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German Pages [160] Year 2017
Stefan Krankenhagen · Viola Vahrson (Hg.)
Geschichte kuratieren Kultur- und kunstwissenschaftliche An-Ordnungen der Vergangenheit
Böhlau Verlag Köln Weimar Wien · 2017
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Mats Staub, 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden, Frankfurt, Künstlerhaus Mousonturm, 2013 (© Foto: Jörg Baumann)
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50713-8
Inhalt Vorwort ..........................................................................................................
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Stefan Krankenhagen
Geschichte kuratieren ...................................................................................
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Jens Kabisch
Immerwährende Gegenwart. Zur Poetik des US-amerikanischen Freilichtmuseums ............................. 15 Stefan Krankenhagen
William F. Cody und die Verfügbarkeit von Geschichte in der Populären Kultur. Ein Pre-Enactment ............................................. 33 Susanne Wernsing
Modell DDR. Aufführung von Erinnerungslandschaften als kuratorische Praxis ................................................................................. 45 Simone von Büren
Leben – Erzählen – Zeigen. Gedanken zum Umgang mit dem Biographischen im künstlerischen Werk von Mats Staub ......................... 63 Werner Greve
Ichs, Identitäten und Selbste ........................................................................ 67 Annemarie Matzke
Sich Selbst Erzählen. Mats Staubs Installation 21 als Performance . . ......... 75 Volker Wortmann
Erinnerungen im Hochformat. Bemerkungen zu Mats Staubs 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden und der Praxis auto biographischer Dokumentarfilme ............................................................... 79 Mats Staub
21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden .................................................... 85
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Inhalt
Projekt Bildverschwendung
Editing the World ............................................................................................ 93 Torsten Scheid
Gegenwart kuratieren. Zur Bildverschwendung im Internet . . .................. 101 Mareike Herbstreit
Kuratierte Performance in Marina Abramovićs The Artist Is Present ...... 107 Thomas Lange
Jeremy Dellers Battle of Orgreave. Gesellschaftsformierende Aspekte von Kunst im Konglomerat der Geschichte .. .............................................. 123 Viola Vahrson
80064 kuratieren. Zu einem fragwürdigen Umgang mit Geschichte im Werk von Artur Żmijewski ..................................................................... 139 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .................................................. 153 Bildnachweis .................................................................................................. 157
Vorwort Das vorliegende Buch geht zurück auf eine Tagung, die im Februar 2015 unter dem Titel Geschichte kuratieren auf dem Kulturcampus Domäne der Stiftung Universität Hildesheim stattfand. Allen damaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmern und all jenen, die für dieses Buch einen Beitrag geschrieben haben, sei herzlich gedankt. Besonderer Dank geht an Mats Staub (Olten/CH) und Torsten Scheid (Hildesheim), die ihre Arbeiten 21 und Editing the World nicht nur während der Tagung ausgestellt haben, sondern uns auch die Abbildungen für die beiden Photostrecken großzügig überlassen haben. Dank gilt auch der Forschungskommission der Stiftung Universität Hildesheim sowie dem hiesigen Herder-Kolleg – Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung für die finanzielle Unterstützung. Wie immer hat der Böhlau Verlag die Entstehung des Buches gewissenhaft und zugewandt betreut. Hildesheim im September 2016, Stefan Krankenhagen und Viola Vahrson
Stefan Krankenhagen
Geschichte kuratieren Die in den letzten beiden Jahrzehnten gewachsene kulturelle Bedeutung des Kurators1 ist auf jene Expertise zurückzuführen, die in dieser Figur beispielhaft zur Anschauung kommt: auf die gesteigerte Fähigkeit sinnvoll auszuwählen und dieser subjektiven Auswahl zugleich objektiven Sinn zu verleihen. Die kuratorische Praxis verkörpert, in den Worten von Sheena Iyengar, „The Art of Choosing“.2 Fragt man nach den Gründen für diese Erweiterung der kuratorischer Praxis in die Sphären der Lebenswelt und des Alltags hinein, so bietet Gerhard Schulzes Arbeit zur modernen Erlebnisgesellschaft einen sinnvollen Rahmen. Schulze stellt den historischen Übergang von einer Armuts- zu einer Überflussgesellschaft in das Zentrum seiner Überlegungen. Erst unter der Prämisse des ‚Zuviel‘ wird die von ihm anvisierte „Erlebnisrationalität“ des modernen Subjekts nötig und verstehbar. „An die Stelle von Gesellschaftsbildung durch Not tritt Gesellschaftsbildung durch Überfluß.”3 Schulzes Studie fragt nach den Folgen, die ein Individuum trägt, das sich in allen Lebensbereichen vor die Wahl gestellt sieht. Denn der Umgang mit dem Zuviel erfordert andere kulturelle Entscheidungen, als der Umgang mit dem Zuwenig. Die konstituierende Kraft des Zuviel ist ein entscheidender Grund für den Aufstieg des Kuratorischen als aktueller Leitbegriff gesellschaftlicher Praxis.4 Die Funktionsweisen des Kuratorischen gewinnen genau dann kulturelle Bedeutung, wenn der Überfluss an Objekten oder Ideen, Zeichen oder Praktiken – generell, wenn der Überfluss 1
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In allen Beiträgen dieses Bandes wird der Lesbarkeit halber entweder die weibliche oder die männliche Form durchgängig benutzt. Wie üblich und vernünftig, sprechen die Autoren und Autorinnen damit alle Geschlechter an. Iyengar, Sheena: The Art of Choosing, New York: Grand Central 2010. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1992, S. 67. Vgl. etwa Früchtjohann, Jan: „Curation Nation. Vor zehn Jahren galt der DJ als Inbegriff der Moderne, nun will sich jedermann als Kurator verstehen“, in: Süddeutsche Zeitung vom 23./24.07.2011, Nr. 118, S. 13; Timm, Tobias: „Die Macht der Geschmacksverstärker. Für viele junge Menschen ist Kurator der neue Traumberuf. Die Folgen für die Kunstwelt sind gravierend“, in: ZEIT ONLINE , http://www.zeit.de/2011/19/KunstKuratoren, abgerufen am 08.09.2016.
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an Möglichkeiten evident wird und somit gebändigt werden muss. Und das heißt: Es wird eine Form für den Umgang mit dem Zuviel gesucht. Das Kuratorische bietet diese Möglichkeit nicht nur als eine spezifische Auswahl und eine ästhetische Ordnung der Dinge, sondern auch als einen Akt der subjektiven Selbstkonstituierung: „to be oneself is to make the choices that best reflect the self “, schreibt Dorothea von Hantelmann. Sie fährt fort: „The curator emerges as a figure who exemplarily constitutes himself or herself through aesthetic choices, who is a virtuoso in choosing and in making these choices meaningful.“5 In dieser Hinsicht bietet das Kuratorische Lösungsansätze für zwei Spannungsfelder der Moderne: für den Umgang mit der Quantität der Möglichkeiten und für den Umgang mit der Kontingenz des Selbst.6 Weil das ‚Ich‘ permanent gezwungen ist, Auswahl-Entscheidungen zu treffen, die nicht überlebensnotwendig, sondern innenorientiert gesteuert sind und weil jede Entscheidung für eine spezifische Auswahl als sinngebend, ‚zu sich‘ gehörend legitimiert werden muss, hat die kuratorische Praxis das Feld der Kunst überschritten und große Teile des Alltags und der Populärkultur für sich eingenommen.7 Etwas zu kuratieren – ob Minimal Art oder die eigene Musiksammlung – bedeutet heute, der Überflussgesellschaft sinnstiftende Ordnungen abzutrotzen; bedeutet, öffentlich einen individuellen Umgang mit dem Zuviel anzubieten. Im vorliegenden Band geht es um das Kuratieren von Geschichte. Nach dem eben Ausgeführten muss deshalb vorausgesetzt werden, dass auch ‚Geschichte‘ im Überfluss vorhanden ist. Erst wenn ein Zuviel an Geschichte besteht, kann jene zu einer sinnstiftenden Auswahl zusammengefasst werden. Notwendig ist somit eine hinreichende Quantität von Geschichte; erst daran anschließend 5
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Hantelmann, Dorothea von: „Affluence and Choice. The Social Significance of the Curatorial“, in: Beatrice von Bismarck/Jörn Schafaff/Thomas Weski (Hg.), Cultures of the Curatorial, Berlin: Sternberg Press 2012, S. 41–51, hier S. 47. Grundlegend für das Verständnis von Subjektivierungsstrategien als In-Besitz-Nahme des Selbst (und Anderer) in der Moderne ist die Arbeit: Macpherson, Crawford Brough: The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford: Oxford University Press 1964. Vgl. grundlegend: Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996.. Vgl. etwa Belk, Russell W.: Collecting in a consumer society, London/New York: Routledge 1995; Chaplin, Sarah/Stara, Alexandra (Hg.): Curating Architecture and the City, London/New York: Routledge 2009; O’Neill, Paul: The culture of curating and the curating of culture(s), Cambridge, Mass.: MIT Press 2012.
Geschichte kuratieren
ergeben sich Fragen nach der qualitativen Ausformung der ausgewählten Geschichte: in Form ihrer Inszenierung, Darstellung, Schreibung.8 Insofern stellt das Thema Geschichte kuratieren keine bloße Variation vergleichbarer Fragestellungen nach der Inszenierung von Geschichte oder den Implikationen von Geschichtsschreibung dar. Stattdessen geht es notwendig davon aus, dass Geschichte im Überfluss beobachtbar und erlebbar ist und untersucht die ästhetischen Formen der Geschichtsinzenierungen als sinngebende Reduzierungen und An-Ordnungen des Überangebotes an Geschichte. Implizit steht damit auch die Frage im Raum, wie es ideengeschichtlich zu jenem Zuviel an Geschichte gekommen ist. Dieses kann hier nicht in adäquater Form beantwortet, sondern nur angedeutet werden. So hat Reinhard Koselleck in seiner Studie zum Umbruch der Neuzeit herausgestellt, wie sich bis in das 18. Jahrhundert langsam ein instrumenteller Begriff und Gebrauch von Geschichte als ein Kollektivsingular etablierte.9 Und Heinz Dieter Kittsteiner hat gezeigt, dass erst die Kantische Rede vom Geschichtszeichen die Geschichte für zukünftige Epochen als ein immer schon mediatisiertes Ereignis verfügbar gemacht hat: „Die Ereignisse selbst sind nun die Zeichen.“10 Dass sich Geschichte in ihrer modernen Verfassung – nämlich als vom Menschen gemachte und dem Menschen zur Verfügung stehende Geschichte – dem Zugriff immer auch entzieht, ist eine paradoxe Figur, auf die mehrere der Beiträge in diesem Buch eingehen. Für die hier folgenden
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Das meint nicht, hinter die Analysen von Arthur C. Danto, Hayden White oder Benedict Anderson zurückzufallen. Dass Geschichte (und Geschichtswissenschaft) in einem eminenten Sinn ‚geschrieben‘ werden und entsprechend narrative Legitimierungsstrategien entwerfen, ist genauso unzweifelhaft, wie die Beobachtung, dass dabei geopolitische Machtverhältnisse symbolisch reproduziert werden können. Eine kulturwissenschaftlich inspirierte Historiographie (wie auch eine historiographisch inspirierte Kulturwissenschaft) legen seit Jahren Arbeiten vor, die den Nexus von Narration und Repräsentation kritisch verfolgen. Vgl. exemplarisch: Jaeger, Stephan: „Geschichte als Wahrnehmungsprozess. Ihr selbstreflexiver Vollzug in der Geschichtsschreibung“, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin: De Gruyter 2003, S. 123–140. 9 Koselleck, Reinhart: „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘. Zwei historische Kategorien“, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 349–375. 10 Kittsteiner, Heinz Dieter: „Kants Theorie des Geschichtszeichen. Vorläufer und Nachfahren“, in: Ders. (Hg.), Geschichtszeichen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, S. 81–115, hier S. 99.
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Gedanken ist entscheidend, dass sich für die westliche Welt bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine ‚ungeheure Geschichtssammlung‘ beschreiben lässt, die der ungeheuren Warensammlung, die Karl Marx am Bürgertum beobachtete, in nichts nachstand.11 Im 21. Jahrhundert sind die Klagen darüber, dass die Geschichtsvergessenheit der Nachkriegszeit längst einer Geschichtsversessenheit gewichen ist, zur wohlfeilen Rhetorik verkommen. Es sei, so beschreibt es Wolfgang Hardtwig als einer unter Vielen, ein Verlust der Geschichte zu beobachten, der durch den „gegenwärtigen Geschichtsboom und der Allpräsenz von Geschichte im Modus der Unterhaltung“ verursacht sei.12 Auch Jerome de Groot beobachtet eine fortschreitende Pluralisierung und Ökonomisierung der Geschichte: „a shift in mass engagement with heritage and national culture, a move towards the commodification of history which makes the visitor a client.“13 Wenn aber davon auszugehen ist, dass in einer modernen Überflussgesellschaft auch Geschichte konstituierend Zuviel vorhanden ist, dann sind kulturkritische Bonmots überflüssig. Stattdessen muss gefragt werden, wie jenes Zuviel an Geschichte durch Auswahl und Bedeutungszuweisung – also durch eine kuratorische Praxis – reduziert und sortiert wird; anders formuliert: wie es in eine ästhetische Form gebracht wird. Der vorliegende Band geht jenen ästhetischen An-Ordnungen der Vergangenheit nach, in denen aus dem konstituierenden Zuviel der Geschichte kultureller Sinn gewonnen wird. Dafür untersuchen Jens Kabisch und Stefan Krankenhagen frühe Formen der Geschichtsaneignung und Geschichtsvermittlung in den Vereinigten Staaten. Beiden geht es dabei um die Analyse spezifischer Zeitlichkeiten von Geschichte. Kabisch beobachtet die Naturalisierung der historischen Zeit anhand von drei ausgewählten US-amerikanischen Freilichtmuseen. Er zeigt, dass es weniger das geschichtliche Material ist, das das amerikanische Selbstbild bis heute prägt, sondern die Art und Weise, wie jene Museen die Fiktion einer immerwährenden Gegenwart inszenieren. Krankenhagen widmet sich der Formierungsphase der Populären Kultur in Amerika und dabei der Figur William F. Cody aka Buffalo Bill. Ihm geht es um die Frage, wie Geschichte bereits im Moment der Gegenwart als Geschichte erkannt und ausgewählt wird. Dafür untersucht er 11 Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz-Verlag 1961, S. 15. 12 Hardtwig, Wolfgang: Verlust der Geschichte oder wie unterhaltsam ist die Vergangenheit?, Berlin: Vergangenheitsverlag 2010, S. 47. 13 Groot, Jerome de: Consuming History. Historians and heritage in contemporary popular culture, London/New York: Routledge 2009, S. 242.
Geschichte kuratieren
Motive aus der Groschenroman-Serie Buffalo Bill sowie aus William F. Codys Wild West Show als eine unterhaltende Form der kuratorischen Praxis des Selbst. Susanne Wernsings Beitrag schließt an die Beschäftigung mit musealen und musealisierten Praktiken an. Ihr Aufsatz diskutiert performative Inszenierungen in kulturhistorischen Ausstellungsräumen. Am Beispiel des kuratorischen Umgangs mit der DDR-Geschichte plädiert Wernsing für eine konzeptionelle Verschränkung von künstlerischen und historischen Zugängen, die sich vor allem in der räumlichen Präsentation von Geschichte zeigen soll. Die darauf folgenden vier Beiträge finden alle ihren Anlass und ihr Zentrum in der Video-Installation 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden des Schweizer Künstlers Mats Staub. Vier Disziplinen befragen die mediale An-Ordnung von Lebensgeschichten und Erinnerungen. Die Literaturwissenschaftlerin Simone von Büren gibt einen Überblick über die Inszenierung reflexiver Erinnerungsräume in den Arbeiten von Mats Staub; der Psychologe Werner Greve beobachtet die vielschichte Konstituierungen von Identitäten in 21; die Theaterwissenschaftlerin Annemarie Matzke betrachtet die Installation des ‚Gesprächskünstlers‘ Staub als eine Performance und der Medienwissenschaftler Volker Wortmann schlägt abschließend den Bogen zur Ästhetik und Praxis des autobiographischen Dokumentarfilms. Die Photostrecken 21 und Editing the World bieten daraufhin ein eigenes, praxeologisches Argument, wie Geschichte gegenwärtig kuratiert werden kann. Torsten Scheid nimmt diesen Gedanken auf, wenn er in seinem Beitrag überlegt, wie die immensen Bilderwelten des Internets zu kuratieren seien. Prozesse des Sammelns und Kompilierens oszillieren, so ein Ergebnis der Überlegungen, als eine eigenständige Ästhetik zwischen beiläufigem Flanieren und gezielter Recherche. Die letzten drei Beiträge des Buches verhandeln spezifisch kunstwissenschaftliche An-Ordnungen der Vergangenheit. Mareike Herbstreit widmet sich mit großer Detailkenntnis der vielfach diskutierten Performance The Artist Is Present von Marina Abramović. Herbstreit zeigt, dass die Historisierung der ephemeren Performance-Kunst keine nachträgliche Verarbeitung, sondern bereits selbst Teil der künstlerischen Praxis ist. Gerade die kuratorische Geste der (Selbst-) Historisierung valorisiert die Institutionalisierung der Performance Kunst allgemein und die der Künstlerin im Speziellen. Thomas Lange wiederum nimmt eine eminent zeitgenössische Praxis der Kunst in den Blick seiner Ausführungen: das Re-Enactment, hier konkret Jeremy Dellers Arbeit The Battle of Orgreave von 2001. Lange liest diese Arbeit konsequent als eine produktive Verfremdungsarbeit mit den Mitteln der Kunst; hierbei Bezug nehmend auf die vielfältigen und immer medial organisierten Überschreibungsmodi
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Stefan Krankenhagen
zwischen den sozialen Protesten der Bergarbeiter 1984, Dellers Re-Enactment aus dem Jahr 2001 und dessen filmischen Dokumentation von Mike Figgins aus dem selben Jahr. Viola Vahrson schließlich geht auf eine problematische An-Ordnung der Vergangenheit des Holocaust ein. Der Körper wird zum Ort der Erinnerung, wenn der polnische Künstler Artur Żmijewski in seiner Videoarbeit 80064 einen ehemaligen Häftling eines Konzentrationslagers dazu nötigt, sich seine Häftlingsnummer nachtätowieren zu lassen. Das Dilemma einer langsam verblassenden Erinnerung an den Holocaust wird von Żmijewski als Argument benutzt – oder missbraucht, wie Vahrson andeutet – körperliche Demütigungen zu reaktivieren. Der Beitrag zeigt somit auch auf die blinden Flecken, die entstehen können, wenn sich Künstler selber zum Kurator der Geschichte erheben.
Jens Kabisch
Immerwährende Gegenwart Zur Poetik des US-amerikanischen Freilichtmuseums
„Wenn ich einmal berühmt bin, möchte ich so berühmt sein wie Persil Waschmittel.“1 Mit diesem Vorsatz eroberte die Sängerin Victoria Beckham, Ehefrau von David Beckham und ehemals Mitglied der Spice Girls, die Welt des Showgeschäfts und gab sehr früh ihren Karriereplänen eine ikonische Dimension. Und nicht nur indem ihr Image heute der prüden Reinheit eines Waschpulvers entspricht, macht sie ihrer Losung alle Ehren, nein, tatsächlich reicht auch ihre Berühmtheit heute an die der Produkte der Unilever Gruppe heran. Posh Spice antizipierte damit eine Kulturtechnik, die gerade in der jüngeren Vergangenheit und mit der wachsenden Zahl der Selbsthilfeliteratur zu einem Massenphänomen reifte: die Technik der Autosuggestion, die dem modernen Menschen verspricht, durch Imagination und allein durch Kraft seiner Einbildung den Verlauf der Geschichte verändern zu können. Dabei ist diese Technik der Autosuggestion alles andere als neu. Andere Berühmtheiten, die sich in dieser Fertigkeit übten, waren unter anderem Napoléon Bonaparte, der bei der Besetzung Darmstadts die Stadt räumen lies, um sich in den jungen Werther zu träumen und, in Selbstmordphantasien versunken, durch die Gassen der Stadt irrte; oder der heilige Franziskus, der fest davon überzeugt war, der Wiedergänger unseres Herrn Jesus Christus zu sein, sich die Wundmale Christi allein durch die Macht seiner Vorstellungskraft zufügte. Auch sie versuchten durch die Vergegenwärtigung der Vergangenheit ihr Leben und damit den Lauf der Geschichte zu ändern. Auf eine ihnen ganz eigene Art sind heute die verschiedenen US-amerikanischen Freilichtmuseen dieser Kulturtechnik der Autosuggestion verschrieben. Auch sie setzen auf die Kraft der Einbildung und imaginieren die Geschichte als Schablone des Werdens – aber mit einem besonderen Twist. Denn sie
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Beckham, Victoria: Learning to Fly. The Autobiography, London: M. Joseph 2001, S. 170.
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Jens Kabisch
imaginieren die US -amerikanische Geschichte als immer schon gegenwärtig und, mehr noch, als einen zeitlosen Zustand ihrer geschichtslosen Natur.2 Wie sich diese Wunschbilder der Überzeitlichkeit der USA in den Kanon der Vergegenwärtigung der Vergangenheit einordnen und wie sich diese paradoxe Verschränkung von Geschichte und Gegenwart (in aller gegebenen Kürze) soziokulturell interpretieren lässt, möchte ich im Folgenden anhand der Beispiele der drei bekanntesten US-Freilichtmuseen darstellen. Dabei geht es mir nicht um eine ideengeschichtliche Rekonstruktion des Mythenhaushalts der USA3 oder um eine soziologische Studie der Hintergründe der Realität einer zeitlosen Zeit und ihrer Resonanz in der Gegenwart;4 vielmehr sollen die kuratorischen Techniken und die damit implizite Politik dieser Museen betrachtet werden, das heißt die Strategien der Inszenierung der Geschichte und ihrer gesellschaftsstiftenden Bedeutung. Dazu sollen zunächst drei der renommiertesten US-amerikanischen Freilichtmuseen – Colonial Williamsburg, Plimoth Plantation und Greenfield Village – kurz anhand ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Topographie und ihrer Inszenierungstechniken vorgestellt werden, um dann auf die Gemeinsamkeiten, die Unterschiede, aber auch die Bandbreite dieser imaginären Verkörperungen der amerikanischen Geschichte als zeitloser und immerwährender Gegenwart einzugehen.
Greenfield Village „Geschichte ist Schwachsinn. Sie ist Tradition. Wir wollen keine Tradition. Wir wollen in der Gegenwart leben und die einzige Geschichte, die irgendetwas wert ist, ist die Geschichte, die wir heute machen.“5 Diese Sätze stehen am Beginn 2
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Vgl. Noble, David W.: Historians Against History. The Frontier Thesis and the National Covenant in American Historical Writing Since 1830, Minneapolis: University of Minnesota Press 1967. Vgl. Hughes, Richard: Myths America Lives By, Urbana: University of Illinois Press 2004. Vgl. Orvell, Miles: The Real Thing: Imitation and Authenticity in American Culture, 1880–1940, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1989; bzw. Crary, Jonathan: 24/7. Late Capitalism and the End of Sleep, London: Verso 2012. „History is more or less bunk. It’s tradition. We don’t want tradition. We want to live in the present, and the only history that is worth a tinker’s dam is the history that we make today. […] That’s the trouble with the world. We’re living in books and history and tradition. We want to get away from that and take care of today. We have done too much looking back. What we want to do and do it quick is to make just history right
Immerwährende Gegenwart
der US -amerikanischen Obsession mit der Re-Inszenierung ihrer Vergangenheit. Sie stammen von Henry Ford; seines Zeichens Industriemagnat und wohl besser bekannt als Erfinder der seriellen Produktion von Automobilen als einem Kurator geschichtlicher Narrative. Dabei ist die Geschichte der US-amerikanischen Freilichtmuseen eng mit Ford und seinem Leben verbunden. Henry Ford ist der Gründer des ersten eigenständigen Freilichtmuseums der USA – sieht man einmal von der Erhaltung nationaler Monumente wie Mount Vernon oder Monticello ab. Er eröffnete 1929 die erste Institution, die anhand eines ganzen Dorfes die Geschichte der USA erzählen wollte. Und wie ihr Herr, ist auch diese Institution, Greenfield Village, nicht unumstritten. Nach einem Rechtsstreit mit der Zeitung The Chicago Tribune im Jahr 1919 beschloss Henry Ford ein Museum für amerikanische Alltagskultur zu gründen und mit ihm auch das Dorf Greenfield Village. In diesem Rechtstreit mit der Chicago Tribune ging es um die Darstellung Fords als unpatriotischem und unbarmherzigem Kapitalisten und Gegner des Krieges gegen Mexiko. Die Zeitung hatte Ford als Anarchisten bezeichnet; eine Stigmatisierung, die er nicht auf sich sitzen lassen konnte. Ford, der 1916 alle Soldaten pauschal zu Mördern abgestempelt hatte und erklärte, dass er Angestellten, die in den Krieg gegen Mexiko zögen, und ihren Angehörigen jede Unterstützung verweigern würde, sah sich durch die Zeitung verleumdet. Schließlich drohte ihm, eben auf Grund dieser Berichterstattung, die Anklage unter dem Espionage Act von 1917, dessen rechtliche Grundlagen bis heute umstritten sind und die für Ford lebensbedrohliche Dimensionen hätten annehmen können. Sein Antiintellektualismus, seine Geschichtsfeindlichkeit und seine Animositäten gegen Bücher und verschriftlichtes Wissen wurden insofern zum Thema der Verleumdungsklage, weil die Anwälte der Chicago Tribune gerade Fords Ressentiments gegen die Geschichte für ihre Verteidigung und die Darstellung Fords in den Medien ins Feld führten; nicht zuletzt Fords Äußerung zur Idiotie der Vergangenheit. Noch während des Prozesses (der übrigens zugunsten Fords entschieden wurde) fasste Ford den Plan, seiner Idee der präsentischen Geschichte ein eigenes Monument zu geben. Kurz nach dem Rechtstreit sagte er zu seinen Privatsekretär Ernest G. Liebold: „You know I’m going to […] give the people
now.“ Henry Ford zitiert nach: Wheeler, Charles N.: „Fight to Disarm, His Life’s Work, Henry Ford Vows“, in: The Chicago Daily Tribune vom 25.05.1916, S. 10.
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an idea of real history. […] We are going to show just what actually happened in the years gone by.“6 Und einem andern Angestellten aus der Entwicklungsabteilung der Automobilproduktion befahl er: Zeichne mir ein Dorf!7 Mit einem ihm eigenen Übermut begann Ford fortan Werkzeuge, Maschine, Alltagsgegenstände und vor allem Häuser zu sammeln. Ja, Ford begann Häuser ihm wichtiger Amerikaner zu kaufen. So erstand er etwa den Fahrradladen der Gebrüder Wright, in dem Orville und Wilbur das erste Flugzeug, die Kitty Hawk, zusammengeschraubt hatten, das Anwesen von Daniel Webster oder das Schul- und Wohnhaus William Holmes McGuffeys. Auch erwarb er den Gerichtssaal, in dem Abraham Lincoln in jungen Jahren gearbeitet hatte, und platzierte ihn innerhalb Greenfield Village neben Gebäuden seiner eigenen Vergangenheit; etwa der Garage, in der Ford sein erstes Auto anhand eines Bauplans eines Do-It-Yourself-Magazins montiert hatte, oder ein Elektrizitätswerk der Edison Illuminating Company, in dem Ford bis zur Jahrhundertwende gearbeitete hatte und das er vor dem Verfall zu schützen suchte. Ford kaufte selbst gesamte Werkstattanlagen auf: etwa Thomas Edisons Menlo Park, dem Geburtsort der Glühbirne, die Ford samt dem Gästehaus erwarb, in dem die Physiker und Chemiker des Forschungslabors untergebracht waren, und die er aus New Jersey nach Dearborn, Michigan, transportieren ließ; einschließlich übrigens der Straßenkreuzung an denen die Häuser standen; auch sie ließ Ford in Greenfield Village detailgetreu wieder erbauen. Betrachtet man die Topographie des Dorfes genauer, fällt die Zusammenstellung unterschiedlicher Geschichtsmodelle auf. In einer Art metahistorischem Entwurf fügte Ford verschiedene Modelle der geschichtlichen Bewegung zu einem übergeordneten Ganzen zusammen. So gibt es etwa eine Straße der Progression, die aus dem 17. Jahrhundert bis in die Zeit Fords führt; oder ein Zentrum, das der Familien- und Unternehmensgeschichte Fords gewidmet ist und in dem diese zu einem organischen Kontinuum zusammengefügt wird. Auch arrangierte Ford die Häuser mehrfach um und ließ sie von einem Ende des Dorfes an ein anderes transportieren. Ford verstand das Museum schließlich als eine Art Experimentierfeld. Etwa verschob er mehrmals die Sklavenhütten aus Savannah, Georgia; einmal in Richtung des ehemaligen Arbeitsplatzes von Abraham Lincoln, dem courthouse von Logan County, Illinois, um seinem Idol und dem Befreier der Sklaven Referenz zu erweisen. Zu 6 7
Liebold, Ernest G., Reminiscences, Collection of the Henry Ford Museum and Greenfield Village, Inv.-Nr. ACC 65–115, 1951, S. 309. Cutler, Edward J., Reminiscences, Collection of the Henry Ford Museum and Greenfield Village, Inv.-Nr. ACC 65, 1951, S. 18.
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einem späteren Zeitpunkt wurde dies aber rückgängig gemacht und man platzierte die Hütten in die Nähe einer Farm aus Maryland – nun als Reminiszenz an die vermeintliche Echtheit und Wirklichkeit des Lebens der Großgrundbesitzer in den Südstaaten und ihrem Arbeitsheer. Aber auch in institutioneller Hinsicht scheute Ford nicht vor Veränderungen zurück. Nachdem das Dorf erst dem Privatvergnügen Fords gegolten hatte, spielte er einige Zeit mit dem Gedanken es zu einem Sozialprojekt umzufunktionieren und zu einem Vorzeigemodell für seine village industry zu machen, mit der Ford an anderer Stelle das geliebte Landleben wiederbeleben wollte, gegen den Unbill der Industrialisierung seiner Zeit. Sehr zum Unwillen seiner höheren Angestellten übrigens. Sie sollten nach Fords Willen in den Häusern des Museums leben und die Stärke einer autarken Gemeinschaft beweisen. Erst mit dem Ausscheiden Fords aus der Ford Motor Company wurde das Museum im üblichen Sinne zu einem Museum. Es wurde 1929 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, dann aber gleich wieder durch einen anderen Geistesblitz Fords in seiner Funktion revidiert. Greenfield Village sollte nun als eine Art lebende Schule für ortsansässige Kinder dienen und den Geist des praktischen Wissens, des learning by doing lehren. So wurde Greenfield Village bis zum Ende der 60er Jahre des vergangen Jahrhunderts als Schule benutzt, die aus einer Mischung von progressiver Pädagogik á la John Dewey – nach dem Motto: die Umwelt schult – und der Vorstellung einer Wiedererweckung puritanischer Lehrideen aus Greenfield Village eine Lehrinstitution machen wollte, in der die Generationen voneinander lernen.8 Für die Besucher des Museums stellt sich heute indes ein verstelltes Bild dieser Intentionen dar: Im Zuge weitreichender Umbaumaßnahmen hat die Leitung des Museums das Dorf 2002/2003 selbst grundlegend umgestaltet. Aus der einstmals organischen Anlage, die alle Zeitstränge der USA innerhalb des Narrativs Dorf zu einem großen Ganzen verbanden, sind heute Parzellen geworden, die die einzelnen Häuser in ihren historisch verbürgten Zeitperioden zeigen sollen. Man betritt von modern befestigten Straßen, die von einer Armada rekonstruierter Tin Lizzys befahren werden, diese einzelnen Zonen der Vergangenheit und wechselt damit stillschweigend von dem, wenn auch mythisch gefassten, zeitlosen Modell eines puritanisch-progressiven Amerikas
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Kabisch, Jens: „The Tools of the Nation Makers. Henry Ford und seine pro-aktive Geschichte Greenfield Village“, in: Anke Köth/Anna Minta/Andreas Schwarting (Hg.), Building America. Die Erschaffung einer neuen Welt, Dresden: Thelem Verlag 2005, S. 77–92, hier S. 86–89.
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zu einem Amalgam verschiedener Einzelgeschichten im Sinne heutiger postmoderner, historistischer Richtigkeit.
Colonial Williamsburg Mein zweites Beispiel Colonial Williamsburg benutzt ebenfalls die Anlage und das Narrativ Dorf als übergeordnetes Modell um die Vergangenheit der USA unmittelbar zum Leben zu erwecken. Es gilt heute als der gute Gegenpart zu Greenfield Village, weil es nicht auf die Montage von Artefakten setzt und eine geschichtliche Wirklichkeit erfindet, sondern weil es die Niederlassung der britischen Krone in Virginia und das Leben kurz vor der Revolution, 1775, an Ort und Stelle zu rekonstruieren sucht. Es gilt heute als das Paradebeispiel der gelungenen Darstellung von Geschichte in den USA und als das vermeintlich authentischste unter Amerikas Freilichtmuseen. Dabei ist auch Colonial Williamsburg nicht ohne Schwächen. Mit seinen knapp 160 Häusern und weit über hundert Gärten ist es (zumindest) das Größte seiner Art.9 Colonial Williamsburg ist der Versuch, die Hauptstadt und den Amtssitz des Gouverneurs der englischen Kolonie von Virginia an Originalstelle wiederaufzubauen. Williamsburg war von 1699–1780 Quartier der Verwaltung der größten Kolonie Englands in Nordamerika. Williamsburg, das erst durch einen Akt von Thomas Jefferson seinen Status als Regierungssitz verlor, beherbergte in dieser Zeit die crème de la crème der politischen Elite aus dem Süden und später die wichtigsten Vorkämpfer der Unabhängigkeit der USA: neben dem schon erwähnten Jefferson vor allem George Wythe, Patrick Henry und George Washington. Das Museum wurde 1934 eröffnet. Erste Entwürfe zur Rekonstruktion der Stadt gab es schon ab 1924. Reverend William Goodwin, ein ortsansässiger Geistlicher, wollte die Reste des in Vergessenheit geratenen Ortes für die Nachwelt retten und in eine Gedenkstätte für die Nation verwandeln. Nach einigen Anläufen, einen Geldgeber für die Restauration zu finden, unter anderem wandte Goodwin sich an Henry Ford, gelang es ihm schließlich, John D. Rockefeller Jr. zu überzeugen, in das sehr kostspielige Unternehmen zu investieren: nämlich den Ortskern Williamsburg peu à peu aufzukaufen, um ihn dann in
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Handler, Richard/Gable, Eric: New History in an Old Museum, Durham: Duke University Press 1997, S. 15.
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den Zustand des Jahrzehnts vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zurückzuversetzen. Die Mission der beiden Gründer, Goodwin und Rockefeller, war es, in Zeiten der Großen Depression, den USA einen Sinn für die Größe ihrer Nation zu geben. Durch das Museum sollte ein Sinn für die Werte des „Americanism“10 gefördert werden: einen Sinn für die Traditionen des Landes, einen Sinn für den Geist und die Redlichkeit der Gründerväter und schließlich einen Sinn für den heroischen Individualismus der ersten Pioniere.11 Neben der Rekonstruktion eines Großteils der Baumasse Williamsburgs, besonders der Verwaltungsgebäude und der Herrschaftshäuser der kolonialen Elite, die, so die Kritiker der Institution, fast ausschließlich die Lebenswirklichkeit der Reichen wiederinszeniert, sind es heute eine Unzahl von Schaustellern historischer Figuren, unter anderem von Thomas Jefferson oder Patrick Henry, die die Illusion entstehen lassen sollen, man befände sich in den späten 1770ern. Diese Darsteller (man unterschiedet heute zwischen anonymen ‚third-person‘ und historisch verbürgten ‚first-person-narrators‘) sind aber schon immer ein Politikum und Anstoß eines unentwegten Streits über den Verismus Colonial Williamsburgs gewesen, der indirekt die Geschichte der Institution selbst zum Spiegel des Wandels historischer Wahrheitskriterien macht. Waren die Schausteller in der Frühphase des Museums ausschließlich Darsteller historischer bedeutender Persönlichkeiten, geriet im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er Jahre diese Mythologisierung der Gründerväter und mit ihr die Fiktion einer Elitengeschichte in die Kritik, die in den 1960er Jahren noch immer auf dem wissenschaftlichen Paradigma beruhte, die Gründung der USA basiere auf einem ‚mythischen Konsens‘. Mit den allgemeinen Umbrüchen der US -amerikanischen Gesellschaft in den 60iger Jahren des letzten Jahrhunderts sollten fortan soziale Minderheiten und die Methoden der Sozialgeschichte stärker in den Fokus der Inszenierung rücken und das Bild Colonial Williamsburgs prägen. Zumindest ist dies das erklärte Ziel der Institution. Dennoch ergeben sich nicht nur aus ideologischen, sondern aus ganz pragmatischen Gründen Hürden einer naturalistischen und lebensnahen Darstellung des Lebens um 1775. Dies macht vielleicht die größte Schwäche des Museums aus, das sich um seiner Wahrheitstreue rühmt. Von den etwa 2000 permanenten Bewohnern
10 Greenspan, Anders: Creating Colonial Williamsburg, Washington: Smithsonian Institution Press 2002, S. 10. 11 Ebd., S. 54.
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Williamsburgs waren in dem Jahrzehnt vor der amerikanischen Unabhängigkeit etwa die Hälfte Sklaven, die in der Hauptsache wiederum Schwarze waren; in den 1770er Jahren gab es nur wenige, aus der Sklaverei befreite, ‚freie‘ Schwarze.12 Diese demographische Struktur Williamsburgs heute auch innerhalb des Museums zu repräsentieren, führte aber schon immer zu einem Gefälle innerhalb der Darstellung der Geschichte in Colonial Williamsburg und wird von vielen Kritikern beanstandet: das heute hauptsächlich mit weißen oder wenn ‚freien‘ Schwarzen bevölkerte Colonial Williamsburg schreibt (weiterhin) eine Geschichte, die unrealistisch ist, und führt zu einer Schönung der Geschichte. Sie zeigt unfreiwillig immer noch eine Geschichte der ‚weißen‘ Besitzeliten. Versuche, dies zu ändern, scheitern mal um mal, nicht zuletzt am Umstand entsprechende Darsteller zu finden, die sich, wenn auch nur als Simulation, wieder in die Unmündigkeit der Sklaverei begeben wollen. Vom Standpunkt eines vor allem dem Naturalismus ergebenen Geschichts ideals, das sich innerhalb Colonial Williamsburg einer möglichst detailgetreuen und lebensnahen Wiedergabe der Vergangenheit verschrieben hat, muss neben diesen demographischen Fragen besonders auf das Motiv der Zeit als Strategie der Inszenierung hingewiesen werden: Bis in das Jahr 2006 stellte das Museum ein einziges Jahr dar, das Jahr 1772. Nach einem Fund eines Tagebuches war und ist man bemüht, detailgetreu die Ereignisse dieses Jahres Tag für Tag nachzuerzählen. So konnte sich der Besucher in Gespräche mit den historischen Darstellern über den täglichen Gossip am Hofe des Gouverneurs verwickeln lassen, über die Liebschaften der kolonialen Upperclass informieren oder der Ankunft von Verwandten aus der englischen Heimat beiwohnen. In kleinen Episoden wird so das Leben der Kolonisten nacherzählt und zum Erlebnis. Nach 2006 kamen zu dieser Alltagsgeschichte die Aufführung historischer Schlüsselereignisse hinzu (beispielsweise die Auflösung der Kolonialregierung im Zuge der Boston Tea Party (1774) oder die Verlesung der Unabhängigkeitserklärung (1776)), die sich täglich beziehungsweise jährlich wiederholen, um für Besucher nicht nur den Alltag, sondern auch diese historischen Ereignisse greifbar zu machen.13 Gerade diese Dramaturgie führt aber zu einer ihr eigenen Modifikation der Geschichte, die hier nicht unerwähnt bleiben soll: denn Colonial Williamsburg 12 Ebd., S. 2. 13 Zur Geschichte der Programme der Inszenierung von historischen Ereignissen in Colonial Williamsburg vgl.: Teunissen, Martine: „Staging the Past in the Revolutionary City: Colonial Williamsburg“, in: Judith Schlehe/Michiko Uike-Bormann/Carolyn Oesterle/ Wolfgang Hochbruck (Hg.), Staging the Past, Bielefeld: Transcript 2010, S. 177–198.
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stilisiert sich damit als einen Ort jenseits der Zeit und jenseits der Veränderungen der Zeit. Dabei setzt man nicht auf die Montage historischer Räume und die Montage verschiedener Geschichtsmodelle, wie etwa Henry Ford und Greenfield Village. Das Hauptaugenmerk der Rekonstruktion der Geschichte innerhalb Colonial Williamsburgs ist die Konstruktion eines Zeitkontinuums, das auf die Nivellierung und Gleichstellungen von historischen Ereignissen setzt und damit indirekt ganz den Wünschen John D. Rockefeller Jr.’s entspricht: „to free it [Colonial Williamsburg] entirely from alien or inharmonious surroundings“.14 Im Vordergrund der Inszenierung stehen das Zyklische und heute die Simultanität der Ereignisse zwischen 1774 und 1781, die diesen Ereignissen eine quasireligiöse Dimension verleihen, gerade weil sie das Museumsjahr in ein pseudoliturgisches verwandeln.
Plimoth Plantation Auch in meinem dritten Beispiel spielt die Darstellung der Sozialgeschichte der USA anhand einer Dorfstruktur und dem Einsatz von Darstellern historischer Persönlichkeiten eine herausragende Bedeutung. Plimoth Plantation (anders als die anderen beiden Beispiele) ist aber nicht auf den Ruinen und aus den Überresten alter Häuser oder ganzer Stadtstrukturen entstanden. Ausgangspunkt dieser Institution war eine jährliche Theateraufführung und ein Umzug der Bewohner des Ortes Plymouth in Kostümen der Pilgrims, die (beide) an die Landung der Pilgerväter an dieser Stelle Nordamerikas erinnern sollte. Zur Idee, ein historisches Dorf zu errichten, kam es erst relativ spät. Henry Hornblower II fasste im Dezember 1945 den Plan analog zu Greenfield Village und Colonial Williamsburg ein Dorf zu errichten, das das Leben der Pilgrim Fathers zelebrieren sollte. Historisch stellt Plimoth Plantation die Frühphase der Kolonialisierung des nordamerikanischen Kontinents durch britische Separatisten dar. Es ist den Pilgrim Fathers um die Scrooby-Leyden Congregation gewidmet, die mit ihrer Mayflower 1620 an der Küste Massachusetts gelandet waren, um ihren Glauben in der Neuen Welt leben zu können und eine Gemeinschaft zu errichten, die auf den strengen Lehren des Calvinismus beruhte. Die Kolonie bestand von 1620 bis 1691 und gilt seit dieser Zeit als ideeller Nukleus der USA.
14 John D. Rockefeller Jr. zitiert nach: A. Greenspan: Creating Colonial Williamsburg, S. 53.
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Heute wird in dem rekonstruierten Ort Plimoth Plantation, der nur unweit, etwa fünf Kilometer von seinem ursprünglichen historischen Standort errichtet wurde, das Jahr 1627 nachgestellt. Dabei ist es sicher nur Zufall, dass das Jahr 1627 einen für die Enklave entscheidenden Einschnitt markierte: Mit Tilgung der Schulden 1627, die die Separatisten einst in ihrem Exil in den Niederlanden für die Überfahrt aufgenommen hatten, war das Ende des Kollektiv- und die Einführung des Privatbesitzes verbunden. Grund, warum man sich diesem Jahr zugewendet hat, ist der Reichtum des historisch gesicherten Materials. So bezieht man sich auf eine historische Beschreibung von Isaack de Rasières, der als Statthalter der holländischen Kolonie New Amsterdam 1627 die Siedler in Plymouth besuchte, um Handelsbeziehungen mit der Enklave aufzubauen.15 Als weitere Informationsquelle, besonders für die Topographie und die Charaktere der Bewohner, dienen Aufzeichnungen von William Bradford. Charakteristisch für das Dorf ist seine diamantförmige Anordnung, die mit einem Palisadenwall umgeben ist. Das Dorf beherbergt 13 Häuser, die detailgetreu die Lebenssituation der Pilger im 17. Jahrhundert darstellen. Neben dieser Dorfanlage gehört zum Museum zudem eine Nachbildung der Mayflower, die nicht unweit im Hafen von Plymouth vor Anker liegt. Zu den Besonderheiten des Museums zählt heute (neben der Rekonstruktion der Bausubstanz) vor allem der Einsatz sogenannter ‚ethnohistorical actors‘: Darsteller, die sich als Mischung zwischen Schauspielern und experimentellen Archäologen verstehen, die einen historisch verbürgten Bewohner der Kolonie darstellen und hoffen, mit dieser erweiterten Form des ‚method acting‘, zur Kenntnis über diese historische Persönlichkeit beizutragen. Das Museum gilt heute als führend in dieser Art der Rekonstruktion der Lebenswirklichkeit einer Epoche; nicht zuletzt auch in der Rekonstruktion der Sprache des 17. Jahrhunderts. So rühmen sich das Museum und seine Darsteller heute, das authentische Englisch der Zeit Shakespeares zu sprechen. Das Ideal der historischen Authentizität trieb und treibt in Plimoth Plantation auch eine besondere Blüte. Schon mit den ersten Planungen kam es nämlich auch zu der Idee einer Erweiterung des Museums. Aus Gründen der politischen Korrektheit, aber auch aus dem Bedürfnis, das Umfeld der Siedler jenseits der Siedlung zu zeigen, strebte man an, dem Dorf der Pilgrims eine Siedlung des heimischen Wampanoag Stamms, eine Untergruppierung des Volkes der Algonquin, zur Seite zu stellen.
15 Snow, Stephen Eddy: Performing the Pilgrims, Jackson: University Press of Mississippi 1993, S. 38.
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In dieser sogenannten Wampanoag Homesite, die sich heute in Gehweite zum Dorf der Pilgrims befindet, sieht man verschiedene Häuser der Wampanoags, darunter ein Wetu, eines ihrer mit Matten bedeckten Häuser. Als Vermittlungspersonal treten in dieser Homesite nicht ‚ethnohistorical actors‘ auf, sondern Amerikaner, deren Familienwurzeln zu den Stämmen der Algon quins zurückreichen. Hauptaugenmerk ist in diesem Bereich des Museums auch nicht die Darstellung der Lebenswirklichkeit des 17. Jahrhunderts, sondern die Präsentation der Traditionen der Urbevölkerung. So kann es einem Besucher passieren, dass er einem Repräsentanten der Wampanoag begegnet, der in einem modernen Elektorollstuhl sitzend durch die Homesite fährt und über das Sexualleben der Ureinwohner spricht. Um die Integrität dieser Repräsentanten der Wampanoags zu wahren und sie vor etwaigen rassischen Diffamierungen zu schützen, bat und bittet ein Schild am Eingang zu der Homesite (so im Jahr 2006) die Besucher, den Darstellern mit angemessenem Respekt zu begegnen. „Please AVOID HARMFUL STEREOTYPES“, heißt es dort: All of the staff you will meet at the Wampanoag Homesite are Native People. Today, there are several terms used to refer to Native People including ›Indians‹ or ›Native American‹. Our preference here is to be referred to as Native People, or by the name of our Native Nation. During your visit we request you avoid: • Asking if we are ›real Indians‹. You may ask what Nation the Native Staff member is from. • Questing ›What percentage Native?‹ we are or other questions about a staff member’s background. These are personal and not part of our public program. Please also avoid the following behavior that are based on stereotypes of Native People and are disrespectful. • ›War-shooping‹ Please explain to your children that this is hurtful and should be avoided. • Saying ›How!‹ as a greeting. Simply greet
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our Native staff as you would any person you are meeting for the first time. • Referring to Native Staff members as ›brave‹, ›chief‹ or ›squaw‹. Please use the terms ›man‹ or ›woman‹ instead. Ich möchte diesen Fall der Zurschaustellung der amerikanischen Ureinwohner im Rahmen von Plimoth Plantation an das Ende meiner Beschreibungen der Museen stellen, gerade weil er die Fragilität der Konstruktionen einer harmonischen, aber auch authentischen Geschichte verdeutlicht und das Ideal der Vergegenwärtigung der Vergangenheit, so wie sie gewesen ist, brüchig werden lässt. Brüchig vor allem in dem Sinne, dass die narratologischen wie sozialen Prämissen hinter dieser Art der Darstellung und Konstruktion von Geschichte indirekt aufgezeigt werden. Das Schild weist doppelt darauf hin. Während Greenfield Village historische Räume zu einem großen Ganzen montiert und Colonial Williamsburg aus den vorrevolutionären Jahren ein liturgisches und zeitloses Kontinuum macht, das einem Kirchenjahr gleicht, ist Plimoth Plantation auf eine gewisse Weise eine Mischung aus beidem. Es ist eine Verbindung dieser beiden Strategien der Homogenisierung von Räumen und Zeit. Dabei homogenisiert es nicht Zeitperioden oder historische Entwicklungsstufen, sondern Vorstellungen von authentisch Wahrem. Wenn man so will, vergegenwärtigt es soziokulturelle Vor-Urteile. Um dies zu veranschaulichen, lohnt sich ein zweiter Blick auf die Topographie des Museums Plimoth Planation, das sich in drei große Bereiche gliedert: die Kolonie der Pilgrims, das erwähnte Dorf der amerikanischen Ureinwohner und einen nature trail. Mit diesen drei Bereichen korrespondieren drei Ideen des Authentischen, die indirekt in die Museumsdidaktik eingeflossen sind. Der Bereich der Pilgrims zeichnet sich durch eine naturalistische Rekonstruktion des Pilgers aus, die besonders auf die Beweiskraft historischer Details Wert legt, allem voran auf jener der Sprache; tritt man dann aus dem Palisadendorf, um in die Wampanoag Homesite zu gelangen, taucht man kurzzeitig in die Natur qua nature trail ein, der als vermeintliche Urform des Authentischen in bizarrer Weise nichts Anderes freigibt als einen Blick auf einen Autobahnzubringer, und schließlich das Dorf der Wampanoag, das ihre Repräsentanten nicht an der Art und Weise ihrer historischen Rekonstruktion oder an dem Talent für die Darstellung der Vergangenheit misst, sondern sie an die Authentizität ihrer Ethnie kettet – oder, wie es auf dem Eingangsschild in das Dorf heißt, an ihren Blutsgrad.
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Bis auf eine einzige Aufführung im Jahr sind diese ‚Native People‘ ohne Namen.16 Sie sind namenlos. Sie stellen keine spezifischen Charaktere des 17. Jahrhunderts dar – was angesichts des historischen Wissens vielleicht schwierig wäre zu rekonstruieren. Man kennt dennoch die Namen jener Ureinwohner, die die Pilgerväter der Mayflower an Plymouth Rock in Empfang nahmen. Indirekt ist diese Darstellung der ‚Native People‘ vor allem ein Indiz für den unterschiedlichen Umgang mit ethnischen Gruppen in den USA: denn all diesen Gruppen wird ein unterschiedlicher Status zugesprochen, der sich unter anderem in der Disposition ihrer Authentizität manifestiert. Authentizität – wie man an dem Hinweisschild in Plimoth Plantation sehen kann – wird nämlich für jede Gruppierung unterschiedlich verifiziert. Während sich die Darsteller der Pilgrims zuallererst durch ihre Sprachfähigkeiten auszeichnen und sich in eine institutionelle Genealogie einschreiben, ist das Distinktionsmerkmal für die ‚Natives‘ eindeutig ihre Ethnizität, also eine biologische Genealogie – auch wenn das Schild am Eingang zur Wampanoag Homesite uns so vehement von seinem Gegenteil überzeugen und uns vor etwaigen rassistischen Fehltritten bewahren will.
Selbstbilder und die Aporien der Zeit Diese stumme Bestätigung von Vorurteilen bringt uns indirekt aber auch zu unserem Ausgangspunkt zurück, nämlich zu der Frage: was die Museen, jenseits der latenten Bestätigung von gesellschaftlichen Rassismen, mit Victoria Beckham, Napoléon Bonaparte oder Franz von Assisi verbindet. Worin besteht der Zusammenhang zwischen Autosuggestion und Geschichte? Und in welcher Beziehung steht diese Art der Inszenierung zum Primat der Selbstbeeinflussung? Wie schon eingangs betont, verkörpern die Museen das Selbstbild der USA als Abbild ihres zeitlosen Wesens und emanieren ihre geschichtslose Natur als Erfahrung. Dabei ist es nicht das geschichtliche Material respektive die inhalt liche Substanz der Museen, die diese nationale Eigenwahrnehmung unmittelbar bestätigt und fördert; eine Eigenwahrnehmung, die nebenbei bemerkt, tief im Mythenschatz der USA verankert ist. Vielmehr ist es die Art und Weise, wie die Museen Geschichte darstellen, die zu dieser Fiktion der USA als immerwährender Gegenwart beitragen. Denn auch wenn diese Museen in ihrer Gestalt weiter differenziert werden müssten, als dies hier möglich ist und auch wenn
16 Ebd., S. 97–101.
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die Museen weiter gegeneinander abgegrenzt werden müssten, als es diese kurze Darstellung erlaubt, muss über die verschiedenen Praktiken der Museen hinweg (im Vergleich zueinander, aber auch im Vergleich innerhalb ihrer institutionellen Geschichte) eine ihnen gemeinsame Eigenart festgehalten werden. Bei allen Unterschieden haben diese Museen nämlich einen gemeinsamen Kern: nicht etwa das Narrativ Dorf, über dessen kulturspezifische Bedeutung sicher auch zu sprechen wäre,17 sondern die Montage beziehungsweise Homogenisierung von Räumen, Zeiten und, besonders im Fall von Plimoth Plantation, von Authentizitätszuschreibungen, kulturellen Verabredungen und dogmatischen Vor-Urteilen, die in allen drei Fällen zu einer Stilllegung der Geschichte führen. Diese Stilllegung der Geschichte wird in den Museen unterschiedlich erzeugt und hervorgerufen. Greenfield Village setzt vor allem auf eine narratologische Verschleifung verschiedener historischer Personen, ihrer Lebensgeschichten und ihrer zeitgeschichtlichen Kontexte und nicht zuletzt auf die Nivellierung von divergenten Geschichtsmodellen. Symptomatisch hierfür ist die Impression einer Besucherin des Dorfes, die verwundert feststellte: „I never realized Henry Ford, Thomas Edison, Noah Webster, and the Wright brothers all lived in the same town.“18 Colonial Williamsburg und Plimoth Plantation initiieren diese Stilllegung dagegen über die Art und Weise wie Zeit erfahrbar wird: nämlich als Simultanität von Ereignissen und als Zyklus, nicht als Sukzession von Entwicklungsschritten. Falsch verstanden wäre es aber, wenn man darin ein ahistorisches Geschichtsbild sehe – geht man zumindest von den Zielsetzungen der Museen aus. Die Ambition der Museen ist nicht Stillstand. Ziel der Institutionen ist die Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts, die auf einem Ideologem einer (vermeintlichen) wissenschaftlichen Progression beruht. „The coupling of a pasttense paradigm-driven history and a present-tense factual history“, schreiben die beiden Kulturanthropologen Richard Handler und Eric Gable, „reinforces one of the principal implications of the mimetic realism – the notion of history making as a progressive progress. Errors are relegated to the past, beyond which we who make history in the present can be said to have progressed, precisely through the ongoing work of discovering new facts.“19 Dieses Zitat weist neben dem Glauben an den inhärenten Fortschritt durch diese Art der Geschichtsschreibung zumindest noch auf zwei weitere wichtige 17 J. Kabisch: The Tools of the Nation Makers, S. 83. 18 Phillips, Charles: „Greenfield’s Changing Past“, in: History News 37, November (1982), S. 9–14, hier S. 11. 19 R. Handler/E. Gable: New History in an Old Museum, S. 77.
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Rahmenbedingungen der Inszenierung der Geschichte als Gegenwart hin. So kämpfen die Museen zunächst gegen ein Doppeltes an. Sie kämpfen zum einem gegen Lücken, Schwächen und Mankos in ihrer Narration der Geschichte, und andererseits gegen Einbrüche der Realität der heutigen Wirklichkeit. Während man die Lücken unter anderem durch das Sammeln von mehr Informationen kompensieren will beziehungsweise sich den neuesten Strömungen der Geschichtswissenschaften anpasst, so wie etwa in Colonial Williamsburg mit seinem Wechsel von einer Eliten- zu einer Sozialgeschichte oder in Greenfield Village mit seiner Wende hin zum Historizismus, zeichnet sich darin aber auch ein wissenschaftlicher Irrglaube ab. Denn diese Adaptionen sind nicht nur Korrektur etwaiger faktischer Fehler. Sie stellen immer auch eine Konzession an die Anschauungen der Gegenwart über die Vergangenheit dar, die sich auch in der Eventgestaltung der Museen widerspiegelt. Die Museen, die Wirtschaftsunternehmen sind und sich vornehmlich aus den Eintrittsgeldern finanzieren, richten unter anderem Feste aus, wie etwa Thanksgiving, die in den Zyklus der innerhalb der Museen dargestellten Geschichte eingewoben werden; Feste, wie übrigens auch die opulenten englischen Bauernhochzeiten in Plimoth Plantation, die nicht Usus der Zeit oder Brauch der dargestellten Kommunen waren, sondern Erfindungen des 19. beziehungsweise 20. Jahrhunderts sind. Diese Eingriffe in die Schilderung der Geschichte sind Konzessionen an den Geschmack heutiger Besucher; wie nebenbei gesagt auch die pittoresken Gärten, die die Häuser Colonial Williamsburgs umgeben oder die Sitzbänke, die entlang der Alleen aufgestellt wurden, um den Besuchern die schönsten Blicke auf die koloniale Vergangenheit zu eröffnen. Neben diesen Lücken gibt es aber auch eine Diskrepanz zwischen der historischen Vergangenheit und der Lebenswirklichkeit von heute, die permanent die Illusion der Authentizität angreifen. Diese Außenwelt (wie etwa moderne Brandschutzauflagen oder die Existenz und der Gebrauch moderner Technologien, besonders von Videokameras und Photoapparaten) versucht man durch Neologismen in die historische Fiktion einzubinden oder, wie im Fall von Ford und Greenfield Village, der zu Beginn der 1930er Jahren eine Mauer um das Dorf errichten ließ, gezielt auszuschließen. Mit diesen Modifikationen der Geschichte bringen sich die Museen unweigerlich in die Nähe von ‚theme parks‘, so viele Kritiker der Institutionen, die in diesen Modifikationen oft einen Kniefall an das Begehren der Besucher sehen und einen Treuebruch gegenüber dem geschichtlichen Verismus. Ob berechtigt oder nicht, für uns eröffnen diese Analogien zur Fiktionalisierung der Geschichte eine wichtige analytische Perspektive auf die Strategien der
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kuratorischen Praxis: Allem voran beleuchten sie das Verhältnis von Narrativen der Zeit zu Strukturen der Zeitlichkeit.20 Innerhalb der Museen werden neben der Harmonisierung der verschiedenen Narrative von Geschichte schließlich auch unterschiedliche Aspekte des Phänomens Zeit verschränkt und miteinander verbunden; unter anderem das am Augenscheinlichste: die Verknüpfung der Vergangenheitsform mit dem Präsens; also die Synchronisierung von Vergangenheit und Gegenwart. Und sie betrifft nicht nur die Erzählzeit. Es wird auch der Modus der Wahrnehmung der Zeit miteinbezogen. So werden gerade die Aporien zwischen Geschichte und Historizität, also der Unterschied zwischen einer spezifischen geschichtlichen Situation, ihrer historischen Ursachen und Strukturen, aber auch ihrer ideellen Konstitution und unserer eigenen Geschichtlichkeit verwischt und aufgelöst – nicht etwa erklärt oder kritisiert. Dazu wird die Geschichte als Zeithorizont der gezeigten Epoche, wie in einer Blase gefangen gehalten, die der Besucher nun unmittelbar als immerwährende Gegenwart erleben soll. In der Konsequenz entstehen so Räume außerhalb der Zeit, die sich wiederum in sich als Räume der Zeitlosigkeit gebären. Daneben wird aber auch die Geschichtserfahrung und Zeitwahrnehmung nivelliert und zur Deckung gebracht. Paradigmatisch dafür sind die unterschiedlichen Programme, Tiere ins 17. beziehungsweise 18. Jahrhundert ‚zurück zu züchten‘, um damit dem heutigen Besucher in den Restaurants der Museen den ‚authentischen‘ Geschmack der Vergangenheit zu vermitteln. Auf dieser Ebene der vermeintlichen historischen Authentizität ist dieser Appell an die Geschichte – ‚so wie sie wirklich wahr ist‘ – ein besonders heikles Unterfangen, denn die in den Museen angewandten Inszenierungsstrategien setzen auf die Harmonisierung unserer Seh- beziehungsweise Zeitgewohnheiten mit der dargestellten historischen Zeit. Dieses Spannungsverhältnis von Geschichte und Historizität, von dargestellter zu erfahrbarer Zeit ist in allen Fällen des Kuratierens ein kritischer Punkt; sei es in puncto Geschichte zu kuratieren oder einen anderen Gegenstand erfahrbar zu machen. Es ist eine Aporie, der keine Form der Erzählung, sei sie rein fiktiv oder streng wissenschaftlich, entkommen oder die sie transzendieren kann. Als Problem der Vermittlung stellt sie sich immer wieder neu. Für uns eröffnet dieses Spannungsverhältnis dennoch die Frage, welche Sehnsucht sich hinter dieser Art Vergegenwärtigung der Vergangenheit und der Stillstellung der Zeit verbirgt. Die Kulturhistorikerin Barbara Kirshenblatt-Gimblett
20 Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, 3 Bde, München: Fink 1988–1991; bzw. Carr, David: Time, Narrative, and History, Bloomington: Indiana University Press 1991.
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spricht von einem „democratizing effect“21, der hier stillschweigend mit dem Ideologem der Geschichtslosigkeit der USA gepaart wird. Schließlich kommt es innerhalb der Museen, so Kirshenblatt-Gimblett, zu einer doppelten Kollaboration zwischen den historischen Akteuren und Besuchern einerseits und zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft andererseits, der man eine demokratisierende Wirkmacht jenseits der Logik der Zeit zuspricht: „[In visiting the museums] the visitor has the uncanny sense of seeing into the future, converting what he understands to be our past into the Pilgrim’s future. In a curious sense, actors and visitors collaborate in an historical imaginary that denies and jumbles time by sustaining one small slice of it indefinitely, even while abutting it with the present moment.“22 So werden die heutigen Besucher nicht nur zu scheinbaren Zeitzeugen der Vergangenheit, sondern zu fiktiven Agenten der Zukunft der Puritaner und Pilgerväter. In einer Umkehrung der Mechanismen der Selbstbeeinflussung werden die Besucher zur Krone der Entwicklung. Die Logik der Autosuggestion wirkt dabei doppelt: Die heutige Gegenwart ist der imaginierte Traum der Puritaner, wie ihr Dasein die Selbstaffirmation der heutigen Wirklichkeit.
21 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: „Forward“, in: S. E. Snow: Performing the Pilgrims, S. IX –XVIII , hier S. XVII . 22 Ebd., S. XVI .
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William F. Cody und die Verfügbarkeit von Geschichte in der Populären Kultur Ein Pre-Enactment
„Die Geschichte scheint sich selbst zu erzählen.“ (Roland Barthes)
Im Juni 1887 schrieb William F. Cody unter seinem Bühnennamen Buffalo Bill einen Artikel, in dem er in gedrängter Form seine Lebensgeschichte publizierte. Überschrieben ist der Artikel aus der Daily Alta California mit dem Titel: My First Dead Indian. Darin heißt es: „I was born in February, 1845, in the State of Iowa. I need not go into details respecting my family, and can dismiss my youth briefly by saying that when I was not on a horse I was just being thrown off one. I soon became a pretty smart rider, and my practice with a gun was pretty good, too. I was twelve years old when I killed my first Indian. It happened rather sudden. I was walking out by the river, near Fort Kearney, one night about 10 o’clock. My companions had got on ahead somehow, and I was quite alone, when, looking up toward the bluff bordering the river, I saw, illuminated by the moon, the head of a live Indian, watching me with evident interest. Now I had heard many stories of the doings of the red men, and had also been inculcated with a thorough distrust of their ways; so, quickly coming to a conclusion as to what I should do, I brought my gun to my shoulder, and aiming at the head, fired. The report sounded louder than usual in the silence of the night, for it was past 10 o’clock, and was followed by a war whoop such as could only be built up by an Indian, and the next instant over six feet a dead Indian came down splash into the river. Soon after this I went to business.“1 Im Jahr 1887, als My First Dead Indian erschien, war William F. Cody 41 Jahre alt. Er hatte bis dahin als Viehjunge gearbeitet, als Scout für die Kavallerie an der Eroberung des amerikanischen Westens teilgehabt und sich seinen
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Buffalo Bill: „My First Dead Indian“, in: Daily Alta California vom 19.06.1887, http:// codyarchive.org/texts/wfc.nsp05848.html, abgerufen am15.06.2016.
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Spitznamen durch die Erschießung von über 4.000 Büffeln in wenigen Monaten erworben. Das Fleisch der Tiere wurde für die Arbeiter der Kansas Pacific Railway benötigt, die bis ins Jahr 1869 eine vollständige Verbindung zwischen amerikanischer Ost- und Westküste schufen, an der Cody in diesem Sinne einer von vielen zehntausend Beteiligten war. Cody hatte zu dieser Zeit außerdem eine Karriere als Guide für europäische Touristen hinter sich, die die Schauplätze der Eroberung des Westens vor Ort besuchen kamen; eine weitere Karriere als Schauspieler seiner eigenen Lebensgeschichte an Theatern der Ostküste, basierend wiederum auf der Serienfigur Buffalo Bill, die der New Yorker Autor Ned Buntline seit 1869 wöchentlich in Form populärer Groschenromane veröffentlichte und die einen enormen Absatz fanden. Die Wild West Show, Codys folgenreichste Erfindung, gastierte im Jahr 1887 zum ersten Mal in Europa; aus London schrieb Cody den hier zitierten autobiographischen Bericht. Nach vier Jahres-Tourneen durch die Vereinigten Staaten, bot die Weltausstellung in der britischen Hauptstadt die Gelegenheit, die Wild West Show nach Europa zu exportieren. Zwei Millionen Besucher hatte sie im Laufe ihres sechsmonatigen Aufenthalts in London. Der prominenteste Besuch war die britische Königsfamilie, der in Verbindung mit dem Kronjubiläum von Königin Victoria zu einer „media sensation“ wurde, „providing a marketing bonanza for Cody and his team of promotional agents“.2 Zusammengefasst, William F. Cody war im Juni 1887 längst zu der populären Figur Buffalo Bill geworden; zu einem symbolisch wie ökonomisch stabilen Zeichen in einem – maßgeblich durch ihn – internationalisierten Feld der Vermittlung amerikanischer Zeitgeschichte. Auf diesem sprichwörtlichen Gipfel des Ruhms wählte er als einen autobiographischen Pfad und entscheidenden Moment seiner Selbst-Konstituierung die Erschießung eines Indianers. „I was twelve years old when I killed my first Indian.“ Mit dieser Geste der Auswahl aus einem wahrlich nicht armen biographischen Fundus inszeniert Cody eine Verfügbarkeit über Geschichte im Modus des Populären. Darum soll es im Folgenden gehen. Welche kuratorische Praxis, welcher ästhetische Umgang mit dem Zuviel an (eigener) Geschichte bietet die populärkulturelle Figuration William F. Cody/ Buffalo Bill an? Meine Überlegungen zum Umgang mit Geschichte in der Populären Kultur blicken dabei auf zwei Momente aus diesem
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The William F. Cody Archive, Buffalo Bill Center of the West and University of Nebraska-Lincoln: „Biography“, http://codyarchive.org/life/wfc.bio.00002.html, abgerufen am 15.06.2016.
William F. Cody und die Verfügbarkeit von Geschichte in der Populären Kultur
spezifischen Material des späten 19. Jahrhunderts.3 In dem Abschnitt Von Cowboys und Indianern stehen die Groschenhefte der Buffalo-Bill-Reihe, genauer, deren Titelillustrationen, im Zentrum der Frage, wie eine autobiographische Vergangenheit zu einem serialisierten Zeichen wird. Ein Pre-Enactment führt diese Untersuchung fort, indem die Performance William F. Codys – diesseits und jenseits der Bühne – als Versuch gewertet wird, gleichzeitig als Subjekt und Objekt der Geschichte aufzutreten.
Von Cowboys und Indianern Die Populärkultur ist eine der Formen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Überfluss an Geschichte umgeht und dem Zuviel eine ästhetische Form gibt: als Weltausstellung und Völkerschau, als Panorama und Kriegspostkarte, als Zeitschrift, als Film und Fernsehserie, als ‚Mocumentary‘. Sie tut dies auf spezifisch andere Weise als die Geschichtswissenschaft: nämlich im Modus der Unterhaltung.4 Unterhaltend aber wird Geschichte, so die folgende These, 3
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Und damit auf die Formierungsphase der Populären Kultur als Massen- und Unterhaltungskunst. Vgl. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2001; Hügel, HansOtto: „Einführung“, in: Ders. (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart 2003, S. 1–22; Luhmann, Niklas: „Unterhaltung“, in: Ders., Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 96–116. Die Veröffentlichungen, die sich in den letzten Jahren (in Deutschland) dem Themenfeld der populären Geschichtsschreibung gewidmet haben, lassen weiterhin die Tendenz erkennen, der Geschichtsschreibung die Deutungshoheit zuzusprechen und die Populäre Kultur als sekundäres Material zu behandeln, das grundsätzlich unter Verdacht steht, die anscheinend immer noch als authentisch gedachten historiographischen Darstellungen zu verfälschen. Vgl. Hardtwig, Wolfgang/Schug, Alexander (Hg.): History Sells! Angwandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009; Korte, Barbara/ Paletschek, Sylvia (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld: Transcript Verlag 2009; Pirker, Eva Ulrike u.a. (Hg.): Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, Bielefeld: Transcript 2010. Eine Ausnahme bieten die beiden Bände mit Beiträgen zur Popgeschichte, die, aus der Perspektive der Zeitgeschichte, Pop als Quellenbegriff fassen. Vgl. Geisthövel, Alexa/ Mrozek, Bodo (Hg.): Popgeschichte, Bd. 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld: Transcript 2014; Geisthövel, Alexa/Mrozek, Bodo (Hg.): Popgeschichte, Bd. 2: Zeithistorische Fallstudien 1958–1988, Bielefeld: Transcript 2014. Dass die Populäre Kultur als eine eigenständige Ästhetik verstanden werden muss, die sich auf unterhaltende Weise mit Geschichte auseinandersetzt, hat die materialreiche
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wenn sich an ihr zum einen dramatische Konflikte inszenieren lassen, und zum anderen, wenn dabei auf spielerische Weise eine Unklarheit etabliert wird, wer überhaupt Geschichte schreibt, wer der Kurator der Geschichte ist. Welches ‚Ich‘ spricht in dem Satz „I was twelve years old, when I killed my first Indian“? Welchen Umgang mit dem Zuviel an Geschichte hat also William F. Cody vor beinahe 150 Jahren angeboten? Einer Ausstellung des eigenen Lebens gleich, wählte er den Mord an einem Indianer als sinnstiftendes Motiv seiner Biographie. Die Auswahl geschieht, wie einleitend zitiert, ex post: als ein erster Rückblick, der vor einem öffentlichen Publikum Rechenschaft über den Verlauf seiner eigenen Geschichte ablegt.5 Dieser gewählte Auftakt eines in sich geschlossenen Narrativs6 schließt sich – auf dem Höhepunkt der öffentlichen Sichtbarkeit Codys – in der Figur Buffalo Bill zusammen. In Buffalo Bill findet das Motiv des first dead Indian seine permanente Wiederholung; es wird, anders formuliert, zu einem seriellen Motiv der sinngebenden Auswahl Codys. Die „doppelte Formstruktur der Serie“7 zwischen Variation und Kontinuität macht es möglich – und notwendig – den übergreifenden dramaturgischen Zusammenhang einer Serie und die je einzelne Einheit derselben aufeinander zu beziehen. Die Titelblätter der Buffalo-Bill-Groschenromane bieten hierfür ein geeignetes Anschauungsmaterial, entstanden sie doch selbst in der Form der populären Serie. Die Groschenromane wurden von dem New Yorker Journalisten und Schreiber diverser dime novels, Ned Buntline, ab 1869 im New
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Publikation von Raphael Samuel gezeigt, die allerdings keine Theorie des Verhältnisses von Geschichte und Populärkultur entwickelt: Samuel, Raphael: Theatres of Memory. Past and Present in Contemporary Culture, London/New York: Verso 2012. Silvio Vietta spricht von dem „finalen Punkt“, von dem aus das Genre der Autobiographie konzipiert sei. Vietta, Silvio: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München: Fink 2005, S. 202. Vgl. für aktuelle Ansätze in der Autobiographie-Forschung in den Kultur- und Medienwissenschaften: Eakin, Paul John: How our lives become stories. Making selves, Ithaka/London: Cornell University Press 1999; Crivellari, Fabio/Grampp, Sven (Hg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz: UVK 2004; Dünne, Jörg/Moser, Christian (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, München: Fink 2008. Arthur C. Danto weist auf die aristotelische Verfasstheit von Geschichtsnarrativen hin: „To ask for the significance of an event, in the historical sense of the term, is to ask a question which can be answered only in the context of a story.“ [Hervorhebung im Original] Arthur C. Danto: Analytical Philosophy of History, London: Cambridge University Press 1965. S. 11. Hickethier, Knut: „Serie“, in: Hügel, Hans-Otto (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart: Metzler 2003, S. 397–403, hier S. 398.
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York Weekly veröffentlicht. Unter dem Titel Buffalo Bill, the King of Border Men schrieb Buntline mehr als hundert Fortsetzungen und schließlich auch ein Theaterstück, in dem sowohl Cody als auch er selbst auf Bühnen der Ostküste erfolgreich auftraten.8 In der deutschen Fassung erschienen zwischen 1930 und 1933 insgesamt 122 Heftromane unter dem Titel Buffalo Bill im Gustav Kühn Verlag Leipzig.9 Zu den Heften gibt es keine Bildbeigaben, wie noch im späten 19. Jahrhundert teilweise üblich,10 aber jedes Titelbild ist in Farbe illustriert und diente somit in gleicher Weise als Werbemittel, Kaufanreiz und Kostenfaktor der Produktion. Welche Motive überwiegen im visuellen Eindruck der Covergestaltungen? Bei einem ersten Blick fällt auf, dass etwa zwei Drittel der Titelbilder einen Konflikt zwischen Buffalo Bill und Indianern darstellen. Dabei lassen sich drei Konstellationen beschreiben, in denen dieser Konflikt visuell ausgetragen wird. Erstens im Kampf Buffalo Bills mit einer Vielzahl Indianern; zweitens herausgehobenen im Duell mit einem einzelnen indianischen Gegner; sowie drittens in Situationen, in denen er als Retter auftritt und auf der Flucht vor Indianern gezeigt wird.11 Die Kampfhandlungen sind deutlich in der Überzahl, sie versprechen als Teil der visuellen Narration der Heftromane die gesteigerte Dramatik des Kampfes, die durch eine Vielzahl der Titelbilder unterstützt wird, in denen die Figuren in heftigen Bewegungen gezeichnet sind. Die Bildunterschriften auf dem Titel, die in die Geschichte einführen, wiederholen jene ins Bild gesetzte Dramatik: „Blitzschnell sprang Buffalo Bill in das Innere des Wigwams, indem er gleichzeitig einen Apachen, der ihm den Weg versperren wollte, niederschoß.“12
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Zu diesen Angaben und weiterführend zur Figur Ned Buntline siehe: Buckley, Peter: „The Case against Ned Buntline: The ‚Words, Signs, and Gestures‘ of Popular Authorship“, in: Prospects 13 (1988), S. 249–272. 9 Ich danke Hans-Otto Hügel dafür, dass ich mit seiner privaten Sammlung arbeiten durfte. Im Netz finden sich alle Titelbilder der deutschen Serie, auf die sich die folgenden Beobachtungen stützen, http://www.romanhefte-info.de/d_vk_buffalobill.htm, abgerufen am 15.06.2016. 10 Vgl. Hügel, Hans-Otto: „Das Illustrierte ernst genommen. Karl Mays ‚Waldröschen‘ gelesen in der Perspektive der Bildbeigaben“, in: Stefan Krankenhagen/Hans-Otto Hügel (Hg.), Figuren des Dazwischen. Naivität in Kunst, Pop- und Populärkultur, München/ Kopenhagen: Fink 2010, S. 203–229. 11 Die ersten drei Titel entwickeln genau diese visuellen Themen vom Massenkampf, Einzelkampf und der Rettung einzelner (meist Frauen). 12 Bd. 99: „Mercedes, der weibliche Cowboy“.
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Eine genaue Analyse hätte herauszuarbeiten, wie jene Stereotypen des Konflikts in den Titelbildern auch variiert wurden. Etwa durch die Abbildung weiblicher Cowboys oder Kuriere (Bd. 3, 39, 33, 57, 104, 114, 119, 122); durch Buffalo Bill als passivem Zuschauer oder in Gefahr (Bd. 101, 102, 112, 120); im Kampf gegen Weiße (Bd. 8, 32, 66, 106) sowie in Situationen, in denen er sich mit Indianern im Kampf verbrüdert (Bd. 50, 106). Es wäre weiterhin zu beobachten, was die Titelillustrationen nicht darstellen: Keine komischen Momente, kaum Interieur-Szenen, kaum Abbildungen, in denen soziale Rollen oder Statusunterschiede ausgestellt und damit verhandelbar werden, sind abgebildet. Mir geht es an dieser Stelle aber um die Beobachtung, dass es unter den 122 Heften kein Titelbild gibt, in denen Buffalo Bill nicht signifikant zu erkennen wäre. In schwarzen Stiefeln, weißer Hose, einem dunklen Hemd über das ein rotes Halstuch geknotet ist, einer gelben Jacke, schwarzen Haaren und einem strahlend weißen Hut sticht er in jeder noch so verworrenen Kampfsituation hervor. Zwar steht Buffalo Bill nicht immer im Bildmittelpunkt der Illustrationen, aber es sind keine weiteren Haupt- oder Nebenfiguren etabliert, die die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich ziehen würden. Er besitzt die Eigenschaften des modernen Idols, indem er sich den Blicken der Vielen aussetzt. „Der Star ist das verkörperte Versprechen, daß aller Augen auf ihn gerichtet sind. Sein Glanz ist derjenige, in den das Wissen, daß alle schauen, taucht. Er ist keine Eigenschaft der Person, sondern wird von der Gemeinde der Schauenden verliehen. […] Und er ist gleichwohl eine technische Errungenschaft der mediatisierten Präsentation.“13 Die Figur des Buffalo Bills ist ein einzelnes Individuum im Kampf gegen Viele: ein ‚Westerner‘ und ‚border man‘, wie es im Untertitel der amerikanischen Originalfassung heißt. Der ‚Westerner‘, so definiert ihn Christian Kortmann, „wahrt seine Raison d‘être: derjenige zu sein, der auf der Grenze existiert.“14 Buffalo Bill erscheint in den Titelillustrationen der Groschenromane der 1860er und 1870er Jahre als der Einzelne, der sich allen Gefahren einer Grenzexistenz aussetzt. Die Grenze aber – ‚the frontier‘ – war das identitätsstiftende Signal der Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und verbindet den populären Geschichtsvermittler William F. Cody mit dem akademischen Geschichtswissenschaftler Frederick Jackson Turner. Die Veröffentlichungen um den king of border men, wie auch die Entwicklung der Wild West Show durch Cody fallen in die ersten zwei Jahrzehnte nach 13 Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München: Hanser 1998, S. 167. 14 Kortmann, Christian: „Westerner“, in: H.-O. Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur, S. 511–516, hier S. 512.
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dem amerikanischen Sezessionskrieg zwischen Unions- und Südstaaten, in eine Zeit, in der noch letzte Kämpfe gegen indianische Stämme geführt wurden, die geopolitische Eroberung des Westens des Landes aber bereits abgeschlossen war. Ökonomische und politische Modernisierungsschübe vollzogen sich zu dieser Zeit in Amerika innerhalb weniger Jahrzehnte – nicht wie in Europa innerhalb von zwei Jahrhunderten.15 Die Grenze zwischen besiedeltem und unbesiedeltem Land löste sich in diesen Jahrzehnten sukzessive auf und wird genau dadurch zu einem Leitbegriff der amerikanischen Kultur wie auch ihrer Geschichtsschreibung. Mit Frederick Jackson Turner entwickelte die These vom ‚Frontierism‘ ab den 1890er Jahren ihre nachhaltige Wirkung bis in die Gegenwart hinein.16 Als „meeting point between savagery and civilization“ erschaffe, so Turner, erst die Konfrontation mit geographischen, sozialen und kulturellen Grenzen die amerikanische Nation und den amerikanischen Charakter: „The frontier is the line of most rapid and effective Americanization. The wilderness masters the colonist. It finds him a European in dress, industries, tools, modes of travel, and thought. It takes him from the railroad car and puts him in the birch canoe. It strips off the garments of civilization and arrays him in the hunting shirt and the moccasin. It puts him in the log cabin of the Cherokee and Iroquois and runs an Indian palisade around him. Before long he has gone to planting Indian corn and plowing with a sharp stick; he shouts the war cry and takes the scalp in orthodox Indian fashion. In short, at the frontier the environment is at first too strong for the man.”17 Die Illustrationen der Groschenromane von Buntline reihen sich in das Narrativ des ‚Frontierism‘ ein, indem jene Grenzverhandlung als eine sehr präzise Figuration auftritt: als der Kampf zwischen Cowboys und Indianern. Was der amerikanische Historiker Richard White zum Bühnenprogramm der Wild West Show schreibt, gilt bereits für die visuelle Etablierung der Figur des Buffalo Bill als Titelheld der dime novels: “His spectacles presented an account of Indian
15 Exemplarisch entsteht zu dieser Zeit eine Gleichzeitigkeit von ‚Geschichte machen‘ und ‚Geschichte schreiben‘. Vgl. den Aufsatz von Jens Kabisch in diesem Band, der die Kontinuitäten dieses Geschichtsverständnisses am Beispiel aktueller US -Freilichtmuseen behandelt. 16 Turner, Frederick Jackson: The Frontier in American History, New York: Henry Holt and Company 1921. Die Frontier-These wurde von Turner bereits 1893 in einem Vortrag vor der American Historical Association entwickelt und fällt damit in die Periode der großen Erfolge der Wild West Show. 17 F. J. Turner: The Frontier in American History, S. 3f.
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aggression and white defense, of Indian killers and white victims.”18 Doch entscheidend an Turners These ist weniger die Dichotomie von Zivilisation und Wildnis, als deren gegenseitige Durchdringung. Nach Turner muss der zivilisierte Weiße die Gesetze der Natur und der Wildnis erlernen, er muss sich den Indianern anverwandeln und nimmt ihnen als Zeichen der Beherrschung ihren Skalp; perpetuiert also die barbarischen Praktiken der Wilden, die er gleichzeitig bekämpft. So sehr die Titelillustrationen den Konflikt zwischen Weißen und Indianern in ihr visuelles Zentrum stellen und reihenweise first dead Indians produzieren, so sehr ist die Figur des Buffalo Bills gleichzeitig immer in Kontakt mit der dargestellten Wildnis und den Wilden gestellt. Er beherrscht Tomahawk- und Messer Kampf (Bd. 75; Bd. 48), er beherrscht das Kanoe (Bd. 81); er beherrscht Lasso und Büffel (Bd. 68; Bd. 122) und er beherrscht sein Pferd in allen möglichen und unmöglichen Situationen: gefesselt (Bd. 84) zu zweit (Bd. 76) und rückwärts sitzend auf ihm kämpfend (Bd. 50). Nur einen Skalp nimmt er nicht. Soweit waren die Titelillustrationen noch nicht: der first dead Indian ging mit den Groschenromanen von Ned Buntline in Serie; der first scalp, der nach Turner Ausdruck einer effektiven Amerikanisierung sei, ließ noch auf sich warten.
The first Scalp for Custer: Ein Pre-Enactment19 Erst im Vorfeld der Wild West Show vollzog sich jener spezifische Moment der Selbst-Konstituierung des ‚frontier-man‘. 1876, Cody spielte seit drei Jahren mit der von ihm gegründeten Buffalo Bill Combination auf den Bühnen der Ostküste, wurden amerikanische Truppen um General Custer in einer Schlacht, die als Battle of the Little Big Horn historische Berühmtheit erlangt hat, geschlagen und Custer getötet. In den darauf folgenden Vergeltungskämpfen war auch Cody involviert. In einer folgenden Schlacht tötete und skalpierte er den Häuptling der Cheyenne Indianer, Yellow Hair [Yellow Hand]. Er hatte sich dafür – in der realen Kampfhandlung vor Ort – exakt in das Kostüm gekleidet, mit dem er später als Buffalo Bill in dem Melodrama „The Red Right Hand; or the First Scalp for Custer“ auftrat. William F. Cody ermordete den Häuptling der 18 White, Richard: „Frederick Jackson Turner and Buffalo Bill“, in: Ders./Patricia Nelson Limerick, The Frontier in American Culture, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1994, S. 6–65, hier S. 27. 19 Ich danke Werner Greve für gemeinsame Gespräche und seine Idee, das hier zu beschreibende Moment als Pre-Enactment zu bezeichnen.
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Cheyenne in seinem zukünftigen Bühnen-Kostüm, als zukünftiger Darsteller dieses Mordes im Rahmen einer zukünftig stattfindenden Unterhaltungsshow. Auch The first Scalp for Custer wird zu einem seriellen Zeichen im Medienkosmos des Buffalo Bill. Drucke, Postkarten und Zeichnungen mit diesem Motiv kursierten als Ankündigungen, Beigaben oder Souvenirs der Wild West Show; eine Beschreibung und Illustration der Szene findet sich in Codys Autobiographie von 1879; und auch als Szene in den Kurzfilmen The Indian Wars, die Cody nach dem Bankrott der Wild West Show 1913 mit der eigenen Produktionsfirma dreht, sieht man Cody in Siegerpose über einem toten Indianer stehen, einen Skalp in seinen Händen.20 Cody dreht den Zeitpfeil der Geschichte schneller. Wenn Ulf Otto „das Denkmodell des Reenactments [als] die Zeitreise“ bezeichnet –„weil man das Heute vergisst und das Gefühl hat, im Gestern gelandet zu sein“21 –, dann reist das Pre-Enactment Buffalo Bills nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Geschichte wird hier nicht retrospektiv als Geschichte erkannt, beziehungsweise zu jener gemacht indem ein Ereignis im Modus der Geschichtsschreibung, der Kunst oder der Unterhaltung nachträglich vermittelt wird. Vielmehr wird sie bereits im Moment des Geschehens als zukünftige Geschichte ausgewählt und sinnhaft besetzt. William F. Cody erkennt, dass Geschichte nicht ‚kalt‘ werden muss, sondern dass es darauf ankommt, die Gegenwart als Geschichte zu kuratieren. „[Buffalo Bill, SK] capitalized on our modern talent for the mimetic – our ability to create countless mass-produced imitations of an original. […] Buffalo Bill created what now seems a postmodern West in which performance and history were hopelessly intertwined.“22 Jene ‚hoffnungslose‘ Verschränkung von Inszenierung und Ereignis hat ihr Bindeglied in der Person William Codys und der Figur Buffalo Bills, beziehungsweise in der gleichzeitigen körperlichen Anwesenheit von Subjekt und Figur, deren realer und symbolischer Gehalt oszillieren: das Subjekt ist so fiktiv, wie die Figur real ist. Cody und Buffalo Bill sind ‚der Kurator‘ jener amerikanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts und bieten damit genau die Uneindeutigkeit, 20 Paul Hedren hat jenseits dieser Mediengeschichte versucht, das Ereignis und seine Erzählung zu sortieren: Hedren, Paul: First Scalp for Custer. The Skirmish at Warbonnet Creek, Nebraska, July 17, 1876, Lincoln, Nebraska: University of Nebraska Press 1987. 21 Otto, Ulf: „Die Macht der Toten als das Leben der Bilder. Praktiken des Reenactments in Kunst und Kultur“, in: Jens Roselt/Christel Weiler (Hg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld: Transcript 2011, S. 185–201, hier S. 191. 22 R. White: Frederick Jackson Turner and Buffalo Bill, S. 29.
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die die Vermittlung von Geschichte im Modus der populären Kultur ausmacht. Denn die Gegenwart ist im Modus des Populären immer schon die Gegenwart der sinngebenden Auswahl von Geschichte; einer Auswahl, die das Ich als autonomes Subjekt und als ästhetische Rolle zugleich konstituiert – und damit als Subjekt und Objekt der Geschichte.23 Dass sich die Etablierung der Populären Kultur im späten 19. Jahrhundert im Kontext fortschreitender Nationalisierungs-, Mediatisierungs- und Ökonomisierungsprozesse der sich modernisierenden Gesellschaften vollzogen hat, ist eine breit erforschte Tatsache, für die auch die Wild West Show unzählige Beispiele liefert.24 An der Formierungsphase der Populären Kultur kann man aber auch erkennen, dass Historisierungsprozesse dabei eine ebenso entscheidende Rolle gespielt haben. Doch anders als das Bonmot des deutschen Historismus es in dieser Zeit verlangte – „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen“ (Ludwig von Ranke) – schärft die Populäre Kultur von Anfang an den Blick für die fiktionalen Elemente von Geschichte. Fiktional aber ist Geschichte nicht deshalb, weil sie erfunden, imaginiert oder konstruiert ist. Fiktional ist sie, weil Geschichte immer zugleich verfügbar und unverfügbar ist. Verfügbar ist sie, weil seit der anthropologischen Wende der Neuzeit der Mensch die Geschichte macht; indem er sie durch säkularisierte Vorstellungen eines Telos der Aufklärung und des Fortschritts instrumentalisiert und sich damit zu Eigen macht. Unverfügbar ist sie, weil sich die Geschichte als autonomes System der Moderne ohne den Menschen zu vollziehen und zu schreiben scheint; der menschliche Zugriff erweist sich als Steigerung der Kontingenz der Geschichte, die sich selbst vollzieht. „Weil sich die Zukunft der modernen Geschichte ins Unbekannte öffnet, wird sie planbar –und muß geplant werden. Und mit jedem neuen Plan wird eine neue Unerfahrbarkeit eingeführt. Die Eigenmacht der ‚Geschichte‘ wächst mit ihrer Machbarkeit.“25 Geschichte 23 In diesem Sinne bleibt jenes Ich, das Subjekt und Rolle zugleich ist, immer angewiesen auf ein Publikum, das jene Gegenwart der Geschichte bezeugt. Zum Moment der gegenseitigen Teilhabe zwischen Produktion und Rezeption in der Populären Kultur siehe: Hügel, Hans-Otto: „Forschungsfeld Populäre Kultur. Eine Einführung“, in: Ders.: Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und Populärer Kultur, Köln: Herbert von Halem Verlag 2007, S. 58–94. 24 Etwa in der Besetzungsliste der Show, die ein hochgradig arbeitsteilig organisiertes Logistik-Unternehmen zwischen ‚Contracting Agent‘, ‚Caterer‘ und ‚Candy Stands‘ zeigt. Vgl. Griffin, Charles Eldrige: Four Years in Europe with Buffalo Bill, Lincoln/London: University of Nebraska Press 2010, S. 127–130. 25 Koselleck, Reinhart: „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“, in: Ders.: Vergangene Zukunft, S. 38–66, hier S. 61.
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ist somit für den Menschen eine der ‚unverfügbaren Gewissheiten‘, wie man in Anlehnung an Wolfgang Iser formulieren kann, die nicht ‚zu haben‘ ist – ohne dass sie sich deshalb im Fiktiven auflösen würde.26 Das Fiktive der Geschichte liegt stattdessen in der Gleichzeitigkeit begründet, Geschichte zu haben und nicht zu haben; eine Erfahrung, die zu der Erkenntnis führt, als Mensch aktives Subjekt und passives Objekt der Geschichte zugleich zu sein. Geschichte kuratieren, das sollte das Beispiel aus der Formierungsphase der Populären Kultur des 19. Jahrhunderts zeigen, bedeutet, einen Vorgriff auf zukünftige Geschichte zu behaupten und jenen Vorausgriff ästhetisch – als eine so reale wie symbolische Form – zu legitimieren. William Cody und das 19. Jahrhundert arbeiteten somit strukturell nicht anders, als es die technischen Medien des 21. Jahrhunderts ermöglichen. Mit YouTube hat sich ein eigenes Archiv primär der Pop- und Populärkultur gegründet, das die Uneindeutigkeit von Vergangenheit und Gegenwart in der Inszenierung von Geschichte weiter prozessiert. Diese zukünftige Vergangenheit wird dort mit großer kultureller Selbstverständlichkeit permanent sortiert, kommentiert, kuratiert: im ungesicherten Moment der Gegenwart wird eine Form für das Historische gesucht, die unter dem Zuviel der Möglichkeiten bestehen bleiben soll.
26 Vgl. Iser, Wolfgang: „Inszenierung als anthropologische Kategorie“, in: Ders.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 504–515.
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Modell DDR Aufführung von Erinnerungslandschaften als kuratorische Praxis
Von Narrativen wird in der Ausstellungspraxis historischer Museen recht selbstverständlich gesprochen. Dies überdeckt allerdings die komplizierte Interaktion von historischer Forschung, kuratorischer Konzeption und ästhetischer Darstellung. Zeithistorische Ausstellungen, die in besonderem Maße mit Multiperspektivität, Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der Erinnerung konfrontiert sind, erfordern Formate, die über die Repräsentation kohärenter und normativer Geschichtsbilder hinausgehen und ihren Gegenstand als unabgeschlossenen, bedeutungsoffenen Prozess darlegen. Inwieweit wissenschaftliche Begründungszusammenhänge dabei für prozessorientierte, partizipative und assoziative Methoden der Kunst zu öffnen sind, soll im Folgenden erörtert werden. An die Stelle der klassischen Ausstellung von Geschichte könnte damit die performative Inszenierung von Erinnerung im Ausstellungsraum treten.
Zwischen Wissenschaft und Ästhetik: Geschichte ausstellen „Die (kultur-)historische Ausstellung als Ort wissenschaftlicher Erkenntnis mit ästhetischen Mitteln kombiniert beide Seiten – die sinnliche und die wissenschaftliche – zu einer einzigartigen Erfahrungswelt, kann aber umgekehrt keiner Seite vollständig gerecht werden. Auf der einen Seite verändert sie den Prozess der Verwissenschaftlichung, weil sie als sinnliches Medium wissenschaftliche Aussagen nicht (primär) in der diskursiven Logik der Begründung weitergibt, sondern im visuellen Modus der Evidenz, der sichtbaren Einsicht.“1 Die Entstehung des bis heute prägenden Typus der Geschichtsausstellung verortet der Museumswissenschaftler Thomas Thiemeyer in geschichtstheoretischen
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Thiemeyer, Thomas: „Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft. Die Museumsausstellung als Hort und Ort der Geschichte“, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 13–29, hier S. 26.
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Diskursen und museumstheoretischen Kontroversen der 1970/80er Jahre. In der Kombination von wissenschaftlicher Begründung und ästhetischer Anschauung konstatiert er einen Spielraum von Interpretation und Mehrdeutigkeit, der im Kontext historischer Museen selten hervorgehoben wird. Dass im Medium Ausstellung Geschichte interpretiert, an die Gegenwart angeschlossen und darüber kollektive Identität gestiftet werde, stellte der britische Soziologe Tony Bennett für bereits im 19. Jahrhundert entstehende Formate fest. Im Kontext von bürgerlicher Gesellschaft und Nationalstaatenbildung wirkten Ausstellungen demnach nicht nur über thematische Setzungen identitätsstiftend und handlungsleitend, sondern vielmehr implizit und disziplinierend: als Schule des Sehens, des visuellen Verführens, des guten Geschmacks.2 Durch verschiedene Impulse und Wechselwirkungen gewannen Ausstellungen in den 1970/80er Jahren an geschichtspolitischer Bedeutung: die Hinwendung der (Zeit-) Historiker zur Objektkultur, die im Zuge der Alltags-, Neuen Kultur- und Populärgeschichte erfolgte; die Etablierung der Museumspädagogik im Lernort Museum im Zuge der Bildungsreform; die Erfindung des Formats ‚Kulturhistorische Wechselausstellung‘ und der einschlägige Erfolg der großen Landesausstellungen in Stuttgart, München und Berlin (1977–1981), die nun mit Mitteln der Inszenierung arbeiteten; die identitätsstiftende geschichtspolitische Offensive der Regierung Kohl, die bereits 1983 die Gründung zweier Museen zur deutschen Geschichte in Bonn und Berlin vorsah. Die daraus entstehende Diskussion, ob, wie und welche Geschichte im Museum möglich und zu repräsentieren sei, wurde maßgeblich von Zeithistorikern geführt – zeitweise unter dem starken Einfluss des Historikerstreits. Sie beeinflusst bis heute die Debatte über Möglichkeiten, Grenzen und Ausrichtung musealer Geschichtsdarstellung in Deutschland.3 Geschichtsdidaktik und Museen wurden besonders durch den Begriff der Geschichtskultur geprägt, den der Historiker und Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen über die Dimensionen Ästhetik, Politik und Kognition beziehungsweise Wissenschaft
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Vgl. ebd., S. 18f. Vgl. Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a. M./New York: Campus-Verlag 1990; Borsdorf, Ulrich/ Grütter, Heinrich/Rüsen, Jörn (Hg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld: Transcript 2004; Beier-de Haan, Rosmarie: Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte. Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne, Frankfurt: Suhrkamp 2005.
Modell DDR
konzeptionell fasste.4 Er beschreibt den Einfluss von Geschichtsbewusstsein auf kollektive Handlungen und Überzeugungen. Bürgt die Wissenschaft für Glaubwürdigkeit und Möglichkeit historischer Identitätsstiftung, so wird Ästhetik hier als Voraussetzung jeder Geschichtsdarstellung beschrieben – ob in Text, Film oder Ausstellung. Dass die ästhetische Dimension nicht für eine nachgeordnete Inszenierung steht, sondern konstitutiv den Prozess narrativer Sinnbildung charakterisiert, darauf hatte der amerikanische Historiker und Literaturwissenschaftler Haydn White im Zuge des ‚linguistic turn‘ provokativ verwiesen. Seine Poetik der Geschichtsschreibung löste die Debatte über poststrukturalistische Ansätze in der Geschichtswissenschaft aus und verortete deren Anfänge im 18. Jahrhundert zwischen Wissenschaft und Kunst.5 Der ästhetischen, fiktive Elemente einschließenden Organisation im Text entspricht in der Ausstellung die historische Inszenierung. Sie ist „die ästhetisch reflektierte und ästhetisch intendierte Ordnung der Dinge in einem Raum, eine nach Maßgabe gegenwärtiger Wahrnehmungsformen bewusst organisierte Merkwelt (im Gegensatz zur realen Wirkwelt)“6. Mit Jean-François Lyotards condition postmoderne wurde die historische Meistererzählung in Frage gestellt und aus Ausstellungen verbannt – dafür sorgte seit den 1990er Jahren die ‚New Museology‘.7 Unter dem Begriff des ‚Neuen 4
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Vgl. Rüsen, Jörn: „Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken“, in: Klaus Füßmann/Theo Grütter/Jörn Rüsen (Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1994, S. 3–26, hier S. 11–17. In der Kontroverse: Korff, Gottfried: „Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Museum“, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a. M./New York: Campus-Verlag 1999, S. 319–335. Vgl. White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe [dt. 1991], Baltimore: Johns Hopkins University Press 1973; Ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen, Stuttgart: Klett-Cotta 1986; Fulda, Daniel/Prüfer, Thomas (Hg.): Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne (= Kölner Studien zur Literaturwissenschaft, Bd. 9, hg. von Volker Neuhaus), Frankfurt a. M./New York: P. Lang 1996. Korff, Gottfried: „Speicher und/oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und exponieren im Museum“, in: Martina Eberspächer/Gudrun M. König/Bernhard Tschofen (Hg.), Museumsdinge deponieren – exponieren, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2002, S. 167–181, hier S. 171. Vgl. Hooper-Greenhill, Eilean: Museums and the Shaping of Knowledge, London/New York: Routledge 1992; Benett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics. London/New York: Routledge 1995; Macdonald, Sharon (Hg.): A Companion to Museum Studies, Oxford: Blackwell Pub. 2006.
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Ausstellens‘ werden in den vergangenen Jahren Überlegungen zu typologisierender Beschreibung und Anordnung von Dingen, zur Beziehung zwischen Exponaten, Raum und Betrachtern, zur Analyse von visuellen Rhetoriken und damit insgesamt zur gesellschaftlichen Funktion des Museums wiederaufgenommen.8 Innovative Vermittlungspraxis wird dabei maßgeblich im Kunstkontext entwickelt. Der museologische Diskurs aktualisiert institutionelle Reformen und Ausstellungsexperimente der 1960/70er Jahre, die das Museum im Museum reflektierten, umschrieben und für verschiedene gesellschaftliche Akteure öffneten. Projekte wie das Schubladenmuseum (Hubert Distel), das Museum der Obsessionen (Harald Szeemann) und das Musée Sentimental (Daniel Spoerri, Marie-Luise von Plessen) kombinierten Kunst mit Alltagsobjekten und assoziativen, subjektiven Positionen.9 Der erweiterte Kunstbegriff bezog auch historische, ethnologische und wissenschaftsgeschichtliche Exponate ein. An der Funktion von Originalobjekten und Inszenierung werden Kriterien für Erkenntnis und Anschauung diskutiert, die an Fragen der Glaubwürdigkeit, Eindeutigkeit, Beweiskraft und Authentizität und damit an den Chancen und Grenzen des Kuratierens von Geschichte rühren.10 Den Dingen wird eine Doppelfunktion zugesprochen,11 als Dokument und als Reizobjekt mit sinn8
Vgl.: Bianchi, Paolo (Hg.): Das Neue Ausstellen. Ausstellungen als Kulturpraktiken des Zeigens (= Kunstforum International, Bd. 186), Ruppichteroth: Verl. Kunstforum 2007; Mörsch, Carmen: „Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen. Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation“, in: Dies. u.a. (Hg.), Kunstvermittlung. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12, Zürich: Diaphanes 2009, S. 9–33; Rogoff, Irit: „Turning“, in: e-flux journal #0 (November 2008); Hantelmann, Dorothea von/Meister, Carolin (Hg.): Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/Berlin: Diaphanes 2010; Klonk, Charlotte: Spaces of Experience. Art Gallery Interiors 1800 to 2000, New Haven: Yale University Press 2009; Muttenthaler, Roswitha/Wonisch, Regina: Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld: Transcript 2007; Kamel, Susan/Gerbich, Christine (Hg.): Experimentierfeld Museum. Internationale Perspektiven auf Museum, Islam und Inklusion, Bielefeld: Transcript 2014. 9 Vgl. Heesen, Anke te: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg: Junius 2012, S. 143–166. 10 T. Thiemeyer: Evidenzmaschine, S. 27. 11 Vgl. Korff, Gottfried: „Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen“, in: Anke te Heesen/Petra Lutz (Hg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005, S. 89–107; Küchler, Susanne: „Was Dinge tun. Eine anthropologische Kritik medialer Dingtheorie“, in: Katharina Ferus/Dietmar Rübel (Hg.), ‚Die Tücke des Objekts‘. Vom Umgang mit Dingen, Berlin: Reimer 2009; Miller, Daniel (Hg.): Materiality, Durham
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licher Anmutung. Sie erzeugen eine emotionale und performative Wirkung,12 indem sie ein Wechselverhältnis mit den Betrachtern herstellen, unterschiedliche Interpretationen eröffnen und mehrdeutig erscheinen. Sogenannte szenographische Ausstellungen, die über die inszenierende Anordnung von Dingen hinausgehen, profitieren zwar von Anschaulichkeit und Erlebnischarakter, ihr Vermögen, fragmentarische Überlieferungen, Ambivalenzen oder auch nur Vorläufigkeiten der Deutung zu präsentieren, ist jedoch umstritten.13 Die kulissenhaft gebauten Räume legen eher explizite Narrative und eine Kohärenz der Erzählung nahe, die die Betrachter visuell zu überzeugen versuchen, als ihnen – wie Peter Sloterdijk für das Museum als „Schule des Befremdens“ formuliert – eine „Alteritätserfahrung“ und „Information ohne Identifikation“ zu ermöglichen.14
Musealisierung der DDR: Zeit- und Alltagsgeschichte ausstellen Derzeit füllen Theorie und Praxis des Ausstellens, Vermittelns und Visualisierens von Geschichte erneut die Tagungsprogramme und Periodika und reflektieren die Rückkehr der historischen Meistererzählung.15 Nicht selten ist ein szenographischer Ansatz bei zeithistorischen Ausstellungen zu beobachten, obwohl oder gerade weil Zeit- und Alltagsgeschichte für Wissenschaft und kuratorische Arbeit spezifische Herausforderungen bereithält. Als ‚heißer‘ Gegenstand wird die Zeitgeschichte bezeichnet, weil Deutungskonflikte noch auszutragen, unterschiedliche gesellschaftliche Akteure engagiert beziehungsweise emotional beteiligt und Quellen unter Verschluss und einmal mehr fragmentarisch verfügbar sind. Trotz differenzierter Forschung zur Alltags- und Konsumgeschichte
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NC : Duke University Press 2005; Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. G. Korff: Museumsdinge, S. 146–154, S. 167–178; Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995; Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002; Wernsing, Susanne: „Dinge und denkende Körper im Raum. Kuratieren oder Choreografieren?“, in: Katharina Hoins/ Felicitas von Mallinckrodt (Hg.), Macht. Wissen. Teilhabe. Sammlungsinstitutionen im 21. Jahrhundert, Bielefeld: Transcript 2015, S. 163–180. T. Thiemeyer: Evidenzmaschine, S. 27. Sloterdijk, Peter: „Museum. Schule des Befremdens“, in: Frankfurter Allgemeine Magazin vom 17.03.1989, S. 57–66. Vgl. beispielhaft: Visual History. Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013); Geschichte ausstellen. Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013).
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unterliegt sie in Ausstellungen einem Banalitätsverdacht, da die Exponate massenhaft vorhanden, den Mitlebenden allzu bekannt erscheinen und der Alltag als Gegensatz zu einer komplexen politischen Geschichte und Analyse von Herrschaftsstrukturen gilt. Ob eine szenographische Ausstellung im oben beschriebenen Sinn diese Probleme mehr überdecken als expositorisch lösen kann, ließe sich fragen. Ob und wie diese allein mit den Expertisen der Wissenschaft oder mit erweiternden prozessorientierten Methoden anzugehen sind, diese Frage soll im Folgenden ausgeführt werden. Erinnerungskulturen und Musealisierung der DDR bieten sich als Gegenstand der Untersuchung und als konzeptioneller Lösungsvorschlag an, da sich der wissenschaftliche Output zum Thema in den letzten vier Jahren erneut intensivierte. Die wissenschaftliche und gesellschaftliche Reflexion setzte zeitgleich mit dem Erinnerungsprozess ein, ohne aber bis heute einen Paradigmenwechsel in der kuratorischen Praxis erreicht zu haben. Zahlreiche Publikationen legen Menge und Vielfalt der DDR -Museen dar und untersuchen Sammlungsbestände, Perspektiven und Narrative und erörtern auch generelle Probleme zeithistorischer Ausstellungen. Über methodische Zugänge und Themenfelder werden Forschungsterrains abgesteckt und von einschlägigen Instituten besetzt.16 Zügig begann man nach 1990 nicht nur, die Geschichte der DDR zu erforschen, sondern fast gleichzeitig auch, Erinnerungs- und Gedenkkultur zu reflektieren, die sich bis dahin auf den Holocaust konzentriert hatte.17 Schon in den frühen 1990ern entstanden neben Ausstellungsprojekten infolgedessen programmatische Entwürfe zur DDR -Musealisierung. Das Spektrum reicht von Gedenkstätten an authentischen Orten über Themenabteilungen in beiden 16 Vgl. Sheehan, James: „Zukünftige Vergangenheit. Das deutsche Geschichtsbild in den neunziger Jahren“, in: G. Korff/M. Roth (Hg.): Das historische Museum, S. 277–286; Ernst, Wolfgang/Flügel, Katharina: Musealisierung der DDR ? 40 Jahre als kulturhistorische Herausforderung, Alfter bei Bonn: VDG 1992; Ludwig, Andreas: „Musealisierung der Zeitgeschichte. Die DDR im Kontext“, in: Deutschland Archiv 44 (Oktober 2011), Heft 4, S. 604–613; Benz, Wolfgang: „Die DDR als Museumsobjekt“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), Heft 12, S. 995–1007; Hammerstein, Katrin/Scheunemann, Jan (Hg.): Die Musealisierung der DDR . Wege, Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschichtlichen Museen, Berlin: Metropol 2012. 17 Vgl. Jarausch, Konrad/Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M./New York: Campus-Verlag 2002; Cornelißen, Christoph: „Erinnerungskulturen, Version: 2.0“, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 22.10.2012, http://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_ Corneli.C3.9Fen?oldid=108499, abgerufen am 01.07.2016.
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großen Museen zur deutschen Geschichte beziehungsweise deren Dependancen und Neukonzeptionen ostdeutscher Stadt- und Regionalmuseen18 bis hin zu zahlreichen Neugründungen. Mit dem schrittweisen Sammlungsaufbau beziehungsweise deren Erforschung wurde der DDR-Erinnerungsdiskurs an den ‚material turn‘ der Kulturwissenschaften angeschlossen.19 Seit dem Milleniumswechsel dominiert in vielen Ausstellungsprojekten erneut ein politikgeschichtlicher Blick mit Fokus auf der staatlichen Repressionsgeschichte. Seltener wird der Versuch einer fundierten Darstellung von Alltags-, Konsumund Kulturgeschichte unternommen, wie im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. Dass ganze Bestände, wie die Sammlung Industrielle Gestaltung in der 2013 eröffneten Ausstellung in der Berliner Kulturbrauerei, unter die Perspektive eines Alltags in der Diktatur gestellt werden, deutet eher auf den Abschluss eines Geschichtsbildes hin als auf den Versuch multiperspektivischer Verhandlung des Themas. Die große Besucherbindung an Privatmuseen und die Neukonzeption ostdeutscher Heimatmuseen verdeutlichen jedoch Interesse und Engagement unterschiedlicher Akteure am Thema. Allein mit dem Verdacht der ‚Ostalgie‘ sind solche Tendenzen möglicherweise weniger zu erklären als durch die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR und eine nach wie vor bestehende Diskrepanz zwischen Orten normativer Geschichtsdeutung und gesellschaftlich getragenen Erinnerungsräumen. Konkurrierende DDR -Gedächtnisse bildeten sich bereits in der Vereinigungskrise der 1990er Jahre aus und formierten sich seit der Jahrtausendwende zum geschichtspolitischen Streit über die „richtige Erinnerung“20, der bis heute anhält. Analog zur 1987 eingesetzten Sachverständigenkommission im Rahmen der Planung des Deutschen Historischen Museums und der Stiftung Haus der Geschichte der BRD wurde 2005 im Rahmen einer kontroversen Diskussion über Erinnerung, Gedenken und Aufarbeitung der DDR-Geschichte eine Expertenkommission eingesetzt, die die disproportionale Akzentuierung ausgewählter Themen und die Trennung von Herrschaft und Lebenswelt (beziehungsweise 18 Vgl. Kaminsky, Anne (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR , 2. Auflage, Berlin: Links 2007; Zündorf, Irmgard: „DDR -Geschichte – ausgestellt in Berlin“, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 139–156; Gigerenzer, Thalia: Gedächtnislabore. Wie Heimatmuseen in Ostdeutschland an die DDR erinnern, Berlin: Be.bra-Wiss.-Verl. 2013. 19 Vgl. Ludwig, Andreas: „Materielle Kultur“, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 30.05.2011. 20 Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR , München: Beck 2009, S.16.
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Eigensinn) kritisierte. Ein Verständigungspapier empfahl dem damals geplanten Geschichtsverbund Aufarbeitung der SED-Diktatur einen Perspektivwechsel. Neben der Aufklärung über Diktatur und Repression und der Würdigung von Widerstand und Opposition sollte die „Vielschichtigkeit, ‚Veralltäglichung‘ und ‚konstitutive Widersprüchlichkeit‘ der DDR “ abgebildet und „in die vergleichenden Dimensionen der deutsch-deutschen Doppelstaatlichkeit, der Block integration und des Ost-West-Konflikts“ gestellt werden.21 Die Widersprüche werden in unterschiedlichen Gedächtnissen der DDR deutlich, die der Zeithistoriker Martin Sabrow als Erinnerungslandschaften bezeichnet. Das staatlich getragene Diktaturgedächtnis22 fokussiert Herrschaftsstrukturen beziehungsweise den Repressionsapparat des SED-Regimes und dessen Überwindung in der Revolution von 1989/90. Es beschreibt die DDR im Kontrast zu Normen der Rechtstaatlichkeit und individuellen Freiheit und ist auf den Täter-Opfer-Gegensatz konzentriert. Dagegen widerspricht das Arrangementgedächtnis einer Trennbarkeit von Machtsphäre und Lebenswelt. Es legt den Fokus auf Formen der Selbstbehauptung und Mitmachbereitschaft im Systemalltag und blickt skeptisch auf die Werte der vereinigten Bundesrepublik. Eher im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung behauptet das Fortschrittsgedächtnis die Gleichrangigkeit beider deutscher Staaten und die DDR als ideengeschichtlich legitime, alternative Gesellschaftsordnung. Der anhaltende Fokus auf der musealen Repräsentation des Diktaturgedächtnisses wird unter anderem mit dem Druck des staatlichen Gedenkstättenkonzepts erklärt. Anspruchsvolle Konzeptionen, die durch Artefakt- und Themenkompositionen ungewöhnliche Perspektiven liefern und Deutungsprozesse damit auch den Besuchern überantworten, gelten in staatlich finanzierten Museen als „(noch) nicht gangbar“23. Dass für differenziertere Perspektiven allerdings nicht auf private Finanzierung zu warten wäre, der Paradigmenwechsel hingegen einen Blick über die Geschichtswissenschaft hinaus auf kuratorische Perspektiven und experimentelle Formate aus Film, Theater, Literatur und Kunst24 erfordern könnte, soll am folgenden Ausstellungskonzept 21 Sabrow, Martin u.a. (Hg.): Wohin treibt die DDR -Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, hg. von der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED -Diktatur‘, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 11. 22 M. Sabrow: Erinnerungsorte, S.18–19. 23 I. Zündorf: DDR -Geschichte – ausgestellt in Berlin, S. 153. 24 Übergangsgesellschaft. Porträts und Szenen 1980–1990, Ausstellung vom 10. Juli bis 11. Oktober 2009, Akademie der Künste, Berlin; MATERIAL (D 2009, R: Thomas Heise); Schubladen, Performance von She She Pop, Uraufführung am 08. März 2012, Hebbel
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diskutiert werden. Die künstlerisch-kuratorische und prozessorientierte Praxis setzt dabei am wissenschaftlichen Diskurs des kollektiven Gedächtnisses an, bindet ihn an einen spezifischen Objektfundus als Quellenbasis und lässt die Ausstellung als Erinnnerungsarchiv und Verhandlungsraum entstehen.
Modell DDR. Ein performativer Ausstellungs- und Erinnerungsraum25 Ziel des Projekts ist die partizipative Entwicklung eines künstlerischen ‚Ausstellungs- und Erinnerungsraums‘. Es strebt damit ein Modell zur ästhetischen Darstellung von Zeitgeschichte an, die anstelle der Repräsentation normativer Geschichtsbilder, deren Konstruktion zum Thema macht. Wie können institutionell gefasste Erinnerungsräume, die als identitätsstiftende und hegemoniale Setzungen wirken, durch künstlerische Zugänge und ambivalente Bilder erweitert werden? Wie kann dadurch ein Raum entstehen, der Geschichte und Erinnerung der DDR aufführt, fortschreibt und dabei den Raum für subjektive Perspektiven und emotionale Angebote eröffnet, ohne den Gegensatz zu kollektiven Geschichtsbildern auflösen zu wollen? Das Ausstellen wird hierbei als Prozess künstlerischer und partizipativer Forschung begriffen, in dem Protagonisten aus unterschiedlichen Generationen und gesellschaftlichen Handlungsräumen ebenso wie Ausstellungsbesucher zu persönlicher Erinnerung und Dialog herausgefordert werden. Ziel ist also nicht nur, den Deutungsprozess mit Kooperationspartnern und Besuchern zu teilen, sondern einen Raum zu schaffen, der Assoziationen, Meinungen, Ambivalenzen und Konflikte eher provoziert als sie stillzustellen. Statt Geschichte zu repräsentieren, setzt der Prozess der Aufführung von Erinnerung direkt mit der Konzeptionsphase ein. Als Mittler und Katalysatoren werden dabei visuelle Modelle beziehungsweise ‚Miniaturen‘ der DDR Impulsgeber für Bewegung in historischen Räumen, Erinnerungssequenzen und eigene Beurteilungen eingesetzt. Der Autor Stefan Heym bezeichnete die DDR 1990 als „Fußnote der Weltgeschichte“. Das am Ufer, Berlin; Domröse, Ulrich (Hg.): Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1949–1989, 5. Oktober 2012 bis 28. Januar 2013, Berlinische Galerie, Berlin, Bielefeld: Kerber 2012. 25 Über den Lehrstuhl von Thomas Heise (Akademie der bildenden Künste Wien / Kunst und Film) wurde das Projekt von Susanne Wernsing und Sandra Mühlenberend (als Ko-Autorin) beim österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF ) im Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK ) eingereicht und gut bewertet. Unabhängig von der Einreichung soll eine Ausstellung entstehen.
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Diminutiv von Heyms Zitat soll in Form einer modellhaften Verkleinerung von Erinnerungsorten der DDR aufgegriffen werden. Mit dem Abriss und der Überbauung prägnanter Orte der DDR sei der sozialistische Staat nun auch aus der Erinnerung verschwunden – so kommentierte ein Graffiti ironisch die prominente Berliner Baulücke, die der Künstler Arwed Messmer 2008 photographiert hat. Die historische Dimension des Stadtraums schiebe sich „wie ein Filter vor die Wahrnehmung der heutigen Wirklichkeit“26, konstatiert Messmer. Noch bevor die Lücke heute real geschlossen wird, haben Geschichtspolitik, Erinnerungskultur und Souvenirindustrie den Erinnerungsort schon (re)konstruiert, einerseits in exakter historischer Rekonstruktion des Stadtschlosses, andererseits in der Retro-Bastelei des Palasts der Republik. Die architektonischen Zeugnisse, Räume und Orte der DDR sind Teil eines Diskurses, der Erinnerungsorte sowohl ideell als auch über eine eigene materielle Kultur entstehen lässt. Im Diskurs über das kollektive Gedächtnis hat sich mit Pierre Noras lieux de mémoire eine Raumsemantik etabliert, die als methodischer Ausgangspunkt des Ausstellungsprojekts verwendet wird. Wie die Gedächtnisorte bezeichnet der für den deutschen Kontext erweiterte Begriff der Erinnerungsorte (Etienne François/ Hagen Schulze) mehr als reale Orte und materielle Überreste; als Topoi der Erinnerung gelten ebenso Ereignisse, Institutionen, Begriffe, Mythen, Zuschreibungen und Werte.27 Die von Martin Sabrow 2009 herausgegebenen Erinnerungsorte der DDR verzeichnen entsprechend Phänomene, Orte und Praktiken aus Herrschafts-, Alltags- und Populärkultur. Dieser – ursprünglich metaphorische – Diskurs der Erinnerungsorte kann wiederum an reale Raumrepräsentationen in der materiellen Kultur rückgebunden werden. Die Erinnerungstopoi werden in architektonischen Planungsmodellen aus Urbanistik und Wohnbau, Lehrmodellen aus Landwirtschaft und Bergbau, Puppenstuben und Eisenbahnmodellen der DDR -Spielzeugindustrie, Heimwerkermodellen, Funktions- und Schulungsmodellen von Überwachungs-, Grenz- und Industrieanlagen, Entwurfsmodellen für Denkmäler, Demonstrationsaufzüge und Gedenkstätten, Souvenirs, 26 Berlinische Galerie (Hg.): Nach der Natur: Eine Auseinandersetzung mit den Mitteln zeitgenössischer Kunst, 23. August bis 27. Oktober 2002, Zwischenspiel III des Ausstellungszyklus der Berlinischen Galerie im Kunstforum der GrundkreditBank, Berlin, Berlin/Schweinfurt: Berlinische Galerie 2002, S. 99. 27 Kritisiert wurde am Konzept der Erinnerungsorte, dass darin ein Kanon in der Logik der nationalen Meistererzählung definiert werde, und Aspekte oder Gruppen, die dem scheinbar nicht zuzuordnen sind, aus dem identitätsstiftenden Repertoire einer Gesellschaft ausgeschlossen werden.
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Repräsentations- und Jubiläumspräsenten und Filmset- und Bühnenbildmodellen präsent. Der zitierte Diskurs attestiert Erinnerungsorten, die unmittelbare Begegnung mit der Vergangenheit herzustellen und zum kritischen Dialog aufzufordern. An diesen Effekt möchte das Projekt anknüpfen und nutzt historische und aktuelle Raummodelle zur Formierung eines Erinnerungssettings, das die DDR auf einer kognitiven Karte rekonstruiert. Die Miniaturisierung von Orten, Landschaften und Räumen eröffnet dabei nicht nur neue, transdisziplinäre Perspektiven auf bekannte und auch weniger bekannte Sammlungsbestände, wie unten auszuführen ist; sie provoziert, wie das Heym-Zitat zeigt, in besonderer Weise Assoziationen, Zustimmung und Abwehr. Historische Modelle verkleinern Raum nur scheinbar, sie bilden ihn nicht einfach ab, sondern legen Deutungen nahe. Zusammen mit historischem Filmmaterial und Zeitzeugen-Interviews werden die Exponate in einer abschließenden installativen Anordnung in Bezug gesetzt und erzeugen ihrerseits ein Gedächtnisarchiv jenseits medial geprägter Diskurse. Eine kognitive Kartierung der DDR sagt uns dabei ebenso viel über deren Geschichte wie über die wandelnden Denkmuster, mit denen wir sie anschauen.
Neue Archive I: Raumrepräsentation in Modellen Das Projekt erforscht ein Inventar materieller Kultur, das die Gesellschaft der DDR spiegelt und partizipatorische Gesprächssituationen evoziert, welche ihrerseits neue Quellen generieren. Zunächst ist zu fragen, wie sich gesellschaftliche Entwürfe der DDR in Raumkonstruktionen materialisierten und in welchen Medien sie sich vermittelten. Planung und Inszenierung von Orten und Räumen spielten beim Aufbau der DDR eine ebenso wichtige Rolle wie später in der Konstituierung der vereinigten Bundesrepublik und der Erinnerungskultur seit den 1990er Jahren. Im Sinne des ‚spatial turn‘ wird Raum als Gegenstand, Analysekategorie und Repräsentationsstrategie reflektiert.28 In der gebauten oder inszenierten Umwelt spiegeln sich soziale Beziehungen, Herrschafts- und Alltagspraktiken, die gleichzeitig durch sie verfestigt werden. 28 Vgl. zum ‚spatial turn‘: Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 238–329, hier S. 304; Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001; Engler, Harald/Hasenöhrl, Ute/Butter, Andreas: „Architektur als Medium der Vergesellschaftung. Der Beitrag der Bau- und Planungsgeschichte zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR “, in: Deutschland-Archiv 45 (2012), Heft 4, S.635–640.
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Räume und Orte können sowohl kollektive Identitäten stiften als auch persönliche Entwürfe und Sehnsüchte spiegeln. Raumentwürfe entstehen nicht nur im Originalmaßstab, sondern werden auch in Modellen repräsentiert. Als Exponate finden sich Modelle aus kulturhistorischen und künstlerischen Kontexten unter anderem auf den letzten beziehungsweise vorletzten großen Kunstschauen in Kassel und Venedig und werden so im Diskurs des ‚Neuen Ausstellens‘ und erweiterten Kunstbegriffs verortet. Als Fiktion einer Ausstellung über Kunstwerke, die im Libanon zerstört wurden, stellte der libanesische Künstler Walid Raad auf der documenta (13) ein Ausstellungsmodell aus: „Als ich einige Wochen später in die Galerie kam, […] stellte ich erschrocken fest, dass alle meine Kunstwerke auf 1/100stel ihrer Größe zusammengeschrumpft waren“.29 Die Strategie des „Rückzug[s] der Tradition nach einem unermesslichen Desaster“ verwendet Raad in Anlehnung an Jalal Toufic für eine subtile Perspektive auf die politischen, sozialen und ökonomischen Infrastrukturen der zeitgenössischen arabischen Kunst. Rückzug bedeutet hier, „[…] dass existierende kulturelle Artefakte von sensiblen Künstlern in ihren eigenen Kunstwerken so behandelt werden, als seien sie zerstört worden, als seien sie beispielsweise den Blicken entzogen.“30 Auf der Biennale 2013 wählte der künstlerische Direktor Massimiliano Gioni die Modellskulptur The Encyclopedic Palace of the World nicht nur als prominentes Exponat aus, sondern übernahm auch dessen Titel für die Gesamtschau, die als „an exhibition about knowledge“ konzipiert war. Gionis Methode bestand darin, zeitgenössische Kunst mit historischen Artefakten und found objects zu kombinieren und daraus „a web of associations through contrasts and affinities, anachronisms and collisions“ 31 zu entwickeln. Für die Wahl dieser 29 Walid Raad An Dingen kratzen, die ich leugnen könnte. Eine Geschichte der Kunst in der arabischen Welt Hand-Out auf der documenta (13) 2012. 30 Ebd. Das Zitat entstammt dem Essay „Forthcoming“ des libanesischen Künstlers, Filmemachers und Autors Jalal Toufic. Die Quelle gibt W. Raad im oben zitierten HandOut (An Dingen kratzen) an. 31 Beide Zitate: Gioni, Massimiliano:„Is Everything in My Mind?“, in: Ders (Hg.),The Encyclopedic Palace, 55th International Art Exhibition: La Biennale di Venezia, 01. Juni bis 24. November 2013, Venedig: Marsilio 2013, S. 23. Bevor die Hausmodelle von Peter Fritz im Kunstkontext gezeigt wurden, waren sie 2001 im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien und später im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt zu sehen. Vgl. Croy, Oliver/Elser, Oliver: Sondermodelle – Die 387 Häuser des Peter Fritz, Versicherungsbeamter aus Wien, 19. Januar bis 18. März 2001, Österreichisches Museum für Volkskunde Wien, 3. Mai bis 14. Juni 2001, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001.
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künstlerischen Wissensordnung gibt der leitende Kurator die Unmöglichkeit systematischer Welterfassung an, während erstere die Verbindungen zwischen ‚Gegensätzen‘ ermögliche: zwischen dem Subjektiven und dem Kollektiven, dem Speziellen und dem Allgemeinen, dem Individuellen und dem Kulturellen, dem Künstler und dem Laien, dem In- und dem Outsider. Das Ausstellungsprojekt Modell DDR greift sowohl Aspekte eines erweiterten Modellbegriffs als auch einer künstlerischen Wissensordnung auf, die versprechen, Gegensätze und Ambivalenzen auch der DDR-Erinnerung darstellbar zu machen. Unterschiedliche Formen der Raumrepräsentation werden gesammelt, dokumentiert und in Anordnungen verfremdet, die eher Erinnerungsbezügen und ästhetischen Aspekten folgen als wissenschaftlicher Kategorisierung. Den Raum- und Modellbegriff derart auszuweiten, ermöglicht, die in vielen DDR -Ausstellungen gängige Trennung von Herrschafts- und Alltagssphäre aufzuheben und unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsfelder und deren Akteure in Beziehung zu setzen. Die Raummodelle werden in Stadt- und Industriemuseen sowie in Archiven ehemaliger Kombinate beziehungsweise der Nachfolge-Unternehmen seit 1990 recherchiert.32 Recherche und Auswahl der Archive und Sammlungen orientieren sich an den 15 ehemaligen Bezirken, die Kultur- und Industrieproduktion der DDR strukturierten. Explizit sollen nicht nur Modelle aus Museumssammlungen zum Gegenstand der Untersuchung und Exponat in der Installation werden. Die Objektauswahl folgt Erinnerungsspuren aus den geführten Interviews und fordert Zeitzeugen und weitere Projektpartner auf, entsprechende Modelle aus dem persönlichen Kontext beizusteuern. Als „epistemische Dinge“ (Hans-Jörg Rheinberger) werden die Modelle in interdisziplinären Workshops zusammen mit Experten aus der Modellproduktion der DDR ebenso wie Heimwerkern, Nutzern und Rezipienten erforscht. Darüber hinaus werden Fachdiskussionen mit Experten zur DDR -Erinnerungskultur sowie der aktuellen Forschung zur Modellproduktion initiiert und aufgezeichnet, die ihrerseits Gesprächssituationen mit anderen Zeitzeugen veranlassen. Themen solcher Workshops sind: Phasen der DDR-Geschichte und Erinnerungskultur, Struktur und Raumplanung in den DDR-Bezirken, Institutionen und Akteure des DDR-Designs, Modellbildung in Handwerk, Design, Architektur, Kunst und Bühnenbild. In Probesettings werden die analysierten Artefakte zu regionalen beziehungsweise thematischen Gruppen gebunden und als Tableau in Beziehung gesetzt. Die Anordnung folgt inhaltlichen Kriterien, die in den interdisziplinären
32 Vgl. Höhne, Günter: Das große Lexikon. DDR -Design, Köln: Komet 2008.
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Workshops erarbeitet wurden, und darüber hinaus sinnlichen und ästhetischen Effekten. Auch aus den Formen, Größen und Materialien der Modelle und ihrer seriellen beziehungsweise kontrastierenden Anordnung entstehen neue thematische Verbindungen, die in der Betrachtung eigens Assoziationen, Irritationen und Erinnerungen auslösen können. Hier kommt die besondere Qualität der gewählten Artefakte zur Geltung – als epistemisches Ding und Reizobjekt, das performativ wirkt. Ein Modell kann Abbild, Vorbild oder Idealisierung sein.33 Weniger seine realistische Nähe zum Original entscheidet über seine Bedeutung als der Verwendungskontext, in dem und für den es hergestellt wird. Modelle sind Werkzeuge, mit denen wir planen, erproben, voraussagen, beschreiben, manipulieren, prüfen, spielen, etwas in Aussicht stellen, aber auch uns erinnern können. Sie reduzieren Komplexität auf relevante Eigenschaften, transportieren Ideen und sind daher niemals ‚neutral‘. Einen deutlichen visuellen Hinweis auf den Verwendungskontext geben Material und Herstellungstechnik. Diese Vielfalt der Modelleigenschaften wird als Ausgang genommen, um Kooperationspartner aus unterschiedlichen Bereichen der Kulturproduktion der DDR aufzusuchen und assoziative Dialogsituationen zu provozieren. Akteure, die an Entwurf, Produktion, Rezeption und Nutzung der Raummodelle beteiligt waren, werden in den ersten Projektphasen mit den Artefakten und verfremdenden Visualisierungseffekten konfrontiert, die ältere Erinnerungssegmente ergänzen und neue Reaktionen auslösen können. Die kuratorischen Anordnungen in Tableaus und Exponat-Montagen werden schließlich zu einer archivarischen Rauminstallation gebündelt, die sich von unterschiedlichen, auch zeitlichen Schichten solcher Imaginationen leiten lässt. Themen der Workshops dieser Phase sind: Technologien historischer und aktueller Modellproduktion, Oberflächenmaterialien, Erprobung von Tableau-Anordnungen, erste Konzeption des Modellraums als Archiv.
33 Reichle, Ingeborg/Siegel, Steffen/Spelten, Achim: „Die Wirklichkeit visueller Modelle“, in: Dies. (Hg.), Visuelle Modelle, München: Wilhelm Fink 2008, S. 9–17; Mahr, Bernd: „ Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs“, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild, Schrift, Zahl, München: Fink 2003, S. 59–87; Grasskamp, Walter: „Sentimentale Modelle“, in: Kunstforum International 38 (1980), S. 54–79; Wendler, Reinhard: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Wilhelm Fink 2013.
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Neue Archive II: Filmische Perspektiven auf Räume, Orte und Modelle Prägnante Orte und Räume wurden nicht nur in historischen Modellen, sondern auch für die DEFA -Filmproduktion erzeugt. Auch einige ‚Nach-Wende‘-Filme und Dokumentationen, die Thema beispielsweise zweier rezenter Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum waren, (re)konstruieren ‚typische‘ öffentliche und private Räume der DDR . Der Filmregisseur Thomas Heise hat eigens darauf verwiesen, dass eine umfassende Filmgeschichte der DDR, die auch weniger bekannte Quellen und Sammlungen jenseits des DEFA -Erbes einbezieht, noch aussteht. Entsprechende Quellen sind in den Nachlässen von NVA, ehemaligem Außenministerium und Industriefilm zu suchen. Im Ausstellungsprojekt werden zu ausgewählten Modellen thematische Entsprechungen im Film gesammelt, dokumentiert und als eigene Quellen analysiert.34 Daraus folgende Kombinationen von Modellen und Filmszenen werden als erste Probesettings für die Installation genutzt, bei der unterschiedliche Medien sich ergänzen. Über die Filme werden nicht nur unterschiedliche Perspektiven, sondern auch historische Phasen am gleichen Ort darstellbar. Die Workshops in dieser Phase haben die Geschichte von Kombinaten und Industrieproduktion der DDR sowie Traditionen und Technologien von Architektur und Stadtplanung zum Thema. Für die Projektpartner der Konzeptionsphase und für Besucher sind die Modelle von außen und oben einsehbar. Gleichzeitig werden ihre Räume durch endoskopische Filmtechnik erschlossen und auf Screens vergrößert. Filme von Orten und Räumen, die nur noch in ihren modellierten Abbildern existieren, täuschen eine Existenz vor, die die reale Leerstelle umso deutlicher spürbar macht. Das Modell wird zum Original, das Erinnerungen auslösen 34 Vgl. Thomas Heise. Das Gesamtwerk, Retrospektive vom 10. November bis 03. Dezember 2014, Österreichisches Filmmuseum (OeFM ), Wien; Heynowski & Scheumann, Retrospektive vom 30. Januar bis 06. Februar 2013, Österreichisches Filmmuseum (OeFM ), Wien; Scharnowski, Susanne: „Bau auf! Bau auf! Zur Inszenierung von Ruinen, Baustellen und Neubauten in ausgewählten DEFA -Gegenwartsfilmen“, in: Almut Hille/Benjamin Langer (Hg.), Erzählte Städt. Beiträge zu Forschung und Lehre der europäischen Germanistik, München: Iudicium 2013, S. 71–84; Schenk, Ralf: „Von Brussig bis Brecht. Die DDR -Vergangenheit und ihre Widerspiegelung in neuen deutschen Filmen – ein Überblick“, in: Dossier Geschichte und Erinnerung, Bundeszentrale für politische Bildung vom 12.03.2009, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-underinnerung/39833/die-ddr-im-neuen-deutschen-film, abgerufen am 01.07.2016; Poss, Ingrid/Warnecke, Peter (Hg.): Spur der Filme. Zeitzeugen über die DEFA , Berlin: Links 2006.
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kann. Diese Täuschung ist in der Ausstellung Kalkül. In der Gegenspiegelung werden Erinnerung und Raumerfahrung mit historischen Filmsequenzen der realen Räume konfrontiert. Dabei können mehrere Ebenen abgerufen werden: die Entdeckung des schematischen und verfremdeten Raumbildes, das Details akzentuiert beziehungsweise verdeckt; die Wiedererkennung und Erinnerung eigener Kontakte und Bewegungen an Orten und Räumen; die Erkenntnis des Ausmaßes, in dem Blicke immer gesteuert oder manipuliert werden.
Neue Archive III: Historische und aktuelle Zeitzeugeninterviews Als weitere Quellen zu den ausgewählten Modellorten werden historische, lebensweltliche Interviews analysiert. Verschiedene Phasen der DDR-Geschichte und der Erinnerungskultur zu differenzieren, ist ein wichtiges Anliegen des Projekts und erfordert, verschiedene Generationen von Zeitzeugen zu repräsentieren.35 Gesprächssituationen mit Zeitzeugen, die filmisch aufgezeichnet werden und dabei neue Quellen erzeugen, entstehen sowohl bei der Sammlung der Modell-Artefakte als auch bei den oben beschriebenen interdisziplinären Workshops. Das Projekt profitiert dabei von Zeitzeugen-Plattformen, die vor allem in Berlin auf wissenschaftlicher Basis etabliert wurden.36 Der inhaltliche Schwerpunkt, den historische Gedenkstätten naturgemäß auf die Opfer des politischen Systems und Akte des Widerstands legen, wird in der Projektkonzeption um Aussagen von Zeitzeugen erweitert, die an der materiellen und symbolischen Modellierung der DDR-Gesellschaft und ihrer Erinnerung beteiligt waren (und sind). Diese können aus so unterschiedlichen Kontexten wie Alltags- und Arbeitsleben, kultureller und künstlerischer Produktion stammen. Zu den Themen der Workshops dieser Phase zählen: Nutzung, Aneignung und
35 Vgl. Niethammer, Lutz/Plato, Alexander von/Wierling, Dorothee: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR . 30 biografische Eröffnungen, Berlin: Rowohlt 1991; Wierling, Dorothee: „Wie (er)findet man eine Generation? Das Beispiel des Jahrgangs 1949 in der DDR “, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Generationalität und Geschichte im 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2003, S. 217–228. 36 Ernst, Christian (Hg.): Geschichte im Dialog? ‚DDR -Zeitzeugen‘ in Geschichtskultur und Bildungspraxis, Schwalbach am Taunus: Wochenschau Verlag 2014. Zu den Plattformen zählen: www.zeitzeugenbuero.de; www.wir-waren-so-frei.de; www.jugendopposition.de; www.defa-stiftung.de/zeitzeugen-archive.
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Eigensinn, Phasen und Generationen der DDR-Geschichte, Oral History und Methoden der Arbeit mit Zeitzeugen, partizipative und performative Formate.
Installation: Erinnerungslandschaft im Raum Als Tableau werden Modelle, Filme und Interviews zu einer kognitiven Karte der DDR zusammenführt. Die Topographie dient zunächst der Erprobung und einfachen Verortung, die durch horizontale Bezüge und vertikale Schichtungen erweitert wird. Die Frage, inwieweit sich Relationen, Grenzen und Markierungen durch die Materialität der Modelle und durch Erinnerungssegmente auf der Karte verschieben, steuert den Anordnungsprozess und ermöglicht die partizipatorische Erweiterung. Die definitive Erscheinung der dreidimensionalen, raumgreifenden und begehbaren Installation ist Ergebnis einer prozessorientierten Recherche und nicht vorgefasster wissenschaftlicher Kategorien zum Thema. Dadurch entsteht ein atmosphärischer performativer Raum, der historische und sinnliche Erkenntnis befördert und Erfahrung und Erinnerung nicht nur abbildet, sondern performativ erzeugt. Widersprüchliche und subjektive Erfahrungssegmente können an kollektive und kulturelle Ausdrucksformen angeschlossen werden. In der Ausstellung können Besucher ihre Kommentare zu Zeitzeugenperspektiven und Exponaten medial aufzeichnen. Dies lässt erneut ein Erinnerungsarchiv entstehen. Die Debatte der DDR-Erinnerung im Museum selbst ist eröffnet.
Zusammenfassung Das Projekt „Modell DDR“ entwickelt eine künstlerische Raumkonstruktion aus der Dingwelt der DDR-Repräsentation und bietet diese als begehbare Erinnerungsskulptur innerhalb eines „neutralen“ Raumes zur intuitiven, assoziativen und performativen Verortung an. Damit wird das Thema um Erinnerung, Repräsentation und Rekonstruktion aus den akademischen und geschichtspolitischen Deutungshoheiten herausgelöst und der vielstimmigen, widersprüchlichen und oftmals subjektiven Diskussion in der Gesellschaft übergeben. Im Sinne einer reflexiven Ausstellung werden der kuratorische Prozess und die ästhetischen, assoziativen und prozessorientierten Methoden offengelegt. Das Projekt umkreist zunächst einen Gegenstand (die Geschichte der DDR) und fokussiert dann den dahinterliegenden Prozess (die Erinnerung der DDR ). Wissenschaftlich geprägte Begriffe wie Erinnerungsorte und -landschaften
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werden als ästhetische Verfahren, als Metaphern kenntlich gemacht und im assoziativen Umkehrschluss auf ihre Grundlagen in der materiellen Kultur zurückgeführt: den Modellen von realen Orten und Räumen. Die kombinatorische Anordnung im ‚Erinnerungsraum‘ greift zuletzt auf die ursprüngliche Raum-Metaphorik zurück. Bekannte Räume in Modellform werden durch filmische und akustische Manipulationen verschoben und rekontextualisiert. Sie erzeugen dadurch individuelle Reaktionen von Zeitzeugen – ehemaligen Herstellern, Nutzern und Rezipienten. Damit soll die institutionelle und meist normative Erinnerungskultur für Dialoge und Neuinterpretation der Materialien geöffnet werden. Die künstlerische Installation wird zum Interaktionspartner und zum Erfahrungsraum, in dem die Reaktionen der Betrachter gemessen und in den Raum zurück gesendet werden. Modell DDR erzeugt Teilhabe der üblicherweise als bloße Rezipienten angesprochenen Betrachter, indem Räume für Ambivalenzen, Wahrnehmungen und Widerspruch eröffnet werden, die letztendlich eine Kontaktzone anbieten.
Simone von Büren
Leben – Erzählen – Zeigen Gedanken zum Umgang mit dem Biographischen im künstlerischen Werk von Mats Staub
Hunderte von Gesprächen hat Mats Staub mit seinem Erinnerungsbüro in den letzten Jahren geführt. Gut 300 für seine stets wachsende Audio-Ausstellung Meine Grosseltern, über 120 für seine Video-Installation 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden. Er hat mit Kebab-Verkäufern, Schauspielern, Metzgern, Frisören, mit Aussteigern und Einwanderern, Rentnerinnen und Jugendlichen in Bern und Belgrad, in Wien und Weimar, in Genf und Johannesburg über ihre Erinnerungen gesprochen. In einem Interview hat er sich als „eine Art Transformator” beschrieben, der die Leute dazu bringt, laut über ihr Leben zu reflektieren – zuerst im Gespräch mit ihm und in Folge vor einer immer größeren Öffentlichkeit. Im Unterschied zu den meisten Biographien, die sich für Prominenz, Drama und das Spektakuläre interessieren, kreisen die Arbeiten des Schweizer Künstlers um das Unscheinbare und um ganz ‚gewöhnliche‘ Menschen. Auch in den Erinnerungen an das Leben in Deutschland während des 2. Weltkrieges oder in Belgrad während des Jugoslawienkrieges geht es um Liebeskummer, eine neue Stelle, einen Umzug, eine Urlaubsreise, das Pingpongspielen auf dem Lehrertisch während der nächtlichen Bombenangriffe. Sogar in Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens, einer kontinuierlich wachsenden Online-Sammlung,1 stehen neben den unzähligen Geburten und Todesfällen, den schicksalshaften Begegnungen und Trennungen, viele ganz leise Momente: Ein Onkel rasiert seinen Bart ab, ein Handballverein wird gegründet, ein Teenager übt das Abseilen vom Balkon in den Garten, ein Kind kann zum ersten Mal allein Fahrrad fahren. Eine so umfangreiche Sammlung lebensgeschichtlicher Erzählungen, wie sie Mats Staub im Verlauf der letzten Jahre angelegt hat, erfordert eine ungeheure Redaktionsarbeit, um nicht beliebig zu werden. Oft setzt Staub denn auch schon im Gespräch einen Fokus, der zur Auswahl zwingt. Dann kürzt er das Material
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www.zehn-wichtigste-ereignisse-meines-lebens.net, abgerufen am 30.05.2016.
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auf ein Viertel oder gar Achtel der ursprünglichen Länge, komponiert das einzelne Gespräch mit Blick auf die bereits vorhandenen Gespräche, und stellt das Material für jede Station seiner Projekte neu zusammen. Sein Werk ist also ein dauernd neu geordnetes und neu zu ordnendes, internationales, generationenübergreifendes Erinnerungsarchiv. Keine Installation wird ‚nur‘ aufgebaut. Immer führt Staub vor Ort mit dem Erinnerungsbüro weitere Gespräche, die zum bereits Bestehenden hinzugefügt werden und die unendlichen Projekte für einen Moment, in einer bestimmten Version verorten und verankern. Einen Teil der Redaktion oder der Ordnung überlässt er immer auch den Besuchern, denen er innerhalb seiner Installationen, Bücher und Dramaturgien die Möglichkeit und Verantwortung der Wahl gibt. Denn man ist in den meisten seiner Projekte – gut sechs Stunden Geschichten von 40 Menschen auf dem iPod; über 100 Erinnerungen ans Jahr in dem man 21 war; mehr als 2000 Lebensereignisse online – gezwungen aus der großen Menge an Erzählungen und Listen einzelne auszuwählen und dies in individuell festzulegender Reihenfolge. Auf fast körperlich fühlbare Weise widerspiegelt diese Konfrontation mit der unüberblickbaren Materialsammlung in Staubs Arbeiten die gefühlte, abwechselnd beflügelnde und zur Verzweiflung treibende Inkommensurabilität eigener Erfahrung und Erinnerung. Der großen Menge an Stoff begegnet der 44-jährige Künstler in seinen Arbeiten gerne mit Dramaturgien der Reduktion und Fragmentierung: In seiner Audio-Installation Die Namen der Liebe (Zürich 2012) forderte er Leute auf, in chronologischer Abfolge die Vornamen derer aufzusagen, die sie in ihrem Leben geliebt haben. In der Video-Installation Feiertage zeigt er Menschen zwischen 20 und 89 Jahren, die stumm zählend ihr Leben Revue passieren lassen, um dann allein mit einer Zahl auf Fragen zu antworten wie „Wie viele verschiedene Berufe hast du ausgeübt?” oder „Wie viele gute Freunde hast du verloren?”. Und in Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens wird das Leben über ausgewählte, in knapper Sprache festgehaltene Ereignisse erzählt. Zwischen Jahreszahlen und Ortsangaben, in den Leerräumen zwischen biographischen Knotenpunkten wuchern Lebensgeschichten – erinnerte, nacherzählte, oder auch imaginierte wie im jüngsten Projekt Mein anderes Leben, das die Leute dazu einlädt, sich das Leben auszumalen, das sie mit einem anderen Geschlecht gelebt hätten. Derart stenographierte Biographien werden dem Betrachter selbst auf wunderbare Weise zum Erinnerungsanlass. Sie erlauben aber auch Bezüge zu Zeitgeschichte und zu andern Leben. Denn die einzelne Erzählung wird in den differenzierten formalen Anordnungen in Bezug gesetzt zu vielen anderen Erzählungen mit demselben Fokalisationspunkt. Es entsteht ein umfassendes
Leben – Erzählen – Zeigen
Tableau einer Generation oder Lebensphase, einer Gesellschaft, eines Orts, eines ganzen Jahrhunderts. Man hört gebannt der einzelnen Stimme zu, versinkt im einzelnen spezifischen Gesicht, lässt sich ein auf den individuellen Erinnerungsraum und erkennt zugleich die großen Bogen geschichtlicher Verläufe und gesellschaftlicher Muster. Über das Versinken im Individuellen eröffnet sich auf faszinierende Weise ein Verständnis des Kollektiven. In 21 findet dies eine wunderschöne Entsprechung in der Präsentation, die die intime ursprüngliche Gesprächssituation mit Mats Staub aufnimmt und sie gleichzeitig in eine kollektive Rezeption einbettet: Man sitzt allein einem zuhörenden Gesicht auf dem Bildschirm gegenüber, ist aber umgeben von andern Einzelnen, die ihrerseits zuhörenden Gesichtern gegenübersitzen. Ebenfalls sehr schön sichtbar wird es in Mats Staubs zweiter Buchpublikation Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens (Salis Verlag 2014), die hundert Listen aus der Online-Sammlung herausgreift und sie einerseits chronologisch nach Geburtsjahr 1922 bis 1994 anordnet, aber auch als Chronik einzelner Ereignisse zwischen April 1931 und März 2014. Die einzelne Erfahrung ist eingebettet in eine über 80 Jahre umspannende Sammlung von erinnertem Gelebtem. Viele der Erfahrungen, von denen die Menschen in Staubs Projekten erzählen, mögen einem selber vertraut sein. Vertraut ist aber vor allem der Prozess des Biographierens an sich. Wir schauen den Menschen dabei zu, wie sie sich bemühen, der riesigen ungeordneten Menge des Erfahrenen Ordnung und Struktur zu geben; wie sie zurückverweisen und vorgreifen, wie sie zögern, sich selbst befragend innehalten und versuchen, das vielleicht eben erst wieder Erinnerte einzubinden in eine lebensgeschichtliche Erzählung, es zu positionieren auf einer Zeitachse. Denn was in diesen Aufzeichnungen versprachlicht wird, ist noch nicht durch hundert Mal Erzählen abgeschliffen. Wir hören keine abgerundeten Geschichten, keine eingespielten Anekdoten, sondern Menschen im Begriff des Biographierens, des Erinnerns, des Zurechtlegens. Das hat viel mit der Tatsache zu tun, dass Staub die Beteiligten über eine spezifische Frage oder einen konkreten Aspekt in ihre Vergangenheit einsteigen lässt – eine Gasse, eine Liste von Geliebten, das 22. Lebensjahr, eine Auswahl wichtigster Lebensereignisse. Denn so zieht er geschickt einen Faden aus dem vielleicht schon fest gewobenen Gewebe der Lebenserzählung, zerrupft die zurechtgelegte biographische Ordnung, fordert neues Erzählen und ermöglicht neue Muster. Konsequenterweise werden uns denn auch die meisten Erzählungen in Staubs Installationen in erster Linie als Audio-Dokumente vermittelt: In Meine Grosseltern hören wir Enkel das Leben ihrer Großeltern biographisch rekonstruieren;
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junge Stimmen, die über alte Menschen reden, und dies vor abgegriffenen, verbleichten Photographien der alten Menschen als sie jung waren. In Staubs Projekten im öffentlichen Raum wandelten die Besucher mit einem iPod ausgerüstet durch eine Gasse in Bern und über den Luzerner Bundesplatz wie durch eine Ausstellung und konnten bei der Wahl einer Hausnummer Bewohner des jeweiligen Hauses reden hören. Und auch in 21 wird uns die Erzählung auditiv vermittelt. Die Gesichter auf dem Bildschirm sind keine sprechenden, sondern zuhörende. Staub machte zuerst Tonaufnahmen der Gespräche, spielte die redigierten Fassungen den Beteiligten drei Monate später vor und filmte sie beim Zuhören. Wir sehen also nicht Personen, die aus ihrem Leben erzählen, sondern Personen, die sich selber aus ihrem Leben erzählen hören. Staub lässt uns ihnen beim Versprachlichen ihres Erinnerns zuhören. Dieses Sprechen hebt stärker als der geschriebene Text das Brüchige und Prozesshafte hervor, das uns fesselt. Die Stimme aus dem Kopfhörer macht Bruchstellen, Unsicherheiten und Emotionen hörbar, die der gedruckte Text oft verbirgt. Und so groß die Sehnsucht nach Ordnung und Fixierung sein mag, die immer hinter der anstrengenden Arbeit des Biographierens steckt, was da anlässlich von Staubs Impuls in Sprache gefasst wird, ist meistens fragil und vorübergehend. Die Entfremdung, die einige Beteiligten von 21 drei Monate nach dem Erstgespräch beim Anhören ihrer Aussagen empfinden, hat weniger mit Staubs Redaktionsarbeit zu tun, als vielmehr mit der Tatsache, dass die damalige Erzählung womöglich bereits wieder fremd geworden ist. Und viele Listen in Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens würden heute schon wieder anders ausfallen. Biographieren ist ein offener, nie endender Erzähl- und Redaktionsprozess: Für Mats Staub, der seine Sammlungen kontinuierlich kuratiert; für die Beteiligten, die aufgrund der Begegnung mit Staub ihre Geschichte erstmals reflektieren oder neu anordnen; und nicht zuletzt für das Publikum, das beim Zuhören unweigerlich zurückverwiesen wird auf das eigene Leben und die Frage, wie sich dieses (anders) erzählen lässt.
Werner Greve
Ichs, Identitäten und Selbste
Es muss nicht erstaunen, dass die Psychologie nach dem Krieg, der die Welt ernüchtert hatte, auch nüchtern wurde. Der Behaviorismus als theoretische Position war da schon fast ein halbes Jahrhundert alt, und als dominantes Wissenschaftsparadigma würde er sich (jedenfalls unter diesem Namen) nicht mehr lange halten können, aber ihr praktisches Kind, die Verhaltenstherapie, nüchternste aller Psychotherapieformen, trat ihren Siegeszug erst an. Sie unterschied sich von den beiden seinerzeitigen Mitbewerbern um die Lufthoheit über der Seelenheilkunde nicht zuletzt dadurch, dass ihr die Existenz eines ‚Ich‘ (Psychoanalyse) oder ‚Selbst‘ (Humanistische Therapie), sofern sie sie nicht rundheraus bestritt, jedenfalls herzlich gleichgültig war. „Zeig mir, was Du tust und ich weiß (alles, was ich wissen muss, um sagen zu können), wer Du bist.“ Außerhalb ideologischer Festungen, die, wie zu allen Zeiten, ebenso uneinnehmbar wie unbewohnbar blieben, waren die Effektivität und Effizienz verhaltenstherapeutischer Maßnahmen unwiderstehlich, die schon evidenzbasiert waren, als es das Wort noch nicht gab. So war das ‚Selbst‘ als ernstzunehmender Gegenstand der empirischen Psychologie aus dem Mainstream der wissenschaftlichen wie praktischen Debatte für Jahrzehnte verschwunden (aus der Alltagssprache, der ‚folk psychology‘, natürlich nicht: Wie soll man konsistent behaupten „Ich glaube nicht an ein Ich“?). Mit der ‚kognitiven Wende‘ der akademischen Psychologie, die mit etwas Verzögerung auch die Therapieverfahren erreichte, begann die allmähliche Rückkehr des Ego in die Lichtkegel der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, allerdings mit dramatisch verwandeltem Charakter. Aus der theoretischen Perspektive der Informationsverarbeitung, die das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts dominierte, waren alle Möglichkeiten, ‚das Selbst‘ essentialistisch zu verstehen, unrettbar gescheitert.1 Selbst in der subjektiven Wendung (als Selbstkonzept, als Selbstwertempfinden, als Selbstwirksamkeitserleben) war aus ‚dem‘ Selbst ein plurale tantum geworden,
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Diesen Wendepunkt markiert und reflektiert die Edition von Sigrun-Heide Filipp exemplarisch: Filipp, Sigrun-Heide (Hg.): Selbstkonzept-Forschung. Probleme, Befunde, Perspektiven, Stuttgart: Klett-Cotta 1979.
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etwas, das man nur in der Vielzahl denken konnte. Mitte der achtziger Jahre hatten zahlreiche höchst einfallsreiche Experimente zudem überzeugend gezeigt, wie flüchtig, wie kontextabhängig, wie leicht beeinflussbar das ist, was ich über mich zu wissen meine. Der wertvollste Erbteil der akademisch untergegangenen Psychoanalyse, Anna Freuds Projekt der „Abwehrmechanismen“ des Ich von 1936,2 trug, empirisch gewendet, dazu seinen Teil bei: So viele Mechanismen beeinflussen, verzerren – erzeugen womöglich – das, was ich von mir denke, im Dienste so vieler Motive, Neigungen und Restriktionen meiner Innenwelt. So wurde aus dem Selbst, dass in zwei Jahrtausenden westlicher Denkgeschichte als Akteur, als ‚unabhängige Variable‘ unverrückbar festgestanden hatte, in kurzer Zeit die ‚abhängige Variable‘: aus dem Produzenten wurde das Produkt unserer Lebenserfahrungen. Nicht zuletzt dies machen die Installationen von Mats Staub fühlbar, greifbar. Wenn seine Protagonisten sich dabei zusehen, wie sie von sich, von einem speziellen Moment in ihrem Leben, berichten, dann wird ihnen, und also auch uns, die wir ihnen beim Zusehen zusehen, nicht nur deutlich, dass wir das sind, was unsere Erfahrungen mit uns, vielleicht aus uns, gemacht haben (damals, als wir 21 waren), und auch nicht nur dies, dass ich denselben Moment, heute gefragt, womöglich nicht ganz genauso beschreiben würde, sondern dass auch dies, darüber berichtet zu haben, eine Lebenserfahrung ist, die uns wiederum verändert. Nun, wo ich drei Monate später sehe und höre, was ich, gerade erst, über mich gesagt habe, wird mir klar, dass ich manches vielleicht jetzt schon nicht mehr so sagen würde – vielleicht weil ich inzwischen wieder Neues erlebt habe, das meine Sicht verändert hat, vielleicht auch, weil es meine Sicht verändert hat, darüber vor Monaten gesprochen zu haben. So sehr bin ‚ich‘ im Wandel, so sehr bin ‚ich‘ veränderlich, dass ‚das‘ Ich, das allen Wandel übersteht, kaum zu erfassen scheint, womöglich grundsätzlich zweifelhaft wird – hier passt das Empfinden, dass die Videos hinterlassen, gut zu der wissenschaftlichen Befundlage.3 Ich bin nicht ich, sondern viele, viele Versionen, viele passagere Zustände, viele Facetten, viele Komponenten – Plural eben. Aber ist das wirklich plausibel? Auch wenn sich alles, äußerlich, innerlich, an mir geändert hat und täglich wandelt – ich kann es nicht anders denken als so, dass es sich an ‚mir‘ geändert hat, dass immer ‚ich‘ der war und geblieben 2 3
Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen [1936], Frankfurt a. M.: Fischer 2012 Zum Diskussionsstand am Ende des 20. Jahrhunderts vgl.: Greve, Werner (Hg.): Psychologie des Selbst, Weinheim: Beltz 2000.
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bin, der sich und an dem sich dies alles geändert hat. Ist also doch ‚ein‘ Selbst als Fluchtpunkt meiner Existenz, als ihr Kern dann doch unbezweifelbar? Als ‚Ausweg aus dem Fliegenglas‘ bot sich eine Argumentationslinie an, die – wenigstens so alt wie der Behaviorismus – im zwanzigsten Jahrhundert in einer anderen Provinz des westlichen Denkens weit gediehen war: die Idee, das Selbst als soziale Konstruktion zu verstehen. Sie ließ sich zwanglos als eine geradezu zwingende Folgerung des Konstruktivismus vertreten, der These, dass das, was wir über die Welt, und also auch über uns als Teil der Welt, zu erkennen meinen, Produkt, eben ‚Konstruktion‘ unseres arbeitenden Geistes sein muss, immer subjektiv, immer gemacht, immer sozial eingebettet und relativiert, nie objektiv und jedenfalls: nie entdeckt. Eine Vielzahl von Versionen dieses Gedankens wurde in den Sozialwissenschaften spätestens zur Mitte des 20. Jahrhunderts so prominent, dass auch die Psychologie wenigstens die Blockbuster dieser Hitparade schlechterdings nicht ignorieren konnte. Der Labeling-Ansatz, dessen These es war, dass wir die zu sein meinen, als die andere uns betrachten (und uns sagen, die wir seien), wurde ein Prototyp eines solchen Konstruktivismus. Betrachtet man die Videos von Mats Staub aus dieser Perspektive, kann man sie leicht auch als unwiderstehliches Plädoyer für diesen konstruktivistischen Ansatz lesen. Sogar dann, wenn wir uns selbst beim uns-selbst-beschreiben zusehen, sehen wir, offensichtlich, dass der Moment, seine Anforderungen, der Gegenüber (zunächst stets: Mats Staub), auch die Stimmung, mit der wir in ihn hineingegangen sind, erst hervorbringen, was wir dann als ‚ich‘ präsentieren. Und schon wenige Wochen später, wenn ich, durch einen technischen Kniff, mir selbst gegenübersitze, fühlt sich das nicht mehr ganz ‚identisch‘ an. Nicht nur die anderen, sogar wir selbst konstruieren uns, und in Staubs Installation wird uns das vor Augen geführt, denen, die sich sehen, und uns, die wir sie dabei sehen. Ein Jahrhundert voller Befunde liefert zahllose Indizien dafür, dass unser Bild von uns selbst alles andere als ein vollständiges, realistisches und neutrales Archiv ist.4 Wir hören uns Dinge sagen, sehen uns Dinge tun, die wir nicht mögen, wir haben gemischte Gefühle – wir sind oft uneins mit uns selbst. Präsentiert wird davon immer nur eine kleine aktuelle Auswahl und selbst die ist nicht immer kohärent. Ist ‚Ich‘ am Ende wirklich nicht mehr als der grammatisch erzwungene, aber substanziell leere Platzhalter des sprachlichen Subjektes von Sätzen, die sich auf ein in permanentem
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Leary, Mark R./Tangney, June P. (Hg.): Handbook of Self and Identity, 2. Auflage, New York: Guilford 2014.
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Wandel begriffenes, äußerst dynamisches, geradezu flüchtiges System beziehen? Bin ich „niemand“?5 Andererseits: Wir erkennen uns ja mühelos wieder, wir erinnern uns vielleicht sogar, was wir wie, womöglich auch warum wir es gesagt haben. Und wir können uns besinnen, uns korrigieren, wenn wir uns beim Erzählen zusehen und zuhören. Auch Anderen glauben wir ja längst nicht alles, was uns über uns gesagt wird, jedenfalls nicht allen. Und die differenzierende Instanz bei alldem (Wem glaube ich? Was? Worin habe ich, als ich damals über meinen 21. Geburtstag sprach, geirrt?) ist dann doch: die Person selbst. Auch wenn Situationen Einfluss haben (wer wollte das bestreiten?) – selbst in einer so unvertrauten Konfrontation wie der mit meinem gerade vergangenen Selbst macht sie nicht alles anders, gewiss nicht alles neu. Bei aller Veränderung im Detail, die Kontinuität ist doch das Dominante dieser Erfahrung. Aus dieser Sicht erobert das Selbst die Rolle des Gestalters der eigenen Person und ihrer Entwicklung wenigstens teilweise zurück. Damit aber kehrt auch die Frage zurück, auf die auch wir alle gern eine Antwort hätten: ‚gibt‘ es ein wahres, ein inneres, ein substanzielles Selbst, ‚bin‘ ich der, der meine Biographie erlebt, koproduziert hat? Leider ist es komplizierter. Denn ich, der Kurator dieser je aktuellen, weil aktuell gewussten und präsentierten Biographie, bin ja stets auch ihr Produkt. Die Motive, Neigungen, Perspektiven, die mich zum Kurator meiner aktuellen Biographie machen, sind entstanden, haben sich nicht nur im Laufe meines Lebens, sondern durch den Lauf meines Lebens entwickelt. Die Biographie hat den Biographen ihrerseits kuratiert. Sie hat das so wenig mit Absicht und geplant getan wie ich, der Biograph, meine Biographie mit Absicht und geplant kuratiert und erzählt habe; selbst wenn es Absichten und Pläne dabei gegeben haben wird – das Produkt ist meiner Kontrolle ebenso wie meiner Wahl nicht ganz, aber doch in Vielem entzogen. Zwar können die (Entwicklungs-)Prozesse, deren Produkt ‚ich‘ bin (die vielen Versionen von mir), objektiv untersucht werden, jedenfalls im Prinzip, wie andere natürliche Prozesse auch (prototypisch: die Prozesse der Evolution). In der Tat und immerhin: Die Mechanismen des Selbst können wir peu à peu enträtseln. Das ist die gute Nachricht: Die Einwände gegen einen allzu radikalen Konstruktivismus waren plausibel und anschlussfähig genug, die empirische Wissenschaft des Selbst vor einer relativistischen Selbstauflösung zu bewahren.
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Metzinger, Thomas: Being No One. The Self-model Theory of Subjectivity, Cambridge, Mass.: MIT Press 2003.
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Aber hilft uns das, wenn wir ein konkretes Individuum verstehen wollen, Freunde oder Fremde, die wir, als Zuschauer, bei Staub beobachten? Oder sogar, als Teilnehmer in Mats Staubs Installationen, uns selbst? Irgendwie bleiben wir uns selbst immer etwas entzogen. Nicht nur bleibe ich, wie Tristram Shandy, immer etwas hinter meiner Gegenwart zurück, ich verpasse auch immer etwas, vieles sogar. Ist das also die Konsequenz: Falls es ‚mich‘ überhaupt geben sollte, dann weiß ich jedenfalls nicht, wer ‚ich‘ bin? Ist das Grund für das leise Unbehagen, auch das Befremden, das wir in manchen der Gesichter zu lesen meinen, die Mats Staub uns zeigt? Es fällt uns schwer, das zu glauben, jedenfalls so radikal. Denn wir kennen uns selbst besser als jeder andere, nur wir haben ‚alles‘ erlebt, was uns betrifft, und Vieles von dem, was wir erlebt haben, ‚konnten‘ nur wir erleben: unsere Freude, unseren Schmerz, unsere unausgesprochenen Wünsche, Ängste, Hoffnungen. Andere haben davon nur durch uns etwas erfahren können – wenn überhaupt. Jeder andere weiß unendlich viel weniger über mich als ich. Und in der Tat: Es sind ja nicht alle erschrocken – gerade auch Wiedererkennen, auch Erinnern, auch sich-mit-sich-einig-sein ist, was die Videos in 21 festhalten und zeigen. Die These, dass wir unsere Biographie, unsere je eigene Geschichte ‚kuratieren‘, trifft an genau diesem Denkknoten einen wichtigen Punkt, aber verfehlt einen anderen. Jawohl: Das, was wir als unsere Biographie erleben, ist je gegenwärtiges Produkt, nicht die kumulierte getreue Aufzeichnung dessen was war. Jawohl: Auch dann, wenn wir unsere Biographie nicht absichtsvoll schönen, gestalten im Lichte gegenwärtiger Motive und Neigungen, wird sie das Produkt einer aktuellen Konstellation von mir (‚in mir‘) sein; eine Ausstellung, in der Tat, die wir als Kuratoren betreut, gemacht haben. Auch deswegen dürfen die Akteure in Mats Staubs Installation erstaunt sein, wenn sie sehen, wie sie geschaut haben, was sie gesagt haben, als sie eine kleine, vergängliche ‚Ich-Ausstellung‘ kuratiert haben, vor drei Monaten. Jawohl: Biographien, gedachte und allemal präsentierte, sind gemacht. Aber gemacht sind sie, falls man das Wort hier überhaupt sinnvoll benutzen darf, von uns selbst. Und ‚uns‘ finden wir eben nicht nur in dem vergänglichen Moment des Berichtens, wie Mats Staub uns so unwiderstehlich buchstäblich vor Augen führt, sondern auch in dem, was die Kontinuität zwischen den Momenten ausmacht. Denn gerade auch sie, Kontinuität, ‚gefällt‘ uns, wir brauchen sie, wir wollen sie. Je mehr wir unser Leben selbst bestimmen können, je mehr wir unsere Wohnung, unsere Beziehungen, unsere Tätigkeiten selbst wählen dürfen, desto seltener ändern wir es. Sind wir erst im selbstgewählten Leben angekommen, gibt es ja auch (meistens) keinen Grund mehr,
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etwas zu ändern; je älter wir werden, desto seltener ziehen wir um – wenn wir nicht müssen. Aber abgesehen von unterlassenen Umzügen bleibt die Frage unbeantwortet, ‚wie‘ es uns gelingt, uns in sich wandelnden Umwelten und als sich lebenslang verändernde Lebewesen als stabil zu erleben – und dabei doch immer wieder an neue Herausforderungen angepasst zu handeln. Wie kann man diese Stabilität des Selbst erklären, wie kommt sie zustande, wie erhalten wir sie aufrecht – wo sich doch offenbar soviel in uns und um uns ändert? Die oben angesprochene klassische Idee der Abwehrmechanismen reicht nicht aus, obwohl eine erhebliche Zahl solcher Mechanismen inzwischen gut untersucht und belegt ist: Wir schreiben Erfolge uns selbst, Misserfolge aber den Umständen zu, wir präsentieren uns in günstigem Licht, wir vergessen Misserfolge leichter als Erfolge, wir glauben realistische Rückmeldungen, aber wir lieben schmeichelhafte – die Vielfalt defensiver Prozesse ist eindrucksvoll. Aber auch sie alleine können die Stabilität des Selbst nicht erklären, denn defensive Mechanismen haben Kosten: An irgendeinem Punkt verkennen sie Realitäten, die zur Kenntnis zu nehmen mitunter wichtig sein könnte. Wir müssen uns selbst, gerade unsere Grenzen und Schwächen, vielleicht nicht so genau wie möglich, aber doch so genau wie nötig kennen, wenn unsere Pläne und Handlungen nicht dauernd scheitern sollen. Also brauchen wir auch Selbst-Stabilisierungsprozesse, die Wirklichkeiten, auch unangenehme, akzeptieren. Wie könnte so etwas aussehen? Ein Beispiel ist der Mechanismus der „Selbstimmunisierung“6. Wenn ich überzeugt bin, ein gutes Gedächtnis zu haben, und mir mein gutes Gedächtnis auch wichtig ist, wenn ich aber (mit zunehmendem Alter) häufiger feststellen muss, einzelne Dinge nicht mehr zuverlässig zu erinnern (Einkauflisten, Namen von Personen, wichtige Termine), kann ich meine Überzeugung dadurch aufrecht erhalten, dass ich ‚gutes Gedächtnis‘ über solche Fertigkeiten definiere, die ich noch gut kann (z.B. Gedichte erinnern, die ich in der Schulzeit auswendig lernen musste; Details in meinem Hobby, die ich gut verfügbar habe etc.): „Dies alles ‚kann‘ ich ja einwandfrei – also ‚habe‘ ich ein gutes Gedächtnis! Für Einkaufslisten gibt es ja Zettel, damit belaste ich mein Gedächtnis doch gar nicht!“ Dieser Prozess bietet den gesuchten Kompromiss, weil ich einerseits einen wichtigen Teil meines Selbstbildes aufrechterhalte („Ich habe ein gutes Gedächtnis“), andererseits aber auf reale Veränderungen angemessen reagiere („Zum Einkaufen schreibe ich besser Zettel“).
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Greve, Werner/Wentura, Dirk: True Lies: Self-Stabilization Without Self-Deception, in: Consciousness and Cognition 19 (2010), S. 721–730.
Ichs, Identitäten und Selbste
Gut, aber nicht gut genug. Denn dieses Manöver ist nicht unbegrenzt auszudehnen. Solange ich nur Dinge beim Einkaufen vergesse, mag es noch angehen, diesen Punkt für nicht aussagekräftig zu halten. Aber wenn das auch wichtigere Dinge betrifft, dann ist die Grenze der Selbstimmunisierung erreicht. Wie kann ich die Gewissheit, ich sei in wesentlichen Punkten noch ich selbst, noch immer derselbe, auch dann aufrechterhalten, wenn mein Gedächtnis, das mir immer so wichtig war, ernstlich nachzulassen beginnt? Nun, vielleicht ist es, recht besehen, gar nicht so wichtig, wie ich immer dachte? Wenn ich es recht bedenke ist doch ‚wirklich‘ wichtig, dass ich ein freundlicher, unterstützender Mensch bin, das eigentlich macht mich wesentlich aus – hat es doch eigentlich immer schon, nicht wahr? Dieser Mechanismus, der nicht selbstbezogene Überzeugungen, sondern ihre Wichtigkeit betrifft, ist insbesondere im Rahmen des „Zwei-Prozess-Modells“ der Entwicklungsregulation untersucht worden.7 Es lässt sich zeigen, dass dann, wenn wir an einer für unser Selbstverständnis bedrohlichen Entwicklung nichts ändern können, diese Form der ‚akkommodativen‘ Anpassung nicht nur zur Zufriedenheit und Lebensqualität, sondern eben auch zu dem Gefühl beiträgt, man sei noch der, der man immer war. Der springende Punkt ist, wie bei der Selbstimmunisierung, auch hier, dass Veränderungen ‚nicht‘ geleugnet werden, sondern ihre Bedeutung verändert wird. So kann ich auf Veränderungen, auch in für mich ursprünglich wichtigen Bereichen, angemessen reagieren, ohne meine Identität grundsätzlich infrage stellen zu müssen, ohne das mein ‚Ich‘ gefährdet wäre. Und vielleicht ist dies ein Punkt, den diese Videoinstallation am fühlbarsten anspricht. Die Verhandlung von Wichtigkeiten – ist es nicht das, was die Frage danach, was ich an meinem 21. Geburtstag gemacht habe, eigentlich anzielt? Es geht ja nicht um mein Gedächtnis, nicht darum, ob ich an diesem Tag graue Socken getragen habe oder blaue – es sei denn, das war wichtig. Ob es aber wichtig war, steht nicht ein für allemal fest, sondern ist selbst Verhandlungsgegenstand, hängt selbst davon ab, was mir der Moment an Anforderungen, auch an Anregungen, vorlegt. Was für mich wichtig war, ist, ändert sich selbst. Und vielleicht ist dies der konstante Moment, den wir suchen: Konstanter als die Inhalte des Selbst sind offenbar die Prozesse des Selbst, jene Mechanismen, die dafür sorgen, dass wir uns jederzeit als ‚ich‘ erleben (wenn wohl auch in verschiedenen Kontexten je verschieden), die dafür sorgen, dass das Wichtige erhalten bleibt (und auch: dass das Erhalten gebliebene wichtig ist).
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Brandtstädter, Jochen: Das flexible Selbst. Selbstentwicklung zwischen Zielbindung und Ablösung, München: Elsevier 2007.
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Werner Greve
Auch wenn das, was ich aktuell über mich denke und an mir wichtig finde (auch an meiner Vergangenheit wichtig finde), je neu zusammengestellt und neu abgewogen wird, so ist doch dies, dass ich genau dies tue, immer gleich. In diesem Sinne, in der Tat, kuratieren wir uns selbst, und wurden dabei zugleich kuratiert von unserer Vergangenheit, die bis beinahe an die Gegenwart heranreicht, und von inneren Neigungen und kategorischen Notwendigkeiten, aus uns ‚eine‘ Geschichte zu machen. Jeweils wieder.
Annemarie Matzke
Sich Selbst Erzählen Mats Staubs Installation 21 als Performance
Im Foyer des Schauspielhauses Hannover steht eine lange Reihe mit Monitoren, davor eine kleine Bank für die Betrachter. Als Zuschauerin setze ich mich direkt vor den Bildschirm: Zu sehen ist die Großaufnahme einer älteren Frau, die wie ich einer Stimme beim Erzählen zuhört. Es geht um einen 21. Geburtstag, um den Krieg, um eine Liebe. Ich betrachte die Frau beim Zuhören der Erzählung, sehe ihre Reaktionen, ihr Schmunzeln, ein kurzes Nicken, wie Tränen über ihre Wangen laufen. Schließlich spricht die Frau doch und bewertet das Gehörte: „Mein Resümee: Es ist gut wie es ist. Ich bedanke mich. Aber jetzt muss ich noch ein bisschen heulen.“ Ich gehe zum nächsten Bildschirm und höre weiteren Geschichten zu: ein Mann, der ebenfalls einer Erzählung über einen 21. Geburtstag lauscht, dann einer jüngeren Frau. In der Serialität der einzelnen Portraits, die immer dem gleichen Aufbau folgen – in welchem Jahr der Portraitierte 21 geworden ist, der Erzählung, was in diesem Jahr geschah und schließlich dem Kommentar zur gehörten eigenen Erinnerung – entsteht ein Generationenportrait, das historische Differenzen wie auch Gemeinsamkeiten im Erwachsenwerden offenbart und das Erinnern selbst in besonderer Weise inszeniert. Mats Staub schafft in seiner beschriebenen Installation 21 eine besondere Aufführungssituation: Die Erzählung eines Ausschnitts aus der Lebensgeschichte wird zur Aufführung gebracht und die Protagonisten der Geschichte werden zu ihren eigenen Zuhörern. Dies stellt sich für den Betrachter erst nach und nach heraus. Authentifiziert durch den letzten Kommentar, der wiederum auf die Aufführungssituation Bezug nimmt: Wie war es die eigene Erinnerung (wieder) zu hören? Der Portraitierte wie die Betrachter der Installation hören das Gleiche – ihre Position wird gespiegelt. Nicht ohne Grund ist diese Installation oft auf vielen Theaterfestivals gezeigt worden, zeigt sich in ihr doch eine Nähe zur Performance Art. Indem Mats Staub die Portraitierten nicht beim Erzählen selbst zeigt, sondern sie zu Zuhörern ihrer eigenen Erinnerung macht, wird nicht nur der Inhalt des Erzählten zum Gegenstand der Inszenierung, sondern die performative Dimension
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Annemarie Matzke
jedes Erinnerns wird ausgestellt. Die Erzählung der eigenen Biographie wird in ein besonderes Verhältnis zur Form und Praxis des Erinnerns selbst gestellt. Die eigene Lebensgeschichte zum Gegenstand der Darstellung zu machen steht in einer langen Tradition der Arbeiten verschiedener Performancekünstler – von Carolee Schneemann über Spalding Gray bis Ron Vawter – wie auch Formen des gegenwärtigen Dokumentartheaters beispielsweise in den Inszenierungen der Gruppe Rimini Protokoll. Die Besonderheit solcher biographischen Performances liegt darin, dass die Künstler oder Darsteller auf dokumentarisches Material aus ihrem eigenen Leben zurückgreifen. Dabei beziehen sich die Künstler auf zwei bekannte und tradierte Formen ästhetischer Selbst-Inszenierungen, die sich auch in Mats Staubs Installation wiederfinden: Dem Selbstportrait und der Autobiographie. Indem der Künstler sich selbst, das Selbstbild oder die Lebensgeschichte zum Gegenstand der Darstellung macht, entäußert er sich in ein fremdes Medium: das Bild oder die Erzählung. Wenn das Kunstwerk als Entäußerung eines ästhetischen Subjekts des Künstlers in ein ästhetisches Objekt definiert werden kann, dann soll hier das Kunst-Objekt, die Darstellung, die Subjektivität des Künstlers repräsentieren. Aus der Perspektive des Theaters oder der Performance Art eröffnet sich hinsichtlich der Frage ästhetischer Selbstdarstellung hier eine ganz eigene Problematik, denn jeder Schauspieler oder Performancekünstler arbeitet immer mit seinem Körper, bedarf seiner selbst, um seine Darstellung zu produzieren. Jede schauspielerische Darstellung ist immer auch eine Selbstdarstellung. Wenn also Schauspieler oder Performancekünstler auf der Bühne sich selbst zum Gegenstand ihrer Darstellung machen, bedürfen diese Formen der Selbst-Inszenierung einer Form der Distanzierung, um sie als solche für den Betrachter überhaupt lesbar zu machen. So bedarf es auch in szenischen Formen ästhetischer Selbstdarstellung der Entäußerung des Selbstbildes: Dem Selbstentwurf geht also ein Vor-Bild voraus, das sich am Blick des Betrachters orientiert. Er ist nie eine unmittelbare Darstellung des ‚eigenen Lebens’ sondern immer bereits vermittelt und konstruiert. In diesem Sinne lässt sich die Installation 21 auch als Reflexion über den Konstruktionscharakter von Autobiographien lesen. Als Nacherzählung des eigenen Lebens versucht die Autobiographie eine Identität in der Zeit zu beschreiben. Im Akt des Schreibens entfaltet sich die Erinnerung und wird zugleich modifiziert, weil sie nicht vom Akt des Schreibens beziehungsweise Erzählens hervorgebracht wird. Damit gleicht die Autobiographie einem Leseprozess der eigenen Erfahrungen. Das sich erinnernde Subjekt inszeniert sich selbst im Akt des Erzählens. Hier setzt auch Mats Staubs Installation an: Die Selbsterzählung wird hier von der erzählenden Person abgetrennt. Gezeigt wird keine Selbstdarstellung,
Sich Selbst Erzählen
sondern der Portraitierte wird bei der Rezeption seiner eigenen Erzählung gezeigt – die wiederum vom Künstler Mats Staub editiert wurde. Die eigene Erzählung tritt ihm hier als ein ‚anderes‘, als ein ästhetisches Objekt gegenüber, das bereits bearbeitet und gestaltet wurde. Keine Behauptung einer unmittelbaren Erzählung des eigenen Lebens, sondern die Inszenierung eines Aktes der Erinnerung. Weniger der Inhalt der Erzählung steht hier im Mittelpunkt, sondern das Verhältnis des Portraitierten zum Erzählten tritt in den Fokus. Damit werden die Portraitierten im Videoaufbau in besonderer Weise auch zu Performern. Anders als ein Schauspieler verweist der Performer auf niemanden als sich selbst. An die Stelle eines ‚Modus des als ob‘ tritt ein ‚Modus der Präsenz‘. Dies gilt auch für die Portraitierten der Installation 21, deren Darstellungsaufgabe im Moment der Aufnahme nichts weiter ist als ihrer eigenen Erzählung zuzuhören. Durch die Kamera wird diese Aufgabe auf einer weiteren Ebene gerahmt: Den Zuhörenden ist bewusst, dass sie beim Anhören ihrer Erzählung gefilmt werden. Ihrer Darstellung ist damit immer schon ein Wissen um den fremden Blick miteingeschrieben. Roland Barthes beschreibt dieses Wissen um die Aufnahme als eine Form des „Sich-Selbst-Nachahmens“, eine Imitation der Vorstellung des eigenen Selbstbildes, das immer schon einer Distanzierung von sich selbst bedarf. Schon die Formulierung des „Sich-Selbst-Nachahmens“ weist auf die reflexive Dimension jeder Form der Selbstdarstellung hin. Nicht die Darstellung eines Selbst, sondern die Inszenierung selbst rückt in den Fokus. Die Selbstdarstellung ist somit immer eine Inszenierung eines Selbstbildes zwischen Selbst-Entwurf und Fremdzuschreibung. Zugleich entsteht beim Betrachten der Videoportraits ein Eindruck von Authentizität: in der Reaktion der Portraitierten auf die eigene Stimme und die eigene Geschichte. Das Hören der eigenen Stimme wird als Moment der Selbstaffizierung deutlich: als Inszenierung eines spezifischen Selbstverhältnisses. Zur Aufführung gebracht wird damit der aktuelle Akt der Erinnerung, der sich im Zwischenraum der Vermitteltheit und Konstruktion der eigenen (Lebens-)Geschichte und der Unmittelbarkeit in ihrer Wiederholung und Aneignung bewegt.
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Erinnerungen im Hochformat Bemerkungen zu Mats Staubs 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden und der Praxis autobiographischer Dokumentarfilme
Seit ein paar Jahren ist zu beobachten, dass Absolventinnen von Filmhochschulen, die das Fach Dokumentarfilm belegt haben, sich in ihren Abschlussfilmen gern autobiographischen Themen zuwenden. Meistens sind es Filme über die Eltern (zum Beispiel Pary El-Qalqilis Schildkrötenwut) oder Großeltern (Jens Schanzes Winterkinder), seltener Filme über eigene Befindlichkeiten (Wolfram Hukes Love Alien).1 Die Beobachtung lässt sich ohne Weiteres soziologisch fassen: Als Absolventin steht man, letztlich egal welches Studium man abschließt, vor einer Zäsur, die auf signifikante Veränderungen der sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen hinausläuft – eine Veränderung, die man gemeinhin mit dem Erwachsenwerden assoziiert. Es sind biographische Zuspitzung wie diese, die dazu drängen, das Bisherige zu sortieren und aus dem bereits gelebten Leben den einen Faden herauszulösen, den man gegebenenfalls weiterspinnen oder ablösen kann. In der Weise jedenfalls, wie das Überführen von disparaten Erinnerungsfragmenten in ein Narrativ Orientierung schafft, ist der Wunsch nach biographischer Positionierung nicht selten auch Ausgangspunkt des einen oder anderen Abschlussfilms. Zum Zeitpunkt ihres Studienabschlusses haben Studentinnen das 22. Lebensjahr in der Regel weit hinter sich gelassen. Und doch zielt Mats Staub mit seinen Fragen nach diesem Jahr und den ‚Erinnerungen ans Erwachsenwerden‘ auf Ähnliches, auf ähnliche Zuspitzungen, Krisen und Reflexionsanlässe. Womit die Vergleichbarkeit von autobiographischen Dokumentarfilmen und künstlerischer Installation auch fast schon an ihr Ende kommt – zumindest auf den ersten Blick. Die Situation der Befragten in Mats Staubs Projekt 21 jedenfalls ist eine grundverschiedene. Die Befragten stehen mitten im Leben, nicht unbedingt
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Vgl. dazu: Gleißberg, Janine: Mein Film über mich. Regisseure vor und hinter der Kamera, Berlin: Avinus Verlag 2014.
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an einem Scheidepunkt. Das Erwachsenwerden ist auch nicht Anlass, sondern Gegenstand der Erinnerung. Zudem wird das 22. Lebensjahr aus sehr verschiedenen biographischen Distanzen heraus erinnert. Vor allem aber gibt es keinen Anlass, keinen Auf- oder Abbruch, kein katastrophales oder beglückendes Ereignis, das auf biographische Orientierung drängt und Erinnern zu einer intrinsischen Notwendigkeit werden lässt. In Mats Staubs Projekt gibt es nur eine Bitte, die etwas scheu vorgetragene Aufforderung, vom eigenen Leben zu erzählen und dabei das 22. Lebensjahr zu erinnern – weshalb die Befragten zumeist auch eher abwehrend reagieren und glauben, nichts von sich zu erzählen zu haben.2 Was natürlich nicht stimmt. Der Anlass, den sie vermissen, wird durch das mediale Setting hinreichend substituiert. Zusammen mit der konzentrierten Zuwendung hat das Projekt also eine ähnliche katalytische Wirkung, wie es Krisen oder andere biographische Einschnitte haben. Vor allem aber wird über diese spezielle Engführung verhindert, nur bereits Erinnertes zu erinnern, also über die Jahre hinweg sedimentierte Erzählungen abzurufen, zu Anekdoten bereits verdichtetes Material, das nur noch wenig preiszugeben hat. Demgegenüber steht das überaus reichhaltige Spektrum an Erzählungen, das Mats Staub mit seinem Projekt zu Tage bringt und in seinen Installationen präsentiert und das in dieser Form keinen Zweifel lässt an der wohlüberlegten Rahmung. Es ist dabei nicht nur die Ausgangssituation, die ein Zusammendenken von Installation und autobiographischem Dokumentarfilm unterläuft. Es ist zuallererst die phänomenale Ebene, die so gut wie keine Verbindungslinien erkennen lässt: Die Installation ist eindeutig kein Film. Auch wenn es Bewegtbilder zu sehen gibt, ist die Linearität des Zeitmediums aufgelöst und auf verschiedene, im Raum angeordnete Stationen verteilt. Vor allem aber ist das Format gekippt: Mats Staub zeigt seine Protagonistinnen nicht, wie es ein Film für gewöhnlich täte, in einem breit angelegten Bildcadre (wie zum Beispiel dem gängigen 16:9), sondern im Hochformat. Bewegtbilder aber nicht quer, sondern hochstehend gezeigt zu bekommen, ist für einen ‚Analognative‘, als den ich mich bezeichnen würde, nach wie vor höchst irritierend, gleichwohl wissend, dass das Smartphone als medienkonvergentes Tool keine medienspezifische Ausrichtung mehr kennt und es deshalb zuletzt auch vermehrt hochformatige Videos in sozialen
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Interview mit Mats Staub in der Sendung Sternstunden der Philosophie. Erinnern und Vergessen des SRF Kultur vom 26.01.2014, https://www.youtube.com/ watch?v=dzQ8IT ucxuA, abgerufen am 31.05.2016.
Erinnerungen im Hochformat
Netzen zu sehen gab. Aber das geschieht, so denke ich, immer noch gedankenlos und medienvergessen. Gedankenlos geht Staub hier aber ganz sicher nicht vor. Zugespitzt könnte man sagen, dass mit dieser speziellen Ausrichtung der Installation die ‚Historia‘, also die in die Breite gehende, erzählende Anordnung der Bildelemente gegen die ‚Imago‘ eintauscht wird, gegen das aufrechtstehende Bild, das sich dem Individuum und seinen Gesichtszügen widmet, das also nicht mehr erzählt, sondern zeigt – was als Gedanke nicht gleich verfängt, weil er ja im Widerspruch zu der Grundannahme steht, dass die Installation Erinnerungen verhandeln würde und damit primär Erzählungen, keine Bilder. Aber tut sie das? In gleicher Weise ließe sich behaupten, dass die Videos der Installation zuallererst zeigen, und zwar seriell angeordnete Situationen, in denen die Protagonistinnen dem zuhören, was sie zu einem früheren Zeitpunkt erinnert haben. Auch wenn wir immer auch hören, sehen wir vor allem ihre Gesichter als resonierende Flächen. Die Erzählung selbst kommt aus dem Off; sie entsteht nicht während der Aufnahme. Tatsächlich bleibt die Entstehung weitgehend im Dunkeln und mit ihr alles, was Mats Staub an Arbeit und Sorge (neben der rein technischen Bewältigung) noch in sie investiert hat. Dabei glaubt man vor allem zu erkennen, dass in der Zeit zwischen den beiden Aufnahmen etwas geschehen sein muss. Wie sonst sollte man die gespannte Aufmerksamkeit der Protagonistinnen deuten, mit der sie den eigenen Worten folgen, als würde sie von jemand anderem kommen. Und auch das Bedürfnis, die Einspielung abschließend zu bestätigen – manchmal unter Tränen. Wie Odysseus, der sich am Hof der Phäaken zu Tränen gerührt sah, als er den blinden Sänger Demodokos seine eigene Geschichte besingen hörte.3 In beiden Fällen lohnt es sich zu fragen, was genau hier eigentlich rührt? Ist es das Wiedererkennen des Eigenen in der nicht eigenen, dafür aber der als allgemeingültig erkannten Form? Dem Gesang des Sängers? Dem biographischen Narrativ des Künstlers?
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„Als sobald das Verlangen nach Essen und Trinken verflogen, trieb ihren Sänger die Muse von Rühmen der Helden zu singen, jenes Stück aus dem Lied, dessen Ruhm bis zum breiten Himmel damals drang: den Streit des Odysseus gegen Achilleus, Peleus‘ Sohn, die einst bei dem blühenden Göttermahle schrecklich mit Worten gezankt. […] Davon sang der gepriesene Sänger. Aber Odysseus nahm ein großes purpurnes Tuch in die wuchtigen Hände, zog es über sein Haupt und verhüllte sein herrliches Antlitz, schämte sich vor den Phaiaken, mit Tränen die Augen zu netzen.“ Homer: Odyssee, Übersetzt v. Anton Weiher, 11. Auflage neu hrsg. von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2000, Achter Gesang, S. 199, Vers 72–89.
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Das Interesse an der Verfertigung autobiographischer Dokumentarfilme scheint einem ähnlichen Impuls zu folgen. Auch wenn die Filmemacherinnen dabei ihr eigenes Leben anvisieren, so nutzen sie vor allem die medialen Möglichkeiten des Film, heterogenes Material verschiedenster Provenienz in einen biographischen Zusammenhang zu stellen, das heißt die Möglichkeit, sich über die Kompilation von Fremd- und Eigenmaterial biographisch zu verorten. Die Biographie wird dann nicht erzählt, sie emergiert sich aus der Montage verschiedener Stimmen mit ihren diversen Adressierungen. Tarnation von Jonathan Caouette zum Beispiel besteht fast ausschließlich aus solchem Footage, das zu unterschiedlichen Zeiten und zu verschiedenen Anlässen entstand – das Wenigste entsteht tatsächlich für den Film, das Meiste wird gefunden. Also sieht man Homemovies, Fernsehmittschnitte, Dokumentarisches und Performatives, Imitatives und Parodistisches. Die eigene Stimme kommt dabei nicht vor; Explikatives findet man nur zu Beginn des Films auf Texttafeln. Auch wenn das Material chronologisch angeordnet wird, verweigert es sich einer klar lesbaren Form. Man könnte auch sagen: In den 90 Minuten ereignet sich ein Leben auf der Leinwand. Und es sind genau diese 90 Minuten, die diesem Leben Kohärenz verleihen. Stories We Tell von Sarah Polley ist in vielerlei Hinsicht mit Tarnation nicht zu vergleichen. Trotzdem gibt es auch hier strukturelle Ähnlichkeiten: Gleich in der ersten Szene führt uns der Film in seine Verfahrensweise ein: Die Tochter (Sarah Polley) geht mit dem Ziehvater in ein Tonstudio, und lässt sich dort von ihm ihre Lebensgeschichte aus einem Manuskript vorlesen. Währenddessen sitzt sie im Regieraum und interveniert, wenn es Interpretation und Ausdruck erfordern. Wer aber Urheber des Manuskriptes ist, dessen Text wir über den ganzen Film aus dem Off hören, bleibt offen. Genauso wie die Frage, wer hier eigentlich spricht und sprechen darf. Vordergründig zielt der Film auf die klassischen Frage nach der Herkunft (wer sind meine Eltern?) und damit also auf das, was die Soziologen die Familienerzählung nennen. Eigentlich aber geht es eher um das Ausbalancieren konkurrierender Erzählungen, nicht zuletzt um die Frage der Deutungshoheit, die von Polley auf verschiedenen Ebenen, und das heißt unter Verwendung verschiedener Materialitäten in Szene gesetzt wird: mit S-8-Reenactments, klassischen Interviews, beiläufigen Statements, verschriftlichten Entwürfen, Lesungen, dazu verschiedenen Stimme im voice over. Vor allem die vielschichtige Anordnung diverser Instanzen, die sich ergänzen, überlagern und wiedersprechen, die auf diese Weise zugleich die ordnende, das Selbst beschreibende Arbeit der Autorin kaschieren oder zumindest aus dem Blickfeld rücken, führt zu dem Eindruck, dass sie nicht selbst erzählt, sondern sich erzählen lässt.
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In gewisser Weise verfährt Mats Staub ähnlich. Auch er macht über die Tonaufnahme die Biographien seiner Protagonistinnen zum Material, das er transformiert und in Form gebracht zurückspielt. Vor allem das Prozessualisieren von Biographie durch sein Materialwerden steht den skizzierten autobiographischen Dokumentarfilmen sehr nahe.
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Editing the World Eine Ausstellung des Projektes Bildverschwendung Nora Brünger, Fabian Hennigs, Frederik Preuschoft, Torsten Scheid, Cara Schröder, Lea Steinkampf, Sonja Wunderlich und Francisco Vogel
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Gegenwart kuratieren Zur Bildverschwendung im Internet
„Das Internet als große Bildanalogiemaschine ist kein imaginäres Museum, es ist eine Müllhalde der visuellen Kultur, in der man gelegentlich Perlen findet.“ (Maik Schlüter)
Eine junge Frau sitzt auf einer Bank im Grünen, einem Park vielleicht. Sie hat dem Betrachter den Rücken zugewandt und ist in ihre Lektüre vertieft. Letzteres zumindest legt der Kontext des Bildes nahe. Ein Buchladen preist Erbauliches zur Lektüre an: „Am meisten schenkt wer Freude schenkt“ wird Mutter Theresa zitiert. Szenenwechsel: Eine psychologische Praxis offeriert ihre Dienste im Kampf gegen Schwermut und Erschöpfung. Das begleitende Bild zeigt eine Frau in Rückenansicht, die resigniert ins Leere starrt.1 Es ist das gleiche Bild, das hier zum Sinnbild der freudvollen Lektüre, dort zur Illustration psychischer Erkrankungen gerät. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2013 erzeugt ein Video allerhand Häme und Frohsinn, das eine Familie beim gemeinsamen Fahrradausflug zeigte. Fröhlich lachend radeln Vater, Mutter, Sohn und Tochter durch gleich zwei Wahlwerbespots, die einmal von der FDP das andere Mal von der NPD geschaltet wurden und ihren Verwendern den wohlfeilen Vorwurf einhandelten, beide Parteien verträten das gleiche Familienbild und dieses sei – dafür bürgt ein Hersteller von Milchprodukten und dritter Verwender des gleichen Spots – ausgemachter „Quark“.2 Die geschilderten Vorfälle belegen die Verwerfungen der ‚stock-photography‘, einer Vorratshaltung von Bildmaterial, das über das Internet abgerufen und den Agenturen wie Getty Images, Shutterstock oder Fotolia für unterschiedliche Verwendungen abgekauft beziehungsweise (und eben darin wurzelt 1 2
http://www.psychologische-beratung-christiani.de/beratungsthemen/schwermut-erschöpfung/, abgerufen am 10.06.2016. König, Michael: „Liberal, rechtsextrem und ziemlich im Quark“, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.08.2013, http://www.sueddeutsche.de/politik/wahlwerbespots-von-npd-undfdp-liberal-rechtsextrem-und-ziemlich-im-quark–1.1756034, abgerufen am 10.06.2016.
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hier das Problem), mehrfach entliehen werden kann. Es gehört zur inneren Logik dieser Bilder, dass sie sich umso vielfältiger, also auch häufiger einsetzen und damit einträglicher verwerten lassen, je beliebiger sie ausdeutbar sind, je weniger Eigenbedeutung also diese photographischen Bilder mitbringen. Sie unterliegen dem Prinzip einer semantischen Entleerung, die sie gegenüber veränderten Kontexten geschmeidig macht. Diese Photographien sind umso besser verwertbar, je schwächer sie als Bilder sind, je mehr sie also von ihrem Status als Bild einbüßen und in den Zustand des gleichsam bildlosen Bildes, des rein „Visuellen“3 übergehen. Das permanente Umwälzen, in Bewegung bringen und Umdeuten von Bild inhalten ist ein elementarer Prozesse der Bildverwendung im Internet. Die Forderung nach einer „Ökologie der Bilder“, die Susan Sontag bereits vor über 30 Jahren formuliert hatte, hat sich trotzdem nicht erfüllt.4 Ebenso wenig das paradoxe Credo des Künstlers Joachim Schmid, das er bereits 1987 in einem Manifest formulierte: „Keine neuen Bilder bevor die alten verbraucht sind.“5 Heute photographieren Menschen in aller Welt ihre lackierten Fingernägel, ihre Milkshakes und Kaffeebecher oder ihre Pizza, bevor sie gegessen wird. Sie filmen sich beim Auspacken bestellter Artikel und beim Ausprobieren von Kosmetika. Es ist offensichtlich, dass die photographische „Totalprotokollierung des Lebens“6, die in vordigitaler Zeit schon aus ökonomischen Gründen undenkbar war, sich auch auf das Aussehen und Verständnis von Bildern auswirkt. Die Aufmerksamkeitsökonomie im Netz leistet Vereinfachungen und Standardisierungen Vorschub (hierzu gehört neben den beschriebenen Klischeebildern der Stockphotographie auch romantisierende Filterfunktion auf Instagram, die alle ungeschönten Bilder in photographischer Nacktheit neben sich verblassen lässt), zumal solche Photos die meisten Klicks erzielen, die bereits als Thumbnails Aufmerksamkeit erregen. Insgesamt hat es ganz den
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Wetzel, Michael: „Das Bild und das Visuelle. Zwei Strategien der Medien im Anschluss an Serge Daney“, in: Barbara Naumann/Edgar Pankow (Hg.), Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation, München: Fink 2004, S. 173–186. Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt a. M.: Fischer TB 1980, S. 172. Schmid, Joachim: „Es kommt der elektronische Fotograf “, in: Gottfried Jäger/Jörg Boström (Hg.), Gegen die Indifferenz der Fotografie, Bielefeld/Düsseldorf: Edition Marzona 1986, S. 228–236, hier S. 230; Vgl. Scheid, Torsten: „Die Bilder der anderen. Im Atelier von Joachim Schmid“, in: Photonews. Zeitung für Fotografie 26 (2014), Heft 10, S. 18–19. Han, Byung-Chul: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 91.
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Anschein, als unterwürfen sich alle Bilder dem Prinzip der Warenökonomie, etwa indem sie für Produkte werben, Lebensstile propagieren und/oder selbst zur handelbaren Ware werden. Sogar Photographien aus privaten Anwendungen wie Flickr werden kommerzialisiert, wobei, wie Susanne Holschbach betont, gerade die Ungeplantheit und Unkalkuliertheit privater Bilder ihre „Authentizität, Spontaneität und Instantaneität gegen die Künstlichkeit, Redundanz und Klischeehaftigkeit der herkömmlichen Bilder“7 zum Qualitätssignum ihrer Vermarktung werden. Gibt es kein Entkommen? Das hier in Auszügen vorgestellte Projekt Bildverschwendung und die resultierende Ausstellung Editing the World begab sich auf Perlentauchgang. Bildverwendungen im Internet wurden auf gleicher, also bildlicher Ebene verhandelt. Der Photoapparat wurde durch Verfahren der Bild erschließung ersetzt, etwa die optisch ähnliche Bildersuche bei Google, welche heterogenes Bildmaterial nicht allein aufgrund seiner Beschriftungen durch Tags und seine Verwendungskontexte, sondern die Bilder auf Basis ihrer algorithmischen Eigenstruktur, aufgrund der Verteilung von Farb- und Helligkeitswerten aufspürt und nebeneinander stellt. Neben diesen automatisierten Prozess traten gleichsam händische oder im übertragenen Sinne fußläufige Bildrecherchen in der Bilderwelt des Internets – mal im Modus des beiläufigen Flanierens, mal durch planvolles Vorgehen gesteuert. Die Orte dieser Recherchen reichten von Internetkaufhäusern, Stock-Agenturseiten, privaten Bildertauschplattformen, Verkaufs- und Auktionsplattformen, Immobilienanbietern über Google Earth und Street View bis hin zu Applikationen zum kommunikativen Austausch von Bildmaterial – etwa Chatroulette oder PhotoSwap. Durch Prozesse des Sammelns und Kompilierens über Verfahren der künstlerisch-kuratorischen Translokation, der De-Kontextualisierung und des Materialtransfers, also über Praktiken des Herausgrenzens von Bildern aus dem digitalen Milieu und der Neu(an)ordnung in Buchprojekten oder im Ausstellungsraum konnten veränderte Umgänge mit vorrangig photographischen Bildern im Internet künstlerisch reflektiert und produktiv gemacht werden. Da sind beispielsweise die Arbeiten aus der Reihe Am Rande der bekannten Welt von Francisco Vogel. Sie verdanken sich per Screenshot abphotographierten Ansichten aus Google Street View, wobei diese, von Markierungen und anderen Anzeichen ihrer digitalen Herkunft bereinigt, passepartouriert und gerahmt 7
Holschbach, Susanne: „Ordnungen des Fotoblogs. Kanalisierungsweisen (in) einer undisziplinierten Bildersammlung“, in: Thomas Abel/Martin Roman Deppner (Hg.), Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur, Bielefeld: Kerber 2013, S. 221–231, hier S. 225/226.
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ihren Ursprung suspendieren und wie klassische Panoramaphotographien anmuten. Die Montagen nehmen die Geschichte der Grenzziehungen in den Blick. Sie markieren den „Rand der bekannten Welt“ als Ende ihrer photographischen Erfassung durch die Aufnahmefahrzeuge von Google Street View. Die Orte, die die Bilder zeigen, entsprechen den Wendepunkten der fahrenden Kameras. Hier geht es nicht mehr weiter. Hier scheidet sich die bildwürdige Welt vom unentdeckten, visuell unerforschten Terrain. Die Arbeit Kleiderkreisel von Simone Stunz lässt sich als Indiz einer photographiegeschichtlichen Zäsur begreifen. Die verstörenden Porträts und Schnappschüsse mit rabiat ausradierten oder achtlos überkritzelten Gesichtern, die Stunz zu Bildtableaus arrangiert, hat sie auf der gleichnamigen Plattform für Secondhand Bekleidung gefunden. Hier wurden offensichtlich private Familienphotos zu Anwendungsbildern umgedeutet, wobei die einstige Erinnerungsfunktion (an Hochzeiten, Bälle, Sportereignisse) und das biographisch-erzählerische Moment der Bilder von der neuen Funktion der Warenpräsentation überlagert wurde. Was dabei Identifikation verhindern soll, ist zum (auto-) aggressiven Bild-Akt geraten. Man kennt solche Auslöschungen von Gesichtern aus Diktaturen – oder aus Spielfilmen über Gewaltregime. Im ersten Fall kommt ihnen eine politische Funktion zu, wobei mit den Retuschen die Existenz der betroffenen Personen samt der Erinnerung an sie ausgelöscht werden sollte, im zweiten Fall trägt die Auslöschung eine symbolische Bedeutung, die auf der Stellvertreterfunktion der Photographie basiert. Stand der Glaube, dass ein Bild auf magische Art etwas von dem enthält, was es abbildet am Anfang unseres Umgangs mit Bildern, scheint das Photo im digitalen Zeitalter seine „teilweise Identität von Bild und Gegenstand“8 einzubüßen. Das Moment der photographischen Einbalsamierung, der fossilen Bannung (André Bazin zufolge bewahrt die Photographie den abgelichteten Gegenstand „wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten aus einer fernen Zeit“9) oder, wie Roland Barthes formulierte „Emanation des Referenten“10, macht einer wesentlich pragmatischeren Sicht auf Photographien Platz, die ihre Bilder auf Verwertbarkeit hin zurichtet. Allerdings, auch das gehört bekanntlich zur Logik des digitalen Bildes, ist der memorialisierende Charakter nicht verloren, sondern lediglich auf einer der potentiell unendlich vielen Versionen des Bildes übertüncht, die 8 9
S. Sontag: Über Fotografie, S. 151. Bazin, André: „Ontologie des photographischen Bildes“ [1945], in: Ders., Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 33–42, hier S. 39. 10 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 90.
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seine anderen Aufgaben als Datensatz, Ausbelichtung, Print etc. in ihrer biographisch-erzählerischen Funktion unberührt lässt. Tatsächlich verschwinden die Bilder so wenig, wie die Personen die sie zeigen. Im Gegenteil: zur Bilderwelt des Internets gehört ein in den Schleifen des ständigen Kopierens gewonnenes ewiges Leben ohne Aussicht auf die Gnade des Vergessens. Um dieser nachhaltigen Bedrohung und einer missbräuch lichen Verwendung der Bilder entgegen zu wirken, setzt die App Snapchat ein Verfahren ein, mit dem sich die Haltbarkeit von Bildern begrenzen lässt. Die Bilddateien zerstören sich nach kurzer Zeit selbst. Für die angestrebte Kommunikation per Handybild ist diese Maßnahme allerdings ebenso sinnfällig wie trügerisch. Per screenshot rettet die Arbeit Lonely legs von Cara Schröder die Photographien aus der Bildkommunikation via Smartphone-App vor dem digitalen Verglühen. Dabei wahrt Cara Schröder die Identität und Intimsphäre der Beteiligten und beschränkt ihre Auswahl auf das beständig wiederkehrend Motiv der auf Sofas und Betten ausgestreckten und aus Point-of-View-Perspektive photographierten ‚einsamen Beine‘, die in ihrer motivischen Redundanz einerseits vorführen, wie Bilder im kommunikativen Akt zu standardisierten Formeln geraten und dem Betrachter andererseits Raum zu Spekulationen über die beteiligten Menschen und ihr Leben lassen. Dieses Spiel mit Standardisierung und gleichzeitiger Varianz untersuchen auch die Photobuchprojekte von Editing the World, die sich in motivischer Reihung an ‚Lärmschutzwänden‘, Gerichtsphotographien (‚Verdeckte Ermittlung‘) Bildmarkierungen (‚Zensur‘ oder ‚Grüne Pfeile‘) oder ‚Selfies‘ abarbeiten, wobei sich letztere immer wieder anders missglückten Versuchen verdanken, Spiegel für den Verkauf auf Ebay zu photographieren. Die Buchprojekte deuten solche Gebrauchsbilder über die in der Anwendung zutage tretenden Fehler und den diesen Fehlern innewohnenden repetitiven formalen Qualitäten zu photographischen Serien um. Dabei öffnet sich das Bild für eine Vielzahl an Sinnzuschreibungen, andererseits flammt gerade an dieser vermeintlichen Gefügigkeit des Visuellen die Widerständigkeit der Bilder auf, die sich der Kontrollmacht durch den Bildproduzenten ebenso entziehen, wie den Sinnbildungsabsichten ihrer Verwerter. Dort, wo Gebrauchsphotos (etwa bei den zahllosen Photographien gesichtsloser Tatverdächtiger mit Aktenordnern vor dem Kopf) in einen inneren Widerspruch zu ihrer Verwendung oder Betextung treten, zeigt sich die grundsätzliche Widerständigkeit, oder, wie Burkard Michel doppeldeutig konstatiert, Undiszipliniertheit des Bildes: „Die Nicht-Steuerbarkeit des Bildsinns durch ihre Urheber und ihre nicht vollständige Subsumierbarkeit unter das Raster der Sprache stellen zwei Momente der Undiszipliniertheit der Bilder dar. Vom Betrachter hängt es ab, diese Form der Undisziplin als Emanzipation
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oder als Anarchie zu begreifen.“11 Die Behauptung einer bloßen Visualität der Gebrauchsphotographien im Internet ist nicht falsch, sie unterschätzt aber die grundsätzliche Widerständigkeit auch solcher Bilder und die Aktivität ihrer Betrachter. Wenn etwa, wie im Projekt Bildverschwendung geschehen, gewöhnliche Produktphotographien in mühseliger Kleinarbeit in Gemälde übersetzt werden oder wenn Lea Steinkampf für Brasilien Motive medialer Berichterstattung mit zartem Strich auf Fensterscheiben zeichnet, kann sich eine Archäologie der Gegenwart entfalten, die – bei aller innewohnenden Ironie – auch Gebrauchsphotographien ernst nimmt und ihnen im Schutzraum der Kunstausstellung den Status als Bilder zurückgibt.
11 Michel, Burkard: „Der Widerstand der Bilder“, in: T. Abel/M. R. Deppner (Hg.): Undisziplinierte Bilder, S. 105–127, hier S. 125.
Mareike Herbstreit
Kuratierte Performance in Marina Abramovićs The Artist Is Present Aktionskünste1 unterhalten ein sehr spezielles Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte, denn wie beispielsweise Philip Ursprung beschreibt, ähneln ihre Werke historischen Ereignissen.2 Demzufolge bestehen Performances aus einer einmaligen Situation, Handlung oder Aufführung und entfalten sich allein in der Gegenwart. Ihre Produktion und Rezeption fallen zeitlich zusammen – beides findet im Hier und Jetzt statt – und wer nicht vor Ort ist, verpasst diese Arbeiten. Die meisten Autoren erkennen in Aktionskünsten daher eine Ablehnung des Kunstmarktes oder auch der Sammlungs- und Ausstellungspolitik von Museen. Da eine zeitversetzte Rezeption der konkreten Kunst nicht möglich ist, ist sie durch diese Institutionen eben nicht handel- oder festschreibbar. Wohl am prägnantesten, und so oft zitiert wie kaum ein anderes Statement zur Performance Art, hat Peggy Phelan diese Eigenschaft formuliert und als Alleinstellungsmerkmal dieser Kunst ihr Verschwinden bestimmt: „Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented […] once it does so, it becomes something other than performance.“3 In den letzten Jahren wurde allerdings vermehrt darüber diskutiert, ob diese Vorstellung überhaupt aufrechtzuerhalten ist.4 Denn es lässt sich zunächst recht 1
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Ich verwende die Begriffe ‚Aktion‘ und ‚Performance‘ synonym. Streng genommen wird ‚Aktion‘ eher zur Bezeichnung der frühen Phase dieser Kunst verwendet und betont den Handlungsaspekt, während ‚Performance‘ erst seit den späten 1960er Jahren gebräuchlich ist und dem Aufführungscharakter Nachdruck verleiht. In der aktuellen Literatur ist inzwischen allerdings eine weitgehende Gleichsetzung festzustellen. Ursprung, Philip: „Performative Kunstgeschichte“, in: Verena Krieger (Hg.), Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 213–226. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993, S. 146. Exemplarisch: Jones, Amelia/Heathfield, Adrian (Hg.): Perform, Repeat, Record. Live Art in History, Bristol/Chicago: Intellect 2012; Maude-Roxby, Alice (Hg.): Live Art On
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simpel feststellen, dass diese Kunst, trotz ihres vermeintlichen Verschwindens, über eine Historie verfügt. Unser Umgang mit Performancekunst ist nicht auf das Erleben der Aktionen beschränkt. Vielmehr nehmen wir einen Großteil dieser Werke auf der Grundlage von sogenanntem sekundären Material wahr – also auf der Grundlage von Berichten und Beschreibungen, Photographien und Filmaufnahmen, Erinnerungsstücken und Resten. Anhand solcher Dokumente wird Performance nicht nur wahrgenommen, sondern auch kommentiert und interpretiert. Wahrscheinlich kaum eine Aktion aus den 1960er und 1970er Jahren wäre uns noch bekannt, hätte nicht eine textliche, bildliche oder objekthafte Archivierung, Musealisierung und eben Historisierung stattgefunden.5 In einem einfachen Verständnis kann dem folgend jede nachträgliche Ausstellung von Performancekunst als ein ‚Kuratieren von Geschichte‘ bezeichnet werden, da mit Dokumenten, Phelan folgend dem ‚Anderen‘, etwas Vergangenes (in diesem Fall das vergangene Kunstwerk) präsentiert oder repräsentiert, bisweilen auch rekonstruiert – im Grunde als Geschichte erst produziert wird. Allein daraus ergeben sich eine ganze Reihe von Fragen: Von jener, was es bedeutet, in einem Kunstmuseum ‚nur‘ Dokumente auszustellen, über die Verantwortung des Geschichte konstruierenden Ausstellungsmachers und wie es überhaupt zulässig und möglich sein kann, eine nicht festlegbare Kunst auf diese Weise zu zeigen. Bis zu jener Frage, ob es nicht vielleicht zweite Werke sind, die es auf diese Weise zu sehen gibt – also, um noch einmal Phelan heranzuziehen, ‚andere‘ Werke. Seit einiger Zeit ist beispielsweise eine immer größere Aufmerksamkeit für die Photographen und Filmemacher zu beobachten, die Aktionen aufgenommen haben.6 Und durch diese Tendenz zur Bestimmung eines anderen Autors wird dann häufig auch ein anderes Werk konstatiert. Ein solches Vorgehen löst aber mitnichten das Problem. Es wird damit schlicht jedes Dokument wieder (vielleicht sogar umso stärker) aus dem Bereich ausgegrenzt, der als Performance Gültigkeit besitzen soll – also behauptet, es sage eigentlich nichts über das Ereignis.
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Camera. Performance and Photography, Southampton: John Hansard Gallery 2007; Giannachi, Gabriella/Kaye, Nick/Shanks, Michael (Hg.): Archaeologies of Presence. Art, performance and the persistence of being, Abingdon/New York: Taylor & Francis 2012; Clausen, Barbara (Hg.): After the Act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst (= Reihe Theorie, Bd. 3), Wien: MUMOK 2006. Anschaulich bei: Goldberg, RoseLee: Performance Art. From Futurism to the Present, London: Thames & Hudson 1979. Hervorzuheben sind Babette Mangolte, Kurt Kren, Peter Moore, Ohtsuji Kiyoji.
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Überdies wäre es vermessen, anzunehmen, Aktionskünstler seien sich dieser Abläufe nicht bewusst. Natürlich wissen sie um den Fakt, dass eine Historisierung ihrer Positionen insbesondere auf der Grundlage von sekundärem Material geschieht. Und somit ist es auch kaum überraschend, auf der Suche nach der Herkunft der Dokumente fast immer auf die Performer selbst zu stoßen. Die Aktionskünstler sind maßgeblich an der Produktion und Bewahrung von Dokumenten beteiligt: In der Regel sind sie es, die den Auftrag zur Aufnahme geben, zuvor festlegen, wie diese zu tätigen sei, anschließend das Material auswerten und bestimmen, welches an die Öffentlichkeit gelangt.7 Aber heißt das, dass diese Künstler ihre Aktionen eventuell gar nicht auf ein in der zentralen Literatur postuliertes Verschwinden,8 also auf ein Sein nur in der Gegenwart, angelegt haben? Heißt das, sie haben vielmehr schon während des Ereignisses dessen Geschichte kuratiert? Und wie ist mit diesem Umstand, sollte er zutreffen, umzugehen? Muss dann die Vorstellung aufgegeben werden, diese Kunst ereigne sich ausschließlich im Hier und Jetzt? Seit ungefähr 15 Jahren wird vor allem die letzte Frage unter Performancetheoretikern vermehrt diskutiert. Philip Auslander hat sie beispielsweise ganz klar mit Ja beantwortet. Er ist der Überzeugung, eine Performance konstituiere sich grundsätzlich erst über ihre Dokumente als Performance und Liveness allein verfüge über keinen eigenständigen Wert.9 Es sei damit auch unwesentlich, ob die ursprüngliche Aktion vor einem Publikum stattfand oder ob sie nur für ein Medium, also nur für die Aufnahme durchgeführt wurde. Ob also der Rezipient die Produktion miterlebte oder nicht. Für Auslander ist Performance in letzter Konsequenz gerade nicht die Durchführung eines ephemeren Ereignisses, sondern ein allein vom Künstler produziertes Werk.10 Christopher Bedford schlägt einen etwas anderen Weg vor, mit dem Problem umzugehen – vor allem, um das Live-Ereignis nicht derart zu entwerten. Zwar sollte seiner Meinung nach ebenfalls nicht von einer ephemeren Ontologie der Aktionskunst ausgegangen werden – das Verschwinden charakterisiert also auch für ihn nicht das Wesen
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Dass es diesbezüglich eine Reihe von nicht geklärten Fragen, auch das Urheberrecht betreffend, gibt, zeigt nicht zuletzt der Streit Eva Beuys mit dem Schloss Moyland. Dieser konzentriert sich insbesondere auf die Frage, ob Photographien einer Aktion Joseph Beuys‘ von 1964, die Manfred Tischer aufnahm, als Bearbeitung gewertet werden sollen. 8 P. Phelan: Unmarked. 9 Auslander, Philip: Liveness. Performance in a mediatized culture, second edition, New York/London: Routledge 2008; Auslander, Philip: „Zur Performativität der Performancedokumentation“, in: B. Clausen (Hg.), After the Act, S. 21–34. 10 P. Auslander: Zur Performativität der Performancedokumentation.
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von Performance – doch nimmt das Ereignis in seinem Vorschlag weiterhin eine wortwörtlich ‚ausschlaggebende‘ Rolle ein. Er bestimmt diese Kunst als viral und behauptet, das am Anfang stehende Geschehen finde schlicht kein Ende, da sich jede Aktion gerade durch ihre Historisierung weiterschreibt und damit weiter ereignet.11 Tendenziell ist dies auch in Ursprungs Position angelegt, wenn er prinzipiell eine ‚performative Kunstgeschichte‘ fordert, mit der klargestellt wird, wie jedes Schreiben über Kunst Bedeutung produziert.12 Anhand von Marina Abramovićs The Artist Is Present können die beschriebenen Probleme, Fragen und auch Möglichkeiten anschaulich beziehungsweise überprüfbar werden – zumal, da sie sich aus der historischen wie auch aus der aktuellen Perspektive beobachten lassen. Zum einen firmierte unter diesem Titel ihre große Retrospektive im Museum of Modern Art in New York, dem MoMA, bei der im Jahr 2010 vermeintlich vergangene Kunst nachträglich gezeigt wurde. Abramović gilt zwar als vehemente Verfechterin der Vorstellung, Aktionskunst beschränke sich auf die Präsenz im Hier und Jetzt,13 in ihrer Retrospektive wurde aber deutlich, wie auch sie die Historisierung ihrer Arbeiten anhand von sekundärem Material mitberücksichtigt, um nicht zu sagen, kontrolliert. Genau dieses war vom Besucher zum anderen auch ‚live‘ zu beobachten. Zur Ausstellung führte die Künstlerin unter dem gleichen Titel eine Performance durch, die ihre eigene Historisierung bereits deutlich einbezog. Im Folgenden gilt es, die Methoden dieser zweifach kuratierten Geschichte herauszuarbeiten und letztendlich zu fragen, was dies für eine ephemere Kunst bedeutet.
Die Retrospektive Insgesamt 72 Tage14, von Mitte März bis Ende Mai 2010 war Marina Abramović im MoMA präsent. Vielleicht müsste man sogar sagen, ‚omnipräsent‘. Unter dem Titel The Artist Is Present konnte eine Gegenwärtigkeit der Künstlerin schließlich gleich mehrfach erfahren werden. Vorrangig war sie während der 11 Bedford, Christopher: „The Viral Ontology of Performance”, in: A. Jones/A. Heathfield (Hg.): Perform, Repeat, Record, S. 77–87. 12 P. Ursprung: Performative Kunstgeschichte. 13 Vgl. Marina Abramović im Gespräch mit Amelia Jones: „The Live Artist as Archaeologist”, in: A. Jones/A. Heathfield (Hg.): Perform, Repeat, Record, S. 543–566, hier S. 546. 14 Die Angabe der Dauer in Tagen variiert. Eine häufige Nennung ist 77 Tage, vermutet werden kann jedoch, dass dies eine Vorausberechnung gewesen ist, welche sich nur an der angesetzten Wochenzahl orientierte und Feiertage u. ä. unberücksichtigt ließ.
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gesamten Dauer ihrer Ausstellung in der Tat leiblich anwesend. Prominent platziert im Marron Atrium, also an einem für Besucher des Museums kaum zu übersehenden Bereich, führte Abramović die Aktion The Artist Is Present durch. Tag für Tag saß die Künstlerin auf einem Stuhl, einen zweiten vor sich, der die Besucher einlud, sich ihr gegenüber zu setzen, um mit ihr in einen non-verbalen Dialog zu treten. Neben dieser nach kurzer Zeit als Spektakel15 geltenden ‚Durational Performance‘, war zudem im fünften Stock des Gebäudes unter dem gleichen Titel ihre groß angekündigte Retrospektive zu sehen. Und auch hier schien die Künstlerin präsent – jedoch in ganz anderer und facettenreicher Weise: Auf Photographien, Monitoren und Leinwänden begegnete man ihrem Antlitz. Tagebucheinträge und Skizzen zeugten von ihrem Leben und dem Prozess der Ideenfindung. Und sogar materielle Gegenstände aus den vergangenen Aktionen waren zu bestaunen.16 Nicht zuletzt wurde Abramovićs Arbeit überdies mithilfe der Wiederholung ausgewählter Aktionen durch speziell geschulte Darsteller veranschaulicht. Diese relative Neuheit, Performance Art auszustellen, ist im Übrigen jene, für die sich die Künstlerin besonders stark macht.17 Sie wurde in den Rezensionen, in denen sie noch recht undifferenziert mal als ‚Reperformance‘, mal als ‚Reenactment‘ bezeichnet wird, allerdings in Hinblick auf die Retrospektive eher als unzureichende Möglichkeit beschrieben.18 Nichtsdestotrotz führte Abramović den Besuchern in The Artist Is Present zumindest scheinbar sämtliche Möglichkeiten musealisierter, ergo kuratierter Performance vor Augen.
15 ‚Spektakel‘ oder ‚spektakulär‘ wurden von verschiedenen Autoren zur Beschreibung eingesetzt, vgl. Oosterom, Sander: A Spectacular Performance. Some notes on Marina Abramovic’s The Artist is Present, 2012, https://www.academia.edu, abgerufen am 31.05.2016. 16 Diesen sogenannten Aktionsrelikten widme ich mich in meiner Dissertation unter dem Titel Aktionsrelikte. Ausgestellte Authentizität bei Chris Burden und Marina Abramović. 17 Abramović, Marina: 7 easy pieces, Ausstellungskatalog, 2005, Guggenheim Museum New York, Mailand/New York: Edizioni Charta 2007. 18 Vgl. Köhler, Andrea: „Die Pythia der Performance. Marina-Abramovic-Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art: The Artist Is Present, in: Neue Züricher Zeitung vom 03.04.2010, http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/kunst_architektur/die_pythia_ der_performance_1.5367427.htmh, abgerufen am 31.05.2016; Cotter, Holland: „Performance Art Preserved, In the Flesh“, in: The New York Times vom 12.03.2010, S. 25–27; Mejias, Jordan: „Ewiges Leben für die Vergänglichkeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.03.2010, S. 31; Westcott, James: „Artist Marina Abramović: ‚I have to be like a mountain‘“, in: The Guardian vom 19.03.2010, http://www.theguardian.com/ artanddesign/2010/mar/19/art-marina-abramovic-moma, abgerufen am 31.05.2016.
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Aber widerspricht sie damit nicht der ephemeren Charakterisierung dieser Kunst? Also der Annahme, dass sich Performances im Ereignis erschöpfen? Christopher Bedford, der für das Burlington Magazin eine Besprechung der Retrospektive vornahm, ist davon überzeugt und zugleich begeistert. Für ihn handelt es sich bei der Ausstellung um „a cacophonous rebuke“19 auf Peggy Phelans Position. Er führt weiter aus: „If Phelan’s point is that performance art can only exist in the present, Abramović’s rejoinder is that performance can have many presents.“20 Grundsätzlich stimme ich der Möglichkeit zu, dass Performance Art in sehr unterschiedlicher Gestalt auftreten kann. Bedfords Einschätzung ist jedoch vereinfachend, weil übereilt. So muss zunächst geklärt werden, ‚als was‘ die hier ausgestellten Exponate präsentiert wurden, bevor sie einer wie auch immer gearteten Erscheinungsform von Performance zugeordnet werden können. Simplifizierend könnte zwar behauptet werden, alles, was in einem Kunstmuseum präsentiert wird, sei spätestens mit dieser institutionellen Legitimierung als Kunst anerkannt – und damit sei hier wohl Performance Art zu sehen. Dies wäre aber auch eine Bankrott-Erklärung für die angenommenen Ziele der Aktionskunst. Schließlich sollte mit dieser das Erleben wichtiger werden als das Kaufen und durch ihren ephemeren Charakter eine Musealisierung, also eine auf Dauer angelegte Bewahrung, ausgeschlossen sein. Die Institutionen Kunstmarkt und Museum und ihre Funktionsweisen sollten auf die Probe gestellt werden. Mit einem Blick darauf, wer hier ausgestellt wurde, scheint eine dezidierte Abkehr von solch üblichen Vorstellungen von Performance Art aber ohnehin eher unwahrscheinlich. Abramović hält nämlich entschieden an der Idee fest, Aktionskunst ereigne sich nur im Hier und Jetzt und könne nicht aufgezeichnet werden. Sie beschreibt sich unter anderem selbst gar als „Großmutter der Performancekunst“, die nie aufgehört habe, diese Kunst und ihre Ideale zu vertreten.21 Und noch kurz vor der Ausstellung hat sie darauf hingewiesen, sie sei 19 Bedford, Christopher: „Marina Abramović, New York“, in: The Burlington Magazine, 152 (2010), Heft 1288, S. 502–503, hier S. 502. 20 Ebd., S. 503. 21 Vgl. Brockes, Emma: „Performance Artist Marina Abramović: ‚I was ready to die‘“, in: The Guardian vom 12.05.2014, http://www.theguardian.com/artanddesign/2014/ may/12/marina-abramovic-ready-to-die-serpentine-gallery–512-hours, abgerufen am 31.05.2016.
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völlig einer Meinung mit Peggy Phelan.22 In der Retrospektive Performance in anderer Erscheinungsform, also Performance als über den aktuellen Moment des Erlebens hinaus existierend, zeigen zu wollen, entspricht demnach nicht dem Standpunkt der Künstlerin. Eine Lösung des vermeintlichen Widerspruchs ist indes bereits in Bedfords Ausführungen angelegt: In seine Formulierung nimmt er mit ‚cacophonous‘ ein überaus irritierendes Element der MoMA-Präsentation auf, das wohl keinem Besucher entgangen sein dürfte, und dieses ist möglicherweise für eine Bewertung der Exponate maßgeblich. Auch Randy Kennedy stellte in seiner Besprechung der Ausstellung für die New York Times fest „the new Marina Abramovic retrospective can be heard before it is seen“23 und meint damit nicht die bemerkenswert umfassende Werbung, die für The Artist Is Present im Vorfeld gemacht wurde, sondern einen akustischen Umstand. Bereits im Eingangsbereich zur Retrospektive konnte wahrgenommen werden, dass es sich um eine laute Präsentation handelte. Nicht nur war hier die Installation zu Relation in Movement aufgebaut, die unter anderem aus einer Tonspur der monoton Runden zählenden Stimme Abramovićs besteht, sondern schallte es auch vielstimmig aus den Haupträumen der Ausstellung hervor. Dieser Voreindruck wurde mit dem Eintritt in den ersten Teil von The Artist Is Present bestätigt: Neben stillen photographischen Dokumenten und einer objekthaften Rekonstruktion, waren hier vier Projektionen zu sehen, und eben zu hören. Zusätzlich tönten aus dem zweiten Raum die Sounds von mindestens zwei weiteren Filmen herüber. Als Besucher befand man sich so mitten in einer phonetischen Collage aus Schreien (Freeing the Voice), einer Aufzählung serbischer Worte (Freeing the Memory), einem Trommelrhythmus (Freeing the Body), der wiederholten Versicherung, dass Kunst und Künstler schön zu sein hätten (Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful), dem Klatschen von Ohrfeigen (Light/Dark) und wiederum lautem Schreien (AAA–AAA). Diese Geräuschcollage ließ kaum noch zu, die einzelnen Tonspuren auseinanderzuhalten – bisweilen war nicht einmal zu
22 Westcott, James: When Marina Abramović Dies. A Biography, Cambridge: MIT Press 2010, S. 287. 23 Kennedy, Randy: „Who’s Afraid of Marina? “, in: The New York Times vom 20.03.2010, www.nytimes.com/2010/03/20/arts/design/20marina.html?pagewanted=all, abgerufen am 31.05.2016.
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identifizieren, welche Klänge zu welchen Bildern gehörten – und einige gingen in der Überlagerung gänzlich verloren.24 Nun bin ich nicht der Meinung, dies belege eine schlechte, da räumlich zu enge, Konzeption der Ausstellung. Ich gehe vielmehr von einem gezielten Einsatz dieser Rezeptionsüberforderung aus.25 Durch sie war eine kontemplative Versenkung in einzelne Ausstellungsstücke faktisch ausgeschlossen und ich bin überzeugt davon, dass dadurch ihr besonderer Status betont werden sollte. Indem den einzelnen Exponaten nicht reichlich (akustischer) Raum zur Verfügung gestellt wurde, fand quasi ihre Abwertung statt, die als Negierung eines Kunstwerkstatus ausgelegt werden kann.26 Es wurde somit klargestellt, dass hier nicht die Kunst selbst zu sehen war. Damit wäre im Übrigen auch erklärt, warum die Wiederholungen in den Besprechungen zur Ausstellung ziemlich schlecht abschnitten. In den Rezensionen ist immer wieder davon die Rede gewesen, es hätte sich um „Performance light“27 gehandelt oder auch, ihnen hätte die auratische Strahlkraft Marina Abramovićs gefehlt.28 Wenn sie hier aber gar nicht als Performances, sondern ausschließlich als Dokumente präsentiert wurden, handelt es sich bei diesen Einschätzungen schlicht um ein Missverständnis. Möglicherweise fanden Abramović und das Ausstellungsteam somit eine Möglichkeit, eine ephemere Kunstform museal zu präsentieren, dabei aber zugleich den Mangel einer solchen nachträglichen Darstellung sichtbar werden zu lassen. Klassische Vorstellungen über Performance Art, wie ihre Charakterisierung als ephemer, könnten mit diesem Vorgehen aufrechterhalten werden, obwohl es zu einer summarisch vollständigen Präsentation kommt.
24 Der Rhythmus der Trommel aus Freeing the Body war beispielsweise nicht mehr wahrzunehmen – auf Nachfrage wurde mir jedoch versichert, dass er aufgedreht war. 25 Diese eindringlichen und sich ins Gehege kommenden Sounds wurden von allen, mit denen ich über ihren Ausstellungsbesuch gesprochen habe, als Eigentümlichkeit genannt. Eine befreundete Wissenschaftlerin erzählte mir sogar, sie sei so überfordert (oder auch genervt) gewesen, dass sie es nicht länger als wenige Minuten in diesen Räumen der Retrospektive aushalten konnte. 26 In diesem Fall wäre es eine Umkehrung der Regeln des White Cube, wie Brian O’Doherty sie beschreibt. O’Doherty, Brian: In der weissen Zelle/Inside the White Cube [1976/1986], Berlin: Merve 1996. Ebenso ließe sich argumentieren, die Rezeptionsüberforderung solle den Mangel an leiblicher Erfahrung durch die Nachträglichkeit der Präsentation kompensieren. Dies gebe ich in meiner Dissertation zu bedenken. 27 J. Mejias: Ewiges Leben für die Vergänglichkeit, S. 31. 28 H. Cotter: Performance Art Preserved, S. 27.
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Ein Bewusstsein für die Historisierung Für die Frage, ob Aktionskünste möglicherweise selbst ihre Geschichte kuratieren, ist die Angelegenheit indes problematischer. Wenn im MoMA der Status des Ausgestellten als nur sekundär betont wurde, wird deren Existenz für Überlegungen, die das Ereignis betreffen, sogar besonders brisant. Allein die hohe Anzahl der Dokumente legt die Annahme nahe, jede einzelne Aktion Abramovićs könne nachträglich anschaulich gemacht werden – für alle stünden Photos, Filme oder Gegenstände zur Verfügung – und dies lässt vermuten, hier habe gar nicht eine sich ausschließlich ereignende Kunst stattgefunden. In der Tat hat die Künstlerin von Beginn ihrer Karriere an auf eine lückenlose Dokumentation ihrer Performances geachtet. Dies legte sie auch ihren Studenten in Braunschweig nahe. In ihren Seminaren hat sie immer wieder betont, der Performer trage die Verantwortung, die eigene Arbeit für die Nachwelt zu bewahren und sollte darauf achten, dass die Dokumente den eigenen Vorstellungen adäquat seien.29 Das Bewusstsein für eine Historisierung anhand von sekundärem Material und der Wunsch, diesen Vorgang zu steuern, zeigt sich bei Abramović im Übrigen auch in ihrer Bereitschaft, sich finanziell annährend zu ruinieren, als sie nach der Trennung von Ulay, mit dem sie zwölf Jahre zusammen gelebt und gearbeitet hatte, diesem die Rechte an sämtlichem Bildmaterial abkaufte.30 Diese Hinweise auf eine Kontrolle der Historisierung durch die Künstlerin führen zurück zur Ausgangsfrage: Kann es sein, dass schon im Ereignis dessen Geschichte kuratiert wurde? Und damit meine ich ein Kuratieren von Geschichte, das darüber hinausgeht, für die Aufnahme von Photos oder Ähnlichem zu sorgen.31 Ich meine vielmehr ein Kuratieren von Geschichte, welches das Ereignis selbst strukturiert, in letzter Konsequenz also bestimmt. Mehrere der in The Artist Is Present zu sehenden Exponate legen diese Vermutung nahe. Zumindest drängt sich bei vielen der Photographien und Film aufnahmen der Eindruck auf, es handele sich kaum um zufällige und nicht involvierte Aufnahmen von Ereignissen, sondern das Stattfindende sei von Beginn an (auch) auf eine Bildproduktion hin angelegt. Insbesondere die extrem symmetrisch aufgebauten Arbeiten, die zusammen mit Ulay entstanden, lassen
29 Vgl. Richards, Mary: Marina Abramović, New York: Routledge 2010, S. 133. 30 J. Westcott: When Marina Abramović Dies, S. 261. 31 Auch wenn schon dieses selbstverständlich ein Agieren auch ‚für‘ die Kamera impliziert.
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dies vermuten. Bei einigen Exponaten wird durch das Wechselspiel von Aktion und Aufnahme der Status des zu Sehenden aber sogar völlig unklar. Ein ziemlich eindrückliches Beispiel dafür ist Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful. Unter diesem Titel firmiert eine Performance, die Abramović 1975 in Kopenhagen aufführte. Mit aggressiven Gesten bürstete sie sich die Haare und wiederholte dabei immer wieder den Satz, Kunst und Künstler hätten schön zu sein. Für die zweistündige Performance hatte sie jemanden angeheuert, der die filmische Dokumentation übernehmen sollte. Mit dem Ergebnis war sie allerdings überhaupt nicht zufrieden. Daher zerstörte sie das Material und führte die Aktion direkt nach der ursprünglichen Performance noch einmal nur für die Kamera auf.32 Durch dieses Vorgehen ist aber der Status des endgültigen Films fast gar nicht zu klären. Er wird zwar üblicherweise als Dokumentation der Aktion präsentiert, jedoch muss gefragt werden, welcher Aktion überhaupt. Zumindest bei Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful muss Philip Auslander Recht gegeben werden. Offensichtlich war es Abramović völlig egal, ob die Performance mit oder ohne Publikum stattfand. Es ging ihr anscheinend weniger um ein stattfindendes Ereignis, sondern vielmehr darum, ein ‚Werk‘ zu produzieren. Bemerkenswert ist immerhin, wie sie in diesem Beispiel die ursprüngliche Performance ausnahmsweise tatsächlich völlig verschwinden lässt, also eigentlich ganz der ephemeren Charakterisierung der Aktionskunst entsprechend, aber nur zugunsten einer aus ihrer Perspektive angemesseneren, allerdings in gewisser Weise ‚gefakten‘ Historisierung. All dies wurde in ihrer Retrospektive nicht reflektiert. Vielmehr wurde in dieser, unter anderem durch die Strategie der Abwertung der Exponate, Performance als eindeutig ephemer präsentiert. Als etwas, das hier nur mangelhaft, wenn auch in der Anzahl der Arbeiten vollständig, gezeigt werden konnte. Marina Abramović wurde damit ausschließlich als Performance-Künstlerin vorgestellt – den Idealen der Kunstform völlig treu.
Das Bild der Performance Die im Atrium aufgeführte Aktion The Artist Is Present verlieh der Charakterisierung der Performancekunst als im Hier und Jetzt stattfindend über die Strategien des retrospektiven Teils hinaus Nachdruck. Nicht nur wurde als
32 Vgl. J. Westcott: When Marina Abramović Dies, S. 95; Heiser, Jörg: „Do It Again“, in: Frieze 94 (2005), S. 176–183, hier S. 176.
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besonderes Merkmal der Ausstellung die permanente leibhaftige Anwesenheit der Künstlerin herausgestellt. Überdies wurde, auch von Abramović selbst, die herausragende Erfahrung einer gegenwärtigen Präsenz betont, die der Teilnehmer an der Aktion mache.33 In der US-amerikanischen Presse fielen die Einschätzungen zum Gelingen dieses Anspruchs auch weitgehend positiv aus. Dort wurde The Artist Is Present gefeiert – als nahezu initiative Performanceerfahrung, welche die Eigenschaft dieser Kunst, als eine sich auf den Augenblick konzentrierende Interaktion, deutlich demonstriere.34 Besprechungen dieser Art machen in erster Linie sichtbar, wie überaus gut die Kontrolle durch die Künstlerin funktionierte – denn die meisten Autoren reproduzierten das, was Abramović bereits im Vorfeld angekündigt hatte. In den deutschen Feuilletons, also mit ein wenig räumlichem Abstand zu den im Vorfeld stattfindenden Werbeveranstaltungen, und auch bei vielen Performancetheoretikern war die Stimmung hingegen deutlich negativer. Moniert wurde hier insbesondere die „ästhetische Distanz“35 zum Geschehen, die bisweilen als „religiöse Überhöhung“36 der Künstlerin bezeichnet wurde, denn diese entsprach kaum der Vorstellung einer gemeinschaftlichen Situation im Hier und Jetzt. Durch die quadratische Markierung um das Geschehen und nicht zuletzt das Vorgehen der Wachmänner, die das Publikum rigoros auf Abstand hielten, wurde die Performance in der Tat zu einer stark formalästhetischen Erscheinung. Der Vermutung, hier gehe es (vielleicht nicht nur, aber auch) um Formal ästhetik, drängte sich insbesondere auf, als Abramović veranlasste, den Tisch, der ursprünglich zwischen ihr und dem jeweiligen Teilnehmer stand, zu entfernen. Im Dokumentarfilm von Matthew Akers, der zu The Artist Is Present 2012 in die Kinos kam, ist zu sehen, wie Abramovićs Assistent und der Kurator Klaus Biesenbach in Bezug auf das äußere Bild der Performance infolge dieser Entscheidung ziemlich nervös reagierten. Anscheinend überprüften sie genau, ob das ‚Bild‘ der Aktion noch stimmig blieb. Für eine solche Fixierung
33 Am deutlichsten und wiederkehrend in: MARINA ABRAMOVIĆ. THE ARTIST IS PRESENT (USA 2012, R: Matthew Akers). 34 Vgl. H. Cotter: Performance Art Preserved, S. 27. 35 Vgl. Fisher, Jennifer: „Proprioceptive Friction. Waiting in Line to Sit with Marina Abramović“, in: The Senses & Society 7 (2012), Heft 2, S. 153–173. Den Begriff ‚ästhetische Distanz‘ verwendet aber auch Erika Fischer-Lichte zur Beschreibung der Reenactments in Abramovićs 7Easy Pieces. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Performance Art – Experiencing Liminality“, in: M. Abramović: 7 easy pieces, S. 33–45, hier S. 44. 36 A. Köhler: Die Pythia der Performance; Lambert-Beatty, Carrie: „Against Performance Art“, in: Artforum (May 2010), S. 208–212, hier S. 212.
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auf die Form spricht auch das Verbot, die Aktion am Boden des Atriums zu photographieren und die gleichzeitige Erlaubnis von den höheren Etagen aus Bilder zu schießen, die sich via Internet, obwohl sie fast identisch waren, recht schnell en masse verbreiteten. Anscheinend war bewusst ein aus der Entfernung wahrnehmbarer Aufbau ‚als Bild‘ installiert worden. Die Aufnahmen aus der Nähe, die das MoMA selbst veröffentlichte, blieben überdies ebenfalls recht gleichförmig. An diese Beobachtungen anschließend, wurde in einigen Rezensionen dann auch in Frage gestellt, ob hier überhaupt eine lebendige Kunstform zu sehen sei.37 Gestützt wurde dieser Zweifel nicht nur durch den distanzierten Eindruck, den Abramović auf viele durch den räumlichen Abstand machte, sondern erschien sie bisweilen auch nahezu mortifiziert – ein Umstand, der mit ihrem weitgehend gleichbleibenden Ausdruck und ihrer seltsam wächsernen Haut (möglicherweise ein Resultat der Anstrengung) zusammenhängt. Insbesondere wurde die Aktion als Spektakel kritisiert, bei dem jeder dabei gewesen sein wollte – spätestens, nachdem sich Lady Gaga in einem Interview völlig begeistert von The Artist Is Present zeigte.38 Ein Spektakel, bei dem jeder seine 15 Minuten Aufmerksamkeit bekam. Und zwar nicht nur die Aufmerksamkeit durch die Künstlerin, sondern eine Aufmerksamkeit, die auch für ein Kuratieren von Geschichte relevant ist. Die Kunsthistorikerin Amelia Jones beschreibt ihre eigene Erfahrung Abramović gegenüber sitzend recht aufschlussreich als eine absolut unangenehme, weit entfernt von einem Energieaustausch und einer Konzentration auf den Moment. Sie empfand sich selbst vielmehr als Objekt und mit der Künstlerin nur Mitleid, da diese sich freiwillig der Unzahl von individuellen und photographischen Blicken aussetzte.39 Caroline A. Jones kritisierte die Aktion in ähnlicher Weise, aber sogar noch entschiedener und für das Thema der kuratierten Geschichte von Performance umso prägnanter. Für sie hatte The Artist Is Present nur noch minimal etwas mit Präsenz im Hier und Jetzt zu tun. Sie schreibt, die Erfahrung eines direkten intersubjektiven Blickaustauschs, die der Teilnehmende machen sollte, werde hier zur Randbemerkung. Und zwar durch die Freigabe der Rechte am eigenen Bild, die man unterzeichnen musste und 37 A. Köhler: Die Pythia der Performance; J. Mejias: Ewiges Leben für die Vergänglichkeit, S. 31. 38 Lady GaGa talks about Marina Abramović, am 30.05.2010, https://www.youtube.com/ watch?v=EVY 4Whayw0s, abgerufen am 31.05.2016. 39 Jones, Amelia: „The Artist is Present. Artistic Re-enactments and the Impossibility of Presence“, in: The Drama Review 55 (2011), Heft 1, S. 16–45, hier S. 18.
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auch durch die live-webcams, zu denen man sich positionierte, genauso wie zu dem Photographen, der schräg hinter Abramović seine Kamera installiert hatte, um von jedem Teilnehmenden ein Portrait zu schießen.40 „In short:“ die Erfahrung wurde zu einer Randbemerkung, durch den „overwhelming apparatus of the document“41. Caroline A. Jones ist damit der Überzeugung, nicht der Präsenz der Künstlerin und auch nicht jener der Besucher wurde die größte Aufmerksamkeit zu Teil, sondern der Aufzeichnung dieser Performance. Die Berücksichtigung der Historisierung wurde hier also nicht nur bedacht, sondern strukturierte das Geschehen von Anfang an mit.
The Artist Is Present Bezüglich des Themas kuratierter Geschichte ist die Angelegenheit folglich recht eindeutig: Es kann nicht davon gesprochen werden, die Performance The Artist Is Present habe als ein Ereignis stattgefunden, das erst nachträglich historisiert wurde. Vielmehr wurden von Anbeginn Vorkehrungen für eine Historisierung getroffen und diese wirkten sich entscheidend auf die Aktion selbst aus. Weniger eindeutig ist hingegen, was dies für die Vorstellungen über Performance Art bedeutet, die mit ihrer Kennzeichnung als ephemere Kunst zusammenhängen. Während Caroline A. Jones wie beschrieben von einer deutlichen Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Augenblick auf die Mittel zur nachträglichen Darstellung ausgeht, äußern andere Autoren die Meinung, das Hier und Jetzt sei für diese Aktion dennoch zentral. Holland Cotter schreibt beispielsweise, „it will slow them [die Besucher] down, get them out of drive-by looking mode“42 und spricht der Performance insofern durchaus eine Wirkung zu, die nur vor Ort erlebt werden konnte. Die Kunsthistorikerin Mechthild Widrich hält sogar ganz dezidiert an den Kategorien Authentizität und Präsenz zur Beschreibung der Erfahrung von The Artist Is Present fest. Sie ist zwar der Meinung, Präsenz werde erst gemeinschaftlich gefestigt, doch ist es jene der sich Gegenübersitzenden, die für sie im Vordergrund steht.43 Offensichtlich 40 41 42 43
Jones, Caroline A.: „Staged Presence“, in: Artforum (May 2010), S. 213–219, hier S. 218. Ebd. H. Cotter: Performance Art Preserved, S. 27. Widrich, Mechtild: „Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance. Marina Abramovićs The Artist is Present“, in: Uta Daur (Hg.), Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld: Transcript 2013, S. 147–166.
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blieb Abramović also, trotz der Historisierungskontrolle, zugleich weiterhin als legitime „Großmutter der Performance“ wahrnehmbar. Ich bin sogar der Ansicht, ein Großteil der Kontrolle sollte genau diesen Zweck erfüllen. Dies war nur durch Strategien erreichbar, wie jene, die ich bereits anhand des retrospektiven Teils von The Artist Is Present beschrieben habe und die ich als Möglichkeit einer Umwertung bezeichnen möchte. Während es im sechsten Stock vor allem um eine Abwertung ging, äußerte sie sich im live aufgeführten Teil insbesondere durch ein Zurücktreten Abramovićs als Autorin und damit einer Trennung zwischen der Aktion und ihrer Aufnahmen. Die Künstlerin hat sich beispielsweise in einem Interview, das direkt vor The Artist Is Present geführt wurde, gegen die Vermutung ausgesprochen, ein Live-Stream könne Aktionen adäquat vermitteln. Dadurch distanziert sie ihre Arbeit entschieden von der Übertragung, die im MoMA stattfand und die ein im Aufbau gleichbleibendes Bild der Performance öffentlich machte.44 Und auch die Produktion der photographischen Portraits der Teilnehmenden scheint nicht in Abramovićs Verantwortung zu liegen. Sie wurden, und dies war bekannt, von Marco Anelli, also einem anderen Künstler, aufgenommen und auch die Publikation eines Buches mit diesen Bildern erfolgte unter seiner Autorschaft, nicht unter ihrer.45 Was ich zuvor angedeutet habe, wird hier anschaulich: Indem Abramović mit einem anderen Künstler zum Zweck der Dokumentation ihrer Arbeit zusammenarbeitet, kann sie tatsächlich diese Aufnahmen als ein ‚Anderes‘ kennzeichnen. Im Zweifel kann, wie erwähnt, über die Existenz eines anderen Autors ein anderes Werk geltend gemacht werden.46 Um Abramović in The Artist Is Present weiterhin als typische Performance künstlerin wahrnehmen zu können, ohne dass ihre vermeintlich authentische Präsenz den Bewahrungsmaßnahmen zum Opfer fiel, war hier aber noch mehr nötig. Dies ist es indes, was für Fragen, die mit dem Ereignis selbst in Zusammenhang stehen, besonders aufschlussreich ist. Wie auch Mechthild Widrich beobachtet, fand in der Aktion eine Überlagerung von Nachträglichkeit und aktuellem Geschehen statt. Noch während die Performance andauerte, 44 Tatsächlich bleibt sogar völlig unklar, wer für den Stream verantwortlich zeichnete. 45 Anelli, Marco: Portraits in the Presence of Marina Abramović, Bologna: Damiani Editore 2012. 46 Anhand der filmischen Aufnahme von Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful ist deutlich geworden, inwiefern Kontrolle dennoch eine Rolle spielt. Dass Abramović bereits seit einigen Jahren eng mit Anelli bei Aktionen und Photoarbeiten kooperiert, ist für die Photographien von The Artist Is Present ohnehin eine aufschlussreiche und bislang nur unzureichend thematisierte Tatsache.
Kuratierte Performance in Marina AbramoviĆs The Artist Is Present 121
konnte sie medial vermittelt wahrgenommen werden – die Rezeption anhand dokumentarischen Materials war zeitlich noch vor der Teilnahme vor Ort möglich beziehungsweise sogar wahrscheinlich. Widrich argumentiert aus einer wahrnehmungstheoretischen Perspektive, dadurch könne verdeutlicht werden, wie trotz real erfahrener Präsenz im Hier und Jetzt diese nur durch eine gemeinschaftliche Kommunikation, also über Zeugen und Dokumente, spezifisch werde.47 Damit stärkt sie insbesondere die Rolle des Publikums für die Historisierung der Aktion. Ich möchte zu bedenken geben, dass die Beobachtung der Überlagerung auch als Vorstrukturierung beschrieben werden kann und ihr damit in höherem Maße Intentionalität zuweisen. So war es doch ‚integraler‘ Bestandteil der Aktion, eine Historisierung vorzuformulieren und zeitgleich durchzuführen. Der Live-Mitschnitt, der parallel auf der Internetseite des MoMA als Stream angeschaut werden konnte, installierte, noch während die Aktion lief, einen anscheinend idealen Standpunkt des Betrachters zu der Aktion. Und die Portraits, die von jedem Teilnehmenden gemacht wurden, und die ebenfalls noch während The Artist Is Present stattfand auf flickr veröffentlicht wurden, bestimmten die intersubjektive Kommunikation durch Blicke als den Inhalt der Performance.48 Meines Dafürhaltens wurde so mit der Überlagerung von medialer Vermittlung und Live-Erleben, eine Methode installiert, die aktuelle Wahrnehmung der bleibenden anzugleichen. Und gerade durch diese beständige Kongruenz, in der sich Erwartung, individuelles Erleben und nachträgliche Reflexion deckten, wurde die Realität der Präsenzerfahrung bestärkt. In diesem Sinne kann davon gesprochen werden, dass die Aktion von Vornherein ‚als‘ Ereignis strukturiert wurde, welches Abramović weiterhin als authentische Performancekünstlerin bestätigte. Was dies in letzter Konsequenz für das Ereignis bedeutet, ob sich dieses, Derrida folgend,49 durch die Vorstrukturierung auflöst oder ob, wie Widrich es für die Präsenz versucht, eine andere Vorstellung von Ereignis denkbar ist, kann ich hier nicht hinreichend beantworten. Ich möchte allerdings in Hinblick auf The Artist Is Present auf eine weitere Möglichkeit hinweisen. Denn war nicht die eigentliche Sensation der Retrospektive, dass Abramović mit ihr 47 M. Widrich: Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance, S. 162. 48 Übrigens auch, indem sie bereits während die Show lief, im Internet zur Verfügung gestellt wurden und zu solchen Zusammenstellungen wie unter der Internetseite „MarinaAbramovicMadeMeCry“ führten. 49 Vgl. Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen [1997], Berlin: Merve 2003.
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die Historisierung ihrer Position (denn was ist eine Retrospektive im MoMA sonst) selbst in die Hand nahm? Dadurch kann ihre Aktion im Atrium auch als Thematisierung dieses Vorgangs verstanden werden. Denn grundsätzlich gilt: Künstler wie Abramović fixieren sich mitnichten naiv auf die Präsenz im Augenblick, sind aber auch nicht einzig auf das Nachhinein konzentriert, um ein Werk zu produzieren. Vielmehr machen sie sich die ohnehin vorhandenen Widersprüche zu nutze50 und betonen die Performativität der Historisierung selbst. Durch die vorgestellten Methoden Abramovićs ist die Historisierung also mitnichten abgeschlossen oder festgelegt – ist doch auch der vorliegende Text ein Teil von ihr – doch für den aktuellen Moment im MoMA und dessen Kontrolle wortwörtlich klargestellt: The Artist Is Present.
50 Mit der gleichzeitigen Inklusion des dokumentarischen Materials zur Bestimmung eines (bleibenden) Bildes der Performance und der Exklusion durch Kennzeichnung als Anderes, die es jederzeit ermöglicht, ein Dokument als nicht-adäquat aus der Wahrnehmung der Aktion auszugrenzen, ist eine überaus flexible Praxis etabliert. Dies ist es auch, was anhand der Wiederaufführungen als die von Abramović favorisierte Bewahrungspraxis sichtbar wird: Vermeintlich ist hier eine lebendige Kunst zu erfahren, da sogar reale Körper involviert sind, doch zugleich handelt es sich nicht um die originale Performance, sondern ‚nur‘ um ein Dokument. So können diese Wiederholungen ganz legitim immer wieder anders inszeniert werden. Das Œuvre der Künstlerin kann damit immer wieder anders gewichtet werden.
Thomas Lange
Jeremy Dellers Battle of Orgreave Gesellschaftsformierende Aspekte von Kunst im Konglomerat der Geschichte
In den Blick genommen wird diejenige künstlerische Arbeit an und mit Geschichte, die über Annäherungen an aktuelle oder aktualisierte gesellschaftliche und politische Ereignisse und deren Problemstellungen sich formiert. Eine künstlerische Praxis also, die sich nicht in Differenz zur Gesellschaft stellt, sondern an dieser durch künstlerische Praxis teilhat. Es wird zu zeigen sein, dass dies keineswegs die Aufhebung der Kunst-Leben-Dichotomie meint. Im Gegenteil: Kunst ist Teil des gesellschaftlich-politischen, letztlich geschichtlichen Lebens und sie kann, weil sie Kunst ist, als Kunst anders in Auseinandersetzungen, Prozesse, gesellschaftliche Veränderungen eingreifen, kann sie anders kommentieren. Besonders auffällig wird dies mit Blick auf historische und politische Ereignisse. Künstlerische Praktiken können hier Anderes zeigen als die wissenschaftlichen Praktiken, und sie können auch Anderes zeigen als die Praktiken der Informationsgesellschaft dies vermögen, wie Nachrichten, Kommentare, Analysen und ihre Praxen und Technologien der Beschaffung, Aufarbeitung, Wiedergabe und Verbreitung von Fakten, Hintergründen und Informationen. Das hängt zusammen mit ihrem (seit ihrer Säkularisierung) grundsätzlich anderen Bezug zur ‚Wirklichkeit‘. Kunst bedient sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts derselben technologischen Verfahren zur ‚Wirklichkeitserfassung‘ wie die der Nachrichtenverarbeitung und Verbreitung (Zeitung, Photographie, Film, Radio, Fernsehen, Internet). Doch werden diese Verfahren der ‚Wirklichkeitserfassung‘ in Bezug auf den Umgang mit diesen Verfahren wie auch mit ihrem Material grundlegend verändert. Das betrifft sowohl die Produktion wie auch die Rezeption von ‚Wirklichkeit‘. In meiner Überlegung soll ein produktives Paradox künstlerischer Praxis näher beleuchtet werden. Der Verzicht, Wirklichkeit zu sein und doch säkular schafft spezifische Formen der ‚bearbeitenden Widerspiegelung von Wirklichkeit‘, die der Wirklichkeit entnommen werden. Diese spezifischen Formen kehren durch die Praxis der Kunst
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wiederum wirkend in die Wirklichkeit zurück. Der Grund dafür liegt in einer, im Geiste Georg Lukács´, Walter Benjamins und Sigfried Kracauers gesprochen, ‚Innerweltlichkeit‘ der modernen und auch der zeitgenössischen Kunst, die auch das Verhältnis der Gesellschaft zur Kunst grundlegend verändert hat.1 Benjamin meinte, dass „die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen die unvergleichlich bedeutungsvollere“ sei, „weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade aufgrund ihrer intensiven Durchdringung mit der Apparatur gewährt.“2 Es gilt, diese gesellschaftsformierende Funktion der Künste im Konglomerat der Geschichte näher zu beleuchten und anhand eines Beispiels zu erörtern, ob und wie gerade durch diese künstlerische Praxis die Verfahren, Mechanismen, Problematiken der gesellschaftlichen, aktuellen und in historischen Bezügen stehenden Wirklichkeit sichtbar gemacht werden. Mein Beispiel ist eine Arbeit des britischen Künstlers Jeremy Deller mit dem Titel The Battle of Orgreave aus dem Jahr 2001. Die Arbeit bezieht sich auf Ereignisse, die im März 1984 mit dem einjährigen Streik der National Union of Mineworkers in Großbritannien begannen. Der Grund für den Streik sind massive Schließungen von Zechen im Zuge der Reformen Margret Thatchers, welche die Umwandlung Englands durch Abbau der Schwerindustrie und durch Aufbau der Zukunftstechnologien IT (den sog. ‚Informationstechnologien‘) und der damit einhergehenden Dienstleistungs- und Unterhaltungsindustrie vorantreibt.3
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Lukács, Georg: Die Eigenart des Ästhetischen, 2 Bde, Mit einem Essay v. Günther K. Lehmann, Berlin/Weimar: Aufbau 1987; Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Dritte Fassung], in: Ders., Gesammelte Schriften, Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Bd. 1.2: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 471–508; Kracauer, Siegfried: „Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“, Übersetzt v. Friedrich Walter und Ruth Zellschan, in: Ders., Schriften, Bd. 3, hg. v. Karsten Witte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. Siehe zu Lucács Rezeption der Schriften Kracauers und Benjamins: Gángó, Gábor: „Hinweise auf Kracauer und Benjamin in Lucács Die Eigenart des Ästhetischen“, in: Kakanien revisited. Plattform für interdisziplinäre Forschung und Vernetzung im Bereich Mittelost- bzw. Zentral- und Südosteuropa (2009), http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/GG ango3.pdf, abgerufen am 11.05.2016. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 496. Siehe dazu den Dokumentarfilm THE BATTLE OF ORGREAVE (GB 2001, R: Mike Figgins), https://www.youtube.com/watch?v=3ncrWxnxLjg, abgerufen am 11.05.2016; siehe im Besonderen auch: Deller, Jeremy: The English Civil War Part II . Personal Accounts of the 1984–85 Miner‘s Strike, London: Artangel 2002. Zur Diskussion von
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Am 18. Juni 1984 ereignete sich der gewalttätigste Zusammenstoß zwischen Bergarbeitern und Polizeikräften an der Kokerei nahe der Stadt Orgreave, unweit Sheffield, in der Grafschaft South Yorkshire. Um die 15.000 Bergleute und Polizisten waren in diese Auseinandersetzung verwickelt, die als Battle of Orgreave in die Geschichte einging. Thatcher bezeichnete die Bergarbeiter-Gewerkschaft als „the enemy within“, mit einem Terminus technicus also, der in den 50er und 60er Jahren für die mögliche und befürchtete Unterwanderung wichtiger Institutionen in Großbritannien durch den KGB verwendet wurde. Das Staatliche Fernsehen BBC sendete Nachrichten und Filmzeugnisse von diesem Zusammenstoß, die so geschnitten waren, dass die Bergarbeiter als Aggressoren erschienen, gegen die massiv vorgegangen werden musste. Erst 1991 entschuldigte die BBC sich für diesen angeblich technischen, unter Zeitdruck geschehenen Fehler, der als „Schnittfehler“, entstanden während der Montage der Filmsequenzen für die Nachrichtensendung, deklariert wurde.4 Siebzehn Jahre später, am 17. Juni 2001, lies Jeremy Deller dieses Ereignis in Orgreave wieder stattfinden. Dazu beauftragte er den Re-enactment Experten Howard Gilles, 600 professionelle Mitglieder aus Re-enactment-Societies (Anhänger eines in Großbritannien, wie auch in einigen anderen europäischen Ländern, vor allem aber in den USA, weit verbreiteten ‚Geschichtsvolkssports‘, bei dem hauptsächlich historische Schlachten nachgestellt werden) sowie 200 Bergleute und einige Polizeioffiziere, die Veteranen des damaligen Ereignisses waren.5 Des Weiteren engagierte Deller den Regisseur Mike Figgis, einen Dokumentarfilm über das Re-enactment zu erstellen, der vom Sender BBC4 ausgestrahlt wurde.6 Schließlich wurde von Deller auch eine Ausstellung kuratiert,
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Dellers Arbeit im Kontext politischer und sogenannter ‚partizipatorischer‘ Kunst siehe: Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London/New York: Verso 2012, S. 30–37. Einen detaillierten Abriss der historisch-politischen Hintergründe des Streiks und seiner Folgen liefert: Milne, Seumas: The Enemy Within. The secret war against the miners, London/New York: Verso 1994. Zum Format des Re-enactments allgemein siehe: Goodacre, Elizabeth Jane/Baldwin, Gavin: Living the past. reconstruction, recreation re-enactment and education at museums and historical sites, London: Middlesex University Press 2002. THE BATTLE OF ORGREAVE (GB 2001, R: Mike Figgins); Gilles, Howard: „The Battle of Orgreave from a tactical point of view“, in: J. Deller: The English Civil War, S. 24–31; Mc Loughlin, Mac: „A former policeman´s testimony“, in: J. Deller: The English Civil War, S. 44–63, hier S. 62. Ebd.; vgl. C. Bishop: Artificial Hells. THE BATTLE OF ORGREAVE (GB 2001, R: Mike Figgins), gesendet am 11.10.2002.
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die den Titel The Battle of Orgreave Archive (An Injury to One is an Injury to All) trug. Die Ausstellung vereinte sowohl historisches Material, Objekte, Dokumente wie auch Publikationen, Abhandlungen, offizielle Stellungnahmen und künstlerische Umsetzungen zu dem Streik der Bergleute, unter anderem auch die Memoiren des Industriellen und Direktors des National Coal Board Ian MacGregor, der Premierministerin Margaret Thatcher und der MI5 Chefin Stella Rimington.7 Stella Rimington (sie war Vorbild für Judy Dench zur Verkörperung der MI6-Leiterin M in den James Bond Filmen der Jahre 1995–2012) beschreibt darin, wie sie Anfang der 1980er-Jahre zur Leiterin der Abteilung F2 ernannt wurde. 1983 war diese Abteilung mit der Aufgabe betraut, die britischen Gewerkschaften „zu unterwandern“.8 Auch der Dokumentarfilm von Figgis und Deller wurde in der Ausstellung – nun in einer Kino-Situation, wie zum Beispiel im HMKV (HardwareMedienKunstverein, Dortmund) – gezeigt.9 Es handelt sich um eine künstlerische Arbeit, die mit der Erinnerungsfunktion und der Massenrezeption derjenigen Medien umgeht, die Spuren dieses Ereignisses aufzeichneten: Photographien, Filmaufnahmen, Presseberichte, Dokumente und materielle Relikte in Archiven, Augenzeugen und die Arbeit mit Veteranen, professionellen Re-enactern, Stuntmen und Rettungskräften, der Beteiligung der Bevölkerung von Orgreave im Jahr 2001, erweitert durch Expertenwissen wie etwa über Polizeitaktiken zur Zerstreuung von Aufständen, Insider-Informationen von Politikern, Analysen von Historikern. Das Kunstwerk wird so zu einer komplexen Konstellation, welche die Spezifik der Medien Photographie, Film, Fernsehen und diverser Formate zur Dokumentation des Ereignisses als Beweisstücke, Spuren, als Zeugnisse einer vergangenen Wirklichkeit herausstellt und benutzt und zusammen mit dem Spektakel ‚Re-enactment‘, dessen Vorbereitung und Proben, in sich selbst 7 8
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J. Deller: The English Civil War; Rimington, Stella: Open secret. The autobiography of the former Director-General of MI 5, London: Hutchinson 2001. THE BATTLE OF ORGREAVE (GB 2001, R: Mike Figgins); S. Rimington: Open secret. Das Ausmaß dieser Unterwanderung wird in der Veröffentlichung nicht preisgegeben. Vgl. dazu Milne, Seumas: „What Stella left out. The truth about MI 5’s role in the miners’ strike will not come out in Rimington’s memoirs“, in: The Guardian vom 03.10.2000, http://www.theguardian.com/comment/story/0,3604,376455,00.html, aufgerufen am 11.05.2016; diesem Artikel habe dem Autor zufolge „a leaked document“ des unveröffentlichten Manuskripts zugrunde gelegen. Vgl. Milne, Seumas: The Enemy Within. The secret war against the miners, London/New York: Verso 1994, besonders S. 208–214. Ausstellung/Vorführung im Hartware MedienKunstverein Dortmund im Rahmen der Ausstellung History will repeat itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance vom 09.06.2007 bis 23.09.2007.
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überlassenen Abläufen organisiert. Das Publikum (wenn man dieses Wort hier verallgemeinernd gelten lassen will) ist in multiple und changierende Rollen eingebunden, die so heterogen sind wie die Herkunft und Geschichte der Einzelnen, die diese Gruppe bilden: als Teilnehmer, Teilhaber, Akteure, Kritiker, Nachfragende, Erinnernde, Neugierige, Reflektierende. Vor allem aber, und dies im explizit Benjaminschen Sinne, als „halber Fachmann“. So wie die Dienstmädchen nach der Kinovorstellung, die Männer nach dem Fußballspiel, das Publikum eines Boxkampfes oder eben die „Zeitungsjungen“, welche „die Ergebnisse eines Radrennens diskutieren“ danach, nachher, im Nachhinein darüber reden. Dieses darüber reden, so war es Benjamin klar geworden, ist eine Form der Kritik.10 Die erzeugten Bilder und Handlungen in Figgis/Dellers Film nun haben nichts mehr mit ästhetischen Gebilden gemein; vielmehr werden sie, wieder mit Benjamin, zu „Beweisstücken im historischen Prozess“. 11 Um das hier
10 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 492. Das veränderte, fortschrittlichste Verhalten des Publikums zur Kunst (es gibt, das war Benjamin klar, auch ein verändertes, rückschrittliches), in das es durch die technische Reproduzierbarkeit zum Beispiel angesichts eines Chaplins umschlage, ist nach Benjamin dies: „Dabei ist das fortschrittliche Verhalten dadurch gekennzeichnet, daß die Lust am Schauen und am Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbindung mit der Haltung des fachmännischen Beurteilers eingeht. Solche Verbindung ist ein wichtiges gesellschaftliches Indizium. Je mehr nämlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen – wie das deutlich angesichts der Malerei sich erweist – die kritische und die genießende Haltung im Publikum auseinander. Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen. Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei: nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich. Auch weiterhin bleibt der Vergleich mit der Malerei dienlich. Das Gemälde hatte stets ausgezeichneten Anspruch auf die Betrachtung durch Einen oder durch Wenige. Die simultane Betrachtung von Gemälden durch ein großes Publikum, wie sie im neunzehnten Jahrhundert aufkommt, ist ein frühes Symptom der Krise der Malerei, die keineswegs durch die Photographie allein, sondern relativ unabhängig von dieser durch den Anspruch des Kunstwerks auf die Masse ausgelöst wurde.“ Ebd., S. 496–497. 11 Ebd. zu „Beweisstücke[n] im historischen Prozeß“ sind Benjamin bereits die Photographien Atgets geworden und er versteht, dass dies ihre „verborgene politische Bedeutung“ ausmache. Das gelinge wiederum über die besondere Teilnahme (oder auch Inanspruchnahme) der Betrachter: „Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen
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Gemeinte zu verstehen, genügt es zu Anfang, diese Verwandlung zu Beweisstücken im historischen Prozess nicht schon mit dem wissenschaftlich-objektivierten Ergebnis einer Analyse – historisch-kritisch, soziologisch – des Ereignisses zu verwechseln, die eine historische Situation in ihrer komplexen Wirklichkeit festzuhalten und damit festzuschreiben sucht. Dann wird deutlich, dass die zum weiteren Verständnis entscheidende Frage die Benjaminsche nach der Funktionsveränderung von Kunst ist, und diese betrifft nicht nur das, was Werk genannt werden kann, sondern auch das, was dessen Rezeption ist. Dieses Entweichen der Kunst aus dem ‚schönen Schein‘ ist keine Flucht in die Vergangenheit und auch keine Trauma-Bewältigung zum Heilen von Wunden; es ist keine Erfindung oder Phantasie, es ist aber auch kein Spiel im Sinne eines ‚so tun als ob‘. Es ist ein Hereinholen der Gespenster der Vergangenheit in die Gegenwart 17 Jahre später, körperlich, leibhaftig, ein Aufreißen von Wunden: die Vergangenheit trifft auf die Gegenwart und wirkt in ihr. Deller machte dies in der BBC-Talk-Show Hard Talk, ausgestrahlt im Dezember 2013, sehr deutlich: „It is making people angry again. It is no political art work, it is a recreation of a crime scene. It is no forensic re-enactment, it is a version of it. It enables the ghosts to rise again. It is full of comedic absurdity. It is a retribution. It rejects any idea of a “singular artwork“, of „one art world“. If it is art, then it reveals and consists of many different art worlds – folk art, grass root activism, village festival.”12 Deller macht diese letztgenannten Formen des Sozialen zu seinem künstlerischen Medium – und damit die Menschen selbst zum künstlerischen Medium, doch nicht um Objekte, sondern um Subjekte, Akteure zu sein. Es ist eine Arbeit mit den Massen, Arbeit mit dem, um das es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und am Grunde der Moderne geht: das Allgemeine und die Allgemeinheit, die namenlosen Vielen, die regiert werden (durch Überwachungs- und Bestrafungssysteme), und die regieren könnten. Vom ersten Film überhaupt, dem etwa 50 Sekunden dauernden Arbeiter verlassen die Lumière-Werke der Gebrüder Lumière aus dem Jahr 1895, finden sie ihre Rolle zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Wochenschauen und den Filmen zum Beispiel Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925), Fritz Langs Metropolis (1927) oder den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muss er einen bestimmten Weg suchen.“ Und daran schließt der auch für unsere Diskussion wichtige Gedanke an: „Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitungen aufzustellen. Richtige oder falsche – gleichviel.“ Ebd., S. 485. 12 Interview mit Jeremy Deller in der Sendung HARD talk der BBC vom Dezember 2013, https://www.youtube.com/watch?v=hLruhCZ f24g, abgerufen am 11.05.2016.
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aber auch – und mit ganz anderen Intentionen – Leni Riefenstahls Triumph des Willens (1934).13 Das Kunstwerk wird beschreibbar als Möglichkeitsraum, der sich aus der Wirklichkeit speist und dabei – zunächst – Wirklichkeit entzieht. Denn die durch den Möglichkeitsraum der Kunst erfahrbare Wirklichkeit ist eine andere, unbekannte, fremde und befremdliche Wirklichkeit. Verfremdung von Wirklichkeit findet in Dellers Battle of Orgreave mehrfach statt: als Spiel zunächst, mit Elementen des Spektakels und des Volksfestes; als Dokumentarfilm, der mit den Techniken der Montage und der Collage Ausschnitte aus den Vorbereitungen, der Recherche, der Zeugenaussagen, der Photo- und Filmmaterialien, der Erinnerungen und Reflektionen Einzelner zeigt. Die Techniken der Montage erzeugen im Sichtbarmachen multipler Versatzstücke ein disparates Bild von Wirklichkeit und damit, zugleich, eine multiperspektivische Verdichtung der Wirklichkeit des Ereignisses, von Raum und Zeit. Rezipiert wird dies vor dem Fernseher in der eigenen Wohnung und als wandernde Ausstellung, in der materielle Relikte, Archivmaterial sowie bildkünstlerische Umsetzungen versammelt werden und in der wieder dieser Film (nun eher in einer Kino-Situation, also gemeinsam mit anderen, Fremden) zu sehen ist. Die größte Entfremdung und Entfernung von der Wirklichkeit ist dabei die der Zeit. Ein Ereignis aus der Vergangenheit wird gegenwärtig in einer Gegenwart, die, durch dieses Ereignis und die Hintergründe, die es hervorbrachten und die es wiederum sichtbar macht, längst eine andere Wirklichkeit geworden ist: in Großbritannien die des post-industriellen Zeitalters der IT-, Dienstleistungs-, der ‚entertainment‘ und ‚leisure industry‘. Walter Benjamins zentrale These im Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (3. Fassung, Kapitel XI ) lautet zusammengefasst: Die medial veränderte Abbildung von Wirklichkeit muss zu einer veränderten Rezeption von Wirklichkeit führen.14 Die Zugänglichkeit der Kunst für die Massen müsse gewährt sein; eine Beurteilung durch diese sei immer mitgegeben. Doch ist ihre Rezeptionsweise nicht die der Aufmerksamkeit. 13 Zur Arbeit mit den Massen u. a. in den Filmen Sergej Eisensteins siehe: Didi-Huberman, Georges: „People Exposed, People as Extras“, in: Radical Philosophy. A Journal of Socialist and Feminist Philosophy 156 (Juli/August 2009), S. 16–22. Zu Godard unter Bezug auf Eisenstein und Riefenstahl siehe: Ders.: „Between Hysteria and History. Dialectic of Montage in Jean Luc Godards Work“, in: Nick Aikens/Thomas Lange/Jorinde Seijdel/ Steven ten Thije (Hg.), What´s the Use. Constellations of Art, History and Knowledge. A Critical Reader, Amsterdam: Valiz 2016, S. 138–157. 14 W. Benjamin: Das Kunstwerk, Kapitel XI , S. 495f.
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Benjamin sagt: „Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter.“15 Es gab und gibt jedoch diese Form der Rezeption immer schon vor einer Kunstform, die – anders als alle anderen – öffentlich, allgemein ist. Die zerstreute Rezeption entspricht der Rezeption von Architektur, von Baukunst. Diese ist beiläufig – und doch ist sie verinnerlicht. Die Wirkung der Baukunst, die, so Benjamin, älter und öffentlicher ist als alle anderen Kunstformen, „sich zu vergegenwärtigen“, ist „von Bedeutung für jeden Versuch, vom Verhältnis der Massen zum Kunstwerk sich Rechenschaft abzulegen. Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. Es gibt von solcher Rezeption keinen Begriff, wenn man sie sich nach Art der gesammelten vorstellt, wie sie z.B. Reisenden vor berühmten Bauwerken geläufig ist. Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem Gebiet der Gewohnheit.“16 Die neuen Technologien zur Darstellung und Aneignung von Wirklichkeit (Benjamin dachte an die Filmtechnik) und deren Wirklichkeitsverzicht bietet ‚gerade und allererst‘ Chancen zu einer darum neuartigen Wahrnehmung der Wirklichkeit und sie ist gerade auch eine beiläufige, verinnerlichte.17 Dagegen wurde durch Horkheimer und Adorno ‚Kulturindustrie‘ mit ‚Massenbetrug‘ gleichgesetzt als ‚Reproduktion des Immergleichen‘, das die Welt (‚Wirklichkeit‘) nur im Dienst kapitalistischer Verwertungsinteressen wiedergebe. Schlüssel dafür seien Kinoproduktionen, durch deren ‚Filter‘ die Welt selbst als ‚Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels‘ wahrgenommen werde. „Je dichter und lückenloser ihre Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, um so leichter gelingt heute die Täuschung, daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt. […] Das Leben soll der Tendenz nach vom Tonfilm nicht mehr sich unterscheiden lassen. Indem er, das Illusionstheater weit überbietend, der Phantasie und dem
15 Ebd., S. 505. 16 Ebd., S. 504–505. 17 „Im Filmatelier ist der Apparat derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen Apparat und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen von der gleichen Art ist. Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichen geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik.“ Ebd., S. 495 [Hervorhebungen im Original].
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Gedanken der Zuschauer keine Dimension mehr übrig läßt, in der sie im Rahmen des Filmwerks und doch unkontrolliert von dessen exakten Gegebenheiten sich ergehen und abschweifen könnten, ohne den Faden zu verlieren, schult er den ihm Ausgelieferten, ihn unmittelbar mit der Wirklichkeit zu identifizieren.“18 Benjamin denkt dagegen nicht an ein Publikum von unmündigen Konsumenten, sondern an einen Nutzer, Benutzer von Kunst. Daher sein Insistieren auf der Nähe des veränderten Kunstwerks zu den Interessen der Massen. Dabei wird die Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur aufgelöst. Für unser Beispiel gilt festzuhalten: Doch die Nähe zur Massenkultur (des Re-enactments wie auch des Dokumentarfilms zum ‚Making-of ‘ desselben) entpuppt sich als wirklichkeitsfremd, ihre Benutzung bedeutet und bewirkt – zunächst, allererst – Wirklichkeitsentzug. Die Arbeiten werden, indem sie benutzt werden, eine andere Wahrnehmung von Wirklichkeit ermöglichen. An diesem, den Kunstwerken inhärenten, Potential zur anderen Wahrnehmung von Wirklichkeit arbeitet Aby Warburg schon Ende des 19. Jahrhunderts. Ihm geht es um einen Kunst- und Geschichtsbegriff, der von prinzipiell unabgeschlossenen Vergangenheiten ausgeht, die jede Gegenwart formieren und in ihr wirken. In und mit Kunstwerken kommen durch die Jahrhunderte die Phantome und Gespenster des Unbewältigten zum Vorschein, die in den langen, nie zu einem Ende kommenden Kämpfen zwischen Kultur und Barbarei als ‚Leidschatz der Menschheit‘ in und durch die Werke der Kunst bewahrt bleiben.19 Auch hier vermischen sich kultischer und säkularer Gebrauch, auch hier geht es um einen Bildungsbegriff, der beweglich ist, der Möglichkeitsform sowohl zum Erkennen als auch zur Begegnung immer neuer und sich wandelnder Formen der Barbarei ist. Auch hier geht es im Grunde darum, Vergangenheit in ihrer Wirksamkeit zu erfahren und mit allen Sinnen zu ‚begreifen‘, das heißt körperlich, seelisch zu erfassen, denn das ist es, was Kunstwerke
18 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1986, besonders Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“, S. 108–150, S. 113. 19 Warburg, Aby: Notiz zu einem Vortrag in der Hamburger Handelskammer, 10. April 1928, Archivmaterial: The Warburg Institute, London, Archiv Nr. 12.27, zitiert nach: Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie [engl. Erstausgabe London 1970], Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 339. Zum Geschichtsund Kulturbegriff Warburgs unter besonderem Bezug auf die „Latenzzeit“ des Vergangenen in ihrer Wirkung in der jeweiligen Gegenwart siehe Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010.
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von ihrer jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit bewahren: das Leid, die Freude, die Trauer, Euphorie und Melancholie über die Ereignisse der Welt, die uns angehen, weil sie menschlich sind. Gewalt und Leid sind nicht Thema der Geschichte, sondern deren Substanz. Gemacht, angetan und erlitten von menschlichen Wesen (nicht bloßen Ereignissen). Die in Kunstwerken über Jahrtausende bewahrte Gewalt und auch das Leid aber sind – weil es durch Kunst zu einer Ausdrucksform gewandelt ist – nur so wiederum aufzunehmen (mit allen Sinnen und mit dem Verstand). Die in den Kunstwerken bewahrte Gewalt und das in ihnen bewahrte Leid sind dadurch wirksam in den folgenden Generationen als Gedächtnis und Erfahrungsschatz zugleich. Dieser ermöglicht, die Arbeit an Kultur im Bewusstsein der Gefährdung und Bedrohung dieser hauchdünnen Schicht durch jederzeit mögliches Umkippen in Barbarei, ins sich Gehenlassen, ins sich Vergessen in Exzessen der Emotionen, der Maßlosigkeit (Hybris), als verblendete Gewalt und ebensolchen Vernichtungsrausch, trotzdem fortzuführen. Der Kunstbegriff hat sich schon im 19. Jahrhundert so stark gewandelt und entfernt vom bürgerlichen (dem Horkheimer und Adorno gleichwohl noch anhängen), dass, mit Benjamin gedacht, dieser gewandelte Kunstbegriff auch eine völlig andere Rezeption nach sich zieht, die im Grunde weder Kunstgenuss noch Kunstekel, sondern eine Haltung gegenüber der Gegenwart ist. Damit ist gemeint, dass die Bedingtheit der jeweiligen Gegenwart, in der das Kunstwerk entstanden ist und in der es rezipiert wird, bewusst in Rechnung gestellt werden muss. Das gilt also auch – und hier besteht eine Nähe zu den Überlegungen Warburgs – für das Erkennen der jeweiligen Bedingtheit von Werken vergangener Epochen. Von hier aus erschließt sich für Warburg wie für Benjamin die Wirkung der Vergangenheit auf die jeweilige Gegenwart und hat der „Leidschatz“ (Warburg) seine Funktion im kulturellen Gedächtnis, das nicht passive Ablage, sondern eine aktive Aufmerksamkeit für die Wirkungen einer bewusstgemachten Vergangenheit in der Gegenwart ist. Nur wenn die Gegenwart sich im Zuge dieses Rezeptionsverständnisses als von der Vergangenheit gemeinte versteht, können die bestehenden und zukünftigen Verhältnisse erkannt und gestaltet werden.20 20 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 471–508. Auf S. 478f. entwickelt Benjamin dies unter Bezug auf u. a. Alois Riegl, der als einer der ersten auf den Gedanken gekommen sei, aus der Kunst „Schlüsse auf die Organisation der Wahrnehmung in der Zeit zu tun, in der sie in Geltung stand“. Allerdings, so Benjamin, habe Riegl noch nicht versucht, „die gesellschaftlichen Umwälzungen zu zeigen, die in diesen Veränderungen der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden. Für die Gegenwart liegen die Bedingungen einer entsprechenden
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Das kann man zeigen an Jeremy Dellers Battle of Orgreave: der Kunst- und Werkbegriff ist hier extrem verändert zu einer historisch bewussten Haltung, zu einer Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Veränderungen, von Umwälzungen, die gerade dort und von denen bemerkt und reflektiert werden, denen Adorno bloßes Konsumieren unterstellte. Darum ist es kein Re-enactment, kein Spiel des ‚So-tun-als-Ob‘ als höchstmöglich erzeugte Nähe zur vergangenen Wirklichkeit, die in einer Gegenwärtigkeit sich abspielt, die ganz im Dienst und in der realen Illusion dieser vergangenen Wirklichkeit stünde – um sich als und in der Unterhaltung von dieser Vergangenheit zu distanzieren und sie damit als überwundene zu deklarieren. Es ist auch keine Wiederholung oder etwa akribische, forensische Rekonstruktion eines historischen Ereignisses, sondern es ist Wiederholung im Sinne von Übung, von Erprobung. So ist es vielmehr die Rekonstruktion eines Tatorts und von möglichen Tathergängen. Es ist eine Version der vergangenen Ereignisse, in der und mit der Wirklichkeitsentzug wirksam wird. Deller beschreibt dies präzise: „It enables the ghosts to rise again. It is full of comedic absurdity. It is a retribution“21; und damit wird eine andere Wirklichkeit geschaffen: es ist dies die Wirklichkeit der Vergeltung. Einer Vergeltung, die die Gegenwart an einer Vergangenheit übt, welche diese Gegenwart maßgeblich Einsicht günstiger. Ein kurzer Hinweis auf die Nähe Benjamins zu Gedanken Warburgs findet sich auch bei Forster, Georg W.: „Warburgs Versunkenheit“, in: Robert Galitz/ Brita Reimers (Hg.), Aby M. Warburg: „Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott“, Porträt eines Gelehrten (= Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung, Bd. 5), Hamburg: Dölling und Galitz Verlag 1995, S. 184–206, hier S. 203 unter Verweis auf Benjamins Besprechung von Gisèle Freunds Buch La photographie en France au dixneuvième siècle in: W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 542–544, hier S. 543. Benjamin schreibt, die „Bedeutung [des künstlerischen Werks, TL ] mit Rücksicht auf die gesellschaftliche Struktur seiner Entstehungszeit definieren, kommt also […] darauf hinaus, seine Fähigkeit, zu einer Epoche seiner Entstehungszeit den ihr entlegensten und fremdesten Epochen einen Zugang zu geben, aus der Geschichte seiner Wirkungen zu bestimmen.“ Forster resümiert: „Der kritische Historiker betrachtet das Kunstwerk weniger als passives Dokument, denn als wirkungsgeschichtlichen Agenten“ G. W. Forster: Warburgs Versunkenheit, S. 204. In den Thesen zum „Begriff der Geschichte“ entwickelt Benjamin die Überlegung zur Gegenwart, die sich als von der Vergangenheit gemeinte versteht. Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, 251–263, hier S. 253. 21 Interview mit Jeremy Deller in der Sendung HARD talk der BBC vom Dezember 2013, https://www.youtube.com/watch?v=hLruhCZ f24g, abgerufen am 11.05.2016.
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geformt hat, welche in dieser Gegenwart wirksam ist – das also ist eine Form ausgleichender Gerechtigkeit. Damit erzeugt Dellers Arbeit einen Wirklichkeitsbezug, vor dem sich die Begriffsscheidung von Hoch- wie Populärkunst als gleich unsinnig erweist. Der Wirklichkeitsbezug dieser Kunst war ihr Gebrauchswert: dass sie benutzt und genutzt wurde von ihrem Publikum und damit und dadurch allererst bestand. Der soziale Körper (als handelnder, interagierender) wird zum Gegenstand (primären Objekt) dieser Kunst. Das ist ein möglicher Lösungsweg zu einem für den Film seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute bestehenden Problem, welches die Darstellung, das Zeigen der Massen und die Problematik der Manipulation derselben durch dieses Zeigen betrifft. Bei Fritz Lang manifestierte sich das im demokratischen Skrupel vor der Beeinflussung durch unbewusste Manipulation, bei Leni Riefenstahl im bewussten Kalkül dieses Potentials der Manipulation für politische Ziele des Faschismus.22 In Dellers Arbeit entsteht durch die Teilnahme von Veteranen, die sich einer besonderen Entfremdungserfahrung zu sich selbst und ihrer Erinnerungen aussetzen mussten – denn ehemalige Bergleute spielten Polizisten, ehemalige Polizisten spielten Bergleute – ein Verfremdungseffekt gegenüber der Wirklichkeit der eigenen Erinnerung.23 Professionellen Re-enactern, Historikern und Polizeistrategen wird in der Vorbereitungsphase eine Ebene der Reflexion geschaffen, die dann in der emotionalen, adrenalingefluteten Hitze der körperlichen Auseinandersetzung einbricht; in dem Moment also der physischen Wahrnehmung, der Euphorisierung und somit der Entzeitlichung wie Enthistorisierung, indem das enge Verhältnis von ‚Choc‘ und Erfahrungsbildung eine Neufassung von Erinnerung durch eine völlig neue und leibhaftige Erfahrung bewirkt. Darum die notwendige und nachdrückliche ernste Warnung davor, es zum echten Kampf kommen zu lassen – dafür ist die Hemmschwelle in diesen Momenten extrem herabgesetzt. Doch wird die Ebene der Reflexion zurückerlangt, wenn alle nach dem Spektakel zusammensitzen und über das Geleistete reden, wenn das Nachdenken (die Arbeit an der Geschichte also) und die Arbeit an der durch sie geformten Wirklichkeit einsetzen.
22 Vgl. dazu G. Didi-Huberman: Between Hysteria and History, S. 138–157. 23 THE BATTLE OF ORGREAVE (GB 2001, R: Mike Figgins).
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Die Montage ist auch hier wichtigstes künstlerisches Mittel. Der damit geschaffene Rhythmus der Bilder, der Wechsel der Tempi, der Nähe und Vereinzelung, der Entfernung und Vermassung erzeugt die visuellen und akustischen ‚Chocs‘24 und erzeugt so die notwendige Verfremdung, das für diese Operation notwendige Fremdwerden. Auch der Film über The Battle of Orgreave 2001 erzeugt somit massiv Wirklichkeitsentzug. Doch es ist „die Apparatur, die Filmtechnik selbst, die den apparatfreien Aspekt (Anblick) der Wirklichkeit gewährt“ (Benjamin)25 – so wie der Schild Athenes einst in ihm den Anblick Medusas gewährte. Siegfried Kracauer hatte deutlich gemacht, dass nur mit Hilfe der Spiegelfunktion der polierten Oberfläche des Schildes der Athene Perseus den für ihn tödlichen, direkten Blick auf Medusa vermeiden und sie zugleich in und mit der Spiegelung ansehen konnte, um ihr mit dem Schwert den Schlag, der ihr den Kopf abtrennen wird, zufügen zu können.26 Perseus benutzt den Schild als Apparat gegen Medusa, doch in dem Moment der erfolgreichen Benutzung – im Vollzug ihrer Enthauptung durch sein Schwert, im Zuge also der Koordination von Blick und Bewegung des Armes, Drehung des Körpers – wird der Apparat und seine durch Spiegeltechnik verkehrte und durch die Wölbung der Oberfläche des Schildes auch verzerrte Wirklichkeit gerade nicht wahrgenommen. Durch das Spiegelbild muss der „apparatfreie Aspekt (Anblick) der Wirklichkeit“27 erfahren werden, um Perseus zu ermöglichen, wirklich den Hals der Medusa zu treffen. Jede Reflexion über den Reflexionsapparat des spiegelnden Schildes wäre umgekehrt für Perseus tödlich gewesen, denn dann wäre sein Hieb durch den Hals der Medusa fehlgegangen. Darum auch ist dies keine hochreflexive ‚politische Kunst‘, wenn auch das Zusammenkommen von Polizei und Bergleuten (Veteranen), Historikern, 24 Benjamin, Walter: „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 368–385, hier S. 385; zur Funktion des ‚Chocs‘ in der materialistischen Geschichtsschreibung siehe: W. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, Kapitel XVII , S. 703. Ausführlich über den ‚Choc‘ mit weitem Blick auf Großstadt, Technisierung und Industrialisierung siehe Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire“ [1939]; in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.2: Abhandlungen, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 605–653; in Bezug auf Wirklichkeitswahrnehmung durch den Apparat (Photographie und Film) besonders S. 629–632. 25 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 495. 26 Kracauer, Siegfried: „Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“, in: Ders., Werke, hg. v. Inka Mülder-Bach/Ingrid Belke, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 467–469. 27 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 495.
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Re-enactern und Einwohnern von Orgreave durchaus eine politische Zusammenkunft genannt werden könnte. Beide (die Schlacht 2001 und der Dokumentarfilm darüber) geben auf je eigene Weise des Gebrauchs durch ihr Publikum die unsichtbare, äußerst dünne Membrane zu erkennen, an der Wirklichkeit und Kunstwerk sich berühren, an der das eine über das je andere sichtbar wird, ohne das ‚Wirklichkeit‘ und ‚Kunstwerk‘ noch je für sich erkannt und unterschieden werden könnten. Mit dieser Dispensierung des traditionellen Kunstbegriffs (oder besser: überhaupt eines wie auch immer gearteten Begriffs von Kunst) und eines naiven Wirklichkeitsbegriffs gleichermaßen zeichnet sich auch eine nicht minder radikale Neuformulierung der Rezeption ab, die über die Wirkung des Gesehenen, Erlebten, Wahrgenommenen fassbar wird. An die Stelle der traditionellen Einsamkeit des Betrachters vor dem Werk tritt die Konsistenz und Stärke des sozialen Körpers, mit der unsere Einsamkeit durchtränkt wird, die durchlässig wird für diesen sozialen Körper. Deller sagt dazu: „it is all about creating community – not nostalgic sentiment“.28 Die künstlerische Arbeit Dellers nimmt eine neue Form einer neuen Wirklichkeit an; sie wird wirklich in diesem Moment und sie ist zugleich und gleichermaßen entfernt von Wirklichkeit wie von Geschichte. Nur so aber ist sie beiden gleichermaßen und überaus nahe. Die Mittel zur Authentifizierung des Geschehens durch Nähe zur Dokumentation erzeugen eine Reduzierung der Fiktion, der Künstlichkeit; beide (Fiktion und Dokumentation) stehen im Dienst einer notwendigen Entfernung von Wirklichkeit, eines notwendigen Wirklichkeitsentzugs, um der Wirklichkeit nahezukommen, weil diese Wirklichkeit als körperliche, haptisch-sinnliche, nicht aber als optische, nur zu betrachtende zu erfahren ist. Mit Benjamin könnte nun weitergedacht werden. Die Form der Dokumentation, das Zu-Wort-Kommen einzelner: es sind Kommentare, doch keine Analysen, Kommentare der Beiläufigkeit, die sich im Zusammengehen mit den Bildern der Handlungen aufladen mit Reflexionspotential. Das Beiläufige zeigt sich als Möglichkeitsform einer Rezeption, die nicht Sachverhalte feststellt, sondern die ein komplexes Geschehen, mit Abstand von 17 Jahren versucht sich anzueignen; die versucht, eine historische Situation, die 17 Jahre
28 Interview mit Jeremy Deller in der Sendung HARD talk der BBC vom Dezember 2013
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später die britische (wir wissen heute: die globale) Gegenwart betrifft, weil ebendiese historische Situation sie initiiert, sie gemacht und in die Welt gesetzt hat, wahrzunehmen. In diesem alten Sinne kann hier nur noch das Wort Aisthesis gebraucht werden. Denn es handelt sich zweifellos um einen Gebrauch und eine Erfahrung der Kunst, oder genauer: um einen Gebrauch der ‚Wirklichkeitswahrnehmung durch Kunst‘, der sowohl in Bezug auf die ästhetische Praxis wie auch die Rezeption derselben eine vollzogene Wandlung des Kunstbegriffs nach Maßgabe der geschichtlichen Veränderungen der Gesellschaften voraussetzt und nur nach (und in) dieser Wandlung funktioniert.
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80064 kuratieren Zu einem fragwürdigen Umgang mit Geschichte im Werk von Artur Żmijewski
2004 produzierte der aus Polen stammende Künstler Artur Żmijewski anlässlich der Ausstellung Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main des Fritz Bauer Instituts eine Videoarbeit mit dem Titel 80064, in der ein ehemaliger Auschwitzgefangener vom Künstler genötigt wird, seine Gefangenennummer vor laufender Kamera nachtätowieren zu lassen.1 Die Ausstellung, die von März bis Mai 2004 im Haus Gallus in Frankfurt am Main zu sehen war, thematisierte vierzig Jahre nach dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess die Geschichte und Rezeption des Holocaust.2 Ziel der Ausstellung war es, anhand historisch-dokumentarischer Materialien „alle Kapitel des Holocaust, angefangen von einer ‚Chronik der Verfolgung 1933–1945‘ über eine Einordnung der Prozesse von Nürnberg, Warschau (gegen Rudolf Höß) und Jerusalem (gegen Adolf Eichmann) bis hin zur Frage der Täter- und Gehilfenschaft sowie der Rekonstruktion des Auschwitz-Prozesses am Beispiel von sieben Angeklagten“ zu behandeln.3 Integriert in die Ausstellung war ein sogenannter ‚Parcours der Gegenwart‘, der aus zwölf künstlerischen Projekten bestand. Die zum Großteil im Auftrag des Fritz Bauer Instituts hergestellten künstlerischen Arbeiten sollten dem Betrachter einen anderen Zugang zu den Themen der Ausstellung ermöglichen und im Dialog mit den historischen Dokumenten und Artefakten weitere Angebote der Auseinandersetzung schaffen. Kurator des Parcours war der Kunsthistoriker Erno Vroonen. Żmijewskis Arbeit wurde abgelehnt 1 2
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80064 (P 2004, R: Artur Żmijewski), Projektion oder Monitor, 11 min., Farbe, Ton, Polnisch mit englischen Untertiteln. Wojak, Irmtrud (Hg.): Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main. Historisch-dokumentarische Ausstellung des Fritz Bauer Instituts, 28. März bis 23. Mai 2004, Haus Gallus, Frankfurt a. M., Köln: Snoeck 2004. Informationen zur Ausstellung vom Fritz Bauer Institut: http://www.fritz-bauer-institut. de/auschwitz-prozess-ausstellung.html, abgerufen am 15.06.2016.
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und war daher nicht in der Ausstellung zu sehen.4 Zwar liegen keine weiteren Informationen über die Ablehnung der Arbeit von Seiten des Kurators oder anderer Verantwortlicher vor, doch ist zu vermuten, dass Bedenken hinsichtlich der Verletzung ethischer Werte den Ausschluss bewirkt haben. Das Centre d’art contemporain de Brétigny in Frankreich entschied sich hingegen für die Arbeit 80064 und zeigte sie noch im gleichen Jahr in einer Einzelausstellung Żmijewskis.5 Seither haben weltweit zahlreiche Kunstinstitutionen das Video präsentiert. Es stellt sich die Frage, warum das Werk im Rahmen eines historischen Ausstellungskontexts als ungeeignet erachtet wurde, das Kunstsystem hingegen bereitwillig als Plattform zur Präsentation des Videos dienen kann. Warum divergieren die Wertmaßstäbe zur Beurteilung der Arbeit von Żmijewski zwischen den Systemen der Kunst und der Geschichte so gravierend? Ist der Ausschluss der Arbeit gerechtfertigt oder wurden von Seiten des Fritz Bauer Instituts falsche Erwartungen an die Kunst gestellt? Im Begleittext der Ausstellung wird der Kunst die Funktion zugesprochen, die Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten des Holocausts zu befördern. Liegt diesem Ziel möglicherweise ein eingeschränktes Kunstverständnis zugrunde? Kunst soll den Dialog fördern, verstörende oder gar schockierende Perspektiven sind jedoch unerwünscht. Es bleibt noch genauer zu betrachten, warum ein erfahrener Kurator, Kunsthistoriker und Kritiker, wie der Belgier Erno Vroonen, das Werk in diesem Rahmen für ungeeignet hielt? Um diesen Fragen näher zu kommen, werden im Folgenden die Arbeit und ihr Kontext genauer analysiert. Da sich der Ausdruck und die Aussage des Werks direkt mit dem Prozess und den Mitteln seiner Produktion verschränken und der Künstler selbst als Protagonist im Film in Erscheinung tritt, sollen auch seine Haltung und Intentionen untersucht werden. Der elfminütige Film 80064 von Artur Żmijewski zeigt, wie der ehemalige Auschwitzgefangene Józef Tarnawa in einem Warschauer Tattoo-Studio von einem Mann verbal dazu gedrängt wird, seine Gefangenen-Nummer zu
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In einem Interview zwischen Artur Żmijewski und Agata Araszkiewicz vom 25.08.2005 wird darauf hingewiesen, dass die Arbeit vom Kurator abgelehnt wurde. Im gleichen Interview erläutert Żmijewski, dass ihn restaurierte Dokumente aus dem Lager, die im Rahmen der Ausstellung gezeigt wurden, auf die Idee brachten, eine tätowierte Gefangenennummer zu erneuern. „Porozmawiajmy o 80064. Dialog między Agatą Araszkiewicz i Arturem Żmijewskim“, Agata Araszkiewicz, Artur Żmijewski 25.08.2005, aktualisiert am 16.03.2009, http://www.obieg.pl/rozmowy/5691, abgerufen am 15.06.2016. „Artur Żmijewski“, 12. November 2004 bis 29. Januar 2005, CAC Centre dʼArt Contemporain de Brétigny, Brétigny/Paris, kuratiert von Pierre Bal-Blanc.
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erneuern, die ihm 62 Jahre zuvor im Konzentrationslager Auschwitz auf seinen linken Unterarm tätowiert worden war.6 In dem engen Raum des Tattoo-Studios befinden sich neben Żmijewski, der das Gespräch mit Tarnawa führt, ein Tätowierer und der Kameramann; letzterer ist nicht sichtbar. Der Film beginnt mit einer Close-up-Einstellung auf das Gesicht Tarnawas. In den darauffolgenden Minuten wird der alte Mann von Żmijewski gebeten, seinen Namen zu nennen und sich vorzustellen. Es folgen Fragen zur Zeit seiner Gefangenschaft im Lager von Auschwitz und zur Tätowierung der Gefangennummer. Im Anschluss an dieses einleitende Gespräch entsteht eine kurze Pause. Auf Nachfragen Tarnawas, weist Żmijewski darauf hin, dass nun die Nachtätowierung der Nummer erfolgen solle. Tarnawa äußert in aller Deutlichkeit und mit Nachdruck seine Ablehnung gegenüber diesem Vorhaben und bittet davon abzusehen. Entgegen aller Bitten und Bedenken von Seiten Tarnawas beharrt Żmijewski auf seinem Anliegen. Ungerührt und ohne sich um eine plausible Argumentation zu bemühen, widerspricht er dem Mann und beruft sich schließlich auf ein vorab geführtes Gespräch, in dem bereits alles geklärt worden sei. Tarnawa resigniert und gibt seinen Widerstand schließlich auf. Stumm lässt er die Nachtätowierung seiner Gefangenennummer über sich ergehen. Im abschließenden Teil des Films sitzen sich Tarnawa und Żmijewski erneut in einem Gespräch gegenüber. Żmijewski fragt, ob der alte Mann mit der Erneuerung der Tätowierung zufrieden sei. Dieser verneint die Frage verdrossen und zeigt sich enttäuscht. Als Auftragswerk des Fritz Bauer Instituts bildet die Erinnerung und der Umgang mit dem Holocaust – der Misshandlung und Vernichtung von Menschen in den Konzentrationslagern während des Nationalsozialismus – den thematischen Rahmen des Videos. Józef Tarnawa ist ein Zeitzeuge dieser Verbrechen. Er wurde 1942 inhaftiert und überlebte, als einer von wenigen, das Konzentrationslager Auschwitz. Die Nummer auf seinem Unterarm dokumentiert und authentifiziert seine Zeitzeugenschaft. Die Erneuerung der Gefangenennummer zielt auf die Vergegenwärtigung einer in der Vergangenheit vollzogenen konkreten Handlung und des mit ihm kontextuell verbundenen Geschehens. Mit der erneuten Sichtbarmachung der durch die Nationalsozialisten erfahrenen
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Den Angaben nach war Józef Tarnawa kein Jude. Dennoch werde im Folgenden den Begriff Holocaust verwenden, da die Arbeit in diesem Rahmen produziert wurde und auch Żmijewski mit Bezug auf seine Arbeit von Holocaust spricht. Der hier verwendete Begriff bezieht neben dem Völkermord an ca. 6 Millionen Juden auch die systematische Ermordung nichtjüdischer Gruppen mit ein.
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Mißhandlungen thematisiert der Künstler das Vergessen des Holocaust. In diesem Sinne merkt er an: „In general, we can say that […] the holocaust in fact is forgotten. Of course, there are museums, like here in Budapest the Museum of Holocaust, the Jewish Museum in Berlin and Yad Vashem in Israel – a lot of places in which the Holocaust is documented, but that’s also a comfortable way of forgetting. The best way to forget is to set up a museum of the Holocaust, because then people don’t have to experience pain anymore or can experience it in an acceptable level. This means that the museum lives through history for us. At first sight, it is a collection of objects, in reality, it is an entity that feels, suffers, and remembers for us. The museum creates the impression that it is not the body that remembers but objects.“7 Seit geraumer Zeit wird in der Forschung auf die Gefahr der Handhabbarmachung des Holocaust hingewiesen. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden medialen Präsenz des Holocaust, wird dessen Stilisierung kritisiert: „Die Vergangenheit verändert sich. Auschwitz verschwindet, obwohl oder vielleicht gerade weil vom Holocaust überall und ständig die Rede ist“, so Detlev Claussen; „Das zu begreifende Unbegreifliche ist in eine triviale Banalität verwandelt worden, aus der die Menschheit Lehren ziehen soll, deren Unverbindlichkeit sich kaum verheimlichen läßt.“8 Kristin Fried weist in ihrer Untersuchung Neuverhandlung des Holocaust zudem darauf hin, dass „heutige Jugendliche und junge Erwachsene nicht mehr auf eigene Erinnerungen zurückgreifen“ können und es daher einer „bewussten Anstrengungen“ bedarf, um sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen.9 So offenbart sich hinsichtlich der massenmedialen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, ein Dilemma: Eine konstante Thematisierung nationalsozialistischer Verbrechen ist notwendig,
7 „Art must not always speak meekly“, Gespräch zwischen Artur Żmijewski und Miklós Erhardt, in: exindex. Contemporary Art Magazine, http://exindex.hu/index. php?l=en&page=3&id=557, abgerufen am 15.06.2016. Das Interview basiert auf einem Künstlergespräch, das in der Galerie Trafó in Budapest am 26. Januar 2008 geführt wurde. 8 Claussen, Detlev: „Veränderte Vergangenheit. Über das Verschwinden von Auschwitz“, in: Nicolas Berg/Jess Jochimsen/Bernd Stiegler (Hg.), Shoa. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst, München: Fink 1996, S. 77–93, hier S. 77. 9 Frieden, Kristin: Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas, Bielefeld: Transcript 2014, S. 19.
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um dem Vergessen vorzubeugen. Zugleich führt jedoch gerade die bereits von mehreren Generationen praktizierte Verhandlung der Vergangenheit, zu einer Überformung, Verfremdung und letztlich auch Veränderung der Geschichte und ihrer Bewusstwerdung, die eine Distanzierung und Ermüdung in Auseinandersetzung mit dem Holocaust zur Folge hat.10 Auch Georges Didi-Huberman ist der Auffassung, „daß ein übersättigtes Gedächtnis ein in seiner Wirksamkeit bedrohtes Gedächtnis ist […]. Schwierig ist es, eine Antwort darauf zu finden, wie das Gedächtnis entsättigt werden könnte anders als durch Vergessen, kurz, wie eine neue Form des Gedenkens entwickelt werden könnte, die lesbar machte, was die Lager waren“11. Żmijewski ist weniger an einer neuen Gedenkkultur als vielmehr an einer wirksamen Methode interessiert, die eine direkte Anknüpfung an die Vergangenheit ermöglicht: „Our goal therefore was to change the way we remember: to augment the pain, to turn the body back to be the reservoir of memory, to make it responsible for the past, to restore it with the trauma that lives in it anyway. Only that this time the trauma adopts the very visible form of a tattoo being renewed – and it has a specific name: 80064.“12 An Stelle einer rationalen, auf Ersatzobjekte ausgelagerten und damit stellvertretend geführten Auseinandersetzung mit dem Holocaust, setzt Żmijewski auf die Aktivierung einer lebenden Ressource, das heißt auf eine Person, die den Holocaust unmittelbar erfahren hat und dadurch über das Potential verfügt, den erlittenen Qualen emotional und authentisch Ausdruck zu verleihen. „It is about radical modes of memory, about the fact that trauma infects the body, engraves itself in the mind and refuses to be symbolized, and thus eventually tamed, neutralized“, so Żmijewski.13 Mit der Nachtätowierung der Gefangenennummer meint der Künstler einen unmittelbaren Zugang zu den Ereignissen und dem Trauma der Vergangenheit schaffen zu können. Wenn die historischen Berichte und Bilder keine Wirkung mehr entfalten, muss
10 Siehe: Williams, Linda: „Spiegel ohne Gedächtnisse“, in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8 2003, hier S. 28. 11 Didi-Huberman, Georges: „Das Öffnen der Lager und das Schließen der Augen“, in: Ludger Schwarte (Hg.), Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas, Bielefeld: Transcript 2007, S. 11–45, hier S. 12. 12 „Art must not always speak meekly“, Gespräch zwischen Artur Żmijewski und Miklós Erhardt, in: exindex. Contemporary Art Magazine, http://exindex.hu/index. php?l=en&page=3&id=557, abgerufen am 15.06.2016. 13 Ebd.
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das Zeugnis selbst wiederbelebt werden. Das Leid, das Tarnawa während der Herrschaft der Nationalsozialisten erfahren hat, soll reaktiviert, die Vergangenheit in die Gegenwart überführt werden; die Wiederholung der Tätowierung soll der Wieder-Holung der Vergangenheit dienen, Tarnawa zum Transmitter der Geschichte gemacht werden. Zu diesem Zweck besteht Żmijewski auf die Erneuerung der Tätowierung. Ziel der physischen Bearbeitung des Körpers ist es, die Belastung so weit zu steigern, dass ein emotionaler Ausbruch erfolgt, der im gleichen Moment von der Kamera festgehalten werden kann. „I expected that under the effect of the tattooing, the ‚doors of memory‘ would open; that there would be an eruption of remembrance of that time, a stream of images or words describing the painful past“, so der Künstler.14 Auf bildlicher Ebene findet die Wiederbelebung der im Körper eingeschriebenen Schrecken im permanenten Eindringen der Nadel unter die Haut ihre Entsprechung. Der Prozess der Durchdringung und gleichzeitigen Markierung der Haut wird in Close-Up-Einstellungen gezeigt. Die Tätowiernadel verletzt die Körpergrenze, dringt in das Innere des Körpers und die Seele ein und öffnet „the doors of memory“15. Die Stimulierung vergangener Erfahrungen, die ein nochmaliges affektbetontes Durchleben der Schrecken bewirkt – so das Kalkül des Künstlers – soll dem Rezipienten ermöglichen, die Vergangenheit anhand der expressiven Reaktion Tarnawas authentisch wahrzunehmen. Entscheidend ist, dass Żmijewski mit seinem Vorgehen offensichtlich nicht darauf zielt, den individuellen Erlebnissen eines Opfers nationalsozialistischer Verbrechen Gehör zu verschaffen. Statt Tarnawa mit den Mitteln des Films Raum für seine persönliche Geschichte zu geben, werden seine Möglichkeiten sich zu äußern und schließlich sogar zu handeln von Żmijewski gezielt eingeschränkt und gesteuert. Die an Tarnawa gerichteten Fragen sind so knapp gehalten, dass sie lediglich zur Skizzierung des Kontextes sowie zur Authentifizierung des Holocaustopfers dienen. Nicht das Vergehen an einer individuellen Person ist hier von Relevanz, vielmehr ist es Żmijewskis Anliegen, die historische Dimension des Holocaust in den Blick zu nehmen. Tarnawa erhält im Film die Funktion eines Mittlers und Ausdruckträgers der Geschichte. Żmijewski benutzt ihn als bloßes Werkzeug seiner künstlerischen Intentionen. Aus diesem
14 Mytkowska, Joanna: „80064“, in: Dies. (Hg.), If It Happened Only Once It’s as If It Never Happened/Einmal Ist Keinmal, Ostfildern: Hatje Cantz 2005, S. 23–26, hier S. 24. 15 Ebd.
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Grund schreckt er auch vor Übergriffen nicht zurück. So stellt er rigoros fest: „Ich habe den Mann genötigt und missbraucht.“16 Um die Reaktion Tarnawas authentisch einfangen zu können, muss Żmijewski die Situation im Tattoo-Studio ‚live’ aufnehmen lassen. Es ist ihm nicht möglich, das Geschehen vor laufender Kamera uneingeschränkt zu kontrollieren. Dennoch wird sein Einfluss auf die Gestaltung, die Handlung und die Aussage des Films anhand zahlreicher Aspekte deutlich. So sind die Rahmenbedingungen, wie die Wahl des Ortes oder die Platzierung Tarnawas von ihm vorbestimmt. Die Dramaturgie der Handlung ist durch Schnitte und Montagen im Bildmaterial gesteuert und die Kameraführung sorgt für eine Emotionalisierung und symbolische Überhöhung der Bilder. Die erste Einstellung zeigt Tarnawas Gesicht in Nahaufnahme. Der suchende, unsichere Blick und die tiefliegenden, von faltiger Haut umfassten Augen werden als Spiegel der Seele inszeniert, verweisen auf die Zeugenschaft und legen eine Traumatisierung des Holocaust-Opfers nahe. Das erfahrene Leid wird als ein vergangenes gekennzeichnet, das, wie die Falten, dem Körper buchstäblich eingeschrieben ist. Weitere Nahaufnahmen der zittrigen Hände, des Unterarms mit der tätowierten Nummer und der Augen erzeugen eine Dramatisierung des Geschehens. Die vorherrschende Unteransicht und die Close-Up-Einstellungen betonten die Enge des Raums und das Beklemmende der Situation. Żmijewski selbst nimmt eine distanzierte Position ein, die sich in seiner Haltung, seiner reduzierten Gestik und Mimik und seiner sachlichen, die Tonlage kaum ändernden Stimme äußert. Żmijewski beeinflusst durch sein Verhalten und seine Körpersprache gezielt die Wirkung der Abläufe. So befindet er sich bis auf wenige Ausnahmen nie in gleicher Höhe mit Tarnawa, sondern ist mal von oben, mal von unten zu sehen. Größtenteils stehend, überragt er den auf dem Behandlungsstuhl sitzenden Mann. Das distanzierte, empathielose Verhalten des Künstlers und seine Unnachgiebigkeit bauen einen wirkungsvollen Kontrast zu dem sichtlich betroffenen und nach Fassung ringenden Tarnawa auf. Nicht nur gegenüber der wiederholten Bitte Tarnawas, von einer Erneuerung der Tätowierung abzusehen, verhält sich Żmijewskis taub, auch den verzweifelt geäußerten Gründen seiner Ablehnung schenkt der Künstler kein Gehör. Er demonstriert seine Macht, indem er die Einwände und Bedenken Tarnawas, trotz ihrer offenkundigen Berechtigung, für nichtig erklärt. Tarnawa bittet, darauf zu verzichten, die Nummer zu erneuern, weil sie durch die Überschreibung
16 Mack, Gerhard: „Artur Żmijewski – Documenta 12, Posieren mit Handicap“, in: art – Das Kunstmagazin, http://www.art-magazin.de/kunst/270.html, abgerufen am 15.06.2016.
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nicht mehr Original sei, ihm folglich der authentische Nachweis vernichtet würde, ein Überlebender von Auschwitz zu sein. Żmijewski widerspricht Tarnawa, behauptet, dass sich an der Originalität und Authentizität der Nummer durch deren Erneuerung nichts ändern würde, was von seinem Gegenüber wiederum bestritten wird. Dass Żmijewski von seinem Vorhaben nicht ablassen wird, betont auch die Kameraführung: Unaufhörlich rückt der Blick der Kamera Tarnawa auf den Leib, so dass seinem Widerstand auch bildlich kaum Raum gelassen wird. Tarnawa bleibt keine andere Wahl, als die nochmalige Tätowierung über sich ergehen zu lassen. Doch trotz des im Akt des Tätowierens gipfelnden immensen Drucks den Żmijewski auf Tarnawa ausübt, bleibt die angestrebte Wirkung – einen Ausbruch vergangener Erinnerungen zu erwirken – aus: „I expected that under the effect of the tattooing, the ‚doors of memory‘ would open; that there would be an eruption of remembrance of that time, a stream of images or words describing the painful past. Yet that didn‹t happen.“17 Statt von seinen Erlebnissen zu berichten, verstummt Tarnawa, sobald die Nadel seine Haut berührt. Mit stoischem Gesichtsausdruck verfolgt er die Verletzung seines Körpers und die Missachtung seines Willens. Da die Erneuerung der Tätowierung keinen emotionalen Schleusenbruch bewirkt, muss auch eine auf unmittelbare Erfahrbarkeit abzielende Vermittlung von Geschichte scheitern. Ein dem Scheitern zugrundeliegender Fehler Żmijewskis liegt in der Annahme, die Wiederholung könne als Wieder-Holung vergangener Ereignisse oder Erfahrungen wirksam werden. Eine solche Wiederholung ist jedoch unmöglich. „Die für die Wiederholung charakteristische Bewegung“, so hebt Elisabeth Strowick hervor, ist vielmehr die der „Verfehlung“ und als solche „artikuliert / wiederholt die Wiederholung einen Verlust“.18 Żmijewskis Versuch einer Wiederholung der Vergangenheit verfehlt seinen Gegenstand. Der Holocaust ist nicht wieder-zuholen oder wiederzubeleben. Es besteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Erlebten, den Erinnerungen und deren Vermittlung. Żmijewski wiederholt folglich nicht die Vergangenheit, sondern verweist auf die Unmöglichkeit eines Zugriffs auf vergangene Ereignisse, mit anderen Worten auf deren Verlust. Was Żmijewski nicht erkennt oder aber willentlich ignoriert ist, dass das Verstummen Tarnawas den Fokus des Werks – wie durch einen radikalen Kameraschwenk – um 180 Grad wendet. Statt die Erlebnisse der Vergangenheit
17 J. Mytkowska: 80064, S. 24. 18 Siehe: Strowick, Elisabeth: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard, Lacan, Freud, Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 94f.
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erfahrbar zu machen, deckt das Verstummen die aktuell von Żmijewski an Tarnawa ausgeübte Gewalt auf. Żmijewski hatte zu keiner Zeit die Absicht Tarnawa eine Stimme zu verleihen, ihm ging es allein um die Wirkung von dessen möglichen Affekten. Doch sein Plan ging nicht auf. So wird gerade das Verstummen zur Sprache, die deutlich Anklage erhebt gegen das Vorgehen des Künstlers.19 Im Verstummen offenbart sich die Unverhältnismäßigkeit zwischen der angewandten Gewalt und dem intendierten Zweck. Pascal Delholm, präzisiert in seiner Untersuchung zur Phänomenologie der Gewalt diese fehlende Übereinstimmung: „Die Gewaltsamkeit etwa der eingesetzten Mittel zu einem bestimmten Zweck besteht nicht darin, dass sie unangemessen oder unverhältnismäßig sind, sondern in der Tatsache, dass eine Handlung, die von anderen Lebewesen erlitten wird, überhaupt als Mittel zu einem bestimmten Zweck eingesetzt wird.“20 Żmijewskis Vorgehen wäre demnach schon vom Ansatz her falsch. Er spricht jedoch von einem anderen Aspekt seines ‚Experiments’, der die Auswirkungen des Holocaust veranschaulicht: „But another interesting thing happened. Asked whether, while in the camp, he had felt an impulse to revolt, to protest against the way he was treated, Tarnawa replied: ‚Protest? What do you mean, protest? Adapt – and try to survive.‘“21 Anfänglich sollte die Erneuerung der Lagernummer als Auslöser, als ein körperlicher Trigger fungieren, um die erlittenen Schrecken mit größtmöglicher Unmittelbarkeit zu veranschaulichen. Auch wenn dieser Effekt nicht eintrat, so wird die Tatsache, dass der ehemalige Auschwitzgefangene sich gegen seinen Willen erneut tätowieren ließ, für Żmijewski zum Nachweis der bis heute wirksamen Opferhaltung Tarnawas. In diesem Zusammenhang gibt Żmijewski unumwunden zu: „Ich habe den Mann genötigt und missbraucht. Ich wollte ihn noch mal zum Opfer machen, um diesen Moment zu beobachten, in dem er zustimmt, Opfer zu sein.“22 Damit meint Żmijewski, einen Nachweis für die Aktualität des Holocaust erbracht zu haben. Letztlich wiederholt er hier jedoch nur eine gängige Stigmatisierung der Opfer des Holocaust. Immer wieder wurde den
19 Siehe: Bartl, Angelika: Andere Subjekte. Dokumentarische Medienkunst und die Politik der Rezeption, Bielefeld: Transcript 2012, S. 47f. 20 Delholm, Pascal: „Phänomenologie der erlittenen Gewalt“, in: Michael Staudigl (Hg.), Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht, Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 155–174, hier S. 160. 21 J. Mytkowska: 80064, S. 24. 22 G. Mack: Artur Żmijewski – Documenta 12.
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Überlebenden des Holocaust vorgeworfen, „sie hätten sich erniedrigen lassen, um ihre Haut zu retten“23. Żmijewski selbst beschreibt sein Vorgehen als Missbrauch und Nötigung. Vor Entstehung der Arbeit hat er mit Tarnawa einen Vertrag abgeschlossen, der ihm einen Betrag von 500 Euro für die Nachtätowierung der Gefangennummer zusicherte: „Of course, he said ‚yes‘, because I paid him“ so Żmijewski; „It was a deal: we met before and he signed a contract stating that I pay him 500,- Euro for renewing the tattoo“.24 Weiß man von dem vorab geschlossenen Vertrag, wird deutlich, dass die Situation im Tattoo-Studio keine Bewertung der Willensstärke und Widerstandskraft Tarnawas erlaubt. Żmijewski setzt den alten Mann mit einem drohenden Vertragsbruch unter Druck und agiert daher unzweifelhaft mit den Mitteln der Erpressung. Der Künstler verfasste den Vertrag nicht zur Sicherheit Tarnawas, sondern verfolgte damit ganz andere Ziele: Żmijewski bat den ehemaligen Auschwitzgefangenen um seine Hilfe und Mitarbeit in dem geplanten Film. Einer solchen Zusammenarbeit liegt gewöhnlich ein Vertrauensverhältnis zugrunde. Die Person, die sich dem Künstler anvertraut, geht davon aus, verantwortungsvoll und mit Respekt behandelt zu werden. Żmijewski unterläuft dieses Verhältnis jedoch, indem er die Zusammenarbeit zu einer wirtschaftlichen, vertraglich abgesicherten Angelegenheit macht. Damit entledigt er sich jeglicher Verantwortung und gewinnt Macht über Tarnawa, die er ausspielt, als sich der alte Mann zur Wehr zu setzen versucht. So lässt Tarnwa im Film die nochmalige Tätowierung der Nummer resigniert mit den Worten zu: „All right. What can I say, after all I agreed on it.“ Nicht nur die Anwendung von Macht und Gewalt offenbaren Żmijewskis Entgleisung, sondern auch die Begründung mit der er seine Handlung zu rechtfertigen versucht: „I only worked with the effects of a change which had already been done in the body – and also in the mind – of this person. We can not say he ‚was‘ a victim – he still is. So, in fact, I didn’t do anything new. I only confirmed his status.“25 Żmijewski geht so weit zu behaupten, dass Tarnawas Identität allein durch die Inhaftierung und die Tätowierung der Lagernummer begründet ist: „The fact that he was a prisoner in Auschwitz is constitutive of him, something which makes him a human being, a persona – someone. I suspect he was really born 23 Chaumont, Jean-Michel: Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg: zu Klampen 2001, S. 207. 24 „Art must not always speak meekly“, Gespräch zwischen Artur Żmijewski und Miklós Erhardt, in: exindex. Contemporary Art Magazine, http://exindex.hu/index. php?l=en&page=3&id=557, abgerufen am 15.06.2016. 25 Ebd.
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for the world only when the number tattooed – before that, he ‚didn’t exist‘. All his subsequent life, he was visible only because of and through the number – it was almost his sole capital. The number and the coagulated, frozen story about the camp. Józef Tarnawa died last summer – and it’s not him we remember, but the number.“26 Żmijewski bringt mit seinem Film Tarnawa in eine Situation, in der er auf seine Identität als KZ-Häftling reduziert ist, um anschließend daraus dessen Opferhaltung abzuleiten. Sein ‚Menschenexperiment’ ist nicht nur zynisch, es zeugt auch von einer grundsätzlichen Ignoranz gegenüber historischen Fakten: Aus den von den Aufsehern selbst tagebuchartig verfassten Lagerberichten ist ersichtlich, das während der Gefangenschaft Tarnawas in Auschwitz-Birkenau unentwegt Insassen hingerichtet wurden, die Fluchtversuche unternommen hatten, der Hilfestellung beschuldigt wurden, oder die man verdächtigte, Aufstände zu planen.27 Tarnawa selbst spricht in dem Film von einem Aufseher, der die Lagerinsassen grundlos und kaltblütig ermordete. Żmijewski reagiert auf diese Erläuterungen mit der suggestiven Frage: „Endure day after day because it would all end shortly?“28 Damit verkehrt er das von Tarnawa als einzige Überlebensstrategie gekennzeichnete Verhalten in einen passiven Willen zum Tod. Zudem verdeckt Żmijewski die Tatsache, dass er selbst für eine Konstruktion verantwortlich ist, die Tarnawa keine Wahl lässt und sein Verhalten vorbestimmt. Welche Entscheidung Tarnawa auch trifft, der Verlust der Integrität ist von Żmijewski schon zuvor besiegelt worden. Hätte sich Tarnawa gegen die Tätowierung entschlossen, hätte er zugleich gegen den Vertrag verstoßen. Mit der Einwilligung in die Überschreibung der Nummer, muss er nicht nur die Verletzung seiner Integrität ertragen, sondern auch den Verlust eines wichtigen Aspekts seiner Identität. Ilja Srubar charakterisiert gewaltsame Interaktion wie diese als asymmetrisches Verhältnis: „Während die Handlungsoptionen der Täter durch die Gewaltanwendung entgrenzt werden, werden sie auf Seiten der Opfer graduell – oder mit einem Schlag – gegen Null reduziert.“29 Żmijewski wiederholt damit eine Struktur, die Tarnawa bereits im Lager erfahren hat. Mit 26 Ebd. 27 Czech, Danuta: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 350 ff. Siehe unter anderem den Eintrag vom 4. Dezember 1942, dem Tag, an dem Tarnawa in das Konzentrationslager von Auschwitz kam. 28 80064 (P 2004, R: Artur Żmijewski), Filmminute 4:36. 29 Srubar, Ilja: „Gewalt als asemiotische Kommunikation“, in: M. Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt, S. 74–86, hier S. 79–80.
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der Tätowierung der Nummer im Zuge der Aufnahme in das Konzentrationslager Auschwitz wurde den Gefangen von Beginn an ihre Individualität und menschliche Würde genommen. Die Degradierung zu einer bloßen Nummer leitete weitere Formen der Erniedrigung, Misshandlung und Entmenschlichung ein, die in der Regel in totaler Entgrenzung der physischen Vernichtung der Inhaftierten endete. Im Zusammenhang mit Żmijewskis Film ist entscheidend, dass die Gefangenennummer durch das Überleben von Auschwitz einen grundlegenden Bedeutungswandel erfährt: Die tätowierte Nummer, einst Mittel zur Klassifizierung, Verwaltung und Erniedrigung der Gefangenen wird von den Überlebenden zu einem Zeichen des Sieges über die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten umgedeutet. Tarnawa macht im Video mehrmals auf diese gewandelte Bedeutung und Funktion der Nummer aufmerksam. Die Nummer weist ihn als Überlebenden des Holocaust aus. Auf seine Nummer deutend, äußert er: „I’m a survivor, you see … I survived it.“30 Eindringlich versucht Tarnawa dem Künstler die nachträglich gewonnene neue Funktion der Nummer und deren drohenden Verlust verständlich zu machen, stößt jedoch nur auf Ingnoranz wie der folgende Schlagabtausch darlegt: Żmijewski: „The number won’t turn inauthentic. I’m telling you, it will become even more authentic. It will be a bit clearer.“ Tarnawa: „It wont be original.“ Żmijewski: „It will be original. Things like that cannot be removed or changed.“ Entgegen Żmijewskis Absicht, schreibt sich die Nachtätowierung nicht in die zurückliegenden Ereignisse ein, sondern deckt sie zu: das Original wird unsichtbar, Auschwitz verschwindet, die Vergangenheit verstummt. Folglich findet nicht die vergangene Gewalt zu neuem Ausdruck, sondern die von Żmijewski aktuell ausgeübte Gewalt wird sichtbar. Die stoische Reaktion Tarnawas ist dafür Beweis. Er muss ertragen, dass gegen seinen ausdrücklichen Willen gehandelt, dass ihm ein Zeichen seiner Identität geraubt, er erneut zum Opfer eines brutalen Vorgehens gemacht wird. Żmijewski ist anderer Auffassung: „I only worked with the effects of a change which had already been done in the body – and also in the mind – of this person. We can not say he ‚was‘ a victim – he still is. So, in fact, I didn’t do anything new. I only confirmed his status.“31 Die von Żmijewski aufgeführte Logik dieser Aussage ist erschütternd: Mit der Behauptung an Tarnawas Opferstatus hätte sich seit seiner Gefangenschaft in Auschwitz nichts geändert, stigmatisiert er 30 80064 (P 2004, R: Artur Żmijewski), Filmminute 2:51. 31 „Art must not always speak meekly“, Gespräch zwischen Artur Żmijewski und Miklós Erhardt, in: exindex. Contemporary Art Magazine, http://exindex.hu/index. php?l=en&page=3&id=557, abgerufen am 15.06.2016.
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den alten Mann nicht nur, er behauptet damit zudem, dass die in Auschwitz erlittene Gewalt, die aktuell ausgeübte Misshandlung rechtfertigt. Tarnawa lebt demnach nicht nur ‚mit‘ der vergangenen Gewalt, er lebt ‚im‘ Status der Gewalt, das heißt er verkörpert die Gewalterfahrung von Auschwitz. Da der Status des Opfers, laut Żmijewski, unveränderbar ist, zählen weitere Misshandlungen nicht – sie existieren quasi nicht: „I didn’t do anything new.“32 Es wundert daher nicht, dass Żmijewski die Wirkung seiner Handlung nicht am Verhalten und den Reaktionen Tarnawas misst, sondern allein an der eigenen Einstellung: „For me, for example, re-tattooing the ID-number is not exceptionally radical. In my subjective world, greater extremities are possible, which is to say that my image of the world must contain a radicalism that is impossible for others to accept. I often think that artists, with their transgressions, radical languages and so on, are still innocent, because science or politics produce far more dramatic, and sometimes outright tragic events or ways of treating people. Art mustn’t always speak meekly when the other discourses use violence and speak to us from hegemonic positions.“33 Aus der Existenz bestehender hegemonialer Systeme leitet Żmijewski die Notwendigkeit ab, ebenfalls Gewalt anzuwenden. Damit verbunden ist die Auffassung, Kunst verfüge über eine Autonomie, die es dem Künstler erlaube, auch jenseits gesellschaftlicher Normvorstellungen zu agieren: „I think that art is a discipline which is not fully controlled by society and it should remain so. Art and science should not be closely controlled and should not be forced to be responsible, they should be able to go astray and make mistakes. So that artists would be able to conduct ethically dubious experiments, and science would be able to do the same. The limit, of course, is the penal code. When we don’t have to act responsibly, we can really create something new. Art keeps eluding social control and practicing its irresponsible, risky activities. It jumps into an abyss. There, knowledge waits for it.“34 Auch hier irrt Żmijewski, denn neben dem Strafgesetzbuch gibt es ethische Maßstäbe nach denen das eigene sowie das Handeln anderer zu bemessen ist. Doch auf ethische Werte legt Żmijewski offensichtlich keinen Wert: „I don’t believe in ethical immaculacy. Ethical purity doesn’t exist. I’m not a judge of
32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd.
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my brothers, rather, I’m among the defendants. Poles have a rich tradition of violence against their Jewish neighbors, so I’m in the right place.“35 Einer Haltung, die nicht davor zurückschreckt, sich bereitwillig in die Riege der Täter einzugliedern, ist nicht beizukommen. Klar ist jedoch, dass eine Kunst, die auf Gewalt basiert, nichts Neues schaffen kann, denn: „Gewalt verwandelt nicht, sie raubt Gestalt und Sinn“, so Jean-Luc Nancy; „Gewalt bleibt außen vor, sie ignoriert das System, die Welt, die Gestalt (ob Person oder Gruppe, Körper oder Sprache) der sie Gewalt antut. […] Darum ist die Gewalt auch grundlegend dumm, dumm im stärksten, dichtesten und unverbesserlichsten Sinne. Nicht als fehlende Intelligenz, sondern, mehr noch, als Hirnrissigkeit des abwesenden Denkens, mit dem Kalkül einer verkrampften Intelligenz.“36 Gerade Żmijewskis Unfähigkeit zu scheitern, sein Festhalten an der Arbeit und seine sprachlichen Legitimationsversuche legen offen, wie skrupellos er sein Fehlverhalten auf Kosten eines anderen Menschen, als künstlerischen Akt von angeblich politischer Notwendigkeit umzudeuten versucht, um daraus (erfolgreich) symbolisches Kapital für das eigene Werk und seine Position innerhalb des Kunstsystems zu schlagen. Dass sein Scheitern dennoch deutlich sichtbar und von den meisten Rezipienten auch als solches erkannt wird, ist Jósef Tarnawas Haltung zu verdanken. Sein konsequentes Schweigen veranschaulicht den stillen Widerstand und Protest gegen die Gewalt Żmijewskis. Es offenbart die Verantwortungslosigkeit und Brutalität des Künstlers im Umgang mit einem Menschen, der sich bereit erklärt hat, ihm bei seiner Arbeit behilflich zu sein; es deckt die Manipulation des Geschehens und der filmischen Handlung auf; es entlarvt eine Rhetorik, die Gewalt im Namen der Kunst zu legitimieren versucht. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Kuratieren der Arbeit 80064 als problematisch. Die Integration des Werks in Ausstellungen und Museen läuft Gefahr als Zustimmung der Inhalte verstanden zu werden, da davon auszugehen ist, dass der Präsentation künstlerischer Werke innerhalb des Kunstsystems eine kritische Prüfung vorausgeht, die sich auch an ethischen Maßstäben orientiert.
35 Ebd. 36 Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin: Diaphanes 2012, S. 32–33.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Simone von Büren studierte Englische und Amerikanische Literatur, Kinder-Jugend-Psychologie und Projekttheater an der Universität Bern und am Dartington College of Arts, UK. Als freie Autorin schreibt sie unter anderem für die NZZ am Sonntag, Theater der Zeit und Die Tageswoche. Sie ist Dozentin am Schweizerischen Literaturinstitut der Hochschule der Künste Bern und arbeitet als Dramaturgin in Musik- und Projekttheaterproduktionen. Werner Greve ist seit 2001 Professor für Psychologie an der Universität Hildesheim. Er hat an der Universität Trier Psychologie und Philosophie studiert und war von 1994 bis 2003 für das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Psychologie des Selbst, Psychologie der Bewältigung und Kriminalpsychologie. Mareike Herbstreit hat Kunstwissenschaft, Philosophie und Soziologie studiert und war von 2008 bis 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig tätig. Als Stipendiatin des DFG -Graduiertenkollegs „Das fotografische Dispositiv“ hat sie im Sommer 2016 ihre Dissertation mit dem Titel „Aktionsrelikte. Ausgestellte Authentizität bei Chris Burden und Marina Abramović“ abgeschlossen. Jens Kabisch ist Künstler und Sozialanthropologe. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit den Strukturen US-amerikanischer Geschichtsstiftungen und ihren politischen Implikationen. Zurzeit arbeitet er zum Zusammenhang von Bilderverboten und der Rationalität juridischer Ordnungen. Zuletzt erschienen: „Innocent Nation. Barack Obama und die Politik der Authentizität“, Wien: Turia + Kant, 2013. Seit dem Jahr 2000 betreut Kabisch überdies den amerikanischen Stuntman und Daredevil extraordinär Evil Knievel. Stefan Krankenhagen ist Professor für Kulturwissenschaft und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Darstellung von Geschichte in populären Medien, die Sport- und Fankultur sowie Diskurse der Moderne (Naivität, Authentizität, Un/Darstellbarkeit). Er ist Mitbegründer des Internationalen Fußballfilmfestivals 11mm.
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Thomas Lange ist seit 2008 Professor für Geschichte und kulturelle Praxis der Bildenden Kunst an der Universität Hildesheim. Von 2003 bis 2008 war er Assistenz-Professor am Kunsthistorischen Institut der Universiteit van Amsterdam. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Theorie des Bildes in der Moderne (um 1800 bis Gegenwart) und die Kunst seit 1960 in Europa und USA. Annemarie Matzke ist Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheater am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim und Mitglied des Performancekollektiv She She Pop. Forschungsschwerpunkte sind Schauspieltheorien, theatrale Raumkonzepte, Theorie und Geschichte der Theaterprobe sowie Performance Art. Torsten Scheid ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft der Universität Hildesheim. Studium der Bildenden Kunst, Literatur und Medienwissenschaft an der Norwich School of Art&Design und der Universität Hildesheim. Arbeit als freier Autor und Kurator. Aktuelle Forschungsschwerpunkte zu Fotografie und Internet und zur (Inter-) Materialität der Fotografie. Editing the World ist das Ergebnis eines künstlerisch-kuratorischen Projektes mit Studierenden aus dem Sommersemester 2014. Viola Vahrson, geb. 1968, studierte an der Freien Universität Berlin Kunstgeschichte, Philosophie und Slawische Literaturwissenschaft. 1996 arbeitete sie als Gastkuratorin am Jacksonville Museum of Contemporary Art und absolvierte von 1997–1999 ein Volontariat an der Berlinischen Galerie. 2004 promovierte sie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Von 2010–2016 war sie Juniorprofessorin an der Universität Hildesheim. Seit dem Wintersemester 2016 ist sie Professorin für Kunst- und Bildwissenschaft an der Fakultät Design der Hochschule Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Kunst der Moderne und Gegenwart, Museumsgeschichte und Ausstellungstheorie. Susanne Wernsing studierte Mittlere/Neuere Geschichte, Pädagogik und Romanistik in Köln und Histoire du Patrimoine in Reims. Nach einem Volontariat im Rheinischen Industriemuseum arbeitet sie seit 2002 als freie Kuratorin von Dauer- und Sonderausstellungen u.a. für das Technische Museum Wien, Künstlerhaus Wien und Deutsches Hygiene-Museum. Sie ist Stipendiatin von Museion21 der Alfred Toepfer Stiftung. Derzeit kuratiert sie eine Ausstellung über Rassenkonzepte/Rassismus im dhmd. Themen ihrer Ausstellungen
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und Publikationen sind Industrie- und Technikgeschichte, Körperkulturen, Geschichts- und Erinnerungsdiskurse, Theorie und Praxis des Ausstellens. Volker Wortmann, geb. 1965, studierte an der Universität Dortmund und der Universität Hildesheim, war im Anschluss Stipendiat im Graduiertenkolleg „Authentizität als Darstellungsform“ und freier Mitarbeiter am Landesmuseum Oldenburg. Seit dem Jahr 2000 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur“ der Stiftung Universität Hildesheim. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur Ästhetik des Dokumentarischen zur filmischen Darstellung der Künste und zur Mediengeschichte des Films.
Bildnachweis 21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden Ein Langzeitprojekt von Mats Staub Frankfurt, Künstlerhaus Mousonturm, 2013 (Fotos S. 86, 87, Umschlagbild: Jörg Baumann) Hannover, Festival Theaterformen, 2013 (Fotos S. 88: Andreas Etter) Wien, Wiener Festwochen, 2015 (Fotos S. 89, 90 oben, 91 oben, 92: Nurith Wagner-Strauss) Zürich, Gessnerallee, 2014 (Fotos S. 90 unten, 91 unten: T+T Fotografie/Toni Suter + Tanja Dorendorf) Editing the World Eine Ausstellung des Projektes Bildverschwendung Nora Brünger, Fabian Hennigs, Frederik Preuschoft, Torsten Scheid, Cara Schröder, Lea Steinkampf, Sonja Wunderlich, Francisco Vogel Editing the World, Ausstellungsansicht, Kunstverein Hildesheim (Foto S. 94 oben: Fabian Hennigs) Simone Stunz, Kleiderkreisel, c-prints, 2013 (Foto S. 94 unten: Francisco Vogel) Editing the World, Katalogbox (Foto S. 95: Fabian Hennigs) Lea Steinkampf, Brasilien, Fineliner auf Glas, 2014 (Foto S. 96: Fabian Hennigs) Editing the World, Künstlerbuch „Selfie“ (Foto S. 97 oben: Francisco Vogel) Editing the World, Künstlerbuch „Zensur“ (Foto S. 97 unten: Francisco Vogel) Francisco Vogel, Am Rande der bekannten Welt, Inkjet-Prints, 2012–2014 (Foto S. 98, 99: Francisco Vogel) Cara Schröder, Lonely legs, c-prints, 2014, Ausstellungsansicht (Foto S. 100: Fabian Hennigs)
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