken geäußert worden seien. 400 Der Band über die Yalta-Konferenz wäre seitens der Historiker des Department bereits im Oktober 1954 bereit gewesen. Aus vier Richtungen gab es aber im Sommer 1954 Bestrebungen, die Publikation teilweise zu verhindern oder mindestens zu verzögern. Zuerst verweigerte Churchill sein Imprimatur, dann opponierte das US-Department of Defense gegen die Freigabe von militärischen Dokumenten, gleichzeitig meldeten Diplomaten im Department of State eine ganze Reihe von politischen Bedenken an und unterbreiteten extensive Auslassungswünsche und schließlich, als die Veröffentlichung endlich bevorstand, wurde sie nochmals aus wahltaktischen Überlegungen zurückbehalten. Auf Dulles Instruktionen antwortete die amerikanische Botschaft in London am 29. Juli 1954 mit einem streng geheimen Telegramm: das Foreign Office teile mit, dass es trotz jeglicher Anstrengung „mechanically impossible" sei, die Termine für die Bereinigung der Dokumente einzuhalten. Hinzu stellten die Briten die weitgehend rhetorische Frage, ob weitere Dokumente, die zur Publikation vorgesehen und von Washington dem Foreign Office nicht zur Bereinigung unterbreitet worden seien, Referenzen zu britischen Positionen oder Deklarationen von Churchill enthielten, welche nicht im Einklang mit der offiziellen britischen Version der Geschichte seien und deren Publikation peinliche parlamentarische Anfragen inspirieren könnten. 401 Weitere Unterlagen zur Bereinigung folgten im August. Das Foreign Office teilte der US-Botschaft in London mit, dass das Dossier bei Churchill mit einem entsprechenden Dringlichkeitsvermerk und einer Empfehlung zur Genehmigung eingegangen sei und es auf eine baldige Antwort hoffe, wies jedoch diskret auf Churchills Unberechenbarkeit hin. 402 Aus den dürftig vorhandenen Akten geht Churchills Antwort nicht hervor. Insbesondere fehlen Belege seiner Auslassungswünsche. Im Gegensatz zu den Briten bereitete das Quai d'Orsay, welches prompt sein Einverständnis zur Publikation der französischen Dokumente erteilt hatte, keine Probleme. 403 Der Streit zwischen den Departments of State und Defense entzündete sich zwischen Dr. George Bernard Noble, Leiter der Historischen Abteilung im Außenministerium, und Dr. Rudolph A. Winnacker, Historiker des VerWie oben Anm. 398. Telegr. ,top secret' von ALDRICH (US-Botschaft in London) an Außenminister J o h n Foster DULLES, London, 29. 7. 1954, N A , R G 59, C F 1950-54, Box 95, 023.1/7-2954. 4 0 2 Telegr. ,conf.' von PENFIELD (US-Botschaft in London) an den Außenminister, London, 20. 8. 1954, N A , R G 59, C F 1950-54, Box 98, 023.1/8-2054. 4 0 3 Dep. of State Instruction ,top secret' von Außenminister J o h n Foster DULLES an die US-Botschaft in Paris, [Washington,] 20. 8. 1954, N A , R G 84, France, Paris Embassy, Top Secret General Records, 1950-1951, 1954, Box 28, „610 Historical Records A - Z (by country)". 400 401
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teidigungsministeriums. Die Angelegenheit ist für unsere Fragestellung besonders relevant, denn sie zeigt die unterschiedlichen Auffassungen von beamteten Historikern paradigmatisch auf. Wie bedauerlicherweise fast alle analogen europäischen Editionen aus den Außenministerien, fokussierte auch die reguläre Serie der Foreign Relations sehr einseitig auf die .große' internationale Politik. So enthielt sie, auch infolge einer generell zu lange reduktiv als reine Diplomatiegeschichte aufgefassten historischen Wissenschaft, seit jeher fast ausschließlich Aktenstücke aus den diplomatischen Archiven. Bei der Edition der Kriegskonferenzen bemerkten die Historiker des Außenministeriums jedoch die Unmöglichkeit einer umfassenden Darstellung, ohne die entsprechenden militärischen Akten beizuziehen. So stellten sie eine ganze Reihe von Begehren an das Department of Defense. Wenn aber die Historische Abteilung gegen die Geheimniskrämerei-Kultur des Außenministeriums gewappnet war und mit unterschiedlichem Erfolg eine Serie von Strategien entwickelt hatte, die manchmal sogar gegen politische Opposition zum Ziele geführt hatten, so musste sie bald realisieren, wie machtlos sie den militärischen Sicherheitsneurosen gegenüberstand. Mit einem Brief vom 30. Juni 1954 schlug Winnacker als Antwort auf das Einsichtsbegehren von Noble einen neuen Ansatz und eine neue Prozedur für die .Zusammenarbeit' vor. Zuerst sollten die militärischen Akten eingegrenzt werden: Aus denjenigen der War und Navy Departments sollten nur solche Dokumente berücksichtigt werden, welche politische Angelegenheiten betrafen, die auf internationaler Ebene diskutiert worden waren, und welche die Begebenheiten so widerspiegelten, wie sie von den zivilen Departementsvorstehern offiziell vertreten worden waren. Aus dem genuin militärischen Material sollte nur solches herangezogen werden, welches die soldatischen Führer in ihrer Funktion als Mitglieder der Joint Chiefs of Staff oder Combined Chiefs of Staff betraf. Militärische Dokumente unterhalb dieser hohen kriegspolitischen Ebene sollten bloß in Anmerkungen zusammengefasst werden. Nebst diesen reduktiven Einschränkungen, die darauf ausgerichtet waren, keine Informationen bezüglich der militärischen Kriegsführung preiszugeben, gab es trotzdem noch große Deklassifizierungsprobleme zu überwinden: Die Akten der Combined Chiefs of Staff seien nicht ausschließlich amerikanischer Provenienz, sondern gälten als alliiertes Gut, und die Deklassifizierung der Akten der Joint Chiefs of Staff habe diese so stark in Anspruch genommen, dass der Aufwand reduziert werden müsse. Bei den Akten der Departementschefs bestünden „basic research problems" {sic!) beim Auffinden der Dokumente, daher sei es besser, wenn die Historiker des Department of Defense diese Arbeit übernehmen würden.404 Unübersehbar waren Winnackers Versuche, einerseits die Geschichte der militärischen Angelegenheiten nicht aus der Hand zu geben und andererseits die Historiker aus dem Department of State
404
Brief von Dr. Rudolph A. WINNACKER an G. Bernard NOBLE, Washington,
3 0 . 6. 1 9 5 4 , N A , R G 59, C F 1 9 5 0 - 5 4 , B o x 9 8 , 0 2 3 . 1 / 6 - 3 0 5 4 .
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II. Amtliche Akteneditionen
weitgehend zu neutralisieren. Wegen dieser interdepartementalen Schwierigkeiten wurde Mitte Juli eine Konferenz zwischen Vertretern des Außen- und des Verteidigungsministeriums sowie Repräsentanten der Army, der Navy und der Air Force einberufen. In einer Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens wurde eine Minimallösung vereinbart, welche die Militärs einzig dazu verpflichtete, .wichtige' Akten zu suchen und zu deklassifizieren. 405 Damit wurden aber keineswegs alle Schwierigkeiten gelöst, denn Ende August meldete sich Winnacker bezüglich der Frage der Zensur der Druckfahnen der Konferenzakten von Yalta, Malta und Alexandrien telefonisch bei Noble und rastete dabei buchstäblich aus. Nobles Vorschläge seien „outrageous and indefendible", und er solle die Sicherheitsrichtlinien besser studieren. U m Druck auf Noble auszuüben, fragte Winnacker, ob Noble überhaupt im Namen seines Department spreche. Erst als Noble bemerkte, dass seine Arbeit den Segen des Under Secretary of State General Bedell Smith, des ehemaligen Stabschefs Eisenhowers, erhalten habe, ließ Winnacker etwas nach: „[Noble:] ,We were requested to discuss these things with you by the Under Secretary.' Mr. Winnacker asked, ,By whom? Have you a request from Mr. Bedell Smith to discuss these things with me?' Mr. Noble answered, ,Yes, by his staff.' Mr. Winnacker - ,1 definitely told you that the Department (Defense) was taking no official position. If the Department (State) asked you to take it up with me, I'd like to have it in writing. If this comes as a request of the Under Secretary, that is another thing. Are you officially informing me of that?' Mr. Noble replied, ,Yes, if that will help any - that is the situation. On Appendix B, 4 0 6 I'll look into that again, but I am simply stating what has been the practice in Foreign Relations'. Winnacker - ,A111 can say is that it has not been cleared. The matter has been turned down and you have been informed of that. That is what I call a cavalier attitude. (Winnacker) I think your attitude on Appendix Β had better be cleared by the authorities that be. You're telling the Department of Defense to go to hell'." 407
Die Deklassifizierung von Dokumenten stellte nicht das einzige Problem dar; auch die Frage von Auslassungen lieferte gröbere und größere Reibungsflächen. Winnacker warf Noble vor, dass die Historiker des Department of State bei Auslassungen in militärischen Dokumenten die Instruktionen des Department of Defense missachteten: bei Auslassungen sollten keine Erklärungen beigefügt, sondern bloß drei Punkte gesetzt werden. Noble verlangte, sollten seine Historiker auf jegliche erklärende Anmerkung verzichten müssen, zumindest in der Einleitung eine generelle Bemerkung zur Erklärung der Auslassungen beizufügen sei, was Winnacker allerdings strikte ablehnte. Was die Einflussnahmen auf die Publikation seitens Diplomaten des Department angeht, gibt ein aufschlussreiches Dokument vom 23. August 1954 Memo. ,conf.' von Rudolph A. WINNACKER (Historian, Office of the Secretary of Defense), [Washington,] 15. 7. 1954, NA, R G 59, C F 1950-54, Box 98, 023.1/7-1554. 406 y o n Winnacker aus Sicherheitsbedenken beanstandete Dokumente. 4 0 7 Memo, (auszugsweise Wortprotokoll) von G. Bernard NOBLE über ein telefoni405
sches G e s p r ä c h mit R u d o l p h A . WINNACKER, 26. 8 . 1 9 5 4 , N A , R G 59, C F 1950-54, Box 98,023.1/8-2654.
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detailliert die politischen Überlegungen der amerikanischen Administration betreffend der Publikation der (bis dahin klassifizierten, geheimen und streng geheimen) Akten über die Konferenzen von Malta und Yalta wieder. Nach einer sehr gründlichen Analyse der Druckfahnen kam Coburn Kidd von der Abteilung für deutsche Angelegenheiten zu dem Schluss, dass die Publikation, obschon sie auch einiges Material enthalte, welches von der jetzigen republikanischen Administration zur Diskreditierung der vorangegangenen demokratischen benützt werden könnte, viel mehr Material umfasse, das von anderen Staaten gegen die amerikanische Regierung und vom Kongress gegen die Exekutive benützt werden könne: „The passages which could be used by foreign countries include some which the British and French might find unbecoming or hardly in the spirit of allies; a great many which could be used by the displaced or subjugated peoples in Central and Eastern Europe, not to mention the Chinese, Koreans, and Japanese, to show the insouciance with which the most fateful decisions were reached. Even the Soviets would find material to show Western inconsistencies (e.g. Stettinius' agreement with them on the 20 billion reparations figure) or which did them credit (e.g. Stalin's insistence on some sort of judicial process when we proposed shooting war criminals out of hand)." 4 0 8
Rückblickend, so Kidds Interpretation, sei die Konferenz von Yalta als eine extrem schlechte Verhandlung für die USA zu werten. Die Akten vermittelten den Eindruck, dass die Sowjets durch systematische Anstrengungen konkrete Ziele erreichten, während die Amerikaner alles akzeptierten gegen fromme Deklarationen und Stalins Versprechen, in den Krieg gegen Japan zu ziehen. Eine Publikation dieser Art von Dokumenten sei erst nach zwanzig Jahren angebracht und wünschenswert. Eine Publikation nach fünfzehn Jahren würde nicht harmlos sein und eine nach zehn Jahren nur unter Einschränkungen möglich. Sollte die Publikation trotzdem aufgelegt werden, wäre im Interesse des Department eine ganze Reihe von Dokumenten auszusondern. In der Folge teilte Kidd die Druckfahnen in zwei Gruppen auf: einerseits die Akten, von welchen die Administration aus politischen Erwägungen wünschen könnte, dass man sie kenne, wie beispielsweise Morgenthaus und Whites Politik gegenüber Deutschland, und andererseits jene, welche Peinlichkeiten und Indiskretionen enthielten, wie beispielsweise einen antisemitischen Ausrutscher des amerikanischen Präsidenten, und die auszulassen seien. Daraufhin wurde die Passage, welche Roosevelts Antwort auf Stalins Frage enthielt, ob er bereit wäre, Ibn Saud gegenüber Konzessionen zu machen, in der definitiven Publikation ausgelassen und durch Punkte ersetzt: 4 0 9
Office Memo, .secret' von Coburn KlDD (GER) an ELBRICK (EUR), [Washington,] 23. 8. 1954, NA, RG 59, C F 1950-54, Box 98, 023.1/9-154. Abgedruckt im Anhang: Dok. 2, S. 341-344. 409 FR US. The Conferences at Malta and Yalta. 1945, Washington 1955, S. 924. 408
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II. Amtliche Akteneditionen
„The president replied that there was only one concession he thought he might offer and that was to give him the 6 million Jews in the United States." 410
Am 10. September 1954 ließ Außenminister Dulles die zuständigen Beamten im Department davon in Kenntnis setzen, dass er das Dossier über die bevorstehende Veröffentlichung der Bände über die Konferenzen von Malta und Yalta eingesehen habe. Betreffend des Veröffentlichungsdatums meinte der Außenminister, dass die Akten erst nach den Kongresswahlen publiziert werden sollten. Wäre die Publikation einen Monat zuvor erfolgt, hätte dies keine Probleme gestellt, eine Publikation aber, die zwei oder drei Wochen vor den Wahlen erscheine, würde „damn the entire operation as political, and in the eyes of students discredit it as politically motivated. They would be suspicious that the selection and omission of documents had been politically motivated." 411 Daher empfahl Dulles, dass die Publikation erst Anfang Dezember erfolgen sollte. Der Außenminister hatte aber nicht nur Bedenken bezüglich des politisch opportunen Zeitpunktes für die Freigabe der Dokumentation, sondern fügte auch eine Reihe von Bedingungen an: Ein Dokument sei zuerst dem Department of Defense zur Zensur zu unterbreiten, eines sei ganz wegzulassen und bei einem anderen eine entlastende präzisierende Bemerkung anzufügen. 412 Im Dezember 1954, als alle Bedenken endlich beseitigt schienen, meldeten die Briten ihre grundsätzliche Opposition zur Veröffentlichung an. Außenminister Dulles Entscheidung, dem britischen Veto zu folgen und die Publikation zurückzuhalten, erzürnte die republikanischen Senatoren. Um ihrer Kritik und den Vorwürfen zu begegnen, beabsichtigte Dulles einige Druckfahnen im Department of State für eine parlamentarische Einsichtnahme auflegen zu lassen. Als diese Strategie scheiterte, sandte er dem Kongress 14 Kopien der zurückbehaltenen Bände, deren Annahme aber die Demokraten prompt ablehnten, da sie den Außenminister mit Recht verdächtigten, damit ein Informationsleck zu beabsichtigen, was der republikanischen Administration die Auflage der Bände ermöglicht hätte. Am 17. März 1955 kam es zum Eklat, als die New York Times ohne jegliche Vorankündigung den gesamten Dokumententeil des Yalta-Bandes veröffentlichte. Die (unkorrigierten) Druckfahnen hatte die Times von Assistant Secretary McCardle mit dem Segen von Außenminister Dulles erhalten. Der Minister hatte sich zu dieser unorthodoxen Veröffentlichungspraktik bewegen lassen, weil er unter starWie oben Anm. 408. Dort im Original S. 3. Telegr. .official use only' von ALLISON an den Außenminister (aber von MCCARDLE an R. MCILVAINE, Office of Assistant Secretary), Tokyo, 10. 9. 1954, NA, RG 59, C F
410 411
1 9 5 0 - 5 4 , B o x 98, 0 2 3 . 1 / 9 - 1 0 5 4 .
Außenminister Dulles „would agree to the inclusion if the eighteen items mentioned in the attachment subject to Defense clearance of [no.] five, the omission of [no.] seven and the [Aneurin] Bevan reference in [no.] seventeen. Regarding [no.] twelve, he does not like it, but if it had previously been published, would withdraw objection if it is made clearer than present text indicates that the comment is Eden's." Ibid.
4,2
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1 8 6 1 - 2 0 0 0
125
kem Druck republikanischer Senatoren stand. Die Demokraten reagierten aufs Schärfste auf diese Vorgehensweise. Die Senatoren Lyndon B. Johnson und Hubert Humphrey verurteilten das Prozedere und versicherten, dass parlamentarische Untersuchungen folgen würden. Am 19. Juni wurde Dulles vor die außenpolitische Kommission des Senates zitiert, konnte sich aber mit dem Argument des Offentlichkeitsinteresses unbeschadet aus der Affäre ziehen. 413 Die Debatte über die republikanische Kritik an Roosevelts Kriegsdiplomatie war aber damit keineswegs zu Ende, denn die Demokraten konterten mit dem Argument, dass die vermeintlich politisch schwachen Entscheide des Präsidenten in Yalta von der militärischen Führung verursacht worden seien. Insbesondere die Generäle Eisenhower und MacArthur - welche die Wirkung der Atombombe unterschätzt hätten - hätten mehrmals zu Gunsten eines Einbezugs der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan interveniert, was Roosevelts Annahme von Stalins Bedingungen forciert habe. 414 Endlich, nach langwieriger, turbulenter Genese und dem forcierten Eklat durch die Veröffentlichung in der New York Times konnte die Aktenedition über die Konferenzen von Malta und Yalta zum Jahresende 1955 erscheinen. Sibyllinisch bemerkten die Historiker in deren Einleitung, dass der Band „as definitive and comprehensive [...] as could be made at the present time" sei. 415 In der Tat waren die Historiker im Department of State die Leidtragenden in der ganzen Affäre gewesen. Unter dem ständigen politischen Druck kam es zwischen ihnen zu derartigen Meinungsverschiedenheiten, dass einer schließlich seine Stellung kündigte und einem anderen gekündigt wurde. 416 Unbeschadet davon kam hingegen die amerikanische Diplomatie, denn die Dokumente enthielten keine unbekannten Skandale oder sonstigen brisanten Enthüllungen. Dies obgleich Churchill über verschiedene ,Ungenauigkeiten' lamentierte und sich die Franzosen über sie betreffende Aussagen irritiert zeigten. 417 Wie stark all diese politischen Einflüsse und Behinderungen schließlich auf die Vollständigkeit und Ehrlichkeit der Dokumentation einwirkten, kann hier bloß spekulativ erahnt werden. 418 Ein Jahr später, im Dezember 1956, erschien der erste Band der Dokumentation über China. 419 Wie bei den Kriegskonferenzbänden 420 versuchten die 413
SHEPPARD, „Documents", S. 128 f. Dort auch genaue bibliografische Hinweise für
die Informationen aus der New York Times. 4 1 4 Vgl. TOSCANO, Treaties, S. 235 f. 415 FR US. The Conferences at Malta and. Yalta. 1945, Washington 1955, S. XII.
Vgl. dazu LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 595, Anm. 31. Seit dem Februar 1956 beteuerte einer von ihnen vor Kongressausschüssen, dass die Historical Division die Akten für die Publikation zurechtbog, was aber in der Folge von einer parlamentarischen Untersuchungskommission als unwahr beurteilt wurde. 4 1 7 SHEPPARD, „Documents", S. 128 f. 4 1 8 Vgl. als Beispiel dazu im Anhang Dok. 2, S. 341-344. 416
419
FR US. 1942. China, Washington 1956.
420
Als weitere Bände dieser Unterserie erschienen später: FRUS.
Berlin (The Potsdam Conference
The Conference
1945), 2 Bde., Washington 1960. FRUS. The
of
Confe-
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II. Amtliche Akteneditionen
Republikaner, daraus politisches Kapital zu schlagen, indem sie die offizielle Version des stark gekürzten Weißbuches, das unter dem demokratischen Außenminister Dean G. Acheson aufgelegt worden war, zu diskreditieren trachteten. Die Herausgabe des Bandes schlug aber in den USA keine große Wellen, da die regulären Foreign Relations-B'inde über den fernen Osten für die Jahre 1939-1941 schon erschienen waren. U m so vehementer aber fielen die Reaktionen in Taipeh aus, welche eine solche Intensität erreichten, dass Außenminister Dulles im .nationalen Interesse' entschied, vorläufig keine weiteren Dokumente über Tschiang Kai-schek zu veröffentlichen. So verfügte er am 9. August 1957, die restlichen 14 Bände, von denen einige schon gedruckt und gebunden worden waren, auf unbestimmte Zeit einzumotten. Erst fünf Jahre später, im März 1962, als die reguläre Serie das Jahr 1942 erreicht hatte, wurden sie von der Kennedy Administration exhumiert. Der China Band für 1943 421 trug noch das Druckjahr 1957. Gleichzeitig wurde ebenfalls Band V zu 1941 422 der regulären Serie präsentiert, welcher aus .Sicherheitsgründen' zurückbehalten worden war und ebenfalls das obsolete Druckjahr 1956 trug. 4 2 3 Der von innen- und außenpolitischen Interessen bestimmte Gang beider speziellen Unternehmen zwingt uns, die Frage nach der äußeren Selektion der regulären Serie näher zu betrachten. Dies erfordert eine Analyse, welche Belege für die Auslassungswünsche fremder Regierungen erbringt, denn diese Zensurpraktik der Akten wird bis heute expressis verbis zugegeben und eingehalten. 424 Die eingesehenen Akten des Department of State liefern in der Tat eine große Anzahl von Korrespondenzen mit ausländischen Regie-
rences at Cairo and Tehran. 1943, Washington 1961. FRUS. The Conferences at "Washington. 1941-1942, and Casablanca. 1943, Washington 1968. FRUS. The Conferences at Washington and Quebec. 1943, Washington 1970. FRUS. The Conference at Quebec. 1944, Washington 1972. Eine Rezension dazu bietet: Hans R. GUGGISBERG, „Dokumente zur amerikanischen Außenpolitik von 1940 bis 1950. Das Quellenwerk Foreign Relations of the United States", in: HZ 226 (1978), S. 622-635. « 1 FRUS. 1943. China, Washington 1957 [aber erst 1962 der Öffentlichkeit übergeben]. « 2 FRUS. 1941, Bd. 5, Washington 1956 [aber erst 1962 der Öffentlichkeit übergeben], 4 2 3 Die Affäre über die China-Bände behandelt: LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 608. 4 2 4 Die Zensur der Dokumente mit ausländischen Regierungen wurde in der KelloggRichtlinie aus dem Jahre 1925 (siehe oben S. 101) erstmals amtlich festgehalten. Diese Prinzipien, welche seitdem die Edition der FRUS regelten, wurden bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit revidiert (siehe oben S. 116 und Anm. 386 und 387). Eine neue Revision erfuhren die Editionsrichtlinien mit der Dep. of State Regulation 1350 vom 15. 6. 1961 (abgedruckt in: FRUS. 1944, Bd. 2, Washington 1967, S. III-IV). Am 28. 10. 1991 erhielt die Serie für deren Vorbereitung einen neuen statutarischen Charakter durch das Public Law 102-108 (Foreign Relations Authorization Act), unterzeichnet von Präsident George Bush (vgl. FRUS. 1961-1963, Bd. 9, Washington 1995, S. III-X, hier S. X).
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rungen. In den meisten der vorgefundenen Fällen wurde aber die Publikation nicht beanstandet. 425 Ein Beispiel für ein involviertes Land, das sich gegen eine Publikation von Akten in den Foreign Relations aussprach, lieferte Mexiko im Jahre 1951. In der Antwort auf drei amerikanische Noten teilte das mexikanische Außenministerium der US-Botschaft mit, dass es nach aufmerksamer Analyse der unterbreiteten Aktenstücke betreffend der amerikanischen Forderungen 4 2 6 aus dem Jahre 1935 sein Einverständnis zur Veröffentlichung verwehren müsse: „Unfortunately, the Ministry has come to the conclusion that the English version of these documents, among other reasons (sic!) because of insuperable difficulties of translations, does not faithfully reflect the manner in which this phase of the negotiations between Mexico and the United States was conducted with regard to the matters in question."427
Siehe beispielsweise: Foreign Service Despatch .unclassified' von Robert R J O Y C E (US-Botschaft in Paris) an das Dep. of State, Paris, 29. 9. 1954, NA, RG 59, CF 195054, Box 95, 023/9-2954. In dieser Mitteilung übermittelte die amerikanische Botschaft in Paris dem Dep. of State eine Note des französischen Außenministeriums vom 23. 9. 1954, mit welcher das Ministerium informierte, „qu'il ne voit pas d'objection à la publication" zweier Aide-mémoires der französischen Botschaft an das Dep. of State vom 19. 4. 1940 (abgedruckt in: FRUS. 1940, Bd. 4, Washington 1955, S. 9f) und vom 6. 8. 1940 (abgedruckt in: ibid., S. 63f) in den FRUS. - Ein weiteres Beispiel: Foreign Service Despatch .restricted' von William C. T R I M B L E (First Secretary of Embassy in London) an das Dep. of State, London, 22. 3. 1950, NA, RG 59, CF 1950-54, Box 96, 023.1/3-2250. Mit dieser Mitteilung der amerikanischen Botschaft in London übermittelte diese dem Dep. of State den Inhalt einer britischen Note betreffend der Publikation einiger Dokumente in den FRUS: die Regierung Seiner Majestät sehe keinen Grund, die Publikation dieser Dokumente zu beanstanden. Bevin leitete aber zwei Noten des britischen Botschafters in Washington an den Außenminister betreffend einer Antarktis-Expedition des Admiral Byrd weiter an die Regierung von Neuseeland. Wegen dieser Expedition zur Base Ross, welche auf unter neuseeländischer Administration stehendem Territorium errichtet war, war nämlich ein Streit zwischen Neuseeland und den USA entflammt, weil letztere bei der Errichtung eines Expeditions-Postbüros für das Betreiben von Funkverkehr und Flugzeuglandungen keine entsprechenden Lizenzen bei der neuseeländischen Regierung eingeholt hatten. Natürlich ging es hier nicht um diese Lappalie, sondern um die Befürchtung, diese Präzedenzfälle könnten die Souveränität Neuseelands auf diesem Territorium untergraben. Die neuseeländische Regierung scheint aber ihr Imprimatur gegeben zu haben, denn beide Noten vom 29. 1. 1934 und vom 27. 12. 1934 sind in den FRUS. 1934 (Bd. 1, Washington 1951, S. 1010-1012 und 1013f.) abgedruckt. 425
Diese seit Jahren die US-mexikanischen Beziehungen belastende Angelegenheit war auf die Auslegung der General Claims Convention zurückzuführen, welche am 8. 9. 1923 zwischen den USA und Mexiko in Washington unterzeichnet worden war. Darüber war seit 1938 in den FRUS bereits eine umfassende Dokumentation veröffentlicht worden. Vgl. FRUS: 1923, Bd. 2, Washington 1938, S. 555-560; 1929, Bd. 3, Washington 1944, S. 434-473; 1932, Bd. 5, Washington 1948, S. 732-756; 1933, Bd. 5, Washington 1952, S. 798-823; 1934, Bd. 5, Washington 1952, S. 398^77. 4 2 7 Foreign Service Despatch .restricted' von Franklin C. GOWEN (Erster Sekretär der US-Botschaft in Mexiko) an das Dep. of State, [Mexico, D.F.J 24. 4. 1951, NA, RG 59, CF 1950-54, Box 96, 023.1/4-2451. 426
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II. Amtliche Akteneditionen
Diese Opposition war offensichtlich erfolgreich, denn der entsprechende Band enthielt tatsächlich kein einziges D o k u m e n t der mexikanischen Regier u n g . 4 2 8 U m weitere Beispiele anzufügen, sei angemerkt, dass die kanadische Regierung 1954 verlangte, dass eine Passage über einen Fischereistreit mit N o r w e g e n aus den Foreign
Relations
herausgekippt w e r d e . 4 2 9 Weitere A u s -
4 2 8 Vgl. FRUS. 1935, Bd. 4, Washington 1953, S. 753-765. Offensichtlich machte Mexiko auch in der Folge Schwierigkeiten, denn ein Jahr später meldete die US-Botschaft, dass in der Frage der Publikation mexikanischer Dokumente in den FRUS das mexikanische Außenministerium endlich sein Einverständnis für die Publikation der Ubersetzung einer Note vom 24. 6. 1937 des mexikanischen Botschafters in den USA gegeben habe. Foreign Service Despatch ,restricted' von Reuben R. THOMAS (Administrative Officer der US-Botschaft in Mexiko) an das Dep. of State, [Mexico, D.F.,] 22. 7.1952, NA, R G 59, C F 1950-54, Box 97, 023.1/7-2252. So konnten diese mexikanischen Aktenstücke planmäßig in den FRUS. 1937 (Bd. 1, Washington 1954, S. 337f.) erscheinen. 4 2 9 Am 18. 5. 1954 übermittelte die US-Botschaft in Ottawa eine Note des kanadischen Außenministeriums. Darin zeigten sich die Kanadier mit der Publikation von vier Dokumenten in den FRUS. 1939 einverstanden, aber: „External Affairs suggests, however, that, in publishing the United States Memorandum of April 20, 1939, [...] a passage from the fourth paragraph be omitted. [...] One of the documents referred to in the Ambassador's Note is a reply to a Memorandum of April 20, 1939, from the United States Legation in Ottawa relating to conservation of North Pacific fisheries. It is noted that this Memorandum contained a reference to an incident of 1936, when the Canadian and United States Government prevented a ship, then being fitted out in Norway, from carrying on halibut fishing operations on the Pacific coast of North America. In view of the sensitiveness of the Norwegians in fishing matters, some concern is felt here about including a reference to this accident in a published document. There might be a chance of reviving an old controversy over the activities of the ship in question. If the United States Government, on further consideration, agrees with this view, it might be possible to omit from the fourth paragraph of the United States Memorandum of April 20,1939, the passage beginning ,It will be recalled' and ending ,is in sight'. The paragraph would then read as follows: ,The past activities of factory ships have been especially disturbing and affected interests are concerned over what may occur should the activity of such vessels increase. [Die verlangte Auslassung, welche aber dennoch in den FRUS abgedruckt wurde, lautete: „It will be recalled that in the autumn of1936 the Canadian and United States Governments successfully made joint efforts to prevent a so-called ,mothership', then being fitted out in Norway, from carrying on halibut fishing operations beyond territorial waters but in areas included within the scope of an existing halibut convention. Although no similar threat to their joint halibut conservation measures is in sight,"] [t]he increased use of modernized fishing methods may hasten the day when the threat of foreign exploitation will again materialize. It would seem the part of wisdom for the two Governments to anticipate and make whatever preparations may be possible to meet such an eventuality.'" Foreign Service Despatch .official use only' von Ernest de W. MAYER (Counselor der US-Botschaft in Ottawa) an das Dep. of State, Ottawa, 18. 5. 1954, NA, R G 59, C F 1950-54, Box 98, 023.1/5-1854. Das Dokument wurde ohne Berücksichtigung der Auslassungswünsche in den FRUS. 1937 (Bd. 2, Washington 1956, S. 340 f.) abgedruckt, vermutlich weil die Historiker im Department plausibel darlegen konnten, dass erstens die beanstandeten Aktenstücke amerikanischer Provenienz waren und zweitens die Affäre bereits in den FRUS. 1939 (Bd. 2, Washington 1954, S. 183-185) erwähnt worden war.
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1861-2000
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lassungswünsche meldeten im gleichen Jahr auch die national-chinesische Regierung in Taipeh 430 und die britische 431 an. Auch die Amerikaner wurden zur Zensur ausländischer Akteneditionen angefragt, wie beispielsweise bei der Edition der Documents on British Foreign Policy·432 Dabei muss aber betont werden, dass sich die Historiker des Am 5. 7. 1954 meldete das national-chinesische Außenministerium in Taipeh der US-Botschaft, dass seine Regierung „had no objection to the publication of 40 of the 41 documents [...] but that it did not wish document 81 C O A - L I N O , [FRUS, Washington 1955] Volume III, 1939 (The Ambassador in France (Bullit) to the Secretary of State) to be published as the Chinese Government regards it as still confidential in nature." Foreign Service Despatch .unclassified' von Robert W. RINDEN (Erster Sekretär der US-Botschaft in Taipeh) an das Dep. of State, Taipeh, 6. 7.1954, NA, R G 59, C F 1950-54, Box 98, 023.1/7-654. Ob das Dokument ausgelassen wurde, ist aufgrund der speziellen Druckfahnennummerierung nicht eruierbar. 4 3 1 Im Juli 1954 informierte das Foreign Office die US-Botschaft in London, dass die Regierung Seiner Majestät die Publikation zweier britischer Dokumente in den FRUS. 1939 (Band II, Washington 1956) beanstande. Es handelte sich um Korrespondenzen der britischen Botschaft in Washington mit dem Dep. of State - ein Aide-mém. vom 5. 4. 1939 (aber abgedruckt in: ibid., S. 311-313) und eine Note vom 20. 2. 1939 (abgedruckt in: ibid., S. 308f) - , deren Inhalt die von den USA und Großbritannien beanspruchten Canton und Enderbury Inseln (171°40' West, 2°50' Süd) der PhönixGruppe im Süd-Pazifik betraf, deren Lagunen sich hervorragend als Wasserflugzeuglandeplätze eigneten: „H[is] Mfajesty's] Gfovernment] believes that since [the] matter [is] still under discussion [it] would not be in best interests of [the] US and U K to publish these documents at this time. If [the] Department still desires [to] publish [this] material, H[is] M[ajesty's] Government] requests further consultation and [the] opportunity [to] refer [this] matter to Australia and New Zealand." (Telegr. ,conf.' von ALDRICH (US-Botschaft in London) an den Außenminister, London, 14. 7. 1954, Ν A, R G 59, C F 1950-54, Box 98, 023.1/7-1454.) Darauf antwortete aber Außenminister Dulles am 28. 7.1954, dass ,,[o]mission of documents would leave gap in 1939 published record regarding British concern over obtaining visus of Australian and New Zealand Governments, a concern particularly expressed in April 5 Aide Memoire replying to U.S. note of February 8, 1939 which will be published [tatsächlich abgedruckt, in: FRUS. 1939, Band II, S. 307]. The Embassy is requested to inform the Foreign Office of the Department's desire to have the question of publishing documents reconsidered and or its willingness to have matter referred to Australian and New Zealand Governments." (Dep. of State Instruction ,conf.' von Außenminister John Foster DULLES [aber aufgesetzt von G. A. NUERMBERGER (Historical Division), und von Bernard G. NOBLE genehmigt] an die US-Botschaft in London, [Washington,] 28. 7. 1954, NA, R G 59, C F 1950-54, Box 98,023.1/7-1454.) Offensichtlich erhielt das Department schließlich das Einverständnis, denn die Dokumente wurden abgedruckt. Ausschlaggebend für den britischen Rückzieher waren einerseits der Hinweis auf das Abdrucken eines amerikanischen Dokumentes, aus welchem die britische Position ohnehin ersichtlich wurde, und vermutlich andererseits, dass auch in diesem Fall das überzeugende Argument eingebracht wurde, dass die Angelegenheit bereits in früheren Bänden der FRUS (1937, Bd. 2, Washington 1954, S. 125-135 und 1938, Bd. 2, Washington 1955, S. 77-119) extensiv behandelt worden war (vgl. oben Anm. 429). In der Folge blieben die Inseln der Phönix-Gruppe unter gemeinsamer britischer und amerikanischer Verwaltung. 430
Im Juli 1955 fragte die Botschaft ihrer Majestät das Dep. of State an, ob es Einsprüche gäbe zur vorgesehenen Publikation des Bandes VI der zweiten Serie der Documents 432
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II. Amtliche Akteneditionen
Department, an welche diese Bereinigungsunterlagen in der Regel zur Verarbeitung weitergeleitet wurden, große Mühe gaben, den Diplomaten der eigenen Administration klarzumachen, dass amerikanische Auslassungswünsche aus ausländischen Dokumenten zu vermeiden seien; denn dies hätte als Präzedenzfall bei ausländischen Regierungen den Eindruck vermitteln können, dass die entsprechende Beanstandung von amerikanischen Akten ein etabliertes Recht sei. 4 3 3 So bemerkte Spaulding in einer internen Stellungnahme didaktisch:
on British Foreign Policy. 1919-1939 (in der Folge DBFP). Das Außenministerium gab sein Einverständnis zur Publikation, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass einige Dokumente aus dem Spätjahr 1933 - es handelte sich um Korrespondenzen betreffend eines Missverständnisses über anglo-amerikanische Gespräche über die Eingrenzung der Kriegsflotte - zum privaten Briefverkehr zwischen Premier Minister Ramsay MacDonald und dem ehemaligen Außenminister Henry L. Stimson gehörten. (Es handelte sich um die Dokumente 4, 85 und 133 des Bandes VI der DBFP. 1919-1939, Second Series). Deswegen sei die amerikanische Regierung nicht in der Lage, ihr Einverständnis für deren Publikation zu geben, sondern diese sei direkt beim Betroffenen einzuholen. Entwurf einer Note vom Dep. of State [aufgesetzt von E. Ralph PERKINS] an die britische Botschaft in Washington, [Washington,] 2. 8. 1955, NA, RG 59, Lot Files, Lot 57D540, General Records of the Assistant Legal Adviser for German Affairs relating to Germany and Austria, 1946-1956, Box 27, „Archives 1955". 4 3 3 Ende Juni 1946 schaute sich Ernest R. Perkins die Druckfahnen eines Bandes der Documents on British Foreign Policy (Second Seríes, Bd. 2) an und stellte sofort fest, dass es keine Dokumente von der US-Regierung enthielt. Dennoch enthielt der Band eine heikle Passage, die Perkins prompt notierte: In einem Telegr. vom 26.10. 1931 rapportierte der englische Botschafter in Washington, Sir R. Lindsay, den Inhalt einer Konversation mit Außenminister Henry L. Stimson, in welcher letzterer über ein Gespräch zwischen Präsident Herbert Clark Hoover und dem französischen Premierminister Laval, an welchem er teilgenommen hatte, offen ausplauderte: „The President and the Secretary of State had urged M[onsieur] Laval to do something about the frontiers of Central Europe. [...] No serious body of Germans called the Western frontier in question and none acquiesce in the Eastern frontier. Latter was indefensible. M[onsieur] Laval repeated to the Secretary of State the admission that he had made to him in July that the Polish corridor was a monstrosity but he had since then made enquiries at Warsaw and the Polish Government had said they would rather have war than agree to any modification of them." (abgedruckt in: DBFP, Second Series, Bd. 2, Dok. 280, S. 306-308). Parallel zur britischen Publikation für das Jahr 1931 waren auch die editorischen Arbeiten an den /7?t/S-Bände fortgeschritten und der parallele Band (1931, Bd. 2) war im Begriffe zu erscheinen. Darin war das entsprechende Memo, des Außenministers auch abgedruckt (ibid., S. 253 f.). Allerdings hielt sich Stimson in seiner Darstellung sehr .substanziell' und machte keinen Hinweis auf seine Indiskretionen betreffend der deutschen Ostgrenze und des Danziger Korridors. Perkins bemerkte, wie skizzenhaft und unvollständig die Dokumente im Department betreffend der HooverStimson-Laval Gespräche waren. Dies war eine Folge der unklaren Regelung der Besitzverhältnisse der Akten der höchsten Beamten. Denn es kam häufig vor, dass Chefbeamten und Minister ihre Akten nach Amtsende mitnahmen. Im September 1943 hatte sich die Division of Research and Publication beim ehemaligen Außenminister Stimson nach diesbetreffendem Aktenmaterial erkundigt, ohne jedoch Erfolg zu haben. Perkins Schluss zur Bereinigung der britischen Akten fiel allerdings klar aus: Trotz der erwähnten Passage, welche die Deutschen in ihrer Unzufriedenheit mit der polnischen Rege-
3. Die amerikanische Formel der „Foreign Relations". 1861-2000
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„[I]t is our practice to request a foreign government's permission to print only papers actually originating from or initialed by their own officers. Even with respect of such papers we ask their consent only as a matter of courtesy and not as a matter of right. I had hoped therefore that the response to the British in the present case would merely include an expression of the Department's appreciation of being consulted and would not in any way indicate that we have any right in the matter."434 Zur Einschätzung der Dimensionen der inneren und äußeren Selektion gibt uns ein Memorandum 4 3 5 von E. Wilder Spaulding aus dem Jahre 1945 wertvolle Informationen. Zuerst bestätigt es, dass fremde Regierungen um Publikationserlaubnis nur bei diplomatischen Noten oder anderen Aktenstücken angefragt wurden, welche sie selbst produziert oder abgezeichnet hatten. Handelte es sich um Akten oder gar Gesprächsnotizen, die von amerikanischer Seite verfasst worden waren, wurde von einer Anfrage abgesehen. Zur Problematik des Zeitverlustes bei der Anfrage fremder Regierungen verrät Spaulding, dass dieser häufig weniger gravierend sei als derjenige, welcher das Department selbst verursachte, denn die Beamten des US-Außenministeriums lieferten viele Kommentare und Kritik, während fremde Regierungen lung unterstützen würde, solle man keine Beanstandung gegen deren Publikation bei den Briten vornehmen, denn die amerikanischen Praktiken ausländischen Regierungen gegenüber betrafen nur die Bereinigung ausländischer Dokumente, nicht aber die amerikanischen Aufzeichnungen über Gespräche mit Vertretern ausländischen Regierungen. Dieser Punkt war für die Historiker des Department sehr entscheidend, wenn sie die Etablierung einer noch mühsameren und Zeit raubenderen Bereinigung mit ausländischen Regierungen auch für Dokumente reiner amerikanischer Provenienz verhindern wollten. Memo, von Ernest R. PERKINS an E. Wilder SPAULDING, [Washington,] 28. 6. 1946, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 462,111.324/7-246. 4 3 4 Memo, von E . Wilder SPAULDING (RP) an LINEBAUGH ( B C ) , [Washington,] 2. 7. 1946, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 462,111.324/7-246. Hervorhebung von mir, SZ. 4 3 5 Dr. Bernadotte Schmitt informierte Spaulding darüber, dass Assistant Secretary MacLeish wissen möchte, wieso es bei der Publikation der FRUS eine Zeitverschiebung von 15 Jahren gebe, welche Dokumente mit ausländischen Regierungen bereinigt würden und schließlich, welche Empfehlung für eine optimale Zeitspanne für die Publikation der Dokumente nach den Ereignissen vorzuschlagen sei. Betreffend der Zeitspanne meinte Spaulding, dass diese bei ungefähr zehn Jahren läge. Man solle aber jederzeit bereit sein, wenn die Umstände dies erlaubten, spezielle Bände herauszugeben, wie jene über Japan. Ideal wäre, die Dokumentation zur Außenpolitik sofort und laufend vorzubereiten. Diese Bände in Manuskriptform sollten dann für Beamte der politischen und forschenden Abteilungen des Außenministeriums lange vor deren offiziellen Veröffentlichung zugänglich gemacht werden. Dieses System würde das Verfassen von spezifischen Studien vereinfachen. Weiter solle für die Zukunft bedacht werden, dass, sollten Experten nach ihrer kriegsbedingten Tätigkeit wieder zur Verfügung stehen, solche Grundsatzstudien, welche das Ministerium so bitter nötig habe, vermehrt im Auftrag gegeben werden. Der Division of Research and Publication mangele es chronisch an Forschungsequipen, um ein Forschungsprogramm und speziell verlangte Forschungsstudien zu verfolgen. Da für diese Studien stets Kapazitäten aus dem FR USProgramm ausgeliehen werden müssten, erhöhe sich die Verspätung der regulären Serie. Memo, von E. Wilder SPAULDING an Assistant Secretary Archibald M A C L E I S H , [Washington,] 3. 2. 1945, NA, RG 59, Central File [CF] 1945-49, Box 4, 026 Foreign Relations/2-345.
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II. Amtliche Akteneditionen
sehr selten die Publikation eines Dokumentes verwehrten. 4 3 6
Spaulding
nahm Stellung zur grundsätzlichen Editionsphilosophie der Foreign
Rela-
tions·. „Our first objective in publishing the volumes is to produce a .substantially' complete and honest definitive record which should, so far as possible, be above criticism by experts who are inevitably suspecting the Department of suppression of record. To achieve a substantially complete record in the face of fears in some Departmental quarters that we are publishing too much too soon, forces us to compromise with those who desire almost immediate publication." 437 F ü r eine speditivere Veröffentlichungspraktik hatten nämlich die amerikanischen Fachvereinigungen und Wissenschaftsverbände mehrmals plädiert. Diese Organisationen besaßen relativ potente Druckmittel, denn ihre starke Verwurzelung in der Bildungselite und ihr privilegierter Zugang zu K o n gressmitgliedern sicherte ihren Forderungen eine genügend große Resonanz. Bereits 1 9 2 9 hatten die Vereinigungen der Völkerrechtler und der Politologen eine Kursänderung des Publikationsprogrammes des Department of State erfolgreich durchsetzen k ö n n e n . 4 3 8 A u c h in der Nachkriegszeit erhoben diese Verbände mahnend ihre Stimme. So forderten beispielsweise die Völkerrechtler 1946 in mehreren Resolutionen unter anderem, dass die Serie der Foreign Relations laufend zu kompilieren und zügiger zu publizieren sei. D a z u sei die personelle und finanzielle Ausstattung der Division of Research and Publication entsprechend zu vergrößern. 4 3 9 Weitere Resolutionen zu Gunsten der Publikationen des Department of State formulierte beispielsweise die American Political Science Association 4 4 0 im Dezember 1 9 4 9 als „The delay caused by consulting foreign governments is, as a matter of fact, often less serious than that caused by clearance in the Department itself. Officers of the Department offer many comments and criticism while foreign governments very rarely object." Ibid., S. 1. Vgl. dazu auch die späteren amtlichen Essays von PERKINS, „91 Years", S. 1005 f. und William M. FRANKLIN, „The Future of the ,Foreign Relations' Series", in: Department of State Bulletin 61 (1969), S. 247-251. Nach Franklin sei das Problem der Zensur in den sechziger Jahren gestiegen, obschon die Serie die zwanzigjährige Verspätungsgrenze bereits überschritten hatte, denn „the dramatic increase in longevity that we have seen since World War II will make these problems more numerous and more touchy as more prominent officials here and abroad stay active in government or politics well beyond a quarter of a century." Hier S. 250. 4 3 7 Wie oben Anm. 435. Dort S. 2. 4 3 8 Vgl. oben S. 99. 4 3 9 Resolution der Eight Conference of Teachers of International Law and Relates Subjects, [Washington,] 25. 3. 1946, NA, R G 59, C F 1950-54, Box 4, 026 Foreign Relations/7-146. Weitere Resolutionen der Eight Conference of Teachers of International Law and Relates Subjects, die am 24. und 25. 4. 1946 in Washington stattfand, betrafen in unserem Zusammenhang die Uberführung der Akten des Präsidenten und anderer höherer Politiker und Beamter vom privaten Besitz ins Staatseigentum (vgl. oben Anm. 433) und die Professionalisierung des Verkaufes der Staatspublikationen nach kommerziellen Verkaufskriterien. 4 4 0 Die Hauptpunkte, welche die American Political Science Association im Dezember 1949 in New York in ihrer Resolution betreffend des Publikationsprogrammes des 436
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direkte Reaktion auf ventilierte Einsparungen und ein Jahr später die American Historical Association 4 4 1 . Zwischen den Historikern im Department und diesen Fachvereinigungen entstanden immer engere Verbindungen. Diese Entwicklung war darauf zurückzuführen, dass mit zunehmender Professionalisierung der Editionsarbeiten seit den zwanziger Jahren akademisch ausgewiesene Historiker ins Außenministerium berufen worden waren, welche den Kontakt zu ihrer akademischen Gemeinschaft suchten. Andererseits scheint sich die Vermutung zu bestätigen, dass die Departementshistoriker durch informelle Kontakte zu ihren Gemeinschaften geschickt versuchten, D r u c k auf innerdepartementale Bremser ausüben zu lassen. 4 4 2 So wurden beispielsweise in den Resolutionen Dep. of State formulierte, waren zuerst ihre „appreciation" für die Publikation der ersten zwei Bände der DGFP und ihre Hoffnung, „that there will be made available founds for the very early completion of the remaining volumes and for their early publication." Es folgten eine Reihe von Punkten zu Publikationen, die entweder in Verzug geraten oder gar blockiert worden waren. Zu den ersteren zählte die FRUS, die damals eine Verspätung von 17 Jahren akkumuliert hatte. Die Vereinigung bat um „every effort", um diesen Rückstand wettzumachen. Zu den blockierten Publikationsserien zählten die Hunter Miller Treaty Edition und die Documents and State Papers. So baten die Politologen den Senat und das Repräsentantenhaus, adäquatere Finanzierungsmittel zuzusprechen, als dies während des Jahres 1949 der Fall gewesen sei. Weil in den USA das Budget formell durch das appropriations law sanktioniert wird, richtete die Vereinigung ihre Bitten auch an die Kongresskommission, welche für das Budget des Dep. of State verantwortlich war. Vgl. Brief von Harvey WALKER (Sekretär und Schatzmeister der American Political Science Association) an Außenminister Dean G. ACHESON, Columbus, OH, 2. 2. 1950, NA, R G 59, CF 1950-54, Box 96, 023.1/2-250. Vom 28. bis zum 30. 12. 1950 hielt die American Historical Association in Chicago ihren jährlichen Kongress ab. Bei dieser Gelegenheit verabschiedeten die versammelten Historiker eine Resolution, welche eine Weiterführung der Publikation der United States Treaties and Other International Agreements forderte - „a scholarly and authoritative edition [...] which has proved a valuable and well-nigh indispensable adjunct to historians, international lawyers and practicing diplomats" - , die nicht weiter als bis zum Jahr 1858 gekommen war. Betreffend der FRUS unterstrich die Vereinigung, dass die erfolgte Publikation einiger Bände der DBFP und der DGFP die Tätigkeit dieser Außenministerien für die entscheidende Zeit vor 1939 dokumentiere, dass hingegen die entsprechenden Akten aus dem Dep. of State immer noch unveröffentlicht seien. So empfahlen die Historiker dem Dep. of State, das Projekt der Erschließung der deutschen Akten aktiv weiterzuführen und, „most strongly", dass die FRUS zeitlich viel näher gebracht werden sollten. Vgl. Brief von Guy Stanton FORD (Executive Secretary of the American Historical Association) an Außenminister Dean G. ACHESON, Washington, 26. 1. 1951, NA, R G 59, C F 1950-54, Box 96, 023.1/1-2651. 441
Zwei Belege für diese These: (1) 1943 hatte E. Wilder Spaulding in einem Memo, an Präsident Roosevelt mit den Forderung der Wissenschaftsverbände argumentiert. Vgl. obenS. 112 f. und Anm. 374. (2) Anfang der siebziger Jahre amtierte das ehemalige Mitglied des Historical Office, der nun pensionierte Dr. E. Ralph Perkins, als Mitglied des Committee on Publication of the Department of State and the United Nations der American Society of International Law. In dieser Funktion unterstrich er die Wichtigkeit, Druck auf Mitglieder des Kongresses und des Außenministeriums auszuüben, damit die Verspätung der FRUS wettgemacht werden könne. Weiter kritisierte er öffentlich, dass die Bände über den kommunistischen Sieg in China zwar schon längst 442
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II. Amtliche Akteneditionen
dieser Wissenschaftsverbände stets die unzureichenden Rahmenbedingungen kritisiert, während die Historiker Lob ernteten, wie beispielsweise von den Völkerrechtlern, welche in ihrer Erklärung ihrer „gratitude for the faithfull devotion and efficient service of the men now charged with responsability for Department of State publications and documents" Ausdruck verliehen. 443 Wie auch immer, die Historical Division nutzte die von republikanischer Seite her politisch eingebrachte Kritik - sie wolle die .wahre' Geschichte von Roosevelts Kriegsdiplomatie verdunkeln 444 - um mit Hilfe dieser wissenschaftlichen Fachorganisationen auch eine ganze Reihe innerer Probleme zu lösen, indem sie 1957 ein Advisory Committee on Foreign Relations to the Historical Division of the Department of State ins Leben rief. Drei Mitglieder dieses beratenden Organs wurden von der American Historical Association, zwei von der American Political Science Association und zwei von der American Society of International Law vorgeschlagen. Die definitive Wahlbefugnis blieb jedoch beim Department of State, was prompt von autoritativer akademischer Stelle kritisiert wurde, 445 weil das Department die Vorgeschlagenen, in Hinblick auf die Gewährung der Akzession zu klassifizierten Dokumenten, einem vollständigen „security check" unterzog. Da manche Wissenschaftler wegen Bedenken, dass diese Kooptationspraktik ihre wissenschaftliche Freiheit beeinträchtigen könnte, sich dieser Sicherheitskontrolle nicht unterstellen wollten, blieb die Zusammensetzung dieses Ausschusses relativ unrepräsentativ. Dennoch konnte das Advisory Committee zu Beginn der sechziger Jahre, als sich die Serie in einer „crisis of alarming proportions" 4 4 6 befand, den Historikern des Department bei einer ganzen Reihe von Problemen beratend zur Seite stehen. Allem voran war die amerikanische Diplomatie in der Nachkriegszeit derart global geworden, dass das Unterfangen seiner Dokumentation rein quantitativ mit der während der Zwischenkriegszeit applizierten Selektionsmethode nicht mehr zu bewältigen war. 447 Gleichzeitig stellte sich die Frage, wie weit wirtschaftliche, milikompiliert, aber dann lange zurückbehalten worden seien. Vgl. „Proceedings of the American Society of International Law at its sixty-fifth annual meeting, Washington, D.C., April 29-May 1, 1971", in: American Journal of International Law, 65, Nr. 4 (1971), S. 331 f. 4 4 3 Wie oben Anm. 439. U m Missverständnissen vorzubeugen: Dies will keineswegs heißen, dass die Arbeit der Historical Division nicht punktuell kritisiert worden wäre. Vielmehr hatten die Historiker scharfe Kritik von republikanischer Seite geerntet, welche sie beschuldigte, Roosevelts Amtsführung verdunkeln zu wollen. 4 4 4 Vgl. oben S. 118-125, Anm. 416. 4 4 5 So Leopold in seiner präsidialen Ansprache vor der Society for Historians of American Foreign Relations am 28. 12. 1970. Richard W. LEOPOLD, „A Crisis of Confidence: Foreign Policy Research and the Federal Government", in: American Archivist 34 (1971), S. 139-155, hier S. 146 und Anm. 7. 446 LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 595. 4 4 7 In seinem Bericht für das Jahr 1960 sprach das Advisory Committee von einer „crisis of major proportions", die hauptsächlich auf die „fantastic expansion of materials in the archives of the State Department" zurückzuführen sei. „Report of the Advisory
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tärische oder ideologische außenpolitische Aktivitäten, wie beispielsweise diejenige des seit 1947 ins Leben gerufenen National Security Council - geschweige denn die unterschwelligen Aktivitäten der Geheimorganisationen wie der C I A - in die außenpolitische Aktensammlung aufzunehmen seien. 4 4 8 Damit verbunden gab es noch das praktische Problem, dass viele Akten - obschon sie vom Department of State produziert worden waren - nicht im Central File, sondern bei den speziellen Handakten aufbewahrt wurden, zu welchen die Historische Abteilung nicht immer leicht Zugang erhielt, geschweige denn bei den Akten von anderen Behörden 4 4 9 . Zu dieser an sich schon schwierigen Situation gesellte sich der chronische Mangel an Personal.^ Was die politische Kritik an der Historischen Abteilung angeht, so stellte sich der Ausschuss in seinen jährlichen Berichten öffentlich hinter deren Integrität und pries die Mitarbeiter als „persons of ability, integrity and devotion" sowie als „accredited scholars of unimpeachable integrity and fine training. They can be trusted to exercise their functions with sound judgment, and always with the desire that the record be as complete as possible." 4 5 1 Leider erschienen diese Berichte anfänglich in einer Zeitschrift, welche Historiker häufig nicht zu lesen pflegen. 4 5 2 Zur Lösung der anderen Probleme konnte der Ausschuss freilich nicht viel tun, außer für eine maximale Freiheit der Historiker und eine großzügigere finanzielle Ausstattung zu plädieren. 4 5 3 So begnügte sich das Komitee bezüglich des Zensurverfahrens - „the Committee on .Foreign Relations', 1960", in: American Journal of International Law 55 (1961), S. 969-973, hier S. 969. 4 4 8 1 963 forderte der Ausschuss expressis verbis, dass auch diese Akten vermehrt in die FRUS aufzunehmen seien. Vgl. „Report of Advisory Committee on .Foreign Relations', 1963", in: American Journal of International Law 58 (1964), S. 738-743, hier S. 740. 4 4 9 „Report of the Advisory Committee on Foreign Relations to the Historical Division of the Department of State", in: American Journal of International Law 52 (1958), S. 510-515, hier S. 512. 4 5 0 LEOPOLD, „Centennial Estimate", S. 610. 4 5 1 Wie oben Anm. 449. Dort S. 512 und 515. 1963 hieß es noch deutlicher: „Finally, the Committee warmly commends the Director, Dr. Franklin, and his staff, who have produced more volumes than we have a right to expect under the difficult circumstances confronting them, volumes whose compilation and production reflect industry, integrity, and historical scholarship of the highest order". Wie oben Anm. 448. Dort S. 743. 4 5 2 „Reports of the Advisory Committee on .Foreign Relations of the United States'", in: American Journal of International Law. 52 (1958), S. 510-515; 54 (1960), S. 402-403; 55 (1961), S. 969-973; 56 (1962), S. 518-523; 57 (1963), S. 614f; 58 (1964), S. 738-743; 59 (1965), S. 914-918; 62 (1968), S. 723-729; 63 (1969), S. 793, 64 (1970); S. 615-622; 66 (1972), S. 604-607. 4 5 3 Erneut werden auch hier die Schwierigkeiten bestätigt mit den „so-called geographic desks, whose officers may be and sometimes are over-sensitive as to the effects of publications. If the officer at the geographic desk is obdurate, appeal may be made, and is not infrequently made, to the Secretary of State, and as a matter of record the Secre-
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II. Amtliche Akteneditionen
very real problem of clearance" - sehr pragmatisch mit einer Strategie, die heute noch verwendet wird: Wenn die politischen Auslassungswünsche die Integrität der Dokumentation in Frage stellen könnten, sei es besser, überhaupt nichts zu publizieren, bis die Zensurprobleme gelöst seien; wenn die Auslassungswünsche hingegen nur „relatively small matters" beträfen, die zu keiner verfälschten Gesamtinterpretation verleiten würden, sei es besser, unter Angabe des zurückgehaltenen Materials trotzdem zu publizieren. 454 Trotz einer Intervention von Präsident Kennedy im September 1961 bei mehreren Departementen, in welcher er bekräftigte, dass in der Regel kein Dokument länger als 15 Jahre zurückzubehalten sei, wurde das Problem der Zensur immer ernster. 455 Betreffend der zunehmenden Anzahl Bände, die für die Abdeckung eines Jahres notwendig geworden waren, konnte der Ausschuss auch nicht viel mehr tun, als den Imperativ einer noch strengeren Auswahl zu empfehlen und weiterhin eine Krediterhöhung zu fordern, damit die ständig größer werdende Verspätung wettgemacht werden könne. Trotz der ständigen Plädoyers des Ausschusses wurde die personelle Ausstattung in der Folge sogar reduziert, und das Zensurverfahren sorgte auch bei den dem .security check' genehmen Historikern in manchem konkret nachgegangenen Fall für Kopfschütteln. 456 Auch der Zeitverlust bei der Aktenbereinigung - welcher von der Unterbreitung der Druckfahnen im Department bis zum Erlangen des Imprimaturs der diplomatischen Abteilungen für einige Bände fast zwei Jahren betrug - blieb enorm, ungeachtet einer Richtlinie aus dem Jahre 1963, welche diese auf ein Maximum von drei Monaten festlegte. Auch weitere Resolutionen 457 von den Wissenschaftsverbänden vermochten die Probleme der Foreign Relations nicht zu lösen. 458
tary has not been ungenerous in meeting the views of the [Historical] Division." Wie oben Anm. 449. Dort S. 514. 4 5 4 Wie oben Anm. 449. Dort S. 514 f. 4 5 5 Vgl. „Public Report of the Advisory Committee on .Foreign Relations', 1961", in: American Journal of International Law 56 (1962), S. 518-523, hier S. 522. 456 Vgl „Report of Advisory Committee on .Foreign Relations', 1964", in: American Journal of International Law 59 (1965), S. 914-918, hier S. 916 f. Der Ausschuss plädierte dennoch weiterhin für eine Erhöhung der finanziellen Mittel und für höhere Lohnstufen für die jüngeren Historiker, damit die Attraktivität dieser Arbeit einen genügend qualifizierten akademischen Nachwuchs sichere. 457 Vgl. beispielsweise: „Proceedings of the American Society of International Law at its sixty-fourth annual meeting held at New York, N.Y., April 24-26,1970", in: American Journal of International Law, 64, Nr. 4 (1970), S. 264 f., und „Proceedings of the American Society of International Law at its sixty-fifth annual meeting, Washington, D.C., April 29-May 1, 1971", in: American Journal of International Law, 65, Nr. 4 (1971), S. 331 f. 4 5 8 „Report of the Thirteenth Meeting of the Advisory Committee on .Foreign Relations of the United States'", in: American Journal of International Law 64 (1970), S. 615-622, hier S. 619.
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Ausblick In den siebziger Jahren sank als Reflex des gesellschaftlichen Transformationsprozesses, welcher der Vietnam-Krieg in der Öffentlichkeit ausgelöst hatte, und als Ausdruck einer zunehmend misstrauischeren Haltung der akademischen Gemeinschaft gegenüber der Regierung auch das Renommee der Foreign Relations.459 Nebst kritischen Abhandlungen engagierter Historiker, die für eine großzügigere Handhabung der Archivsperrfrist plädierten,460 sprach von autoritativer Warte aus auch Richard W. Leopold in seiner präsidialen Ansprache vor der Society for Historians of American Foreign Relations am 28. Dezember 1970 von einer .crisis of confidence' zwischen Forschern und Regierung. 461 Dies war einerseits auf eine Kontroverse über die Einsichtspraktiken der Franklin D. Roosevelt Library zurückzuführen und andererseits auf die zunehmende Frustration der Mitglieder des Advisory Committee, 462 zu welchen auch Leopold gezählt hatte und deren Forderungen stets ohne Gehör geblieben waren, was die Situation bei der Edition der Foreign Relations zunehmend verschlechtert hatte. Trotz der Hoffnung auf eine erleichterte Deklassifizierung von geheimen Materialien, welche die virulente Kontroverse über die Pentagon Papers in der Öffentlichkeit hatte aufkommen lassen, akzentuierte sich die Malaise über die Foreign Relations während der siebziger und achtziger Jahre und die Publikation akkumulierte einen immer größeren Rückstand, welcher schließlich 1983 die 30-Jahresgrenze durchbrach (vgl. Grafik 2, S. 119). Erst in den neunziger Jahren wurde diese Entwicklung endlich gebremst. Am 28. Oktober 1991 unterschrieb Präsident George Bush den Foreign Relations Authorization Act. Dieses Dekret sah sowohl eine Revision der departementalen Richtlinien, die, ausgehend von der Kellogg-Order aus dem Jahre 1925, im Laufe der Zeit entwickelt worden waren, 463 als auch die Wiedereinführung eines Advisory Committee on Historical Diplomatic Documentation 464 vor und enthielt die eindeutige Bestimmung, dass die Serie nicht 4 5 9 Richard W. LEOPOLD, „The Foreign Relations Series Revisited: O n e Hundred Plus Ten", in: Journal of American History 59 (1973), S. 9 3 5 - 9 5 7 , hier S. 938 und 951. 4 6 0 So z . B . Ernest R . MAY, „A Case for ,Court Historians'", in: Perspectives in American History 3 (1969), S. 4 1 3 - 1 3 2 . 4 6 1 Richard W. LEOPOLD, „A Crisis of Confidence: Foreign Policy Research and the Federal Government", in: American Archivist 34 (1971), S. 1 3 9 - 1 5 5 . 4 6 2 „Report of the Meeting of the Advisory Committee on .Foreign Relations of the United States', held at the Department of State, November 5 , 1 9 7 1 " , in: American Journal of International Law 66 (1972), S. 6 0 4 - 6 0 7 , hier S. 605. 463 Vgl. oben Anm. 424, und dort die verschiedenen Referenzen zu den Revisionen dieser Richtlinien. 4 6 4 F ü r die aktuelle Liste der neun Mitglieder des Advisory Committee on Historical Diplomatic Documentation als Vertreter der American Historical Association, the O r ganization of American Historians, the American Society of International Law und the Society of Historians of American Foreign Relations, vgl. .
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II. Amtliche Akteneditionen
mehr als 30 Jahre Verspätung aufweisen dürfe. 465 Dieses Ziel hätte bis zum Jahre 1996 erreicht werden sollen. Obschon Präsident Bill Clinton mit einem Dekret vom 12. Dezember 1994 den Prozess für die Ablösung des .pathologischen Klassifikationsreflexes' aus der Zeit des Kalten Krieges initiiert hat, ist kaum zu erwarten, dass in der Praxis radikale Änderungen im Umgang mit .Staatsgeheimnissen' folgen werden. 466 Denn schon Präsident Jimmy Carters Plan zur Zähmung des Klassifikationsmoloches wurde derart offen von den verschiedensten Behörden boykottiert, dass sogar seine nicht erfolgte Implementation vom konservativen Präsidenten Ronald Reagan rückgängig gemacht wurde. Im Jahre 1984 sanktionierte der Kongress sogar, dass operative Unterlagen der CIA nicht unter den Freedom of Information Act fallen. 467 Die Indizien sollten uns zur Vorsicht mahnen. Pressegerüchten zur Folge tilgte die Bush Administration - aus offensichtlichen Gründen - Anfang der neunziger Jahre die Akten des 1953er Coups im Iran, welcher den Schah Mohammed Resa Pahlawi an die Macht gebracht hatte, aus dem entsprechenden Band; und 1994 wurde ein Band über Britisch-Guyana, welcher Kennedys Verschwörung gegen die damalige Regierung dokumentierte, und einer über Japan, welcher die geheime Unterstützung der Kennedy Administration für die japanischen Konservativen belegte, zurückgehalten. 468 Gleiches soll den Akten über den 1954er Coup in Guatemala und die missglückte Schweinebuchtinvasion in Kuba widerfahren sein. Im April 1990 verabschiedete die Organization of American Historians eine Resolution, welche die exzessive Geheimniskrämerei und die zunehmende Verspätung der Foreign Relations verurteilte. Die Vereinigung unterstrich, dass neuere Bände „significant increases in deletions and omissions [which] create an incompleteness that in itself is a distortion" aufweisen. 469 Im Jahre 1998 wurde das Problem der zurückgehaltenen Bände und der Geheimhaltung von covert actions wieder aufgegriffen. Am 8. Oktober 1998 traf sich das State Department's Advisory Committee on Historical Diplomatic Documentation und diskutierte unter anderem auch den „status of the Foreign Relations of the United States documentary volumes that have been held up for many months {sic!) because of lack of agreement with the CIA concerning the inclusion of information on particular covert actions". Anfang 1998 hatte das Department, die CIA und der National Security Council Vgl. FRUS. 1961-1963, Bd. 9, Washington 1995, S. I I I - X . Für eine (amtliche) Einschätzung des Gesetzes vgl. William Z. SLANY, „The F.R.U.S. Collection: Projects and Perspectives", in: Diplomatie Sources (wie oben Anm. 94), S. 101-106. 4 6 6 Eine skeptische Einschätzung liefert ebenfalls William BURR, „New Archival Sources in the Cold War", in: Diplomatie Sources (wie oben Anm. 94), S. 83-89. 4 6 7 Antoon de BAETS, „Archives", in: Derek JONES (Hg.), Censorship. A World Encyclopedia, Chicago 2001 (im Druck). 4 6 8 Tim WEINER, „Ghost of a Kennedy-C.I.A. Plot Has Come Back to Haunt Clinton", in: New York Times, 30. 10. 1994. Tim WEINER, „The Nation. Keeping the Secrets That Everyone Knows", in: New York Times, 30. 10. 1994. 4 6 9 Zit. nach de BAETS, „Archives". 465
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eine hochrangige Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um diese Schwierigkeiten zu lösen. Statt dem Problem mit der Deklassifizierung einzelner Dokumente beikommen zu wollen, beschloss die Arbeitsgruppe die grundsätzlichere Frage anzugehen, ob in den Foreign Relations spezifische covert actions dokumentiert werden dürfen. Von den 17 zur Diskussion stehenden geheimen Aktionen wurden offenbar deren 15 freigegeben. Aber: „This decision clears the way for the next step, which will involve the selection and declassification of particular records that document these covert actions. The Advisory Committee applauded the new process for making significant progress toward resolving these long term problems and unlocking a logjam of volumes for which publication had been postponed." 470
Jegliche Euphorie ist fehl am Platze, denn das Advisory Committee empfahl in der gleichen Sitzung, etwa zwölf Foreign Relations-Bände, „which they considered inaccurate and incomplete", nicht zu veröffentlichen. Ende Juni 2000 erklärten Experten einer Regierungskommission vor dem Kongress, dass weiterhin viele über 50-jährige amerikanische Dokumente geheim bleiben. 471 Wir sehen also, dass es nichts Neues unter Washingtons Sonne gibt, und können uns darüber ärgern, dass wiederum viel Wasser unter den Brücken des Potomac River durchfließen wird, bis endlich ein Historiker auch die Akten über diese Attentate auf eine ehrliche Publikation der Foreign Relations in den National Archives studieren wird. Dritte
Zwischenbilanz
Von der amerikanischen Formel für den Umgang mit amtlichen Akteneditionen können wir für unsere Fragestellung generell folgende sechs Punkte festhalten: Erstens: Im Gegensatz zum europäischen Umgang mit den Farbbüchern, die von den verschiedenen Regierungen aus tagespolitisch bedingten Interessen ad hoc aufgelegt wurden, etablierten die Amerikaner mit den Foreign Relations bereits 1861 eine regelmäßig erscheinende Aktenserie, die als Rechtfertigungsinstrument der Exekutive gegenüber der Legislative einen klaren
Page Putnam Miller, , „ N C C Washington Update, vol. 4, no. 41 (October 15, 1998)", 19. 10. 1998, in: Η-Net List for Diplomatie History, , archiviert unter . 4 7 1 Vgl. „Viele US-Akten über den Weltkrieg bleiben geheim", in: Neue Zürcher Zeitung, 30. 6. 2000: „Mindestens 70 Prozent der Dokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die eine amerikanische Regierungskommission derzeit untersucht, werden nach Abschluss der Arbeiten unter Verschluss bleiben. [...] Was die Arbeit erschwere, sei die Tatsache, dass CIA, FBI und Pentagon sich einer groß angelegten Deklassifizierung der Akten widersetzten, auch wenn diese mittlerweile über 50 Jahre alt seien." Vgl. ebenfalls „Allies Knew of Nazi Plans for Roman Jews in '43", in: New York Times, 27. 6. 2000. 470
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II. Amtliche Akteneditionen
Ausdruck des demokratischen Legitimationsbedürfnisses darstellte. Trotz ihres institutionalisierten kontinuierlichen Erscheinens deuten eine ganze Reihe von Indikatoren - wie Selektion, Edition und Autorenschaft - in dieser Phase (1861-1925) offensichtlich auf ihren Farbbuchcharakter hin; jedenfalls war die Serie juristisch angelegt und ihre Konzeption entsprach eher derjenigen eines völkerrechtlichen Nachschlagewerks als einer für Historiker brauchbaren Sammlung relevanter Materialien. Bereits für diese Zeit kann aber nachgewiesen werden, wie politische Interessen die regelmäßige Herausgabe stören konnten. Wie bei der Edition der europäischen Farbbücher fand eine innere Selektion statt. Zweitens: Die europäische Entwicklung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, welche als Folge der Kontroverse um die Kriegsschuldfrage zur Edition der großen klassischen Aktensammlungen wissenschaftlichen Anstriches geführt hatte, spiegelte sich in den Foreign Relations nicht in inhaltlicher Sicht wider - denn die als isolationistisch aufgefasste Rolle der U S A klammerte sie aus dieser Debatte aus - , sehr wohl aber in formeller Weise. In drei Schritten - 1921 mit der Reorganisation des Department of State, 1925 mit der Verabschiedung von formalen Editionsrichtlinien und 1929 mit der gesamten Neukonzeption des amtlichen Publikationsprogrammes - wurde der Editionsstandard der Serie demjenigen der großen europäischen Unternehmen angeglichen. Drittens: Parallel zur Qualitätssteigerung stieg ebenfalls der seit der Jahrhundertwende sich akkumulierende Rückstand massiv; diese Entwicklung setzte sich bis zur Durchbrechung der heutigen 30-Jahresgrenze fort. Das Phänomen der zunehmenden Verzögerung ergab sich aus der Besonderheit des kontinuierlichen Charakters der amerikanischen Edition. Bereits zu Beginn dieser Phase (1925-1948) entstand mit den World War Supplements das Phänomen der speziellen Unterserien. Diese können, bezogen auf das Erscheinen der regulären Serie, antizipatorisch, im Sinne einer politisch opportunen vorgezogenen Enthüllung, oder verzögernd, im Sinne einer Zurückhaltung von politisch unerwünschtem Material, auftreten und stellen einen hervorragenden Indikator für die historiographische Darstellung des U m gangs mit Geschichte aufgrund tagespolitischer Interessen dar. So entstanden in dieser Phase beispielsweise die vorgezogenen Bände über den japanischen Aggressor, welche Farbbuchcharakter aufweisen, während die sorgfältige Edition über die Pariser Friedensverhandlungen von 1919 aufgrund einer Intervention von Churchill und Roosevelt, die dadurch eine Kompromittierung der bevorstehenden neuen Nachkriegsordnung befürchteten, bis nach Kriegsende zurückbehalten wurde. A b 1948, in der Phase des Kalten Krieges, entstanden bezeichnenderweise die Spezialbände über die Sowjetunion und China. Viertens: In arbeitsorganisatorischer Hinsicht waren die Amerikaner im Gegensatz zu den Europäern nicht gezwungen, mindestens dem Anschein nach außenstehende und unabhängige Historiker zu berufen, sondern konn-
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ten auf eigene Beamte des Außenministeriums zurückgreifen. Dennoch fand seit den zwanziger Jahren mit der Verpflichtung von akademisch ausgebildeten Historikern eine Professionalisierung statt, obschon die institutionell gegebene Verflechtung zwischen Historikern und Diplomaten - welche zeitweilig so eng war, dass in der gleichen Abteilung sowohl die Foreign Relations als auch propagandistische Pamphlete aufgelegt wurden - kontinuierlich für Konflikte sorgte. Bezeichnend für diese Lösung mit beamteten Historikern ist, dass im Gegensatz zu den europäischen Herausgebern, welche das deontologische Gebot der Objektivität kraft der eigenen wissenschaftlichen Reputation ,schworen', die amerikanischen Herausgeber in typischer legalistischer Tradition auf Richtlinien hinwiesen, welche einerseits zu einer ehrlichen Edition verpflichteten, aber andererseits auch auf die .Ausnahme'Fälle, die eine NichtVeröffentlichung rechtfertigten, expressis verbis hinwiesen. In editionstechnischer Hinsicht sind die Foreign Relations nach einem sachsystematischen Aufbau konzipiert, welcher für die Forschung die gleichen Nachteile wie die deutsche und englische Aktenedition aufweist. Fünftens: Die beamteten Historiker des Department of State stellen eine Form des neuen Typs des modernen Historikers dar. Aufgrund der engen institutionellen Verflechtung mit der Administration entwickelte sich daraus ein Historiker, der häufig - zuweilen zu häufig - verpflichtet wurde, seine deontologischen Prinzipien zu Gunsten seiner Aufgabe als Beamter zurückzustecken. So ist es keineswegs verwunderlich, wenn diese Historiker diskret auf ihre Wissenschaftsverbände zurückgriffen, um damit den bremsenden innerdepartementalen Kräften, die eine Veröffentlichung zu verhindern trachteten, mit Öffentlichkeitsdruck entgegenzuwirken. Diese inoffiziellen Verbindungen wurden 1957 mit der Etablierung eines aus Vertretern von Fachvereinigungen zusammengesetzten Advisory Committee offiziell besiegelt. Seitdem garantierten diese außenstehenden Professoren gegen außen die Integrität der Departementshistoriker und plädierten intern (vergeblich) für eine bessere finanzielle Ausstattung der Serie. Sechstem: Quellenkritisch ergeben sich auch für die Foreign Relations die Probleme der äußeren und inneren Selektion. Verschiedene erbrachte Belege haben aufgezeigt, wie die Auslassungswünsche fremder Regierungen berücksichtigt wurden, obschon die Departementshistoriker sich in den betrachteten Fällen stets für eine unzensierte Publikation eingesetzt hatten. Wesentlich verheerendere Wirkungen zeitigte hingegen die innere Selektion, welche durch den institutionalisierten Prozess der clearance der Akten von den zuständigen Abteilungen des Departements die Edition der Serie regelrecht lahmlegen konnte. Der gesteigerte weltweite Interventionismus der USA seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Bedeutung des Department of State für manche außenpolitische Operation zu Gunsten anderer häufig unter höchster Geheimhaltung operierender Behörden stark relativiert. Es versteht sich daher von selbst, dass diese außerdepartementalen Akten - wenn überhaupt nur schwer den Weg in die Foreign Relations gefunden haben.
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II. Amtliche Akteneditionen
Dem bisherigen Überblick über den Umgang des Nationalstaates mit der Veröffentlichung seiner historischen Quellen zur Außenpolitik, von den Farbbüchern bis hin zu den monumentalen Akteneditionen, wird im dritten Teil das Beispiel des einmaligen internationalen Publikationsunternehmens der Documents on German Foreign Policy gegenübergestellt.
III. Die „Documents on German Foreign Policy" Akten, Wissenschaft und Politik 1943-1960 Keine Monografie, die sich mit den internationalen Beziehungen und Deutschland während der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkrieges befasst, so lässt sich zumindest mit großer Plausibilität spekulieren, kann die Documents on German Foreign Policy, respektive die im originalen Wortlaut der Dokumente später erschienenen Akten zur deutschen auswärtigen Politik, übergehen. Der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte bemerkte 1993, dass sie „zweifellos zu den für jede historische Forschung über die deutsche Geschichte und die der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert unentbehrlichen Fundamenten"1 zählen. In der Tat erhielt diese Aktenpublikation ab den fünfziger Jahren eine derart breite Rezeption in der einschlägigen Forschung, dass sie, bis andere Editionen verfügbar und endlich andere Archive geöffnet wurden, das Geschichtsbild der nationalsozialistischen Außenpolitik erheblich prägte. Umso mehr erstaunt es, dass außer Rezensionen und kurzen Kommentaren in Einführungen zum Studium der Geschichte oder Quellenkunden die Geschichte dieses Publikationsunternehmens weiterhin auf großen Strecken ein Desiderat geblieben ist. Zwar liefert archivische Literatur wertvolle Informationen über Schicksal und Verbleib deutscher Akten, doch dienen solche Abhandlungen kaum unserer Fragestellung. Diese Forschungslücke ist umso irritierender, als die zur Verfügung stehenden Informationen stets das historisch-wissenschaftliche Editionsprojekt diskutierten, ohne die primäre nachrichtendienstliche Zielsetzung der militärischen Kriegsführung zu analysieren. Diese Feststellung impliziert für uns eine eingehende Rekonstruktion der Geschichte der militärischen Durchführung der Aktenerbeutung in Deutschland und des Schicksals der Dokumente vor dem Ubergang zum historischen Projekt als unerlässlicher Bestandteil unserer Fragestellung, was hier in einem ersten Kapitel gemacht wird. In einem zweiten Kapitel wird vor dem Hintergrund des sich entfaltenden Kalten Krieges die schrittweise Transformation des nachrichtendienstlichen Projektes zu einem historischen diskutiert. Leiten werden dabei, nebst den bereits bei den anderen Editionen untersuchten Fragen nach dem staatlichen Umgang mit der Edition von historischem Material und deren Organisationsformen, die Fragen nach den politischen Einflüssen, die auf die wissen-
1 Horst MÖLLER, „Begrüßung anlässlich der Vorstellung der .Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland' Jahrgang 1963", Bonn-Bad Godesberg, 21. September 1993. Das Redemanuskript war der Pressemappe des Oldenbourg Verlages beigelegt.
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III. Die „ D o c u m e n t s on German Foreign P o l i c y "
schaftliche Arbeit der Historiker ausgeübt wurden, und den Erwägungen, durch historisches Wissen politische Ziele zu erreichen. Das dritte Kapitel setzt sich mit der politischen Rezeption der Documents on German Foreign Policy in den fünfziger und sechziger Jahren auseinander. Die bis dahin verwendete Perspektive aus der Sicht der durch Publikationen handelnden Großmächte weicht einer externen Betrachtung anhand der Darstellung der Rezeption (und politischen Einflussnahme) eines Neutralen am Fallbeispiel der Schweiz. Dabei zeichnet sich immer deutlicher ein weitgehend unbekanntes Bild der schweizerischen Historiographie der Nachkriegszeit ab: eine amtliche Geschichtsschreibung, welche sich reaktiv auf die Enthüllungen der Documents on German Foreign Policy herausbildete.
1. Akten im Krieg und während der Besatzung 1943-1946 Kaum war der Krieg gewonnen, da meldete sich bereits im September 1945 einer der Beteiligten an der größten Aktenbeute aller Zeiten mit der Forderung, es solle eine Geschichte des Aktenschicksals im Krieg verfasst werden.2 Freilich bleibt eine gewisse Skepsis darüber, ob dieses an sich zu befürwortende Ansinnen bereits im Herbst 1945 hätte gelingen können, doch zeigt diese Forderung, mit welchem Bewusstsein die Bedeutung der soeben geglückten Operation betrachtet wurde. In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, über Archive im Krieg nachzudenken. Detailliert wird auf die alliierte Planung der Archiverbeutung eingegangen und deren Durchführung als nachrichtendienstliche Operation dargestellt. Vom Nachteil der eigenen und vom Nutzen der feindlichen
Archive
Akten und, in ihrer Anhäufung, Archive erhielten im Zuge der Modernisierung eine ständig wachsende Bedeutung als Instrumente der administrativen Handlungen und, mit Sicherheit seit dem Historismus, auch als Forschungsgrundlage, was deren Sinn eine neue Dimension verlieh. Freilich hatten Regierungen seit Jahrtausenden Archive unterhalten; ihr Zweck war aber lediglich administrativ bestimmt. Seit dem Mittelalter hatten sich Archive als Instrument für den Nachweis von Eigentum, Rechten und Privilegien konstituiert. Die seit dem 19. Jahrhundert dreifache Benützung der Akten als Belege für legale, administrative und wissenschaftliche Zwecke haben deren Dr. Oliver W. HOLMES an den Archivar der Vereinigten Staaten, Solon J. BUCK, 19. 9. 1945, zit. nach: Seymour J. POMRENZE, „Policies and Procedures for the Protection, Use, and Return of Captured G e r m a n R e c o r d s " , in: Robert WOLFE (Hg.), Captured German and Related Records. A National Archives Conference, Athens, Ohio, 1974, S. 5. 2
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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Schicksal in Kriegszeiten und der militärischen Besetzung beeinflusst. Im Mittelalter scheint die Vernichtung und Plünderung von Akten des Besiegten die Regel gewesen zu sein, außer, wenn der Sieger durch Dokumente eigene Rechte und Forderungen beweisen wollte. Diese destruktive Praktik wurde offenbar während vieler Jahrhunderte praktiziert, obwohl dies selten detailliert festgehalten wurde. Mit der Zeit aber begannen die Sieger, sich der Nützlichkeit feindlicher Akten bewusst zu werden. So beispielsweise im Jahre 1648, als General Philipp Christoph Königsmarck einen Teil von Prag eroberte, wo die Archive des Deutschen Reiches geblieben waren. Die Beschlagnahmung der Archive scheint alle Merkmale einer sorgfältig geplanten Aktion aufzuweisen. Die schwedische Regierung instruierte den General, alle Akten, welche politische Angelegenheiten betrafen, zu beschlagnahmen und abzutransportieren. Dass Sieger auf diese Art und Weise vorgingen, wurde als legitim angesehen, und so wurden in der Folge bei kriegerischen Auseinandersetzungen Akten präventiv an sicherere Plätze evakuiert. Beispielsweise wurden die preußischen Archive während des Siebenjährigen Krieges an geschützte Orte im Inneren des Landes oder in neutrale Territorien verlegt. 3 Auf dem Wiener-Kongress wurde schließlich die Bedeutung der Archivfrage erkannt und am 9. Juni 1815 speziell die Rückgabe von Archivalien in einem Artikel völkerrechtlich sanktioniert. 4 Während des Ersten Weltkrieges hatte das Deutsche Reich Archive in besetzten Gebieten erbeutet und als Waffe der Propaganda, beispielsweise durch die Veröffentlichung erbeuteter Aktenstücke aus dem besetzten Belgien, 5 benutzt. 6 Die Praktik, feindliche Dokumente zum eigenen Vorteil zu veröffentlichen, wurde von der Propagandamaschine des nationalsozialistischen Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges zur Perfektion gesteigert. Durch die anfänglichen militärischen Erfolge des Blitzkrieges gelangten Unmengen von Archivalien aus den besetzten Ländern unter deutsche Kontrolle, die prompt im propagandistischen Sinne, ohne regelrechte Fälschun-
3 Vgl. Ernst POSNER, A Study of the Historical Development of International Principles and Practices Pertaining to Seized Enemy Records Through World War II, Washington, Januar 1952 (Durchschlagskopie des Manuskriptes beigelegt dem Office Memo, von G. Bernard NOBLE an Oberst John M. RAYMOND, 19. 2. 1952, N A , R G 59, Lot Files, Lot 56D307, „Subject files of the Assistant Legal Adviser for G E R , 1952-1955", Box 1). 4 Art. X X X V I . „Tous les documents, plans, cartes ou titres quelconques qui pourraient se trouver dans les archives de l'une ou de l'autre des parties contractantes, seront réciproquement restitués à la puissance dont ils concernent le territoire. Si un document de ce genre a un effet commun, la partie qui en est en possession le conservera; mais il en sera donné à l'autre une copie vidimée et légalisée." Recueil manuel et pratique de traités, conventions et autres actes diplomatiques, par Ch. de MARTENS et Ferd. de CUSSY, Bd. 3, Leipzig 1846, S. 110. 5 Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung veröffentlichte im Sommer 1915 in sieben Reihen die „Belgischen Aktenstücke 1905-1914", welche später in Buchform erschienen. 6 Vgl. oben S. 43 f.
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
gen zu scheuen, 7 veröffentlicht wurden. 8 Diese Aktenfunde waren nicht zufällig, sie wurden sorgfältig geplant und, wie es Karl Heinz Roth treffend formulierte, von „Klios rabiaten Hilfstruppen" 9 durchgeführt. Im Juli 1940 wurde eine spezielle Archiv-Gruppe mit dem Auftrag des Schutzes und der Auswertung der gefundenen Archive im Hauptquartier des deutschen Oberbefehlshabers für Frankreich eingerichtet. Der Vorschlag dazu war von Dr. Ernst Zipfel, seit Oktober 1936 Direktor des Reichsarchivs und kommissarischer Leiter der preußischen Staatsarchive, gekommen. Als Kommissar für den Schutz von Archiven im Reichsministerium des Innern hatte Zipfel Pläne für den Schutz deutscher archivalischer Interessen (sie!) in den besetzten Gebieten vorbereitet und die nötigen Spezialisten und das Personal von der deutschen Archivadministration gesichert. In der Folge konnten die Arbeiten in Frankreich am 1. August 1940 in der ganzen Breite beginnen. Ziele dieser Operation waren der Schutz und die Erhaltung der französischen Archive, das Auffinden und Entfernen aller aus - wie auch immer definierten deutschen Gebieten stammenden Materialien, die Erschließung und Analyse der Inhalte der französischen Archive zu Gunsten der deutschen Wissenschaft, Verwaltung und Politik sowie die Vorbereitung einer Liste archivalischer Anfragen zur Unterbreitung an die französische Regierung, vor allem betreffend der Rückführung von aus deutschen Gebieten stammenden Materialien, die in früheren Zeiten erbeutet und mit den Friedensverträgen von 1814/15 und 1871 nicht zurückgegeben worden waren. Die Kompetenz der Archivgruppe erstreckte sich hingegen nicht auf militärische Archive, die Archive der Ministerien der Kolonien, der Luftwaffe und der Marine, die Archive des Außenministeriums am Quai d'Orsay - für welche die Archivkommission des Auswärtigen Amts verantwortlich war - sowie Archive betreffend Freimaurer und Juden, welche gemäß einem Befehl vom 5. Juli 1940 in die Kompetenz des berüchtigten Einsatzstabes Rosenberg fielen. Die Archivgruppe setzte sich aus 15 Mitgliedern zusammen, 13 Archivaren, einem Juristen und einem Historiker als Vertreter des Reichsinstituts für die Geschichte des Neuen Deutschlands. 10 Während der deutschen Besatzungszeit konnten verschiedene deutsche Forscher Einsicht in die französischen Archive nehmen. Als Beispiel einer Arbeit, die daraus entstand, sei hier Erwin Hölzles Der Osten im Ersten Weltkrieg erwähnt. 11 Vgl. oben S. 45 f. Für ausführliche bibliografische Angaben vgl. oben S. 44 f., Anm. 89 und 90. 9 Karl Heinz ROTH, „Klios rabiate Hilfstruppen. Archivare und Archivpolitik im deutschen Faschismus", in: Archivmitteilungen. Zeitschrift für Archivwesen, archivalische Quellenkunde und historische Hilfswissenschaften, 4 1 / 1 (1991), S. 1-10. 10 Bericht .secret' von Lt. Colonel Geoffrey WEBB, s i , 5. 2. 1945, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 - 4 9 , Box 3662, 7 4 0 . 0 0 1 1 9 Control (Germany)/2-1245. Vgl. ebenfalls Martin KRÖGER und Roland THIMME, „Das Politische Archiv des Auswärtigen Amts im Zweiten Weltkrieg. Sicherung, Flucht, Verlust, Rückführung", in: Vß 4 7 (1999), S. 2 4 3 - 2 6 4 . 11 Erwin HÖLZLE, Der Osten im Ersten Weltkrieg, Leipzig 1944. Das Vorwort ist aber mit „Paris 1942" datiert, und das Buch ist seinen Kriegskameraden gewidmet: „Wesent7 8
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Wenn in der ersten, siegreichen Kriegsphase Deutschland den .Vorteil der feindlichen Archive' erlebt hatte, wandte sich das Blatt mit der Kriegswende von 1942 in einen .Nachteil der eigenen'. Die alliierte Bombardierung von Berlin zwang die deutsche Führung, sowohl laufende Akten als auch jene in den Archiven an sichere Plätze in ländlichen Gebieten zu verlegen. Diese Maßnahme war nötig geworden, nachdem viele Akten bereits vernichtet worden waren, wie beispielsweise jene des Heeresarchivs in Potsdam, dessen Bestände bis ins 17. Jahrhundert zurück gereicht hatten und das durch alliierte Brandbomben im April 1942 und später im April 1945 vernichtet worden war. Die Verlegung der Akten des Auswärtigen Amts begann mit dem Abtransport einiger älterer Bestände in Landhäuser in einem Umkreis von hundert Kilometer von Berlin. Dieser Versand wurde mit größter Geheimhaltung durchgeführt, insbesondere gegenüber der NSDAP, denn zu diesem Zeitpunkt galt eine solche Aktion noch als reiner Defätismus. Im November 1944 erfolgten jedoch Befehle, die Archive offiziell zu verlegen. Der größte Teil der Akten aus dem Auswärtigen Amt wurde nach Krummhübel im Riesengebirge, in der Nähe der Grenze zwischen Schlesien und der Tschechoslowakei, nach Schloss Altgaul und nach Burg Friedland in der Nähe von Frankfurt an der Oder verlegt. Der weitere sowjetische Vormarsch zwang die deutsche Führung im Februar 1945 aber, diese Archive nach Meisdorf und Falkenstein im Harz zu verlegen. Einige Transporte wurden bombardiert und erreichten ihre Ziele nie. Während dieser Zeit bestand immer ein Kurierdienst zwischen den Archiven und Berlin, womit angeforderte Akten geschickt bzw. neue zur sicheren Aufbewahrung empfangen wurden. Erst Anfang April 1945 brach der Kurierdienst zusammen. 12 Gleichzeitig, am 10. April 1945, hatte die politische Führung den Befehl erlassen, die geheimen Akten zu vernichten. 13 Diese Befehle wurden aber nur teilweise befolgt, hofften die Archivare doch, wie wir noch sehen werden, sich durch diese Dienste bei den Alliierten Vorteile zu verschaffen.
liehe Aufhellungen bislang kaum bekannter Zusammenhänge boten Akten des französischen Außenministeriums und der Pariser Friedenskonferenz, die mit Erlaubnis des Auswärtigen Amtes verwertet wurden." S. 11. 12 „Report on Visit by Representatives of Control Commission for Germany (British Element) and US Group Control Council to Ministerial Targets P67 and P69 - German Foreign Office and Propaganda Ministry - April 21st-28th", von Ivor T. M. PINK, Brewster H. MORRIS und Hauptmann Homer G. RICHEY, 30. 4. 1945, N A , RG 59, C F 1945—49, Box 4130, 840.414/5-145. 13 Marie-Luise RECKER, Die Außenpolitik des Dritten Reiches, München 1990 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 8), S. 71. Zur Vernichtung der Bestände der Personalabteilung vgl. „Intelligence Report" (wie unten Anm. 221).
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Die alliierte Planung der
Aktenbeute
Die Frage der Handhabung feindlicher Archive erhielt für die Amerikaner erst im Herbst 1943 praktische Bedeutung. Zu diesem Zeitpunkt, als noch keine alliierten Soldaten auf deutschem Boden kämpften, richtete sich das Interesse primär auf die Frage des Umgangs mit den Archiven der Achsenmächte in den befreiten Gebieten, d. h. im Allgemeinen auf die Frage der Botschafts- und Konsulararchive. In den alliierten Überlegungen spielte aber immer auch die Frage nach dem Schicksal der Archive der Achsenmächte in deren eigenen Territorien eine Rolle, doch ließ das Kriegsgeschehen diese Frage, besonders in Bezug auf Deutschland, noch in den Hintergrund treten. Die Problematik des Umgangs mit feindlichen Archiven wird mit der beabsichtigten unterschiedlichen Behandlung der einzelnen Achsenmächte und derer Verbündeter noch komplizierter. Diese sehr verschiedenen Aspekte der Archivfrage, der Unterscheidung sowohl zwischen Archiven außerhalb und solcher innerhalb der Territorien der Achsenmächte als auch der länderspezifischen Differenzierung, waren den alliierten Verantwortlichen zu diesem Zeitpunkt noch nicht gänzlich bewusst, war doch die Planung der Nachkriegsordnung noch voll im Gange und das Schicksal der einzelnen Länder noch nicht besiegelt. Die Frage nach der Behandlung feindlicher Archive folgte in der Tat dem Verlauf der Kriegsfront und berührte somit aus amerikanischer Sicht zuerst Italien. Es steht aber außer Zweifel, dass das Hauptziel und die Hauptsorge der Alliierten in diesem Kontext stets hauptsächlich Deutschland betraf: Nachdem die Zerschlagung des .Dritten Reiches' einmal als Ziel beschlossen war, stand auch die Frage der Archive lediglich als Folge dieses Verdikts da. Diese analytischen Unterscheidungen sollen der nachfolgenden Darstellung als ordnungstiftendes Element dienen, denn aus dem Blickwinkel der Quellen der Beteiligten in unmittelbarer Nähe der Schlachtfelder spiegelte sich diese Differenzierung kaum wider und die verschiedenen Aspekte der Archivfrage wurden häufig vermischt. Das Augenmerk des Department of State fiel Ende Oktober 1943 auf die Archivfrage, als sich Robert Murphy aus dem Alliierten Hauptquartier in Algier an Außenminister Cordeil Hull wandte. Murphy brachte in seiner Intervention die Befürchtung der Militärs zum Ausdruck, das Schicksal der diplomatischen und konsularischen amerikanischen Archive in Deutschland, Japan und in den von den Deutschen besetzten Gebieten hänge davon ab, wie die Alliierten mit den Archiven der Achsenmächte umgehen werden. Die Militärs hätten daher vorgeschlagen, dass im Laufe der Operationen auf dem europäischen Kontinent die Konsulate und Botschaften sowie die privaten Residenzen der Mitarbeiter der diplomatischen Dienste der Achsenmächte zwar militärisch zu bewachen und unter äußersten militärischen Zwängen zu requirieren seien, dass aber die Inneneinrichtung, also auch die Archive, intakt gehalten werden sollten, bis das Department über deren Schicksal bestimmt habe. Daraufhin wurde eine militärische Richtlinie für die Kom-
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mandanten aller Einheiten der sich in Süditalien befindenden 5. US-Armee erlassen, wonach aus Angst vor Gegenmaßnahmen die Botschaften der Achsenmächte in den besetzten Gebieten intakt zu halten seien. Eine Ausnahme bildeten allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt Unterlagen von nachrichtendienstlichem Wert. 14 Als der Vormarsch der alliierten Truppen in Süditalien die Planung der Besetzung von Rom notwendig machte, verfasste das alliierte Hauptquartier Ende Dezember 1943 einen Entwurf für die Handhabung der diplomatischen und konsularischen Einrichtungen durch die alliierten Nachrichtendienste. Darin, und dies mit dem Segen des britischen diplomatischen Vertreters, wurde empfohlen, die Botschaften und Gesandtschaften der Achsenmächte nicht zu durchsuchen oder zu betreten, außer wenn es Beweise für einen Missbrauch diplomatischer Privilegien gebe. Hingegen hätten die konsularischen Einrichtungen durchforstet und alle Papiere konfisziert werden sollen. 15 Das Department of State stellte sich aus grundsätzlichen Überlegungen gegen diese Verletzung diplomatischer Courtoisie, aber auch, weil die Deutschen die entsprechenden amerikanischen Einrichtungen bislang generell respektiert hatten, 16 obschon auch im Department davon ausgegangen wurde, dass die diplomatische Immunität im Gegensatz zu Botschaftseinrichtungen für die konsularischen nicht gelte. Was hingegen das Schicksal der Akten in Deutschland betraf, so war bereits für den Kapitulationsfall in einem Entwurf der Kapitulationsbedingungen vom 6. Januar 1944 festgehalten worden, dass Deutschland sowohl staatliche als auch private Archive den Besatzungsmächten zur Verfügung stellen müsse. 17 Auch die Historiker im Department of State begannen mit der Planung betreffend feindlicher Archive. Am 3. Januar 1944 verfasste E. Wilder Spaulding, Chef der Division of Research and Publication, jener Abteilung im Department of State, die für die Edition der Foreign Relations of the United States verantwortlich war, ein Memorandum für G. Howland Shaw, worin er die gewaltige Bedeutung, die den Achsenarchiven zukomme, unterstrich: „The records will play a vital part in the ideological battles of the future" und die Achsenmächte selbst hätten die Ausbeutung feindlicher Archive bereits den Diensten der Propaganda unterworfen. 18 1 4 Airgram von Robert MURPHY an Außenminister Cordell HULL, Algier, 2 2 . 1 0 . 1943, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1472-1473. 1 5 Telegr. von Edwin C. WILSON (US-Vertreter beim Französischen Nationalbefreiungskomitee in Algier) an Außenminister Cordell HULL, Algier, 28. 12. 1943, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1473. 16 Telegr. von Außenminister Cordell HULL an Edwin C. WILSON (US-Vertreter beim Französischen Nationalbefreiungskomitee in Algier), Washington, 14. 1. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1474-1475. 1 7 Memo. „Provisions for Imposition Upon Germany at Time of Surrender (Revised)" des Working Security Committee, [Washington,] 6. 1. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 104-109, hier S. 106. 1 8 Memo, von E. Wilder SPAULDING (Division of Research and Publication) an G.
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Spaulding befürchtete, dass andere US-Behörden, speziell die militärisch involvierten, das Department of State im Rennen um die deutschen Akten überholen würden, und versuchte, der Angelegenheit innerhalb des Außenministeriums eine höhere Priorität zu verleihen. Das Department ging auf die Vorschläge von Spaulding ein. Bereits Anfang Februar hatte dieser das Problem mit den zuständigen Abteilungen im War Department und in der N a v y diskutiert. D a die alliierten Truppen in Italien bereits auf Akten gestoßen waren, war eine Koordination, und zwar auf ministerieller Ebene, zwischen den interessierten Behörden, nicht nur der amerikanischen, von dringlicher Bedeutung. 1 9 Einen Monat später legte Spaulding die Liste der Akten an, die das Department of State grundsätzlich interessierten. 20 Anfang Februar 1944 bestätigte das Department of State in einem Grundsatzpapier - ohne aber spezifisch auf die Frage der Archive einzugehen - die bislang verfolgte schonende Handhabung feindlichen diplomatischen und konsularischen Eigentums außerhalb Deutschlands, insbesondere im Falle von deren Übernahme durch Schutzmächte. Das Department wollte, dass in der Regel diplomatisches und konsularisches Eigentum respektiert werde. Die Amerikaner behielten sich aber ausdrücklich das Recht vor, solches Eigentum zu beschlagnahmen, „that would serve an important purpose in the prosecution of the war", insbesondere wenn der Feind keine Reziprozität gewähre oder die diplomatische Bezeichnung missbräuchlich verwendet sei. Für einen solchen Fall wurde eine Prozedur vorgesehen, welche die Beschlagnahmung durch Vertreter der Schutzmächte kontrollieren ließ. 21 Als diplomatische Proteste Italiens und Deutschlands über die amerikanische Handhabung ihrer Archive in Algier beim Department of State eintrafen, versuchte Außenminister Cordell Hull im März 1944 mit einer Intervention beim Secretary of War Henry L. Stimson, den zivilen Behörden wieder die Oberhand in dieser Angelegenheit zu sichern. Er forderte, dass die Politik auf diesem Gebiet von der Regierung und nicht von den Kommandanten auf dem Feld bestimmt werde. Zwar musste der Außenminister zugeben, dass im Howland SHAW (A-S), [Washington,] 3.1.1944, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2. 19 Memo. ,conf.' von E. Wilder SPAULDING (Division of Research and Publication) an G. Howland SHAW ( A - S ) , [Washington,] 5. 2.1944, NA, R G 59, ibid. 2 0 „The Department of State is interested in copies of: 1. Major political records of Foreign Offices and ranking officials in Axis and Axis-occupied countries; 2. Relating to Axis aggression, the origins of the war, war objectives, war guilt, responsibility for atrocities and infamous incidents like the rape of Nanking; 3. Or the period since 1928 in the case of Japan and since 1932 in the case of European states; 4. On microfilm if the records can be most easily reproduced that way." Memo, [von E. Wilder SPAULDING, Washington,] 9. 3. 1944, NA, R G 59, ibid. 2 1 Airgram von Außenminister Cordell HULL an Edwin C. WILSON (US-Vertreter beim Französischen Nationalbefreiungskomitee in Algier) (aber für Robert MURPHY), Washington, 1. 2. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1476-1478.
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Fernen Osten bereits amerikanische diplomatische Einrichtungen von Japan erbeutet worden waren und dass die Amerikaner ebenfalls ihren eigenen „high standard" nicht immer eingehalten hätten, doch schlug er Stimson für die Handhabung feindlicher diplomatischer und konsularischer Einrichtungen außerhalb Deutschlands folgende Regelung vor: „(a) If it is in the custody of the protecting Power, that custody should be respected in every way. (b) If it is not in the custody of the protecting Power, the property should be safeguarded without examination until such time as the Government may direct that it be delivered into the custody of the protecting Power or otherwise disposed of in the light of the then existing circumstances." 22
Wenn sich das Militär schon in Friedenszeiten allzu gerne durch Geheimniskrämerei und vermeintliche Sachzwänge der national security der zivilen Kontrolle zu entziehen versuchte, so war der tobende Krieg keine wirklich erfolgversprechende Voraussetzung für den Versuch der Rückgewinnung der zivilen Kontrolle. In der Tat deckte der Secretary of War seine Soldaten: „I feel that the policy laid down for the Commander in the field should not be too rigid or detailed. In the unpredictable circumstances of battle we must rely a great deal on his good judgment", 23 war seine unmissverständlich klare Antwort. Zweifel an der Ehrlichkeit des Department of State, diese »high standard" Politik wirklich zu verfolgen, scheinen allerdings mehr als angebracht, denn bereits einige Tage später beauftragte der Außenminister den US-Botschafter in Großbritannien und den US-Vertreter in der Alliierten Kommission für Italien, mit größtmöglicher Geheimhaltung bei den Briten und Sowjets in der European Advisory Commission zu sondieren, ob die Alliierten ein gemeinsames Vorgehen für die Auswertung erbeuteter feindlicher Archive zu vereinbaren gewillt waren. Das Department of State erachtete es nämlich als sehr wichtig, dass es in den Besitz von Kopien der wichtigsten diplomatischen Dokumente gelange, jene von hohen Beamten der Achsenmächte und Satellitenstaaten, die Intrigen und Aggressionen der Achsen belegten. Dies schien erforderlich, weil die Deutschen bereits feindliche Dokumente für Propagandazwecke benützt hatten24 und das Department of State: „feels that copies of the most significant Axis records may be needed to protect the United Nations from Axis propaganda campaigns during or after the war and may also yield information of great importance regarding Axis objectives in the war, their
Brief von Außenminister Cordell HULL an den Secretary of War Henry L. STIMSON, Washington, 10. 3. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1479f. Hervorhebung von mir, SZ. Vgl. unten Anm. 27. 2 3 Brief von Secretary of War Henry L. STIMSON an den Außenminister Cordell HULL, Washington, 20. 3. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1480f. 2 4 Siehe oben S. 44 f., Anm. 89 und Anm. 90. 22
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methods of operation, responsibility for violations of international law, and their confederates at home and abroad." 25 Die in der Tat weit reichende Politikänderung wurde aber mit einem legalistischen Kunstgriff kaschiert: I m Prinzip mochte das Department die U n v e r sehrtheit feindlichen diplomatischen und konsularischen Eigentums weiterhin respektiert wissen - bei den Eingriffen in dieses Recht gehe es daher nur u m das Kopieren speziell wichtiger Dokumente, d.h. primär aus den Außenministerien und höchsten militärischen Stäben, und nicht u m die generelle Konfiszierung aller diplomatischen Akten. U n d die nun lästig gewordene Spezifizierung, die der Außenminister dem Secretary of War beschrieben hatte, dass nämlich die Akten „without examination" 2 6 zu sichern seien, wurde p r o m p t rückwirkend aus dem Brief getilgt. 2 7 Die Briten, die in dieser Angelegenheit bereits Überlegungen angestellt hatten, nahmen die amerikanischen Impulse auf und bestätigten, dass die diesbezügliche Planung innerhalb der E u r o p e a n Advisory Commission aufgenommen werden sollte. D e n militärischen Nachrichtendiensten ging der juristische Kunstgriff des Department of State mit der Begrenzung auf die wichtigsten Akten nicht weit genug, und Mitte Juni 1944 forderten sie, dass die Politik der Respektierung feindlicher Konsulate gänzlich aufgegeben werde. 2 8 In einem Brief an den Secretary of War v o m 29. Juni 1944 legte Außenminister Hull nochmals die Position des Department of State dar: Die verfolgte „slight modification of policy" (sic!) ermögliche nun das Kopieren wichtigster diplomatischer oder konsularischer A k t e n . 2 9 Das Department of State befürchtete nämlich weiterhin, dass eine generelle Freigabe aller feindlicher Archive, insbeson-
2 5 Telegr. von Außenminister Cordeil HULL an den US-Botschafter in Großbritannien, John J. WLNANT, Washington, 25. 3. 1944, in: FR US. 1944, Bd. 1, S. 1481 f. Ein Durchschlag und eine Abschr. befinden sich in NA, R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2. Daraus wird ersichtlich, dass die Demarche vom Chef der Division of Research and Publication, E. Wilder SPAULDING, aufgesetzt worden war. Hervorhebung von mir, SZ. 2 6 Vgl. oben Anm. 22. 2 7 In einem Brief an den US-Minister in der Schweiz beschrieb das Dep. of State diesen Politikwechsel: „For your confidential information, the suggested treatment of such enemy diplomatic and consular property as may be captured by our armed forces, described in [...] the letter to the Secretary of War, has been modified since that letter was dispatched. It is now contemplated that the United Nations might wish to copy (but not to confiscate) especially important captured records in the event that they have not been delivered into the custody of the protecting Power. The words .without examination' may accordingly be considered as deleted". Brief von Breckinridge LONG (für den Außenminister) an den US-Minister in der Schweiz, Leland HARRISON, Washington, 4. 4. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1482f. 2 8 Telegr. von Robert MURPHY an Außenminister Cordell HULL, Algier, 15. 6. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1484-1485. 2 9 Brief von Außenminister Cordell HULL an den Secretary of War Henry L. STIMSON, Washington, 29. 6. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1486-1488.
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dere der als unbedeutend eingestuften konsularischen Archive, eine ähnliche Handhabung seitens der Achsenmächte hervorrufen würde, was die US-Diplomaten als viel größeren Schaden betrachteten. So unterstrich das Department of State in einem Telegramm an Robert Murphy, dass, obschon Konsulate und deren Archive kein Recht auf Immunität besässen, die amerikanische Diplomatie sie weiterhin respektiert haben möchte. 3 0 Die Militärs gaben nicht nach und argumentierten, dass die Auswertung der Akten der deutschen Konsulate in Neapel und Bari sehr wichtige Informationen auf verschiedenen Gebieten geliefert hätten. 31 Das Department of State reagierte irritiert und wies nach, dass die erbeuteten Materialien keine direkte Bedeutung für die militärische Kriegsführung hätten, ließ aber durchblicken, dass nach der deutschen Niederlage eine entsprechende Klausel im Kapitulationsvertrag eine Handhabung für die Auswertung der konsularischen Archive bieten könnte. 3 2 Der permanente Streit zwischen dem Department of State 33 und den vorrückenden Armeen hatte gezeigt, wie dringend eine grundsätzliche Regelung dieser Frage auf höchster Ebene geworden war. Auf der amerikanischen Seite hatte sich nämlich eine Vielzahl von Behörden mit der A r chivfrage beschäftigt; mit dem Einverständnis von Präsident Franklin D. Roosevelt wurde Fred W. Shipman, Direktor der Roosevelt Library in H y d e Park, in spezieller Mission ans Mittelmeer geschickt, um die Situation vor O r t zu untersuchen und später als Sachverständiger für Archive für die E u ropean Advisory Commission zu fungieren. 34
30 Telegr. von Außenminister Cordell HULL an Robert MURPHY, Washington, 6. 7. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1488f. 31 Telegr. von Robert MURPHY an Außenminister Cordell HULL, Algier, 12. 7. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1489. 32 Telegr. von Außenminister Cordell HULL an Robert MURPHY, Washington, 24. 7. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1492. 33 Auch innerhalb des Dep. of State gab es Meinungsverschiedenheiten. So waren die Interessen zwischen der Division of Research and Publication (RP) und der Division of Foreign Activity Correlation (FC) divergierend. In einem Memo, vom 24. 6. 1944 beklagte sich Frederick B. LYON (FC) gegenüber E. Wilder SPAULDING (RP): „Of course, the interest of FC is quite different from that of RP and some of the other Divisions in the Department in that FC is primarly interested in intelligence information which should be of assistance in developing certain cases involving individuals". Ν A, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2. Ebenfalls in Bezug auf die Erbeutung diplomatischer und konsularischer Archive gab es innerhalb des Department Kräfte, die nach einer weniger den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechenden Haltung schrien. In einem Memo, vom 15. 8. 1944 an James C. DUNN (EUR) forderte E. Wilder SPAULDING (RP) unumwunden: „The Germans have doubtless raped half of the diplomatic archives of Europe and it would be most unfortunate should we not seize this opportunity to obtain some of their most important records." NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945",2 of 2. 34
Memo, von E. Wilder SPAULDING an die Assistant Secretaries BERLE und Fletcher
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Als der Kriegsverlauf die Alliierten drängte, die Planung für die Zeit nach der Kapitulation in Angriff zu nehmen, erhielt die Frage nach den Archiven eine zunehmende Bedeutung. In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 trat damit die Planung über das Auffinden und die Handhabung deutscher Archive in eine neue Phase. Das Joint Intelligence Committee QIC) veranlasste in Vorbereitung auf die deutsche Kapitulation bei den beteiligten Behörden eine Umfrage über das Schicksal und die Auswertung der deutschen Archive. Dazu wurde in London ein Ausschuss gebildet, der für die Definition der Prioritäten auf einer Liste von targets, von Zielobjekten, zuständig war. Auf der vorläufigen Liste standen u.a. mit höchster Priorität: die Reichskanzlei und die Führerkanzlei, die Parteikanzleien von Berchtesgaden, Berlin und München, das Auswärtige Amt und Ribbentrops privates Büro östlich von Salzburg. 3 5 Einen weiteren wichtigen Beitrag in Bezug auf die Archivfrage hatte im Juli 1944 bereits der Entwurf einer Direktive über deutsche Akten und Archive zuhanden der European Advisory Commission geliefert, die als Instrument im Hinblick auf die Kapitulation konzipiert worden war. Darin wurden die zukünftigen Besatzungsbehörden instruiert, dass nach der deutschen Kapitulation Regelungen erlassen werden, wonach die Vernichtung deutscher Akten oder Archive unter Strafe gestellt werde, und sie alle nötigen Schritte zum Auffinden und Sichern solcher Archive unternehmen sollten. Es war bereits die Rede von einer zentralisierten Dreimächte-Behörde in Berlin, die sich dieser Aufgabe widmen sollte. 3 6 Die endgültige Formulierung mündete in die streng geheime politische Direktive vom 22. September WARREN, [Washington,] 6. 9. 1944, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2.
Memo. ,secret' „Regarding Captured Enemy Documents and Records" von J. D. HANLEY (FC), [Washington,] 28. 9. 1944, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2. - Es ist hier anzumerken, dass auf der Liste die Ortschaften der entsprechenden Institutionen und nicht der Ort ihrer Aktenverlegung verzeichnet wurden, was belegt, dass die Alliierten diesbezüglich noch über keine nachrichtendienstlichen Informationen verfügten. Tatsächlich vermerkte E. Ralph PERKINS am 20. 8.1945 in einem Memo, an Eric C. WENDELIN (A-H/W): „By March this year it became evident that the intelligence targets on the Black List would in a great many cases not be found in their original locations." Ibid., Box 24, „CIOS Project", 1 of 2. - Diese Umfrage brachte für die Division of Research and Publication im Dep. of State nicht die gewünschten Resultate: Am 31. 1. 1945 schrieb Frederick B. LYON, der Chef der Division of Foreign Activity Correlation, in einem Memo, an SPAULDING: „FC is now informed that apart from the group of .targets' listed in FC's memorandum referred to above, the CIOS will not consider the remaining State Department .targets' unless a complete case or dossier for each .target' is submitted." Ibid., Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2. 35
„British Draft Directive on German Records and Archives", beigelegt einem Brief von John G. WLNANT an den Außenminister Cordell HULL, London, 17. 7. 1944, in: 36
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1944, worin der designierte Militärgouverneur beauftragt wurde, sich besonders zu bemühen, damit alle Dokumente und Pläne der folgenden Kategorien vor der Vernichtung geschützt werden: „(a) The central German government, German military organizations, organizations engaged in military research, and such other governmental agencies as you may deem advisable. (b) The Nazi party and affiliated organizations. (c) All police organizations, including security and political police. (d) Nazi economic organizations and industrial establishments. (e) Institutes and special bureaus established in Germany, devoting themselves to race, political, or similar research." 37
Wenn im Rahmen der alliierten Verhandlungen über die Kapitulationsbedingungen in der Frage der Archive in Deutschland nach der Niederlage Klarheit herrschte, blieb die Frage der feindlichen diplomatischen und konsularischen Archive in Drittstaaten weiterhin offen und sozusagen der normativen Kraft des Faktischen auf dem Feld überlassen. Zwar kam man rasch zu dem Schluss, dass diese Frage, obschon sie nicht direkt in die Kapitulationsbedingungen miteinbezogen worden war, für die Zeit nach dem Krieg keine Probleme bereite, denn zu jenem Zeitpunkt würden die Alliierten Behörden in Deutschland ohnehin über das deutsche Staatseigentum, wo auch immer es sich befand, verfügen können. Nicht so sicher war man hingegen, ob die Neutralen diese Autorität auch anerkennen würden. 38 Ebenfalls nicht klar geregelt blieb die Frage der Handhabung dieser Archive während des Krieges. Ein Kompromiss wurde Ende September 1944 zwischen dem Department of State und den Militärs gefunden. Die Militärs beugten sich zwar formell der Formulierung von Außenminister Cordeil Hull im Brief an den Secretary of War, Henry L. Stimson, vom 10. März 1944, 39 anerkannten also die Unversehrtheit im Falle, dass die bona fide diplomatischen Archive unter der Kontrolle einer Schutzmacht standen, und dass wichtige Akten kopiert, aber nicht konfisziert werden könnten, fügten aber im gleichen Atemzug eine Formulierung für eine Sonderregelung hinzu, die dem Oberbefehlshaber sogar die Einsicht in Archive unter der Protektion einer Schutzmacht ermöglichte. 40 Ende November versuchte das Department of State nochmals, diese offene Tür ein wenig zu zu schieben. 41 „Directive to SCAEF regarding the Military Government of Germany in the period immediately following the cessation of organized resistance (Post-Defeat). Appendix ,A'. Political Directive", [Washington,] 22. 9. 1944, in: F RUS. The Conferences at Malta and Yalta. 1945, Washington 1955, S. 145-149, hier S. 146. 3 8 Brief des US-Botschafters in Großbritannien, John G. WINANT, an Außenminister Cordell HULL, London, 5. 9. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1493-1495. 3 9 Vgl. oben Anm. 22. 4 0 Handhabung dazu bot die geschickte Formulierung mit der bona fide: „This policy with respect to bona fide diplomatic and consular establishments does not preclude the theater commander at his discretion (sic!) and on his responsibility from entry and search of premises allegedly diplomatic or consular in character, which he has substan37
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Im Dezember 1944 zirkulierte der Entwurf der Direktive Nr. 4, „Securing and Examining Information and Archives" der European Advisory Commission. Nebst dem Auftrag der Sicherung sowohl der gouvernementalen, militärischen und Partei-Archive als auch jener wissenschaftlicher oder industrieller Natur an die drei alliierten Kommandanten wurde darin auch bereits das Recht der anderen alliierten und assoziierten Mächte festgehalten, solche Archive einzusehen. 42 Im Handbook for Military Government in Germany Prior to Defeat or Surrender, welches das Office of the Chief of Staff, Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, im Dezember 1944 herausgab, sanktionierten die Alliierten ihre Politik in Bezug auf die deutschen Archive: „The preservation of such records and files is of the utmost importance in connection with disarmament, the eradication of Nazi institutions, the control of property, and generally for the imposition of control. [...] It is the policy of the Supreme Commander to ensure the preservation from destruction, alteration or concealment of all German records, documents, plans of archives of value to the attainment of the objectives of Military Government."43 Inzwischen hatte sich auch das Office of Strategie Services (OSS) mit der Archivfrage befasst. Im November und Dezember 1944 führte das OSS in England verschiedene Befragungen von Kriegsgefangenen durch mit dem Ziel, u. a. Informationen über den Verbleib öffentlicher und privater Archive und Bibliotheken zu erhalten. 44 Wenn Klarheit über die Zwecke der Operation herrschte, so stellte ihre militärische Durchführung verschiedene praktische Probleme bezüglich der tial reason to believe to be or to have been recently used for clandestine warlike operations against his own forces or examination of which he believes to be essential to the security of his own forces, communications and operations. In the case of property in the custody of the protecting power, the theater commander will request the representatives of that power for permission to search the premises. If such permission is refused or unreasonably delayed, however, entry and search by the theater commander is not precluded." Brief von Admiral William D. LEAHY, Chief of Staff to the Commander in Chief of the Army and Navy, an den Außenminister Cordell HULL, [Washington,] 26. 9. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1495f. 4 1 Brief von Acting Secretary Edward R. STETTINIUS Jr. an Admiral William D. LEAHY, Washington, 22. 11. 1944, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1499-1501. 4 2 Memo, von John G. WLNANT, amerikanischer Vertreter bei der European Advisory Commission, dem Dep. of State am 1. 12. 1944 übermittelt, in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1501-1503. « Abgedruckt in: FRUS. 1944, Bd. 1, S. 1503-1506. 4 4 Office of Strategic Services, Research and Analysis Branch, OSS Detachment (Main), APO 413, US-Army, RAL 142, „Interrogation of Friendly Prisoners of War", by the Interdepartmental Committee for the Acquisition of Foreign Publications. Recent information in the field of German booktrade and publishing industry, with details on the damage, destruction or relocation of national and provincial government offices and public and private libraries and archives", 16. 1. 1945, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 19441983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2.
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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Prioritäten. Die Frage wurde mittels einer so genannten Black List und einer Grey List der strategischen Zielobjekte geregelt. Die schwarze bezeichnete die wichtigsten Zielobjekte und die graue diejenigen militärischer, wirtschaftlicher oder politischer Natur, deren Auswertung weniger dringlich war. Die Definition dieser Zielobjekte war ein sehr komplexes Unternehmen, in das verschiedenste militärische und zivile Behörden involviert waren, von hartgesottenen Nachrichtendienstlern aller Arten bis hin zu geschliffensten Diplomaten der jeweiligen Außenministerien. Dabei gingen Vorstellungen, Zielsetzungen und effektive Umsetzungskapazitäten derart weit auseinander, dass in der Folge eine sehr chaotische Situation entstand, in der Kompetenzüberschreitungen und Doppelspurigkeiten sowie Misstrauen der Militärs gegenüber Einmischungen ziviler Behörden und umgekehrt die Regel waren. Im Zentrum unserer Fragestellung stehen die vom Department of State und dem Foreign Office mit ihren Aktionen verfolgte Planung und Durchführung der Aktenerbeutung auf der politischen Ebene. Das praktische Engagement des Department of State bei der Suche nach deutschen Akten begann Mitte Dezember 1944 mit der Entsendung des Herausgebers der Foreign Relations of the United States, dem Chef der Research Section in der Division of Research and Publication, Dr. Ernest Ralph Perkins, nach London. Als Vertreter der US-Botschaft saß Perkins im Combined Intelligence Objectives Subcommittee (CIOS), einem Ausschuss der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF), und hatte den Auftrag, die Arbeit zwischen dem Department of State und dem Foreign Office betreffend ihrer gemeinsamen Interessen bei der Erbeutung deutscher Archive zu koordinieren. Das C I O S hatte bereits so genannte C I O S field teams, also Gruppen von .Aktenaufspürern', regelrechte,Dokumentenjäger', eingesetzt. Diese konnten aber wegen der Kriegssituation ihre Arbeit noch nicht aufnehmen. Am 18. Dezember 1944 wurden die Aktenaufspürer auf dem ganzen europäischen Kontinent mit einem formellen Bann belegt. Dieses Verbot wurde dann schrittweise gelockert. Am 6. Januar 1945 konnten die Gebiete im Innern Frankreichs freigegeben werden, und am 22. Januar wurde schließlich der Bann seitens des alliierten Hauptquartiers gänzlich aufgehoben, obschon die S H A E F weiterhin darum bat, dass die Reisen auf das absolute Minimum zu beschränken seien. 45 Der Beschluss über die Aufhebung des Bannes bedeutete den Beginn der Aktensuche im Felde. Seit Mitte Dezember 1944 hatte E. Ralph Perkins mit seinem Gesprächspartner im Foreign Office in London, Robert Currie Thomson, Assistant Librarian im Foreign Office, die Durchführung der Aktenerbeutung aus der Sicht der Außenministerien vorbereitet. Am 16. Januar 1945 diskutierten 4 5 Paraphrase des Telegr. ,top secret' von John G. WlNANT an den Außenminister (aber von Stone für Fleming [FEA], für Joint Intelligence Committee und TIIC), London, 27. 1. 1945, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Confidential File = Conf.), Box 5701, [840.414/ 1-2745].
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Perkins und Thomson ihre Pläne mit Hilary Jenkinson und anderen Offizieren der britischen Abteilung für Denkmäler, Kunst und Archive der Kontrollkommission für Deutschland. Thomson erklärte die Mission, die ihm das britische Außenministerium anvertraut hatte. Interessanterweise stand bereits zu diesem Zeitpunkt die historische Frage nach der Kriegsschuld im Vordergrund und die Parallelen zum Ersten Weltkrieg sind kaum zu übersehen. Der Historiker Prof. E. Llewellyn Woodward des Foreign Office hatte vorgeschlagen, die britischen diplomatischen Akten über den Ausbruch des Krieges und dessen Ursprünge mit Dokumenten aus deutschen Archiven zu vervollständigen, um die deutsche Verantwortung für dessen Entfesselung zu belegen. Mit dieser Arbeit wurde Thomson aufgrund seiner Erfahrung mit Archiven und seinen Kenntnissen über Deutschland betraut. Seinen Tätigkeitsbereich konnte Thomson selbst bestimmen und er beabsichtigte, praktisch dieselben Bereiche wie das CIOS abzudecken, mit einem speziellen Interesse für die Materialien zur deutschen auswärtigen Politik. Insbesondere beabsichtigte der Brite, die Archive, die ihn interessierten, durch alle zur Verfügung stehenden Mittel, wie die schwarze Liste des CIOS und deutsche Publikationen, zu sichern und durch Abmachungen mit den Militärbehörden zu schützen. Danach würde er zur Analyse der Archive übergehen und jene Dokumente auswählen und verfilmen, die seinen Zwecken dienlich wären. Thomson hatte bereits ein Team aufgestellt, offiziell einen Wachtmeister und drei Zivilisten, wobei, wie Perkins notierte, „three of the Foreign Office team are British Army officers, one at least, and perhaps all, being intelligence officers." 46 Für die Verfilmung hatte Thomson bereits Kontakte mit dem britischen Luftfahrtministerium geknüpft und dieses hatte sich einverstanden erklärt, zwei oder drei Mikrofilm-Einheiten und das zuständige Bedienungspersonal zur Verfügung zu stellen. Der Beginn der Arbeit sollte sofort nach der Kapitulation erfolgen, am besten bereits zuvor, denn es war bereits geplant, einige Mitarbeiter mit dem .advanced lift' nach Berlin zu entsenden. Die Planung des amerikanischen Historikers war noch nicht so weit fortgeschritten wie jene des Engländers. Perkins war zu jenem Zeitpunkt erst seit drei Wochen in London. Das Department of State verfolgte zwar ähnliche Interessen wie das Foreign Office, interessierte sich aber insbesondere für Materialien über die deutschen Aktivitäten in Amerika und über den Krieg gegen Japan. Die Offiziere der britischen Abteilung für Denkmäler, Kunst und Archive der Kontrollkommission für Deutschland zeigten sich interessiert an der Thomson-Perkins-Mission, da sowohl die zivile als auch die militärische Mission mit dem Auffinden und mit der Sicherung von Archiven beschäftigt waren. Sie fassten die Entwicklung der militärischen Archiv-Operationen in Italien und der geplanten Operationen in Deutschland zur Sicherung der Ar46
Wie unten Anm. 48.
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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chive mittels Errichtung von Documents Centers zusammen und unterstrichen, dass eine Kollaboration zwischen den militärischen und zivilen Missionen für beide Seiten von Vorteil sei. Konflikte waren aber bereits in nuce vorhanden, und die Militärs rieten, eigenes Personal mitzunehmen. Die D o c u ments Centers seien nur da, um die Kontrolle der Dokumente zu sichern, sie hätten nicht genügend Personal, um die Auswertung selbst durchzuführen. Ein weiteres Problem stellte die Berechtigung der zivilen Mission dar, militärischen Kommandanten zu befehlen oder zumindest deren Unterstützung zu verlangen. 47 Nachdem Perkins den Zweiten Sekretär der Amerikanischen Botschaft in London, John M. Allison, konsultiert hatte, teilte er dem Department of State mit, dass sie nicht in der Lage seien, die Führungsrolle bei der Organisation der Beschaffung nachrichtendienstlicher Information aus der ganzen Bandbreite der Regierungs-, Partei- und Wirtschaftsarchive zu übernehmen. Den Interessen des Department sei am besten gedient, wenn es eigene Teams aufstelle, welche die diplomatischen und politischen Archive analysieren würden, während die nachrichtendienstlichen Behörden im Dunstkreis des O S S die finanziellen, politischen, kulturellen und anderen Archive übernehmen sollten. Auf jeden Fall solle ein Komitee in Washington die Interessen der jeweiligen Behörden koordinieren: „I hope preparation in the Department for organizing a team to work with that of the Foreign Office is going forward so that when the big moment comes we will not be caught unprepared. The Foreign Office is at an advantage in that they are so much closer to the field of action."48 Die Vorbereitungen im Department of State für die Bezeichnung von strategischen Zielobjekten waren beim dafür zuständigen Combined Intelligence Objectives Subcommittee tatsächlich nicht auf große Begeisterung gestoßen. Dieses zeigte sich widerwillig, neben den auf der urprünglichen Liste vom 28. September 1944 von der Division of Foreign Activity Correlation in D e partment of State bezeichneten neue State Department „targets" aufzunehmen. 4 9 Memo, of conversation verfasst von Hilary JENKINSON (MFA & A Branch, Archive Section - British Monuments, Fine Arts and Archives Branch [Interior Division] Control Commission for Germany) über ein Gespräch mit Robert Currie THOMSON (FO Assistant Librarian), Dr. Ernest Ralph PERKINS (US Dep. of State), Major ELLIS, Major Ross, S/Ldr. GOODISON, London, 16. 1. 1945, NA, RG 59, CF 1945^9 (Conf.), Box 5701, 840.414/1-2445. Vgl. ebenfalls George O. KENT, „The German Foreign Ministry Archives", in: WOLFE, Captured, S. 119-130, hier S. 120, Anm. 4. 4 8 Brief .secret' von Ernest Ralph PERKINS an Fletcher WARREN, Executive Assistant to the Assistant Secretary of State, [London,] 24. 1. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5701, 840.414/1-2445, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, 47
S. 1 0 9 9 - 1 1 0 2 .
Memo. „Regarding Captured Enemy Documents and Records" .secret' von Frederick B. LYON (Chief Division of Foreign Activity Correlation) an GEIST (DC), [Wa-
49
shington,] 31. 1. 1945, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 5701, 840.414/1-3145.
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III. Die „ D o c u m e n t s on G e r m a n Foreign P o l i c y "
Am 29. Januar 1945 fand eine spezielle Konferenz unter der Schirmherrschaft des C I O S statt. Hauptaufgabe war die Bezeichnung der Zielobjekte auf der schwarzen Liste. Aus der Diskussion ergaben sich viele konkrete Ratschläge für die Bezeichnung der Zielobjekte, und diese Ratschläge wurden sehr bald aufgenommen. Für die noch nicht bezeichneten Zielobjekte wurde eine Prioritätenskala vereinbart. Danach standen an oberster Stelle Zielobjekte in Berlin, Kiel und München, solche in den Anmarschgebieten der alliierten Armeen und solche östlich von Berlin. Der Mangel an Koordination wurde erkannt, und als Ausweg zog C I O S die Möglichkeit in Betracht, eine Art Direktor mit einem Assistenten zu ernennen, dessen Hauptaufgabe es war, die Implementierung der ClOS-Politik in Bezug auf die Organisation der Arbeitsgruppen durchzuführen. Ebenfalls wurde erwogen, permanente Beobachter zu den Heeresgruppen zu delegieren, um in Aufklärungsdetachementen die Zielobjekte der schwarzen Liste zu untersuchen. Weitgehende Unklarheit herrschte hingegen noch über die Frage, wer für die einzelnen Ziele verantwortlich sei. 50 Ende Januar wurden drei Aktenaufspürergruppen von England auf den Kontinent verlegt. Die amerikanische Botschaft in Großbritannien bemängelte das Fehlen genügender US-Ermittler für die Feldgruppen angesichts der großen Anzahl definierter Zielobjekte auf der schwarzen Liste und vor allem, weil diese Zielobjekte gleichzeitig in großer Zahl zu fallen beginnen sollten. Man solle daher mehr technisches Personal aus den U S A nach Europa versetzen. 51 Zu diesem Zeitpunkt wurde im Department of State die Verantwortung für die Archivfrage reorganisiert und an die Division of Foreign Activity Correlation unter der Direktion von Frederick B. Lyon delegiert. Gleichzeitig wurden vier Männer für die Archivarbeit in Deutschland ausgewählt und administrativ dem Stab des United States Political Advisor for Germany, Robert Murphy, unterstellt. Diese prekäre Personalausstattung zwang Ernest Ralph Perkins, nach enger definierten Zielsetzungen und Richtlinien zu fragen und zu bitten, die primäre Aufgabe seiner Mission auf diplomatische Akten zu begrenzen und finanzielle, wirtschaftliche und technische Angelegenheiten sowie die Interessen im Rahmen des Safehaven-Programms anderen Behörden zu überlassen. 52
5 0 A m 7. 2. 1945 meinte Perkins: „After much confusion it has n o w been decided that placing a target on either the Black or G r e y List does not necessarily imply the responsibility of the agency proposing the target to provide for its examination." Wie unten A n m . 52. 5 1 Paraphrase des Telegr. ,top secret' von J o h n G . WLNANT (US-Botschafter in L o n don) an den Außenminister (aber von Stone für Fleming [ F E A ] , für Joint Intelligence C o m m i t t e e und T I I C ) , L o n d o n , 3. 2. 1945, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), B o x 5701, [840.414/2-345], 52 Brief .secret' von E. Ralph PERKINS an Frederick B. LYON ( F C ) , 7. 2 . 1 9 4 5 , N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), B o x 6836, 862.414/2-744.
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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Als nach der Anfang Januar 1945 begonnenen alliierten Gegenoffensive in den Ardennen und der Vereinigung amerikanischer und britischer Truppen bei Houffalize die Eroberung des linksrheinischen deutschen Gebiets im Februar erfolgte, fielen allmählich auch deutsche Dokumente und Archive in die Hände der Alliierten. 53 Ironischerweise befand sich unter den ersten Aktenfunden der Alliierten in Aachen am 5. Februar 1945 gerade der deutsche Schlussbericht über die Aktivitäten der deutschen Archivgruppe in Frankreich von 1940-1944. 54 Diese ersten Aktenfunde und der deutsche Bericht über die Aktenerbeutung in Frankreich, aus dem die propagandistische Instrumentalisierung der erbeuteten Informationen deutlich genug zum Ausdruck kam, steigerten den Handlungsbedarf. Was die Ziele der Archivgruppen des Department of State und des Foreign Office anging, so waren diese zum Teil divergierend. Die britischen Absichten waren stark geprägt von der Zwischenkriegszeit und richteten sich prinzipiell gegen einen erwarteten deutschen Revisionismus in Bezug auf die Kriegsschuldfrage. Daher beabsichtigten die Briten, eine Aktenedition zu verfassen: „The establishing of the Foreign Office team is understood to have originated with a suggestion that British Foreign Office records relating to the war, its origin and the establishment of Germany's responsibility for the outbreak thereof could be usefully supplemented by copies of German archives." 5 5
Die amerikanischen Interessen waren hingegen zu diesem Zeitpunkt primär noch von der Kriegsführung gegen Japan bestimmt. 56 So meldete sich Perkins aus der Botschaft in London mit einem Vorschlag für die Zielobjekte seiner Gruppe. Wegen der limitierten personellen Mittel und den divergierenden Interessen der Briten wurden die Zielobjekte auf jene Akten konzentriert, die mit den internationalen Beziehungen auf dem Parkett der Diplomatie und mit der .großen Politik' und Wirtschaftspolitik in Zusammenhang standen. So waren die beabsichtigten Prioritäten: 1. Hitler-Akten; 2. japanische Botschaft, Inbegriffen die Akten, die aus den japanischen Botschaften in Frankreich und Italien erbeutet wurden; 3. Ribbentrop-Akten; 4. Auswärtiges Amt; 5. Japanische Konsulate und andere japanische Einrichtungen in Deutschland; 6. NSDAP-Büros mit Auslandtätigkeiten, speziell die Auslandsorganisation; 7. andere Büros. Da aus amerikanischer Sicht die erfolgreiche Beendigung des Krieges das prioritäre Ziel der Aktion war, standen die japanischen Akten an prominenter Stelle, aus welchen man sich (vergebens) die Beschaffung von nutzbarem nachrichtendienstlichen Material erhoffte. Vgl. dazu Memo, von W. E. JESSOP (FC) an Ε. T. ANDERSON ( D C / R ) , [Washington,] 12. 2. 1945, N A , R G 59, C F 1945^t9 (Conf.), Box 5701, 840.414/2-1245. 5 4 Wie oben Anm. 10. 5 5 Wie unten Anm. 57. 5 6 Memo, .secret' von E. Wilder SPAULDING (Chef der Division of Research and Publication) an HUTTON (FC), [Washington,] 17. 3. 1945, N A , R G 59, C F 1945^19, Box 462, 111.324/3.1745. 53
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Das zweitwichtigste Ziel war das Zusammentragen von Informationen, um den nationalsozialistischen Einfluss im Ausland zu beenden. An dritter Stelle kam dann die Frage der deutschen Kriegsentfesselung und -fiihrung. Hingegen wurde die Untersuchung propagandistischer Methoden und deutscher Investitionen im Ausland sowie die Beweissammlung für die Durchführung von Kriegsverbrecherprozessen von Perkins anderen Behörden überlassen, obschon er selbstverständlich einen Informationsaustausch begrüßte. In einer Note bemerkte Perkins prophetisch, wie sich zeigen wird, dass wegen des Hitler-Stalin-Paktes eine Zusammenarbeit der Briten und Amerikaner mit den Sowjets politisch delikate Fragen zu Tage fördern könnte. 5 7 Die Definition der Aufgaben, Interessen und Zielobjekte zwischen dem Department of State und dem Foreign Office zog sich in die Länge. Erst am 20. März 1945 kam eine Einigung zu Stande. In einem gemeinsamen, geheimen Memorandum fixierten Perkins und Thomson die Ziele der Gruppen des Department of State und des Foreign Office (Gruppe F O / S D ) bei der Suche nach deutschen Archiven. Die vereinbarte Kooperation war so eng, dass die Mitglieder beider Gruppen mit dem Selbstverständnis arbeiten mussten, dass sie gemeinsam für die Interessen beider Regierungen arbeiteten. Die Gruppen wurden unter die Schirmherrschaft des C I O S gestellt, was sicherlich gewisse Erleichterungen im Umgang mit dem Militär versprach. Im gleichen Atemzug wurde aber deren Unabhängigkeit beschworen, die C I O S Verantwortlichen könnten diese Gruppen nicht für andere Zwecke oder Zielobjekte einsetzen. Für die Prioritätensetzung bezüglich der Zielobjekte wurde ein Kompromiss zwischen den britischen und amerikanischen Interessen gefunden. Die bereinigte, endgültige Prioritätenliste sah schließlich vor: 1. Akten von Hitler und seiner Kanzlei; 2. Akten von Ribbentrop; 3. Akten des Auswärtigen Amts und ihm unterstellter Einrichtungen; 4. Akten der japanischen Botschaft; 5. Akten jener Organisationen der NSDAP, die sich mit Auslandaktivitäten befassten, wie die Auslandsorganisation; 6. Akten anderer deutscher Verwaltungszweige. 58 Interessanterweise standen die Akten des Auswärtigen Amts erst an dritter Stelle. Im April wurde die Gruppe F O / S D konstituiert und bis Mai schrittweise auf den Kontinent gebracht. 5 9 Nun Geheimes Memo. „Suggested Priority Objectives for the Department of State in Searching German Archives" von Ernest Ralph PERKINS, London, 6. 2.1945, NA, 57
R G 59, C F 1945—49 ( C o n f . ) , B o x 6 8 3 6 , [ 8 6 2 . 4 1 4 / 2 - 6 4 5 ] .
Memo. „Objectives for the Combined Teams of the British Foreign Office and the US Department of State in searching German Archives" .secret' von Ernest Ralph PER58
KINS und R o b e r t C u r r i e THOMSON, L o n d o n , 2 0 . 3. 1945, N A , R G 59, C F
1945^9
(Conf.), Box 5701, 840.414/3-2045, ebenfalls in NA, RG 59, Bureau of Public Affairs Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 2 of 2. Ein kurzer Auszug ist ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1102f. Bei KENT, „The German Foreign Ministry Archives", S. 120, findet sich eine etwas andere Auflistung. 5 9 Memo. „Foreign Office / State Department Documents Unit in 1947" .restricted' von Ralph S. COLLINS (Verantwortlicher der FO/SD Auswertung für die amerikani-
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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waren das Department of State und das Foreign Office nach langer Vorbereitung endlich bereit, die Akten des Auswärtigen Amts zu erbeuten. Die Kriegswirren erlaubten aber Mitte April 1945 noch nicht, zu den Akten zu gelangen. Die Spezialisten standen jedoch in den Startlöchern 60 oder baten, wie E. Ralph Perkins aus London von seinem Chef E. Wilder Spaulding: „Wish me good hunting." 61 „A tale of pirate gold hunting" oder der große
Aktenfund
Mit der alliierten Offensive im März 1945 fielen allmählich Archive, aber auch deutsche Beamte in die Hände der Alliierten. 62 Trotz der Kriegswirren und chaotischer Zustände waren diese Archivfunde keine Zufälle. Sie waren die Ausführung eines von langer Hand detailliert konzipierten Unternehmens, des Goldcup Plan. Im Rahmen dieses Planes waren die strategischen Zielobjekte von prioritärem Interesse bezeichnet und die Verantwortlichkeit dafür war unter den vielen beteiligten militärischen und zivilen Behörden aufgeteilt worden; so erhielten die Akten des Auswärtigen Amts die Zielnummer P-67, während beispielsweise die Zielnummer P-69 jene des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda bezeichnete. Unter den ersten größeren Aktenfunden befanden sich auch französische Dokumente, die die 3. US-Armee auf ihrem Vormarsch am 13. April in Ebersdorf in Thüringen identifiziert hatte und die bereits drei Tage später, als sich das Zielobjekt immer noch in Reichweite der deutschen Artillerie befand, von einem Assistenten von Robert Murphy inspiziert wurden. In der Tat fanden die Aktenaufspürer viele Akten französischer Herkunft, aber auch niederländischer, griechischer, norwegischer und polnischer Provenienz. Interessanterweise fanden die Amerikaner im Schloss Ebersdorf nebst den Archivlokalitäten auch technische Laboratorien und Einrichtungen zur Fälschung von Dokumenten. 63 Der Fund französischer Akten wurde zuerst von den Amerikanern und Briten mit höchster Geheimhaltung behandelt. Die Verantwortlichen im Department of State kamen aber rasch zu dem sehe Seite) an Warren M. CHASE (Chef der Politischen Abteilung), Berlin, 29. 1. 1948, NA, RG 59, C F 1945-49, Box 5678, 840.414/2-2448. Vgl. ebenfalls KENT, „The German Foreign Ministry Archives", S. 120. 6 0 Telegr. .secret' von Robert MURPHY an den Außenminister, 15. 4. 1945, NA, R G 59, C F 1945-49, Box 6681, 862.00/4-1545.
Brief von E. Ralph PERKINS an E. Wilder SPAULDING, London, 2. 4. 1945, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 9, „GWD - For George O. Kent", 1 of 2. 6 2 Vgl. dazu die Beilagen zum Brief ,top secret' von Robert MURPHY an den Außenminister, 1. 5. 1945, NA, RG 59, C F 1945^19, Box 4130, 840.414/5-145. 6 3 Vgl. oben Memo. „Report on Intelligence Investigation", S. 46, Anm. 92. - Interessanterweise wurde dieser Bericht an den amerikanischen Chefankläger Robert Jackson für die Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse weitergeleitet, doch erhielt Jackson nur eine zensierte Version, vgl. unten Anm. 103. 61
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Schluss, die Akten seien der französischen Regierung sofort zurückzugeben, obschon britische Offiziere mit Nachdruck verlangt hatten, die Dokumente zuerst analysieren und auswerten zu lassen. 64 Am 19. April hatte die 12. Heeresgruppe in den Gebieten, welche die 1. und 3. US-Armeen überrollt hatten, die Zielobjekte von P-67, betreffend der Akten des Auswärtigen Amts, identifiziert. Die zuständige Gruppe für die Rekognoszierung dieser Archive war zu diesem Zeitpunkt noch in Paris stationiert. Sie bestand aus drei britischen Vertretern der Kontrollkommission für Deutschland - Ivor T. M. Pink, Major R. H. Ellis sowie Leutnant T. P. Brody - und aus drei amerikanischen Vertretern des US Group Control Council - Β. H. Morris, Hauptmann H. G. Richey sowie Hauptmann P. A. Toomey. Am 21. April verließ die Gruppe Paris und wurde im Hauptquartier der 12. Heeresgruppe in Verdun vom militärischen Nachrichtendienst über die lokalisierten Zielobjekte unterrichtet. Am nächsten Tag erreichte die Gruppe, via Metz, Saarbrücken, Mainz und Frankfurt am Main, in der Nacht das Hauptquartier der 1. US-Armee in Bad Wildungen, wo sie über zusätzliche Archivfunde informiert wurde. Via Eisenach erreichten die Aktenaufspürer am Abend des 23. Aprils das 7. Korps im sächsischen Eisleben. Am 24. und 25. April konnte die Gruppe die Zielobjekte, die sich in der Nähe der 9. Division befanden, im Harzgebirge in der Nähe von Geisburg, in Schloss Meisdorf, Schloss Degenershausen, Burg Falkenstein und Schloss Stolberg endlich inspizieren und die deutschen Archivare befragen. Die gesammelten Informationen ergaben bald, dass die vier Zielobjekte den größten Teil des Archivs des Auswärtigen Amts umfassten. Die totale Masse war schwer abzuschätzen, doch wurde angenommen, dass insgesamt etwa 200 LastwagenVgl. Telegr. .secret' von Außenminister Edward R. STETTINIUS Jr. an die amerikanische Botschaft in Paris (für REBER), Washington, 16. 4. 1945, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , 851.414/4-1645, in: M F LM-141, Reel 2/46, N o . 273. Memo. For The Files ,top secret' von John D. HLCKERSON, [Washington,] 1 6 . 4 . 1945, N A , R G 59, C F 1945-49, Box 4130; Kopie in N A , R G 59, C F 1945^t9 (Conf.), Box 5701, [840.414/4-1645], - Diese Akten wurden Frankreich bald zurückgegeben. A m 11.5. 1945 bedankte sich das französische Außenministerium „upon the safe arrival in Paris of the documents secured and shipped by Pell from the German laboratory in the Thuringian Forest. [...] In addition to the Foreign Office files to 1940 the French documents included the Weygand, Gamelin, Daladier and other important files which the Germans made several attempts to recapture, or destroy. They were delivered to the French intact. In addition to the French documents there were files of the Netherlands, Norwegian and Greek Governments and the British Consular records from Norway and Crete which were delivered to this Embassy today. Unless the Department perceives some objections, I propose to return these files to the interested Governments through their representatives in Paris. There were, moreover, extensive files of the Polish Foreign Office. The return of these files raises questions of a political nature and. I should appreciate the Department's instructions as their disposition." Telegr. .secret' von Jefferson CAFFERY (US-Botschafter in Paris) an den Außenminister, Paris, 1 1 . 5 . 1945, N A , R G 59, C F 1945-49, Box 4130, 800.414/5-1145. Hinsichtlich der polnischen Akten und gegebenenfalls auch eines Teiles der französischen lassen mich konsistente Hinweise vermuten, dass diese heute noch in Washington aufbewahrt werden, vgl. unten S. 246. 64
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ladungen für deren Abtransport notwendig waren. 6 5 Zeitgleich war die 1. US-Armee in Freyburg an der Unstrut auf die Archive des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda gestoßen, deren gesamte Archivmasse auf 35 Lastwagenladungen geschätzt wurde. Da sich diese Zielobjekte in der zukünftigen sowjetischen Besatzungszone befanden, riet die 1. U S - A r mee, die Archive des Auswärtigen Amts sofort in die amerikanische Zone zu evakuieren und die Akten des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda den Sowjets zu überlassen. 66 Die Suche nach wichtigen Archiven in der zukünftigen sowjetischen Besatzungszone und deren rasche Verlegung in den Westen wurden in der Folge mehrmals durchgeführt. 6 7 Da der sowjetische Anmarsch bereits die Elbe erreicht hatte, mussten die angelsächsischen Alliierten rasch handeln. A m 27. April beschlossen Robert Murphy und Christopher Steel, britischer Political Officer, die Verlegung der erbeuteten Akten des Auswärtigen Amts nach Marburg in die amerikanische Zone. 6 8 In der ersten Woche des Monats Mai wurden die gefunden 424 Tonnen Akten aus den Archiven des Auswärtigen Amts, 6 9 zuzüglich der verstreuten Bibliothek des Außenministeriums, samt den deutschen Beamten und ihren Familien 7 0 in 237 Lastwagenladungen vom Harzgebiet 150 KiloWie oben Anm. 12. „All above targets are in future Soviet zone. We therefore recommend that P67 [=Auswärtiges Amt] material at least should be evacuated immediately to American zone. As regards P69 [=Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda] material, 1st Army has recommended this be left for Russians." Bericht von Major R. H. ELLIS an die 12th Army Group, G-2, Τ Branch, 23.4. 1945, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 4130, 840.414/5-145. 6 7 Beispielsweise im Juli 1945, als die Amerikaner auf der Suche nach Paul Otto Schmidts Aufzeichnungen waren, meinte Sawyer: „I phoned Murphy yesterday asking that effort be made immediately to locate them before US Army leaves that area." Hervorhebung von mir, SZ. Telegr. .secret' von SAWYER an den Außenminister, Brüssel, 4. 7. 1945, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/7-445. Das Unterfangen wurde erfolgreich durchgeführt, vgl. Brief .secret' von General Julius C. HOLMES an USPOLAD Robert MURPHY (US-Botschaft in Paris), [Washington,] 1. 8. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/6-8845. 6 8 Telegr. .secret' von Jefferson CAFFERY (aber von Robert MURPHY) an den Außenminister, 28. 4. 1945, NA, RG 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 6836, 862.414/4-2845, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1104. 6 9 Für eine Beschreibung des Fundes vgl. Telegr. .secret' von Jefferson CAFFERY an den Außenminister, Paris, 17. 5. 1945, NA, RG 59, CF 1945^19 (Conf.), Box 6836,862.414/ 4-1745, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 194J, Bd. 3, S. 1104f. 70 Ibid. „The German F O officials in charge of the documents, together with their families, were moved with the documents. At present they are not allowed unsupervised access to the documents. The documents are in charge of the American CIOS representative Carpenter and British F O representative Thomson. Thomson says British FO hopes by examination of these documents to prove that Germany has been planning for this war for the past twenty years. [...] Do not believe that Thomson's optimism in finding what he wants is especially justified, since the most interesting information is probably not on record. There are, however, four small packages with the documents containing notes on conversations between Hitler and Mussolini which should be of 65
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meter westlich nach Marburg verlegt. Somit waren mögliche sowjetische Ansprüche auf diese Archive aus dem Weg geschafft. 71 Die Akten blieben vom Mai 1945 bis zum Februar 1946 in Schloss Marburg und wurden von einer anglo-amerikanischen Gruppe analysiert und verfilmt. Die Archive enthielten fast alle Akten des Auswärtigen Ministeriums der Jahre von 1861 bis 1943, während der größte Teil der Akten von 1944 bis 1945 vernichtet worden oder verloren gegangen war oder nicht gefunden wurde. Das Foreign Office versprach sich von der Auswertung dieser Akten, „to prove that Germany has been planning for this war for the past twenty years." 7 2 Im Mai 1945 folgte eine geheime, informelle Arbeitsvereinbarung zwischen US-amerikanischen und britischen hohen Stabsoffizieren des Nachrichtendienstes. Für die britische Seite unterzeichnete Generalmajor John Alexander Sinclair, Direktor des militärischen Nachrichtendienstes, für die amerikanische Seite Generalmajor Clayton Bissel, Stellvertretender Stabschef im G-2, War Department. Diese Vereinbarung, die intern sofort die Bezeichnung .Bissel-Sinclair Agreement' erhielt, betraf die Handhabung und Auswertung aller Archive und anderer Dokumente von militärischem Interesse, welche den europäischen Feinden gehörten. Ziel der Vereinbarung war, alle militärischen Archive oder Dokumente sicherzustellen und sie nach einer Feldanalyse - nach London zur lokalen Auswertung seitens autorisierter Behörden und danach nach Washington zur endgültigen Forschung weiterzuleiten. Im Falle, dass militärische Archive sowohl von operativer Notwendigkeit für die Besatzungsorgane wie auch von Forschungsinteresse für das War Office und das War Department wären, würden die Originale in situ gelassen und Kopien angefertigt. Das Agreement enthielt eine sehr detaillierte Vereinbarung betreffend der gemeinsamen Errichtung eines „Germany military document clearing house" unter dem Namen London Military Document Center und einer „central German military document collection" in der Nähe von Washington unter dem Namen German Military Document Section während der Besatzungsperiode. 73
considerable interest. [...] The most secret documents were packed separately f r o m the others and the investigation thereof will not be unduly delayed." Hervorhebung vor mir, SZ. 7 1 Rückblickend meinte Gardner C . Carpenter, der erste Mann des Dep. of State in Marburg: „This step was undertaken for t w o reasons: to provide a central gathering point for all Foreign Ministry archives which had been discovered and to avoid political disagreements as to control and investigation of the documents following the establishment of the zones of occupation in G e r m a n y by Allied Governments (it will be noted that the H a r z Mountains fall within a zone considerably East of either the American or British zone)." M e m o . ,secret' von Gardner C . CARPENTER ( F C ) , [Washington,] 30. 4. 1946, N A , R G 59, C F 1945-^9 (Conf.), B o x 6836, 862.414/4-3046. 7 2 Wie oben A n m . 70. 7 3 Vertrag .secret' zwischen M a j o r General J o h n Alexander SINCLAIR ( O B E , Director of Military Intelligence War Office) und M a j o r General C l a y t o n BISSEL (Assistant
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Als am 9. Mai 1945 die Gesamtkapitulation in Kraft trat, schwiegen an der militärischen Front die Waffen. Die USA nutzten die neu entstandene rechtliche Lage, um Deutschlands Schutzmächten mitzuteilen, dass nach amerikanischer Auffassung die deutsche Vertretung im Ausland endgültig erloschen sei, da die höchste Gewalt in Deutschland von den USA, Großbritannien, Frankreich und der UdSSR übernommen wurde. 74 An diese Mitteilung war die Aufforderung an die Neutralen - und an weitere Regierungen - gekoppelt, der amerikanischen Vertretung im Namen der Alliierten die sich auf ihren Territorium befindenden deutschen diplomatischen und konsularischen Archive zu übergeben, was in der Folge im Allgemeinen auch geschah. Das Ende der Feindseligkeiten erlaubte den Alliierten bald, ihre Kontrolle über Deutschland auszubauen und ihre Suche nach deutschen Akten systematisch weiterzuführen. Einer der aufsehenerregendsten Funde stand aber noch aus. Dieser Fund, der so genannte von Loesch-Film, enthielt unter anderem das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt. Da dieser in der Folge zwischen sowjetischen und westlichen Historikern zu einer lang anhaltenden virulenten Kontroverse über die Echtheit des Mikrofilms führte, einer Kontroverse, die erst am 24. Dezember 1989, als der Kongress der Volksdeputierten der UdSSR eine Resolution verabschiedete, welche die Existenz des Zusatzprotokolls zugab, dieses verurteilte und für nichtig erklärte, überwunden wurde, 75 sei es mir hier gestattet, die Episode in epischer Breite zu schildern. Bereits am 30. April 1945 hielt ein Memorandum fest, das C I O S habe einen deutschen Beamten mit dem Namen Carl von Loesch identifiziert, der geheime Dokumente des Auswärtigen Amts versteckt habe, und dass die Angelegenheit verfolgt werden sollte. Dies wurde aber nicht gemacht. 76 Erst am Chief of Staff, G-2, War Department), Mai 1945, NA, RG 59, Lot Files, Lot 56D307, „Subject files of the Assistant Legal Adviser for GER, 1952-1955", Box 1. 7 4 Telegr. ,top secret' von Joseph C. GREW (Acting Secretary) an die US-Botschaft in Paris, 11. 5. 1945, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 4130, 800.414//5-1145. 7 5 Aus der Fülle von Literatur vgl. für die Anfänge der Kontroverse: Karl Dietrich Erdmann, Die Oekumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1982, S. 319 f., wo Erdmann das Votum des Berner Historikers Walther Hofer wiedergibt, und für die Diskussion anfangs der neunziger Jahre und die schrittweise Anerkennung des Zusatzprotokolls: Achim BÜHL (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt. Die sowjetische Debatte, Köln 1989; ders., „Vertrag zwischen Deutschland und der UdSSR von 1939: Lehren der Vergangenheit und Gegenwart", in: Voennyi Vestnik (15/1989); Felix KOVALEV, „Secret Protocols: a look into the files", in: Vestnik (1/1990); „Niemand kann uns überführen", in: Der Spiegel 3/1991, S. 104-112; Ingeborg FLEISCHHAUER, Der Pakt: Hitler, Stalin und die Initiative der deutschen Diplomatie 1938-1939, Frankfurt/M 1990, S. 21-25. 7 6 „Two CIOS field officers informed us at Weimar that a Foreign Office official named Von Loesch can be found at the farm Schöneberg, near Treffurt, north of Eisenach and west of Mülhausen. He is said to be a confidential agent of Hitler's, who has allegedly buried 30 cases of Foreign Office documents on this or another farm nearby. This should presumably be followed up if possible." Memo. ,top secret' von Brewster
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12. Mai, durch Zufall, kam die Sache wieder zur Sprache. Der britische Oberstleutnant Thomson, der Leiter des Foreign Office Field Team, hielt sich in Mühlhausen auf, wo er beabsichtigte, die Akten des Auswärtigen Amts zu inspizieren. Als Thomson von der Befragung eines höheren Beamten des Auswärtigen Amts kam, wurde er von Carl von Loesch angesprochen. Von Loesch, ein Beamter des Auswärtigen Amts, war auf der Suche nach einem britischen Offizier, damit dieser einen Brief an Duncan Sandys, den von Loesch von seiner Studienzeit her kannte, beförderte. Sandys war nicht nur britischer Minister für Wohnungswesen, sondern vor allem Schwiegersohn von Winston Churchill. U m sich zu retten, schlug der Deutsche, der durch seine Geburt in London auch die britische Staatsbürgerschaft besaß, vor, Akten des Auswärtigen Amts, die er mikroverfilmt versteckt hatte, den Briten zu übergeben. Dass von Loesch zufällig gerade auf Thomson stieß, der auf der Suche nach den deutschen diplomatischen Akten war, ist einer jener Zufälle, die allen deterministischen Theorien der Geschichtswissenschaft zum Trotz in der Geschichte anzutreffen sind; dass aber die Absichten des Deutschen keineswegs zufällig, sondern durchaus opportunistisch geprägt waren, 77 belegt nicht nur sein Brief an Sandys, sondern bereits die Tatsache, dass das Gerücht seiner Kollaborationsbereitschaft einer CIOSGruppe schon vor Tagen zu Ohren gekommen war. Thomson las den Brief und begriff sofort die Wichtigkeit der Angelegenheit. Nachdem er von Loesch klar zu verstehen gegeben hatte, dass Briten und Amerikaner in dieser Sache gemeinsam vorgingen und, da die Gebiete momentan von US-Truppen kontrolliert seien, diese auch benachrichtigt würden, akzeptierte der Deutsche die Situation. Dr. Ralph S. Collins von der Department of State-Gruppe wurde deshalb sofort entsprechend informiert. Nachdem die beiden Aktenaufspürer vergeblich nach einer militärischen Nachrichtendiensteinheit gesucht hatten, beschlossen sie, die Aktion im Alleingang zu unternehmen, denn „Thuringia is shortly due to be taken over by the Russians." 7 8 Am
H . MORRIS, ( U S G r o u p C C , Political Division) an A C of S, G - 2 S H A E F , G o l d c u p Headquarters, S H A E F G - 2 , Special Echelon, s.l., 30. 4. 1945, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , B o x 4130, [FW] 840.414/5-145. T h o m s o n schrieb entsprechend: „ R u m o u r s are already in circulation", wie unten A n m . 78. 7 7 „ T h e man may be an opportunist but he quite accepts the situation that he is in our power and to my mind seems quite prepared to be useful to us in the interests of his own future. H i s G e r m a n y has gone for ever and he is quite willing to adjust himself to a new state of affairs." Wie unten A n m . 78. 7 8 Bericht ,top secret' „Discovery of Secret Archives of German Foreign Ministry" von Oberstleutnant R o b e r t Currie THOMSON, Leiter des Foreign O f f i c e Field Team, beigelegt einem Brief ,top secret' von U S P O L A D R o b e r t MURPHY an den Außenminister ( K o p i e für C E an J a m e s W. Riddleberger), s.l., 22. 5. 1945, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), B o x 5701, 840.414/5-2245. Eine fotografische Reproduktion befindet sich in N A , R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the G e r man D o c u m e n t s Project, 1944-1983, B o x 6, „ G e r m a n War D o c u m e n t s 1944-1945", 1 of 2. Abgedruckt im Anhang: D o k . 3, S. 345-348.
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14. Mai begaben sich Thomson und Collins, zusammen mit von Loesch, zu einem größeren Landhaus, genannt Schöneberg, etwa 30 Kilometer von Mühlhausen entfernt. Das Anwesen war besetzt durch die U S - A r m y und Thomson fragte nach einem militärischen Begleiter: „Ready compliance was expressed by Captain Albert M. Folkard, who, bearing arms, accompanied Dr. Collins, Herr von Loesch and myself along a private path in the estate to a point where we had to descend, rather uncomfortably, a steep ravine banked with pine trees. Our guide halted at a certain spot where he and Captain Folkard with iron bars soon scraped the soil from a waterproof cape covering a large can. This Captain Folkard brought to the top of the declivitiy and placed under guard in the mansion." Der Fund beflügelte die Militärs, von Loesch erhielt sein Privatfahrzeug zurück und sogar Benzin zugeteilt. Im Juni 1945 sollte sich von Loesch dankbar zeigen und verhalf zu einer weiteren wichtigen Beute: den Akten von Paul Schmidt, Chef-Dolmetscher im Auswärtigen Amt. Offenbar wollte von Loesch sich zuerst absichern, bevor er alles preisgab. 79 Wie auch immer, nach dem ersten Aufsehen erregenden Fund zog die Gruppe - inzwischen waren auch zwei von Loesch-Assistenten aufgenommen worden, da man befürchtete, die Sowjets könnten „put pressure on them to make disclosures" - mit ihrem .Schatz' 8 0 nach Mühlhausen und am nächsten Tag mit einem gepanzerten M - 4 0 Fahrzeug nach Marburg. Auf der Strecke hielten sie in Dentine Camp, w o sie auf die britische Mikrofilmgruppe der Royal Air Force stießen. Dank derer Apparaturen konnten Thomson und Collins zum ersten Mal rasch die Mikrofilme einsehen. Bald wurde aber beschlossen, Abzüge der Filme im Luftfahrtministerium in London herstellen zu lassen. A m 18. Mai „On June 12 [1945,] on info furnished by Carl von Loesch, a large wooden box containing private films of Dr. Paul Schmidt, official interpreter at the German Foreign Ministry, was recovered by Gardner C. Carpenter of the State DEPT CIOS team and Capt J. I. Jones of the BRIT F O N O F F from the grounds of a country estate near Muehlhausen, Thuringia where it had been secretly buried two months previously by Von Loesch. The most important contents of the bow were records draft and final, of meetings during 1939 to 1944 between Hitler, Ribbentrop and other Nazi leaders on the one hand and Axis and satellite personalities on the other, at which Schmidt and occasionally Loesch served as official interpreters. The material covered a period extending some 9 or 10 months later than the microfilm previously found by Col. Thomson of the BRIT FONOFF, the latest memo being dated in Dec 1944. The entire series comprises 12 thick loose leaved binders. The difference between draft and final versions is that the former bears corrections in Ribbentrop's handwriting. These accounts of conversations were usually retyped, Ribbentrop s changes being incorporated in the amended versions. It was these final versions which were shown to Hitler, who presumably never saw Schmidt's original drafts." Telegr. .secret' von Jefferson CAFFERY (US-Botschaft in Paris) an den Außenminister, Paris, 16. 6. 1945, Ν A, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/6-1645, ebenfalls in NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944—1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 1 of 2. Auszug ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1110. Vgl. ebenfalls Brief von HOLMES, wie oben Anm. 67, und Brief von 79
MURPHY, w i e A n m 78. 80
Tatsächlich sprach Thomson von „treasure". Wie oben Anm. 78.
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1945 traf Thomson beim alliierten Hauptquartier ein, von wo sich dann die Nachricht über den Fund bis zum Department of State verbreitete. Am nächsten Tag flogen Thomson und Perkins nach London, um die Entwicklung der Mikrofilme im britischen Luftfahrtministerium zu überwachen. 81 Die Erregung wegen des Fundes stieg, und Perkins sprach ungezügelt von „a tale of pirate gold hunting". 8 2 In den darauffolgenden Wochen analysierten Perkins und Thomson die Mikrofilme in London. 8 3 Der von Loesch-Film enthielt 9 725 Seiten Dokumente. 8 4 Wegen technischer Unterschiede zwischen den deutschen und den britischen Mikroverfilmungssystemen gab es einige Verzögerungen bei der Reproduktion. Perkins konnte sich in den wenigen Tagen einen kurzen Überblick über ein Viertel der Dokumente verschaffen und erkannte sofort die „hightly secret nature" des Fundes. Tatsächlich hatte diese erste Durchsicht unter vielen anderen Texten 8 5 auch Aufzeichnungen und Verträge zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion zu Tage gefördert. U r sprünglich war vorgesehen, Abzüge dieser Filme dem Department of State, dem Foreign Office und der Alliierten Kontrollkommission zukommen zu lassen, während die Originale zurück nach Marburg gebracht werden sollten, um sie ins Archiv des Auswärtigen Amts zu integrieren. 86 In der Folge beTelegr. ,top secret' von Jefferson CAFFERY (US-Botschaft in Paris), aber von USPOLAD Robert MURPHY und Ernest Ralph PERKINS an den Außenminister, Paris, 18. 5. 1945, NA, RG 59, CF 1945^19 (Coni.), Box 5701, 840.414/5-1845, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1105 f. 8 2 Brief von E. Ralph PERKINS an Frederick B. LYON (FC), London, 23. 5. 1945, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 9, „GWD - For George O. Kent", 1 of 2. 83 Telegr. ,top secret' von Under Secretary Joseph C. GREW (Acting Secretary) [aber aufgesetzt von H. J. CUMMINGS (FC)] an die amerikanische Botschaft in London (aber für ALLISON), Washington, 24. 5.1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5701, 840.414/5-2445, ebenfalls abgedruckt in: F RUS. 1945, Bd. 3, S. 1107. 8 4 Die Übermittlung an FC für Frederick B. Lyon enthielt später aber 20 Rollen mit insgesamt 9 825 Abzügen. Offenbar wurden einige Dokumente aus dem Original-Film mehrmals abgelichtet. Telegr. .secret' von John G. WLNANT an den Außenminister, London, 28. 5. 1945, NA, RG 59, CF 1945^9 (Conf.), Box 5701, 840.414/5-2845. 8 5 Die untersuchten Dokumente enthielten „comparatively full reports of conversations between Hitler and Ribbentrop and Matsuoka during his visit to Berlin in March and April 1941 at which time the Germans strongly urged that Japan attack Singapore. Perkins has also seen records of conversations between Hitler and Ribbentrop and Molotov in which an attempt was made to convince the Russians that the tripartite Axis aimes only at expansions to the south and was not directed against the Soviet Union. The documents contain the text of agreements made between Germany and the Soviet Union in Sept 1939. There is also among the documents ample proof of close collaboration between Germany and the Spanish GOVT under Franco. A letter dated Feb 26, 1941 from Franco to Hitler includes a pledge of his friendship and the urgent recommendation for the closing of the straits of Gibralter. There is an agreement signed in 1943 for the defense of Spanish territory and German aid in case the Allies attempted to occupy any Spanish territory as they had French North African." Wie unten Anm. 89. 8 6 Wie oben Anm. 81. 81
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fand aber das Foreign Office, dass wegen der politischen Brisanz des Materials der Verteiler strikt zu limitieren sei, und L o r d Halifax, der britische Botschafter in den USA, intervenierte, damit Murphy die gewünschten Kopien nicht erhalte. Unverzüglich forderte er das Department of State am 29. Mai 1945 eindringlich auf, „that the Embassy be instructed not to press this request but that we continue the agreement that this whole matter would be kept on the strictly confidential and limited basis for the present". 8 7 Das Department of State folgte den Wünschen des Foreign Office, was prompt die Entrüstung von Botschafter Murphy auslöste. 88 Vor allem die Enthüllung der deutsch-sowjetischen Beziehungen kam den Briten und Amerikanern (zu diesem Zeitpunkt) noch sehr ungelegen, hätten sie doch den sowjetischen Alliierten kompromittiert. Entsprechend wurde der Entscheid legitimiert: „This is based on the fact that the documents are of purely political character concerning the foreign policy of Germany, that they contain information regarding certain of our present Allies and that they would not be of apparent interest of use in current administration of a defeated Germany." 89 Ende Mai tauchten in der Londoner Presse Berichte auf, wonach drei Flugzeugladungen von Akten des Auswärtigen Amts nach England gebracht worden seien. Zwar war dies zu diesem Zeitpunkt eine Zeitungsente, doch die sowjetische Botschaft in Großbritannien wandte sich prompt an das F o reign Office, um Einsicht in diese Akten zu verlangen. Die Briten wimmelten ab und behandelten die Angelegenheit dilatorisch. Als aber die Sunday Chronicle am 24. Juni 1945 über die Reproduktion der von Loesch-Filme im Luftfahrtministerium berichtete, sorgte sich das Foreign Office und suchte die undichte Stelle. 90 Zu spät, denn die sowjetische Botschaft nutzte die Angele8 7 Telegr. des Außenministers an den Acting Secretary of State, San Francisco, 29. 5. 1945, in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1109. 8 8 „Much to my surprise I learned during the course of my visit to London accompanying Gen Eisenhower on Monday [11.6. 1945] that subsequent to an exchange of telegrams between the Emb in London and the Dept about which we had not been informed, an instruction was given [...] that this office be not provided with the microfilm copy which had been agreed. It is of course disturbing and awkward for us here to have been kept in complete ignorance of this decision, the nature and purpose of which are obscure." Telegr. ,secret' von Jefferson CAFFERY an den Außenminister (aber von USPOLAD Robert MURPHY für H. Freeman MATTHEWS, EUR), Paris, 15. 6.1945, Ν A, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/6-1545, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 194!, Bd. 3, S. 1109-1110. Vgl. ebenfalls Memo, von E. Ralph PERKINS an John ALLISON, London, 25. 5. 1945, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 1 of 2. 8 9 Telegr. ,top secret' von John G. WINANT (US-Botschafter in London) an den Außenminister, London, 26. 5. 1945, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5701,840.414/ 5-2645, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1107-1109. 9 0 Telegr.,secret' von John G. WLNANT (US-Botschafter in London) an den Außenminister, London, 28. 6. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/62845.
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genheit, um nochmals Druck auszuüben, doch wieder antwortete das Foreign Office dilatorisch mit einem vagen Hinweis, dass „in due course" eine gegenseitige Vereinbarung zum Austausch von Kopien deutscher Dokumente unter den Alliierten zu vereinbaren sei. 91 Das Department of State billigte die britische Haltung, beharrte aber darauf, dass die Sowjets generell über den Inhalt der erbeuteten Archive informiert werden, damit diese ebenfalls über ihre Funde informierten. Es zog allerdings vor, dass in der britischen Antwort an die Sowjets jeglicher Hinweis auf die gemeinsame britischamerikanische Kontrolle über diese Akten vermieden wurde. 9 2 Inzwischen hatten die Westalliierten begonnen, ehemalige Beamte in Gewahrsam zu nehmen und zu verhören. In der Nähe von Augsburg wurden verschiedene Persönlichkeiten aus dem ehemaligen deutschen Auswärtigen Amt interniert und eingehend befragt. Andere wurden in Hinterberg am Fuschl See, fünfzehn Kilometer östlich von Salzburg, interniert. Nebst den verantwortlichen militärischen Diensten gab es auch eine spezielle Mission des Department of State, die unter der Leitung des Missionschefs DeWitt C. Poole stand und für die Befragung der deutschen Beamten verantwortlich war. Die Amerikaner versuchten, nebst einer Rekonstruktion der Verantwortungsstellen im Auswärtigen Amt zuerst mit gezielten Fragen den Verbleib von deren Akten herauszufinden. Erst an zweiter Stelle begann man auch nach den diplomatischen Ereignissen während der Nazi-Zeit zu fragen. 93 Ibid. „FONOFF would then add that only relevant material which has reached London consists of certain microfilm copies which are being processed and sorted by a technical dept preparatory to thorough examination and, where worthwhile, translation. Soviet authorities have not doubt similarly taken copies of German archives in their possession as a matter of routine. In view of early stage of work done on Brit side FONOFF have not even taken initiative of proposing discussion between Allied powers on exchange of copies of documents under their control and in circumstances it would appear premature to send experts to London in order to take advantage of any reciprocal arrangement which may be made in due course." 9 2 „Dept concurs draft terms BRIT FONOFF reply to demand Soviet Amb re access German FONOFF archives allegedly brought England [...] DEPT believes however that information on general extent and nature of German archives under control US and BRIT authorities in Germany should be made available Soviet representatives earliest practicable date. It is assumed that Soviets will similarly inform us German archives which they have found. It would seem preferable not amend draft by inclusion reference to joint US-UK control of documents in question." Telegr. .secret, no distribution for department' von Außenminister James F. BYRNES an die US-Botschaft in London, Washington, 4. 7. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/6-2845, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1116. 9 3 Memo, .secret' von Herbert D. BREWSTER (CIOS Team, Dep. of State), s.l., 28. 5. 1945, NA, RG 59, Lot Files, Lot 60D24, Foreign Activity Correlation, Records Relating to the Exploitation of Captured German Records, 1945-1948, Box 8. Diese Befragung des Personals des Auswärtigen Amts ergab, dass Teile der Archive des Auswärtigen Amts in Mühlhausen und Bad Berka in Thüringen versteckt wurden. Wichtige Außenhandelsdokumente seien hingegen in Bad Salzungen in Thüringen auf91
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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Aber nicht nur die Akten des deutschen Auswärtigen Amts erregten A u f merksamkeit. Ende Mai 1945 wurden in Norditalien Akten der faschistischen Partei gefunden. 94 Gegen einen Persilschein boten auf seltsame Weise angebliche Partisanen den Amerikanern sogar Akten an, die der Duce bei seiner Exekution bei sich gehabt haben soll. 95 In Caserta, zwanzig Kilometer nördlich von Neapel, hatten die Alliierten ebenfalls verschiedene italienische Regierungsarchive sichergestellt, die sie ähnlich wie jene des Auswärtigen Amts zu untersuchen beabsichtigten. 96 Im Gegensatz zu den deutschen Akten sollten aber diese Bestände nach deren Analyse oder Verfilmung der italienischen Regierung sofort übergeben werden. 9 7 Im Mai wurden in Berchtesgaden auch die Akten der Reichskanzlei gefunden, die bereits seit 1943 in verschiedenen Etappen aus der Kanzlei in Berlin evakuiert worden waren. Kurz nach dem alliierten Fund in Berchtesgaden wurden die Dokumente von der 7. US-Armee in zwei 2,5-Tonnen-Lastwagen provisorisch zum Documents Center in München gebracht. Danach wurden sie zum Seventh A r m y Document Center in Heidelberg transporbewahrt. In St. Quirin, auf der Hauptstraße zwischen Gmund und Tegernsee, im Landhaus von Himmler gäbe es noch zwei Zimmer mit Dokumenten, die noch nicht inspiziert worden seien. 94 „Fascist Party private files captured north Italy [...] are of great interest to DEPT. Please select and forward in original if possible documents of immediate interest and insure that originals or reproductions of everything be sent to WAR DEPT with specific request that Division of Foreign Activity Correlation of STATE DEPT be notified when they arrive. [...] Re other important documents [...] please send photostats. Since there may be time lapse before requisite staff to handle such files is assembled DEPT would appreciate receiving translations suggested as you are able to send them." Telegr. ,top secret' von Under Secretary Joseph C. G R E W (Acting) an den AMPOLAD in Italien (Caserta), Washington, 30. 5. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5701, 840.414/5-3045. 95 „Certain very important documents which were taken from Mussolini on his capture have come into our possession at AFHQ. They were surrendered by three Italian partisan leaders who have been responsible for capturing and executing the Duce and who made an offer to turn over these documents to SAC on condition that (A) they would not be used to the future detriment of Italy and (B) that one of partisans who had been an officer in Italian air force should be sent to England and a second one a doctor, should be given Brit nationality and be allowed to live in one of Brit dominions." Telegr. ,top secret' von Alexander C. KIRK an den Außenminister, Caserta, 30. 5. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 4130, 800.414/5-2345. 96 „As regards documents dealing with Axis high policy, the Foreign Office are anxious that the procedure in regard to Italian archives should be assimilated to that adopted in the case of German archives. [...] The team should, however, in our view confine their activities to the diplomatic documents (i.e. those from Mussolini's archives and those on the Ministry of Foreign Affairs). These documents would be closely examined and the more important among them would be micro-filmed." Brief .secret' von George MLDDLETON (britische Botschaft den USA) an W. C. D O W L I N G (SE), Washington, 5. 7. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/7-545. 97 „The matter is naturally one of some urgency as it is desirable to complete the review of these documents as soon as possible, and not to delay the handing over of the archives to the Italian Government longer than is necessary." Ibid.
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
tiert, das in der Universitätsbibliothek untergebracht war. Im August 1945 wurden diese Akten zur Auswertung zur Verfügung gestellt. 98 Später, im Oktober 1945, fand das G - 2 der United States Forces, Austria, in einer Salzmine in Laufen die Akten des österreichischen Auswärtigen Amts der Jahre von 1918 bis 1 9 3 8 . " Unter den ersten Dokumenten, die nach "Washington befördert wurden, befand sich auch eine Kopie der so genannten Hoßbach-Niederschrift über eine Besprechung in der Reichskanzlei vom 5. November 1937, 1 0 0 die am 25. Mai von Robert Murphy an das Department of State übermittelt wurde. 1 0 1 Diese Niederschrift lag 1945 dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg vor und stellte ein wichtiges Beweismittel der Anklage dar, um Es handelte sich um etwa 7000 Bände: 3500 stammten aus den 1870er Jahren, 2500 aus der Zeit vor 1933 und 1000 waren nach der Machtergreifung datiert. Streng geheime Dokumente waren keine dabei und die gemeinsame anglo-amerikanische Auswertung konnte aufgrund von Verweisen schon die Evidenz liefern, dass diese in einem nicht aufgefundenen Safe aufbewahrt wurden. Bericht „On German Reichskanzlei Files At Present Held in Seventh Army Documents Center, Heidelberg" von Hauptmann T. H. FRAME und Attaché Dr. William P. CUMMING, s.l., [Heidelberg,] 20. 8. 1945, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 5675, 840.414/10-545. Vgl. ebenfalls Telegr. .secret' von Jefferson CAFFERY an den Außenminister, Paris, 20. 5. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 6836, 862.414/5-2045, und Telegr. ,top secret* von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 28. 10. 1945, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/10-2845. 9 9 „G-2 USFA [United States Forces, Austria] has acquired custody of intelligence target comprising files of Austrian Foreign Office found in salt mine in Laufen, now held in secret custody at Linz under Maj. Elios Cottie of G-2 USFA, who acquired target about three hours ahead of arrival of detachments of three other powers. These archives fill one medium-sized room and are packed in file boxes. Complete indexes will be dispatched shortly. Files are apparently complete except for 16 small boxes still missing. Target comprises complete records of Austrian Foreign Office 1918 to 1938, including even a few documents dated 1939. Knowledge of target exists only in USMG, but British suspect its existence and British agent has asked permission to see it, but been put off. Files apparently contain material derogatory to Britain." Telegr. ,top secret' von ERHARDT an den Außenminister, Wien, 11. 10. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/10-1145. Diese österreichischen Akten - ähnlich wie die italienischen - hätten, im Gegensatz zu den deutschen, sofort zurückgegeben werden müssen. Vgl. Telegr. ,top secret, no distribution, no stencil' von Außenminister James F. BYRNES an den USPOLAD, Washington, 19. 10.1945, NA, RG 59, CF 1945-^9 (Conf.), Box 5702, 840.414/10—445: „Entire collection should be preserved intact and after proper exploitation by US and BRIT further instructions should be requested concerning transfer of material to Austrian GOVT." 98
1 0 0 „Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei am 5.11.37 von 16,15 20,30 Uhr". Abgedruckt in: ADAP. 1918-1945, Serie D, Bd. 1, S. 25 ff. Eine fotostatische Kopie der Niederschrift befindet sich in NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5701, [840.414/-]. Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Bradley F. SMITH, „Die Überlieferung der Hoßbach-Niederschrift im Lichte neuer Quellen", in: VfZ 38 (1990), S. 329336. 1 0 1 Brief .secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, s.l., 25. 5. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5701, 840.414/5-2545 und Telegr. wie unten in Anm. 102.
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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die planmäßige Vorbereitung eines Angriffskrieges nachzuweisen. In der Tat hatte sich Justice Robert H . Jackson, der amerikanische Chefankläger bei den Kriegsverbrecherprozessen, bereits im Juni 1945 beim Department of State gemeldet, um dessen Hilfe beim Zusammenstellen aller relevanten Materialien für die Anklage zu beantragen. Unter den ersten Dokumenten, die das Department Jackson überwies, befand sich auch die Hoßbach-Niederschrift. 1 0 2 Später erhielt Jackson Abschriften vieler belastender Dokumente, obwohl zumindest in einem Fall nachweisbar ist, dass das Department of State Teile eines Berichtes ihm gegenüber zensiert hatte. 1 0 3 Im September 1945 verlangte das Foreign Office außerdem ein Vetorecht hinsichtlich der Dokumente, die während der Prozessverhandlungen benutzt wurden. 1 0 4 Das steigende Interesse verschiedener Behörden an den deutschen Akten hatte bereits am 19. Mai 1945 Botschafter Murphy veranlasst, einen Plan für die Sicherheit „of these highly important archives" aufzustellen. Kerngedanke des Planes war eine Zusammenlegung der Archive für eine einfachere Auswertung. Diese Zentralisierung hätte der Sicherheit wegen unter K o n trolle des S H A E F stattfinden und die Akten hätten - zumindest vorläufig in Deutschland behalten werden sollen, damit alle interessierten Regierungen sie hätten konsultieren können. 1 0 5 Die Mitglieder der Feldgruppe des D e partment of State teilten sich verschiedene Aufgaben und Bestände zu. Ein Mitarbeiter ordnete in Marburg mit Hilfe italienischer Kriegsgefangener die Bestände des Auswärtigen Amts, ein anderer wertete die Akten des Deutschen Auslandsinstituts in Stuttgart aus, während ein dritter in Südbayern und Osterreich vergeblich nach dem Verbleib von Ribbentrops persönlichen Akten suchte. 1 0 6 Bis Mitte Juni 1945 schritt die Suche nach Archiven zügig voran, und E. Ralph Perkins konnte melden, dass sich die Arbeit der Department of State-Gruppe in einer Ubergangsphase von der Ortung von Archiven zur Auswertung des Materials befinde: „From now on the work will be chiefly a
102 Telegr. .secret' von Under Secretary Joseph C. GREW an UPSOLAD in Hoechst (Deutschland), Washington, 23. 6. 1945, NA, RG 59, CF 1945^9 (Conf.), Box 5701, 840.414/5-2545, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1111 f. 103 „For your confidential information portion of Pell's report made available to Jackson's staff consisted of 6 paragraphs [...] except that in 5th paragraph the reference to correspondence of 2 French generals and papers of a French statesman was eliminated; and 3 paragraphs on page 7 beginning ,The Germans had the documents classified', except that last sentence offinalparagraph eliminated." Telegr. .secret' von Außenminister James F. BYRNES [aber aufgesetzt von Eric C. WENDELIN (A-H/W)] an den USPOLAD, Hoechst (Deutschland), Washington, 6. 7. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/7-645. 1 0 4 Office Memo, von Eric C. WENDELIN an H. Freeman MATTHEWS (EUR), Washington, 6. 9. 1945, NA, RG 59, CF 1945^t9, Box 5048, 811.414/9-645. 105 Telegr. von Botschafter Jefferson CAFFERY (aber von Robert MURPHY) an den Außenminister, Paris, 19. 5. 1945, in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1106 f. 106 KENT, „The German Foreign Office Archives", S. 122.
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III. Die „ D o c u m e n t s o n G e r m a n F o r e i g n P o l i c y "
research and microfilming j o b . " 1 0 7 In der Folge fiel aber die Gruppe des Department of State einem Kompetenzenstreit zum Opfer. Seitens der Militärs hatte von Anfang an ein gewisses latentes Unbehagen geherrscht, dass zivile Beamte nicht nur in militärische Aktionen eingeweiht waren, sondern auch noch Transport- und Arbeitskapazitäten in Anspruch nahmen. Die Spannung entlud sich in einem doppelten Kompetenzenstreit: innerhalb der Armee zwischen den Generalstabsteilen G-2, dem Nachrichtendienst, und G-5, der Sektion für zivile Angelegenheiten, betreffend der Frage der Auswertung der erbeuteten Akten einerseits und zwischen der Armee und den zivilen Besatzungsbehörden, dem Büro von Botschafter Murphy, über die Frage der Aufsicht und Kontrolle der Archive andererseits. Als Konsequenz mussten die Historiker der Division of Research and Publication aus dem Unternehmen aussteigen. Vollkommen überrascht von dieser Reorganisation musste Dr. E. Ralph Perkins nach Washington zurückkehren. Er fühlte sich, wie er sich kraftvoll ausdrückte, „like the Chinese bandit executed by such a skillful swordsman that he did not realize his neck was severed until he tried to shake his head." 1 0 8 Die generelle Übertragung der Kompetenzen in der Archivfrage an die Militärs bedeutete eine noch stärkere Fixierung auf die ursprünglich verfolgten militärischen Ziele. Von nun an bezweckte die Auswertung der erbeuteten Akten primär die Beschaffung von Informationen für den Nachrichtendienst und für die Verfolgung der Kriegsverbrecher. 109 Trotz des Ausschlusses der Historiker des Department of State blieb in der Praxis sowohl die direkte Kontrolle als auch die tatsächliche Entscheidungskompetenz über die Akten des Auswärtigen Amts weiterhin in den Händen des britischen und des amerikanischen Außenministeriums, obschon, was die amerikanische Seite betraf, nicht mehr mit Beteiligung der historischen, sondern nur mehr der nachrichtendienstlichen Abteilung. 110
1 0 7 Brief v o n E . Ralph PERKINS, Chef der C I O S - G r u p p e des Dep. of State, an den Chef der Division of F o r e i g n Activities Correlation (LYON), 18. 6. 1945. A u s z u g abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1111. 108 Brief v o n E . Ralph PERKINS an Donald R. HEATH, 15. 7. 1945, zit. nach KENT, „The G e r m a n F o r e i g n Office Archives", S. 122. 1 0 9 KENT, „The G e r m a n Foreign Office Archives", S. 122. 1 1 0 Entgegen der Darstellung v o n KENT, „The G e r m a n F o r e i g n Office A r c h i v e s " , S. 122, sehe ich keine U n t e r b r e c h u n g der Kontrolle des Department of State. Die R e o r ganisation eliminierte z w a r die Beteiligung der Division of Research and Publication, d o c h blieb die nachrichtendienstliche Abteilung des Dep. of State, die Division of Foreign Activity Correlation, bei der Auswertung der Akten des Auswärtigen Amts federführend. Insbesondere ist eine Kontinuität im personellen Bereich festzustellen. Vgl. ebenfalls das Kapitel „Die Durchführung des historischen Editionsprojektes", S. 2 2 6 - 2 4 7 .
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946 Die nachrichtendienstliche
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Auswertung
Das Ordnen und Auswerten der Bestände des Auswärtigen Amts schritten in Marburg auch unter der neuen Organisation voran, 1 1 1 und bald wurde die Archivfrage generell durch die Direktive „Treatment of German Archives, Records and Documents" geregelt. 112 Die unter der Kontrolle der Außenministerien stehende Auswertung dieser Bestände „for immediate policy and intelligence use" 1 1 3 trug den Projektnamen Exploitation of German Archives (EGA). Im Juni 1945 errichteten die Amerikaner ein Ministerial Collection Center in Fürstenhagen, in der Nähe von Kassel. Das Zentrum wurde grundsätzlich von den Amerikanern und mit einer Partizipation der britischen Armee betrieben. Errichtet wurde es auf dem etwa sechs Quadratmeilen großen Areal einer ehemaligen Munitionsfabrik, auf welchem gegen 200 Betonbauwerke standen. Das Ziel war die Zusammenlegung, Lagerung und Auswertung von Dokumenten sowie die zentrale Befragung von Beamten verschiedener ehemaliger deutscher Ministerien. Das Ausmaß und die Proportionen waren gigantisch konzipiert: das Zentrum hätte bis zu 4 0 0 0 ehemalige Angestellte deutscher Ministerien und eine praktisch unbegrenzte Quantität von D o k u menten beherbergen können. Das permanente Personal bestand aber im Juli 1945 gerade aus zehn Offizieren der US-Armee unter der Leitung von Oberst Nelson Dingley III. Diese kümmerten sich lediglich um die administrative Funktion des Zentrums. In der ersten Phase war man nebst der Instandsetzung der Gebäude zum Gebrauch als Magazine hauptsächlich damit beschäftigt, Wagenladungen von Akten, die übereilt und in großer Fülle aus der sowjetischen Zone kamen, abzuladen, eine Arbeit, die durch Personalmangel und den „enormous intake of documents from the area to be relinquished to the Russians" nur langsam voranschritt. Die Verantwortlichen waren in der Tat zu stark mit dem Umladen von Dokumenten beschäftigt, als dass sie mit der Auswertungsarbeit hätten beginnen können. Als Arbeitskräfte dienten deutsche Zivilisten und einige soeben als Ergänzung hinzugezogene Weißrussen. Bis zum 1. Juli 1945 hatte die US-Armee ungefähr 130 Tonnen Dokumente und 583 ehemalige deutsche Ministerialangestell te nach
111 Brief .secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, s.L, 30. 6. 1945, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 5702, 840.414/6-3045; Kopie in NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 1 of 2, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1112-1116. 112 „Memorandum for the Secretary of State" .secret' von John D. HICKERSON (Acting Chairman des State-War-Navy Coordinating Committee) an den Außenminister, Washington, 27. 7. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/7-2745. 113 Telegr. ,conf.' von Dean G. ACHESON (Acting Secretary) [aber aufgesetzt von Saxton E. BRADFORD (FC)] an den United States Political Adviser for Germany [Robert MURPHY], Washington, 5.11.1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5708, 840.414/11-546.
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Fürstenhagen gebracht. Die Akten des Auswärtigen Amts blieben hingegen vorläufig im Schloss Marburg. Die deutschen Beamten im Fürstenhagener Ministerial Collection Center wurden unter miserablen Verhältnissen einquartiert, viele litten an der Ruhr und hatten mangels Aufsichtspersonal häufig nichts zu tun. 1 1 4 Obschon die Errichtung von Auswertungszentren sich schwieriger und aufwändiger gestaltete als geplant, begann ein riesiger Informationsfluss verschiedene US-Behörden zu überfluten. Mitte Juli 1945 besaß die nachrichtendienstliche Abteilung im Department of State 1 1 5 bereits ungefähr 7 5 0 0 0 0 Originaldokumente oder Mikrofilme aus erbeuteten deutschen, italienischen und japanischen Beständen. Diese Informationsflut überforderte das Department of State und daher blieb zunächst der größte Teil der Dokumente weiterhin unausgewertet, obschon ungefähr 2 7 0 0 0 Abzüge bereits hergestellt und übersetzt worden waren. Trotz der unübersichtlichen Situation wurden die erhaltenen Informationen aber vom Department of State auf einer ad hocBasis direkt für politische Zwecke eingesetzt; in dieser Phase vor allem gegen die Neutralen, sei es, wie in den Fällen von Argentinien und Spanien, 1 1 6 durch eine Veröffentlichung, oder, wie im Beispiel Schwedens 1 1 7 oder der Schweiz, als Informationsgrundlage für die eigene Verhandlungsdelegationen: „These have been used for publicity purposes, as in the case of the Argentine Blue Book and the Spanish White Paper; for examination by the United Nations Security Council, as in the case of the documents incriminating General Franco, Spain; for specialized use in settling questions of the survival of German assets, as in the case of recent negotiations with the Swiss; and for various other policy and intelligence uses. So great has been the pressure of demand on this Division for certain specific documents for these uses that no complete survey has yet been undertaken to determine how this material can be exploited for public relations programs which the Department might find useful. I have made a personal survey of the German Foreign Office documents which form the bulk of our captured documentary material. These documents are rich in informaBrief ,conf.' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, Frankfurt, 11. 7. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 5674, 840.414/7-1145. 1 1 5 Die Division of Foreign Activity Correlation „is charged by the Department with responsibility for gathering, translating, analyzing for intelligence and policy use and disseminating this material." Wie unten Anm. 118. 1 1 6 Am 27. 8. 1945 konnte das Dep. of State dem amerikanischen Botschafter in Paris mitteilen, dass das Department über ,gewisse' erbeutete deutsche Dokumente in Mikrofilmform verfüge, aus denen .gewisse' Vereinbarungen während des spanischen Bürgerkrieges zwischen Franco und Deutschland ersichtlich seien. Brief ,secret' von Dep. of State an Norman ARMOUR (US-Botschafter in Madrid), [Washington,] 27. 8. 1945, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 5674, 840.414/8-2745. Vgl. ebenfalls unten Anm. 139. 1 1 7 Telegr. .secret, no distribution outside department' von Außenminister James F. BYRNES an den USPOLAD, 21. 5.1946, NA, R G 59, CF 1945-Í9 (Conf.), Box 5708, 840.414/5-2046: „For your information, important negotiations with Swedish Govt, will begin within a few weeks, and all documents relating to German penetration Sweden will be extremely useful." 114
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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tion which, if made public, might exercise considerable influence on the thinking of American citizens on the subject of German occupation policy. It is obvious that some of this material must for the time being remain unpublished. This includes material the release of which might embarrass present negotiations with foreign governments, but there is documentary background material available here for an almost limitless number of general topics bound to prove of extreme interest to newspaper and magazine writers, radio commentators, and so forth." 118 Als Medium für die Enthüllungen diente hauptsächlich das Department of State Bulletin,119 Selbstverständlich konnte darin nur eine sehr begrenzte Anzahl Dokumente veröffentlicht werden, wodurch bald die Rede auf ein historisches Publikationsprojekt kam, in welchem ausgewählte Dokumente für ein Publikum von Historikern und anderen Wissenschaftlern publiziert werden sollten. Das Vorgehen sowohl für die Veröffentlichungen im Bulletin als auch für das geplante Projekt entsprach der bewährten Praktik der clearance, sprich Zensur, wie wir sie bereits für die Publikation der Foreign Relations of the United States angetroffen haben. 1 2 0 Wenn die Amerikaner die erbeuteten Akten in der Öffentlichkeit selektiv zur Unterstützung ihrer außenpolitischen Ziele gegenüber den besiegten und den neutralen Mächten oder innenpolitisch zur Unterstützung des eingeschlagenen politischen Kurses in der deutschen Frage benutzten, so wurden im Hintergrund auch jene Akten eifrig ausgewertet, die die Partner der Kriegskoalition kompromittieren könnten. Im August 1945 trafen die Mikrofilme über das Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt im Department of State ein. 121 Fast gleichzeitig bombardierte die britische Botschaft das Department of State mit einer Serie von Memoranda, um die amerikanische Ko-
Durchschlag eines Memo, ohne nähere Angaben, 15. 7. 1945, NA, RG 59, CF 1945—49 (Conf.), Box 6836, 862.414/7-1545. Hervorhebung von mir, SZ. 119 Eine Liste der veröffentlichten Artikel befindet sich in NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 7, „Publication in the Bulletin (GWDP)". 120 „The entire problem of centralized exploitation and clearance of captured enemy documents is at present in the hands of Assistant secretary [William] Benton for a decision on the appointment of an individual to assume full responsibility therefore in collaboration with interested offices of the Department." Wie oben Anm. 118. Für die clearance der FRUS vgl. das Kapitel „Die amerikanische Formel der .Foreign Relations', 1861-2000", S. 92-142. 121 „Greatly interested in seeing original of special supplementary secret protocol to Russo-German agreement of 23 August 1939. Understand that [W. W.] Blancke and [Herbert D.] Brewster [FC] processed photocopy in Department last August [1945]. It was among the 20 special Foreign Office rolls which arrived blurred and were not on regular data sheets; copied from German film. [...] This was secret protocol dividing Russian and German influence spheres, with [„handdrawn", Übermittlungslücke, SZ] map dividing Poland. Signed Molotov and Ribbentrop. Can you give key so we may locate original in FO archives?" Telegr. ,top secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister [aber von GRISWOLD an Herbert J. CuMMINGS und Herbert D. BREWSTER], Berlin, 8. 5. 1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5708, 840.414/ 5-846. 118
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
pie deutscher Mikrofilme, die den Herzog von Windsor in allzu freundlicher Nazinähe zeigten, vernichten zu lassen. 122 Beide Angelegenheiten zogen eine lange Geschichte nach sich und sind keineswegs eine irrelevante Anmerkung, denn sie beeinflussten die Entscheidungsprozesse bezüglich der alliierten Handhabung der deutschen Archive erheblich. Der Fund von deutschen Akten, welche die Kontakte des Herzogs von Windsor mit deutschen Agenten während der Reise durch Spanien und Portugal auf dem Weg auf die Bahamas im Juni und Juli 1940 dokumentierten, zeigte der britischen Regierung, dass die deutschen Archive auch für die Siegermächte eine gefährliche Büchse der Pandora darstellen könnten, vor allem, wenn diese Akten auch anderen alliierten Regierungen zugänglich gemacht wurden. Die amerikanischen Behörden hingegen erwarteten in den Beständen des Auswärtigen Amts keine Enthüllungen, welche die Vereinigten Staaten (allzu sehr) hätten in Verlegenheit bringen können. 123 Wie auch immer, am 6. August 1945 unterstrich die britische Botschaft in Washington in einem streng geheimen Aide-mémoire an das Department of State nicht nur „the importance of avoiding any leakage" im Falle der Windsor'schen Peinlichkeiten, sondern verlangte gar, den Deckel der Büchse generell geschlossen zu halten. 124 Am 20. August drängte der britische Chargé d'Affaires a.i., John Balfour, in einem Gespräch mit Assistant Secretary James C. Dunn darauf, dass die amerikanischen Kopien von .gewissen' Dokumenten über den Herzog von Windsor der britischen Regierung zur .sicheren Aufbewahrung' übergeben werden sollten. 125 In einem Aide-mémoire des gleichen Tages wurde gar explizit der Wunsch geäußert, das Department of State möge 1 2 2 „Among the original German documents discovered at Marburg by the combined State Department and Foreign Office team of investigators are a number referring to the Duke of Windsor's passage through Spain and Portugal on the w a y to the Bahamas in June and July 1940. They describe the protracted efforts of the German Government to retain him in Spain with a view to a compromise peace, and contain a quantity of second and third hand reports and speculations about the Duke's attitude which were derived from agents in contact with him. [...] The originals of these documents are still in Marburg and the only copies are one microfilm print in the possession of the Foreign Office and one microfilm print delivered to the United States Embassy in London for transmission to the State Department." Aide-mém. ,top secret' der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 6. 8. 1945, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 6836, 862.414/8-645. 1 2 3 Telegr. ,top secret, US urgent' von U S P O L A D Robert M U R P H Y an den Außenminister, Berlin, 25. 10. 1945, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/102545, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1126: „As far as we know or anticipate, there are no documents in the Foreign Office collection which will prove embarrassing to the United States." 1 2 4 „Meanwhile Mr. Balfour is instructed to state that His Majesty's Government would be grateful for any special restrictions which the State Department can place on the use of copies of these documents generally." Wie oben Anm. 122. 1 2 5 Memo, of conversation von Acting Secretary of State Dean G. ACHESON über ein Gespräch mit dem britischen Chargé d'Affaires a.i. John BALFOUR, [Washington,] 5. 9. 1945, N A , R G 59, C F 1945^(9, Box 5898, 841.0011/9-545.
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Instruktionen veranlassen „for the destruction of the file in question", 126 sei dieses doch irrelevant für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Der britische Aktivismus - gleichentags erhielt das Department of State ebenfalls eine ausführliche Note 127 - war die indirekte Folge einer norwegischen Anfrage von Ende Juli 1945, worin die alliierte Regierung um Erlaubnis ersucht hatte, die deutschen Akten nach Beweismaterial für den QuislingProzess einsehen zu dürfen, was das Foreign Office und das Department of State genehmigt hatten. Das gewährte Einsichtsrecht für alliierte Regierungen barg aber die Gefahr, die Existenz unangenehmer Dokumente, wie jene über den Herzog von Windsor, zu Tage zu fördern, und „His Majesty's Government are most anxious to avoid this." 128 Das Foreign Office befürchtete zudem, eine allzu unabhängige Justiz bei der Verfolgung der Kriegsverbrecher könnte politisch unerwünschte Folgen für die Westalliierten nach sich ziehen. Das britische Außenministerium hatte bereits selektiv Dokumente an die mit der Verfolgung der Kriegsverbrecher beauftragte Viermächte-Behörde weitergeleitet, versuchte nun aber, sich beim Department of State ein Vorrecht zu sichern, wonach „the Foreign Office should retain discretion to determine which documents ought to be disclosed in evidence. This responsibility falls naturally on the Foreign Office inasmuch as it is being used as the repository of the evidence, and possessing, as it does, the most accessible collection of copies of the documents." 129 Es war den Briten klar, dass es politisch unangebracht wäre, der französischen und sowjetischen Regierung als engen Kriegsalliierten den Zugang zu den erbeuteten Akten einfach zu verwehren. U m eine Brüskierung zu vermeiden, schlugen sie vor, diese generell über die erbeuteten Aktenbestände zu informieren und ihnen, selbstverständlich nur unter Gewährung der Gegenseitigkeit, ein Einsichtsrecht anzubieten. Dieses Recht war aber an die Bedingung geknüpft, dass jeder der vier Regierungen das Recht vorbehalten sein sollte, Dokumente, die sie gefunden hatte, den anderen Alliierten gegebenenfalls vorzuenthalten, beispielsweise - und hier wird die Folge der Windsor'schen Peinlichkeiten deutlich sichtbar - im Zusammenhang mit der Handhabung der eigenen Quislings. Eine weitere Folge dieser Affäre war, dass die Regierung seiner Majestät - will heißen die Regierung Königs 1 2 6 Aide-mém. ,top secret' britische Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 20. 8. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 6836, 862.414/8-2045 1 2 7 Note der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 20. 8. 1945, übergeben von Donald M A C L E A N (Erster Sekretär der britischen Botschaft) an David H A R R I S (Office of German Affairs, Bureau of European Affairs), NA, RG 59, CF 1945-49, Box 6759, 862.414/8-2045, ebenfalls in NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 6836,862.414/8-2045 und in NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical O f fice, Records relating to the German Documents Project, 1944—1983, Box 6, „German War Documents 1944-1945", 1 of 2 und schließlich ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1117f. 12» Wie oben Anm. 126. ' 2 9 Wie oben Anm. 127.
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George VI., Bruder des inkriminierten Herzogs von Windsor - plötzlich keine allzu große Eile für eine Publikation mehr hatte, obschon seit den Vorbereitungen zur Aktenerbeutung als Ziel die Veröffentlichung einer Aktenedition im Vordergrund gestanden hatte. Nun hieß es mit vorsichtiger Ausdrucksweise, „the formulation of a policy should await more complete knowledge of the contents of all documents in possession of the Allies." 130 Die amerikanische Antwort ließ mehr als einem Monat auf sich warten. Am 11. Oktober 1945 teilte Außenminister James F. Byrnes dem britischen Botschafter Lord Halifax mit, dass - entgegen den britischen Vorstellungen die deutschen Dokumente mit .politischen Implikationen', die unter angloamerikanischer Kontrolle standen, auch von beiden Seiten gemeinsam freigegeben werden sollten. Das Department of State hatte bereits den amerikanischen Chefankläger Jackson konsultiert, und dieser hatte sich bereit erklärt, sich mit dem britischen Ankläger über die Auswahl der zu benutzenden Dokumente für die Nürnberger-Prozesse, die bereits auf Mitte Oktober 1945 angesetzt worden waren, abzusprechen. Mehr noch: „Justice Jackson has also advised the Department of State that where a delicate case arises, he will, if there is time, consult the Department before using the document." 131 Gegenüber dem britischen Drängen, die Windsor'schen Peinlichkeiten zu vertuschen, gab das Department nicht nach. Die Affäre sei für die Geschichte des Krieges wichtig, zeige sie doch deutsche und spanische Pläne für einen vermittelten Friedensversuch im Sommer 1940 auf. Darüber hinaus sei eine Vernichtung der fraglichen Dokumente seitens des Außenministers ohne eine Bewilligung des Kongresses illegal. Diese legalistische Haltung des Department of State verdeutlicht die amerikanischen Befürchtungen, eine Handhabung, wie sie von den Briten vorgeschlagen wurde, könnte für eine weitgehende Blockierung jeglicher Publikation Hand bieten und somit letztlich jede glaubwürdige Veröffentlichung praktisch verhindern. 132 Selbstverständlich versprach das Department of State aus diplomatischer Courtoisie, jegliWie oben Anm. 127. Wie Aide-mém. vom 11. 10. 1945 unten in Anm. 132. Noch deutlicher formuliert: ,,[T]he Department is requesting him not to use any documents to which his British colleague makes objection without prior consultation with the Department of State." 1 3 2 „This Department therefore believes that the safeguards concerning the Marburg collection [...] would in large measure forestall any publication to which the British Government might object. A preliminary investigation, furthermore, suggests that it would be unlawful f o r the Secretary of State to authorize the delivery of the documents to the British Government or the destruction of the passages in question, without C o n gressional authorization and attendant publicity. The British Government is assured, however, that the Department of State will take all possible precautions to prevent any publicity with respect to the documents in its possession relative to the Duke of Windsor without prior consultation with the British Government." Aide-mém. ,top secret' vom Dep. of State an die britische Botschaft in Washington, 11. 10. 1945, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 - 4 9 (Conf.), Box 6836, 862.414/8-2045, ebenfalls abgedruckt in: FR US. 194}, Bd. 3, S. 1 1 2 0 f.; N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 6836, 862.414/8-2045 ebenfalls drei Entwürfe. Zur Übergabe des Aide-mém. vgl. Brief wie unten in Anm. 133. 130
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che Publizität zu vermeiden, was Außenminister Ernest Bevin goutierte und als Gelegenheit benutzte, über den britischen Chargé d'Affaires a.i., John Balfour, bei Dean G. Acheson zumindest die Vernichtung aller doppelten Dokumente zu verlangen: „Mr. Bevin very much appreciates the assurance [...] that the Department of State will take all possible precautions to prevent publicity with respect to the Duke of Windsor documents without prior consultations with us. It would further ease his mind, and indeed the minds of all at home, if he could be assured that the State Department will only keep one copy of the documents. We note from Title 44 of the United States Code Public Printing and Documents, Paragraph 366 that 'extra copies of documents preserved only for convenience of reference are not included within the definition of the word 'records' as used in Sections 366-380 of this Title'. Any assurance which could be given in this sense would be greatly appreciated. Forgive me for raising this matter with you once more." 1 3 3
Somit war die Windsor-Angelegenheit vorläufig vom Tisch. 1 3 4 Ende August 1945 begannen sich die für die Auswertung Verantwortlichen wegen der Brandgefahr Sorgen um die Sicherheit der Akten des Auswärtigen Amts in Schloss Marburg zu machen, was eine Verlegung der wichtigsten Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1944 ins Ministerial Collection Center in Fürstenhagen bei Kassel nach der Fertigstellung der Mikroverfilmung unvermeidbar erscheinen ließ. 1 3 5 In der Folge gelangte ein Teil der Bestände des Auswärtigen Amts nach Fürstenhagen, das Gros blieb aber weiterhin in Marburg. Mitte September 1945 riet General Lucius D. Clay - besorgt über die Reduktion der Bestände der US-Armee in Deutschland - , die etwa 1200 Tonnen Dokumente, die unter anglo-amerikanischer Aufsicht in der US-Zone aufbewahrt wurden, samt dem Ministerial Collecting Center von Fürstenhagen nach Berlin zu verlegen, dies auch, um den französischen und sowjetischen Alliierten Einsicht in die Akten zu gewähren. Einmal dorthin gebracht, hätten die Archive, nach Clays Wünschen, gar den Deutschen übergeben werden sollen. 136 General Clay wollte die Archive des Auswärtigen Amts nicht nur wegen des relativ großen Aufwandes, die ihre militärische Bewachung bedeutete, aus der amerikanischen Besatzungszone haben, sondern vielmehr, weil er, stark interessiert an der Entwicklung einer „sound and workable quadripartite basis for military government in Germany", die Verantwortung für die Aktensperre gegenüber dem sowjetischen Verbündeten
1 3 3 Brief ,top secret and personal' vom britischen Chargé d'Affaires a.i., John BALFOUR, an Dean G. ACHESON, Washington, 11. 11.1945, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 6836, 862.414/11-1145. 1 3 4 Vgl. unten S. 291-293. 1 3 5 Telegr. ,secret' von Außenminister James F. BYRNES an den USPOLAD, Washington, 31. 8. 1945, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/8-3145. 1 3 6 Telegr. .secret' von U S P O L A D Robert MURPHY an den Außenminister, 21. 9. 1945, NA, R G 59, C F 1945^*9 (Conf.), Box 5702, 840.414/9-2145.
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nicht tragen wollte. 1 3 7 Wenn Berlin nicht in Frage käme, plante er, sie in die britische Besatzungszone zu verlegen. Das Department of State widersetzte sich aber dem Einsichtsrecht für Sowjets und Franzosen in die Akten des Auswärtigen Amts, ohne dass diese Gegenseitigkeit gewähren würden, 1 3 8 sowie einer Rückgabe an die Deutschen. 1 3 9 1 3 7 Wie oben Anm. 123: „General Clay said that he had invited the Russians and French to inspect all documents at the MCC [...] near Kassel on truly quadripartite basis. When the British objected to showing Foreign Office documents, he saw as a solution the transfer of those documents into the British zone of occupation where the British would assure responsibility for safekeeping and the United States continue its right of complete access. General Clay feels that in this way the United States will continue to operate on a strictly quadripartite basis as far as documents are concerned and the British be forced to accept full responsibility for refusal to participate in a quadripartite exploitation of Foreign Office documents. [...] I understand General Clay's viewpoint quite clearly, knowing his strong desires to develop a sound and workable quadripartite basis for military government in Germany." 138 „State Department considers it inadvisable at this time to make available to Russians and French archives now held and being processed by joint American and British investigative teams. These include German Foreign Office archives, records of other German ministries dealing with international as foreign trade files, Ministry of Commerce, records of the Auslands Institut, Ibero-American Institute, Ausland Organization (sic), NSDAP, the intelligence files of such firms as Farben, Telefunken, North German Lloyd, Hamburg-American line, Schenker Forwarding Agency and others containing information on German espionage activities and German political and financial penetration and German propaganda activities in foreign countries. If these records are demanded by French and Russians, they should be informed that a document sharing program based upon qualified reciprocity must be worked out among the interested governments. Washington has no evidence to date that either the Russians or the French have made available archives captured by them. It is felt that no useful purposes would be served by making available German Foreign Office documents relating to prewar British-German and American-German activities." Memo, .secret' von Herbert J. CUMMINGS (FC) an H. W. MOSELEY (EUR), [Washington,] 27. 9.1945, NA, RG 59, CF 1945—49 (Conf.), Box 5702, 840.414/9-2745. Hervorhebung von mir, SZ. Vgl. ebenfalls Brief .secret' von H. Freeman MATTHEWS (EUR) an Major General John H. HLLLDRING (Director Civil Affairs Division im War Department), [Washington,] 1. 10. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/9-2745. 139 „Foreign Office archives and archives of other German organizations, public and private, operating overseas as mentioned above should be exploited fully with the view to uncovering all remnants of the German political, military, commercial and propaganda penetration machine in foreign countries. No plans should be made to return these archives to the Germans or to make them available for other secondary purposes until the primary objective has been reached. DEPT will request War to prolong guarding of archives until such time as the investigative utility of the archives has ceased to exist and a policy for their ultimate disposition has been fully agreed upon by all governments concerned. Materials collected by political division investigators from Foreign Office, DAI [Deutsches Auslands Institut] and related files and transmitted by you have been invaluable to DEPT in dealing with Argentina and neutral governments on Pan-German penetration problems. Any relaxation in the exploitation, protection and guarding of these archives at this time will have an extremely adverse effect of DEPT's program dealing with the German threat abroad." Telegr. .secret' vom Außenminister an den USPOLAD, [Washington,] 28. 9. 1945, NA, RG 59, CF 1945^9
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Die Handhabung der Akten des Auswärtigen Amts schuf in der Tat Probleme unter der Kriegskoalition. Waren die Akten der fünf in den Potsdamer Vereinbarungen festgelegten administrativen Ministerien zur Wiederherstellung einer deutschen Zentraladministration für die Franzosen und Sowjets frei einsehbar, so waren das Department of State und das Foreign Office weiterhin der Ansicht, das Auswärtige A m t falle nicht unter die getroffenen Vereinbarungen, womit dessen Akten keine Wichtigkeit für die Wiederherstellung einer deutschen Zentraladministration zukäme und dementsprechend diese nicht auf Viermächte-Basis freizugeben seien. 1 4 0 Somit mussten diese diplomatischen Dokumente vom Militär aufwändig abgeschirmt werden. 1 4 1 Daher war Oberst Newton, der Chef des Zentrums, im Oktober gezwungen, eine sowjetische Militärmission, die sich nach intensiver und - so Murphy intelligenter Auswertung der Bestände im Ministerial Collecting Center auch für die Bestände des Auswärtigen Amts interessierte, mit vagen Ausreden abwimmeln. 1 4 2 Der United States Political Adviser for Germany, Robert (Conf.), Box 5702, 840.414/9-2145, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1118 f. Hervorhebung von mir, SZ. 140 XELEGR. )S ecret' von Außenminister James F. BYRNES an den USPOLAD Robert MURPHY, Washington, 25. 10.1945, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/10-2145, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1126. Diese Argumentationsweise wurde in der Folge wiederholt benutzt. Vgl. beispielsweise unten Anm. 142 und 145; ferner Anm. 70. 141 „Existing operating directives in the American zone already make it possible for representatives of other nations to have access to documentary material. The primary beneficiary in the proposed directive would be the Russians who have very few documents, no organization for their colloc[a]tion and orderly exploitation and whose requests require constant control in order to prevent their access to archives like the Foreign Office archives. USFET [United States Forces, European Theater] feels that the directive in its present form would seriously impair existing security measures in effect." Telegr. .secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 5. 10. 1945, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/10-545. - Aber nicht nur die Akten des Auswärtigen Amts stellten ein Problem dar: beispielsweise wurde eine französische Anfrage vom 18. 2. 1946 betreffend Einsicht in militärische Dokumente vom War Department dilatorisch gehandhabt. Vgl. Brief .secret' von James W. RIDDLEBERGER (Chief, Division of Central European Affairs) an Lt. Gen. Hoyt S. VANDENBERG (Chief of Staff, G-2), [Washington,] 2. 4.1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5703, 840.414/2-1846. 142 Telegr. .secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 16. 10. 1945, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 5702, 840.414/10-1645. „Maximum interest was displayed by Russians in Foreign Office documents. They wanted to know whether, how, and by whom Foreign Office documents were being exploited. They were told by Colonel Newton, head of MCC [Ministerial Collecting Center], that Foreign Office records were not essential in MCC operations since the Foreign Office was not one of the five proposed central ministerial administrations contemplated for Berlin, that little was known at, about the Foreign Office archives and that should more information concerning these files be desired by Russians, application therefore should be made through diplomatic channels. [Safanov] will recommend Russian participation by Russian Liaison'Mission to MCC. Newton strongly urges that should this mission be agreed to, such agreement should be on the condition that Foreign Office documents
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Murphy, erhielt die schwierige Aufgabe, Clay davon zu überzeugen, dass zwar aus amerikanischer Sicht nichts gegen eine Partizipation von sowjetischen und französischen Delegationen an der Auswertung der diplomatischen Dokumente sprach, dass aber aus Freundlichkeit gegenüber den Briten zuerst die anglo-amerikanische Auswertung durchzuführen sei, bevor die Bestände auf Viermächte-Basis freigegeben würden. 143 U m diese auf britische Diskretionswünsche zurückzuführende und für die amerikanischen Behörden unangenehme Situation gegenüber den Sowjets zu beenden, schlug General Clay tout court vor, die diplomatischen Bestände angesichts der britischen Hartnäckigkeit den Briten zu überlassen, und er begann zur großen Verärgerung des Department of State, eigenmächtig mit ihnen darüber zu verhandeln. Dieser Schritt war Ausdruck des Unmuts von Clay gegenüber den Briten. Diese hatten nämlich, als der US-General nach Etablierung des Alliierten Kontrollrates folgerichtig mitgeteilt hatte, dass alle Bestände des Fürstenhagener Ministerial Collection Center den vier Besatzungsmächten zur Verfügung stünden, vehement und prompt gegen eine Freigabe jener Akten des Auswärtigen Amts an französische und sowjetische Vertreter protestiert, die bereits in Fürstenhagen aufbewahrt wurden. Die intransigente britische Haltung war mit der Befürchtung verbunden, die Kontrolle über kompromittierende Angelegenheiten, wie jener über den Herzog von Windsor, zu verlieren. 1 4 4 General Clay nahm den Standpunkt ein, dass alle Dokumente unter Aufbewahrung irgendeiner Besatzungsmacht von den anderen Regierungen einsehbar sein sollten, denn - so seine einleuchtende Argumentation - man könne die Sowjets und die Franzosen schwerlich mit gutem Glauben von der Einsicht eines Teiles der Archive abhalten, nachdem man sie zur Benützung des Ministerial Collection Center eingeladen hatte. Die Argumentation überzeugte die britischen Vertreter trotzdem nicht, und sie protestierten weiter mit der Unterstützung des Department of State gegen die Freigabe, denn die Spezialisten aus den amerikanischen und britischen Außenministerien hatten mit den Militärs nicht nur positive Erfahrungen gemacht und fürchteten die
are not involved and that in order to avoid possible misunderstanding at M C C and to insure complete harmony there, this condition should be made clear to Russians at Berlin level. He also believes that the same condition should apply to the French. Instructions are being given to endeavor to expedite the screening of those records remaining at Marburg." Vgl. ebenfalls Telegr. von U S P O L A D Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 21. 10. 1945, in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1122f. 1 4 3 Wie oben Anm. 123. 1 4 4 Auch Jean Edward Smith, der Herausgeber der Clay Papers, unterstützt diese These. Leider ohne präzisere Angaben kommentiert er lakonisch: „Tangential evidence (sic/) suggests that the British Government was concerned, among other things, over the presence in the German archives of material relating to the pre-war activities of the Duke of Windsor - material subsequently removed following personal British appeal to General Eisenhower." Telegr. [?] ,top secret' von General Lucius D. CLAY an das War Department, s i , 21. 11. 1945, in: Papers of General Clay, Bd. 1, Dok. 60, S. 121 f.
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Kontrolle über die Akten an die Militärs zu verlieren. Nachdem Clay vom Department of State informell über die Position der Außenministerien informiert worden war, 1 4 5 ordnete er an - obschon er seine Meinung nicht geändert hatte - , 1 4 6 dass die Akten des Auswärtiges Amts, die im Fürstenhagener Zentrum gelagert waren, von den restlichen gesondert zu archivieren seien und die Verantwortung dafür nach wie vor bei den beiden Außenministerien zu belassen sei. 1 4 7 Das Foreign Office, das mit der möglichen Übernahme der direkten Kontrolle über die diplomatischen Akten die Möglichkeit gewittert hatte, endlich und endgültig peinliche Enthüllungen abzuwenden, ließ am 26. Oktober 1945, nachdem Clay die Verlegung der Akten in die britische Besatzungszone vorgeschlagen hatte, dem Department of State prompt ein zwar konziliantes, doch im Kern auf eine selektive Akzession für die anderen Mächte zielendes, streng geheimes Aide-mémoire betreffend der Regelung der Übernahme zukommen. 1 4 8 Das Department of State traute aber den Briten offen145 Vgl. dazu das Memo. ,top secret' von H. P. LEVERICH an Major General John H. HLLLDRING (Director der Civil Affairs Division im War Department)], [Washington,] 28. 11. 1945, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5703, 840.414/11-3045: „The State Department appreciates General Clay's desire to maintain in general the exploitation of official German documents on a truly quadripartite basis. It does not believe, however, that this Government is committed to grant French and Russian representatives access to the German Foreign Office archives, in so far as the Foreign Office was not designated one of the central German administrations which should be established under the terms of the Potsdam Agreement. Although the Department agrees with General Clay that from the American viewpoint there is no reason why the Russians and French representatives should not have access to the German Foreign Office archives, it believes that legitimate British rights and interests should be respected. It accordingly believes that British-American exploitation of these documents should be continued and screening procedures employed before eventual release of copies of the documents to the French and the Russians." Daher verlangte das Dep. of State, dass das War Department folgende Instruktionen für die US-Militärbehörden in Deutschland verfasse:
1. Die Akten des Auswärtigen Amts sollen nicht in die britische Zone verlegt werden; 2. Die Akten dürfen nach dem Ministerial Collecting Center verlegt werden; 3. Die Auswertung solle weiter unter anglo-amerikanischer Verantwortung vorangetrieben werden, „in accordance with standing instructions already issued by the Department of State. These instructions make provisions for the appropriate screening of Foreign Office documents before their release to the French and Russians." 1 4 6 Nach wie vor meinte der General: „I know of no reason from American viewpoint here, however, why Russians and French should not be given full access." Telegr. [?] ,top secret' von General Lucius D. CLAY an das War Department, s.l., 21. 11. 1945, in: Papers of General Clay, Bd. 1, Dok. 60, S. 121 f. 1 4 7 Telegr. .secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 23. 8. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/8-2345. Vgl. ebenfalls Telegr. .secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 21. 9.1945, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5702, 840.414/9-2145 und Telegr. .secret' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 10. 10. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/10-1045, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1120. 1 4 8 Selbstverständlich drückte die britische Botschaft die Hoffnung aus, die gemein-
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bar nicht. Im November 1945 stellte es sich offen gegen die .Liquidationspolitik' des War Department 1 4 9 und lehnte einen Transfer in die britische Besatzungszone oder nach Berlin entschieden ab, indem es auf den wunden Punkt hinwies, dass bereits „on previous occasion documents taken to England from the custody of U.S. forces in Germany had not been made available for exploitation by U.S. representatives". 150 Hingegen willigte das Department in den Transfer aller restlichen Akten des Auswärtigen Amts von Schloss Marburg ins Ministerial Collecting Center in Fürstenhagen ein. 151 Nach fast dreimonatiger Bedenkzeit beantwortete das Department of State im Januar 1946 das Aide-mémoire vom 26. Oktober 1945 und willigte immerhin ein, dass „no German Foreign Office documents should be released to representatives of other powers except by joint Anglo-American decision". 1 5 2 Einen Monat später akzeptierte es, dass die britische Regierung „may wish to withhold for the time being a small selected number of these documents." 1 5 3 Die Frage der Einsicht ins Archiv des Auswärtigen Amts für die alliierten Mächte kam im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen erneut auf. same anglo-amerikanische Kontrolle werde weitergeführt, und gestand den anderen Alliierten grundsätzlich ein über die Verfolgung der Kriegsverbrechen hinausreichendes Einsichtsrecht zu. Doch: „His Majesty's Government consider that the fact of their having custody and control of administration of these archives would enable them to safeguard any documents which they or the United States Government wish to reserve from outside inspection." Aide-mém. ,top secret' von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 26. 10. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5702, 840.414/10-2645, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1126 f. 149 Brief ,top secret' von H. Freeman MATTHEWS (EUR) an Major General John H. HLLLDRING (Direktor, Civil Affairs Division im War Department), [Washington,] 16.11. 1945, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 5703, 840.414/11-1645: „The State Department accordingly wishes to request the War Department to instruct the United States military authorities in Germany that the German Foreign Office archives should not be transferred to the British zone, but should be kept for the time being in the United States occupation zone." 1 5 0 Wie oben Anm. 145: „The State Department and its representatives abroad are entrusted with the exploitation for this Government of the German Foreign Office archives. General Clay advised the British that he would have no objection to the transfer of these archives to the British zone without consultation with the State Department or any of its representatives in Germany. The State Department remains strongly opposed to the transfer of the German Foreign Office archives to the British zone." Hervorhebung von mir, SZ. 151 Telegr. ,top secret' von Außenminister James F. BYRNES an den USPOLAD, Washington, 17. 11. 1945, NA, RG 59, CF 1945-^9 (Conf.), Box 5703, 840.414/11-1545, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1129. 152 Memo, .secret' vom Dep. of State [Howard TRIVERS] an die britische Botschaft in Washington, Washington, 16. 4. 1946, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 5704, 840.414/4-1646. Vgl. dazu Aide-mém. wie unten Anm. 167 und Aide-mém. wie unten Anm. 153. 153 Aide-mém. ,top secret' vom Dep. of State an die britische Botschaft in Washington, 25. 2. 1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5703, 840.414/12-1245, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1135f.
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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Im Dezember 1945 hatte der französische Botschafter die britische Regierung formell um die Erlaubnis nachgesucht, dass die französischen Mitarbeiter der Anklage ihre eigene Auswahl an Dokumenten als Beweismittel treffen mögen. Außenminister Ernest Bevin beantwortete die Anfrage ausweichend und versprach einige fotostatische Kopien. Die französische Botschaft kam aber in der Folge erneut auf die Angelegenheit zurück, indem sie unterstrich, dass die französische Regierung Experten für ein eingehendes Studium der Akten beauftragen möchte. Die Briten, die sich selbst in diese unkomfortable Situation hineinmanövriert hatten, kommentierten in einem streng geheimen Aide-mémoire an das Department of State vom 12. Dezember 1945 frustriert: „It is, therefore, clear that the French Government are really interested in access to German political archives generally." Bevin möchte zwar die alliierten Wünsche erfüllen, befürchte aber - so die Argumentation - , dass die französische Expertengruppe, und in der Folge davon ebenfalls die sicherlich zu erwartende sowjetische, die Verfilmungsarbeit in Marburg verzögern würde. Deshalb sollte diesem Begehren erst stattgegeben werden, wenn die Archive einen definitiven Standort erhalten hatten. In der Zwischenzeit sollte dem französischen Anliegen mit dem Zurverfügungstellen der Mikrofilmkopien in London entsprochen werden, selbstverständlich, die Erfahrungen mit den Windsor-Akten hatten zur Vorsicht gemahnt, „with the exception of a small number which it might prove necessary to withhold." 1 5 4 Aber nicht nur sowjetische und französische Einsichtsbegehren verursachten Probleme. Im September 1945 hatte sich auch der erste neutrale Staat hinsichtlich der Einsicht in die deutschen Akten gemeldet, Ende November gar die Presse 155 . Durch die amerikanische Botschaft in Stockholm ersuchte die schwedische Regierung die USA um die Erlaubnis, Dokumente einsehen und Leute in Deutschland befragen zu dürfen. Ziel der Untersuchung war die Aufklärung deutscher und schwedischer nationalsozialistischer Aktivitäten in Schweden. Das Department of State hegte die Befürchtung, die Erlaubnis an Schweden stelle einen Präzedenzfall für die Begehren von anderen Neutralen, wie Spanien, Portugal, Irland und der Schweiz, dar. Wegen der politischen Nähe Francos zum nationalsozialistischen Regime war es für die Amerikaner aber unerwünscht, solche Einsichtnahmen in deutsche Dokumente zu gewähren. 156 Am 22. Oktober 1945 entschied Außenminister James F. Byrnes unzweideutig: „Inasmuch as several high ranking members of certain neutral governments played an active part in assisting Germans prior to and during the war it would seem highly 1 5 4 Aide-mem. ,top secret' von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 12. 12. 1945, NA, RG 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 5703, 840.414/ 12-1245, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1130f. 1 5 5 Telegr. ,conf.' von U S P O L A D Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 29. 11. 1945, NA, RG 59, C F 1945-49, Box 5675, 840.414/11-2945. 1 5 6 Brief ,conf.' von Herschel V. JOHNSON (US-Botschaft in Schweden) an den Außenminister, Stockholm, 21. 9. 1945, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 5674, 840.414/9-2845.
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
undesirable to make German documents relating to such neutral governments directly available to them inside Germany". 157 Erst im Februar 1948, nachdem zuvor beispielsweise norwegische (Dezember 1945 und 1947), niederländische (April 1946 und Mai 1947), belgische (Dezember 1946), 1 5 8 dänische (Januar 1947) und im Laufe des Jahres 1947 ebenfalls polnische, tschechoslowakische, jugoslawische und luxemburgische Missionen Einsicht in die Akten des Auswärtigen Amts erhalten hatten, durfte auch eine schwedische Mission, 1 5 9 als Erste eines Neutralen, Einsicht in die Akten des ehemaligen Auswärtigen Amts nehmen. Der permanente Mangel an fachqualifiziertem und sprachlich gewandtem Personal für die Auswertung der erbeuteten Akten, der rasche Wandel der Befehlsstrukturen und -kompetenzen der Zonenbesatzungsbehörden, vor allem im nachrichtendienstlichen Bereich, und nicht zuletzt die geografische Verlegung vieler Behörden ließ die verantwortlichen militärischen Stellen der US-Besatzungsmacht aufhorchen. Vom 22. bis zum 25. Oktober 1945 organisierte die Documents Control Section im Nachrichtendienst der amerikanischen Streitkräfte in Europa eine große Konferenz mit allen involvierten 1 5 7 Airgram von Außenminister James F. BYRNES an die US-Botschaft in Schweden, Washington, 22. 10. 1945, in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1124. 1 5 8 Ende 1946 genehmigten die britische und die amerikanische Regierung ein belgisches Einsichtsbegehren. Gleichzeitig wurde auch der Grundsatzentscheid gefällt, Gesuchen alliierter Regierungen zu entsprechen: „Brit[ish] and US Gov[ernmen]ts agree in principle to grant requests of other Allied Powers who have applied in Berlin for access [to] German F O N O F F [= Auswärtiges Amt] documents [...]. Access should be granted successively in accordance with available facilities. Order of access should be determined by priority [of] date [of] application in Berlin. Size [of] missions may be limited as deemed desirable." Telegr. ,conf.' von Außenminister James F. BYRNES [aber aufgesetzt von Howard TRIVERS (CE)] an den United States Political Adviser for Germany [Robert MURPHY], Washington, 30.12.1946, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.),
B o x 5 7 0 8 , 8 4 0 . 4 1 4 / 1 2 - 1 4 4 6 . H e r v o r h e b u n g v o n mir, S Z .
Telegr. ,conf.' von Außenminister George C. MARSHALL [aber aufgesetzt von G. Bernard NOBLE] an den United States Political Adviser for Germany [Robert MURPHY], Washington, 10. 2. 1948, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 5678, 840.414/ 1-2948. - Als am 9. 1. 1948 der schwedische Konsul in Berlin beim United States Political Adviser for Germany vorstellig wurde, um die diplomatische Anfrage für die Einsicht in die Akten des Auswärtigen Amts einzuleiten, hielten die Amerikaner fest: „[I)t was pointed out that up to the present no wartime neutrals had been granted access, although to USPOLAD's knowledge none had yet applied. In all probability the admission of Sweden would eventually lead to the application of Switzerland. The Documents Center has no objection to receiving the Swedes." Airgram ,conf.' von USPOLAD Robert MURPHY an den Außenminister (zur Kenntnisnahme an die Division of Foreign Activity Correlation), [Berlin,] 9.1. 1948, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 6760, 862.414/ I-948. Die offizielle schwedische Anfrage folgte am 3. 2. 1948. Mitte Dezember 1948 erhielten die Schweden gar die Erlaubnis, einige Akten des Auswärtigen Amts als Prozessbeweismittel öffentlich zu verwenden. Vgl. Brief .secret' von G. Bernard NOBLE an Carl H. Baron von PLATEN (Erster Sekretär der schwedischen Botschaft in Washington), [Washington,] 15. 12. 1948, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 6836, 862.414/ II-1548. 159
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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amerikanischen Militärbehörden. 1 6 0 Ziel der Konferenz war eine effizientere Ansiedlung der vorhandenen Auswertungsressourcen, eine bessere Koordination zur Vermeidung von Doppelspurigkeiten und schließlich die Festlegung einer Empfehlung zuhanden des Alliierten Kontrollrates betreffend der Vernichtung von Akten und Archiven, denen die Alliierten keine Bedeutung zumaßen, deren Rückgabe an die Deutschen aber aus politischen Überlegungen inopportun erschien oder die von zukünftigem Kriegsnutzen 1 6 1 hätten sein können. Da zu diesem Zeitpunkt die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse bereits begonnen hatten, verlagerte sich das Interesse des amerikanischen Militärs in Bezug auf die erbeuteten Akten stärker auf die Gewinnung von administrativ, technisch und wissenschaftlich relevanten Informationen und vor allem auf das Entnazifizierungsprogramm: „Documentary material is one of the most important sources of information in all fields of German activities. The documents serve not only the purposes of historical reconstruction of events [...] but, they serve as the basis of action of many of the Allied agencies responsible for the administration of the country and the over-all program of denazification. Documentary material also permits the orderly exploitation of technical and scientific information developed by the Germans during their conduct of the war." 162 In der ersten Hälfte des Dezembers 1945 entschied General Clay, alle Dokumente aus dem Ministerial Collection Center von Fürstenhagen bis zum 1. Februar 1946 nach Berlin zu transferieren. Aus Clays Sicht war dies notwendig geworden, um Unkosten und Ressourcen einzusparen und die D o kumente allen vier Besatzungsmächten so schnell wie möglich zugänglich zu machen. Pointiert wies er darauf hin, dass die Briten nun mehrere Monate Zeit gehabt hätten, die Akten des Auswärtigen Amts zu analysieren. 163 In der
1 6 0 Repräsentiert waren: War Department General Staff, Berlin District, United States Forces European Theater, London Military Documents Center, Office of Military Government for Germany (US) Director of Intelligence, Third US-Army, Seventh USArmy, United States Forces Austria, Field Information Agency Technical, United States Air Forces in Europe, Bremen Sub-District, United States naval Forces Europe, United States Naval Forces Germany. Als Beobachter wurden zugelassen: A.C. of S. G-3 US Forces European Theater, Office of Military Government (US Zone) Monuments and Fine Arts, Military Attaché US Embassy London, Judge Advocate General War Crimes Commission, Office of Chief of Counsel (US) for Prosecution of Axis Criminality, Library of Congress Europe, Theater Service Forces European Theater G-2, Office of Military Government for Germany (US) Reparation Delivery and Restitution, Central Tracing Bureau and Records Office UNRRA. 161 TELEGR. [?] ; top secret and personal' von General Lucius D. CLAY an General John H. HLLLDRING, s i , 13. 12. 1945, in: Papers of General Clay, Bd. 1, Dok. 74, S. 136. 162 Report German Documents Conference. 22 October 1945-25 October 1945. United States Forces European Theatre. APO 757, ,conf.', Headquarters United States Forces, European Theater (Main) s.d., NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5703, 840.414/112145. 163 Telegr. [?] ,top secret and personal' von General Lucius D. CLAY an General John H. HILLDRING, s i , 13. 12. 1945, in: Papers of General Clay, Bd. 1, Dok. 74, S. 136, ebenfalls abgedruckt in: FR US. 1945, Bd. 3, S. 1129 f.
192
III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Tat schien es auch für Dr. William P. Cumming, amerikanischer Experte des Department of State bei der Auswertung der Dokumente in Marburg, keine Gründe für eine Nichtbeteiligung der anderen Alliierten zu geben: „He has thus far seen nothing in the archives which might embarrass either the State Department or the Foreign Office and feels that our hands are remarkably clean." 1 6 4 Dazu kam, dass die archivische Situation sowohl in Marburg als auch in Fürstenhagen alles andere als optimal war, 1 6 5 was ebenfalls für eine Verlegung sprach. Diesmal folgte das Department of State der Argumentation der Militärs und genehmigte die Verlegung der Akten des Auswärtigen Amts nach Berlin. 1 6 6 Erwartungsgemäß opponierte das Foreign Office vehement gegen die Verlegung, welche die Auswertungsarbeit, vor allem für die laufenden Nürnberger Prozesse, unterbrechen und den Akten unnötige Publizität verschaffen würde, ohne dass ein gemeinsames anglo-amerikanisches Vorgehen vereinbart worden sei. Als Alternative schlugen die Briten vor, jene Akten des Auswärtigen Amts, die in Fürstenhagen aufbewahrt wurden, zurück nach Marburg zu bringen. 167 Die Angelegenheit gestaltete sich recht kompliziert, herrschten doch nicht nur Meinungsverschiedenheiten zwischen Briten und Amerikanern, sondern auch zwischen dem amerikanischen Verteidigungs- und dem Außenministerium, 1 6 8 ja sogar zwischen dem War Department und der Navy. 1 6 9 Was die 1 6 4 „A Report on the Archives of the Auswärtiges Amt stored at Marburg and Fürstenhagen" .secret', Frankfurt a/M., 15.12.1945, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5704, [FW] 840.414/5-2246. Auch später versicherte das Dep. of State: „The Department sees no objection, if the British Government desires to grant representatives of other powers access in London to microfilm copies of German Foreign Office documents. The Department is not at present aware of any particular documents which it would wish to withhold from representatives of other powers." Aide-mém. wie oben Anm. 153. 165 „One trunk [...] was filled to the top with coffee beans. In other cases [in Fürstenhagen] food was packed together with documents, which may result in damage to the documents by the action of rats." Report wie oben in Anm. 164. 166 „DEPT agrees to removal of German FONOFF archives to Berlin under conditions which will assure continued Anglo-American control and exploitation. [...] War Dept informed and Brit Embassy notified of this decision." Telegr. von Dean G. ACHESON (Acting Secretary) an den USPOLAD, Washington, 17.12.1945, NA, RG 59, CF 1945—49 (Conf.), Box 5703, 840.414/12-1145, ebenfalls abgedruckt in: FR US. 1945, Bd. 3, S. 1131. 167 Aide-mém. von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 20. 12. 1945, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 6759, 862.414/12-2045, Original in: RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 6836, 862.414/12-2046 (sie), wohl aber 862.414/ 12-2045. Vgl. ebenfalls Memo. „Notes on the Question of German Foreign Office Archives" von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 3. 1. 1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 6836, 862.414/1-346. Vgl. ferner Memo, of conversation von Dean G. ACHESON über ein Gespräch mit Earl of HALIFAX, [Washington,] 3. 1. 1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 6836, FW 862.414/1346. 168 Office Memo, von James W. RIDDLEBERGER (CE) an Under Secretary of State Dean G. ACHESON und John D. HICKERSON (EUR), [Washington,] 5.1. 1946, NA, RG 59,
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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Frage der Zulassung von Franzosen und Sowjets betrifft, erteilte Secretary of War, Robert P. Patterson, Außenminister James F. Byrnes in einem streng geheimen Brief vom 24. Dezember 1945, sozusagen als Weihnachtsgeschenk, eine echte Lektion in diplomatischer Rhetorik, indem er mit Nachdruck darauf hinwies, dass eine aufrichtige Kooperation auf Vierer-Basis in dieser Frage direkt mit der friedlichen Lösung weltweiter Probleme im Zusammenhang stehe und das War Department darum ein entsprechendes gemeinsames Programm beginnen möchte. 1 7 0 Trotz weiterer britischer Interventionen 1 7 1 beschloss das Department of State, den Verlegungsbeschluss des War Department nicht mehr umzustoCF 1945-49, Box 6759, 862.414/1-546: „This affair has a complicated history which I shall not recount here beyond stating that not only is there disagreement between us and the British but likewise disagreement between the State and War Departments on the method of dealing with the German Foreign Office archives. For reasons explained by Murphy to Matthews, of which we are not yet informed, the Secretary decided to have the archives moved to Berlin and I would hesitate to take this up again with the War Department unless he concurred." 169 Am 21. 1. 1946 fand in Washington eine Sitzung des „State, War, Navy, Coordinating Committee" statt, bei welcher der Vertreter der Navy stark gegen den Transfer der Akten nach Berlin opponierte. Diese Opposition stimmte den Vertreter des War Department insofern um, als dieses vorschlug, jeglichen Entscheid zu sistieren, bis man mehr über die Angelegenheit erfahren könne. Memo, of conversation von James W. RIDDLEBERGER (Chief, Division of Central European Affairs) über ein Gespräch mit Donald D. MACLEAN (Erster Sekretär der britischen Botschaft in Washington), [Washington,] 21. 1.1946, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 5675, 840.414/1-2146. 1 7 0 Brief ,top secret' vom Secretary of War (Robert P. PATTERSON) an den Außenminister, Washington, 24. 12. 1945, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 5703, 840.414/122445, Kopie in NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5708, 840.414/12-2445, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1132f. Vgl. die Antwort in Brief ,top secret' von Dean G. ACHESON (Acting Secretary of State) [aber aufgesetzt von Howard TRIVERS, (CE)] an Kenneth C. ROYALL (Acting Secretary of War), [Washington,] 21.1. 1946, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 5708, 840.414/2-2445, ebenfalls abgedruckt in: FRUS. 1945, Bd. 3, S. 1133-1135. Vgl. ferner Telegr. .secret, US urgent' von Dean G. ACHESON (Acting Secretary) [aber aufgesetzt von Howard TRIVERS (CE)] an den USPOLAD in Berlin, Washington, 22. 1. 1946, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 5703, 840.414/1-2246. 171 Memo. „Further Notes on Question of the German Foreign Office Archives" von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 11.1. 1946, NA, RG 59, CF 1945-19 (Conf.), Box 6836, 862.414/1-1146: „It is, however, quite another matter to include in this move the German Foreign Office Archives both at Furstenhagen and Marburg the interest of which is political and historical. For the reasons already given His Majesty's Government consider that such a move would be a mistake. [...] It is learned that the United States military authorities have now begun moving the personnel and documents of the Ministerial Collecting Centre at Furstenhagen to the United States sector of Berlin. The three hundred tons of German Foreign Office Archives would be the last to leave Furstenhagen but are due to be moved during the first week of February. Thereafter it is understood that the intention is to proceed at once to take the Marburg Archives to Berlin. It is hoped that instructions will be issued to prevent His Majesty's Government being faced with a fait accompli in this matter in which they have a joint interest with the United States Government."
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
ßen, versicherte aber den Briten, dies werde die Frage der Freigabe der Dokumente keineswegs präjudizieren, 172 und instruierte Murphy, den Dokumententransfer so rasch als möglich durchzuführen. 1 7 3 Trotz der abgegebenen Versicherungen nahmen die Briten am 19. Januar 1946 die Gelegenheit des Besuches von Außenminister James F. Byrnes wahr, um wiederum ihre Unzufriedenheit mit der Verlegung der Archive nach Berlin kundzutun. 1 7 4 Zwei Tage später informierte die britische Botschaft in Washington, dass das Foreign Office weiterhin nicht zufriedengestellt sei und die Angelegenheit nun direkt von Premierminister Ernest Bevin mit dem in London weilenden Außenminister James F. Byrnes besprochen würde. Als im Januar 1946 die Verlegung der Akten von Marburg und Fürstenhagen nach Berlin begann, waren die dazu bestimmten SS-Baracken in der Nähe des Flughafens Tempelhof für die Aufnahme der Archive noch nicht fertig gestellt. Da Instandsetzungsarbeiten bis Mitte März geplant waren, wurden die Akten in provisorischen Zwischenlagern gestapelt. Dies veranlasste wiederum Lord Halifax, britischer Botschafter in den USA, erneut zu reklamieren. 175 H. Freeman Matthews, Direktor des Bureau of European A f fairs im Department of State, der unter permanenten Druck der Briten geraten war, verteidigte sich in einem geheimen Memorandum vom 31. Januar 1946 an Außenminister James F. Byrnes vehement, widerlegte sachlich die britischen Argumente und sprach Klartext: „Aside from a desire to facilitate the exploitation of the archives, we have agreed to their transfer because we thought that these invaluable historical records could best be preserved for the future at Berlin. It is contrary to United States law for an officer of an executive department to alienate or destroy official archives under U.S. control, except in accordance with statutory provisions set down by Congress for this purpose. These provisions may apply to the German Foreign Office archives. I personally do not believe in efforts to alter historical records by the destruction or permanent withholding of official documents. Quite frankly, conditions at Marburg are such that the British 172
Aide-mém. wie oben Anm. 167. Vgl. ferner Memo, von TRIVERS wie oben Anm.
152. 173
Telegr. .secret' von Dean G. ACHESON (Acting Secretary) an den USPOLAD,
16. 1. 1946, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), B o x 5703, 840.414/1-946. V g l . ebenfalls
Telegr. .secret, no stencil, no distribution' von Dean G. ACHESON (Acting Secretary) an
d e n U S P O L A D , 1 6 . 1 . 1 9 4 6 , N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 ( C o n f . ) , B o x 5 7 0 3 , 8 4 0 . 4 1 4 / 1 946. 174
Telegr. .secret' von Außenminister James F. BYRNES an den USPOLAD in Berlin,
W a s h i n g t o n , 7. 2. 1946, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 - 4 9 ( C o n f . ) , B o x 5703, 840.414/1-2246. 175 Brief .secret, immediate, by special messenger' von Earl of HALIFAX (britischer Botschafter in Washington) an Außenminister James F. BYRNES, Washington, 29. 1. 1946,
N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5703, 840.414/1-2946: So fehlten an den Bara-
cken nach britischer Einschätzung drei Viertel der Fenster, die Türen waren ausgehängt, die Böden beschädigt, es gab weder eine Heizung noch Elektrizität, was die geplante Verfilmung verunmöglichte. Kurz und zynisch meinte Halifax: „It is believed that little or no exploitation could take place for until approximately one or two months after the move had been completed. Arrangements appear to be based on an intention to store rather than exploit."
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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are, in the opinion of some of our people, enabled thereby to play fast and loose with the documents there. I feel sure they would not hesitate to remove any which showed appeasement policies of high British personalities in an unfavorable light. We have on occasion had difficulty obtaining micro-film copies of certain documents. The British, on one occasion, formally requested us to sanction the destruction of certain documents dealing with the Duke of Windsor's passage through Spain and Portugal in the summer of 1940. I think that we should protect legitimate British rights and interests with respect to the German Foreign Office archives, in particular in the matter of releasing them to representatives of other powers, but that we should have in mind our large responsibility towards the security and safeguarding of these irreplaceable historical archives." 176
In seiner Antwort an Lord Halifax übernahm Außenminister Byrnes die Argumentation seines Department und verteidigte den Verlegungsentscheid der amerikanischen Behörden sachlich. Nicht bloß als kleine diplomatische Geste, sondern auch als Wink mit dem Zaunpfahl, dass man die eigentlichen Beweggründe für die britische Opposition durchschaue, versicherte er nochmals, dass die Frage der Freigabe der Akten des Auswärtigen Amts nur unter gemeinsamer anglo-amerikanischer Entscheidungsfindung gelöst werde. 177 Aller Opposition zum Trotz konnte nun endlich die lange umstrittene Verlegung der Akten des Auswärtigen Amts von Marburg und Fürstenhagen nach Berlin binnen eines Monats vollzogen werden. Ironischerweise förderte die britische Niederlage in der Frage der Verlegung der Archive indirekt das Projekt einer Publikation der Akten des Auswärtigen Amts. So schlug am 13. Februar 1946 das Foreign Office dem Department of State vor, Gespräche zur Frage einer Aktenedition einzuleiten. Dass dieser Vorschlag zu diesem Zeitpunkt kam, war keineswegs zufällig: Nach der Verlegung der Akten des Auswärtigen Amts nach Berlin befürchteten die Briten, die amerikanischen Militärbehörden würden sie vor einen fait accompli stellen und auch den Sowjets Einsicht in die erbeuteten Bestände gewähren. Mit ihren Vorschlägen beabsichtigen die Briten nun, eine anglo-amerikanische Regelung herbeizuführen, bevor der sowjetische Alliierte ins Projekt involviert war. Der Vorschlag unterstrich denn auch die besondere Pflicht, die beiden Regierungen bei der Frage einer Veröffentlichung zukäme, insbesondere in Bezug auf ein zunehmendes Interesse der internationalen Öffentlichkeit für eine „authoritative publication covering a wider field." Deswegen sei ein baldiger anglo-amerikanischer Entscheid über die zukünftige Vorgehensweise und Partizipation von Vorteil, vor allem weil 176 Memo, .secret' von H. Freeman MATTHEWS (EUR) an Außenminister James F. BYRNES, [Washington,] 31. 1. 1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5703, FW 840.414/1-2946: „I should like also to assure you again that this transfer does not in any way prejudge the question of the release of this material to representatives of other powers. It is my view that no documents should be released except by joint AngloAmerican decision in accordance with agreed procedures." Vgl. ferner oben Anm. 174. 1 7 7 Brief .secret' von Außenminister James F. BYRNES [aufgesetzt von Howard TRIVERS (CE)] an Earl of HALIFAX (britischer Botschafter in Washington), [Washington,] 4. 2. 1946, NA, RG 59, CF 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5703, 840.414/1-2946.
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
eine französische und sowjetische Beteiligung eine höhere Legitimation des Unternehmens vor der Weltöffentlichkeit bedeutet hätte. Das Foreign Office bekundete aber gegen eine sowjetische Beteiligung weiterhin große Bedenken, denn dies hätte der UdSSR ermöglicht, sofort Einsicht in die Archive zu verlangen. Daher schlugen die Briten vor, so rasch als möglich informelle Gespräche zwischen britischen, amerikanischen und französischen Diplomaten oder Historikern in London zu genehmigen. Durch die gemeinsame Wahl eines beratenden Komitees von Historikern, das angesehene und unparteiische Herausgeber ernennen würde, beabsichtigte der britische Vorschlag, eine spätere deutsche Edition, wie die Große Politik nach dem Ersten Weltkrieg, zu unterbinden: „The production of an unbiased and authoritative publication edited in this way should preclude the subsequent publication of a tendentious German collection such as was made after the last war." 178 In seiner Antwort wies das Department of State darauf hin, dass eine französische Beteiligung auf keinen Fall vor einer sowjetischen in Frage komme, und schlug als Erstes anglo-amerikanische Vorgespräche vor, um bald auf Viererbasis weiter verhandeln zu können. Sibyllinisch - der Verweis auf die britischen Zensurwünsche bei den Windsor-Akten war nicht zu übersehen fügten die Amerikaner hinzu: „The State Department agrees heartily with the British Government that an objective, impartial, and authoritative collection of German documents, published under the auspices of the four control powers in Germany would be most desirable from the standpoint of its impression on world opinion. This will be true, of course, only if the publication is edited in accordance with the highest standards of contemporary historical research. The Department recognizes the difficulties as does surely the British Government, which will confront the endeavor to issue an objective honest historical collection under quadripartite auspices."
Und diplomatisch durchaus korrekt, doch den Fingerzeig kaum verhüllend, unterstrich das Department, dass man, sollte sich eine Verständigung unter den vier Mächten nicht erreichen lassen, wegen der Wichtigkeit einer objektiven Veröffentlichung und um spätere tendenziöse Schriften zu verhindern, eine Publikation im Alleingang in Betracht ziehen würde, am besten durch Historiker aus dem privaten Bereich. 179 1 7 8 Aide-mém. .secret' von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 13. 2.1946, N A , RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5703, 840.414/21346: „The type of publication which His Majesty's Government have in mind would be an impartial and authoritative collection consisting of a selection from the German Foreign Office archives and any other papers concerned with German high policy or German internal policy which may have become available from other German sources." Vgl. ferner Brief .unrestricted' von William BENTON (Dep. of State) an W. Averill HARRIMAN (US-Botschafter in London), [Washington,] 31. 5.1946, NA, RG 59, C F 1945-49, Box 5676, 840.414/5-3146). 1 7 9 Aide-mém. .secret' vom Dep. of State [aufgesetzt von Howard TRIVERS (CE)] an die britische Botschaft in Washington, [Washington,] 7. 3. 1946, Ν A, RG 59, C F 194549 (Conf.), Box 5703, 840.414/2-1346: „It is believed that the employment of historians
1. Akten im Krieg und während der Besatzung. 1943-1946
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Die befürchtete formelle Anfrage der französischen Regierung kam im April 1946, und das Department of State beabsichtigte, durch dilatorische Handhabung Zeit für die Vervollständigung der anglo-amerikanischen nachrichtendienstlichen Auswertung und für die anglo-amerikanischen Gespräche betreffend der Aktenpublikation zu gewinnen. 1 8 0 In verschiedenen G e sprächen mit britischen Diplomaten versuchte das Department of State, ein Junktim zwischen der Frage der französischen Einsichtnahme und jener der Sowjetunion und anderer verbündeter Mächte herzustellen, 1 8 1 dem das F o reign Office aber durch eine pragmatische Handhabung zuerst auszuweichen versuchte. 1 8 2 Schließlich mussten die Briten d o c h einlenken und für eine eventuelle sowjetische Anfrage die gleichen Konditionen wie für die F r a n z o sen gewähren. 1 8 3 E n d e Mai 1946 hatte die Frage der Einsichtnahme der französischen und sowjetischen Verbündeten in die Akten des Auswärtigen A m t s endlich eine A n t w o r t gefunden. 1 8 4 Das Department of State und die US-Militärbehörden in Deutschland konnten in Bezug auf die Partizipation der U d S S R ihre Sicht durchsetzen, freilich ohne konkrete Folgen, denn eine Anfrage aus Moskau traf nie ein.
Vierte
Zwischenbilanz
Vom westalliierten U m g a n g mit den zuerst in von Deutschland besetzten Gebieten und später v o r allem in Deutschland erbeuteten Akten und Archiven können wir für die Zeit von 1943 bis 1946 folgende Punkte festhalten:
from private life rather than exclusive use of government officials would tend to guarantee the objectivity of the publication and favor its public reception." Vgl. ebenfalls Brief von BENTON wie oben in Anm. 178. 180 Telegr. .secret' von Außenminister James F. BYRNES an den USPOLAD, Washington, 10.4. 1946, NA, R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 5708, 840.414/4-1046. Vgl. ebenfalls Memo, von TRIVERS wie oben Anm. 152 und unten Anm. 182. 181 Memo, of conversation von Howard TRIVERS (Central European Division im Dep. of State) über ein Gespräch mit Herbert M. SICHEL (Erster Botschaftssekretär der britischen Botschaft in Washington), [Washington,] 30. 4. 1946, NA, R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 5676, 840.414/4-3046. 1 8 2 Memo, of conversation von Howard TRIVERS über ein Gespräch mit Herbert M. SICHEL, [Washington,] 10. 5. 1946, NA, R G 59, C F 1945^19, Box 6759, 862.414/5-1046. 1 8 3 Aide-mém. von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 24. 5. 1946, NA, R G 59, C F 1945-49, Box 5676, 840.414/5-2446. 184 Telegr. .secret, US urgent' vom Dep. of State an den U S P O L A D , Berlin, [Washington,] 29. 5. 1946, NA, R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 6836; Entwurf in NA, R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 1, „Untitled": „US and B R I T G O V T S pleased to grant French request for access to German F O N O F F documents now in Berlin, on a basis of full reciprocity. [...] Access is granted on condition that French G O V T will not publish any German F O N O F F documents without prior agreement of B R I T and US GOVTS. For your info, B R I T and US G O V T S agree that similar answer should be made in event of similar request from Soviet GOVT."
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Erstens: Die westalliierte Aktenerbeutung war ein von langer Hand detailliert geplantes, nachrichtendienstliches Unternehmen unter militärischer Führung, in welches verschiedenste amerikanische und britische zivile Behörden involviert waren. Zweitens: Für die amerikanischen Behörden, sowohl für das Militär wie auch für das Department of State, bestand das primäre Ziel darin, Informationen über Japan zu sammeln, um sie der Kriegsführung zur Verfügung zu stellen. Bald zeigte sich aber, dass die deutschen Archive kaum unmittelbar militärrelevante Informationen für den Krieg in Ostasien enthielten. Sekundäre Ziele der amerikanischen Planung waren die Sicherung eines wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Informationsgewinns, wie beispielsweise im Bereich von Patenten und deutscher Technologie im Sinne einer Wirtschaftsspionage. Ferner lieferten die erbeuteten Aktenbestände wertvolle Informationen sowohl für das Safehaven-Programm als auch für die Regelung der Frage der fremden Guthaben, primär der deutschen, aber auch der neutralen. Drittens: Für die britischen Behörden und insbesondere für das Foreign Office stand hingegen bereits in dieser Phase die Sicherung der Quellen zum Nachweis der deutschen Kriegsschuld im Vordergrund. Viertens: Aus deutscher Sicht ist die weitgehende Missachtung der Aktenvernichtungsbefehle seitens der deutschen Archivare und Beamten zu vermerken. Nebst der Tatsache, dass für viele dieser Staatsdiener die Zerstörung ihrer eigenen Archive, vor allem zu einem Zeitpunkt, an dem die militärische Niederlage deutlich sichtbar war und mögliche Sanktionen praktisch ausgeschlossen werden konnten, ein emotionales Ding der Unmöglichkeit darstellte, stand in vielen Fällen die opportunistische Erwägung im Vordergrund, sich mit den Akten bei den Alliierten loszukaufen (,νοη Loesch-Syndrom'). Fünftens: Bereits seit den ersten Aktenfunden wurde den Westalliierten klar, dass die Enthüllung der deutsch-sowjetischen Beziehungen die Kriegsallianz auf eine Bewährungsprobe stellen würde. In der Tat waren die Amerikaner und die Briten noch während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gewillt, den sowjetischen Verbündeten politisch zu decken. Sechstens: Die Frage des Einsichtsrechts in die erbeuteten Akten stellt einen Indikator für die asynchrone Entwicklung des Kalten Krieges innerhalb der westalliierten Behörden dar. Das amerikanische Militär, insbesondere General Lucius D. Clay, drängte in dieser Phase darauf, sowjetischen (und als Nebenerscheinung: französischen) Delegationen Einsicht in die erbeuteten Aktenbestände zu gewähren, was generell für jene Archivbestände, die direkt unter militärischer Kontrolle standen, auch geschah. Diese Haltung zu Gunsten einer gleichberechtigten sowjetischen Partizipation an der Auswertung der erbeuteten Bestände verdeutlicht in dieser Phase die Bestrebungen des Militärs, in der Frage der gemeinsamen Verwaltung Deutschlands eine ausgewogene Lösung zu finden. Das amerikanische und insbesondere das britische Außenministerium hingegen verfolgten bereits einen politi-
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1 9 4 6 - 1 9 6 0
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sehen Kurs, der die Logik einer bipolaren Weltordnung vorwegnahm. Schließlich konnten sie erreichen, dass die Sowjetunion keine Einsicht in die Akten des Auswärtigen Amts erhielt. Siebtens: Die aus den deutschen Archiven gewonnenen Informationen wurden für die Anklage in den Kriegsverbrecherprozessen genutzt. Zumindest in einigen Fällen kann nachgewiesen werden, dass sowohl das Department of State als auch das Foreign Office versuchten, diese Informationen zu kontrollieren. Achtens: Als eine regelrechte Informationsflut aus den deutschen Archiven in Washington eintraf, begann das Department of State, diese gewonnenen Informationen ad hoc direkt für politische Zwecke umzumünzen. Dieses politisch motivierte und keineswegs historisch gedachte Unternehmen richtete sich in einer ersten Phase vor allem gegen die Neutralen. In den Fällen von Argentinien und Spanien wurden Farbbücher oder Dokumente im Department of State Bulletin veröffentlicht, die so überstürzt herauskamen, dass die angegriffenen Regierungen den Schlag leicht abwehren konnten. Im Falle der Schweiz dienten die deutschen Archive als Informationsgrundlage für die Verhandlungsdelegation zur Frage deutscher Vermögenswerte.
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg 1946-1960 Bereits während der militärischen Phase des späteren Editionsprojektes der Documents on German Foreign Policy wurden die gewonnenen historischen Informationen publizistisch, will heißen propagandistisch, ad hoc und direkt für politische Zwecke umgemünzt. Der Erfolg dieser ad-hoc-Veröffentlichungen oder farbbuchartigen Publikationen blieb aber bescheiden. Das mit der Zeit das militärische ablösende, im Zuge der Entnazifizierung und durchaus als Teil des reeducation-program konzipierte historische Projekt beabsichtigte außenpolitisch, einen deutschen Revisionismus präventiv zu verunmöglichen, und innenpolitisch, Legitimation für die eingeschlagene Deutschlandpolitik zu sichern. Das Projekt, vor allem seitens des Foreign Office bereits während des Krieges als Aktenedition gedacht, richtete sich explizit gegen eine spätere deutsche Publikation, wie es die Große Politik der Europäischen Kabinette nach dem Ersten Weltkrieg gewesen war. Der in einem ersten Kapitel geschilderte Entscheidungsprozess, der zur Vereinbarung über das gemeinsame anglo-amerikanische Publikationsunternehmen führte, zeigt den Einfluss der Editionserfahrungen während der Zwischenkriegszeit auf: Explizit wurde auf die englische Edition der Documents on the Origins of the War als Vorbild verwiesen, und entsprechend garantierten die am Projekt beteiligten Regierungen den Herausgebern volle editorische Freiheit. Dass aber politische Einflussnahme ausgeübt wurde, wird in einem
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
zweiten Kapitel anhand der zwar historisch akkuraten, doch eindeutig als Akt der Propaganda gegen die Sowjetunion zu wertenden Veröffentlichung der Nazi-Soviet Relations dargestellt, einer Publikation, deren Vorbereitung, Verzögerung und schließlich durchgeführte Veröffentlichung sich hervorragend als Indikator für die Datierung des Beginns der propagandistischen Phase in der Entwicklung des Kalten Krieges eignet. Die Transformation
des nachrichtendienstlichen
zum historischen
Projekt
Die Transformation der Auswertung der erbeuteten Akten von einem nachrichtendienstlichen zu einem historischen Projekt wurde seit dem Frühling 1946 schrittweise eingeleitet, was ein (nicht immer konfliktfreies) Nebeneinander beider Projekte bis ins Frühjahr 1948 zur Folge hatte. Nachdem im Herbst 1946 die zwei unterschiedlichen Projekte und Zielrichtungen klar definiert worden waren, wurden sie auch unterschiedlich benannt: Die seit Kriegsende erfolgende nachrichtendienstliche Auswertung trug den Projektnamen Exploitation of German Archives (EGA) und war innerhalb des Department of State der Division of Foreign Activity Correlation (FC) unterstellt, während das historische „long-range publishing project" als German War Documents Project (GWDP) definiert und von der Division of Historical Policy Research (RP) geleitet wurde. 185 Die Briten ihrerseits stellten beide Projekte unter die alleinige Obhut des Librarian des Foreign Office. In der Tat hatte das Foreign Office bereits während des Krieges mit der Planung der Erbeutung der deutschen Akten stets auch eine Aktenedition anvisiert. Diese politische Entscheidung spiegelte die Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg wider, als die deutsche Edition Die Große Politik der Europäischen Kabinette eine die deutsche Schuld am Kriegsausbruch relativierende revisionistische historische Interpretation begünstigt hatte. Diese Deutung der Geschichte hatte Großbritannien und Frankreich stark unter Druck gesetzt, einen Druck, dem die ehemaligen Mächte der Entente ihrerseits durch die Auflage eigener Akteneditionen zu entweichen suchten. 186 Diesmal sollte dem deutschen Revisionismus die Quellengrundlage durch eine von den Siegern herausgegebene Dokumentation zur nationalsozialistischen Außenpolitik gar entzogen werden. Der Fokus seitens der anglo-amerikanischen Außenministerien auf die Außenpolitik und dementsprechend auf das Auswärtige Amt reflektierte nicht nur die Einschätzung ihrer eigenen Rolle in der Weltgeschichte, sie spiegelte vielmehr eine klassisch aufgefasste und antiquierte historische Denkweise der Geschichte an sich wider. Eigentlich hätten sowohl die Bestände der N S D A P als auch diejenigen anderer Ministerien, wie beispielsweise jene des Reichsministeriums für Volksaufklärung Wie oben Anm. 113. 186 Vgl. die Kapitel „British Documents on the Origins of the War" und „Documents diplomatiques français", S. 77-92. 185
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1946-1960
201
und Propaganda, welche aber die amerikanischen Streitkräfte den sowjetischen überlassen h a t t e n , 1 8 7 oder eine D o k u m e n t a t i o n zu den Kriegsgräueln und zur systematischen Judenvernichtung sich viel mehr für die anglo-amerikanischen politischen Zielsetzungen eignen k ö n n e n , als dies die A k t e n aus dem v o n den alten Eliten besetzten und daher dem Nationalsozialismus vergleichsweise resistenten Auswärtigen A m t e r m ö g l i c h t e n . 1 8 8 D i e Transformation des P r o j e k t e s zu einem historischen U n t e r n e h m e n verdeutlicht gleichzeitig den latenten K o m p e t e n z s t r e i t zwischen der D i v i sion o f Foreign Activity Correlation, der nachrichtendienstlichen Abteilung im D e p a r t m e n t o f State, und der Division o f R e s e a r c h and Publication, der Historischen Abteilung. D i e s e r Streit war von Differenzen zwischen dem D e p a r t m e n t of State und dem Militär überlagert und schwelte bereits seit dem B e g i n n der Auswertungsphase, verschärfte sich aber zusehends. M i t t e F e b r u a r 1946 b e m e r k t e Dr. E . R a l p h Perkins, C h e f der R e s e a r c h - U n t e r a b t e i lung der RP, dass „I have reluctantly b e c o m e convinced that unless F C is given a strong directive b y higher authority w e must s o m e h o w w o r k out the historical exploitation o f the G e r m a n documents o n a separate b a s i s . " 1 8 9 D i e Frage einer Aktenedition der deutschen diplomatischen D o k u m e n t e war eng mit der F r a g e einer sowjetischen Partizipation verbunden, gegen welche sich die Briten sträubten. A m 13. F e b r u a r 1946 schlug das britische Außenministerium aus F u r c h t , die A m e r i k a n e r würden sie mit der Verlegung der A k t e n nach Berlin in der Frage der sowjetischen Partizipation vor einen fait accompli stellen, dem D e p a r t m e n t o f State vor, Gespräche betreffend der Frage einer Aktenedition aufzunehmen, u m Herausgeber „of k n o w n repute and impartiality" zu bestimmen. D a s britische Ziel war gegen einen deutschen Revisionismus gerichtet: „ T h e p r o d u c t i o n o f an unbiased and authoritative publication edited in this w a y should preclude the subsequent publication o f a tendentious G e r m a n collection such as was made after the last w a r . " 1 9 0 In der L o g i k der Kriegsschuldkontroverse schlug das Foreign O f f i c e folgerichtig ebenfalls vor, das französische Außenministerium zu diesen Gesprächen einzuladen. M i t einer frühen Regelung der E d i t i o n auf einer D r e i - M ä c h t e - B a s i s beabsichtigte das F o r e i g n O f f i c e , den gefürchteten s o w jetischen O b s t r u k t i o n i s m u s einzudämmen. D a s D e p a r t m e n t o f State durchschaute die britischen A b s i c h t e n , bestätigte am 7. M ä r z das Interesse am his-
Vgl. oben S. 165. 188 Digs unterstützt Andreas Hillgrubers These, dass die Pläne zur Teilung Deutschlands primär aus außenpolitischen Erwägungen zugunsten eines europäischen Gleichgewichts und nicht als Strafe für die Judenvernichtung geschmiedet wurden. Vgl. Andreas HlLLGRUBER, Zweierlei Untergang: die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986. 1 8 9 Wie oben S. 105, Anm. 348. 1 9 0 Aide-mém. .secret' von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 13. 2. 1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 5703, 840.414/ 2-1346. 187
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
torischen Projekt und zeigte sich bereit, anglo-amerikanische Gespräche aufzunehmen, wies aber eine französische Partizipation vor einer sowjetischen entschieden z u r ü c k . 1 9 1 D e r entscheidende Beschluss auf politischer Ebene in der amerikanischen Administration, die deutschen Akten objektiv und unzensiert zu veröffentlichen, erfolgte E n d e Mai 1946, als im Department of State auf Stufe U n d e r Secretary of State ein wichtiges, von der Historischen Abteilung initiiertes M e m o r a n d u m zirkulierte, das die Argumente für eine alliierte Publikation als präventive Maßnahme gegen eine spätere apologetische deutsche Edition wie die Große Politik der Europäischen
Kabinette
zusammenfasste:
„The possession of the German Foreign Office Documents and other official papers by the British and United States Governments affords a unique opportunity to publish a record of German diplomacy from 1918 to 1945 before the documents are handed back to the German Government. It is now possible to make sure that incriminating documents in these files will not be suppressed as would probably happen if a future German Government, following the example of the Weimar Republic as regards the German diplomatic papers of 1871-1914* were to publish the documents of the period between the wars. [...] The principal point is to insure that the publication shall be an honest and complete one, that documents shall not be suppressed or omitted because their contents reflect upon one of the participating governments. [...] Collaboration involves such risks. If, for instance, the U.S.S.R should agree to collaborate but should insist upon the omission of certain very important papers, will the Department feel that Russians good will is more important than a complete and honest record?" Daher sollten für das Unternehmen Historiker von höchster Reputation gewonnen werden, denn sie würden - und hier wurde explizit auf das v o n G o o c h und Temperly geleistete Versprechen bei der Edition der British Documents on the Origins of the War verwiesen - zurücktreten, 1 9 2 falls ihre Selektion der D o k u m e n t e durch politische Einflussnahme in Frage gestellt würde. O b s c h o n durchaus auch auf eine gewisse Selbstdisziplinierung der Herausgeber gehofft w u r d e , 1 9 3 war die zentrale Frage, ob das Department bereit war, das historische Urteil der Herausgeber auch bei Opposition ausländischer Regierungen und auch in Fällen, in denen das Department selbst eine andere Meinung vertrat, voll zu unterstützen. 1 9 4 U n d e r Secretary of State Francis H . Russell, der das M e m o r a n d u m in U m l a u f brachte, stellte folgende Hauptfragen: ob das Department mit der Publikation der deutschen 191 Aide-mém. .secret' vom Dep. of State [aufgesetzt von Howard TRIVERS (CE)] an die britische Botschaft in Washington, [Washington,] 7. 3. 1946, NA, R G 59, C F 194549 (Conf.), Box 5703, 840.414/2-1346. 192 Vgl. Kapitel „British Documents on the Origins of the War", insbesondere S. 82f. 1 9 3 „It is hoped that the American scholars will show reasonable discretion in refraining from publishing papers which are scurrilous or misleading". Wie unten Anm. 194. 1 9 4 Memo. „Issues Involved in the Proposed Publication O f German Official Documents" [aufgesetzt in der Division of Research and Publication], s.l., s.d. [Mai 1946], NA, R G 59, C F 1945-49, Box 6759, F W 862.414/5-2846. Das Dokument zirkulierte als Beilage des unten in Anm. 195 angegebenen Dokumentes. Abgedruckt im Anhang: Dok. 4, S. 348-350.
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Akten auch bereit sei, solche Angelegenheiten wie die deutsch-sowjetischen Beziehungen trotz der erwarteten sowjetischen Opposition zu veröffentlichen, und generell, ob das Department bereit sei, eine Politik völliger Enthüllung zu verfolgen, auch wenn sich herausstellen sollte, dass sich gewisse D o kumente für die Truman-Regierung als etwas peinlich herausstellen sollten, 195 wie beispielsweise die Korrespondenzen des ersten amerikanischen Botschafters in der UdSSR, William C. Bullit, der eine der wenigen kritischen Stimmen gegenüber der Sowjetunion in der Roosevelt-Administration gewesen war. 196 In seiner Antwort wies der Direktor der Abteilung für Europäische Angelegenheiten, John D. Hickerson, auf die sich aus dem Argument der Großen Politik ergebende Implikation hin: „It seems to me that this Government should not consider publishing in any way under its name a collection of German official documents if it is not prepared to let the whole story be told honestly, in accordance with the best criteria of historical research." 1 9 7
Abgesehen davon, dass die Amerikaner, wie wir bereits bei der Frage des Zugangs für französische und sowjetische Missionen gesehen haben, keine für sie (allzu) gefährlichen Enthüllungen aus den Akten des Auswärtigen Amts befürchteten, stand zu diesem Zeitpunkt in der sich abzeichnenden Krise in den Ost-West-Beziehungen vor allem die Frage im Zentrum, ob mit der Veröffentlichung der Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1939 und 1941 ein Propagandaschlag gegen die Sowjetunion bereits erwünscht sei. Dieser Aspekt wird, sozusagen als Lackmustest für den sich entfaltenden Kalten Krieg, im nächsten Kapitel eingehend diskutiert. Die von Under Secretary of State Russell gestellten Fragen wurden - bedenkt man die strikten Zensurverfahren innerhalb des Department of State bezüglich der Edition der Foreign Relations of the United States - mit er-
1 9 5 Office Memo, von Under Secretary Francis H. RUSSELL an John D. HICKERSON (Direktor von E U R ) , Assistant Secretary William BENTON und Under Secretary Dean G. ACHESON, [Washington,] 28. 5. 1946, N A , R G 59, C F 1945-49, Box 6759, 862.414/ 5 - 2 8 4 6 . Eine Abschr. befindet sich in: R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 6836, 862.414/ 2 - 1 3 4 7 . - Vgl. ferner den Entwurf eines Memorandums .secret, security info.' [wahrscheinlich von Dr. Paul R. SWEET, denn die Marginalie trägt Sweets Handschrift: „draft, July 2 8 , 1 9 5 3 " ] , s.l., 28. 7. 1953, Archives of the Hoover Institution on War, Revolution and Peace, Stanford University, Stanford (Ca.), von nun an abgekürzt: A H I , „Paul R. Sweet Collection".
Vgl. Wilfried LOTH, Die Teilung der Welt. 1941-1955, München 8 1990, S. 42. Office Memo, [von John D. HLCKERSON (Direktor von EUR)], [Washington,] s.d. [Ende Mai 1946], N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 6759, 8 6 2 . 4 1 4 / 5 - 2 8 4 6 : „I recommend that an affirmative answer be given to both of the questions in Mr. Russell's attached memorandum. The British Government has proposed publication on quadripartite auspices of an objective, impartial and authoritative collection of German foreign office and other related German archives. The Department has in principle accepted this proposal, without any reservation regarding the selection of documents." Hervorhebung von mir, SZ. 196 197
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staunlicher Offenheit bejaht. 198 Ein Jahrzehnt später, als die Herausgeber der Documents on German Foreign Policy massiv unter den zensierenden Druck der britischen, der französischen und der schweizerischen Regierung, aber auch der N A T O und der CIA gerieten, konnten sie sich dank dieses Grundsatzentscheids ziemlich erfolgreich wehren. Dass aber diese Haltung keineswegs einer außergewöhnlich großen Hingabe an die historische Forschung entsprang, sondern - nebst der außenpolitischen Implikationen aus der Kontroverse über die deutsche Große Politik der Europäischen Kabinette - ebenfalls eine starke innenpolitische Legitimation für das Engagement der Truman-Administration in Deutschland versprach, belegen die im Juni 1946 auf hoher departementaler Ebene geführten Gespräche mit dem General und Assistant Secretary John H. Hilldring, die in der Feststellung kulminierten, „that a great deal of material is available to us which could be used in influencing public opinion to support the German occupation and re-education policies of this Government". 199 Trotz des Grundsatzentscheids zu Gunsten einer unzensierten Publikation der Akten des Auswärtigen Amts war, wie für die Foreign Relations of the United States, wiederum die Rede von Bereinigungsmechanismen durch die verschiedenen diplomatischen Abteilungen des Department of State. 200 Diese innerhalb des Department of State parallel geführten, aber sich widersprechenden Diskurse über eine offene kontra eine kontrollierte Geschichte, welche die grundsätzlich unterschiedliche Konzeption des historischen gegenüber des nachrichtendienstlichen Auswertungsprojektes widerspiegelten, weisen nicht nur auf die Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Division of Research and Publication und der Division of Foreign Activity Correlation hin, sondern verdeutlichen nochmals die im Kapitel über die Foreign Relations festgestellten Konflikte zwischen der historischen und der diplomatischen Abteilung: Je stärker die Federführung bei den
198 w ¡ e oben A n m . 195: „This m e m o r a n d u m was approved by Mr. A c h e s o n , Mr. H i ckerson and Mr. Stone". 1 9 9 Office M e m o . „Possible use of captured G e r m a n documents for public information purposes" .secret' von F. WEIDMAN ( A - Η ) [aber aufgesetzt v o n Saxton E . Bradford, ( F C ) ] an General J o h n H . HlLLDRING (Assistant Secretary), [Washington,] 4. 6. 1946, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 - 4 9 (Conf.), B o x 6 8 3 6 , 8 6 2 . 4 1 4 / 6 ^ 4 6 . 200 w ¡ e oben A n m . 199. „The p r o b l e m is h o w to set up the machinery for its exploitation. In addition to the problem of translating, analyzing and coordinating this material for public information purposes, there is the problem of clearance with the various decisions and desks o f the D e p a r t m e n t interested. [ . . . ] [T]he Office of Public Information has prepared a plan which includes setting up an officer of the D e p a r t m e n t o n the staff of Assistant Secretary B e n t o n t o direct the selection and clearance of such material as m a y be of interest to us, t o O P I , and to other offices and divisions which might benefit f r o m a public information p r o g r a m based on this material." - Z u m Diskurs einer kontrollierten Geschichte siehe Office M e m o , von Saxton E . BRADFORD ( F C ) an F. WEIDMAN ( A - Η ) , [Washington,] 4. 6 . 1 9 4 6 , N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 ( C o n f . ) , B o x 6 8 3 6 , F W 8 6 2 . 4 1 4 / 6 - ^ 4 6 und Office M e m o , von Francis H . RUSSELL ( O P I ) an General J o h n H . HILLDRING (Assistant Secretary), [Washington,] 4. 6. 1946, ibid., 8 6 2 . 4 1 4 / 6 ^ 4 6 .
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1946-1960
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Historikern lag, desto mehr bestimmte der Diskurs historischer Offenheit die Politik des Department. Die Gespräche mit dem Foreign Office fanden im Juni 1946 statt. Das verfolgte Ziel, die Weltöffentlichkeit über die nationalsozialistischen Machenschaften in Kenntnis zu setzen, und nicht zuletzt die Komplexität der Materie hatten die Teilnahme von Historikern bedingt. Mit der Partizipation von akademisch gebildeten Historikern konnte sich der Grundsatz einer vom Staat nicht zu zensierenden historischen Darstellung durchsetzen. Einer Einladung der britischen Regierung folgend, trafen der Diplomat Howard Trivers von der Central European Division, der Historiker und spezielle Berater des Department of State, Prof. Dr. Bernadotte E. Schmitt, und Dr. E. Wilder Spaulding von der Division of Research and Publication am 8. Juni 1946 zu einer zehntägigen Besprechungsrunde in London ein, um über eine gemeinsame Publikation der wichtigsten deutschen Akten von 1918 bis 1945 zu diskutieren. 2 0 1 Zur amerikanischen Delegation gesellte sich in London noch Dr. John T. Krumpelmann, der amerikanische Chef der Foreign Office/Department of State Berliner Archivgruppe. D e r britischen Delegation gehörten an: E. James Passant, Forschungsdirektor des Foreign Office, Benedict Humphrey Sumner, Rektor des All Souls College, der Historiker Prof. E. Llewellyn Woodward und die Spezialisten für die Erforschung der Außenbeziehungen, Prof. Arnold Toynbee und J o h n W. Wheeler-Bennett, der den Posten eines nicht-offiziellen britischen Herausgebers angenommen hatte und in der Folge als britischer leitender Herausgeber der Documents on German Foreign Policy unterzeichnete. Zwischen dem 11. und dem 18. Juni 1946 fanden drei Gesprächsrunden statt, die am 19. Juni zur Unterzeichnung eines Entwurfes zuhanden der jeweiligen Regierungen führten. D a die britische Delegation keine Vorschläge vorbereitet hatte, entsprach das Schlusspapier im Wesentlichen dem von amerikanischer Seite während der Schiffsreise bereinigten Entwurf, der auf den im Aide-mémoire vom 7. März 1946 2 0 2 festgelegten Grundsätzen basierte. Da beide Seiten befürchteten, „that the Russians may enter it only in order to obstruct its conclusion", 2 0 3 wurde die Frage einer französischen und sowjetischen Partizipation am Editionsprojekt pragmatisch ausgeblendet, die Vereinbarung aber generell formuliert, damit eine allfällige spätere Beteiligung keine (unerwünschte) Revision des Grundsatzpapieres nötig machte. Eine lange Diskussion verursachte die klassische Frage nach der Wechselwirkung von Außen- und Innenpolitik, die sich in der Auseinandersetzung 201
Memo, von E. Wilder SPAULDING (RP) an William BENTON (Α-B) und General
J o h n H . HILLDRING ( A - Η ) , [ W a s h i n g t o n , ] 2 5 . 6. 1 9 4 6 , N A , R G (Conf.), B o x 6836, 8 6 2 . 4 1 4 / 6 - 2 5 4 6 . 202
Wie oben Anm. 191.
59, C F
1945^9
Brief .secret' von Howard TRIVERS an James W. RIDDLEBERGER (CE) und David HARRIS (Division of Central European Affairs), London, 19. 6. 1946, NA, RG 59, C F
203
1945—49 ( C o n f . ) , B o x 6 8 3 6 , 8 6 2 . 4 1 4 / 6 - 1 9 4 6 .
206
III. Die „Documents on German Foreign Policy"
darum widerspiegelte, welche politischen Gebiete die Serie überhaupt abdecken sollte. Die amerikanische Delegation beabsichtigte, nicht nur Akten aus dem Auswärtigen Amt, jedoch primär Akten zur deutschen auswärtigen Politik zu veröffentlichen, während die britischen Vertreter auch an jene Bereiche der Innenpolitik dachten, welche die der Außenpolitik untergeordneten Manöver des nationalsozialistischen Regimes, beispielsweise in der Frage der Wiederbewaffnung, dokumentierten. Ein Kompromiss fand sich mit dem Einverständnis, dass die Außenpolitik - was immer das heißen sollte - nicht in „the old narrow sense" zu verstehen sei und die Serie auch viele Dokumente zur Bildung, Propaganda usw. beinhalten sollte. 204 Die von Spaulding und Passant paraphierten „Proposais for Publishing German Official Papers" enthielten 16 Punkte. Gedacht war eine Serie von etwa 20 Bänden mit zwischen 800 und 1000 Seiten, wobei der Publikation eventuell zwei oder drei Bände mit den Schlüsseldokumenten vorangehen sollten. Als die abzudeckende Periode wurde die Zeit vom 9. November 1918 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges definiert. Die Arbeit sollte gleichzeitig bei den Zäsuren von 1929 und 1939 beginnen, während der Periode 1918— 1929 eine niedrigere Priorität eingeräumt wurde. Die Amerikaner waren über die Festsetzung der Zäsur im Jahre 1929 bekümmert, denn dies hätte implizieren können, dass der Kollaps der Wall Street im Jahre 1929 die Hauptursache für die Entwicklung sei, die zum Krieg führte. U m diesen Eindruck zu reduzieren, verzichtete man in einem Kompromiss auf die von britischer Seite vorgeschlagenen drei Unterserien entlang dieser Zäsuren und beschloss, die Bände nur mit dem Datum zu bezeichnen. 205 Alle Dokumente sollten im Originaltext veröffentlicht werden. Jede teilnehmende Regierung erhielt aber die Freiheit, eine eigene Politik in Bezug auf die Veröffentlichung einer Übersetzung in ihrer spezifischen Sprache festzulegen. Für die englische Ubersetzung schlugen die Historiker eine anglo-amerikanische Zusammenarbeit vor, während sie hofften, dass andere Regierungen ebenfalls Ubersetzungen in die jeweilige Landessprache veranlassen würden, um somit ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Die Originaltexte sollten in Deutschland veröffentlicht werden, der finanzielle Aufwand den Besatzungskosten angerechnet werden. Wegen der Notwendigkeit der öffentlichen Aufklärung bezüglich der deutschen Außenpolitik sollte die Edition so schnell wie möglich durchgeführt und die Arbeiten bereits im Sommer 1946 aufgenommen werden. Die Anmerkungen und die Ausführungen der Herausgeber in den editorischen Noten sollten strikt objektiv und auf der faktischen Ebene gehalten sowie keinesfalls zur Rechtfertigung der Position einer Regierung benutzt werden, denn: „The compilers should be on guard against the charge of tendentious footnotes so often Protokoll der ersten Sitzung der anglo-amerikanischen Delegation, London, 11. 6. 1946, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 6836, 862.414/6-2546 205 Wie oben Anm. 201. 204
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1 9 4 6 - 1 9 6 0
207
brought against the editors of Die Große Politik." Die Selektion der zu veröffentlichenden Dokumente „shall be based on the principle of securing a substantially complete and accurate record of the period under review and the subjects covered, and that the work shall be performed on the basis of highest scholarly objectivity." Für unsere Fragestellung von eminenter Bedeutung ist die organisatorische Frage. Jede teilnehmende Regierung sollte eine Gruppe von Experten wählen: „In order to secure an authoritative and scholarly documentary record of German foreign policy in this period, the services of outstanding private scholars of high reputation should be enlisted as well as the services of scholars now in government service." 2 0 6
Als Experten wurden in der Folge vorwiegend außenstehende Historiker angestellt, die aber für ihre Arbeit von den jeweiligen Außenministerien besoldet wurden. Gleichwohl war die Trennung von nicht-offiziellen und offiziellen Historikern unschärfer und weniger strikt, als dies idealtypisch zu erwarten wäre. Die Kontingenzen des totalen Krieges hatten zur Folge, dass wegen ihrer fachspezifischen und sprachlichen Fähigkeiten eine Vielzahl von Intellektuellen (auch deutsche Emigranten) in staatlichem Dienste standen, sei es im Militärdienst oder in zivilen Verwaltungszweigen, bezeichnenderweise häufig gerade im intelligence, d.h. dem nachrichtendienstlichen Bereich. So war beispielsweise der emeritierte Ordinarius für Geschichte an der Universität Chicago, Bernadotte E. Schmitt, Special Advisor der Division of Research and Publication geworden; der Harvard-Professor William L. Langer war während des Krieges im OSS gewesen; auch der Historiker Paul R. Sweet war während des Krieges im OSS tätig gewesen, wurde später leitender amerikanischer Herausgeber der Documents on German Foreign Policy, wechselte dann in den diplomatischen Dienst, um später an der Michigan State University einen Lehrstuhl als Geschichtsprofessor anzunehmen; Dr. James S. Beddie, vor dem Krieg bereits in der Division of Research and Publication des Department of State tätig, landete als Leutnant in der Navy German Intelligence, um später - zusammen mit Prof. Raymond J. Sontag die Aktenedition der Nazi-Soviet Relations für das Department of State herauszugeben; der Brite John W. Wheeler-Bennett ließ sich im September 1939 von seiner Stelle als Dozent für International Law and Relations an der University of Virginia in Charlottesville beurlauben, um in der Folge verschiedene Tätigkeiten im britischen Nachrichtendienst auszuüben, wo er bei Kriegsende als Assistent des britischen Politischen Beraters in der SHAEF arbeitete. Diese kurzen biografischen Skizzen verdeutlichen die Permeabilität eines milizartigen Systems, die der Krieg zwischen universitärem und „Proposais for Publishing German Official Papers agreed at Anglo-American Meetings held at Foreign Office, London, June 11-18, 1946" unterzeichnet von E. Wilder SPAULDING und E. James PASSANT, [London,] 19. 6. 1946, N A , R G 59, C F 1945^*9 (Conf.), B o x 6836, 8 6 2 . 4 1 4 / 6 - 2 5 4 6 . 206
208
III. Die „Documents on German Foreign Policy"
staatlichem Bereich bewirkt hatte, eine Durchlässigkeit, die für unsere Fragestellung nach den Organisationsformen amtlicher Akteneditionen von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist. Die Vorsitzenden der national bestimmten Expertengruppen würden einen Exekutivausschuss bilden, um Grundsatzfragen zu regeln und die Arbeit zu leiten. Die erste Analyse und Selektion der Dokumente sollte von national gemischten Arbeitsgruppen in Berlin durchgeführt werden, statt, wie von britischer Seite vorgeschlagen, in den Hauptstädten der beteiligten Regierungen. 207 Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Mitarbeitern sollten in Grundsatzfragen die Mitglieder des Exekutivausschusses durch Mehrheitsentscheid beschließen, vorbehalten war jedoch das Recht jedes Mitgliedes die Angelegenheit seiner Regierung für einen Letztentscheid vorzulegen. Die Regelung enthielt expressis verbis einen Schutz gegen befürchtete Torpedierungen kompromittierender Akten: „The respective governments, however, may reserve the right to publish independently any official German papers, even if the Committee has been unable to agree on the matter of policy." Gleichwohl wurde die Frage geregelt, ob ebenfalls Akten der anderen Achsenmächte heranzuziehen seien. Die Vereinbarung ließ den Herausgebern diese Möglichkeit offen, doch entgegen dem amerikanischen Entwurf wurde diese Eventualität weitgehend eingeschränkt, was die interessante Frage nach sich zieht, ob dies auf rein arbeitsökonomische oder auf politische Überlegungen zurückzuführen sei, erhielten doch Italien und Japan dadurch eine andere Behandlung als Deutschland. Der einzig strittige Punkt betraf den letzten Paragrafen, der die Frage des Zugangs regelte und bei dessen Annahme eine spätere Interpretation offen gelassen wurde: „16. Access. It is recommended that the German records to be used for this project should not be released for publication or other use by unofficial persones until the material involved has been approved for publication by the cooperating Powers. The documents should only be made available to the German authorities as and when the editors have completed their w o r k upon them." 208
Uneinigkeit herrschte im Punkt, ob nicht-amtliche Forscher nur Zugang zu den bereits zur Veröffentlichung genehmigten Materialien erhielten oder ob ein breiter Zugang gewährt werden sollte. 209 Das Department of State war gegen eine strikte Limitierung, vor allem weil bislang viele Dokumente benutzt worden waren, um der Presse und Kongressmitgliedern Hintergrund207 "Wig oben Anm. 201: „I should also point out that we Americans objected to the British proposal that the original German papers be shipped to the capitals of the collaborating powers (London and Washington and presumably Moscow and Paris at a later date), so that all of the w o r k might be done at those capitals. We insisted that the papers remain in Berlin, that preliminary work be done in that city, and that work at the various capitals be done from microfilm or photostat copies and not from the originals." 208 Wie oben Anm. 206. 2 0 9 Wie oben Anm. 201.
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1946-1960
209
informationell zu liefern. 2 1 0 General Clay und Botschafter Murphy hatten nämlich eine von ihnen selbst ironisch als .Goldfish Bowl'-Politik bezeichnete Strategie verfolgt und recherchierenden Journalisten ungestörten Zugang gar zu den Akten unter alliierter Kontrolle in Berlin gewährt. 2 1 1 Ziel der Regelung war nun hingegen die Konkurrenz seitens privater Forscher zu verhindern, denn vor allem Passant und Woodward fürchteten, diese würden sich auf die Rosinen stürzen, was den (Enthüllungs-)Wert der Edition geschmälert hätte. Gegen diese Regelung hatte sich aber auch der Brite Arnold Toynbee stark gewehrt, denn er verlangte (wie der amerikanische Professor William L. Langer) 2 1 2 für seine eigene private Publikation über den Krieg sofort Einsichtsrecht in die deutschen Akten. Die am 19. Juni 1946 paraphierte und nach einer weiteren Verhandlungsrunde Ende August in Washington präzisierte 2 1 3 Vereinbarung zwischen Vertretern Großbritanniens und der U S A wurde im Laufe des Sommers 1946 auch politisch genehmigt. 2 1 4 Sie war die Grundlage und bedeutete den Beginn des historischen Projektes der Documents on German Foreign Policy. Ein Punkt, den die Amerikaner bereits seit der Planung der Aktenerbeutung verfolgten, sollte aber bei Beginn des historischen Projektes die getroffene Vereinbarung für die Sicherung eines wissenschaftlichen Standards ohne politische Einflussnahme bereits strapazieren: die heikle und folgenreiche Frage der Veröffentlichung der Akten zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1939 und 1941.
Office Memo. ,conf.' von Herbert J. CUMMINGS (FC) an James W. RIDDLEBERGER (CE), [Washington,] 3. 7. 1946, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 1, „Untitled". 211 Office Memo. ,conf.' von Herbert J. CUMMINGS (FC) an Ben C. O'SULLIVAN (AH), [Washington,] 3. 7. 1946, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 1, „Untitled". 2 1 2 Langer erhielt zwar kein Einsichtsrecht in die deutschen Beuteakten, doch wurde ihm ein privilegierter Zugang zu den Akten des Dep. of State für folgende Publikation gewährt: William L. LANGER und S. Everett GLEASON, The Challenge to Isolations. 1937-1940, New York 1952. Vgl. dazu oben Anm. 203 und Office Memo, an de W. MAYER, wie oben S. 102, Anm. 338. 2 1 3 Am 21. 8.1946 fanden anglo-amerikanische Gespräche in Washington zur Frage der Publikation von Dokumenten aus dem Auswärtigen Amt statt. Dabei ging es um die Auslegung der Vereinbarung vom 19. 6. 1946, welche die Briten in einem Aidemém. nochmals präzisierten: Aide-mém. der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 29. 8.1946, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 5677, 840.414/82946. 2 1 4 Office Memo, von General John H. HILLDRING (A-Η) an Dr. E. Wilder SPAULDING (RP), [Washington,] 16. 8.1946, NA, RG 59, CF 1945-49 (Conf.), Box 6836, FW 862.414/6-2546 : „The attached proposals are approved by this office, on the understanding that this Government has not accepted Paragraph 16 of the proposed agreement." 210
210
III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Die „Nazi-Soviet
Relations" als Akt der Propaganda
im Kalten Krieg
Am 21. Januar 1948 veröffentlichte das Department of State die Dokumentensammlung Nazi-Soviet Relations 1939-1941. Documents from the Archives of the German Foreign Office.215 Diese Publikation wurde in der Forschung bereits als „cold war propaganda by documentation" 216 bezeichnet. In der Tat aber bietet die Rekonstruktion der Geschichte dieser Publikation mehr: Sie stellt einen hervorragenden Indikator für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1945 und 1948 dar und könnte gar als Indikator für die Datierung des Beginns der propagandistischen Phase in der Entwicklung des Kalten Krieges verwendet werden. Dass die Frage der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1939 bis zum Juni 1941 ein gewaltiges Konfliktpotenzial für die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen nach der deutschen Kapitulation in sich barg, war bereits im Frühjahr 1945 bei der Planung der alliierten Aktenerbeutung in Deutschland klar.217 Der Fund des Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt im so genannten von Loesch-Film als auch dessen Entwicklung im Londoner Luftfahrtministerium ist weiter oben dargestellt.218 Seit Ende Mai 1945 wussten das amerikanische und das britische Außenministerium, dass sie über Akten der deutsch-sowjetischen Beziehungen verfügten, und hatten sofort eine strikte Geheimhaltung vereinbart.219 Spätestens bis zum August 1945 hatte die nachrichtendienstliche Abteilung im Department of State die Dokumente durchgesehen.220 Weil die deutschen (Original-) Mikrofilme zum Teil beschädigt waren, wurden diese chemisch behandelt und neue, saubere Abzüge davon angefertigt. Nebst dem Sammeln von Belegen in den Akten des Auswärtigen Amts wurden systematisch ehemalige Beamte, nun in alliierter Gefangenschaft, sowohl seitens der Militärbehörden221 als auch durch eine spezielle Mission des Department of State zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen eingehend befragt. Diese Mission, nach dem Namen ihres Leiters DeWitt C. Poole benannt, befragte von August bis November 1945 eine Vielzahl 215 Nazi-Soviet Relations 1939-1941. Documents from the Archives of the German Foreign Office, hrsg. vom Department of State, Raymond James SONTAG und James Stuart BEDDIE, Washington 1948 (Neudruck: Westport 1976). 2 1 6 Seitens Β. Whaley, zit. nach Geoffry ROBERTS, The unholy alliance. Stalin's pact with Hitler, London 1989, S. 3. 2 1 7 Wie oben Anm. 57 „Due to the Soviet-German Non-aggression Pact and later partition of Poland, as well as present serious Polish-Soviet problems, exploitation of files on this subject may bring up delicate questions on our relations with the Russians." 2 1 8 Vgl. oben S. 167-172. 2 1 9 Wie oben Anm. 89. 2 2 0 Wie oben Anm. 121. 2 2 1 Vgl. z.B. Intelligence Report .secret' von Herbert D. BREWSTER (CIOS Team, Dep. of State), s i , 25. 5. 1945, NA, RG 59, Lot Files, Lot 60D24, Foreign Activity Correlation, Records Relating to the Exploitation of Captured German Records, 1945-1948, Box 8.
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1946-1960
211
von ehemaligen Beamten des .Dritten Reiches' speziell in Bezug auf die deutsche Außenpolitik, die Propaganda und die Beteiligung der nationalsozialistischen Partei an den Außenbeziehungen.222 Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop wurde am 20. September sowie am 12. und 13. Oktober 1945 ebenfalls eingehend befragt. Zum Hitler-Stalin-Pakt meinte er lediglich, dass dieser nicht lange vorbereitet worden sei, während er sich vermeintlich aus diplomatischer Courtoisie gar weigerte, über das Zusatzprotokoll Auskunft zu geben, denn die Sowjets hätten darüber auch noch nicht gesprochen.223 Anfang Dezember 1945 erreichte Marburg der Befehl des Department of State, alle wichtigsten Dokumente in den Beständen des Auswärtigen Amts über die deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1938 bis 1941 sofort und prioritär zu verfilmen und nach Washington zu schicken.224 Im April 1946 übergab der Direktor der Division of Foreign Activity Correlation im Department of State, Frederick B. Lyon, dem Direktor des Federal Bureau of Investigation, J. Edgar Hoover, englische Ubersetzungen des Hitler-StalinPaktes samt geheimem Zusatzprotokoll.225 Über die Existenz eines geheimen Zusatzprotokolls zum offiziellen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt war seit der offiziellen TASS-Meldung vom 22. August 1939 über den bevorstehenden Abschluss des Abkommens,226 das in der Nacht zum 24. August 1939 vom deutschen und vom sowjetischen Außenminister unterzeichnet wurde, stets spekuliert worden. Die Nachricht hatte tatsächlich, wie Hitler vor den Oberbefehlshabern protzte, „eingeschlagen wie eine Granate" 227 und - trotz der zwei Tage später in der Prawda erschienenen zynischen Versicherung, dass die Vereinbarung „zweifellos zur Erleichterung der internationalen Situation beitragen"
Vgl. z.B. die Mikrofilmserie MF M-670, RG 59, Records of the Department of State Special Interrogation Mission to Germany 1945-1946; ferner MF M-1270, RG 238, Interrogation Records Prepared for War Crimes Proceedings at Nürnberg 19451947 und MF M-1019, RG 238, Records of the US Nürnberg War Crimes Trials: Interrogations, 1946-49. 2 2 3 Befragungsprotokoll .secret' verfasst von DeWitt C. POOLE über die Befragung von Joachim von RIBBENTROP, Wiesbaden, 16. 10. 1945, Ν A, RG 59, Lot Files, Lot 60D24, Foreign Activity Correlation, Records Relating to the Exploitation of Captured German Records, 1945-1948, Box 8, S. 13f. 2 2 4 Telegr. .secret' von Dean G. ACHESON (Acting Secretary) [aber aufgesetzt von H. J. CUMMINGS (FC)] an die US-Botschaft in Berlin [für G. C. CARPENTER und Dr. William P. CUMMING], Washington, 13.12. 1945, Ν A, RG 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 5703, 840.414/12-1345. 2 2 5 Memo, .secret' von Frederick B. LYON (Direktor der Division of Foreign Activity Correlation) an den Direktor des FBI, J. Edgar HOOVER, [Washington,] 2 . 4 . 1 9 4 6 , NA, 222
R G 59, C F 1 9 4 5 - 4 9 (Conf.), B o x 5708, 8 4 0 . 4 1 4 / 4 - 2 4 6 .
226 Vgl) z β. Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe vom 22. 8. 1939. 2 2 7 Hitler vor den Oberbefehlshabern am 22. 8. 1939, in: AD AP. 1918-1945, Bd. 7, Baden-Baden 1956, S. 170.
Serie D,
212
III. Die „Documents on German Foreign Policy"
werde 2 2 8 - eine Schockwelle ausgelöst. In London und Paris begannen die letzten, verzweifelten Versuche, den Frieden noch zu retten, während auf der anderen Seite der Welt das japanische Kabinett wenige Tage später zurücktreten musste. 229 Auf menschlicher Ebene hatte dieser „Teufelspakt" 230 größte Verzweiflung ausgelöst, vor allem bei den Mitgliedern der SPD und K P D , die bislang die Sowjetunion als antifaschistisches Bollwerk betrachtet hatten. 231 Dass eine Vereinbarung zur Teilung Osteuropas in eine deutsche und eine sowjetische Einflusssphäre mit Sicherheit getroffen worden war, konnte bereits an den deutschen Truppenbewegungen zurück bis zur vereinbarten Demarkationslinie festgestellt werden. Trotzdem war der authentische Text des geheimen Zusatzvertrages bisher selbstverständlich nie zur Veröffentlichung gekommen, obschon die amerikanische Verwaltung eifrig an der Dokumentation der deutsch-sowjetischen Beziehungen arbeitete. 232 Während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse tauchte das Gerücht auf, die Alliierten hätten zwischen den deutschen Akten auch die geheime Vereinbarung gefunden. Einer, der in Bezug auf die deutschen Beuteakten stets über die neuesten Informationen verfügte, war Herbert Clark Hoover, von 1929 bis 1933 Präsident der Vereinigten Staaten, der sich in seinen späteren Jahren der Förderung der War Memorial Library an der Stanford University, der späteren Hoover Institution, widmete. Im Frühjahr 1946 hielt sich Hoover in Deutschland auf, um möglichst viele Akten für seine Institution zu sichern. Dass seine Tätigkeit durchaus sehr erfolgreich war, belegen die vielen deutschen Bestände, die noch heute in der Hoover Institution archiviert sind. 233 Im April 1946 sprach Hoover zweimal ausführlich mit Donald R. Heath, einem engen Mitarbeiter von Botschafter Murphy, und bat um eine
228 Sowjetstern und Hakenkreuz 1938 bis 1941. Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen, hrsg. von Kurt PÄTZOLD und Günter ROSENFELD, Berlin 1990, S. 237. 229 ADAP. 1918-1945, Serie D, Bd. 7, S. 308. 2 3 0 Beispielsweise Sebastian HAFFNER, Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, Zürich 1988. Vgl. ferner Georg UEBERSCHÄR, „Der Pakt mit dem Satan, um den Teufel auszutreiben. Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffsvertrag und Hitlers Kriegsabsicht gegen die UdSSR", in: Wolfgang MICHALKA (Hg.), Der Zweite Weltkrieg, München 1989, S. 568-585. 2 3 1 Vgl. Wolfgang LEONHARD, Der Schock des Hitler-Stalin-Paktes: Erinnerungen aus der Sowjetunion, Westeuropa und USA, Freiburg i.Br. 1986, und für die Rezeption der KPD: Heinz KÜNRICH, „Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. 8. 1939 aus der zeitgenössischen Sicht der KPD", in: Militär Geschichte 6 (1987), S. 527-547, und Jan FOITZIK, „Die Kommunistische Partei Deutschlands und der Hitler-Stalin-Pakt", in: V/Z 37 (1989), S. 499-514. 232 Vgl. Telegr. wie oben Anm. 121. 233 VGL z . B. Madeleine HERREN und Sacha ZALA, Netzwerk Außenpolitik. Internationale Kongresse und Organisationen als Instrumente schweizerischer Außenpolitik. 1914-1950 (im Druck), die die Bestände der Deutschen Kongress-Zentrale, einer Tarnorganisation des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, aufgearbeitet haben.
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Kopie des Hitler-Stalin-Paktes mit allen geheimen Beilagen, die er für die Forschung in seiner Institution zur Verfügung stellen wollte. Der Inhalt sei bekannt und somit gäbe es keine Gründe mehr, um den exakten Wortlaut der Forschung weiterhin zu verheimlichen, argumentierte Hoover, freilich ohne Erfolg. 234 Als am 21. Mai 1946 der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg eine Kopie des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes als Beweismaterial abwies und damit der Logik des Hauptanklägers der Sowjetunion folgte, 235 zeigte sich deutlich, dass die historische Verarbeitung jener verstrickten Entwicklungen im August 1939, die den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatten, auch für die Siegerkoalition nicht schmerzlos vonstatten ging. Gleichzeitig schwand auch die Hoffnung, diese Dokumente in absehbarer Zeit offiziell veröffentlicht zu sehen. Hingegen gelangten Indiskretionen an die Presse, und am nächsten Tag erschien in der St. Louis Post-Dispatcb eine englische Übersetzung des Zusatzprotokolls. 236 Die Frage, ob die amerikanische Administration bereit war, die Akten zum Hitler-Stalin-Pakt zu veröffentlichen war eng mit der Frage einer .objektiven* Edition der Akten des Auswärtigen Amts verbunden. Ende Mai 1946 zirkulierte im Department of State auf Stufe Under Secretary of State ein wichtiges Memorandum, das ein Junktim zwischen beiden Fragen knüpfte, denn sie waren von eminenter Bedeutung für die Vorbereitung der angloamerikanischen Gespräche bezüglich der geplanten Aktenpublikation. Die Denkschrift fasste die Argumente zusammen, die für eine alliierte Publikation als präventive Maßnahme gegen eine spätere apologetische deutsche Aktenedition sprachen, und wies auf die bevorstehenden anglo-amerikanischen Sondierungen hin. 237 Under Secretary of State Francis H. Russell, der das Memorandum in Zirkulation setzte, stellte die zwei Hauptfragen: „1. Does the Department favor proceeding with the publication of German diplomatic documents concerning such matters as Soviet diplomatic negotiations with Nazi Germany in 1939 over the possible strong objections of the Russians?
„Memorandum of Conversation with the Honorable Herbert Hoover" von Donald R. HEATH, 17. 4. 1946, NA, RG 59, CF 1945^9 (Conf.), Box 5708, 840.414/42446. 235 Ein Auszug von Zeugenaussagen vor dem Internationalen Militärgerichtshof befindet sich in: Gilbert-Hanno GORNIG, Der Hitler-Stalin-Pakt. Eine völkerrechtliche Studie, Bern und Frankfurt/M. 1990 (Schriften zum Staats- und Völkerrecht, Bd. 41), S. 152-159. 236 Richard L. STOKES, „Secret Soviet-Nazi Pacts On Eastern Europe Aired", in: St. Louis Post-Dispatch, 22. 5. 1946. Eine Kopie befindet sich in NA, RG 59, CF 1945^9, Box 6759, 862.414/12-1046. - Zur Illustration der abstrusen Deklassifizierungspraktiken der National Archives sei als kleines Amüsement hinzugefügt, dass ich am 26. 11. 1993 diesen Zeitungsausschnitt vom zuständigen Beamten zuerst deklassifizieren lassen musste, bevor ich ihn kopieren durfte, da im Titel das Wort .secret' vorkam. Das ominöse Wort wurde dann durchgestrichen und der Artikel mit einem Deklassifizierungsstempel versehen! 2 3 7 Wie oben Anm. 194. 234
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
2. Is the Department prepared to support a policy of complete disclosure of German diplomatic documents even though some of them such as the Bullit correspondence may prove to be somewhat embarrassing to this Government?" 2 3 8
Die Beteiligten bejahten beide Fragen und im Juni 1946 konnten sich das Department of State und das Foreign Office, wie oben erwähnt, über eine gemeinsame Edition ausgewählter Dokumente aus dem Auswärtigen Amt einigen und die damit verbundene Arbeit einer Gruppe von Historikern übergeben. Im Herbst 1946 belieferte Dr. Ralph S. Collins, der Beamte des Department of State, der zusammen mit Thomson die von Loesch-Mikrofilme gefunden hatte und nun in Berlin die erbeuteten Akten auswertete, das amerikanische Außenministerium mit einer Serie von streng geheimen Berichten, welche sowohl die deutsch-sowjetischen diplomatischen Fühlungnahmen und schließlich den Abschluss des Nichtangriffsvertrages als auch die folgende Aufteilung Polens und Molotows Berliner Reise im November 1940 detailliert rekonstruierten. 239 Als Ergänzung ließ Robert Murphy das Befragungsprotokoll von Gustav Hilger, dem ehemaligen deutschen Botschaftssekretär in Moskau, der während der Verhandlungen im August 1939 als Ubersetzer für Botschafter Friedrich Werner Graf von Schulenburg funktioniert hatte, nach Washington schicken. 240 Obschon das Department of State den Inhalt des von Loesch-Films als derart brisant betrachtete, dass sogar die amerikanische Mission in Berlin keine Abzüge davon erhalten hatte - was Botschafter Murphy bereits beklagt hatte - und selbst Collins, der die deutsch-sowjetischen Beziehungen akribisch anhand der Akten des Auswärtigen Amts in Berlin untersuchen musste, keine Einsicht erhielt,241 hatte der US-Diplomat DeWitt C. Poole im Oktober 1946 gezielt in den Foreign Affairs eine derart präzise Beschreibung der dem Freundschaftsvertrag vom September 1939 beigelegten Karte mit Stalins Unterschrift veröffentlicht, dass es offensichtlich war, dass die WestWie oben Anm. 195. Verschiedene Paraphen auf dem Original und die Bemerkung „This memorandum was approved by Mr. Acheson, Mr. Hickerson and Mr. Stone" auf der Abschrift. 2 3 9 Berichte ,top secret' von Ralph S. COLLINS vom 12. 9. 1946: „The German-Russian Non-Aggression Pact. The Story as Revealed in Documents of the German Foreign Ministry"; 11. 10. 1946: „German-Soviet Partition of Poland in September 1939 based upon the Official Documents of the German Foreign Office"; 29.11. 1946: „The Molotov Visit to Berlin, November 12-14,1940"; 4. 12. 1946: „The Lithuanian Strip", N A , R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 20, „Collin's Reports". 2 4 0 Brief ,top secret' von Robert MURPHY an den Außenminister, Berlin, 5. 11. 1946, NA, R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 20, „Collin's Reports", 862.20200/11-546. 2 4 1 Ersichtlich aus seinem Bericht vom 11. 10. 1946 (Wie oben Anm. 239), S. 8 f.: „Unfortunately, the files of the German Foreign Ministry have not yielded a copy of this secret protocol. Many references to it make its existence quite certain. [...] It is strongly believed that the missing secret protocol is contained in the von Loesch film, copies of which are in London and Washington." 238
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alliierten über diese Akten verfügten. 242 In der Tat waren im Sommer und Herbst 1946 verschiedene Berichte in der amerikanischen und britischen Presse erschienen, die mehr oder weniger präzis eine englische Ubersetzung des geheimen Zusatzprotokolls veröffentlicht hatten, 2 4 3 was in Großbritannien eine Debatte im Unterhaus auslöste. In dieser Auseinandersetzung wich Außenminister Bevin der Frage einer offiziellen Publikation mit dem Hinweis aus, dass der in der Presse erschienene Text des geheimen Zusatzprotokolls korrekt sei. 2 4 4 Angesichts des Druckes aufgrund weiterer parlamentarischer Anfragen wandte sich die britische Botschaft am 10. Dezember 1946 mit dem Anliegen an das Department of State, den Text der geheimen Protokolle sofort freizugeben. 245 In der Folge einigten sich das Department of State und das Foreign Office aber darauf, diese Dokumente nicht außerhalb der vereinbarten Edition der Documents on German Foreign Policy zu veröffentlichen. 246 Bei Anfragen von Forschern betreffend der Freigabe dieser Dokumente wies das Department of State stets auf die geplante anglo-ameriForeign Affairs 1/25 (Oktober 1946), S. 143: „The new frontier between Germany and Russia was drawn with a thick red pencil - partly by Stalin himself - on a map which was then signed by him and Ribbentrop. The drawing included a mutual obligation to give advance notice on any important action in the foreign field." - Dieser Artikel war im Juni 1947 gar Objekt der Anfrage eines Abgeordneten, diese Akten veröffentlichen zu dürfen. Vgl. Brief von Karl M. LECOMPTE (Abgeordneter in Repräsentantenhaus) an Außenminister George C. MARSHALL, Washington, 20. 6. 1947, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 6760, 862.414/6-2047: „We hope that it will not be incompatible with your good judgment and with the welfare and safety of this country to furnish us this material." Das Dep. of State lehnte jedoch eine Publikation außerhalb der DGFP ab. 2 4 3 Richard L. STOKES, „Secret Soviet-Nazi Pacts on Eastern Europe Aired", in: St. Louis Post-Dispatch (22. 5.1946); „Origins of the War. The Soviet-German Clauses", in: Manchester Guardian (30. 5. 1946); Julius Epstein, „The Secret Stalin-Hitler Agreements", in: The New Leader (8. 6. 1946); Lasky MELVIN, „The Hitler-Stalin Pact", in: 242
The New
Leader
( 3 0 . 11. 1 9 4 6 ) .
Parliamentary Debates (Hansard) vom 23. 10. 1946: „I think it was published in a reputable newspaper, the Manchester Guardian, and may be taken as accurate." 2 4 5 Aide-mém. der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 10.12. 1946, NA, RG 59, CF 1945-19, Box 6759, 862.414/12-1046: „In view of the publicity which has already been given to this document, His Majesty's Government now feels that it is not possible to continue to refuse to publish the official texts of the secret protocols." 2 4 6 Brief .secret' von Herbert M. SICHEL (Erster Sekretär der britischen Botschaft in Washington) an L. W. FULLER, Washington, 28.1.1947, NA, RG 59, CF 1945^9 (Conf.), Box 6836, 862.414/1-2847: „With reference to our recent conversation concerning the possible publication of the protocols dealing with the 1939 Molotov/Ribbentrop pact, I have now heard from the Foreign Office that they propose in future to deal with any questions regarding the publication of these protocols by stating that the documents will in due course be published by the editors in their proper context. My understanding is that this view will coincide entirely with that of the State Department, and the Foreign Office asked me to express the hope that the State Department will agree to adopt the same attitude and that the question of separate publication can now be dropped." 244
216
III. Die „Documents on German Foreign Policy"
kanische E d i t i o n hin u n d fügte hinzu, der Text sei ohnehin sowohl in der amerikanischen als auch in der britischen Presse bereits erschienen und die publizierten Versionen seien gemäß Bevins K o m m e n t a r relativ k o r r e k t . 2 4 7 I m F r ü h j a h r 1947, nach der Außenministerkonferenz der vier Alliierten in M o s k a u v o m 10. M ä r z bis z u m 2 4 . April 1 9 4 7 , der definitive Wendepunkt in der F r a g e der Teilung Deutschlands, hatten sich die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen z u n e h m e n d verschlechtert. Das D e p a r t m e n t of State begann Überlegungen bezüglich der W ü n s c h b a r k e i t einer sofortigen E n t h ü l lung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der ersten Kriegsphase anzustellen. In einem M e m o r a n d u m v o m 19. M a i 1 9 4 7 an H . F r e e m a n Matthews, den D i r e k t o r des B u r e a u of E u r o p e a n Affairs, führte U n d e r Secretary of State Francis H . Russell v o m Office of Public Affairs aus, dass diese D o k u mente aus d e m Auswärtigen A m t nach d e m gegenwärtigen Publikationsprog r a m m erst in anderthalb bis zwei Jahren in den Documents Foreign
on
German
Policy z u r Veröffentlichung gelangen würden, z u s a m m e n mit den
D o k u m e n t e n anderer L ä n d e r : „The question has been raised as to the advisability of publishing a collection of papers relating to Russo-German conversations in a special volume which could be made public in the immediate future. The papers in question are important and their publication in a special form out of context of the regular series contemplated would have direct effect of public opinion in the U.S. and in our relations with the USSR. I would appreciate EUR's [Bureau of European Affairs] advice whether as a matter of policy it would be desirable to publish these documents within the next several months in a separate volume or to await their publication in due course several years from now along with the other documents covering those years." 2 4 8 E n d e Mai beschlossen R o b e r t L . T h o m p s o n und Charles E . B o h l e n die F r a g e einer sofortigen und separaten Veröffentlichung mit U n d e r Secretary of State
247 Vgl. z . B . die Anfrage von William L. Shirer: Brief .personal and conf.' von William L. SHIRER (Columbia Broadcasting Inc.) an Dean G. ACHESON (Acting Secretary), New York, 18. 3. 1947, NA, R G 59, C F 1945-49, Box 6760, 862.414/3-1847: „When I was in Nuremberg last winter I recall seeing two documents dealing with German-Russian relations in 1939-40.1 made hasty notes on them but was not able to procure them because for obvious reasons they were not introduced as evidence in the trial. Later I secured one of the documents [...]. The second document, which consisted of the secret appendix to the Nazi-Russian pact of August, 1939, I have not been able to put my hands on. [...] Do you have it there, and have you any objections to my using it in a book? Needless to say, my opus is not an anti-Russian book. It is about Germany." In seiner Antwort vom 27. 3. 1947 meinte Acheson: „So far as the agreement of 1939 is concerned, you may have noted the purported text of the secret protocol published last fall by the St. Louis Post-Dispatch and the Manchester Guardian, together with the statement of Mr. Bevin in the House of Commons that official publication of this protocol was unnecessary since a substantially accurate text had already appeared in the public press." Office Memo, von Francis H. RUSSELL (Office of Public Affairs) an H. Freeman MATTHEWS (Direktor des Bureau of European Affairs), [Washington,] 19. 5. 1947, NA, R G 59, C F 1945—49, Box 6760, 862.414/5-1947.
248
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Dean G. Acheson zu besprechen. 249 Bei diesem Treffen vom 28. Mai 1947 wurde die Frage erörtert und das Anliegen einstimmig abgelehnt, da es für das Department - so die angeführte Argumentation - unklug wäre, die Dokumente außerhalb der geplanten Aktenedition zu veröffentlichen. Hingegen wurde beschlossen, Anstrengungen zu unternehmen, damit die Publikation der Serie beschleunigt werden könne. 250 Die Situation blieb während des Sommers 1947 unverändert. Mitte September griff G. Bernard Noble, Direktor der Division of Research and Publication, die Frage wieder auf: „The question now remains whether the decision taken at that time should be modified", denn das Publikationsprogramm der Documents on German Foreign Policy sah vor, dass die ersten relevanten Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen erst im Band II und die wichtigsten überhaupt erst im Band IV der Serie D erscheinen sollten, deren Veröffentlichung für die Jahre 1949, respektive 1950 geplant war (tatsächlich erfuhr sie eine einjährige Verspätung). Die fraglichen Dokumente würden einen etwa 300-seitigen Band füllen und, „if policy consideration should make it desirable, could be published probably within the next six months", da sie bereits übersetzt worden waren. 251 Ende September wurde die Frage von Under Secretary of State Francis H. Russell wieder auf höherer departementaler Ebene zur Sprache gebracht. Für eine sofortige Veröffentlichung gab es vier mögliche Varianten. Erstens könnte man ein Moskauer Gespräch zwischen dem deutschen Botschafter und Molotow im November 1940 publizieren; da daraus die Territorien ersichtlich würden, die unter sowjetische Einflusssphäre hätten fallen sollen: „It is extremely damaging to the Russian Position." Zweitens gab es die Aufzeichnungen der Gespräche zwischen Molotow, Ribbentrop und Hitler in Berlin im November 1940: „These are not as strong in their effect because they portray Molotov as opposing many of the arguments of Ribbentrop and Hitler." Eine dritte Möglichkeit stellte eine Aufzeichnung über Ribbentrops erste Reise nach Moskau mit einer detaillierten Beschreibung der Gespräche zwischen Stalin, Molotow und Ribbentrop bei der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes und des geheimen Zusatzprotokolls dar. Eine vierte Möglichkeit war die Veröffentlichung aller relevanten Dokumente der Memo. „The Secretary" von Charles E. BOHLEN an Francis H. RUSSELL, [Washington,] 28. 5. 1947, NA, RG 59, C F 1945-49, Box 6760, 862.414/5-2847. - Somit erhielt Acheson eine Kopie des oben in Anm. 248 angegebenen Dokuments: ersichtlich aus Office Memo, wie unten Anm. 251. Dort S. 3. 2 5 0 „It was the unanimous agreement at Mr. Acheson's meeting that it would be improper and unwise for the State Department to publish out of their order and apart from the regular program of the German Foreign Office documents the specific ones relating to German-Soviet relations. It was, however, agreed that they should be included in the regular publication and that efforts should be made to speed up the publication of these documents." Memo. „The Secretary" wie oben Anm. 249. 2 5 1 Office Memo, von G. Bernard NOBLE an C. H. HUMELSINE, [Washington,] 17. 9. 1947, NA, RG 59, C F 1945-49, Box 6760, 862.414/5-2847. 249
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III. Die „ D o c u m e n t s on G e r m a n Foreign P o l i c y "
deutsch-sowjetischen Beziehungen für die Zeit von 1939-1940, was aber im Rahmen des Publikationsprogrammes der Documents on German Foreign Policy nicht vor 1950 zu realisieren war. Da die Herausgeber nicht damit einverstanden waren, im Rahmen ihres Projektes einzelne Dokumente zu veröffentlichen, hieß das für die Diplomaten im Department of State: „If publication of these documents were decided upon, they should be released by the Department in some other form, not as a part of the Project." Hingegen waren die Historiker bereit, die komplette Auswahl relevanter Dokumente im Rahmen ihres Projektes sofort zu publizieren. Da die Mehrzahl der Unterlagen bereits übersetzt worden war, wäre die Edition in einem Monat durchführbar. Für die Drucklegung des Bandes war mit zwei Monaten zu rechnen; durch Genehmigung höchster Priorität seitens des Kongresses wäre dies aber binnen einer oder zweier Wochen nach Fertigstellung der Edition machbar. Die sofortige Publikation einzelner Aktenstücke, zum Beispiel im Department of State Bulletin, schien zu riskant, denn es bot den Sowjets die Möglichkeit - wie dies bereits im Falle Spaniens geschehen war - , wenige andere Dokumente hervorzuzaubern, die zeigten, dass die Sowjetunion dem deutschen Druck widerstanden hatte. Eine ausführliche Veröffentlichung aller relevanten Materialien hingegen „is very strong and it would be difficult for the Russians to rebut them." „ T h e decision with respect to whether any of the above should be published at this time is, aside f r o m the considerations mentioned herein, purely a political decision. It was decided by U n d e r Secretary A c h e s o n on M a y 2 8 , 1 9 4 7 on the basis of political considerations at that time not to publish these documents out of order and apart f r o m the regular program. T h e appropriate political officers should n o w make the decision whether supervening events indicate that this decision should be changed." 2 5 2
Die Entscheidund der zuständigen Abteilungen des Department of State fiel bei einer Sitzung am 2. Oktober 1947 mit den Empfehlungen von John D. Hickerson, Charles E. Saltzman und Francis H. Russell, die Veröffentlichung vorzunehmen, sobàld es die Verhältnisse erlaubten. In jedem Falle sollte dies nicht vor der Beendigung der vom 25. November bis zum 15. Dezember 1947 geplanten Außenministerkonferenz in London geschehen. 253 Am nächsten Tag legte Under Secretary of State Robert Lovett in einem Memorandum an Assistant Secretary of State Charles E. Saltzman die Situation dar. M e m o . ,conf.' von Francis H . RUSSELL (PA) an Charles E . SALTZMAN (A-S), J o h n D . HICKERSON ( E U R ) , HENDERSON ( Ν Ε Α ) , D e a n RUSK (SPA) u n d GROSS (Le), [Washington,] 30. 9. 1947, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), B o x 6836, 862.414/9-3047, K o p i e in N A , R G 59, C F 1945^*9, B o x 6760, 862.414/5-2847. Diesem M e m o , wurde die vertrauliche Zusammenstellung „ S u m m a r y of Negotiations between the Russians and the N a z i Government 1939-1941" beigelegt, ibid., beide Fundorte. 2 5 3 M e m o . „Assistant Secretary" .secret' von Charles E. SALTZMAN (A-S) an U n d e r Secretary of State Robert LOVETT (U), durch S/S, [Washington,] 2 0 . 1 0 . 1 9 4 7 , N A , R G 59, C F 1945—49, B o x 6760, 862.414/5-2847. 252
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Wegen der Publikationsvereinbarungen mit Großbritannien - und, seit kurzem, mit Frankreich - und vor allem wegen der Befürchtung, die Sowjets würden als Retourkutsche für die amerikanische oder, wahrscheinlicher, für die britische Regierung peinliche Dokumente veröffentlichen, schlug er vor, der Wichtigkeit der Frage wegen sollte der Außenminister beschließen, dass die beiden anderen westalliierten Regierungen - entsprechend ihrem Grad an Nervosität 2 5 4 - über die bevorstehende Publikation informiert würden, sofern bei der Außenministerkonferenz keine Entwicklungen stattfänden, die für eine weitere Verschiebung der Publikation sprächen. 2 5 5 Die ergänzte Fassung dieses Memorandums vom 20. Oktober erreichte den Außenminister zur Genehmigung: „In principle yes," notierte Marshall, „but I intend to discuss this with the President". 2 5 6 Anfang November 1947 unterbreitete Marshall dem Präsident und dem Kabinett die Angelegenheit zur Entscheidung, 2 5 7 obschon er gar ein Leck seitens von Kabinettsmitgliedern (sie!) befürchtete. 2 5 8 Das Kabinett verabschiedete die Empfehlung, dass, „should Marginalie von Dean RuSK (SPA), wie unten Anm. 255: „The question of when we tell the British and French must be considered by the Secretary in relation to British and French nervousness during present GA session. Otherwise, I concur." 2 5 5 Memo, .secret' von Charles E. SALTZMAN (A-S) an Under Secretary of State Robert LOVETT (U), durch S/S, s.L, 3.10. 1947, angenommen von HICKERSON (EUR), HEN254
DERSON ( Ν Ε Α ) , RUSK ( S P A ) GROSS ( L E ) , RUSSELL u n d N O B L E ( P A ) , N A , R G 5 9 , C F
1945—49 (Conf.), Box 6836, 862.414/10-347: „At a meeting of the interested Officers of the Department held in my office on October 2, it was decided to recommend the publication of these Russo-German papers shortly after the conclusion of the forthcoming meeting of the Council of Foreign Ministers unless developments prior to that time should warrant our withholding them. It was realized that it is probable that the Russians will attempt to retaliate by publishing documents embarrassing to us or more probably the British. On balance, however, it was felt that United States interests would be served by the publication of these papers and that in view of the seriousness of the issues raised by current Soviet policies we would not be justified in further delaying their publication. [...] Recommendations·. (1) [U]nless developments at the meeting of the Council of Foreign Ministers should indicate the wisdom of further delaying their publication, [t]hat we inform the British and French of our intention to publish the important captured German documents covering Soviet-German relations from 1939 to June 1941, early in December. (2) In view of the seriousness of this decision it is suggested that you obtain the approval of the Secretary." Marginalie von Außenminister George MARSHALL auf dem Memo, wie oben Anm. 253. Vgl. ebenfalls Memo. „The Secretary" .secret' von W. J. MCWILLIAMS (S/S) an Charles E. SALTZMAN (A-S) (Assistant Secretary), [Washington,] 31.10. 1947, NA, RG 59, CF 1945—49 (Conf.), Box 6836, 862.414/10-3147: „The Secretary has approved, in principle, your memorandum [...]. The Secretary wishes, however, that implementing action be delayed until he has discussed the project with the President and the Cabinet. I will advise you when final approval has been given." 2 5 7 Wie unten Anm. 258. Darauf Marginalien von Außenminister George C. MARSHALL: „For next Cabinet meeting" und „Read to Cabinet". 2 5 8 Memo. „The Secretary" .secret' von W. J. MCWILLIAMS [an Außenminister George C. MARSHALL], [Washington,] 6.11.1947, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 6760, 862.414/5-2847: „As regards endangering security by discussion with the Cabinet, it is assumed that the confidence of the Cabinet discussions would be observed by the 256
220
III. Die „Documents on German Foreign Policy"
conditions warrant their release, steps be taken immediately following the meeting of the Council of Foreign Ministers to transmit the documents to the printer for publication". 2 5 9 Währenddessen hatten die Historiker des Department of State versichert, dass die Veröffentlichung binnen dreier Wochen gedruckt werden könne, sollten die Resultate der Londoner Konferenz die Veröffentlichung als erwünscht erscheinen lassen. 260 Dass zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Nervosität in Bezug auf die deutsch-sowjetischen Akten herrschte, zeigt die etwas übertriebene Befürchtung, die einige Exponenten der Army hegten, dass wegen eines in der lizenzierten Zeitung Der Abend in der französischen Besatzungszone erschienenen Artikels über die deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1938 bis 1945 während der Außenministerkonferenz sowjetische Repressalien zu gewärtigen seien. 261 Daher versicherte der Außenminister auf einer Pressekonferenz vom 12. November 1947, dass es seitens der Army zu keinen Indiskretionen gekommen sei, und informierte generell über die von den Westalliierten vereinbarte Veröffentlichung der Akten des Auswärtigen Amts in der Serie der Documents on German Foreign Policy, ein Unternehmen, das von „ top-flight outside scholars who would do this job on a completely objective and scholarly basis" durchgeführt werde. 2 6 2 Selbstvermembers. However, it is public knowledge that the documents are being worked on; they are intended for eventual publication anyway; and the recommendation herein is on an ,if and when' basis. It is not believed that a violation of confidence would have serious consequences." 2 5 9 Memo. „The Secretary" .secret' von C. H. HUMELSINE (S/S) an Francis H. RUSSELL (PA) (for Action), an Charles E. SALTZMAN, John D. HICKERSON, Norman ARMOUR, Howland H. SARGEANT und Charles E. BOHLEN (for Info.), [Washington,] 15. 11. 1947, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 6760, 862.414/5-2847. 2 6 0 Office Memo. ,conf.' von Howland H. SARGEANT an Under Secretary of State Robert LOVETT, durch S/S, [Washington,] 21. 10. 1947, NA, RG 59, CF 1945^9, Box 6760, 862.414/5-2847: „In anticipation of the possible desire to publish them separately, the American editorial staff made a collection of the relevant documents and had them translated. [...] In a high level policy meeting on October 2, it was decided that this material should be prepared for publication pending the outcome of the November CFM Conference in London. It was felt that if this conference failed of achievement, the Russo-German documents should then be published. In summary, the documents can be ready for the printer in about a week. If the results of the London Conference are such as to make publication desirable, this can be consummated within an additional two weeks." Vgl. ferner „Statement for Secretary's own information" [von G. Bernard NOBLE, 5. 11. 1947], NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 24, „Publicity Relating to the Nazi-Soviet Relations, 1939-1941". 2 6 1 Vgl. Telegr. [?] ,top secret and eyes only' von General Lucius D. CLAY an William H. DRAPER Jr., s.l., 6.11.1947, in: Papers of General Clay, Bd. 1, Dok. 291, S. 490f. Clay versicherte Draper, dass die US-Army die Akten über die deutsch-sowjetischen Beziehungen nicht ohne Genehmigung des Dep. of State zur Verfügung stellen würde: „We hope you are not unduly nervous." 2 6 2 Pressemitteilung des Dep. of State, 12. 11. 1947, Ν A, RG 59, CF 1945^9, Box 6760, FW 862.414/7-1249.
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ständlich enthielt das Kommuniqué des Außenminister keinen Hinweis auf eine geplante sofortige Publikation. Auf der Außenministerkonferenz in London kamen die drei Westmächte zu dem Schluss, dass in der deutschen Frage keine Einigung mit Sowjetrussland möglich war,263 und das Department of State beschloss, die Publikation wie geplant voranzutreiben. Die Veröffentlichung der Nazi-Soviet Relations wurde also erst dann politisch opportun und durchführbar, als die Westmächte unter amerikanischer Ägide beschlossen, dass es in der deutschen Frage keinen anderen Ausweg als die Errichtung eines westdeutschen Staates gab. So unterstützt die Geschichte dieser Publikation Marc Trachtenbergs These, dass die deutsche Frage „lay at the heart of the Cold War". 264 Am 24. Dezember 1947 informierten G. Bernard Noble, der Leiter der Historischen Abteilung im Department of State, und Prof. Raymond J. Sontag, der Leiter des Editionsprojektes der deutschen diplomatischen Akten, offiziell je einen Vertreter der britischen und der französischen Botschaft in Washington über die bevorstehende Publikation.265 Der britische Diplomat zeigte sich betroffen, dass seine Regierung nicht zuvor informiert worden war, denn er befürchtete, die Regierung Seiner Majestät könne sowohl innenwie außenpolitisch kritisiert werden. Der Franzose hingegen war erleichtert, dass nicht seine Regierung den Beschluss zur Publikation hatte fassen müssen. Zwar war er mit den amerikanischen Enthüllungsabsichten einverstanden, doch er unterstrich, dass sich Frankreich in dieser Angelegenheit die Hände in Unschuld waschen würde.266 Das Foreign Office und der britische leitende Herausgeber der Documents on German Foreign Policy, John W. Wheeler-Bennett, protestierten nochmals gegen die Publikation, die in ihren Augen den Wert der geplanten Aktenedition schmälerte.267 Das Quai d'Orsay hingegen begnügte sich damit, im Januar festzustellen, dass die volle Verantwortung der Aktion beim Department of State liege.268 Vgl. Marc TRACHTENBERG, A Constructed Peace. The Making of the European Settlement. 1945-1963, Princeton 1999, S. 66. 264 TRACHTENBERG, Constructed. Peace, S. VII. 2 6 5 Memo, .secret' von G. Bernard NOBLE (RE) an Robert L. THOMPSON (EUR), [Washington,] 26. 12. 1947, NA, RG 59, CF 1945^9 (Conf.), Box 6836, 862.414/12-2647. 266 Memo, for record .secret' von G. Bernard NOBLE, [Washington,] 24.12.1947, NA, 263
R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 6836, 8 6 2 . 4 1 4 / 1 2 - 2 4 4 , Kopie ebenfalls in N A , R G 59,
Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 24, „Publicity Relating to the Nazi-Soviet Relations, 1939-1941".
Brief .secret' von J. N. HENDERSON (britische Botschaft in Washington) an G. Bernard NOBLE, Washington, 31. 12. 1947, NA, RG 59, CF 1945-49, Box 6760, 862.414/ 12-3147, Abschr. in NA, RG 59, CF 1945-49, Box 4,026 Nazi-Soviet Relations/1-248. 268 Memo, .secret' von G. Bernard NOBLE (RE) an Robert L. THOMPSON (Bureau of European Affairs), Kopie an Francis H. RUSSELL (PA), [Washington,] 8.1.1948, NA, RG 59, CF 1945—49 (Conf.), Box 5708, 840.414/1-848; Kopie in NA, RG 59, CF 194549 (Conf.), Box 6836, 862.414/1-848; ferner Brief von Arnauld WAPLER (Botschaftsrat der französischen Botschaft) an G. Bernard NOBLE, [Washington,] 19. 1. 1948, NA, RG 267
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Nachdem das Pressekommuniqué am 26. Dezember 1947 zur Kenntnisnahme innerhalb des Department of State in Umlauf gesetzt worden war, wurde es am 30. Dezember genehmigt.269 In der geplanten Pressemitteilung bemühte sich das Department of State, die Differenzen mit den Briten zu relativieren und deren Leistungen in den Vordergrund zu stellen.270 Nebst der Aktenerbeutung nach Kriegsende wurde auch auf das gemeinsame Unternehmen der Außenministerien der USA, Großbritanniens und Frankreichs hingewiesen, eine Publikation der erbeuteten Dokumente zu finanzieren, „with a view to giving a complete and accurate account of German diplomacy relating to World War II for the enlightenment of American and world opinion." Das Department habe sich nun aber entschlossen, die Dokumente betreffend der deutsch-sowjetischen Beziehungen gesondert und außerhalb der Serie der Documents on German Foreign Policy zu publizieren, um dem Publikum wichtiges Hintergrundmaterial zu laufenden europäischen Fragen sofort zugänglich zu machen. Um die separate Publikation zu legitimieren, wurde als offizieller und plausibler Grund aufgeführt, dass damit in einem Band Dokumente zusammengeführt werden, die sonst in der regulären Serie wegen der chronologischen Aufteilung in verschiedenen Bänden verstreut publiziert werden würden. Schließlich wurde noch festgehalten, dass die Autoren Raymond J. Sontag und James S. Beddie in ihrer Arbeit voll unabhängig gewesen seien und letztlich die Verantwortung für diese Selektion trügen.271 Die Nazi-Soviet Relations 1939-1941. Documents from the Archives of the German Foreign Office erschienen am 21. Januar 1948. 272 Die Verteilung der Publikation wurde sorgfältig durchdacht und durchgeführt. Anfang Februar 1948 wurden ausgewählte diplomatische Vertretungen der USA in einem geheimen Rundschreiben gebeten, dem Department den Bedarf an Exemplaren in ihrer Region für eine selektive Verteilung anzumelden.273 Für die Vertei59, C F 1945—49, Box 6760, 8 6 2 . 4 1 4 / 1 - 1 9 4 8 : „II reste entendu que le Gouvernement français laisse au Gouvernement américain toute la responsabilité de cette publication, faite en dehors de la publication générale des documents allemands entreprise par les trois Gouvernements." 2 6 9 „Press Release" .secret' [von G. Bernard NOBLE, Washington, 3 0 . 1 2 . 1947], N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 6836, [862.414/12-3047]; ferner Memo, .secret* von G. Bernard NOBLE ( R E ) an Francis H. RUSSELL (PA), [Washington,] 2. 1. 1948, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 6836, 8 6 2 . 4 1 4 / 1 - 2 4 8 . 2 7 0 Vgl. Office Memo, .secret' von G. Bernard NOBLE an Robert L. THOMPSON, [Washington,] 2. 1. 1948, N A , R G 59, C F 1950-54, Box 4, 026 Nazi-Soviet Relations/1248. 2 7 1 Entwurf einer Pressemitteilung [von G. Bernard NOBLE?, Washington,] 2. 1. 1948, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 4, 026 Nazi-Soviet Relations/1-248. 2 7 2 Vgl. Department of State Wireless Bulletin, 2 1 . 1 . 1948, N A , R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 24, „Publicity Relating to the Nazi-Soviet Relations, 1939-1941". 2 7 3 Rundschreiben .secret' vom Dep. of State an .gewisse' amerikanische diplomatische und konsularische Beamte (Botschaften: Brüssel, Prag, Paris, London, Athen, Rom,
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lung in der Schweiz mahnte die amerikanische Botschaft in Bern zur Vorsicht, denn: „Most Swiss convinced bad faith USSR but official neutrality and sensitivity to suspected attempts at political pressure renders advisable exercise considerable discretion in placing documents." 274 Die amerikanische Presse und das Radio widmeten der Publikation große Kolumnen und ausgiebige Sendezeit. Im Department of State schätzte man gar, dass diese Dimension bislang unübertroffen war.275 Die Nachrichten und die Kommentatoren präsentierten die Veröffentlichung als sehr wichtiges, sensationelles, gar dramatisches Ereignis. Nebst genereller Kritik an der Sowjetunion bezeichneten beispielsweise die New York Times und die Houston Post die Dokumente als Warnsignal für den Westen. Das Milwaukee Journal und die Dallas Morning News unterstrichen in ihren Kommentaren die Erkenntnis, dass die amerikanische Regierung nicht mehr an die Möglichkeit befriedigender Beziehungen mit der UdSSR glaube. Kritisiert wurde insbesondere, beispielsweise von den Indianapolis News und vom Wall Street Journal, die Verspätung, mit der die Publikation erschienen sei, und die pragmatische .realistische' Politik, die bislang der Sowjetunion gegenüber verfolgt worden war. Weiter wurde kritisiert, die Veröffentlichung würde nun die Beziehungen zu der UdSSR verschlechtern. Das Department of State registrierte aber zufrieden: „The contents of the records have contributed to a more pronounced expression of distrust of Russia - a distrust which had been reflected previously in widespread press and radio comment. In the view of a large segment of those commenting, the documents constitute effective and powerful 'counter-propaganda' in the 'cold war' with Russia." 276
In der Tat hatte eine große Anzahl von Kommentatoren die propagandistische Wirkung im „war of words" diskutiert. So schätzte beispielsweise die Denver Post die Aktion als „a devastating propaganda stroke against the Soviets" ein, und die Time brachte es auf den Punkt: „It was clearly propaganda, but propaganda with the virtue of sober truth." Innenpolitisch löste die Den Haag, Oslo, Warschau, Belgrad, Kopenhagen, Budapest, Bukarest, Stockholm, Kairo, Teheran, Ankara, Beirut und New Delhi; Gesandtschaften: Helsinki, Bern, Wien und Sofia; Konsulate: Bombay, Istanbul und Karachi, sowie U S P O L A D in Berlin), Washington, 3. 2. 1948, NA, RG 59, C F 1945-49, Box 4 , 0 2 6 Nazi-Soviet Relations/2-348. 2 7 4 Telegr. .secret' von John Carter VINCENT (US-Botschaft in Bern) an den Außenminister, [Washington,] 4. 2. 1948, NA, RG 59, C F 1945-19, Box 4, 026 Nazi-Soviet Relations/2-448. 2 7 5 Memo. ,conf.' von Francis H. RUSSELL (PA) [aber aufgesetzt von G. Bernard NOBLE] an Under Secretary of State Robert LOVETT (U), [Washington,] 16. 2.1948, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 - Í 9 (Conf.), B o x 6836, 8 6 2 . 4 1 4 / 2 - 1 6 4 8 . 2 7 6 Bericht „US Public Comment on Nazi-Soviet Documents" .restricted' von der Division of Public Studies im Office of Public Affairs im Dep. of State, [Washington,] 9. 2. 1948, NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 24, „Publicity Relating to the NaziSoviet Relations, 1939-1941".
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Publikation viele Spekulationen über den Zeitpunkt der Veröffentlichung aus. Vielerorts wurde die Enthüllung als Maßnahme interpretiert, um eine breite Unterstützung für den Marshall-Plan im Kongress zu sichern. Außenpolitisch hingegen wurde eine Verknüpfung mit Bevins Bekanntgabe, dass Schritte in Richtung einer westlichen Union in Europa unternommen werden würden, hergestellt und diese fast synchronen Ereignisse als westlicher Doppelschlag gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg gewertet. 277 Der Veröffentlichung wurde auch im Ausland großes Interesse entgegengebracht. 278 In Großbritannien fanden am 28. Januar und am 4. Februar 1948 gar zwei parlamentarische Debatten statt. Unter Druck der Opposition geraten, verteidigte sich Bevin mit der Bemerkung, er wisse nicht, ob eine Publikation von Dokumenten außerhalb ihres Kontextes eine weise Entscheidung sei. Minister Hector McNeil fasste mit der Feststellung nach, die bislang verfolgte Politik einer Veröffentlichung im Rahmen der Documents on German Foreign Policy werde mehr Gewicht haben als eine planlose Publikation der Dokumente. 279 Beide Bemerkungen sorgten bei den Historikern im Department of State für große Irritation. Beleidigt bezichtigten sie die Briten in einer internen Stellungnahme, durch ihre Beteiligung an der Edition der Documents on German Foreign Policy nichts anderes als die Blockierung des Projektes zu bezwecken. 280 Die französische Regierung verfolgte ihre Pontius-Pilatus-Politik. Als die Sowjetunion die Westalliierten wegen der Publikation heftig angriff, begnügte sich das Quai d'Orsay damit, ein lakonisches Kommuniqué zu verabschieden. Darin wurde darauf hingewiesen, dass die französische Regierung vor der Publikation nicht konsultiert worden sei und darum „il n'appartient pas à celui-ci de juger le bien fondé de l'initiative améFür eine Zusammenstellung der Pressekommentare vgl. den oben in Anm. 276 angegebenen Bericht. 2 7 8 Vgl. ζ. B. Der Bund (22. 1. 1948). 279 Parliamentary Debates (Hansard), Vol. 447, No. 66, vom 28. 1. 1948 und 4. 2. 1948. Eine Zusammenstellung findet sich in NA, RG 59, C F 1945-49, Box 6760, FW 862.414/ 2-948, und in NA, RG 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 24, „Publicity Relating to the Nazi-Soviet Relations, 1939-1941". 2 8 0 Office Memo, von Prof. Raymond J. SoNTAG an G. Bernard NOBLE, [Washington,] 5. 2. 1948, NA, RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 6760, 862.414/2-548: „The Editors offer the following explanation for the bad-tempered reaction of the British. Increasingly, the American editors - both in Washington and Berlin - have become convinced that the British agreed to joint exploitation of the German Foreign Office Archives in order to delay publication of these documents until they would be only, as ,a Foreign Office spokesman' phrased it, of academic interest. Since the logical reply of the U.S.S.R. to .Nazi-Soviet Relations' would be to publish German documents in their possession, and as there is strong likelihood that these documents will show British policy, and individual Englishmen, in an unflattering light, the British can no longer play a delaying game. While we cannot conclusively demonstrate the correctness of this explanation, it is a remarkable coincidence that, on the day after .Nazi-Soviet Relations' appeared, the British editors proposed measures for hastening editorial work, the first such proposals they have made in the entire history of our joint endeavor." 277
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ricaine, aussi en a-t-il simplement pris acte. Les critiques formulées à l'adresse de la France sont donc injustifiées." 281 Die sowjetische Replik ließ vorerst auf sich warten. Erste Stellungnahmen erfolgten zwei "Wochen nach der Veröffentlichung der Dokumente. Darin wurden die Westalliierten als .Geschichtsfälscher' attackiert. Die Kritik zielte insbesondere auf die gegenüber der UdSSR diskriminierende anglo-amerikanische Politik in Bezug auf eine gemeinsame Auswertung der erbeuteten Archive, auf die Tatsache, dass die Publikation ausschließlich nationalsozialistische Dokumente enthalte, auf die westliche Vorkriegspolitik, die eine Wiederbewaffnung Deutschlands ermöglichte, und auf die anglo-französische Appeasement-Politik. Weiter wurde argumentiert, die Sowjetunion habe einen Kampf auf Zeit geführt, während die Amerikaner mit den Deutschen über einen Separatfrieden verhandelt und zusammen mit Großbritannien lange gezögert hätten, eine zweite Front zu eröffnen, um die Sowjetunion als Großmacht zu schwächen. 282 In London überlegte sich das Foreign Office, wie diesen Anschuldigungen der UdSSR zu begegnen sei, und bat das Department of State, künftig die Publikation einzelner Aktenstücke zu unterlassen. 283 Später - der kommunistische Staatsstreich in der Tschechoslowakei hatte die außenpolitischen Prioritäten geändert - beschlossen die Briten, keine Entgegnung auf die sowjetischen Anschuldigungen vorzunehmen. 284 Darüber, ob es dafür triftige Gründe gab, können wir hier bloß spekulieren, denn die entsprechende Korrespondenz in den National Archives ist nach wie vor gesperrt. 285 Eine der Konsequenzen dieser Publikation in Bezug auf das Editionsprojekt der Documents on German Foreign Policy war das Fernbleiben der Sowjetunion. Einerseits hatten die Umstände dazu geraten, eine sowjetische Partizipation abzulehnen, 286 andererseits kam nie eine sowjetische Anfrage.
Brief von Arnauld WAPLER (Botschaftsrat der französischen Botschaft) an Prof. Raymond J. SONTAG, Washington, 12. 2. 1948, N A , R G 59, C F 1945-49, Box 6760, 862.414/2-1248. 2 8 2 Wie oben Anm. 275. 2 8 3 Aide-mém. ,conf.' von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, Washington, 20. 2. 1948, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 6836, FW 862.414/22048. 2 8 4 Aide-mém. ,conf.' von der britischen Botschaft in Washington an das Dep. of State, 281
[ W a s h i n g t o n , ] 2. 3. 1 9 4 8 , N A , R G 5 9 , C F 1 9 4 5 ^ 1 9 ( C o n f . ) , B o x 6 8 3 6 , F W 8 6 2 . 4 1 4 / 2 -
2048. Vgl. ferner Aide-mém. ,conf.' vom Dep. of State [G. Bernard NOBLE] an die britische Botschaft in Washington, Washington, 5. 3. 1948, N A , R G 59, C F 1945-49
(Conf.), B o x 6836, F W 862.414/2-2048, und Brief von G . Bernard NOBLE an J . N . HENDERSON, [Washington,] 19. 3. 1948, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 - 4 9 ( C o n f . ) , B o x 6836, 862.414/3-248.
„Withdrawal notice" .access restricted' für einen Brief von J. N . HENDERSON (britische Botschaft in Washington) an Bernard G. NOBLE, 2. 3. 1948, N A , R G 59, C F 1945-49 (Conf.), Box 6836, 862.414/3-248. 286 Brief „Department of State - The Counselor" ,conf.' von Charles E. BOHLEN an 285
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III. Die „Documents on German Foreign Policy"
Einige Monate später nahm der Direktor des Office of Public Affairs im Department of State befriedigt die Mitteilung der Moskauer Botschaft entgegen, dass „the propaganda effect in Russia of the publication of this volume was tremendous" und „so far as the Embassy could see, the Soviet Government was caught flat-footed in what was the first effective blow from our side in a clear-cut propaganda war." 287 Auch Jahre später erwies sich das Werk immer noch von großem politischen Nutzen. Als Ende Januar 1953 John Foster Dulles seine erste Radioansprache als Außenminister hielt, um die Aggressivität der sowjetischen Außenpolitik zu belegen, zitierte er Dokumente, die in den Nazi-Soviet Relations abgedruckt waren. 288 Der Erfolg der Nazi-Soviet Relations war aber nicht nur an der Propagandafront spürbar, auch kommerziell wurden sie ein Bestseller. Die amtliche Auflage von etwa 25 000 Exemplaren war innerhalb von wenigen Monaten vergriffen. Da nebst dieser Auflage auch noch eine kommerzielle aufgelegt wurde, war die Gesamtzahl der verkauften Exemplare noch wesentlich höher. Das Pamphlet entpuppte sich schließlich als die erste Publikation des Department of State überhaupt, dessen Einnahmen die Kosten überstie-
Die Durchführung des historischen
Editionsprojektes
Im Sommer 1946 nahmen die britischen und die amerikanischen Historikergruppen die Arbeit am Editionsprojekt der Akten des Auswärtigen Amts unter dem Projektnamen German War Documents Project (GWDP) auf. Nachdem die United Press bereits eine entsprechende Meldung in die Welt gesetzt hatte, informierte das Department of State Anfang Oktober, nicht ganz freiwillig, die Öffentlichkeit über das Unternehmen. Die Haltung des Department war zu jenem Zeitpunkt noch vom Zaudern geprägt, die geheimen deutsch-sowjetischen Vereinbarungen zu veröffentlichen und somit die Beziehungen zur Sowjetunion zu belasten.290 Francis H. RUSSELL (PA), [Washington,] 23. 2. 1948, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 6836, 862.414/2-2348. 2 8 7 Office Memo, von Francis H. RUSSELL an Richard A. HUMPHREY, [Washington,] 10. 11. 1948, N A , R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 24, „Publicity Relating to the Nazi-Soviet Relations, 1939-1941". 2 8 8 Office Memo, von Dr. Paul R. SWEET an G. Bernard NOBLE, [Washington,] 5. 2. 1953, Ν Α , R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 1, „Untitled". 2 8 9 Office Memo, von Prof. Raymond J. SONTAG an G. Bernard NOBLE, [Washington,] 20. 4. 1949, N A , R G 59, Bureau of Public Affairs - Historical Office, Records relating to the German Documents Project, 1944-1983, Box 24, „Publicity Relating to the Nazi-Soviet Relations, 1 9 3 9 - 1 9 4 1 " . 2 9 0 „There was some hesitation for fear would worsen US relations with Russia." Telegr. .plain' vom Dep. of State an den United States Political Adviser for Germany [Ro-
2. Das historische Projekt als Waffe im Kalten Krieg. 1 9 4 6 - 1 9 6 0
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Das offizielle Kommuniqué 291 unterstrich die Objektivität des Vorhabens, die von höchst angesehenen externen Wissenschaftlern garantiert werde, verlor aber kein Wort darüber, dass das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Foreign Office durchgeführt werde. Diese Unterlassung war kein Versehen, sondern spiegelte die amerikanische Malaise wider, ein .alliiertes' Projekt vorstellen zu müssen, ohne dass Frankreich und die Sowjetunion offiziell darüber informiert worden waren. Die Meldung erschreckte die britische Diplomatie offensichtlich, die einen Alleingang der Amerikaner und - zumindest ist es nach der Affäre um die den Herzog von Windsor belastenden Akten zu vermuten - den Verlust der Kontrolle über die Enthüllungen befürchtete. So fühlte sie sich wieder einmal zu einer diplomatischen Intervention beim Department of State bemüßigt. 292 In der Folge informierte der britische Außenminister das Unterhaus, dass auch Großbritannien an der Edition beteiligt sei. Als leitende Herausgeber für die Edition zeichneten für die amerikanische Seite Prof. Dr. Raymond J. Sontag von der Division of Historical Policy Research und für die britische John W. Wheeler-Bennett. Sontag, der 1948 zusammen mit Dr. James S. Beddie die Nazi-Soviet Relations herausgab, war Professor für europäische Geschichte an der renommierten University of California in Berkeley. Von 1946 bis 1949 führte er das GWDP-Projekt, während Wheeler-Bennett bereits 1948 aus dem Editionsunternehmen ausschied, um die Stellung eines Historischen Beraters im Foreign Office zu übernehmen. In Berlin wurde die amerikanische GWDP-Gruppe von Prof. Dr. E. Malcolm Carroll, Geschichtsprofessor an der angesehenen Duke University in North Carolina, der hierfür beurlaubt war, geleitet. Die anderen amerika-
bert MURPHY], Washington, 16. 10. 1946, N A , RG 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 , Box 5677, 840.414/ 10-1046.
„A program for the publishing of an authoritative collection of German Foreign Office documents and other official papers is being undertaken by the Department of State. [...] The objective of the Department is the publication of the complete and accurate documentary record of German foreign policy preceding and during World War II. It is believed that 20 or more volumes will be required for this task. In order to guarantee the objectivity of the undertaking, the Department is calling in outside scholars of the highest reputation. [...] A photographic project is currently reducing the tons of written material to microfilm. The films are being flown from Germany to the State Department. They began arriving several months ago and are now in the process of being catalogued and translated. During the past six months the Department has published in the Department of State Bulletin and in pamphlet form selected German documents from the large collection of these materials which has been brought over in microfilm. It will continue to do this from time to time. These and future documents published in the Bulletin will be included in the projected full documentary record." Department of State Bulletin 15, Nr. 380 (13. 10. 1946), S. 690f. Vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung (4. 10. 1946). 291
Memo, of conversation .secret' von Howard TRIVERS ( C E ) über ein Gespräch mit Herbert M. SICHEL (Erster Sekretär der britischen Botschaft in Washington), [Washington,] 9. 10. 1946, N A , R G 59, C F 1 9 4 5 ^ 9 (Conf.), Box 5708, 8 4 0 . 4 1 4 / 1 0 - 9 4 6 . 292
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III. Die „ D o c u m e n t s on G e r m a n Foreign P o l i c y "
nischen Mitglieder waren John W. Huizenga und Dr. Fritz T. Epstein, letzterer ein deutscher Emigrant, der 1933 kurz vor der geplanten Habilitation in Frankfurt am Main zuerst nach England und dann in die USA emigrieren musste und während des Krieges im OSS Dienst leistete.293 Das nachrichtendienstliche Projekt unter dem Namen Exploitation of German Archives (EGA) wurde für die Amerikaner von Saxton E. Bradford von der Division of Foreign Activity Correlation geleitet sowie von Dr. John Krumpelmann in Berlin vertreten. Im Gegensatz zu den Amerikanern, welche die zwei Projekte zwei verschiedenen Abteilungen des Department of State unterstellt hatten, hatten die Briten beide Projekte unter die Obhut der gleichen Person im Außenministerium gestellt, dem Librarian des Foreign Office, E. James Passant, zuvor Dozent in Cambridge. In Berlin wurde das EGA-Projekt von Oberstleutnant Robert Currie Thomson, Assistant Librarian des Foreign Office, geleitet. Aufgabe der EGA-Gruppe war die Verfilmung der wichtigsten Bestände des Auswärtigen Amts und deren Auswertung, ein Auftrag, dem nach wie vor von beiden Außenministerien Vorrang gegenüber dem historischen Projekt eingeräumt wurde. 294 Das Eintreffen der Historiker des Editionsprojektes in Berlin sorgte für erhebliche Spannungen mit der seit 1945 mit den Akten des Auswärtigen Amts beschäftigten EGA-Gruppe, Spannungen, die mithin gar zu Friktionen innerhalb der beiden Teile der anglo-amerikanischen nachrichtendienstlichen Gruppen führten, 295 vor allem, weil die Briten beide Aufgaben unter eine einzige Verantwortung gestellt hatten. Da sich die bisherige Arbeitsweise des EGA-Projektes nicht für die Forschungsarbeit mit dem Ziel einer Aktenedition eignete, änderten die sich durch ihre höheren akademischen Weihen als vorgesetzt fühlenden Mitglieder der Historikergruppe um Professor Raymond J. Sontag diese Arbeitsmethode kurzerhand und stellten die Autorität der seit den Anfängen mit den Akten vertrauten Gruppe gar in Frage. 296 Dieser Konflikt spiegelte aber auch einen seit der Planung der Aktenerbeutung schwelenden Kompetenzstreit innerhalb des Department of State zwischen der Division of Foreign Activity Correlation und der Division of Research and Publication wider. Dieser war mit dem erzwungenen Ausscheiden von Dr. E. Ralph Perkins, Herausgeber der Foreign Relations of the United States, aus dem Unternehmen der erbeuteten Akten des Auswärtigen Amts bereits im Juli 1945 zu Gunsten der nachrichtendienstlichen Abteilung des
Winfried SCHULZE, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993, S.316Í. 2