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German Pages 414 [416] Year 2007
Marcus Müller Geschichte, Kunst, Nation
W G DE
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Marcus Müller
Geschichte, Kunst, Nation Die sprachliche Konstituierung einer ,deutschen4 Kunstgeschichte aus diskursanalytischer Sicht
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019642-9 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 2006 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Sie wurde gegenüber der eingereichten Fassung unwesentlich verändert. Für Ihren jeweiligen Anteil am Zustandekommen der Arbeit danke ich Jochen A. Bär, Hans Haufe, Klaus-Peter Konerding und den Teilnehmern des von Oskar Reichmann in Heidelberg veranstalteten Doktorandenkolloquiums. Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Studia Unguistica Germanica danke ich den Herausgebern. Dem Verlag de Gruyter, namentlich Angelika Hermann und Heiko Hartmann, gilt mein Dank für die freundliche Betreuung. Ganz besonders danke ich Oskar Reichmann, der mir ein Lehrer im umfassendsten Wortsinne war und ohne den mein Buch nicht denkbar wäre. Statt mich gegenüber meiner Frau Alessandra Bendiscioli in unzureichenden Danksagungen zu verheddern, widme ich ihr dieses Buch. Heidelberg, im August 2007
Marcus Müller
Inhaltsverz eichnis Einleitung 1. Geschichte als Text und Diskurs 1.1. Geschichte und Geschichtstext 1.1.1. Die Polysemie von Geschichte 1.1.2. Geschichte als Wahrheit und ihr Entwurf. 1.1.3. Der Sinn der Geschichte 1.2. Geschichte als Diskurs 1.3. Wird Geschichte wirklich erzählt? 1.4. Ist Kunstgeschichte Geschichte? 1.5. Resümee
1 9 10 10 11 13 16 19 22 24
2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen der deutschen Kunsthistoriographie 26 2.1. Die Ausprägung des kunsthistorischen Geschichtsverständnisses 26 2.1.1. Vortexte der modernen Kunsthistoriographie 27 2.1.1.1. Vasari 27 2.1.1.2. Winckelmann 28 2.1.1.3. Hegel 30 2.1.2. Kunstgeschichte als Abfolge der Kunststile 32 2.2. Die Herausbildung einer nationalen Perspektive 34 2.3. Die Verfasser der Geschichten der deutschen Kunst 37 2.3.1. Die Entstehung der Kunstgeschichte als Universitätsfach 37 2.3.2. Die deutsche Kunsthistoriographie im Nationalsozialismus ....39 2.3.3. Die Revitalisierung einer nationalen Perspektive 42 2.4. Resümee 44 3. Prämissen und Methode 3.1. Terminologische Fundierungen und Vorüberlegungen 3.1.1. Diskurs 3.1.2. Probleme der Diskursanalyse 3.1.3. Perspektivität in Sprachsystem und Sprachgebrauch 3.1.4. Wissen und sprachliches Handeln 3.1.5. Wissensbereich und Konzept
46 48 48 50 51 55 57
νηι
Inhaltsverzeichnis
3.1.6. Konzepte und onomasiologische Felder 3.1.7. Syntaktische Integration der Wissensbereiche 3.1.8. Konzept, Weltanschauung und Imagearbeit 3.1.9. Ereignis und Prozess 3.1.10. Klassen, Totalitäten und Ganzheiten 3.1.11. Thematische Entfaltung 3.2. Das Korpus 3.2.1. Begründung der Korpusauswahl 3.2.2. Gesamtbeschreibung des Korpus 3.2.3. Zeitliche Grobgliederung des Korpus 3.2.4. Grobgliederung des Korpus nach Kommunikationsbedingungen 3.2.5. Gemeinschaftsprojekte innerhalb des Korpus 3.2.6. Vorgehen bei der Exzerption 3.4. Erläuterungen zur Darstellungsweise und Notation 3.4.1. Graphie 3.4.2. Quellennachweise 3.4.3. Transformierung der exzerpierten Syntagmen in die Normalform 3.4.4. Teilformalisierungen 3.4.5. Monosemierung polysemer Einheiten 3.4.6. Markierung der semantischen Rollen 3.4.7. Markierung diskursreferentieller Verweise 3.5. Semasiologische Gliederung der Ausdrücke Kunst, Kultur und Geschichte 3.6. Resümee
95 100
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
101
4 . 1 . GESCHICHTE
101
4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4. 4.1.5. 4.1.6. 4.1.7. 4.1.8.
Geschichte Geschichte Geschichte Geschichte Geschichte Geschichte Geschichte Geschichte
ist ein Individuum ist ein Ort ist Veränderung ist Verbesserung ist Verschlechterung ist ein Wechselspiel ist Konstanz ist Ergebnis von Kommunikation
4.2. KUNST
4.2.1. Kunst ist ein Individuum 4.2.2. Kunst ist eine Gruppe von Individuen 4.2.3. Kunst ist ein Ort
62 67 70 74 76 77 83 84 85 86 87 87 88 89 89 90 90 90 91 92 94
101 103 104 105 108 109 111 112 115
115 116 117
Inhaltsverzeichnis
4.2.4. 4.2.5. 4.2.6. 4.2.7. 4.2.8.
Kunst ist Kunst ist Kunst ist Kunst ist Kunst ist
ein Einheitsprinzip eine Tätigkeit ein Anschauungsobjekt Kommunikation eine Lebenswelt
4.3. NATION
4.3.1. Deutschland 4.3.2. Deutschland 4.3.3. Deutschland 4.3.4. Deutschland 4.3.5. Deutschland 4.3.6. Deutschland 4.4. Resümee
IX
118 122 123 124 127 128
ist ein Individuum ist ein Einheitsprinzip ist ein Ort ist ein soziales Gebilde ist ein biologisches Gebilde sind wir
128 132 135 137 138 140 141
5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
144
5.1. GESCHICHTE + KUNST
144
5.1.1. Nominalphrasen 5.1.2 Prädikationsgefuge 5.1.3. Adverbiale Angaben 5.2. KUNST + NATION
5.2.1. Nominalphrasen 5.2.2. Prädikationsgefuge 5.2.3. Adverbiale Angaben 5.3. GESCHICHTE + NATION
5.3.1. Nominalphrasen 5.3.2. Prädikationsgefuge 5.3.3. Adverbiale Angaben
144 154 157 158
158 168 173 174
174 180 182
5.4. GESCHICHTE + KUNST + NATION
182
5.4.1. Nominalphrasen 5.4.2. Prädikationsgefüge 5.4.3. Adverbiale Angaben 5.5. Resümee
183 191 194 194
6. Strategien der thematischen Entfaltung 6.1. Beschreiben 6.1.1. Beschreiben als Perspektivieren 6.1.2. Modi der Verankerung 6.1.3. Stufen der Temporalisierung 6.1.4. Betrachtereinbezug 6.1.5. Produktionsnachvollzug 6.1.6. Zusammenbindung von Konkreta und Abstrakta in der Beschreibung
196 196 198 201 202 209 214 216
χ
Inhaltsverzeichnis
6.1.7. Zustands-, Epochen- und Konstellationsbeschreibungen 220 6.1.8. Resümee 223 6.2. Erzählen 224 6.2.1. Individuum, Klasse und Abstraktum 226 6.2.2. Agentivierungen als Instrument der Nationalpädagogik 244 6.2.3. Metaphorische Deutvingsrahmen 252 6.2.4. Metadiskursives Erzählen 260 6.2.5. Resümee 264 6.3. Argumentieren 265 6.3.1. Argumentation als Vernetzung 268 6.3.1.1. Präventives Argumentieren 268 6.3.1.2. Reaktives Argumentieren 270 6.3.2. Argumentieren aus der Autorität 272 6.3.3. Die deutsche Kunst und das Deutsche Argumentieren aus den Teilen und dem Ganzen 279 6.3.3.1. Deutsche Kunst und Deutsches Wesen 280 6.3.3.2. Das Deutsche in der Gotik 285 6.3.3.3. Das Fremde als Kontur des Eigenen 290 6.3.4. Was ist Deutschland? — Argumentieren aus der Definition... 292 6.3.5. Resümee 299 7. Resümee
301
7.1. Zusammenfassung der Ergebnisse 7.1.1. Klassen von Konzepten 7.1.2. Modi der Inbezugsetzung der Wissensbereiche 7.1.3. Perspektivierung durch thematische Entfaltung 7.2. Zeitliche Gliederung des Diskurses 7.3. Kunstgeschichte als Mittel der Stiftung nationaler Identität 7.4. Schluss
301 301 302 306 308 310 313
8. Literatur
315
8.1. Quellen 8.2. Sekundärliteratur
315 316
9. A n h a n g
329
9.1. Lexikalische und textstrategische Perspektivierungen
329
9.1.1. GESCHICHTE 9.1.2. KUNST 9.1.3. NATION
9.2. Integrative Fügungen 9.2.1. KUNST + GESCHICHTE
329 338 348
357 357
Inhaltsverzeichnis
9.2.1.1. Nominalphrasen 9.2.1.2. Prädikationsgefüge 9.2.1.3. Adverbiale Angaben 9.2.2. KUNST + NATION
9.2.2.1. Nominalphrasen 9.2.2.2 Prädikationsgefüge 9.2.2.3. Adverbiale Angaben 9.2.3. GESCHICHTE + NATION
9.2.3.1. Nominalphrasen 9.2.3.2. Prädikationsgefüge 9.2.3.3. Adverbiale Angaben 9.2.4. GESCHICHTE + KUNST + NATION
9.2.4.1. Nominalphrasen 9.2.4.2. Prädikationsgefüge 9.2.4.3. Adverbiale Angaben
XI
357 364 369 370
370 376 381 382
382 386 389 389
389 393 400
Einleitung Von Georg Dehio stammt die Beobachtung, das Kunstwerk habe immer eine Doppelnatur: Einerseits ist es - als geschaffenes Produkt - ein Zeugnis der Vergangenheit, andererseits gehört es — als ästhetischer Eindruck — der Gegenwart des Betrachters an. Der Kunstwissenschaftler hat die Aufgabe, diese Doppelnatur offen zu legen, indem er die ästhetische Wirkung der Kunst auf die Gegenwart an die historischen Bedingungen ihrer Entstehung rückbindet. Sieht also der Kunstwissenschaftler sein Metier darin, Kunstwerke als Ereignisse in den Rahmen einer allgemeinen Entwicklung zu stellen, dann ist er ein Sonderfall des Historikers. Von der Figur des Historikers wiederum hat man zwei Bilder entworfen. Auf der einen Seite wurde gesagt, der Historiker sei jemand, durch den ,die Geschichte selbst spricht'; einer, der gleichsam nur die Bühne für den selbstbestimmten Auftritt der historischen Ereignisse zimmert. Andere haben den Geschichtsschreiber in eine Linie mit seinem anthropologischem Vorbild, dem Erzähler, gestellt und das Erzählte, die Geschichte, als ein narrativ strukturiertes Sinnganzes verstanden, welches nicht einfach den Lauf der Dinge abbildet, sondern seinen Sinn erst im Moment der Erzählung erhält. Koller (2004: 290) hat in diesem Sinne auf die grundlegende Perspektivität des historischen Textes verwiesen: Prinzipiell ist zu beachten, dass das Phänomen Geschichte sehr viel weniger als andere Betrachtungsgegenstände einfach da ist und nur darauf wartet, sprachlich repräsentiert zu werden [...]. Vielmehr muss dieses Phänomen als Vorstellungsgestalt erst mühsam aus Quellen rekonstruiert oder mit Hilfe von Selektionsentscheidungen konstituiert werden. Ein Historiker kann Geschichte nicht einfach widerspiegeln, sondern er kann nur eine bestimmte Vorstellungsgestalt von Geschichte aus einer umgeformten Masse von Daten unterschiedlichster Art herausmeißeln. Das Produkt seiner Sinnbildungsanstrengungen ist allerdings kein reines Produkt der Einbildungskraft, weil es referenziell in der Realität verankert sein muss, aber gleichwohl doch ein Objektivierungskonstrukt, das in einem sehr hohen Maße von den Perspektivierungsimplikationen des dafür maßgeblichen Sehepunktes bzw. der dafür verwendeten sprachlichen Objektivierungsmuster abhängt.
Geschichte in diesem Sinne war also nicht, sondern entsteht als „Vorstellungsgestalt" bei der Niederschrift eines historischen Textes, und zwar in Abhängigkeit einerseits vom individuellen Standpunkt („Sehepunkt") des Historikers und andererseits von den „sprachlichen Objektivierungsmus-
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Einleitung
tern", deren sich der Historiker beim Verfassen des Geschichtstextes bedient: Die ,Geschichte' als Vorstellungsgestalt ist nicht nur abhängig von den Daten, welche die historische Forschung zeitigt, sondern genauso von den kommunikativen Voraussetzungen ihrer sprachlichen Gestaltung. Mit dem Ausdruck sprachliche Objektivierungsmuster sind ζ. B. Epochenbegriffe mit ihren wissenschaftsgeschichtlichen und weltanschaulichen Implikationen angesprochen, aber auch Textmuster, auf die bei der Beschreibung einzelner historischer Sachverhalte oder der Erzählung historischer Entwicklungslinien zurückgegriffen wird. Solche Modi der sprachlichen Ausgestaltung von ,Geschichte' sind aber ihrerseits gebunden an Vortexte, und zwar insbesondere an solche, die im Rahmen des jeweiligen historischen Kommunikationsbereichs denselben Gegenstand behandelten. Die sprachlich konfigurierte Vorstellungsgestalt der Geschichte als überindividuelles Phänomen ist also nur erklärbar, wenn Texte betrachtet werden, die thematisch aufeinander bezogen sind. Eine solche Klasse aus thematisch aufeinander bezogenen Texten wird im Folgenden mit Busse/Teubert (1994: 14) Diskurs genannt. ,Geschichte' wäre demnach ein komplexer Redegegenstand, der seinen Erscheinungsort in der Intersubjektivität der Kommunikationssituation hat und beständig reformuliert wird. Dementsprechend ist er erstens den Bedingungen der Kommunikation und zweitens der Handlungsabsicht des jeweiligen Historikers unterworfen. Das bedeutet, dass sich in der intersubjektiven Vorstellungsgestalt ,Geschichte', wie sie im historiographischen Diskurs entsteht, einerseits Kontinuitäten durch Musterbildungen und andererseits Variablen durch Handlungsvarianten ausprägen. Dem Patrioten wiederum ist es ein Anliegen, seine Vorstellung von der Einheit, der Bedeutung und den Leistungen des eigenen Volkes möglichst anschaulich und publikumswirksam zu verbreiten. Die ,Geschichte der deutschen Kunst' eignet sich dazu in besonderem Maße, eben weil Kunstwerke immer gleichzeitig als historische Ereignisse und als Betrachtungsgegenstände der Gegenwart präsentiert werden können. ,Geschichte' — auch die des eigenen Volkes - wird in Kunstwerken daher unmittelbar erfahrbar, bedeutende Künstler wie ζ. B. Albrecht Dürer können in national geprägten Kunstgeschichten mit den besten Erfolgsaussichten als nationalpädagogisch wirksame Identifikationsfiguren exponiert werden. Allerdings ist die deutsche Kunst, im Gegensatz etwa zur deutschen Sprache, kein Gegenstand, dessen Bindung an die Kategorie des Nationalen unmittelbar einsichtig wäre. Will der Kunsthistoriker als Patriot auftreten, so muss er die Entwicklung der Kunst im eigenen Land als nationale Kunstentwicklung plausibiüsieren, indem er etwa bestimmte Kunststile ideengeschichtlich an die geistige Verfasstheit der eigenen Nation rück-
Einleitung
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bindet oder indem er Leistungen einzelner Künstler aus deren nationalem Umfeld heraus erklärt. Wer eine Geschichte der deutschen Kunst verfasst, der muss alle drei Figuren, den Kunstwissenschafder, den Historiker und den Patrioten, in sich vereinigen. Er muss Kunstwerke beschreiben, eine Reihe von Kunstwerken als Ausdruck einer historischen Entwicklung plausibilisieren und schließlich darlegen, inwiefern diese Entwicklung eine spezifisch deutsche ist oder sich mindestens von anderen ,nationalen Kunstentwicklungen' unterscheidet. Damit sind die grundlegenden Parameter der vorliegenden Untersuchung benannt: Deren Ziel ist es, an einem Korpus, das aus allen in deutscher Sprache verfassten Geschichten der deutschen Kunst besteht, zu demonstrieren, wie dasjenige, was wir nach der Lektüre eines historiographischen Textes zur deutschen Kunst unter ,deutscher Kunstgeschichte' verstehen, entsteht. Anders formuliert: Aufgezeigt werden sollen die sprachlichen Ob) ektivierungs muster, an welche ,die deutsche Kunstgeschichte' als komplexe Vorstellungsgestalt im Sinne Kollers im Diskurs zur ,Geschichte der deutschen Kunst' gebunden ist, und zwar auf der Ebene der Lexik, der Syntax und der Textpassagen. Texte, deren Thema die deutsche Kunstgeschichte ist, eignen sich in hohem Maße dazu, die sprachlichen Mittel aufzuzeigen, mit denen ,Geschichte' als perspektivisch geprägter Wissenskomplex in einer Reihe thematisch aufeinander bezogener Texte ,gemacht' wird: Erstens baut die Kunsthistoriographie generell auf einem relativ einheitlich tradierten Geschichtsmodell auf, kunsthistorische Überblickstexte sind daher gut vergleichbar. Zweitens ist der Kanon an Kunstwerken, der in den deutschen Kunstgeschichten präsentiert wird, über die 150 Jahre des Diskurses relativ unverändert geblieben; das heißt, dass nicht nur die Themen der Gesamttexte identisch sind, sondern sich innerhalb des Diskurses auch identische Teilthemen einzelner Textpassagen finden. Drittens schließlich lässt sich durch den nationalen Standpunkt der Autoren, der sich innerhalb der Kunsthistoriographie nicht aus dem Thema selbst ableiten lässt, deutlicher als in anderen Geschichtstexten die gegenseitige Abhängigkeit von Autorenperspektive und sprachlicher Gestaltung aufzeigen. Es wird im Folgenden also versucht, von den Ergebnissen sprachlichen Handelns auf bestimmte konzeptuelle Prägungen diskursiv gebundenen Wissens zu schließen. Der Leitterminus der Analyse ist der Begriff der ,Perspektivität', so wie er von Wilhelm Koller (2004) entwickelt wurde. Ich bin von der Prämisse ausgegangen, dass im Diskurs zur ,Geschichte der deutschen Kunst' drei Bereiche des Wissens, nämlich die Bereiche GESCHICHTE, KUNST und NATION erstens in eingliedrigen Ausdrücken als Totalitäten implementiert, zweitens in Syntagmen zueinander in Bezug
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Einleitung
gesetzt und drittens in Textpassagen als Teilthemen entfaltet werden. Die lexikalische Implementierung, die syntaktische Integration und die thematische Entfaltung können dabei als drei Stufen der Perspektivierung der komplexen Vorstellungsgestalt ,deutsche Kunstgeschichte' betrachtet werden: Die Wissensbereiche KUNST, GESCHICHTE und NATION werden erstens in die einzelnen Texte eingeführt und gleichzeitig perspektiviert, indem sie durch Wörter oder Wortgruppen benannt werden. So kann man für KUNST ζ. B. ästhetisch-künstlerische Produktion oder Fomenmlt sagen und hat damit einmal ein soziologisches und zum anderen ein philosophischsystematisches Konzept von KUNST evoziert. Im ersten Konzept ist der Künstler als Handelnder impliziert und im zweiten die Kunst als kohärente Gesamterscheinung. Bei der Verwendung solcher Ausdrücke greifen Weltanschauung und Formulierungstradition immer wieder ineinander: Einerseits werden Formulierungen durch diskursextrinsische Weltanschauungen geprägt („die deutsche Rasse", „Feudalformation"), anderseits werden diskursintrinsische Weltanschauungen durch in der Kommunikation geprägte Ausdrücke weitertradiert („Aufstieg", „Blüte", „Verfall"). Die so eingeführten Wissensbereiche werden dann in Syntagmen ineinander integriert, ζ. B. verknüpft der Satz Die abstrakte Malerei besitzt in Deutschland eigene Wurzeln historische (Wurzeln), künstlerische (abstrakte Malerei) und auf die Nation bezogene (in Deutschland) Vorstellungen miteinander. Auch auf der Ebene der Syntagmen werden die Wissensbereiche nicht nur miteinander verknüpft, sondern gleichzeitig auch perspektiviert: Wenn ζ. B. vom Verfall der gotischen Architektur oder vom Eindringen der niederländischen Malerei in Deutschland gesprochen wird, dann drücken solche Fügungen Ereigniskonstellationen aus, innerhalb derer Sachverhalten bestimmte Handlungsrollen zugewiesen werden, ζ. B. die des Erleidenden eines historischen Vorganges {Verfall der gotischen Architektur) oder des Agenten einer Handlung (Eindringen der niederländischen Malerei in Deutschland). Auch auf der Ebene von Textpassagen lassen sich Perspektivierungsbewegungen identifizieren. Zum Beispiel können Kunstwerke vom Betrachterstandpunkt oder einem fiktiven Standpunkt innerhalb des Kunstwerks aus beschrieben werden. Sie können auch versprachlicht werden, indem der eigene Eindruck des Beschreibenden vertextet wird oder indem man das Ereignis ihrer Produktion erzählt. In solchen Kunstbeschreibungen entsteht jeweils eine Perspektive, indem durch die Wahl eines bestimmten Betrachterstandpunktes jeweils ein Aspekt des beschriebenen Kunstwerkes versprachlicht wird. Nachdem die Kunstwerke beschreibend versprachlicht sind, wird in erzählenden Passagen eine historische Entwicklung präsentiert, innerhalb derer die beschriebenen Kunstwerke als Prototypen verschiedener Entwicklungsstufen plausibilisiert werden kön-
Einleitung
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nen. Dabei treten regelhaft Konkreta, ζ. B. einzelne Künstler, und Abstrakta, ζ. B. Kunststiie, als miteinander agierendes Personal der kunsthistorischen Erzählung auf. Die nationale Ausrichtung der Geschichten der deutschen Kunst erfordert es, dass außerdem künstlerische {die Malerei) und nationale {die Deutschen) Kategorien prinzipiell gleichberechtigt als Handelnde innerhalb des historischen Ereignisraumes präsentiert werden. Insbesondere die Kategorie des Nationalen ist aber aus den angesprochenen Gründen begründungspflichtig, daher finden sich neben den beschreibenden und erzählenden auch argumentierende Passagen. An ihnen lassen sich auf der Textebene besonders deutlich die verschiedenen konzeptuellen Fassungen des Wissensbereichs DEUTSCHLAND in den einzelnen Texten ablesen. Durch die lexikalische Perspektivierung, die syntaktische Integration und die thematische Entfaltung der Wissensbereiche wird in den Texten eine komplexe individuelle Sinnwelt geschaffen, die vom Autor als ,Geschichte der deutschen Kunst' präsentiert und vom Leser als solche rezipiert wird. Da nun aber nicht nur ein Text geschrieben wurde, der auf diese Weise die ,Geschichte der deutschen Kunst' erzählt, sondern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute eine ganze Reihe dieser Texte produziert wurde, ist aus den individuellen Vertextungen der einzelnen Diskursteilnehmer eine Wissenskonfiguration zweiter Ordnung entstanden, die einerseits heterogen ist, da jeder Autor seine eigene - zeitlich, fachlich und weltanschaulich bedingte - Sicht auf die deutsche Kunstgeschichte hat, die andererseits aber an sprachliche Objektivierungsmuster geknüpft ist. Musterbildungen finden sich auf den Ebenen der Lexik, der Syntagmen und der Textpassagen.1 In ihnen drückt sich der Kern der GESCHICHTE DER DEUTSCHEN KUNST als einer diskursiv geprägten Wissenskonfiguration aus. Sie sollen im Folgenden auf allen genannten Ebenen dargestellt werden. Dazu habe ich ein Korpus erstellt, das alle Texte umfasst, deren Autoren die gesamte ,Geschichte der deutschen Kunst' in deutscher Sprache darstellen wollten. Aus diesem Korpus wurden systematisch erstens Wörter für GESCHICHTE, KUNST und NATION, zweitens einschlägige syntak-
tische Fügungen und drittens relevante Textpassagen exzerpiert. Das auf diese Weise zusammengestellte Material diente als Grundlage für den Hauptteil der Arbeit. Die Wörter und Syntagmen wurden geordnet. Sie sind im Anhang der Arbeit dokumentiert. Der Wissenskomplex ,Geschichte der deutschen Kunst', so wie er sich mittels der Analyse von Geschichten der deutschen Kunst rekonstruieren lässt, Muster finden sich auch und gerade auf der Makroebene der Gesamttexte, diese werden an vielen Stellen der Arbeit angesprochen, können aber nicht gesondert behandelt werden.
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Einleitung
kann nicht einfach als eine Gegebenheit des Weltwissens von Autoren und Lesern betrachtet werden. Vielmehr erfolgt die sprachliche Perspektivierung des Wissens über die Welt aufgrund von Formulierungen, die oft metaphorisch oder metonymisch geprägt sind und die eine ganz spezifische Sinnwelt konstituieren. Diese Sinnwelt lässt sich auf eine Alltagstheorie über die involvierten Wissensbereiche zwar projizieren, ist aber nicht mit ihr identisch. Durch die Untersuchung von diskurstypischen Musterbildungen auf der Ebene der Lexik, der Syntax und der Textpassagen kann schließlich empirisch belastbares Datenmaterial zur Verfügung gestellt werden, das die Interpretationsgrundlage für eine ganze Reihe von Fragestellungen ergibt, die über die reine Textwissenschaft weit hinausgehen. Eine davon lautet: Wie wird nationale Identität durch die Kunstgeschichte geprägt? Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Im ersten Kapitel lege ich die geschichtstheoretische Ausgangsposition der Untersuchung dar, indem verschiedene Positionen aufgerufen werden, die ,Geschichte' in Abhängigkeit von den kommunikativen Ausgangsbedingungen ihrer Erzählung begreifen. Eine Grundbedingung zum Verständnis der Debatte, die sich um das Verhältnis zwischen der Geschichte und ihrer Darstellung dreht, ist die Einsicht in die systematische Polysemie des Ausdrucks Geschichte. Diese wird daher zu Beginn des Kapitels thematisiert. Danach kann die Debatte, die sich um die Frage nach der Abhängigkeit der Geschichte vom Text ihrer Darstellung dreht, in ihren Grundzügen skizziert werden. Im Anschluss stelle ich die Position des Historikers Jörn Rüsen dar, der Historiographie als Mittel der Stiftung sozialen Sinns versteht. Im Rückgriff auf einen Text Karlheinz Stierles wird deutlich gemacht, wieso solche Sinnstiftungsprozesse immer nur im Rahmen eines Diskurses analysierbar sind. Positionen, welche die ,Geschichte' in Abhängigkeit zum historischen Text beschreiben, arbeiten meist mit dem Sprechhandlungsverb erzählen. Die sprachintuitiv unmittelbar nachvollziehbare Aussage, Geschichte werde erzählt, ist textanalytisch aber durchaus strittig, mindestens jedoch zu relativieren. Darauf gehe ich in einem weiteren Unterkapitel ein. Schließlich wird diskutiert, inwieweit man ,Kunstgeschichte' als einen Sonderfall von ,Geschichte' betrachten kann. Im zweiten Kapitel beschreibe ich die weltanschaulichen Ausgangsbedingungen des Diskurses zur ,Geschichte der deutschen Kunst'. Eine Untersuchung zur sprachlichen Konstitution eines Diskursgegenstandes kann nur sinnvoll betrieben werden, wenn die fachbezogenen Weltanschauungen, die fachlich tradierten Formulierungsmuster und die sozialen Verhältnisse im jeweiligen Kommunikationsbereich bekannt sind. Das gilt in erster Linie für den Diskursanalytiker, es gilt aber auch für den Leser einer Diskursanalyse. Daher wird in einem kurzen Aufriss erstens die
Einleitung
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fachhistorische Entwicklung des traditionellen Geschichtsmodells der Kunsthistoriographie und zweitens die Ausbildung einer nationalen Perspektive in der deutschen Kunstgeschichtsschreibung dargestellt; drittens gebe ich Auskunft über die soziale Stellung der Verfasser der Geschichten der deutschen Kunst im Kommunikationsbereich ,Kunstgeschichte'. Im dritten Kapitel werden zuerst die sprachtheoretischen Ausgangspositionen der Arbeit dargelegt: Mit Koller (2004) werden drei Kategorien der ,Perspektivität', nämlich ,Standpunkt', ^Aspekt' und Perspektive' unterschieden und auf die Analyse sprachlicher Objektivierungsmuster bezogen. Mit dem Perspektivitätskonzept ist eine begriffliche Brücke zwischen sprachlichem Ausdruck und Wissensinhalten gegeben. So kann die perspektivische Prägung einzelner Wissensbereiche in Texten durch die Analyse sprachlicher Objektivierungsmuster aufgezeigt werden. Ein perspektivisch geprägter Wissensbereich wird im Folgenden Konzept genannt. Nominale Ausdrücke desselben Konzeptes können in Wortfeldern dargestellt werden. Der Schluss von Ausdrucksbedeutungen auf kognitive Gegebenheiten ist aber durchaus problematisch: Bei einem solchen Vorhaben müssen immer soziale Motive der Ausdrucksverwendung, wie sie Holly (1979, 2001) im Anschluss an Goffman (1971) mit dem Terminus ,Imagearbeit' beschrieben hat, mitbedacht werden. Im Rückgriff auf die Forschungsliteratur gebe ich außerdem eine Bestimmung der hier zentralen Termini ,Diskurs', thematische Entfaltung', ,Ereignis', ,Prozess', ,Totalität' und ,Ganzheit'. Im Anschluss beschreibe ich das zugrunde liegende Korpus, lege meine Untersuchungsmethode dar und kläre die graphischen Konventionen meiner Arbeit. Schließlich wird in drei lexikographischen Minimalartikeln ein Bedeutungsraster der drei zentralen polysemen Ausdrücke Kunst, Kultur und Geschichte gegeben, damit diese bei der Analyse als monosemierte Einheiten behandelt werden können. Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich in drei Teile: Erstens werden die lexikalischen Perspektivierungen der drei diskurskonstitutiven Wissensbereiche GESCHICHTE, KUNST und NATION dargestellt (4.), zweitens zeige ich die syntaktischen Muster auf, in denen die einzelnen Wissensbereiche ineinander integriert werden (5.) und drittens bespreche ich Perspektivierungsmuster auf der Ebene von Textpassagen (6.). Die Darstellung der Untersuchungsergebnisse erfolgt jeweils, indem einzelne Belege aus meinem Korpus beispielhaft besprochen und auf ihre Funktion hin interpretiert werden. Die vorliegende Arbeit zeigt Gestaltungsprinzipien national angelegter kunsthistorischer Texte auf. Die Ergebnisse sind also in erster Linie Aussagen über Kunstgeschichtsschreibung. Darüber hinaus sind sie zu einem Gutteil aber auch auf historische Überblicks texte aller Art, etwa Sprach-, Literatur- oder Musikgeschichten, übertragbar. Damit mein Text nicht nur
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Einleitung
einem kleinen Kreis diskursanalytisch interessierter Linguisten verständlich ist, habe ich mich bemüht, so zu formulieren, dass zumindest jeder Geisteswissenschaftler mich versteht, ohne sich die Fachsprache einer spezifischen Forschungstradition aneignen zu müssen. Meine Arbeitsterminologie besteht also soweit möglich aus allgemein eingeführten sprachwissenschaftlichen Termini; wenn Neuprägungen nötig waren, habe ich diese semantisch so durchsichtig wie möglich gehalten.
1. Geschichte als Text und Diskurs Die vorliegende Diskursanalyse soll als ein Beitrag zu einer Debatte verstanden werden, die in den Geschichtswissenschaften in verschiedenen Ausprägungen schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts geführt wird. Sie dreht sich im Kern um die Frage, ob der historische Text im Idealfall eine nach wissenschaftlichen Maßstäben angefertigte Abbildung der Vergangenheit sei, dessen Gestalt von der objektiven Beschaffenheit der tatsächlich Ereignisabläufe der Geschichte vorgegeben ist, oder ob der Geschichtstext — und damit auch die Vorstellung von der tatsächlichen' Geschichte — nicht in erster Linie von kommunikativen Parametern bestimmt sei. Als solche kommunikativen Parameter können einerseits die Handlungsabsichten, Wertmaßstäbe und fachlichen Hintergründe des einzelnen Historikers und andererseits die Bedingungen der verwendeten Einzelsprache und die durch den geschichtswissenschaftlichen Diskurs vorgegebenen Textmuster gelten. Damit verbunden ist die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Historikers. Sieht der Historiker sein Schaffen nicht als Freilegung der objektiven Vergangenheit, sondern als einen Perspektivierungsprozess, der durch die Parameter der kommunikativen Zusammenhänge seiner Disziplin bestimmt wird, dann kann die objektive Vergangenheit selbst auch nicht als Begründungsfigur seines Handelns dienen. Er muss seine Rechtfertigung in der Kommunikation selbst, in der gesellschaftlichen Funktion seines Schaffens suchen. Rüsen (1990b, 1997) sieht demnach als wichtigste Aufgabe des Historikers die Konstitution von historischem Sinn - das historische Schreiben wird so als Beitrag zur Identitätsbildung der Gesellschaft verstanden.1 Eine Grundbedingung zum Verständnis der Debatte, die sich um das Verhältnis zwischen der Geschichte und ihrer Darstellung dreht, ist die Einsicht in die systematische Polysemie des Ausdrucks Geschichte. Diese wird daher zu Beginn des Kapitels thematisiert (1.1.1.). Danach kann die Debatte, die sich um die Frage nach der Abhängigkeit der ,Geschichte' als 1
,Identität' wird hier verstanden im sozialpsychologischen Sinne: Henrich (1979: 140) hat mit dem präzisierenden Terminus ,diachrone Identität' die Vorstellung von der „Selbigkeit" einer Person oder Gruppe „über die Abfolge ihrer inneren Vorstellungszustände" beschrieben.
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1. Geschichte als Text und Diskurs
„komplexe Vorstellungsgestalt" (Koller) vom sprachlichem Modus ihrer Darstellung dreht, in ihren Grundzügen skizziert werden (1.1.2.). Im Anschluss stelle ich die bereits angesprochene Position Rüsens dar (1.1.3.). Im Rückgriff auf einen Text Karlheinz Stierles wird deutlich gemacht, wieso solche Sinnstiftungsprozesse immer nur im Rahmen eines Diskurses analysierbar sind (1.2.). Bei Rüsen wie bei Stierle wird die gesellschaftliche Funktion der Geschichtsschreibung im Rückgriff auf das Sprechhandlungsverb erzählen begründet. Die sprachintuitiv unmittelbar nachvollziehbare Aussage, Geschichte werde erzählt, ist textanalytisch aber durchaus strittig, mindestens jedoch zu relativieren (1.3.). Schließlich wird diskutiert, inwieweit man .Kunstgeschichte' als einen Sonderfall von ,Geschichte' betrachten kann (1.4.).
1.1. Geschichte und Geschichtstext 1.1.1. Die Polysemie von Geschichte Eine Grundvoraussetzung zum Verständnis der epistemologischen Debatte in den Geschichtswissenschaften ist die Einsicht in die systematische Polysemie des Ausdrucks Geschichte. Im vorliegenden Kontext sind vier Bedeutungen von Geschichte1 relevant: 1. 2. 3. 4.
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Die Menge aller sinnhaft miteinander verknüpften Ereignisse, an denen Menschen als Handelnde beteiligt sind. Eine individuelle oder überindividuelle Idee vom Gang und der Verknüpfung dieser Ereignisse. Der Text, in dem die sinnhaft verknüpften Ereignisse dargestellt werden. Das wissenschaftliche Fach, in dessen Rahmen die Produktion der historischen Texte erfolgt.
Die aufgeführten Bedeutungen ergeben sich aus der lexikographischen Analyse des Ausdrucks Geschichte in meinem Korpus (vgl. 3.6.). Den Bedeutungen 1. und 3. entsprechen im Wortartikel Geschichte bei Grimm (5, 3863f.) die Bedeutungsansätze 7 a) und b), 2. und 4. sind unter 7 c) zusammengefasst: „die geschichte als gegenständ des wissens, als Wissenschaft, die kunst der geschichtsschreibung einschlieszend." In Duden (3,1480) entsprechen den Bedeutungen 1., 3. und 4. die Bedeutungsansätze 1 a)-c). - Bracher (1978: 29) bespricht eine einfache Polysemie von Geschichte: „Die Thematik kompliziert sich noch weiter durch den Umstand, daß der Begriff der Geschichte selbst [...] mindestens zweideutig ist: Geschichte als Geschehenes und zugleich als seine nachträgliche Darstellung. Das ist eine Komplikation, die nicht nur in der deutschen Sprache liegt, sondern dem einleitend genannten Grundproblem einer Ambivalenz-Spannung entspricht, mit der wir es überhaupt zu tun haben: daß nämlich Wörter Geschichte machen und daß aus Geschichte wiederum, sich auf sie berufend, die Wörter stammen. Oder im Sinne eines der Zeit und ihren Umständen gerecht werdenden Historismus gesehen: historisches Verstehen bedarf der Sprache und bringt zugleich die Sprache des Historikers hervor."
1.1. Geschichte und Geschichtstext
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Wenn nun der historische Text einerseits als Abbild der Vergangenheit und andererseits als retrospektives Mittel der Sinngebung angesehen wird, dann werden die verschiedenen Bedeutungen von Geschichte in unterschiedlicher Art und Weise aufeinander bezogen. Reichmann (1984: 1) bespricht anlässlich des Kompositums Sprachgeschichte das Verhältnis der drei zuerst genannten Bedeutungen, nämlich Sprachgeschichte als „Entität", als „Idee" und als deren „Verwirklichung". Reichmann unterscheidet zwei „Metatheorien", in denen das Verhältnis der drei ersten Bedeutungen von Geschichte untereinander, deren Regulierung und die Inferenzprozesse von einer Ebene zur nächsten gefasst werden können. Die erste Metatheorie wird als „metaphysischer Realismus" und die zweite als „Konstruktivismus" identifiziert: Unter ersterem soll hier die Auffassung verstanden werden, daß Erkenntnis ein Finden, Entdecken und darauf folgend ein möglichst exaktes Darstellen, Beschreiben, Wiedergeben, Nachzeichnen von etwas vor jeder Erkenntnisoperation und unabhängig von ihr auf irgendeine Weise Vorhandenem, meist von etwas als objektiv Vorausgesetztem, ist. Der Konstruktivismus versteht menschliches Handeln und mit ihm wissenschaftliche Erkenntnis demgegenüber als soziomorphen, ausschließlich in sprachlicher Gestalt existenten Entwurf fiktiver Welten mit gesellschaftlicher Funktion als Existenzmöglichkeit (1984: 2).
Im ersten Fall wäre der Geschichtstext als — mehr oder weniger richtiges — Abbild von der Vergangenheit konzipiert, während im zweiten Fall die Vorstellung einer objektiv und unvorgreiflich existenten Geschichte zu Gunsten von ,Geschichte' als intersubjektivem Weltdeutungsentwurf, als nicht nur kulturabhängigem, sondern auch kulturelle Identität generierendem Zeichenkonglomerat, verworfen wird. 1.1.2. Geschichte als Wahrheit und ihr Entwurf Diese beiden von Reichmann entworfenen Positionen markieren die Pole eines breiten Spektrums von Geschichtstheorien: Die realistische Extremposition bringt der von Fustel de Coulanges aus dem Jahr 1862 überlieferte Satz auf den Punkt: „Nicht ich bin es, der spricht, sondern die Geschichte spricht durch mich" (zitiert aus Bracher 1978: 44). Hier wird das Objektivitätspostulat an den Historiker unumwunden zur Zustandbeschreibung der epistemologischen Potenzen des historischen Prozesses umgewidmet: Der Historiker, dessen Zielsetzung die methodisch abgesicherte Suche nach der Wahrheit im historischen Erkenntnisprozess zu sein hat, erklärt sich kurzerhand selbst zu deren Medium. Diese ,starke' erkenntnisrealistische Position kennzeichnet vor allem den Historismus
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1. Geschichte als Text und Diskurs
des 19. Jahrhunderts, wie er prototypisch in der Figur des Historikers Ranke verkörpert wird.3 Der Historiker hat demnach die Geschichte in Gestalt der historischen ,Quellen' vor sich wie der Geologe einen mineralienhaltigen Stein. Und wie das Mineral im Stein, muss das historische Ereignis nur fachgerecht freigelegt, methodisch sauber und sprachlich exakt beschrieben werden, um es in seiner wahren Gestalt präsentieren zu können. Das letztgültige und ausschließliche Korrelat des Geschichtstextes ist hier die Geschichte selbst. Widerspruch zu dieser Position hat es aus den verschiedenen Fächern und Traditionen heraus gegeben.4 Ein kleinster gemeinsamer Nenner kann womöglich in der Anschauung gesehen werden, dass ,Geschichte', sofern wir sie nicht selbst erlebt haben, uns immer nur über den vermittelnden Text des Historikers zugänglich ist. In der Einleitung wurde bereits die Position Wilhelm Kollers (2004: 290) zitiert, der in diesem Sinne auf die grundlegende Perspektivität des historischen Textes verwiesen hat. Nach Koller ist die ,Geschichte' als „Vorstellungsgestalt" zwar referentiell in der Realität verankert, sie muss aber als Produkt erstens individueller Selektionsentscheidungen des Historikers und zweitens einer sprachlich geprägten Perspektivierungsbewegung, welche einerseits vom Standpunkt („Sehepunkt") des einzelnen Historikers und andererseits von den „sprachlichen Objektivierungsmustern", die zur Darstellung der ,Geschichte' herangezogen wurden, abhängt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es genau eine Geschichte der italienischen Kunst, der französischen Sprache oder des europäischen Königtums gegeben habe, für die es idealiter genau eine angemessene, i. e. richtige sprachliche Repräsentation gäbe, dann wäre diese Geschichte als eine Gegebenheit des „kollektiven Gedächtnisses" einer nationalen oder übernationalen Öffentlichkeit immer auf die strukturierende, selektierende und perspektivierende Leistung des sie vermittelnden Historikers angewiesen.5 Der Historiker aber handelt — wie jeder Sprecher — in einem komple3 4
Zu Rankes Geschichtsschreibung und Geschichtsmodell siehe Rüsen (1990a). Schmitter (1992: 46f.) unterscheidet vier Forschungsrichtungen, in denen .Geschichte' in unterschiedlichen Nuancierungen in Abhängigkeit vom (narrativ verfassten) Text ihrer Darstellung beschrieben wird: die „angelsächsische analytische Geschichtsphilosophie" (Danto 1974), die „transzendentale Historik" (Baumgartner 1972, 1979), die „narrativistische Geschichtstheorie und -philosophie" (Koselleck 1979, 1980, 1982, Rüsen 1990b, 1997, White 1986) und den „französischen Strukturalismus und seine Folgetheorien, wie sie sich ζ. B. in den Bereichen der Anthropologie, Poetologie und Textlinguistik artikuliert haben."
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Vgl. den Standpunkt Kosellecks (1973: 567): „Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. Damit wird ein geschichtliches Ereignis aber nicht beliebig oder willkürlich setzbar. Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt sie vor, was gesagt werden kann. Negativ bleibt der Historiker den Zeugnissen vergangener Wirk-
1.1. Geschichte und Geschichtstext
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xen und immer nur zum Teil durchschaubaren Bedingungsgefuge, welches die Kommunikations situation ihm vorgibt: Er muss sich einer Einzelsprache, ζ. B. des Deutschen oder des Französischen, bedienen, die ihm ein großes, aber nicht unbegrenztes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten bietet, er schreibt im Rahmen einer bestimmten Tradition, die ihm die Formulierungsmuster, Fachtermini und textstrukturierenden Ordnungskategorien vorgibt. Er schreibt in eine bestimmte politische Situation hinein und hat eine bestimmte Weltanschauung. Er verfolgt kommunikative Ziele und muss sich um die Akzeptanz seines Textes beim Publikum besorgen. Die ,Geschichte' als Thema des historischen Textes ist also immer an Darstellungsbedingungen geknüpft, die sich nicht aus der Vergangenheit, sondern vielmehr aus der Gegenwart ergeben.
1.1.3. Der Sinn der Geschichte Ich greife aus den Positionen, die sich gegen den Erkenntnisrealismus als Paradigma der Geschichtsschreibung wenden, diejenige Anschauung heraus, die den Geschichtstext als ein Mittel der Implementierung sozialer Identität sieht. Eine solche Sichtweise wurde im deutschen Sprachraum
lichkeit verpflichtet. Positiv nähert er sich, wenn er ein Ereignis deutend aus den Quellen herauspräpariert, einem literarischen Geschichtenerzähler, der ebenfalls der Fiktion des Faktischen huldigen mag, wenn er seine Geschichte glaubwürdig machen will". (Zitiert bei Schiffer 1977: 29). - Ebenso lautet der Ausgangspunkt von White (2000: 328): „So ist [...] ein Ziel historischer Forschung (für welche anderen Ziele sie auch sonst noch benutzt werden mag) sicherlich Rekonstruktion [...], ihre Rekonstruktionen können aber nur auf der Grundlage von Konstruktionen geleistet werden, die ebensosehr der schöpferischen Phantasie und der Dichtung bedürfen wie des rationalen Denkens und der Wissenschaft." Danto (1980: 214f.) betont das Moment der Selektion als vordringlichste Aufgabe des Historikers: „Jede Darstellung [...] muß ihrem Wesen nach manches auslassen, und in der Historie wie überall sonst ist es ein Kennzeichen dafür, daß es jemand verstanden hat, einen Gegenstand zu organisieren, wenn er weiß, was er ausscheiden muß, und wenn er sich zutraut, zu behaupten, daß einige Dinge wichtiger sind als andere. Angenommen, ich wünschte zu wissen, was in einer Gerichtsverhandlung geschehen ist. Ich könnte meinen Informanten bitten, nichts auszulassen, mir alles zu erzählen. Doch sicherlich wäre ich bestürzt, würde er mir zusätzlich zu seiner Wiedergabe der Rede der Anwälte, zur Schilderung der emotionalen Haltung der Prozessführenden und des Verhaltens des Richters auch noch erzählen, wie viele Fliegen im Gerichtssaal waren, und mir anhand einer komplizierten Grafik zeigen, in welcher Flugbahn sie genau umherkreisten. [...] Was immer auch der Fall sein mag, ich begehre zu wissen: was hatte es mit dieser Fliege auf sieb? Doch wenn es ,nichts damit auf sich hat', wenn es lediglich ,Teil dessen ist' was während der Gerichtsverhandlung geschah, dann gehört es ganz und gar nicht in einen Prozeßbericht. Wenn ich demnach sage: „Erzähl mir die ganze Geschichte und laß nichts weg", dann muß man (und muß ich) das so verstehen: laß nichts Bedeutsames aus: was immer in die Geschichte gehört, ich möchte es erfahren." [Alle Hervorhebungen in den zitierten Originaltexten, Μ. M.].
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1. Geschichte als Text und Diskurs
vor allem von Jörn Rüsen (1990b, 1997) entwickelt.6 Rüsen formuliert programmatisch im Eingang seines Buches Zeit und Sinn (1990b: 12): Die historische Erinnerung ist ein Lebenselixier. [...] Sie wirkt als zentraler Faktor der für alles Handeln notwendigen Deutung von Erfahrung und der in allem Handeln wirksamen Geltungsansprüche der Subjekte. Sie ist ein unverzichtbares Medium der kulturellen Orientierung von Handeln und der Bildung tragfähiger personaler und sozialer Identität.
,Geschichte' wird hier als historische Erinnerung und damit als Vorstellung einerseits des Einzelnen und andererseits der Gemeinschaft von der gemeinsamen Vergangenheit angesprochen. Ihre Relevanz wird mit ihrer beständigen und allgegenwärtigen Wirkungsmacht als gegenwartsbezogenes Mittel der Idendtätsbildung und zukunftsgerichtete Handlungsmaxime begründet. Rüsen orientiert seine Position an Max Weber (1968: 214), der die Sinnzuschreibung des „Kulturmenschen" an den „ungeheuren chaotischen Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt", beschrieben hatte. ,Geschichte' als unvorgreifliche Bedingung menschlichen Zusammenlebens ergibt sich nicht einfach aus den Sachverhalten, die der Weltenlauf zeitigt, sondern bedarf einer Ordnung, die sich aus den Bedingungen derjenigen Gesellschaft ergibt, für die sie dargestellt oder — um das zentrale Sprechhandlungsverb der Debatte zu verwenden — erzählt wird.7 Der zentrale Terminus, den Rüsen aus dieser Grundposition entwickelt, ist ,Sinn'. Mit ihm wird die zielgerichtete Deutung der zeitlichen Dimension von Welt „im Schema von Subjektivität" beschrieben. ,Sinn' schlägt eine begriffliche Brücke zwischen dem individuellen Meinen des einzelnen Historikers und der kollektiven Erfahrung von ,Geschichte' als kohärenter, zielgerichteter Entwicklung: Der Sinnbegriff hängt aufs engste mit der Absicht und Zielgerichtetheit zusammen, die menschliches Handeln als Aktivität eines denkenden und reflektierenden Subjekts auszeichnet. ,Sinn' hat daher eine teleologische Konnotation. Geschichte wird als zielgerichtet verstanden; die zeitlichen Veränderungen in der Vergangenheit werden im Lichte einer Richtungsbestimmung gesehen und repräsentiert, an die aktuelles Handeln absichtsvoll anknüpfen kann. [...] Die Erfah6
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In analoger Weise hatte Ricoeur (1986) Geschichtsschreibung als erstens per se notwendiges und zweitens gesellschaftstheoretisch wünschenswertes Uberfuhren von Kontingenz in Narrativität gedeutet. Ebenso argumentiert Koselleck (1997). Das Erzählen als Äußerung im Modus der Narrativität ist bei Rüsen nicht nur die genuine Ausdrucksform des Historikers, es wird in einer metonymischen Geste sogar auf die Beschaffenheit der historischen Erkenntnis selbst, also auf die Vorstellung des Historikers von der Geschichte, übertragen: „Es gibt starke Argumente dafür, die in Frage stehende Eigenart des historischen Denkens mit der narrativen Struktur historischer Aussagen zu identifizieren und dieser Struktur eine grundsätzliche Bedeutung zuzusprechen. Historische Erkenntnis unterscheidet sich nach dieser Auffassung von aller nicht-historischen Erkenntnis durch ihre narrative Struktur." (Rüsen 1990: 18)
1.1. Geschichte und Geschichtstext
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rung der Vergangenheit wird der Absicht auf Z u k u n f t angepasst und umgekehrt (Rüsen 1997: 18).
Der Historiker ist das Medium, das im Dienste einer funktionierenden sozialen Gemeinschaft die Kontiguität der vergangenen Sachverhalte in Kohärenz und Teleologie umschafft. Der Wirkraum einer solchermaßen geschaffenen ,Geschichte' ist die Gesellschaft und ihre Erscheinungsform ist der Text. Der Text aber fungiert als Werkzeug der Sinnfindung des Einzelnen im Schreiben und als Instrument der Sinn Stiftung für die Gemeinschaft im Lesen. Rüsens ,Sinn' ist also Aneignung von Welt im subjektiven und Verarbeitung von Welt im intersubjektiven Prozess. ,Sinn' liegt nach Rüsen (ebd.: 29) noch jenseits der Unterscheidung v o n Faktizität und Fiktionalität; er ist eine v o r gängige Synthese v o n beidem. Diese vorgängige Vermitteltheit, ja Einheit, ermöglicht die dem Geschichtsbewusstsein eigentümliche übergreifende Zeitverlaufsvorstellung und trägt sich in der ihr entsprechenden narrativen Thematisierung der Vergangenheit als Geschichte für die Gegenwart aus.
Die »Geschichte' ist also weder erfunden noch erfunden. Sie ergibt sich in ihrer Gestalt als soziale Notwendigkeit im Bewusstsein des Historikers und gibt als Idee den Modus ihrer Niederschrift selbst vor. Dieser Modus ist nach Rüsen (1997: 37) das Erzählen: Erst in der „mentalen Prozedur" des Erzählens gewinnt die „als Geschichte vergegenwärtigte Vergangenheit" Sinn.8 ,Sinn', so wie er von Rüsen entworfen wird, wird auf vier Ebenen wirksam: Erstens als ein durch die Gesellschaft (den sozialen Kontext des Historikers) vorgegebener Bedeutungsraum im Sinne einer in der Kommunikationsgemeinschaft geltenden Weltanschauung, zweitens als konzeptuelle Modellierung und narrative Strukturierung individuellen Wissens des Historikers über die Vergangenheit, drittens als der Leserschaft zugängliche aktuale Textbedeutung des Geschichtstextes und viertens als kollektive Idee von ,Geschichte', welche sich als gesellschaftlich wirksames Ergebnis des Geschichtstextes darstellt. ,Sinn' in diesem vierten Wirkbereich bildet dann wiederum die Grundlage für das soziale und poli8
Diese Verbindung von .Geschichte', ,Sinn' und .Erzählen' wird vor allem in der sog. ,Narratologie' programmatisch behauptet (vgl. dazu zusammenfassend Schmitter 1992: 46f., Baumgartner 1979: 267f.). — Vgl. Harth (1980: 24): „Ist die Umgangsprache ein untrügliches Indiz für das intuitive, von Tradition durchsetzte Wissen, so muß — zumindest im Deutschen — als Ergebnis des Erzählens das gelten, was mit dem Wort .Geschichte' belegt wird. [...] Historisches Erzählen nenne ich alle Sprachhandlungen, in denen vergangene Ereignisse schriftlich erzählt werden, also historiographische Texte und Bücher der Geschichtsschreibung." Ebd. (34): „Bürgerlicher Roman und modernes Geschichtsbuch finden ihr tertium quid in der durchs Erzählen zustandekommenden Kontinuität. Kontinuität bezeichnet hier ein Doppeltes: die formale Einheit und den Sinn eines als Ganzes betrachteten Handlungskomplexes.
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1. Geschichte als Text und Diskurs
tische Handeln der Gesellschaft und prägt auf diese Weise die tatsächlichen Ereignisse des Weltgeschehens. Es ergibt sich ein symbiotisches Verhältnis von Gesellschaft, geschichtlichem Wissen des Historikers, Vergangenheit und Geschichtstext: Die Gesellschaft als erweiterter Kommunikationsbereich liefert dem Historiker die sprachlichen und sozialen Regelsysteme, die seine Sicht auf die Vergangenheit prägen. Die Perspektive des Historikers auf seinen Forschungsgegenstand bestimmt die Struktur seines Textes. Der Text bildet die Grundlage für die kollektiven Vorstellung einer Gesellschaft von ihrer Vergangenheit, welche wiederum erstens Einfluss auf den Bedeutungsraum des Kommunikationsbereichs ,Gesellschaft' haben und zweitens auf die geschichtsprägenden Handlungen der sozialen und politischen Akteure rückwirken. Beide Folgen des Geschichtstextes, die veränderten Vorstellungen und die veränderten Handlungen der Gesellschaft beeinflussen wiederum — gleichsam von zwei Seiten her - die Ideenwelt des Historikers. So entsteht ein Kreislauf, in dem sich die drei oben zuerst genannten Gegebenheiten, die mit dem Ausdruck Geschichte bezeichnet werden, die tatsächliche Vergangenheit, die individuelle und kollektive Idee und der Text, gegenseitig konstruieren. In dieser Perspektive erscheint die auf das vom Geschichtstext Gemeinte angewendete Alternative ,Fakt oder Fiktion' tatsächlich obsolet.
1.2. Geschichte als Diskurs Nun müssen dem Gesagten eine Reihe von Einschränkungen folgen: Abgesehen von der wenig bescheidenen Meinung des Historikers Rüsen über die gesellschaftliche Rolle seines Fachs läuft eine solchermaßen idealisierende Darstellung der kommunikativen Zusammenhänge, in denen der Geschichtstext entsteht, Gefahr, die auf allen Ebenen des Angesprochenen wirksame Komplexität des historischen Sinnstiftungsprozesses zu unterlaufen: Der mit der Formel ,Sinn der Geschichte' aufgerufene Einsicht, es gäbe die Geschichte im Sinne eines objektiven, teleologisch ablaufenden Gesamtprozesses nicht9, müssen mindestens drei weitere Einsichten folgen: Es gibt weder den Historiker, noch den historischen Text, noch die Gesellschaft. Das wiederum bedeutet mindestens, dass ein sozial wirksamer Geschichtsentwurf nicht einem Text eines Historikers zugesprochen werden kann, sondern in bestimmte - eng begrenzte - gesellschaftliche 9
Rüsen deutet ,Sinn' im Rahmen eines modernen Perspektivismus, dem die objektiven Entwicklungsbegriffe der idealistischen Geschichtsphilosophie wie „Vernunft, Idee, Fortschritt" suspekt geworden sind: „Zumindest in der deutschen Begriffsgeschichte - und Geistesgeschichte zeigt die philosophische Wendung ,Sinn der Geschichte' den Verlust des idealistischen Urvertrauens in die Subjektqualität der Geschichte an." (Rüsen 1997: 20)
1.2. Geschichte als Diskurs
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Bereiche als gleichsam kommunikatives Substrat, das sich in einer Serie von sich aufeinander beziehenden, einander widersprechenden und miteinander konkurrierenden Geschichtstexten ausbildet, wirksam wird: Die Geschichte wird nicht als Text, sondern als Diskurs zur Grundlage der kollektiven Vergangenheitserfahrung interessierter Teile der Kommunikationsgemeinschaft. Diese Perspektive auf Geschichte als Diskurs hat Stierle (1979) entwickelt.10 In einem Aufsatz, der das Verhältnis des Geschichtstextes zum literarischen Text thematisiert, entwirft er zwei grundlegende Erscheinungsformen historischer Erkenntnis: ,Wissen' als konkretes Forschungsergebnis der Quellenforschung und ,Erfahrung' als Deutungsmodus, welcher die Darstellung des Wissens hinsichtlich seiner handlungspraktischen Relevanz für die Gemeinschaft regelt. In der Vermittlung von ,Wissen' und ,Erfahrung' sieht Stierle (ebd.: 100) den Grundcharakter der Historiographie. Deren Aufgabe ist es, das methodisch gesicherte und objektivierbare Wissen so darzustellen und miteinander zu verbinden, dass es für das an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgerichtete Weltbild der Gemeinschaft erfahrbar und relevant wird. Stierle spricht hier vom historischen „Faktum", dem vom Historiker methodisch objektivierten historischen Sachverhalt, und dessen historischer „Aneignung" (ebd.). In diesem Prozess der Aneignung des Wissens durch die Erfahrung steht der Historiker nun nicht allein, sondern greift nolens volens auf die Vortexte, Textmuster und Deutungstraditionen des eigenen Fachs zurück: Historiographie steht gewöhnlich zu ihrem Gegenstand nicht im Verhältnis einer unmittelbaren und voraussetzungslosen Beziehung. Zwischen das Faktum selbst und seine historiographische Aneignung sind zumeist als vermittelnde Instanzen vorgängige Geschichten gelagert, die das vergangene Geschehen immer schon ergriffen, gedeutet und im Hinblick auf eine die narrative Form leitende Anschauung stilisiert haben. (Ebd.: 100)
Der Historiker beschreibt den historischen Sachverhalt nicht nur auf Grundlage der Textmustervorgaben seines Fachs, schon für die Form seiner Erkenntnis sind die textmustervermittelten Anschauungsformen der historischen Tradition maßgeblich. Das grundlegende Textmuster, in dem sich kollektive Erfahrung mitteilt, ist nach Stierle das narrative. Erst im Zusammenspiel von individuellem Gestaltungswillen und kollektiven Musterbildungen wird aus den einzelnen Geschichten die Geschichte als gesellschaftlich relevante Anschauungsform: Der Historiker sucht „die Geschichte" im Durchgang durch Geschichten, aber, wenn er die Fakten selbst isoliert und um neue bereichert hat, stellt sich ihm erneut die Aufgabe der narrativen Konfiguration und erneut wird die Geschichte zu 10
Die Gebundenheit des Geschichtstextes an den historischen Diskurs hat erstmals White (1986, engl. Original 1978) hervorgehoben, worauf auch Stierle (1979: 114) verweist.
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1. Geschichte als Text und Diskurs
einer Geschichte. Damit aber wird sein Werk zum Moment einer sich fortsetzenden, offenen Überlieferungsgeschichte, und so zugleich Moment des „Diskurses" der Historiographie. (Ebd.)11
So ist der Diskurs der Ort, in dem sich kollektive und individuelle Erfahrung, weltanschauliche Vorprägungen und faktenbezogenes Wissen zu einer Gesamtanschauung akkumulieren, die gesellschaftlich wirksam werden kann12: Erst durch seine diskursive Organisationsform wird das Wissen sprechend, [...] in dem Sinne, daß das Wissen erst in seiner diskursiven Gestalt als ein Wissenszusammenhang erkennbar werden kann. In der diskursiven Formation wird das Wissen zu einem Wissen höherer Ordnung, und als solches Wissen höherer Ordnung kann es Erkenntnis werden. (Ebd.: 101)
Das „Wissen höherer Ordnung" stellt sich demnach nicht nur als diskursiv geprägtes, intersubjektives Konglomerat einzelner Wissensbestände, sondern auch als Integrations form der Erkenntnisformen ,Wissen' und ,Erfahrung' dar: In der diskursiven Vermittlung der ,gewussten' Tatbestände des Historikers mit den ,erfahrenen' Anschauungsformen der Kommunikationsgemeinschaft wird individuelles Wissen durch kollektive Erfahrung geprägt und verändert seinerseits die kollektiven Anschauungsformen, die dann wieder zur Erfahrung werden. Wer also nach den textuellen Darstellungsmodi sozial relevanter Wissensbestände fragt, der ist auf den Diskurs als Untersuchungsgegenstand angewiesen. Seinen Erkenntnishorizont bildet nicht das individuelle Wissen, sondern das diskursiv geprägte „Wissen höherer Ordnung". Dieses aber existiert nicht, es ist eine abstrakte Größe. Der Diskursanalytiker hat (außer seines eigenen) weder Wissen niederer, noch Wissen höherer Ordnung zur Verfügung. Er ist auf Mutmaßungen angewiesen, die sich aus der Analyse der individuellen Konfiguration sprachlicher Zeichen in Texten ergeben.13 Dabei ist jeweils die spezifische soziale Rolle des Autors und der mutmaßliche Erwartungs- und Erfahrungshorizont des anvisierten Publikums zu gewichten. Modi der Darstellung diskursiv gebundenen Wissens ergeben sich aus dem komplexen Verhältnis von individueller Aussageintention und kollektiver Musterbildung, von fachgeprägten Darstellungsweisen und gesellschaftlich akzeptablen Formulierungsmustern. „Wissen höherer Ordnung" ist also nur als metadiskursive Rekonstruktion 11 12
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Hervorhebungen im Originalzitat [Μ. M.]. Vgl. Harth (1980: 35): „Wir kennen in der Tat die .Tatsachen' vergangenen Lebens nur durch jene überlieferten Handlungen, deren Konvention das Erzählen bildet. Vollständig ist diese These freilich nur dann, wenn .Tatsachen' im Zusammenhang als sinnvolle, und nicht als rohe Fakten zum Vorschein kommen. Diese Mutmaßungen haben selbst den Charakter historischer „Fakten" im Sinne Stierles: Sie sind aufgrund von fachlich und weltanschaulich vorgeprägten Erfahrungen geprägte Erkenntnisformen, die methodisch abgesichert und fachlich objektiviert werden müssen.
1.3. Wird Geschichte wirklich erzählt?
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darstellbar und diese Rekonstruktion kann nicht aus dem Aufsammeln irgendwie aus dem Diskurs emanierender Wort- Satz- und Textbedeutungen bestehen, sondern beruht zwangsläufig auf der Interpretation von individuell, fachlich und gesellschaftlich geprägten Sprechhandlungen. Aus der Interpretation einzelner Sprechhandlungen sind Musterbildungen zu abstrahieren und diese Musterbildungen können dann als gesellschaftlich relevante Darstellungsformen von „Wissen höherer Ordnung" beschrieben werden. Diesen Zusammenhang von sozialer Gebundenheit des Historikers, einzelner Sprechhandlung und diskursiver Musterbildung hat schon Stierle gesehen: Geschichte ist Aneignung des Vergangenen. Für die Vielfalt der Möglichkeiten in diesem Feld ist der Rückbezug auf das Subjekt dieser Aneignung und seine vielfältige Rollenhaftigkeit ebenso von Bedeutung wie der Adressat, fur den Vergangenheit angeeignet wird. Die Arten des historiographischen Diskurses bestimmen sich immer schon durch die je spezifische Zuordnung der Rollenhaftigkeit dessen, der sich die im Diskurs angeeignete Vergangenheit zu eigen macht. Eine Morphologie der historiographischen Darstellungs formen ist heute ohne eine Bezugnahme auf den Handlungscharakter der Aneignung von Vergangenheit kaum mehr denkbar. (Ebd. 116)
Im Übrigen muss die oben formulierte Einschränkung, eine irgendwie homogene Gesellschaft auf der Suche nach ihrer historischen Identität als Rezipientenkreis des Geschichtstextes könne es nicht geben, zur Folge haben, dass im Folgenden erst gar nicht versucht wird, die tatsächliche Wirkung his tomographischer Handlungen auf die Identitätsbildung von wem auch immer zu ermessen. Es ist aber sehr wohl möglich und intendiert, einzelne Formulierungsmuster auf ein mögliches Wirkpotenzial hinsichtlich des Aufbaus historischer Gruppenidentität hin zu interpretieren.
1.3. Wird Geschichte wirklich erzählt? Sowohl bei Rüsen als auch bei Stierle wird das Erzählen als Form der Textgestalt, aber auch darüber hinaus als Erscheinungsweise geschichtlicher Erkenntnis und historischen Denkens überhaupt angesprochen. Diese grundlegende Bindung des Erzählens an die Historiographie ist immer wieder kritisiert worden. Schmitter (1992: 43ff.), der das Narrativitätskonzept im Rahmen einer theoretischen Grundlegung der linguistischen Wissenschaftsgeschichte maßgeblich mitgeprägt hat14, setzt sich mit solchen Gegenpositionen am Beispiel Roggenhofers (1990) auseinander. Roggenhofer wendet gegen die Auffassung des Geschichtstextes als Erzähltext im 14
Vgl. Schmitter (1982: 55ff.), ein anderer maßgeblicher Beitrag stammt, ebenfalls im sprachhistorischen Kontext entwickelt, von Schlieben-Lange (1983: 31f£).
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1. Geschichte als Text und Diskurs
Wesentlichen ein, Historiographie werde dabei in ihrer Wissenschaftlichkeit nicht ernst genommen und somit fundamental fehlgedeutet. Der Geschichtstext unterscheide sich grundlegend etwa vom (fiktionalen) Roman, beruht er doch auf Forschungsergebnissen, welche nicht einfach nur irgendwie erzählt, sondern vor allem gegenüber der interessierten Historikerschaft auf der Grundlage eines methodisch offenzulegenden Bezugsrahmens in ihrer Geltung gestützt werden müssen. Aus diesem Grund muss die Historiographie (hier: der Sprachwissenschaft) „argumentativ und darf sie nicht narrativ sein."15 Schmitter (1992: 44f.) wendet gegen diese Auffassung ein, sie verkenne ihrerseits die Ausrichtung des metahistorischen Narrativitätsbegriffs. Dieser sei nicht philologisch-gattungsbezogen, sondern vielmehr handlungstheoretisch bestimmt und verhalte sich gegenüber sowohl der Unterscheidung ,fiktionaT — ,nicht-fiktionaT als auch der Opposition ,literarisch' - ,nichtliterarisch' „deskriptiv neutral". Mit diesem Einwand trifft er aber lediglich einen Nebenaspekt von Roggenhofers Kritik. Der zentrale Punkt Roggenhofers, dass sich im Kommunikationsbereich der historischen Wissenschaften Anforderung an die komplexen Sprachhandlungen der historisch Arbeitenden ergeben, die nicht Erzählungen, sondern in erster Linie Argumentationen zeitigen, wird von Schmitter zwar zitiert, im Weiteren aber schlicht ignoriert. Er ist m. E. sowohl auf der Ebene allgemeiner Überlegungen wie auch auf der Ebene empirischer Evidenz (vgl. Kap. 6.) gar nicht sinnvoll zu bestreiten, sehr wohl aber zu relativieren: Das einzelne Forschungsergebnis des Historikers gewinnt seine Glaubwürdigkeit durch den Rückgriff auf fachintern geprägte Muster der Argumentation, ein durchweg argumentativ aufgebauter Text kann aber weder verschiedene historische Ereignisse als Momente einer Entwicklung plausibilisieren, noch kann er im Sinne einer identitätsbildenden Maßnahme über einen engen Forscherkreis hinaus wirksam werden. Beides aber kann mit Rüsen und Stierle als grundlegende Aufgabe jedes historischen Textes angesehen werden. Es ist daher danach zu fragen, welche Stellung das Erzählen im historiographischen Diskurs tatsächlich einnimmt: Die Einbindung des historischen Textes in den Diskurs und des Historikers in eine fachbezogene Darstellungstradition, wie sie oben beschrieben wurde, bedingt, dass der Historiker als Autor nicht nur der nach Sinn verlangenden Gesellschaft verpflichtet ist, sondern (mindestens) im selben Maße dem Forschungsethos seines Fachs und der Fachdebatte seiner Kollegen. Die soziale Grundfunktion des Geschichtstextes verlangt nach einer textuellen Gestaltung, die die Forschungsergebnisse des Einzelnen als Anschauungs15
Roggenhofer (1990: 142), zitiert bei Schmitter (1992: 44). Hervorhebungen in beiden Texten. [Μ. M.]
1.3. Wird Geschichte wirklich erzählt?
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form der Allgemeinheit plausibilisiert; die nicht nur Fakten als Forschungsgegenstände aneinander reiht, sondern sie als Voraussetzung, Mitspieler oder Ergebnis eines bis in die Gegenwart reichenden sozialen Handlungsgefüges verstehbar macht. Aus diesem Grunde bedarf es der Erzählung. Gesellschaftlich akzeptabel ist ,Geschichte' aber nicht als idiosynkratischer Vergangenheitsentwurf des Einzelnen, sondern nur als Narrativisierung methodisch abgesicherter Forschungsergebnisse, welche durch die scientific community' validiert sind. Der einzelne Forscher hat seine Ergebnisse also erstens im Text zu sichern und zweitens in der Fachdebatte zu vertreten. Dazu muss er seine Ergebnisse sprachlich spezifizieren und auf der Grundlage bereits im Fach anerkannten Wissens mit Argumenten stützen. Der Historiker mag der Gesellschaft als sinnstiftender Erzähler gegenübertreten, den Anforderungen der Disziplin begegnet er als die Quellengrundlage sichernder Beschreiber und der kollegialen Debatte als die eigene Position stützender Argumentierer. In diesem Sinne ist die vielbeschworene Formel vom ,Erzählen der Geschichte' zu ergänzen: ,Geschichte' als Text wird nicht nur erzählt, sie wird ebenso beschrieben und argumentativ gestützt. Textstrukturell betrachtet bildet also die Menge aller Geschichtstexte keine Einheit, nicht einmal der einzelne Geschichtstext kann im Rahmen einer einzigen Textmustervorgabe analysiert werden.16 Wer sich für die textstrukturellen Modi der Präsentation von Geschichte interessiert, kann sich weder an einen Text als Prototyp einer Textsorte noch an einen Text als Prototyp seiner selbst, als Ganzheit, halten. Vielmehr ist eine Reihe von Texten als auf- und gegeneinander gerichtete Kommunikate heranzuziehen und nicht als Ganzheiten, sondern jeweils in strukturell miteinander vergleichbaren Passagen so zu analysieren, dass Musterbildungen erkennbar werden. Dennoch können wir mit Stierle (1979) dem Erzählen im historischen Text eine herausgehobene Stellung zusprechen, weil die beschreibende Gegenstandsicherung und die argumentierende Gegenstands^sicherung zwar die Grundlage, nicht aber die Finalität des historischen Textes bilden. Wenn der historische Text soziale Relevanz haben soll, dann muss er 16
Konkrete Textanalysen unter der Prämisse des Geschichtstextes als eines Erzähltextes wurden in den 1970er Jahren in einem Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg unter der Leitung von Dietrich Harth (1980) angegangen. Der Versuch einer reinen Erzählttextanalyse des historischen Textes ist nach Ausweis des Herausgebers gescheitert: „Geschichtstexte zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Analysen zu machen, das heißt: dauernde Grenzüberschreitung zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft. Eine selbstgenügsame Beschreibung jener literarischen Formen, die in Geschichtstexten vorkommen mögen, führt zu beliebigen Problemverkürzungen, wenn nicht beachtet wird, welche Unterschiede der Darstellungs- und Mitteilungsfunkdonen zwischen fiküonalen und historischen Erzählungen tatsächlich bestehen."
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1. Geschichte als Text und Diskurs
in seiner Form an den Erfahrungsschatz der Gesellschaft appellieren, er muss historische Entwicklung als soziales oder para-soziales Handlungsgefiige präsentieren, indem er handelnde und von der Handlung betroffene Figuren, die Handlung voranbringende und retardierende Ereignisse, Handlungsziele und Handlungsverknüpfungen darstellt. Der Modus einer solchen Darstellung ist die Erzählung: Die narrative Form mit ihrer Perspektivik von Vordergrund und Hintergrund, mit ihrer synchronen und diachronen Bezugsetzung von Zustand, Situation und Ereignis, ist die Form, die den Raum der Geschichte zum Raum ihrer Erfahrung machen kann. (Stierle 1979: 102)
1.4. Ist Kunstgeschichte Geschichte? Die vorliegende Arbeit und insbesondere dieses erste Kapitel gründen auf der Vorstellung, Kunstgeschichte sei ohne Weiteres als Sonderfall der allgemeinen Geschichte zu betrachten. Diese Vorstellung stützt sich erst einmal auf eine semantische Analyse des Kompositums Kunstgeschichte. Da ja Kunst hier das Bestimmungswort zu Geschichte ist, muss Kunstgeschichte', wie auch ,Sprach'-, ^Literatur'- und ,Musikgeschichte', eine Teilmenge aus der Menge aller ,Geschichten' sein. Da diese Perspektive Gefahr läuft, von den allermeisten Kunsthistorikern als Fehldeutung oder mindestens Verengung ihres Fachs abgetan zu werden, sei dem Folgenden eine Erläuterung vorgeschoben: Die Analogie von ,Geschichte' und »Kunstgeschichte' beschränke ich ausdrücklich auf den von mir untersuchten Diskurs. Dass wichtige Bereiche des Fachs ,Kunstgeschichte' wie die vergleichende Stilanalyse, die Materialkunde oder die Kunstpsychologie keine im engeren Wortsinne historischen Disziplinen sind, liegt auf der Hand. Sie beschäftigen sich nicht mit Prozessen, Epochen oder Veränderungen, sondern mit dem einzelnen Kunstwerk als individueller Leistung oder Wirkpotenzial. Die Position, die diesen ahistorischen Konzeptionen von ,Kunstgeschichte' zugrunde liegt, skizziert Belting (1978: 98) zu Beginn seines Aufsatzes V'asari und die Folgen·. Daß Kunst eine Geschichte habe, [...], wird bei jenem auf Widerspruch treffen, der Kunst als eine nur in den Kunst werken existierende Realität betrachtet. Denn das Kunstwerk ist je für sich vollendet. Im faktischen Bestand ist es nicht mehr veränderlich, in seiner authentischen Gestalt nicht wiederholbar und in seiner aktuellen Aussage nicht aus seiner Zeit herauszulösen.17
17
Hervorhebung im Originalzitat [Μ. M.].
1.4. Ist Kunstgeschichte Geschichte?
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Die Anhänger einer solchen antihistorischen Position der Kunsttheorie haben sich auf die Philosophie Benedetto Croces und dessen Begriff der „Inselhaftigkeit" {insularitä) des Kunstwerks berufen.18 Ihnen ist die Rede von der Geschichtlichkeit der Kunst verdächtig, die Einzigartigkeit des Kunstwerkes dem Aufbau eines spekulativen Ideengebäudes zu opfern und damit das analytische Sehen zu Gunsten des synthetischen Denkens zu vernachlässigen. Anders gesagt: Der vordringlichste Auftrag des Kunstwissenschaftlers wird nicht im Erzählen einer hypothetischen Entwicklung, sondern vielmehr im Beschreiben des einzelnen Werkes gesehen. Die Vertreter der Gegenposition berufen sich darauf, dass das einzelne Kunstwerk ohne geschichtlichen Überbau gar nicht als Kunstwerk entstehen und gewürdigt werden kann. Auch diese Position beschreibt Belting (ebd.): In der Tat ist das Kunstwerk eine Realität, die Kunst dagegen ein Begriff. Der Begriff ist allerdings in die Definition des Werks eingegangen. Er stellt dieses nicht als Werk des Künstlers vor, sondern als Werk der Kunst. Das Wortgebilde „Kunstwerk" bringt eine andere Position in Sicht, die für das Werk den Status des Unvollendeten und damit Historischen in Anspruch nimmt. Insofern sie eine Geschichte hat, existiert die Kunst über das einzelne Werk hinaus und hebt dadurch zumindest partiell dessen Vollendung wieder auf, einerseits durch das Entstehen neuer Werke, welche die „Kritiken der vergangenen"19 sind, andererseits durch die Entrückung auf einen geschichtlich werdenden Ort, an welchem das Werk nur in der Wirkungsgeschichte fortlebt.20
Die Geschichte definiert für das Kunstwerk demnach erstens die Bedingungen seiner Produktion und zweitens seine Existenz als ,fait social' — und damit seine Bedeutung. In einer psychologischen Sichtweise lässt sich argumentieren, dass das individuelle Wissen des Betrachters über die Kunstgeschichte erst die Rezeptionsperspektive gewährleistet, die den Y^mstgegenstand zum Kunstwerk macht. Aus dieser Perspektive wäre dann das historische Denken keine Gefährdung, sondern erst eigentlich die Voraussetzung für das analytische Sehen. Die Position der Teilnehmer am Diskurs zur Geschichte der deutschen Kunst scheint eindeutig: Wer es sich zum Anliegen macht, die ,deutsche Kunst* als einen in der Zeit sich wandelnden Gesamtgegenstand darzustellen, dem ist eine historische Perspektive auf die Kunst zu unterstellen. Trotzdem werden von den Autoren der deutschen Kunstgeschichten selbst Differenzen - etwa zur politischen Ereignisgeschichte hervorgeho-
18 19 20
Darauf verweist Belting (ebd.); vgl. Kultermann (1987: 207f.) mit Literaturangaben zu Croce. Belting weist die Formulierung bei Adorno (1970: 533) nach. Hervorhebungen im Originalzitat [Μ. M.].
1. Geschichte als Text und Diskurs
2 4
ben. So betont etwa Suckale die Besonderheit des kunsthistorischen gegenüber dem historischen Text: 1 2 ] : Die Geschichtsschreibung hat seit altersher eine Muse, Clio. Sie ist eine Meisterin der Erzählung. Aber kann man Kunstgeschichte erzählen? Die Antike hat nur Künstleranekdoten überliefert oder rhetorisch kunstvoll konstruierte Bildbeschreibungen geübt, die uns heute wenig helfen. Kunstgeschichte kann nur in geringem Maße Ereignisgeschichte sein. Sie kann sich nur begrenzt darauf konzentrieren, Konjunkturen, Prozesse und Strukturen herauszuarbeiten, wie in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte üblich, und sie kann sich auch nicht in eine Abfolge von Biographien auflösen. Das Einzelwerk, das Bild bzw. der Bau an sich, steht so sehr im Zentrum der künsderischen Bemühungen wie auch der Rezeption, hat also einen so hohen Eigenwert, daß Kunstgeschichte, wenn sie ihren Gegenstand ernst nimmt, immer auch Werkanalyse sein muß. Und dabei hat sie die Sehweise von der überschauenden Vogelperspektive bis hin zur detaillierten und minutiösen Untersuchung der Materialoberflächen zu wechseln. Suckale [ 1 9 9 8 :
Selbst in seiner Funktion als Autor einer Kunstgeschichte wertet Suckale hier die Werkanalyse gegenüber der historischen Darstellung auf. Bezeichnenderweise opponiert er dabei vor allem gegen das Sprechhandlungsverb erzählen, das nicht nur traditionell eine syntagmatische Affinität zu dem Ausdruck Geschichte hat, sondern das auch immer für die Prävalenz des Spekulativen vor der (beschreibenden) Gegenstandssicherung steht. Aus diesem Grund ist auch den positivistischen Fachhistorikern das Er%ählen immer suspekt gewesen. Gegen die Position Suckales lässt sich das Erzählen im kunsthistorischen Text aber durch den textstrukturellen Befund verteidigen, dass die Geschichte als Deutungsrahmen des Kunstwerks auch der Werkbeschreibung einen anderen, nämlich in der Tendenz erzählenden Duktus aufzwingt. So wird das zur Sprache gebrachte Kunstwerk im Geschichtstext als Ereignis und damit als narrativ strukturiertes Phänomen präsentiert. Deswegen ist die Versprachlichung des Kunstwerkes im kunsthistorischen Text auch nicht unumwunden und ohne Relativierungen mit dem in der Textlinguistik üblichen Terminus ,Beschreiben', der nicht nur eine lokale Sequenzierung des Themas, sondern auch einen neutralen Duktus beinhaltet, zu begreifen (vgl. 3.1.9.).
1.5. Resümee Der Geschichtstext gewinnt seine gesellschaftliche Relevanz dadurch, dass er methodisch gesicherte und fachlich validierte Erkenntnisse über Tatbestände der Vergangenheit so versprachlicht, dass diese dem Leser als Entwicklungsmoment der Handlungsgemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt, und damit als Facette der eigenen Vorgeschichte erfahrbar werden.
1.5. Resümee
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Dazu müssen individuelle Wissensbestände im Lichte der gegenwärtigen Erfahrung der Kommunikationsgemeinschaft perspektiviert und in einen allgemein akzeptablen Handlungsrahmen integriert werden. Dieser allgemeine Handlungsrahmen sowie die Perspektive auf Wissensbestände sind dem Historiker aber dadurch vorgegeben, dass er ,Geschichte' (die Idee vom Ablauf der Vergangenheit) immer nur durch ,Geschichten' (Vortexte, in denen diese Idee formuliert ist) begreifen kann. Auf der Grundlage seiner individuellen Handlungsabsichten und seiner Forschungsergebnisse schreibt der Historiker die ,Geschichte' als Idee im Medium einer ,Geschichte' als Text fort. Sein Kommunikationsbereich ist die ,Geschichte' als Fach und sein kommunikatives Handlungsfeld ist der historische Diskurs. ,Geschichte' als kollektive Vergangenheitserfahrung resultiert demnach nicht aus dem einzelnen Text, sondern aus dem gesamten Diskurs. Als „höheres Wissen", das einzelne Forschungsergebnisse und gemeinsame Welterfahrung miteinander vermittelt und auseinander hervorgehen lässt, ist ,Geschichte' nur auf Ebene des Diskurses rekonstruierbar. Das höhere Wissen um die Geschichte stellt sich demnach nicht als homogener Block, sondern als heterogenes Konglomerat aus einzelnen Perspektiven dar. ,Geschichte' in diesem Sinne zielt auf die IdentitätsWahrnehmung des Einzelnen wie der Gemeinschaft. Sie kann in einer Gesellschaft, die Wissen als wissenschaftlich objektivierte Erkenntnis begreift, nur wirksam werden, wenn sie auf Forschungsergebnissen beruht, die beschreibend spezifiziert, argumentierend gestützt und erzählend erfahrbar gemacht werden. Dementsprechend ist das Erzählen, neben dem Beschreiben und dem Argumentieren, nur ein Modus ihrer Präsentation. ,Kunstgeschichte' ist nur dann ,Geschichte' im eingeführten Sinne, wenn ihre Präsentation auf diesem Dreiklang von beschreibender Gegenstandssicherung, argumentierender Gegenstands#£sicherung und erzählender Erfahrbarmachung des Gegenstandes beruht.
2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen der deutschen Kunsthistoriographie Die nachfolgende Analyse behandelt Geschichten der deutschen Kunst als eine Menge thematisch aufeinander bezogener Texte, in denen aus der Darstellung der deutschen Kunst als einer nach bestimmten Prinzipien ablaufenden Entwicklung nationale Identität gewonnen werden soll. Im folgenden Kapitel stelle ich zur besseren Einordnung der Analyseergebnisse dar, wie sich das traditionelle GeschiehtsVerständnis der Kunstgeschichtsschreibung entwickelt hat (2.1.). Da es sich bei den Texten meines Korpus um nationale Kunstgeschichten handelt, behandle ich hier auch die Herausbildung einer nationalen Perspektive innerhalb der deutschen Kunsthistoriographie (2.2). Um eine Einschätzung der sozialen Lagerung des Diskurses und dessen Stellung in der kunstwissenschaftlichen Debatte zu ermöglichen, gebe ich eine soziographische Skizze der am Diskurs beteiligten Autoren (2.3.).
2.1. Die Ausprägung des kunsthistorischen Geschichtsverständnisses Mindestens bis in die 1950er Jahre liegt allen Texten, welche die .Geschichte der deutschen Kunst' behandeln, eine bestimmte Vorstellung von Kunstgeschickte zugrunde: ,Kunstgeschichte' wird als eine Abfolge von Kunststilen präsentiert, die entstehen, zu einer Blüte kommen und wieder verfallen. Das sichtbarste Symptom dieser Vorstellung sind Epochenbezeichnungen wie Romanik, Gotik, oder Renaissance. Das zyklische Geschichtsmodell, auf das diese Ausdrücke verweisen, kann nun nicht ohne Weiteres als individuelle Vorstellung einzelner Autoren oder als allen gemeinsame Idee von der Vergangenheit gewertet werden, vielmehr handelt es sich dabei um eine fachhistorisch ausgeprägte Modellierung von »Geschichte', die im Sinne einer Textmustervorgabe die oberste Gliederungsebene der Texte bestimmt. Auch wenn sich die individuellen, lebensweltlichen und ideologischen Produktionsbedingungen der Diskursbeiträge unterscheiden, ist diese spezifische Perspektive auf die Vergangenheit
2.1. Die Ausprägung des kunsthistorischen Geschichtsverständnisses
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allen älteren Texten gemeinsam. In den deutschen Kunstgeschichten jüngeren Datums wird gegen diese Perspektive zum Teil opponiert, trotzdem bleibt sie auch in den jüngeren Texten in Ausdrücken, Formulierungen und Textstrukturen greifbar. Um die Geschichtlichkeit des zyklischen Geschichtsverständnisses und dessen starke Bindung an den Kommunikationsbereich ,Kunstgeschichte' zu verdeutlichen, gebe ich einen kurzen Aufriss der Positionen, denen eine prägende Wirkung auf das kunsthistorische Geschichtsverständnis zugeschrieben wird.1 2.1.1. Vortexte der modernen Kunsthistoriographie Das Geschichtsbild der Kunstwissenschaft ab dem Ende des 19. Jahrhunderts beruht auf einem Komplex an Vortexten, der weder so klein noch so durchschaubar ist, dass er hier auch nur in annähernd befriedigender Weise dargestellt werden könnte.2 Im Folgenden greife ich aus diesem Komplex drei Positionen heraus, die in den gängigen Uberblicksdarstellungen als ,Meilensteine' auf dem Weg zur kunstwissenschaftlichen Standardmodellierung von .Geschichte' angesehen werden. Diese sind mit den Namen 1/asari, Winckelmann und Hegel verbunden. 2.1.1.1. Vasari Als Urvater der Kunstgeschichtsschreibung sieht man den Florentiner Giorgio Vasari (1511-1574), der Mitte des 16. Jahrhunderts das epochemachende Buch Le Vite de'piü eccellenti Architetti, Pittori e Scultori italiani de Cimabue insino a' tempi nostri publiziert, eine Sammlung von Lebens- und Werkbeschreibungen großer toskanischer Künstler von Cimabue bis Michelangelo.3 Darin prägt er die heute noch gültige Perspektive auf die Renaissance als Periode des Erwachens des modernen Menschen aus der Finsternis des Mittelalters. Vasaris Buch gilt aber nicht nur als Initialtext des modernen Renaissancebegriffs, sondern ebenso als Vortext einer ,Kunstgeschichte' im modernen Sinne. Ausgehend von biographischen Skizzen und einzelnen, eher unsystematischen Bild- und Werkbetrachtun1
Die nachfolgenden Angaben beruhen im Wesentlichen auf den fachhistorischen Darstellungen von Gombrich (1982), Halbertsma (1995), Kultermann (1987, 1990) und Locher
2
Ich verweise hier speziell auf die Texte von Belting (1978), Gombrich (1982), Kultermann (1987) und Locher (2001). Zu Vasari und seiner Wirkung auf die moderne Kunsthistoriographie siehe Belting (1978), Halbertsma (1995: 38), Kultermann (1987: 70f.), ders. (1990: 24ff.).
(2001).
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2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen
gen wird erstmals ein auf die Kunstsphäre projiziertes homogenes Geschichtsbild entwickelt. Vasari übernimmt die antike Lehre von den drei Zeitaltern und appliziert sie auf eine Ideen- und Formgeschichte der Kunst. Die Makrostruktur des Textes ist nach dem Muster ,Aufstieg' — ,Blüte' — ,Verfall' angelegt, einem Muster, das — zumindest implizit — bis heute einen Großteil des kunsthistorischen Begriffsinventars prägt. In Vasaris Anschauung stellt sich die Kunstentwicklung als ein Zyklus dar, der in der Kunst der Antike einen frühen Höhepunkt hat. Das Mittelalter dagegen wird als Periode des Verfalls beschrieben, das erst durch die Neubelebung der Kunst durch die toskanischen Künstler im 14. Jahrhundert überwunden werden konnte. Diese wird als kindlicher Neubeginn vorgestellt, der eine „Jünglingszeit" im 15. und eine „Blüte" im 16. Jahrhundert folgte. Den Höhepunkt der Kunstentwicklung seines Zeitalters sieht Vasari in der Künstlerfigur Michelangelo (vgl. Kultermann 1990: 26). Die Entwicklung der toskanischen Renaissancekunst stellt sich so, nach einer Formulierung von Belting (1978: 124), „als kollektiver und gesetzhafter Fortschritt zur Einlösung der in Natur und Antike angelegten Normen" dar. Vasaris Schrift war Jahrhunderte lang Vorbild für KünstlerViten ähnlichen Zuschnitts in ganz Europa, etwa für den Niederländer Karel van Mander (1548—1606) oder den Deutschen Joachim von Sandrart (1606—1688), den man auch den „Vasari des Nordens" nannte (Kultermann 1990: 30f.).
2.1.1.2. Winckelmann Im Gegensatz zu den älteren Viten-Schriftstellern in der Tradition Vasaris war Johann Joachim Winckelmann (1717—1768) selbst kein Künstler.4 Winckelmann schreibt man das Verdienst zu, als Erster eine Kunstgeschichte' im modernen Wortsinne vorgelegt zu haben.5 Seiner Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) liegt ein vollkommen neues Programm zugrunde: Im Fokus seiner Darstellung steht nicht mehr der einzelne Künstler, sondern das Kunstwerk mit seinen formalen und stilistischen Eigenschaften. Damit wird erstmals eine Darstellung vom Entwicklungsgang der
4
5
Nach dem Theologiestudium hatte et sich durch intensives Selbststudium zum klassischen Philologen entwickelt. In Rom verwaltete er im Dienst von Kardinal Albani dessen Sammlung antiker Kunstwerke. Winckelmann verkörpert einen Kunsthistoriker neuen Typs, nämlich den des akademisch geschulten Gelehrten, dessen Adressaten nicht seine Künstlerkollegen, sondern ein Publikum aus Gelehrten und — nicht zu vergessen — Liebhabern und Sammlern ist. Zu Winckelmann siehe Halbertsma (1995: 37ff.), Kultermann (1987: 97; 1990: 53ff.), Locher (1995: 109ff.).
2.1. Die Ausprägung des kunsthistorischen Geschichtsverständnisses
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Kunst vorgelegt, die auf einer „reinen Formanalyse" (Halbertsma 1995: 39) der Kunstwerke beruht. Der Wert einer Kunstepoche wird nicht mehr direkt an den Lebensleistungen der Künsder gemessen, sondern bemisst sich aus dem Grad an Übereinstimmung der beobachteten künsderischen Formen mit einem zugrunde gelegten Stilideal. Daraus ergibt sich eine stiltheoretische Fundierung der Idee einer Entwicklung in „Höhen" und „Tiefen", wie sie schon Vasari vertreten hatte.6 ,Stil' ist bei Winckelmann allerdings keine autonome Größe, sondern abhängig von den äußeren Lebensbedingungen der Gesellschaft, in deren Rahmen die Kunst entsteht. Besonders wichtige Faktoren sind dabei das Klima und die Staatsform. Winckelmann behandelt Stilgeschichte und Gesellschaftsgeschichte vollkommen gleichberechtigt, so dass der Eindruck entsteht, ,StiT ergebe sich direkt - ohne Umweg über die Künstlersubjekte - aus den äußeren Verhältnissen. ,StiT vollzieht sich in Winckelmanns Kunstgeschichte, nach einer Formulierung von Halbertsma (1995: 39), „als eine Art Naturgesetz, demzufolge die Entwicklung (analog der einer Pflanze) immer denselben Verlauf hat, der Keim jedoch nur unter optimalen klimatischen und ökologischen Umständen zu voller Reife gelangt." Da ein solcher Stilbegriff mit den konkreten Formbeobachtungen am einzelnen Kunstwerk immer nur einem gewissen Grad in Deckung zu bringen ist, werden Stile zu Idealtypen, die einem Kunstwerk mehr, weniger oder überhaupt nicht zuzuschreiben sind. Sie werden in dieser Perspektive zu prototypisch modellierten Kategorien, die aus der Formbeobachtung entwickelt sind, aber letztlich als Wertmaßstäbe zur Kunstkritik fungieren.7 Damit entwickelt Winckelmann eine Perspektive auf Kunst als zyklisch verlaufende überindividuelle Stilentwicklung. Weil diese in ihrer Gesamtheit an Parameter wie ,Klima' und ,Staatsform' gebunden wird, die außerhalb der Kunst liegen, formiert sich gleichzeitig die gedankliche Unterscheidung zwischen /«»«künsderischer Stilentwicklung und außerkünstlerischer Umwelt, welche die Vorstellungswelt des Fachs Kunstgeschichte' prägen sollte. Vor allem aber wird die autonome Stilentwicklung in dieser Konzeption programmatisch an einen bestimmten geographischen Raum sowie die soziale Großgruppe, die diesem Raum zugeordnet wird, gebunden. Dies wird schon in der ersten Kapitelüberschrift der Geschichte
6
Winckelmann sieht einen ersten „Aufschwung" der griechischen Kunst in der Kunstentwicklung bis Plinias, einen ersten Höhepunkt im „hohen Stil" von Phidias und seinen Zeitgenossen. Ein zweiter Höhepunkt wird im „schönen Stil" von Praxitelles bis Lysippus und Apelles gesehen. Ihm folgt der „Niedergang" der antiken Kunst („Stil der Nachahmer"); vgl. Halbertsma (1995: 38).
7
Bauer (1989: 70) verweist in diesem Sinne darauf, dass Winckelmanns Stilbegriff ein Wertbegriff sei. Halbertsma (1995: 39) sieht bei Winckelmann sogar das „Prädikat Kunst" selbst zu einem Wertmaßstab entwickelt, das nur bestimmten Perioden zuerkannt wird.
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2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen
der Kunst des Alterthums deutlich. Sie lautet: Von dem Ursprünge der Kunst, und den Ursachen ihrer Verschiedenheit unter den Völkern. Locher (2001: 109f.) sieht daher Winckelmanns Kunstgeschichte als den Prototypen einer nationalen Kunsthistoriographie. Alle genannten Aspekte, die prototypische Modellierung von Kunstepochen, die als Zyklus gedachte Entwicklung überindividueller Kunststile, die Vorstellung eines inneren' und eines ,äußeren' Bereichs der Kunst und die Bindung des Kunststils an einzelne Völker werden uns in den Texten des vorliegendes Diskurses wiederbegegnen.
2.1.1.3. Hegel Als Multiplikator einer epochenbezogenen Anschauung der Kunstentwicklung wirkt Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). In seiner posthum (1835) erschienen Ästhetik stellt er einen Zusammenhang zwischen den künstlerischen Prinzipien und dem Geist eines Zeitalters her: „Kunst" lautet der berühmte Hegel-Satz „ist das sinnliche Scheinen der Idee" 8 , der wahrnehmbare Ausdruck des Geistes einer Epoche. Wie Winckelmann gliedert Hegel die Kunstgeschichte in Epochen. Hegel behandelt diese jedoch nicht einfach als Formkategorien, sondern entwickelt sie zum grundlegenden Ordnungsprinzip der allgemeinen Geistesgeschichte, deren Substrat sich in dem Gedanken vom Entfaltungsprozess des „absoluten Geistes" in der Geschichte ausdrückt (Halbertsma 1995: 44). Analog zu den verschiedenen Entwicklungsstufen des Geistes unterscheidet Hegel drei Stadien der Kunstentwicklung, die einen Prozess der zunehmenden Selbstreflexion des menschlichen Bewusstseins verkörpern: Das symbolische Zeitalter, dessen Geist sich am angemessensten in der „körperlichsten Kunstform" (ebd.) der Architektur ausdrückt, das klassische Zeitalter, in dem die am Menschen orientierte Bildhauerkunst vorherrschend ist, und das romantische Zeitalter, in dem die Malerei den fortgeschrittenen Individualisierungsprozess des menschlichen Geistes verkörpert. In der Epoche seiner Lebenszeit sah Hegel die bildende Kunst insgesamt ihre paradigmatische Rolle zugunsten einer anderen Äußerung des Geistes verlieren: der Philosophie als jeder Körperlichkeit enthobener Entäußerungsform des Menschen. Für Hegel, so kommentiert Halbertsma (ebd.), „bedeutet dies nicht das Ende der Kunst, sondern lediglich das Ende der Kunst als genauester Ausdruck des Zeitgeistes." Im Rahmen dieser teleologischen Gesamtkonzeption, die der Kunst — vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachtet — einen Wert vor allem als 8
Zitiert nach Halbertsma (1995: 44).
2.1. Die Ausprägung des kunsthistorischen Geschichtsverständnisses
31
Zeugnis des Vergangenen und historische Verständnishilfe des Gegenwärtigen zuschreibt, präsentiert Hegel die Entwicklung einzelner Epochen ganz ausdrücklich als Abfolge von ,Wachstum',,Blüte' und ,Verfall': „Jede Kunst hat ihre Blütezeit vollendeter Ausbildung als Kunst — und diesseits und jenseits ein Vor und Nach dieser Vollendung, [...] ein Anfangen, Fortschreiten, Vollenden und Endigen, ein Wachsen, Blühen und Ausarten." (Hegel 1955: 578, zitiert in Möbius 1989: 29). Die Kunstentwicklung wird nun aber nicht als einfacher Zyklus mit Höhen und Tiefen betrachtet, sondern als ein dialektischer Entwicklungsprozess, in dem jede Periode sich als Gegenprinzip zur vorhergehenden Periode darstellt, dessen Entwicklungskeim bereits in der vorausgehenden Kunstblüte angelegt ist. In dieser Perspektive ist die Kunstentwicklung allgemeinen Gesetzen historischer Entwicklung unterworfen. Kultermann (1990: 64) zitiert eine Passage aus Hegels Geschichte der Philosophie, in welcher metaphorisch die Geschichtsdialekük als allgemeines Entwicklungsprinzip beschrieben wird: Die Entwicklung des Baumes ist Widerlegung des Keimes, die Blüte die Widerlegung der Blätter, daß sie nicht die höchste, wahrhafte Existenz des Baumes sind. Die Blüte wird endlich widerlegt durch die Frucht; aber sie kann nicht zur Wirklichkeit kommen ohne das Vorhergehen aller früheren Stufen.
Hegel war als Lehrer vieler einflussreicher Kunsthistoriker der ersten Stunde wie Heinrich Gustav Hotho, Franz Kugler oder Karl Schnaase entscheidend am Aufbau der kunsthistorischen Theoriewelt im 19. Jh. beteiligt.9 Mehr noch als in direkten Übernahmen sieht Locher (2001: 208) die Wirkung Hegels auf die Kunsthistoriographie in der „diffusen, oft indirekten Rezeption Hegelscher Ideen" bis ins 20. Jh. hinein begründet.10 Die Vorstellung von Kunstgeschichte als Abfolge antipodisch gedachter und dialektisch aufeinander folgender Epochen, die für Hegel charakteristische Pflanzenmetaphorik und die Konzentration auf die Kunst der Vergangenheit als historisches Erklärungsmodell für die Gegenwart jedenfalls werden zu grundlegenden Merkmalen kunsthistorischen Schreibens im Allgemeinen und des hier zur Rede stehenden Diskurses im Besonderen.
9
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Hotho war Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts, außerplanmäßiger Professor für Kunstgeschichte und Autor einer Geschichte der niederländischen Kunst, Kugler war Autor des Handbuchs der Kunstgeschichte, Schnaase schrieb das Monumentalwerk Die Geschichte der bildenden Künste. Beiden Texten wird ein großer Einfluss auf die weitere Entwicklung des Fachs zugesprochen (vgl. Kultermann 1990: 91 f. und 94f.). Zu Hegels Bedeutung für die Kunstgeschichte siehe auch Gombrich (1977).
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2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen
2.1.2. Kunstgeschichte als Abfolge der Kunststile Dieses Bild der Kunstgeschichte als einer von universellen Prinzipien bestimmten Abfolge einzelner Lebenszyklen bildet letztlich bis heute die Grundlage jeden akademischen Redens über Kunst. Das Wort Kunstgeschichte evoziert in erster Linie die Vorstellung von der Abfolge der Epochenstile ,Klassik' - ,Romanik' - ,Gotik' - ,Renaissance' - ,Barock' - ,Rokoko' — ..Klassizismus' — ,Romantik', die jeweils entstehen, einen Höhepunkt erleben und wieder vergehen, um vom folgenden Stil verdrängt zu werden. Halbertsma/Zijlmans (1995a: 32) nennen als prototypische Darstellungsform dieser Grundanschauung die „klassische Übersicht": Dabei wird die Geschichte in Zeitblöcke eingeteilt, die den Stilen entsprechen. Kein Stil steht dabei für sich allein, sondern ist stets Folge, ja Produkt des vorherigen Stils. D a diese Stilgeschichte als Entwicklung in der Zeit aufgefaßt wird, werden die Übergänge - also die „Scharniere" der Zeit - als Essenz der Entwicklung besonders betont.
Die Bemühungen, einerseits ,Stilentwicklung' insgesamt als sich konsistent fortschreibende ,Geschichte' plausibel zu machen und andererseits zwei aufeinanderfolgende Epochen möglichst prägnant einander gegenüberzustellen, führen zu der wichtigen Stellung der Pflanzenmetaphorik im kunsthistorischen Schreiben: Jede Erscheinung muss entweder als ,Keim', als ,Blüte' oder ,Verfallsform' eines Stils beschrieben werden, wobei in den Verfalls formen des einen Stils nach Möglichkeit die Keime des nächsten aufzufinden sind; nur so können gleichzeitig formale Systematik und makrostrukturelle Kohärenz des kunsthistorischen Textes gewährleistet werden. Diese biologistische Standardfassung von ,Kunstgeschichte' ist spätestens seit den 1960er Jahren immer wieder kritisiert worden. So stellt Möbius (1989: 31) fest, man schreibe über „die Geburt, das Leben und den Verfall der Stile [...], als ob künsderische Verhaltensweisen ,organische Wesen' wären" und zitiert den klassischen Archäologen Nikolaus Himmelmann-Wildschütz, der diese Art von Kunsthistoriographie ironisch als „Stilbiologie" tituliert hatte.11 Auch Suckale (1989), selbst Autor einer Geschichte der deutschen Kunst, kritisiert in einem Aufsatz das „biologistische 11
Möbius (1989: 15f.) weist in diesem Zusammenhang auf die historische Nähe der kunsthistorischen Periodisierung zur Geologie und Paläologie hin und verweist dazu auf Clausberg (1984: 48), der schreibt: „In ihrer intuitiven Praxis war die Kunstwissenschaft [...] dieselben Wege gegangen wie die Naturgeschichtsforschung, indem sie Bildgalerien nach natürlichen' Ähnlichkeiten, d. h. Verwandtschaften, Schulzusammenhängen, Regional- und Zeitstilen zu gruppieren begann." So sei „in Pinakotheken die gleiche ordnende Wahrnehmungstätigkeit am Werke war wie zuvor in botanischen Kompendien und naturhistorischen Sammlungen."
2.1. Die Ausprägung des kunsthistorischen Geschichtsverständnisses
33
Geschichtskonzept" seines Faches. Er (ebd.: 236ff.) spricht von der „verheerenden Wirkungsmacht" der die Kunstgeschichte bis heute prägenden Stil- und Entwicklungsvorstellungen. Als Beispiel wird die Diskussion über die Anfänge der Gotik genannt: Diese konzentriere sich meist darauf, ob die Gotik mit dem Sanctuariumsbau des Abtes Suger in Saint Denis oder mit einem anderen einzelnen Bau begonnen habe. Suckale (ebd.: 233) fragt: „Hat nicht biologistisch geprägtes historisches Denken in Ausweitung der Wachstumsmetapher suggeriert, eine einzige Wurzel eines neuen Stils anzunehmen?" Dem biologistischen Denken der Kunsthistoriker und der damit verbundenen traditionellen Epochengliederung werden außerdem ihre untergründige Normativität (Gombrich 1982), das Unvermögen, dem Problem der Gleichzeitigkeit der Stilformen angemessen zu begegnen (Möbius 1989), und die historische Unangemessenheit der damit verbundenen Epochennamen (Suckale 1989) vorgeworfen. Kritik dieser Art an den Epochentermini hat zu vielerlei Versuchen geführt, die formal-stilistische Epochengliederung zu vermeiden. Trotzdem finden sich auch die Kunsthistoriker der Gegenwart spätestens beim Vergleich einzelner Kunstwerke immer wieder auf die alten Epochennamen und die abgeleiteten Adjektive romanisch — gotisch — barock zurückgeworfen. Zwar meint Möbius (1989: 19f.) mit Suckale, dass die herkömmlichen biologistisch geprägten Stilvorstellungen, auch wenn sie in Formulierungen noch greifbar seien, kein theoretisch explizit vertretenes Konzept mehr darstellten. Die Kunsthistoriographie versammle „im Grunde nur Werk- und Künstiermonographien hinter einheitlichen Buchrücken, verklammert durch einleitende Bemerkungen allgemeiner Natur." Es wird aber in der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein, wie tief diese mit den Epochenstilnamen verbundenen Geschichtsvorstellungen in die Textund Diskursstruktur eingearbeitet sind, und wie oberflächlich dagegen konkurrierende Geschichtsmodelle in die Texte eingebracht werden. Damit soll nicht gesagt werden, dass auch zeitgenössische Kunsthistoriker entgegen ihren eigenen Aussagen tatsächlich an die Geschichte als ein zyklisches Geschehen glaubten, beim Verfassen einer Kunstgeschichte finden sie sich aber schnell auf Formulierungstraditionen zurückgeworfen, in denen das dem Kommunikationsbereich ,Kunsthistoriographie' inhärente Geschichtsmodell weitertradiert wird.12
12
So begegnen ζ. B. in einem formationstheoretisch-marxistisch geprägten Aufsatz Bialostockis (1989: 212) Sätze wie: „Die Gotik hat sich innerhalb von sechzig Jahren endgültig geformt."
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2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen
2.2. Die Herausbildung einer nationalen Perspektive Auch wenn mit Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums schon der Initialtext der modernen deutschen Kunsthistoriographie eine auf Völker bezogene Perspektive eingenommen hatte, war die frühe deutsche Kunstforschung alles andere als ein nationalpädagogisches Projekt. Vielmehr hatte sie - von Winckelmann selbst bis Jacob Burckhard — ein ausgesprochen internationalistisches Programm, das sich zuvorderst an der griechischen Antike und ihrer Wiederaufnahme durch die italienische Renaissance orientierte. Muthesius (2004: 70) zitiert in einem Aufsatz zur Nationalisierung der deutschen Kunsthistoriographie eine Bemerkung Alfred Lichtwarks aus dem Jahre 1895: „Kein Winkel der italienischen Kunstgeschichte, der nicht einmal von einem deutschen Gelehrten abgestaubt wäre." Der spöttische Duktus Lichtwarks verweist zugleich auf das zentrale Antriebsmoment der damals sich institutionell formierenden Historiographie der deutschen Kunst. Diese entsteht in der erklärten Absicht einer Auf- und Umwertung der negativen Sicht auf das „deutsche" Mittelalter und seinen beherrschenden Kunststil, die Gotik.13 Dabei berief man sich auf einen Text, der schon ein Jahrhundert älter war, nämlich auf die im Jahr 1772 anonym erschienene Schrift Von deutscher Baukunst des 22jährigen Johann Wolfgang Goethe, in welcher der spätere Nationaldichter angesichts des Straßburger Münsters eine Rehabiliderung der Gotik als deutscher Kunst unternommen hatte.14 Der von Goethe vermutete deutsche Ursprung' der Gotik sollte sich später als Irrtum erweisen. „Doch", so formuliert Kultermann (1990: 72), „entsprang diesem Irrtum eine tiefgreifende ästhetische Einsicht. Kunst war hier nicht mehr gesehen als etwas, das die Dinge verschönt, sondern als das mit schöpferischem Geiste Gestaltete. So sah Goethe neben der Kunst des Schönen eine gleichbedeutende Kunst des Charakteristischen." Das .Charakteristische' der deutschen Kunst im Gegensatz zum ,Schönen' der italienischen sollte zum Leitmodv in der Debatte um eine nationale Kunst in Deutschland werden. Später gerät der Aufsatz in Vergessenheit, er wird erst von den Romantikern wieder entdeckt und als Argument gegen den alten, den Goethe der Weimarer Klassik, dem die Religiosität, die Mittelalterbegeisterung 13
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Diese herabsetzende Perspektive auf die Gotik wird in Vasaris Künstlerviten entwickelt. Vasari hatte seine Anschauung von einer guten und richtigen Kunstweise in strikter Abgrenzung von demjenigen Stil entwickelt, den er die „maniera tedesca", die deutsche Manier nannte - gemeint war der gotische Stil, der in Italien über Deutschland Eingang gefunden hatte; vgl. dazu Belting (1978), Guzzo (1959) und Gombrich (1982: 151). Zur Rezeption von Goethes Text im Diskurs zur .Geschichte der deutschen Kunst' siehe Kap. 6.2.3.
2.2. Die Herausbildung einer nationalen Perspektive
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und die Deutschtümelei der jungen Generation fremd war, verwendet. Die Romantiker, zuvorderst Wilhelm Wackenroder, Novalis und die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel, stellen gegen die RenaissanceFixierung des Klassizismus die Idee vom ,christlichen Mittelalter' ins Zentrum ihrer ästhetischen Schriften.15 Die ,Gotik', die vormals vor allem als heterogenes Konglomerat unästhetischer und misslungener Gestaltungsformen im öffentlichen Bewusstsein verankert war, wird nun erstmals zum eigenständigen ,Stil' erhoben. Wie zuvor nur die antike Kunst und die Renaissance sieht man die Gotik nun als eine hoch systematisierte Formensprache, die auf eine zentrale Idee zurückzuführen ist. Und wie die Antike und die Renaissance mit der mediterranen Lebenswelt verbunden waren, so wird die Gotik zum Paradigma des gordischen' Menschen, dessen Idealtypus wiederum der ,Deutsche' ist. Locher (2002: 130f.) zitiert als Beleg für diese neue Sichtweise auf die Gotik eine Passage aus August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Uteratur aus dem Jahr 1809: Wir Nordländer aber wollen uns die mächtigen ernsten Eindrücke beim Eintritt in einen gotischen Dom nicht so leicht wegschwatzen lassen. Wir wollen uns vielmehr bestreben, diese Eindrücke zu erklären und zu rechtfertigen. Eine geringe Aufmerksamkeit wird uns lehren, daß die gotische Baukunst nicht bloß von außerordentlichen mechanischen Fertigkeiten zeugt, sondern von einem bewunderungswürdigen Aufwande an Erfindungskraft; bei näherer Betrachtung werden wir ihre tiefe Bedeutung erkennen, und wie sie ebensowohl ein vollständiges in sich geschlossenes System ausmacht wie die griechische.16
So war die Idee von der Gotik als gleichberechtigtem nordischen Gegenprinzip zur Renaissance in der Welt. Als ihr prototypischer historischer Wirkraum wurde, wie schon bei Vasari und beim jungen Goethe, ,Deutschland' angesehen. Diese Aufwertung der Gotik zu einem Stilsystem bildete die Grundlage für die Übertragung des Entwicklungsmodells Winckelmanns, der ,Stil' und ,Volk' unmittelbar aufeinander bezogen hatte, auf die deutsche Kunst. Jetzt war ein Stil gefunden, der als ein geschlossenes System aufgefasst und dessen Entwicklung und Ausformung an das deutsche Volk rückgebunden werden konnte. Die ,Gotik' wurde zum Prototypen einer .deutschen Kunst'. Ihre Grundmerkmale, ins Geistesgeschichtliche transzendiert, konnten nun als Folie dienen, vor deren Hintergrund sämtliche Epochenstile der deutschen Kunstgeschichte auf
15 16
Zur Kunsttheorie der Romantik siehe Kultermann (1987: 136ff.) und Locher (2001: 128ff.). A. W. Schlegel (1966: 22); Von August Wilhelms Bruder Friedrich liegt in der Fluchtlinie dieser Gedanken eine erste systematisierte Darstellung der rheinischen Gotik unter dem Titel Grund^iige der gotischen Baukunst (1956, erstmals 1823 erschienen) vor.
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2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen
ihre ,Deutschheit' hin untersucht werden konnten.17 Die Kunsttheorie der Romantik bildet daher die Grundlage für das Leitmotiv aller Geschichten der deutschen Kunst bis in die 1950er Jahre: Die Suche nach dem ,Deutschen' in der Kunst und nach der Kunst als Ausdruck des .Deutschtums'.18 So gilt noch lange die Feststellung, die Belting (1992: 11) über die romantische Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte macht: „Die Romantiker hatten das Wesen der Kunst im Volk und das Volk im Spiegel seiner Kunst gesucht." Wenn ,das Deutsche' als etwas Wesenhaftes innerhalb der Kunst gesucht werden soll, so ändert sich zwangsläufig auch das Geschichtsmodell, in dem ,Kunstentwicklung' gedacht wird. Dem ,Werden', ,Blühen' und ,Vergehen' der Stile muss eine Hintergrundhandlung hinzugedacht werden, die eben nicht auf ständiger Veränderung, sondern vielmehr auf Konstanz beruht: Das ,Deutsche' in der Kunst kann nur Identität haben, wenn es durch die Zeiten und Epochen hindurch seinen Grundcharakter bewahrt.19 Das individuelle Kunstwerk ist damit nicht nur Ausdruck der sich verändernden Kunstepoche, sondern immer auch (mehr oder weniger aussagefähiges) Symptom der unveränderlichen Kunst als einer Wesenheit, die nun eine spezifisch deutsche Kunst ist. Ihren prägnanten Ausdruck findet diese Ansicht in einer Formulierung, die Heinrich Wölfflin im Rahmen einer Festrede in der Münchner Akademie der Wissenschaften im Jahr 1914 verwendet: „In der Reihe der verschiedenen Stilepochen hat jede ihre besondere Physiognomie, die nationale Individualität aber ist bis zu einem Grad etwas Gleichmäßig-Durchgehendes, das in allem Wechsel beharrt."20 Labuda (2004: 32) greift diesbezüglich Lochers (2001) Formel von der „Lehre der nationalen Konstante" auf. Die deutsche Kunst bekam auf diese Weise, so formuliert Belting (1992: 8) „ihren Anteil am ,Mythos der Nation' zugewiesen". Damit wird die Frage nach der Geschichtlichkeit der deutschen Kunst zu einer nach den Einflüssen von ,außen', die den konstanten Charakter der deutschen Kunst immer wieder so beeinflussen, dass sich auf der ,Oberfläche' dann doch eine zyklische Stilentwicklung feststellen lässt, und zwar im Sinne einer beständigen Ablenkungen und Wieder-Annäherung der deutschen Kunst von ihrem .deutschen Wesenskern'. So wird die Suche nach .äußeren' Einflüssen auf
17 18
19
20
Siehe dazu die Kapitel 4.2.4, 5.3.2., 6.1.6. und 6.3.3. Zur Verbreitung eines zur kunsthistorischen Grundkategorie gereiften Konzeptes .deutsch' trug wesentlich die Gründung der Berliner Nationalgalerie im Jahr 1876 bei. Vgl. dazu den Band von Rückert/Kuhrau (1998). Auch hier greift die sozialpsychologische Vorstellung von der „Selbigkeit" einer Person oder Gruppe „über die Abfolge ihrer inneren Vorstellungszustände", die Henrich (1979: 140) mit dem Terminus .diachrone Identität' beschrieben hat, vgl. Kap. 1, FN 1. Zitiert nach Belting (1992: 23f.).
2.3. Die Verfasser der Geschichten der deutschen Kunst
37
die deutsche Kunst und ihrer Wirksamkeit zum beherrschenden Thema der deutschen Kunsthistoriographie. Besonders ausgeprägt ist diese Perspektive in der Geschichte der deutschen Kunst Georg Dehios. Muthesius (2004: 75) schreibt über sie: „Dehios große deutsche Kunstgeschichte kann man als eine rhetorische Auseinandersetzung, fast als eine Polemik zu einer dauernd thematisierten Frage verstehen: War die deutsche Kunst abhängig von außen oder war sie selbstständig?"
2.3. Die Verfasser der Geschichten der deutschen Kunst 2.3.1. Die Entstehung der Kunstgeschichte als Universitätsfach Die Kunstgeschichte als Universitätsfach formiert sich in Deutschland ab der Mitte des 19. Jahrhunderts.21 Zu diesem Zeitpunkt waren öffentlich wirksame Äußerungen über Kunst noch Gelehrten, etwa Museumsdirektoren, Kunstkritikern und Künstlern selbst vorbehalten22, größere Überbücksdarstellungen, also Kunstgeschichten und kunstwissenschaftliche Handbücher, entstanden als private oder privatwirtschaftliche Einzelanstrengungen.23 Auf diese Weise entsteht zwischen 1851 und 1860 auch die erste Arbeit, in der unter dem Titel Geschichte der deutschen Kunst der Versuch einer vollständigen Darstellung der deutschen Kunst im Gang ihrer Entwicklung unternommen wird. Ihr Autor ist Ernst Förster, der in seiner Jugend selbst als Historienmaler, später als Dichter und Kunstjournalist tätig war. Förster schrieb neben der deutschen auch noch eine italienische Kunstgeschichte, gab in Stuttgart zusammen mit Franz Kugler das Kunstblatt, eine zweimal wöchentlich erscheinende Sammlung ambitionierter Kunstkritiken, heraus und tat sich als Übersetzer der Künstlerviten Vasaris hervor.24 Die zweite Geschichte der deutschen Kunst ist ein Gemeinschaftsprojekt, in der fünf anerkannte Kapazitäten des Fachs jeweils die Entwicklung einer 21
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24
Anfangs war die universitäre Beschäftigung mit Kunstgeschichte noch in die Archäologie integriert. Der erste selbstständige Lehrstuhl für Kunstgeschichte wird 1860 in Bonn eingerichtet (Anton Springer); vgl. Halbertsma (1995: 53ff.). Dabei gab es im Bewusstsein der Akteure keine klare Trennung zwischen Kategorisierung, Kritik und praktischer Ästhetik. Vielmehr gab es konfliktträchtige Normierungsversuche aus allen Lagern. Zum Konflikt zwischen historisch arbeitenden Gelehrten und Künsdern in der Kunstkritik bis 1870 siehe Locher (2001: 45ff.). Beispielhaft für solche Werke ist das 1837 in zwei Bänden erschienene Pionierwerk Handbuch der Geschichte der Malerei von Constantin dem Grossen bis auf die neuere Zeit des Berliner Privatdozenten Franz Kugler, in dem erstmals eine systematisch gegliederter Gesamtschau einer Gattung über einen großen Zeitraum hin vorgelegt wurde. Vgl. Locher (2001: 255), MKL (92ff.).
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2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Vorausset2ungen
Gattung in Deutschland darstellen. Sie erscheint in den Jahren 1885 bis 1891, also 25 Jahre, nachdem Förster sein Projekt abgeschlossen hatte. Der berufliche Status ihrer Verfasser spiegelt die Professionalisierung der Kunsthistoriographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; er zeigt aber auch, dass methodisch anspruchsvolle Darstellungen der kunstgeschichtlichen Entwicklung noch keinesfalls nur an Universitäten entstanden. So war Hubert Janitschek, der Autor des Bandes Malerei, Professor für Kunstgeschichte in Straßburg, Wilhelm Bode (Plastik) war Generaldirektor der königlich-preußischen Kunstsammlungen in Berlin, Jacob von Falke (.Kunstgewerbe) war Bibliothekar und Betreuer der Kunstsammlung des Fürsten von Liechtenstein in Wien, Carl von Lützow (Kupferstich und Holzschnitt) war Privatdozent für Geschichte und Archäologie in Wien und Mitherausgeber der Zeitschrift für bildende Kunst und Robert Dohme (Baukunst) war Architekt, erster ständiger Sekretär der Berliner Akademie der Künste und Leiter des Hohenzollern-Museums.25 Parallel zu diesem ersten Monumentalwerk verfasst der Kasseler Historienmaler und Illustrator Hermann Knackfuß eine zweibändige Geschichte der deutschen Kunst, die 1888 erscheint. Auch Knackfuß war durchaus kein Unbekannter; im Gegensatz zu den Autoren des fünfbändigen Werks war er aber kein Gelehrter, sondern ein Praktiker. 1874 war er für zwei Historiengemälde mit dem Großen Staatspreis ausgezeichnet worden, das damit verbundene Stipendium ermöglichte ihm einen dreijährigen Aufenthalt in Rom (vgl. DBE 5, 612). Zwei weitere Geschichten der deutschen Kunst entstanden im Rahmen und als Ergebnis universitärer Forschung und mit Hilfe eines Stabs an wissenschaftlichen Zuarbeitern.26 Die Autoren sind die einflussreichen Universitätsprofessoren Wilhelm Lübke (Ordinarius für Kunstgeschichte in Berlin, Zürich, Stuttgart und Karlsruhe; vgl. DBE 6, 513, MKL 249), dessen Werk 1890 erscheint, und Georg Dehio (Ordinarius für Kunstgeschichte in Straßburg; vgl. MKL 54ff.), der zwischen 1919 und 1926 drei Text- und drei Bildbände zur Geschichte der deutschen Kunst vorlegt, welche wohl das einflussreichste Werk des Diskurses darstellen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erscheinen außerdem zwei Geschichten der deutschen Kunst, die einen außeruniversitären Bezugsrahmen haben: Ein Werk von 1905 entstammt der Feder des Direktors des städtischen Museums in Aachen, Hermann Schweitzer; ein anderes wurde im Jahr 1926 von
25 26
Zu Janitschek siehe MKL (190ff.), zu Bode MKL (31 ff.), zu von Falke MKL (83), zu von Lützow MKL (254f.), zu Dohme MKL (61 f.). Dilly (1988: 23f.) belegt das Wachstum des Hochschulfachs .Kunstgeschichte'. Danach gab es 1864 8 hauptamtliche Dozenten des Fachs Kunstgeschichte an Universitäten und technischen Hochschulen, 1910 waren es 65 und 1931 106 Dozenten.
2.3. Die Verfasser der Geschichten der deutschen Kunst
39
dem Gymnasialdirektor a. D. Hermann Luckenbach in Zusammenarbeit mit seinem Bruder, dem Architekten Ortwin Luckenbach, verfasst.27 2.3.2. Die deutsche Kunsthistoriographie im Nationalsozialismus Die Beschäftigung mit der deutschen Kunst erfährt ab 1933 eine qualitative wie quantitative Radikalisierung. Sie wird mit der Machtergreifung Hitlers zur Staatsdoktrin. Die Umfunktionalisierung aller Wissenschaften im Dienste eines zu stärkenden Nationalgefühls umreißt Hitler schon 1927 im zweiten Teil seiner Programmschrift Mein Kampf. Dilly (1988: 16) zitiert daraus die einschlägige Passage: Auch in der Wissenschaft hat der völkische Staat ein Hilfsmittel zu erblicken zur Förderung des Nationalstolzes. Nicht nur die Weltgeschichte, sondern die gesamte Kulturgeschichte muß von diesem Gesichtspunkte aus gelehrt werden. E s darf ein Erfinder nicht nur groß erscheinen als Erfinder, sondern muß größer noch erscheinen als Volksgenosse. Die Bewunderung jeder großen Tat muß umgegossen werden in Stolz auf den glücklichen Vollbringer derselben als Angehörigen des eigenen Volkes. A u s der Unzahl all der großen Namen der deutschen G e schichte sind die größten herauszugreifen und der Jugend in so eindringlicher Weise vorzuführen, daß sie zu Säulen eines unerschütterlichen Nationalgefühls werden.
Der Volksgedanke als Entwicklungsfaktor in der Kunstgeschichte einerseits und die Suche nach großen deutschen Künstlern mit Vorbildcharakter für den Volksgenossen andererseits wurden mit diesem Programm ab 1933 von Staats wegen zum Hauptgegenstand kunstwissenschaftlicher Forschung erhoben. Gleichzeitig wurde größerer Wert auf die populäre Außendarstellung des Fachs gelegt. Ein sichtbarer Ausdruck dieses Programms ist die Gründung der Zeitschrift für deutsche Kunstwissenschaft im Jahr 1933 als publizistisches Zentralorgan der Kunsthistoriographie. Sie beschränkte sich ausdrücklich auf die Darstellung deutscher Kunst (vgl. Dilly 1988: 36). Damit nahmen die Geschichten der deutschen Kunst als Überblickspublikationen, die sich genau diesem Programm widmeten, eine zentrale Stellung innerhalb der kunsthistorischen Publikationen in Deutschland ein. Die wichtigste Figur der Kunstwissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland ist, neben Alfred Stange und Dagobert Frey, Wilhelm Pinder.28 Pinder hatte bereits eine bewegte Professorenlaufbahn mit den Sta27 28
Die biographischen Angaben zu den drei 2uletzt genannten Autoren entstammen den Klappentexten der jeweiligen Kunstgeschichten. Schulze (1970: 8) zitiert eine Bekenntnis zur nationalsozialistischen Bewegung, das Pinder 1934 im Völkischen Beobachter abgab. Pinder schreibt dort, er habe sein Herz „in den Dienst des neuen Staates gestellt" und hoffe, „ihm noch weiterhin junge Seelen zuzuführen."
40
2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen
tionen Würzburg, Darmstadt, Straßburg, Breslau, Leipzig und München hinter sich, als er 1935 auf den damals wichtigsten Lehrstuhl für Kunstgeschichte an die Universität der Reichshauptstadt Berlin berufen wurde. 1945 wurde er suspendiert (vgl. MKL 309ff.). Als Pinder nach Berlin wechselte, war sein Nachfolger auf dem Münchner Lehrstuhl sein Schüler Hans Jantzen (vgl. MKL 192f£). Beide sind Autoren deutscher Kunstgeschichten, deren Titel schon die nationalpädagogische Stoßrichtung vorgibt: Pinders Darstellung, die ausdrücklich als nationalistische Umwertung des von Dehio gesammelten Datenmaterials angelegt ist, trägt den Titel Vom Wesen und Werden deutscher Formen (1935ff.), Jantzens Text von 1935 ist einigermaßen pathetisch Geist und Schicksal der deutschen Kunst betitelt. Obwohl aber sowohl Pinder als auch Jantzen nachhaltig in die nationalsozialistische Kulturpolitik verstrickt waren29, fehlen in beiden Texten Passagen, die ausdrücklich im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie verfasst sind. Es finden sich auch keine antisemitischen Ausfälle. Die einzig zweifelsfrei nationalsozialistische Geschichte der deutschen Kunst entstammt der Feder des Düsseldorfer Kunsthistorikers Hans Weigert.30 Weigert hatte bei Pinder promoviert und sich seit 1934 mit zahlreichen Schriften zur „entarteten" Gegenwartskunst ganz dem nationalsozialistischen Kulturkampf verschrieben. Das Vorwort zu seiner Geschichte der deutschen Kunst entstand 1942 an der Front (vgl. MKL 456f£). Im Jahr 1936 erscheint auch der vierte Band der Geschichte der deutschen Kunst Georg Dehios, welchen dieser nicht mehr fertig zu stellen in der Lage gewesen war. Der Band wurde von Gustav Pauli besorgt. Pauli war Direktor der Kunsthalle Hamburg (vgl. MKL 302ff., DBE 7, 575). Der patriotische Duktus der Bände Dehios wird bei Pauli merklich verschärft, eindeutig nationalsozialistische Formulierung fehlen allerdings.
29
30
Pinder war bis 1936 Vorsitzender der Sektion Bildende Kunst der Deutschen Akademie in München. Jantzen war auch hier sein Nachfolger. Dem Kleiner Rat genannten Leitungsgremium der Akademie gehörte ab 1933 u. a. Rudolf Heß an. Ab 1941 war die Akademie direkt dem Propagandaministerium Goebbels unterstellt. Zur Rolle der Deutschen Akademie in der nationalsozialistischen Kulturpolitik siehe Schulze (1970: 9ff.). - Das Verhältnis Pinders zur nationalsozialistischen Linie gegenüber der Kunst war allerdings von Beginn an zwiespältig; so hatte er versucht, den Expressionismus als deutsche Kunst gegenüber dem Nationalsozialismus zu verteidigen; vgl. Dilly (1988: 51). Vgl. Weigert [1942: 498]: „Der Jude hat immer bei Zersetzung seine Hand im Spiel." Weigerts Geschichte der deutschen Kunst erscheint im Jahr 1963 erneut, diesmal unter Verzicht auf die offensichtlichsten nationalsozialistischen, rassistischen und antisemitischen Formulierungen. In der Neuauflage beginnt die deutsche Kunst nicht mehr im Paläolithikum, wie noch 1942, sondern mit Karl dem Großen. Da die Neuauflage allerdings in weiten Teilen dennoch unverändert ist, wurde sie nicht in mein Korpus aufgenommen. Einen Vergleich der beiden Texte und eine Interpretation bezüglich Weigerts Wandlung vom nationalsozialistischen Parteigänger zum überzeugten Europäer liefert Preiß (1990).
2.3. Die Verfasser der Geschichten der deutschen Kunst
41
Daneben entstehen in dieser Zeit außerhalb der Universitäten vier kleinere deutsche Kunstgeschichten, die sich - ganz im Sinne der nationalsozialistischen Idee — auf die Darstellung der großen Entwicklungslinien der deutschen Kunst konzentrieren und diese immer mit Blick auf den Volksgedanken hin auslegen. Dabei handelt es sich um emphatische, poetisierende Texte wie die Arbeit Die bildende Kunst der Deutschen. Geschichte und Betrachtung (1931) des Graphikers, Schriftstellers, Pädagogen und Bühnengestalters Lothar Schreyer (vgl. DBE 9, 143) und volkspädagogische Werke wie Die deutsche Kunstfibel. Ein Führer durch die Geschichte der deutschen Kunst von Emil Schwander (1936)31, und Wilhelm Müselers Deutsche Kunst im Wandel der Zeiten (21934).32 Müseier war freier Schriftsteller und Major a. D. (vgl. DLL 10, 1614). In diesen Rahmen schmaler, volkspädagogischer Darstellungen gehört auch Gustav Bartheis Geschichte der deutschen Kunst (erschienen 1949). Barthel, ein Schüler Pinders, war Direktor der Kunstsammlungen der Stadt Breslau (vgl. Schulze 1970: 7f.) und maßgeblich an der kulturpolitischen RechtfertigungsStrategie für die nationalsozialistische Besatzung der östlichen Nachbarländer beteiligt.33 Zu Beginn der 1940er Jahre wird im Münchner Bruckmann Verlag ein weiteres fünfbändiges Werk im Stile des alten Fünfbänders von Janitschek, Bode, Dohme, Falke und Lützow projektiert. Vier der fünf Bände erscheinen allerdings erst nach dem zweiten Weltkrieg. Die Autoren sind die Universitätsprofessoren Otto Fischer (Basel) für die Bände Malerei und Zeichnung und Graphik, Eberhard Hempel (Dresden) für Baukunst und Adolf Feulner (Köln) für Plastik. Heinrich Kohlhaussen, der den Band Kunsthandmrk besorgte, war als einziger der Autoren nicht an einer Universität beschäftigt. Er war ab 1933 Direktor der Kunstsammlungen der Stadt Breslau und damit Bartheis Vorgänger, ab 1937 Direktor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg und ab 1950 Leiter der Kunstsammlungen auf der Veste Coburg.34
31 32 33
34
Schwander wird in keinem gängigen kunst- oder literaturhistorischen Nachschlagewerk erwähnt. Müselers Büchlein erschien noch 1966 in der 32. Auflage! Schulze (1970: 7) zitiert die folgende Passage aus einem kulturhistorischen Text Bartheis (1940) über die Stadt Krakau: „Es war für uns Deutsche besonders tragisch zu sehen, wieviel deutsche Kulturleistung jenseits unserer Grenzen stand. Es befinden sich unter ihnen Werke, die zum Besten unserer Kunst gehören. Viele sind zu uns heimgekehrt. Sie machen uns stolz und selbstbewusst." Zu Fischer siehe DBE (3, 326), zu Hempel MKL (169ff.), DBE (4, 579), zu Feulner MKL (85f£), DBE (3, 281), zu Kohlhaussen MKL (217ff.).
42
2. Kommunikationsräume und weltanschauliche Voraussetzungen
2.3.3. Die Revitalisierung der nationalen Perspektive35 Nachdem bis in die 1950er Jahre noch Texte erschienen waren, deren Entstehung auf die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg datiert, erlahmt das Interesse an der deutschen Kunstgeschichte. Zentrales Thema der deutschen Kunstwissenschaft, wie auch der Künstler selbst, wird die internationale Avantgarde, die während des „dritten Reichs" verfemt war. Sichtbarster Ausdruck dafür sind die i/0die angeborenen Anlagen der Deutschem] im historischen Prozess ausgeformt. Das ,Schicksal' ist Agens dieser Aus-
4.1. Geschichte
103
formung. Da mit dem Ausdruck Schicksal aber eine höhere Macht bezeichnet wird2, deren Wirken nach einem Plan abläuft, aber letztlich undurchschaubar ist, bekommt der historische Prozess den Charakter einer planvoll ablaufenden Enthüllung einer schon im Vorhinein feststehenden Konstellation zugesprochen. Damit eignet sich diese Formulierungsweise vor allem für Texte, deren Autoren die ,deutsche Kunst' als eine historisch sich entfaltende Wesenheit ansehen. Mit diesem Befund stimmt überein, dass die besprochene Verwendung von Schicksal vereinzelt in der ersten Quellengruppe, vor allem aber bei Pinder und Dehio belegt ist. Ihnen ist die angesprochene Perspektive auf,deutsche Kunst' zuzuschreiben (vgl. 2.3.1., 6.2.2.). Außerdem ist der textstrategische Gebrauch von Geschichte[η als Individuum jeweils einmal in den semantischen Rollen Patiens (Cbeschichte wird für die Zwecke der Gegenwart zurechtgemacht Suckale [1998: 119]) und Experiens (in der Fügung Wille der Geschichte Dehio III [1926:28]) belegt. ,Geschichte' wird hier nicht als handelndes, sondern als von einer Handlung betroffenes bzw. willensbegabtes Individuum präsentiert. Synonym zu Geschichte wird Gesamtgeschichte gebraucht. 4.1.2. Geschichte ist ein Ort Die Perspektive auf .Geschichte' als einen Ort wird vor allem im Gebrauch des Ausdrucks Geschichte[η im Lokativ, also in der Ortsangabe ,in der Geschichte' realisiert. ,Geschichte' ist dann als ein Ort gedacht, an dem sich bestimmte Ereignisse abspielen. Diese Verwendung ist ausschließlich in der mitderen Diskursperiode belegt. ,Geschichte^]' wird in den Belegen als Handlungsraum präsentiert, in dem übergeordnete Klassen oder abstrakte Prinzipien die handelnden Figuren sind. Auch hier ist in jedem Fall die Anschauung von ,Geschichte^]' als einem homogenen Prinzip vorausgesetzt, hier aber nicht als Handlungsträger, sondern als Η andlungshintergrund: a) Luckenbach [1926: 337]: Denn sein [Jan van Eycks] Hauptwerk, der Genter Altar,
b)
2
wurde erst 1432 vollendet, während Mosers Altar in Tiefenbronn schon ein Jahr früher fertiggestellt war. Vielmehr scheinen in diesem Fall, wie öfter ~*in der Geschichte gleichzeitig an mehreren Stellen neue Ströme aus der unseren Augen verborgenen Tiefe ans Tageslicht hervorgebrochen zu sein. Pauli [Dehio IV/1934: 34]: Es ist eben keiner so original, wie er meint, und gegen den Strom kann auf die Dauer auch der stärkste nicht schwimmen; vielmehr be-
Vgl. Grimm (14: 2659f.): [Lemma SCHICKSAL, Bedeutung 2] „die macht, die über dem menschen waltet, oft personificiert; in christlichem sinne, als von gott ausgehend gefasst".
104
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
währt sich auch auf unserem Gebiete jene verhüllte Gesetzmäßigkeit, die ^in der Geschichte*" waltet.
In das Konzept von der GESCHICHTE als Ort fügen sich Bildungen mit dem Ausdruck Grenze: Grenze der Epoche / der neuen Zeit / des Mittelalters %ur Neuheit / des Zeitabschnitts·, Grenzgebiet / Grenzmarken sowie Schlussstein, Schwelle, Wasserscheide. Weil mit diesen Fügungen jeweils einzelne Bestandteile der GESCHICHTE als einem Ort ausgedrückt werden, können sie als Meronyme aufgefasst werden: c) Bode [1885: 131]: Mit diesen Arbeiten sind wir zum Teil schon bis an die Grenze dieser Epoche*" gelangt.
Hier wird die ,Geschichte' als ein Ort verstanden, der nach vorgegebenen Prinzipien (ζ. B. kunsthistorischen Epochen) gegliedert werden kann. Damit wird nicht mehr die Gesamtgeschichte als homogener Handlungsraum dargestellt, sondern die einzelnen begrenzten Geschichtsräume werden als jeweils sich voneinander unterscheidende Hintergründe der kunsthistorischen Handlung präsentiert. Fügungen dieses Typs sind durchgängig, aber schwach belegt. Besonders häufig verwendet sie Dehio. Ebenfalls als Meronym des Konzeptes GESCHICHTE IST EIN ORT lässt sich — unmarkiert und durchgängig belegt — der Ausdruck Zeitraum auffassen. 4.1.3. Geschichte ist Veränderung Was immer mit dem Etikett Geschichte präsentiert wird, es hat sinnvollerweise mit Veränderung zu tun. Daher ist das Konzept GESCHICHTE IST VERÄNDERUNG die mit Abstand am häufigsten belegte Perspektive auf GESCHICHTE innerhalb des Diskurses. Dabei handelt es sich um eine unmarkierte Perspektivierung von ,Geschichte^]'. Das Veränderungskonzept fungiert als Oberbegriff der Konzepte GESCHICHTE IST VERBESSERUNG (4.1.4.) u n d GESCHICHTE IST VERSCHLECHTERUNG (4.1.5.).
Zum Ausdruck des Konzeptes können Bezeichnungen herangezogen werden, die einen Prozess ausdrücken. Als wichtigste Bezeichnung ist hier Entwicklung zu nennen. Meistens wird der Ausdruck im Gebrauch konkretisiert, also auf bestimmte Gegenstandsbereiche bezogen. Diese Gegenstandsbereiche entstammen überwiegend dem Wissensbereich KUNST und können Klassen (a: ,der Dornen.]') oder Individuen (b: ,die Kathedralen x, y und z') sein (vgl. 6.2.1.). Mit dem Ausdruck Entwicklung werden verschiedene Redegegenstände zueinander so in Beziehung gesetzt, dass erstens eine zeitliche und zweitens eine qualitative Veränderung entsteht. Die Art dieser Veränderung wird durch die Bezeichnung Entwicklung aber nicht als positiv oder negativ bewertet:
4.1. Geschichte
a)
b)
105
Schwander [1936: 13]: So setzte schon in den ersten Jahrhunderten nach der Übernahme der Basilika eine stetig fortschreitende "^Entwicklung*" zum romanischen, zum deutschen Dom ein. Gebhardt [2002: 32]: Nach Laon und Notre-Dame in Paris fand die "^Entwicklung^" mit den Kathedralen von Chartres (ab 1194), Reims (ab 1211) und Amiens (ab 1220) ihren klassischen Höhepunkt.
Entwicklung als Be2eichnung eines historischen Prozesses ist durchgängig belegt. Die häufigsten Synonyme sind die Wortbildungen Entwicklungsgang, Entwicklungsgeschichte und Entwicklungsprozess sowie Veränderung, Wandel (der Zeit) und Wandlung. Außerdem erfährt das Konzept eine Reihe von weiteren lexikalischen Aspektuaüsierungen, die hier aber unter GESCHICHTE IST VERÄNDERUNG subsumiert werden. So wird mit Durchdringung, Durchdringungsprozess und Durchmischungsprozess Veränderung als Prozess der Integration zweier Gegebenheiten ineinander konzeptualisiert. Mit Anklängen an das Verbesserungskonzept ist der Ausdruck das Werden (eines Neuen) versehen. Dieses ist sehr häufig in der ersten und zweiten Quellengruppe belegt, besonders häufig bei Pinder. Keinen Beleg gibt es dafür in der dritten Diskursperiode. Ebenfalls auf die Texte der älteren Tradition beschränken sich metaphorisch motivierte Aspektuaüsierungen aus dem Bildbereich B O T A N I K : Entfaltung, naturhafter Entwicklungsprozess, natürliche Tendenz organisch gesetzmäßige Entwicklung, organische Fortentwicklung, organische Problementwicklung. Hier kommt der aus dem Bild des Pflanzenwachstums sich ergebende Aspekt der Folgerichtigkeit hinzu. Dieses Teilfeld fügt sich in den pflanzenmetaphorischen Ausdrucksbereich, der unten (6.2.5.) als Strategiemuster des narrativen Entfaltungsmodus besprochen wird. Bedeutungsähnlich hierzu sind die Fügungen logische Entwicklung bzw. logische Problementwicklung bei Pinder und Dehio. Andere Wissensbereiche, aus denen sich metaphorische Konkretisierungen des Veränderungskonzepts ergeben, sind der WEG {Allee, Weg (höherer Entwicklung / in die Zukunft), Wegstrecke), die FORTBEWEGUNG {der Gang [>das GehenText, in dem Geschichte[i] präsentiert wirdAutor der Erzählung< gebraucht. Hier überlagern sich also — um die Formulierung von Koller (2004: 317) wieder aufzugreifen (vgl. 3.1.3.) — zwei „Prozesswellen" der Perspektivierung: Erzählung in der usuellen Bedeutung >Geschichtstext< wird verwendet, um den Autor des Geschichtstextes zu bezeichnen. Mit dieser Formulierung wird erstens präsupponiert, dass es ,Geschichte' als >Vergangenheit, von der erzählt wird< gibt, und zweitens, dass diese als >Idee des Autors von der Vergangenheit im Text verwirklicht wurde. Auf diese Weise wird die Perspektive auf,Geschichte' als Ergebnis von Kommunikation realisiert: a) Dohme [1885: I]: Trotzdem glaubte auch diese "^Erzählung*" in einzelnen Fällen derartiger Ausblicke auf das Gebiet der allgemeinen Geschichte^] der Zivilisation nicht entraten zu können.
In (b) wird der Ausdruck Geschichte als Prädikativ gebraucht und dient zu Vereindeutigung der gemeinten Bedeutung von Kunstgeschichte·. b) Deho i I [1919: 5]: Es steht nicht so, daß die kunstgeschichtlichen Tatsachen schon durch ihre historische Folge sich selbst erklären würden. V o r uns liegt nicht das Bild einer einfachen, geradlinigen Entwicklung. Ohne erkennbare Regel folgen sich Hebungen und Senkungen, Abbiegungen, Brüche, irrationale Erscheinungen an allen Enden. Die Kunstpsychologie, die heute manchmal Miene macht, die Geschichte ersetzen zu wollen, hat hier im voraus das Spiel verloren. Es muß so gewesen sein, daß die inneren Kunstgesetze - die wir mehr im Grundsatz voraussetzen, als daß wir ihre Formeln zu nennen vermöchten - immerfort mit außerkünstlerischen Komponenten in Verwicklung gerieten. [...] Aus den letzten Sätzen geht hervor, daß für das vorliegende Buch Kunstgeschichte "^Geschichtet ist.
Durch die Konstruktion wird vorausgesetzt, dass es mehrere Verständnisalternativen von Kunstgeschichte geben muss. Diese werden im vorgelagerten Kotext genannt: Kunstgeschichte kann auch als >Kunstpsychologie< verstanden werden (vgl. 1.4.). Geschichte, ein Wort ohne synchronisch erkennbare lexikalische Motivierung11, kann als (partiell redundantes) Prädikat das Verständnis von Kunstgeschichte nur dann wirksam befördern, wenn vorher Interpretationshilfen angeboten wurden. Im Beleg ist eine solche Interpretationshilfe die Proposition ,innere Kunstgesetze geraten mit außerkünstlerischen Komponenten in Verwicklung'. Diese wird als Erklärungsmodell für die als objektiv angesehene Kunstentwicklung (es muss so gewesen sein) angeboten. Damit ergibt sich folgende Bedeutung des Prädikativs Geschichte·. >Idee von der Vergangenheit der Kunst als Entwicklung, die sich durch die Verwicklung innerer Kunstgesetze mit außerkünstlerischen Kompoll
Im Gegensatz zu Entwicklung, Entfaltung oder Verbesserung siehe Kap. 3.1.5.
114
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
nenten vollziehe. Historische Kommunikation stellt sich hier als Enthüllungsprozess der objektiven Geschichtsentwicklung dar. In Beleg (c) wird das Verständnis von Geschichte als >Geschichte[4]< durch die Parallelisierung zu dem Ausdruck Anthropologe gewährleistet: Gemeint ist die akademische Disziplin als Kommunikationsbereich, in dessen Rahmen sich Geschichte^, 2,3] formiert. Auch hier wird die usuelle Bedeutung mit einer Metonymie verknüpft: Die Disziplin wird anstelle der Forscher, die in ihrem Rahmen arbeiten, genannt. Damit wird der Aspekt der Abhängigkeit des öffentlichen Geschichtsbildes von der Auffassung Einzelner zusätzlich betont. Da die einzelnen Auffassungen aber nur als Rede über sie darstellbar sind, erscheint auch hier implizit,Geschichte' als Ergebnis von Kommunikation: c)
Weigert [1942: 7]: Die "^Geschichtet Expenens] sieht die Stile in einer Reihe, als Abschnitte einer Linie. Die Anthropologie sieht sie als Sektoren im Kreise der menschlichen oder völkischen Möglichkeiten, deren Summe das Wesen des Volkes und in letzter Zusammenfassung das der Kulturmenschheit sichtbar macht. 1
Alle drei Verwendungsweisen von Geschichte sind schwach, aber regelmäßig belegt. Entgegen den Erwartungen nehmen Lexikalisierungen einer historischen Metaperspektive nicht etwa zu, je jünger die Belegtexte sind. Von den jüngeren Diskursbeiträgen fallt einzig Suckale durch relativ häufige Metaausdrücke auf. Der selbstreflexive Blick auf die Geschichte korreliert mit der Vorstellung, der Historiker hätte das historische Bewusstsein seiner Leserschaft durch eine weltanschaulich besonders prägnant dargebotene Geschichtserzählung in seinem Sinne zu schärfen. Diese Vorstellung ist in unterschiedlichen Abtönungen vorzufinden im völkischen (Pinder), sozialistischen (Ullmann, Möbius, Feist) und postmodernen (Klotz) Kontext. Symptom dafür sind die affizierten Ausdrücke zum Kommunikationskonzept, ζ. B. geschichtliche Methoden, geschichtliches Gedächtnis, geschichtliches Ziel., Geschichtsbewusstsein, Methoden der geschichtlichen Ordnung, Zeitalterbegriff. ,Geschichte' als Ergebnis von Kommunikation wird immer dann berührt, wenn die kommunikativen Grundlagen, also die Intentionen und Weltanschauungen der einzelnen Autoren im Diskurs selbst thematisiert werden. Das geschieht im argumentativen Entfaltungsmodus (vgl. 6.3.), der dementsprechend als textstrukturelles Korrelat des Kommunikationskonzeptes betrachtet werden kann.
4.2. Kunst
115
4.2. KUNST 4.2.1. Kunst ist ein Individuum Wie die GESCHICHTE, so wird auch die KUNST in den Korpustexten als Individuum angesprochen, indem der Totalitätsausdruck Kunst in der Bedeutung >bildende Kunst< (Kunstμ]) mit Handlungsprädikaten verknüpft und damit als Agens präsentiert wird. Die KUNST als Individuum erscheint aber auch in den semantischen Rollen Patiens (Benefaktiv, Malefaktiv) und Deskriptiv. Synonyme sind die Fügungen bildende Kunst und Gesamtkunst. Wenn ,Kunst' als handelnde oder erleidende Figur in EreignisPropositionen auftritt, kann das in Passagen geschehen, in denen Aussagen über die ,Kunst' gemacht werden, die auf eine bestimmte Epoche (a), eine Künstlergruppe (b) oder einen einzelnen Künstler (c) bezogen werden: a) b)
c)
Schweitier [I90S: 81]: Die "^Kunstpj dieser Epoche*" strebt nach Freiheit und Naturwahrheit. Fischer [1951: 515]: Erst mit der Generation des Konrad Witz, jetzt aber mit ungeheurer Entschlossenheit, bemüht sich die ^Kunstpj*", die einmalig individuelle Gestalt und Realität der Gegenstände eindringend bis in ihre letzten Winkel zu ergründen und wiederzubilden. Janitichek [1885: 532]: Dürer vollzog die Befreiung der ^Kunstp]*" auf nationalem Boden.
,Kunst' kann in solchen Formulierungen entweder als Metonymie für >Künstler< stehen (a) oder metaphorisch als handelnde (b) oder von einer Handlung betroffene (c) Figur präsentiert werden. Wird ,Kunst' auf einen engeren Geltungsbereich begrenzt (b, c), dann ergeben sich Propositionen, in denen ζ. B. ein einzelner Künstler als Handelnder und die abstrakte Größe ,Kunst' als Nutznießer der Handlung gedacht werden (c). So werden Individuum und Abstraktum zu prinzipiell gleichberechtigten Mitspielern der Erzählung. Solche Propositionen nenne ich interkategonale Propositionen (vgl. 6.1.1.). Noch deutlicher wird das Moment des Zusammenspiels von ,Kunst' als abstrakter und ,Künstler' als individueller Größe, wenn die ,Kunst' selbst als handelnde Figur auftritt und der eigentlich thematisierte Künstler oder die Künstlergruppe metaphorisch als Mitspieler der ,Kunst' angeschlossen ist (b). Zwar sind Formulierungen wie (a), (b) oder (c) eher typisch für ältere Texte, dennoch begegnen Aussagen mit,Kunst' als Agens oder Patiens in Texten aller Diskursperioden. Als übergeordnete Einheiten (Hyperonyme) werden vor allem die Ausdrücke Kultur'[η und Kunst [η in Formulierungsmuster wie den oben
116
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
aufgeführten montiert. Dann wird nicht mehr die Kunst als >bildende KunstKunstgattung< verwendet (Kunst^). ,Kunst[2]' wird demnach als >Gesamtheit der Kunstgattungen präsentiert, die ihrerseits als handelnde, betroffene oder zu beschreibende Individuen erscheinen: KUNST
a)
Janitschek [1885: 3]: Freilich halten die "^bildenden Künste*" [...] mit der Dichtung nicht gleichen Schritt in der Entwickelung.
Zweitens gibt es das viel häufigere Phänomen, dass Klassen, die als Teile der ,Kunst als Gruppenverband' gedacht sind, nämlich die künstlerischen Gattungen ,Malerei', ,Plastik', ,Architektur' und ,Kunstgewerbe' ihrerseits als handelnde, erleidende oder zu beschreibende Individuen präsentiert werden (vgl. 6.3.1.). Funktion und Status dieses Konzeptes sind analog zu demjenigen zu sehen, was über das Konzept KUNST IST EIN INDIVIDUUM ausgesagt wurde (vgl. 4.2.1.), nur das hier die ,Kunst' nicht als handelndes Einzelphänomen, sondern als Verband handelnder Individuen gedacht ist. Die mit dem Konzept verbundene implizite Homogenitätsanmutung erstreckt sich deshalb nicht auf die ,Kunst' als Ganzheit, sondern auf die einzelnen Gattungen. Diese werden hier als individuell handelnde (b, c) oder miteinander konkurrierende (d) historische Spieler präsentiert. Die auf diese Weise eingesetzten Gattungsnamen können mal mehr (b), mal
4.2. Kunst
1 1 7
weniger (c) leicht als metonymische Verschiebungen für >die Summe aller Künstler dieser Gattung< gedeutet werden: Knackfuß I [1888: 464]: Denn indem die "^Malerei*" sich durch die räumliche Vertiefung der Perspektive das Weltall erschloß [...], veränderte sie völlig ihr Wesen. c) Luckenbach [1926: 165]: Und so dürfen wir am Ende dieser Betrachtung, [...], doch die Hoffnung aussprechen, [...] daß unsere ^Baukunst*" in den nächsten Jahrzehnten einer neuen Blüte entgegenreist. d) Suckale [1998: 169]: Trotz des Zündfunkens, der im letzten Viertel des 1 4 . Jahrhunderts von der "^Skulptur*" ausging, wurde dies ein Zeitalter der ~*Malerei^V "^Sie*" hatte mit der Farbe und ihren vielfaltigen Wirkungsmöglichkeiten, [...] künstlerische Mittel in der Hand, über welche die Bildhauer nur eingeschränkt verfügten.
b)
Solche Formulierungen sind in allen Korpustexten belegt, treten aber im älteren und mittleren Diskurs wesentlich häufiger auf.
4.2.3. Kunst ist ein Ort Wie die GESCHICHTE, so kann auch die KUNST als Ort präsentiert wer-
den, indem man Ausdrücke zur Konkretisierung des Wissensbereichs KUNST im Lokativ, Direktiv oder Origativ verwendet. Grammatisch wird die jeweilige Konkretisierung von KUNST dann als adverbiale Angabe realisiert. Durch die Konzeptualisierung der KUNST als Ort und damit als Hintergrund der Handlung werden die Handlungsrollen in der Proposition frei. Diese können durch die einzelnen künsderischen Gattungen, durch Stile (a) aber auch durch Abstrakta (b) besetzt werden.12 In diesem zweiten Fall ist die ,Kunst' als Gesamtphänomen Thema der Passage; die Formulierung fungiert als synthetische Zuschreibung an die ,Kunst', in denen die Rezeptionsperspektive auf die analytischen Teile festgelegt wird: a)
b)
12
Pauli [Dehio IV/1934: 2 2 6 ] : Der Klassizismus hatte sich um die Jahrhundertmitte verwirklicht und gewissermaßen sein Ziel erreicht. Für die Romantik gab es freilich keine bestimmten Ziele. Sie wirkte als eine den Deutschen angemessene Geistesrichtung fort, zumal in der Musik, wohl aber war der hohe Sinn ihrer ersten Regungen ~*in der bildenden Kunst*" nahezu erloschen. Weigert [1942: 23]: Hier wird deutlich, wie die Lebensvorgänge ~*in der Kunst*" denen in der Natur entsprechen und ihr Gleichnis sind. Denn nicht nur das individuelle Wachstum geschieht als Differenzierung, wenn etwa die jüngeren Blätter einer Pflanze reicher geformt sind als die des ersten, des Keimblattes, sondern auch alle Gattungsentwicklungen fuhren von einfachen zu reichen Formen.
Zu Agentivierungen von Gattungen und Abstrakta siehe Kap. 6.2.1.
118
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
Von Bedeutung ist vor allen Dingen der Gebrauch der Gattungsbezeichnungen wie Malerei oder Plastik (Meronyme) im Lokativ, Origativ oder Direktiv. So werden einerseits die Erweiterung, Verengung oder Änderung von Geltungsräumen für gemachte Zuschreibungen und Stilbeobachtungen markiert (c); andererseits dient das Muster ,in der (Gattung)' als Marker für einen Themawechsel (d, e): c)
d)
e)
Janiuchek [I88S: Vif.]: Es ergab sich aber auch, daß der nationale Stil des Mittelalters | erst ~*aus der Buchmalerei*" seinen Weg "*in die Tafel- und Wandmalerei*" gefunden hat. Barthel [1949: 102]: Wie sehr sich schon um 1500, [...], auch "*in der Plastik*" eine stärkere Körperlichkeit, eine ernstere Würde der menschlichen Erscheinung durchsetzt, erweisen die Hochaltarfiguren des Hans Seyffer in der Kilianskirche in Heilbronn. Suckale [1998: 362]: Auch ~*in der Malerei*" war der Neuanfang nach dem Dreißigjährigen Krieg ohne ausländische Künsder nicht möglich.
Auch die Konzeptualisierung von KUNST als einem Ort ist diskursspezifischen, metaphorischen Verschiebungen geschuldet; auch dieses Konzept befördert die Anschauung der Kunst im Allgemeinen bzw. der Gattungen im Besonderen als homogene Einheiten, mithin das Konzept KUNST IST EIN EINHEITSPRINZIP.
4.2.4. Kunst ist ein Einheitsprinzip Die Vorstellung von der KUNST als einem Einheitsprinzip ist also in vielen metaphorischen bzw. metonymischen Formulierungen, die als diskursspezifisch angesehen werden können, vorausgesetzt. Expliziert wird diese Perspektive auf,Kunst* dagegen verhältnismäßig selten, ζ. B. bei Dehio: a)
Dehio I [1919: 5]: Hinter der Vielfalt der Künste liegt, durch sie verhüllt und von uns gesucht, die Kunst, die Einheit des künsderischen Bewußtseins,*" die der Gesamtproduktion eines Zeitalters das Gepräge gibt.
Mit weltanschaulich markierte Fügungen wie Wesen der Kunst und Kunstgeist wird vorausgesetzt, dass alle jeweils mit dem Ausdruck Kunst gemeinten Tatbestände einen homogenen Charakter hätten. Das Konzept KUNST IST EIN EINHEITSPRINZIP kann universell gemeint sein, meist wird es aber auf bestimmte Bereiche bezogen, ζ. B. auf ,die Kunst der Germanen' (b) oder die ,Kunst einer Periode' (c): b)
c)
Lübke [1890: 58]: Die ganze Lust des germanischen "*Kunstgeistes*" am phantasiereichen Spiel mit linearen Elementen erwacht von neuem und erreicht in diesen Schöpfungen eine in ihrer Art unübertreffliche, ja mustergültige Behandlung. Ulimann [1981: 8]: Die noch immer allgemein geläufigen Stilbezeichnungen, in unserem Falle „Spätgotik", „deutsche Sondergotik" oder „Renaissance", sind
4.2. Kunst
119
zu einseitig und nur nach formalen Gesichtspunkten festgelegt oder werden dem tatsächlichen "*Wesen der Kunst dieser Periode*" nicht gerecht.
Solche Formulierungen beschränken sich im Wesentlichen auf den älteren und mittleren Diskurs. Der Beleg aus Ulimann ist wohl dem Erkenntnisrealismus als so2ialistischer Staatsdoktrin geschuldet, aus sonstigen Publikationen der jüngeren Diskursperiode finden sich keine Belege dieser Art. In die Vorstellung von der K U N S T als einem Einheitsprinzip fügt sich der im Kommunikationsbereich ,Kunstgeschichte' zentrale Ausdruck Stil. Stil meint im kunstwissenschaftlichen Kontext immer eine Gesamtheit von Formmerkmalen, die eine bestimmte Klasse von Kunstwerken einerseits nach innen als ,einheitlich' kennzeichnet und andererseits nach außen von anderen Klassen abgrenzt.13 Insofern ist ,Stil' der ideale Ergänzungsterminus für metaphorische, metonymische oder lexikalisierte Evokationen des Einheitskonzeptes. Indem das mit Stil Bezeichnete auf einen bestimmten Geltungsbereich, ζ. B. auf ein Kunstwerk (d), eingegrenzt wird, kann dieser enge Geltungsbereich dann wieder als stellvertretend für denjenigen Stil exponiert werden, für den das Kunstwerk repräsentativ ist: d)
Förster I [1851: 136]: Wir wenden uns zuletzt zur Vorderseite des Gebäudes, w o der Grundgedanke des "^Styls*" die reichste und vollkommenste Entwickelung gefunden hat, wo seine Seele wie in einem Antlitz am entschiedensten und klarsten sich ausspricht.
So lassen sich ζ. B. Formbeobachtungen an einer Kathedrale, die als gotisch' gekennzeichnet wurde, auf alle anderen gotischen Kathedralen übertragen. Wenn dann noch eine Abbildung der Kathedrale gegeben wird, dann entsteht ein sprachlich und visuell exponierter Prototyp der Gotik.14 Alle anderen Kunstwerke, die im Weiteren als ,gotisch' gekennzeichnet werden, hat man sich ähnlich der vorher beschriebenen und gezeigten Kathedrale vorzustellen. Auf diese Weise können prägnant und anschaulich Gruppen und Großklassen von Kunstwerken beschrieben werden. Die jeweilige Stilbezeichnung kann dann, ζ. B. in Gestalt eines Attributes, genetische Nomina modifizieren, die sich auf Klassen von Kunstwerken, aber auch auf Klassen von Künstlern beziehen können. Im Extremfall kann dann mit dem Stilterminus über die Kunstbetrachtung hinaus eine ganze Geschichtsepoche gekennzeichnet werden. Auf diese Weise wird die Kunstgeschichte mit ihren Stilbezeichnungen zum Paradigma einer
13
14
Vgl. Brockhaus Wahrig (6, 67): [Lemma Stil, Bedeutung 2:] „Typische, charakteristische (künstlerische) Ausdrucksform, Äußerungs- u. Gestaltungsweise, einheitliches Gepräge der künstlerischen Erzeugnisse einer Persönlichkeit, einer Zeit od. eines Volkes." - Zur Geschichte des kunsthistorischen Stilbegriffes siehe Wetzel/Wolf (1993: llff.). Die Epochenstilwörter Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus haben aber immer auch eine zeitliche Bedeutungsdimension; deshalb werden sie gesondert als integrative Konkretisierungen von KUNST und GESCHICHTE beschrieben, vgl. 5.1.1.
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4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
mythischen Geschichtserzählung, in denen ζ. B. der gotische Mensch (e) erwacht, wächst, stirbt, um schließlich vom Renaissance-Menschen abgelöst zu werden: e)
Müseier [1934: 23]: Aus der mythisch überspitzten Gedankenwelt, in die der "^gotische Mensch*" sich hineingesteigert hatte, haben Männer mit offenem Blick und einfachem geraden Charakter ihre Zeitgenossen herausgeführt.
Im Diskurs zur deutschen Kunstgeschichte treten Stilbezeichnungen wie Gotik und von ihnen abgeleitete Adjektive auch zwangsläufig in Verbindung mit Totalitätsbezeichnungen, die sich auf soziale Großgruppen beziehen, welche ebenfalls einheitsstiftend wirken und nicht zeitlich, sondern geographisch-ideologisch bestimmt sind wie Volk,, Nation oder die Deutschen (f): f)
Schwander [1936: 44]: Im ^gotischen D o m f kommt das transzendentale Lebensgefuhl der Deutschen am reinsten zum Ausdruck.
Eine solche Bindung von Stilbezeichnungen nicht nur an Epochen, sondern auch an Großgruppen, ζ. B. an die Deutschen, bietet sich im Sinne der Stärkung nationaler Identität durch die Kunstgeschichte an, da man mit Hilfe der Stiltermini schnell und anschaulich Zuschreibungsgefüge entwickeln und auf Großklassen übertragen kann.15 So kann das Prädikat homogen', das die Klasse von Kunstwerken im jeweiligen Geltungsbereich der Fügung ,Stil (x)' auszeichnet, auf die Klasse von Menschen übertragen werden, die als (prototypischer) Träger des jeweiligen Stils gedacht ist. Die Stilbeobachtungen können dann ihrerseits prägnant mit Prädikaten belegt werden, die eigentlich gar nichts mit ,Kunst' zu tun haben, aber im Diskurs mit einschlägigen Stilprädikaten aufgeladen worden sind. Wenn ζ. B. der gotische Spitzbogen immer wieder einerseits als ,transzendental', ,tiefsinnig' und ,ins Unendliche strebend' und andererseits als ,deutsch' markiert wurde, dann reicht es, in einem bestimmten Kontext über ein Gebäude zu sagen, es sei ,deutsch', um ein ganzes Bündel an Zuschreibungen - teils stilistischer, teils geistesgeschichtlicher Natur - aufzurufen. Auf diese Weise befruchten sich die Wissensbereiche KUNST und NATION gegenseitig. Dieses Verfahren nenne ich Kreu^prädikation.16 Es erscheinen auf diese Weise nicht nur Klassen von Kunstwerken, sondern auch Völker als homogene Einheiten. Weigert liefert für dieses Vorgehen eine ausführliche Begründung im Rahmen des völkischen Menschen- und Geschichtsbildes des Nationalsozialismus (g): 15
16
In die Richtung einer solchen Verbindung von ,Stil' und ,Volk' zielt die von Wilhelm Pinder aus dem Jahr 1933 überlieferte Äußerung, Stil sei „Gemeinschaft und Glaube" (zitiert nach Belting 1992: 30). Das kreuzprädikative Verfahren wird unten ausführlich beschrieben und belegt (5.3.2., 6.1.6.), vgl. auch den Absatz Das Deutsche in der Gotik im Kap. Argumentieren aus den Teilen und dem Ganzen (6.3.2.).
4.2. Kunst
g)
121
Weigert [1942: 7]: Jedem Wesen der Natur hat der Schöpfer eine Möglichkeit auszuformen aufgegeben, die bleibt und ohne Zeit ist. Im Menschen aber hat er viele Möglichkeiten angelegt, die er in der Zeit entfaltet. Die Abfolge dieser jeweils einseitigen Haltungen des Menschen heißt Geschichte, jede einzelne heißt in der Kunst "^Stil*". Ein ~*Stil*" ist also nicht nur eine Summe formaler Merkmale, sondern die schöpferische Ausprägung einer besonderen Möglichkeit des Daseins, eines bestimmten Verhaltens zu Leben und Welt. Stile*" sind Selbstdarstellungen des Menschen. Sie können von geschichtlicher Betrachtung als die allmähliche Erfüllung der vom Schöpfer im Menschen angelegten Möglichkeiten gesehen werden. Oder sie können in anthropologischen Betrachtungen, auf die Frage, was der Mensch oder was ein Volk, eine Rasse sei, als die möglichen Seiten seines Seins erscheinen. Die Geschichte sieht die "*Stile*" in einer Reihe, als Abschnitte einer Linie. Die Anthropologie sieht ^sie*" als Sektoren im Kreise der menschlichen oder völkischen Möglichkeiten, deren Summe das Wesen des Volkes und in letzter Zusammenfassung das der Kulturmenschheit sichtbar macht.
Diese Bindung völkischer Kategorien an Stile ist in dieser offensiven und begründeten Form nur in eindeutig nationalsozialistisch inspirierten Texten, bei Weigert, Müseier und Schwander belegt, als gedanklicher Formulierungshintergrund findet sie sich aber mehr oder weniger ausgeprägt bis in die 1950er Jahre in allen Texten, vor allem aber bei Lübke und Dehio. In der jüngsten Diskursperiode tritt diese Denkfigur nur noch sporadisch im Subtext auf, dort vor allem bei Klotz. Als einen Teilaspekt innerhalb des Konzeptes KUNST IST EIN EINHEITSPRINZIP kann man KUNST IST EIN SYSTEM herausgreifen. Der sys-
temische Aspekt von ,Kunst' wird ausgedrückt mit Fügungen, die mit den Ausdrücken Grammatik, Norm, Rege/ und Gesetz gebildet werden. Auch solche Fügungen perspektivieren KUNST oder Teile des Bereichs KUNST als Einheitsprinzipien. Im Vordergrund steht aber der Aspekt der Systematik, also des regelhaften Bezogenseins der einzelnen Komponenten eines Gegenstandsbereichs aufeinander. Das Konzept KUNST IST EIN SYSTEM wird bemüht, wenn KUNST als Einheitsprinzip, vor allem aber einzelne Kunststile aus der Binnenperspektive als Regelkonglomerate zur Gesamtdisposition der einzelnen Formen, Motive und Typen präsentiert werden sollen. Die systematische Perspektive kann auf einzelne Bezugsräume eingeschränkt sein (h) oder sie kann für die ,Kunst' als Ganzes gelten (i): h)
Dohme [1885: 105]: Im großen ganzen bleibt das Material unverputzt stehen, und erhält erst in späterer Zeit durch Hinzutritt von farbig glasierten Steinen gelegentlich eine malerische Belebung. Bestimmte Teile aber wieder werden ganz allgemein geputzt, so alle Nischen, Blenden, Bogenleibungen, vertieften Glieder von früh an; sonst tritt der Putz nur auf, wo die Wand einen Überzug für Malereien erhalten soll. - Allerorten im weiten Gebiete ist diese "^Grammatik der Formen*" genau dieselbe.
122
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
i)
Aber eigentlich handeln wir [...] von miteinander konkurrierenden ^Normensystemen*", vom geistigen Austausch über lokale und soziale Grenzen hinweg, vom Einbruch außerkünsderischer Faktoren in die stille Welt des optisch-sinnlichen Gestaltens, von Luxus und Anspruchshöhe, von Herrschaftskunst und Gegenentwürfen, von den HandlungsSpielräumen der Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen und den Sehformen, den Moden, den Verhaltensmustern, die ihnen entsprachen. Möbius [1989: 10]:
Die Vorstellung von KUNST als einem Regelsystem ist der kunstwissenschaftlichen Perspektive grundsätzlich inhärent: Wenn Kunstwerke als Exponenten eines Allgemeineren dargestellt werden sollen, dann muss das Allgemeinere — die ,Kunst', die ,Gattung' oder der ,StiT — offen oder verdeckt als ein System von Gestaltungsregeln gedacht werden. Dementsprechend sind Lexikalisierung des System-Aspektes unabhängig von weltanschaulichen und zeitlichen Prägungen im Diskurs vorzufinden. Sie sind insgesamt aber schwach belegt. 4.2.5. Kunst ist eine Tätigkeit Außerdem werden im Diskurs Ausdrücke verwendet, mit denen der Wissensbereich KUNST als eine Tätigkeit perspektiviert wird. ,Kunst' wird mit diesen Ausdrücken aus der Produzentenperspektive betrachtet. Hier dominieren Fügungen, in denen Kunst- oder Form- als Bestimmungswörter im Kompositum oder künstlerisch als Adjektivattribut Nomina actionis wie Schaffen, Gebung,, Arbeit, Gestaltung, Produktion determinieren. Es entstehen Fügungen wie Kunstschaffen, Formgebung oder künstlerische Arbeit. So entsteht ein Feld, das sich durch große Ausdrucksvarianz auszeichnet. Die häufigsten dieser Ausdrücke sind Kunstschaffen im älteren und Kunstproduktion im jüngeren Diskurs: a)
b)
c)
Um 1 3 0 0 wird die "^Kunstproduktion*" teilweise von dem ins Süßliche gehenden, idealisierenden Stil der süddeutschen Frauenkunst dominiert. Luckenbach [1926: 165]: Und so dürfen wir am Ende dieser Betrachtung, die uns durch zwölf Jahrhunderte deutschen "^Kunstschaffens*" geführt hat, doch die Hoffnung aussprechen, daß wir auf dem Wege sind, zu einer neuen Tradition zu gelangen, und daß unsere Baukunst in den nächsten Jahrzehnten einer neuen Blüte entgegenreist. Klotz III [2000: I S O ] : Philipp Otto Runge gehört mit Caspar David Friedrich und Carl Blechen zu jenen deutschen Malern, die fern vom europäischen, vor allen römischen Geschichten ihren eigenen Weg eingeschlagen und die deutsche "*Kunstpraxis*" von Grund auf verändert haben.
Suckale [1998: 1 4 4 ] :
Auffällig ist, dass die auf den Tätigkeits-Aspekt abhebenden Kunstwörter sehr oft - wie hier in den Beispielen - nicht auf einen bestimmten Künstler oder eine bestimmte Künstlergruppe, sondern allgemein auf einen
4.2. Kunst
123
Zeitraum (a) oder den Geltungsraum ,Deutschland' (b, c) bezogen werden. Die Subjekte der Tätigkeiten, die mit den Nomina actionis bezeichnet werden, bleiben dabei ungenannt. Die ,Kunst' wird auf diese Weise nicht als Tätigkeit einzelner, sondern als epochenbezogenes oder nationales Gemeinschaftsprojekt präsentiert; das einzelne Künsdersubjekt tritt zugunsten der Handlungsgemeinschaft zurück. Die Autorenstrategie, die Tätigkeitswörter auf den Geltungsraum ,Deutschland' zu beziehen, bietet — im Gegensatz etwa zur System-Perspektive auf ,Kunst' — den Vorteil, dass ,Kunst' nicht nur als stilistisch, also fachlich, zu bewertende Größe, sondern als Anstrengung eines Kollektivs ins Blickfeld rückt, das als Teil der Großgemeinschaft ,die Deutschen' gedacht ist. ,Kunst' als solchermaßen entworfene kollektive Anstrengung kann dann leicht zum Identifikationsangebot für alle Deutschen ausgebaut werden. In einem nächsten Übertragungsschritt werden dann ,alle Deutschen' zu Handlungssubjekten der Kunstproduktion. Dieses metonymische Verfahren ist in der mittleren Diskusperiode häufig. Dabei werden Prädikatoren, die prototypisch dem einzelnen Künsder zukommen, auf ,die Deutschen' bezogen. Die wichtigsten dieser Prädikatoren sind ,Kunstfertigkeit', ,Geschicklichkeit', ,Phantasie', ,künstierisches Wollen', ,Kunstgefuhl' oder — wie in Beleg (d) — die ,besondere Fähigkeit zur Darstellung des Schmerzes': d)
Finder IV [1951: 44]: Diese Inhalte [des Alten Testamentes] waren nach der karolingischen Zeit, die sie bezeichnenderweise sehr geschätzt, den Deutschen weitgehend entschwunden. Sie sprachen nicht zu ihrer Seele. Nicht mit ihnen hatte sich der germanische Geist auseinanderzusetzen gehabt, nicht in sie "*hatte der Deutscheren.] seine besondere Fähigkeit zur Darstellung des Schmerzes gelegt*".
Abgesehen von diesem speziellen Formulierungsmuster, das eine Erscheinung der mitderen Diskursperiode ist, lässt sich das Konzept im Diskurs nicht nach Perioden, Textklassen oder einzelnen Texten gliedern; es ist gleichmäßig belegt. Auf einzelne Künstler bezogene Realisierungen des Konzeptes KUNST IST EIN TÄTIGKEIT sind besonders im deskriptiven Strategiemuster des Produktionsnachvoll^ugs relevant, in dem ein Kunstwerk als der Akt seiner Schöpfung beschrieben wird (vgl. 6.1.5.). 4.2.6. Kunst ist ein Anschauungsobjekt Wenn das Konzept KUNST IST EINE TÄTIGKEIT die Kunst aus der Perspektive des Künsders konkretisiert, dann markieren Ausdrücke, mit denen die KUNST als Anschauungsobjekt vertextet wird, die entgegengesetzte Perspektive: Hier wird der Standpunkt der Betrachter, der
124
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
Kunstgenießer, -Sammler und -besitzer eingenommen. KUNST ist demnach nichts, was produziert wird, sondern ein Gegenstand der Betrachtung. Ausdrücke, mit denen der Standpunkt des Kunstbetrachtes eingenommen wird, sind ζ. Β. ,Kunstschätze' (a) oder ,Anschauungsformen' (b): a)
b)
Falke [1888: 18]: Sie [Römer] selber, so die merowingischen Könige der Franken, umgaben sich mit Luxus, sammelten "^Kunstschätze*", wurden Besteller und ließen arbeiten. Dehio I [1919: 135]: Der deutsche Mensch der frühromanischen Jahrhunderte war zu diesen Anschauungsformen*" durchaus disponiert. Linienphantasie und poetische Phantasie, beides besaß er von alters.
Die Perspektive auf Kunst als ein Anschauungsobjekt spielt im Diskurs eine untergeordnete, um nicht zu sagen vernachlässigenswerte Rolle. Das mag bei Texten, die von Kunstbetrachtern für Kunstbetrachter verfasst wurden, auf den ersten Blick erstaunen. Für den Befand, dass ,Kunst' im Diskurs häufig als Tätigkeit und selten als Anschauungsobjekt präsentiert wird, lässt sich aber eine einfache Deutung finden: Wenn die Geschichten der deutschen Kunst als kulturpädagogische, volkspädagogische oder nationalistische Identifikationsangebote an die Deutschen dienen sollen, dann ist es nur folgerichtig, dass ,die Deutschen' in diesen Texten nicht als passive Kunstbetrachter, sondern vor allem als aktive Kunstschaffende perspektiviert werden. Umgekehrt formuliert: Die Tatsache, dass in den Texten v. a. deutsche Schaffende und selten deutsche Betrachtende auftreten, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die Texte als Identifikationsangebot an deutsche Leser angelegt sind. 4.2.7. Kunst ist Kommunikation ,Kunst' als Kommunikation wird hier als übergeordnete Perspektive angesetzt, die sowohl Ausdrücke beinhaltet, in welchen ,Kunst' vom Künsder aus gesehen als Kommunikationsmittel begriffen wird, als auch Ausdrücke, die von einem übergeordneten Standpunkt aus perspektiviert sind. Das Konzept KUNST IST KOMMUNIKATION lässt sich demnach nach zwei Teilaspekten untergliedern: ,Kunst' wird erstens als AUSDRUCK gedacht und zweitens als MEDIUM der Kommunikation begriffen. Der erste Aspekt, ,Kunst' als Ausdruck, wird dabei vor allem durch das Kompositum Ausdrucksform präsentiert: a)
Lüttow [1891: 112]: Es bleibt hier nun noch ein Wort zu sagen über das Verhältnis Dürers zu dem von der Renaissance ausgebildeten klassischen Ideengehalt und seiner vornehmsten A u s d r u c k s f o r m d e r unbekleideten Gestalt.
4.2. Kunst
125
Analog zu demjenigen, was über die Tätigkeitsbezeichnungen gesagt wurde, gilt auch hier, dass ,Kunst' als Ausdruck einer Person, aber auch als Ausdruck einer Epoche, eines Epochenstils oder eines Volkes präsentiert werden kann. In den zuletzt genannten Verwendungsweisen kann die Ausdrucksperspektive auf ,Kunst' dazu dienen, abstrakte Größen wie Epochen oder Völker dadurch zu personalisieren, dass sie als Subjekte präsentiert werden, die etwas durch ,Kunst' ausdrücken. Beleg (a) bietet ein Beispiel für das Personalisierungspotenzial der Bezeichnung Ausdrucksform\ Ausdrucksform wird hier auf Ideengehalt der Renaissance bezogen. Damit wird der Epochenstil,Renaissance' personalisiert. Das wird deutlich, wenn man den betreffenden Satzteil zur aktivischen Proposition umformt: ,die Renaissance drückt ihren Ideengehalt in der Form der unbekleideten Gestalt aus.' ,Renaissance wird so textstrategisch auf der gleichen Ebene wie das Künstlerindividuum ,Dürer' behandelt. ,Kunst' als Ausdruck findet daneben in Fügungen mit Sprache (AusdrucksspracheKunstsprache, Sprache der Linie) seine Konkretisierung. Die Analogie zur Sprache vermittelt die Ausdrucksperspektive, sie impliziert aber auch immer mehr oder weniger stark den systemischen Aspekt der Kunst (4.2.5.), ζ. B. in den Komposita Formensprache und Bildersprache.17 Trotzdem steht der Aspekt der ,Kunst' als Ausdruck in allen Belegen für Komposita mit -spräche im Vordergrund: b)
c)
Dehio I [1919: 311]: Die deutsche Bildhauerkunst des 13. Jahrhunderts hat es aber glänzend bewiesen, daß im rechten Sinne von Fremden lernen die eigenen Kräfte befreien und erhöhen heißt. Was sie zu lernen und dringend nötig hatte, war die Form. Was sie mit der ^Formensprache*" ausdrückte, war ihr eigenes Seelenleben und war reicher, tiefer, persönlicher, als was ihre Lehrer zu bieten hatten. Pinder III [1940: 285]: Obendrein freilich wurde die sichtbare Form gezwungen, Inhalte auszudrücken, die aus einer fremden und fernen, unplastischen Phantasie, der "^Bildersprache*" des vorderen Orients entstanden waren.
Formensprache ist hauptsächlich in den älteren Texten belegt. Der Ausdruck ist meist bezogen auf eine Kommunikationskonstellation, die ein kollektives Äußerungssubjekt beinhaltet, ζ. B. die deutsche Bildhauerkunst des 13. Jahrhunderts (b) oder der vordere Orient (c). ,Kunst' wird hier zum Ausdruck der Befindlichkeit, des Seelenlebens oder der Phantasie einer Großgemeinschaft. Wenn man formulieren will, dass eine Großgemeinschaft kollektive Zustände durch ,Kunst' ausdrückt, dann muss die ,Kunst' als kommunikatives Korrelat der Großgemeinschaft gedacht sein; ein Großkollektiv kann seine Befindlichkeit ja nicht durch ein Kunstwerk ausdrücken, sondern höchstens dadurch, dass das gesamte System der ihm zuge17
Vgl. zu der System- und der Ausdrucksperspektive auf Sprache Ehlichs (1996) Artikel Sprache als System versus Sprache als Handlung im Handbuch Sprachphilosophie.
126
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
ordneten Kunst eine spezifische Beschaffenheit aufweist, die dann hinsichtlich der kollektiven Seelenlage ζ. B. eines Volkes interpretiert werden kann. Da die Komposita mit -spräche neben dem Aus drucks asp ekt immer auch den Systemaspekt beleuchtet, eignen sie sich besonders gut zur Präsentation der ,Kunst' als Ausdrucksmittel des Kollektivs. Die Dichotomie ,Kunst als System' versus ,Kunst als Ausdruck', die in der Metaphorik virulent wird, welche der Sprachbetrachtung entlehnt ist, ist hier besonders interessant, weil sie mit traditionell vorgenommenen Zuschreibungen an die ,deutsche Kunst' korrespondiert: Während das Systemische in der Kunst mit den Prädikatoren ,Schönheit', ,Harmonie' oder ,Gefälligkeit' korrespondiert, die traditionell eher der italienischen Kunst zugeschrieben und in der deutschen Kunst eher als Ausnahmeerscheinungen betrachtet werden, werden der ,Kunst' als Ausdruck ,Wahrheit', ,Tiefe' und ,Treue' zugeschrieben - Eigenschaften, die man traditionell ,den Deutschen' angedeihen lässt18: d)
Bode [1885: III]: Am wohlthätigsten wirkt der neue Realismus der deutschen Kunst in der Schilderung der Stimmung, im Ausdruck*" des inneren Lebens. [...] Die weicheren Regungen des Gemütes, die "^Äußerungen*" der mütterlichen Liebe, des Leidens und des Mitgefühls sind mit einer "^Tiefe*" und einer "^Wahrheit*" zum Ausdruck gebracht, welche eine Reihe dieser Bildwerke gerade dadurch unter die edelsten Leistungen der Plastik überhaupt erhebt. Diese "*Tiefe der Empfindung*" in den Bildwerken, [...], ist ein treuer Ausdruck*" der Blüte des deutschen Bürgertums.
In den jüngeren Texten wird die Kommunikationsperspektive meist vermittelt, indem der Aspekt der ,Kunst' als ein Medium beleuchtet wird, ζ. B. mit dem Ausdruck Medium selbst oder mit dem als Prädikativ gebrauchten Wort Propaganda. Gemeint ist hier nicht mehr ein Formensystem als Ausdruck einer kollektiven Befindlichkeit, sondern eine Menge an konkreten Kunstwerken, die bewusst in der öffentlichen Kommunikation eingesetzt werden: e)
f)
18
Suckale [1998: 12]: Kunst ist keine Illustration der Geschichte. Sie spiegelt sie nicht wieder, reflektiert sie jedoch vielfältig. Und sie schlägt die schönsten Seiten im Buch der Vergessenheit auf. Aber eins ist nicht zu vergessen: Viele der wichtigen Bauvorhaben versuchten, utopische Ideen zu verwirklichen, die Geschichte der Kunst ist auch eine der allgemeinen und persönlichen (Schönheits-) Ideale. Bilder sind oft Wunschbilder, zuweilen auch ~*Propaganda*". Wamke [1999: 223]: Diese kritischen Reportagen rücken die Bildproduktion heraus aus der durchweg frömmigkeitlichen und affirmativen Dienstleistung und eröffnen dem Publikum eine bildliche Erfahrung, die nicht mehr nur illustrative Belege erwartet, sondern die auch moralische, bald auch politische
Siehe zum kreuzprädikativen Verfahren die Kap. 5.3.2., 6.1.6.
4.2. Kunst
127
Ziele befördert sehen will. Das Bild wird ein "^Medium*" geistiger Auseinandersetzung.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Ausdrucksaspekt von Kunst bezogen auf Großkollektive - v. a. in der mitderen Diskursperiode von Bedeutung ist, während der Medienaspekt von Kunst — bezogen auf Individuen und soziale Gruppen — ausschließlich in den jüngeren Texten präsentiert wird. 4.2.8. Kunst ist eine Lebenswelt Das Konzept KUNST IST EINE LEBENSWELT wird mit Ausdrücken konkretisiert, mit denen eine soziologische Perspektive auf,Kunst' eingeführt wird. Die häufigsten sind Kunstbetrieb (a) und Kunstleben (b): a)
b)
Feulner [1953: 200]: Wir deuten die Kunst der Epoche [Spätgotik] nicht richtig, wenn wir sie nur als bürgerliche Kunst sehen. Gewiß wurden die wichtigsten Organe des "^Kunstbetriebes*" die bürgerlichen Zünfte, die erst im 16. Jahrhundert allmählich durch die Hofkünstler in den Schatten gestellt wurden. [...] Aber der wichtigste Auftraggeber blieben zunächst die Fürsten. Schweitzer [1905: 587]: Es erblühte unter [...] Schadow ein reiches, mannigfaltiges ^Kunstleben*", dem die verschiedenen Einflüsse von Holland, Frankreich und England einen eigenartig buntfarbigen Charakter gaben.
Eine Wortbildung, die ausschließlich in den jüngeren Texten auftritt, ist Kunsts^ene (c, d). Kunsts^ene kann dabei entweder im Sinne von >Künsdergruppe< (c) oder im Sinne von >alle Beteiligten an der Produktion, Verbreitung und Vermarktung von Kunst< (d) gebraucht werden: c)
d)
Klotz III [2000: 120]: Sobald wir jedoch die römische "^Kunstszene*" [deutsche Künstlergruppe der ,Na%arener in Rom] in die Betrachtung miteinbeziehen, ändert sich, wie bereits angedeutet wurde, das Bild grundlegend. Gebhardt [2002: 195]: Die "^Kunstszene*" der Gegenwart ist international, bunt und vielfältig. [...] Zeitgenössische Kunstwerke werden bereits früh zu Objekten im internationalen Auktionshandel.
Diese soziologische Sicht auf KUNST ist für die erste und dritte Quellengruppe nachweisbar. Uberdurchschnittlich sind einschlägige Ausdrücke in den Texten der DDR-Kunstgeschichte (Ulimann, Feist, Möbius/Sciurie, Olbrich) belegt. Bis auf wenige Ausnahmen (a) wird die Perspektive auf ,Kunst' als Lebenswelt erst für das 19. und 20. Jahrhundert eingenommen, was mit der größeren zeitlichen Nähe der Beschreibungsobjekte zu tun haben mag: Für diesen Zeitraum sind den Autoren die lebensweltlichen Umstände der Kunstproduktion durch (außerkunsthistorische) Quellen und durch die Nachbarschaft zur eigenen Lebenswelt am ehesten vertraut. Trotzdem könnte ohne Weiteres die Künsderschaft jeder beliebigen Epoche als ge-
128
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
seüschaftliche Gruppe gesehen und dementsprechend vertextet werden; die Formulierung in Beleg (a) beweist es. Offensichtlich gibt es eine Perspektivierungstradition innerhalb des Diskurses, welche die Kunst früherer Epochen einerseits als Produkt einzelner Künstler (KUNST IST EINE TÄTIGKEIT) und andererseits als systemisch zu beschreibende Gesamtgegebenheit (KUNST IST EIN EINHEITSPRINZIP) sieht. Diese ist besonders stark in der zweiten Diskursperiode ausgeprägt; dementsprechend finden sich in den Texten, die zwischen den Weltkriegen entstanden sind, auch keine Belege für die soziologische Perspektive auf KUNST. Dieser Befund lässt sich gut mit dem patriotischen Sendungsbewusstsein der entsprechenden Autoren erklären: Wenn nationale Kunstgeschichte als Implementierungsinstanz für nationale Identität aufgerufen wird, dann müssen die Leistungen einzelner Künstler unmittelbar aus übergeordneten Kunstprinzipien erklärt werden, die wiederum an den ,Nationalcharakter' bzw. das ,nationale Wesen' gebunden sind. Ein soziologisch unterfüttertes Vokabular für KUNST läuft diesem Programm in der Tendenz entgegen, weil damit erstens die universelle Perspektive auf Kunststile und zweitens die Vorstellung von der NATION als homogener Einheit desavouiert wird.
4.3. Nation 4.3.1. Deutschland ist ein Individuum Wie GESCHICHTE und KUNST, so wird auch DEUTSCHLAND in den Korpustexten als Totalität oder Ganzheit konzeptualisiert und als Individuum angesprochen, indem die Ausdrücke (das deutsche) Volk, (die deutsche) Nation und Deutschland in der Rolle des Handelnden (Agens)19, Betroffenen (Patiens), zu Beschreibenden (Deskriptiv), Wahrnehmenden (Experiens) oder Besitzenden (Possedens) verwendet werden. Es zeigt sich, dass in diesem Zusammenhang die Ausdrücke (das deutsche) Volk, (die deutsche) Nation und Deutschland prinzipiell bedeutungsgleich gebraucht werden können.20 Die 19 20
Agentivierungen von Länderdenotaten behandle ich ausfuhrlich als narrative Strategie der thematischen Entfaltung (Kap. 6.2.2.). Vgl. dazu den ausfuhrlichen Artikel Volk, Nation in Brunner/Conze/Koselleck (GG 7, 141 ff.). Innerhalb des Diskurses können die Gebrauchsweisen von Volk und Nation nicht systematisch voneinander getrennt werden. Ich referiere als historische Folie die geschichtlich vorgehende Unterscheidung von Dann (1993: 22f.): „Daher ist es für ein Verständnis der nationalen Geschichte der Deutschen wichtig, zwischen Volk und Nation zu unterscheiden, und zwar in drei Hinsichten: 1. Das Volk der Deutschen, deren ethnischkulturelle Sprachgemeinschaft, hat keine gemeinsame Nationsbildung durchgemacht. Die deutschsprachige Bevölkerung in Mitteleuropa lebte seit dem Mittelalter in mehreren politischen Herrschaftsräumen, aus denen eigenständige Nationalstaaten hervorgingen. Sie war
4.3. Nation
129
Verwendung der einschlägigen Ausdrücke lässt sich — je nach Beleg — als metonymisches oder metaphorisches Verfahren beschreiben. Es ergibt sich allerdings eine Tendenz des Ausdrucks das deutsche Volk zum metaphorischen und von Deutschland zum metonymischen Gebrauch: In Beleg (a) kann Deutschland als Metonymie für >die deutschen Kunstschaffenden des Mittelalters< interpretiert werden. Deutschland wäre dann als Totalitätsbezeichnung gebraucht: a)
Bode [1885: 39]: Die Gotik ist ihrer Erfindung [...] wie ihrer künstlerischen Durchbildung nach ein rein französischer Stil; "^Deutschland*" hat nicht nur keinerlei Anteil an dieser Erfindung, sondern hat sich offenbar lange und nachhaltig gegen die Aufnahme derselben gewehrt.
Ist die Bedeutung der Länderbezeichnung als Ganzheit konzeptualisiert, ist von einem metaphorischen Verfahren auszugehen, bei welchem dem abstrakten Ganzheitsdenotat, ζ. B. ,das deutsche Volk', vermenschlichende Prädikate zugeordnet werden. Die diesbezügliche Interpretation der jeweiligen Ausdrücke ist oft schwierig, weil nicht klar ist, ob ζ. B. mit dem Ausdruck das deutsche Volk >die Gesamtheit aller Deutschem gemeint ist oder eine geschichtsphilosophisch begründete, abstrakte Gestalt, die im Text durch eine Handlungsprädikation agentiviert wird. In (b) ist die Interpretation im Sinne der zweiten Lesart klar, weil ja kaum gemeint sein kann, alle Deutschen hätten zu allen Zeiten ,deutsche Kunst und deutsche Stile' hervorgebracht. Diese Zuschreibung könnte höchstens an ,alle deutschen Künsder' ergehen. Eine solche — metonymische — Lesart scheidet für (b) aber aus, da Volk im Gegensatz zu Deutschland nicht für die Inter-
im Verlaufe der Geschichte an mehreren Nations- und Staatsbildungen beteiligt. 2. Dennoch gab es im deutschen Kerngebiet innerhalb des Reiches den Begriff der .deutschen Nation'. Diese deutsche Nation zu definieren, hat jedoch stets Schwierigkeiten bereitet. Obwohl ethnische Merkmale für die Staats- und Nationsbildung der Deutschen niemals ausschlaggebend gewesen sind, hat es immer wieder Versuche gegeben, die deutsche Nation von der Sprache und von völkisch-ethnischen Kriterien her zu definieren; denn über lange Zeiten standen keine eindeutigen staatlich-territorialen Definitionskriterien zur Verfügung. Die Definition der Nation blieb ein ständiges Dilemma der deutschen Geschichte. 3. Wie in allen frühneuzeitlichen Staaten, gab es auch in Deutschland die Unterscheidung zwischen Nation und Volk. Ursprünglich bildete nur der Reichsadel die Nation; das Volk lebte als Untertan in den Territorialstaaten und wurde erst im Verlaufe seiner politischen Emanzipation zur Nation gerechnet." Der Ausdruck Volk hat dann im 19. Jh. aber eine Bedeutungserweiterung erfahren, so dass er mit Nation synonym wurde." Muthesius (2004: 73f.) beschreibt diesen Prozess in Bezug auf die Kunsthistoriographie des späten 19. Jhs.: „Gerade im deutschen Sprachbereich sollte „Volk" bald auch zu einem zentralen Begriff in der Geschichtsschreibung der Hochkunst werden. Aus der komplexen Geschichte des Wortes interessiert hier nur die Tatsache, dass es traditionell ausschließlich auf die unteren Klassen bezogen wurde; nun aber schloss ,Volk' explizit und implizit alle Bewohner eines Landes mit ein und wurde somit zum Synonym für ,die Nation'."
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4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
pretation des Ausdrucks als Metonymie im Sinne von >alle deutschen Künstler< zur Verfügung steht21: b)
Müseltr [1934: 9]: D a s d e u t s c h e Volk*" b r a c h t e u n d bringt i n n e r h a l b seines K u l turkreises d e u t s c h e K u n s t u n d d e u t s c h e Stile h e r v o r .
Da solche Redeweisen im Kommunikationsbereich der Kunstgeschichte in jedem Fall hoch markiert sind, beschränkt sich ihr Vorkommen weitestgehend auf die erste und zweite Quellengruppe. In den jüngeren Texten finden sich gegebenenfalls Individualisierungen des Typs (c); hier ist mit die Bundesrepublik offensichtlich eine diffuse >Gruppe aus bundesdeutschen Regierungen, Architekten und an Architektur interessierten Meinungsmachern< gemeint: c)
Klotz III [2000: 372]: D e r W u n s c h d e r "^Bundesrepublik*", in i h r e n r e p r ä s e n t a t i v e n B a u t e n die v e r ä n d e r t e L e b e n s e r f a h r u n g v o n Freiheit u n d D e m o k r a t i e zu zeig e n , b e s t i m m t v o r d e m h i s t o r i s c h e n H i n t e r g r u n d v o n Hitlers D i k t a t o r e n k l a s s i z i s m u s bis in die j ü n g s t e Zeit h i n e i n die F o r m w a h l .
Vor allem die Wiederaufnahme im Possessivpronomen ihren macht die Deutung dann aber noch schwieriger: die repräsentativen Bauten gehören schließlich nicht der genannten Gruppe, sondern wahlweise dem Bund, den Ländern oder den Kommunen. Insgesamt erscheint damit eine Deutung am plausibelsten, die ,Bundesrepublik' als Ganzheit, nämlich historische Entität begreift, welcher metaphorisch Eigenschaften des wünschenden und des besitzenden Individuums zugesprochen werden. Mit dem Ausdruck die Bundesrepublik wird aber noch ein anderer Aspekt ausgedrückt: »Deutschland' wird als Staatengebilde angesprochen, das einer bestimmten politischen Idee unterworfen ist. Das geschieht außerdem, je nachdem, welche historische Epoche thematisiert wird, mit den Fügungen das Deutsche Reich, der deutsche Staat, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Diese Fügungen können dann wieder agentiviert und im Rahmen des Konzeptes D E U T S C H L A N D IST E I N I N D I V I D U U M verwendet werden. Da aber sowohl die metaphorischen als auch die metonymischen Redeweisen zumindest suggerieren, dass die Zuschreibungen an ,Deutschland', ,das deutsche Volk' oder ,die Bundesrepublik' jeweils auch auf ,alle Deutschen' bzw. ,alle Bundesdeutschen' zutreffen, handelt es sich, wie bei den Konzepten G E S C H I C H T E I S T E I N I N D I V I D U U M und K U N S T IST E I N 21
Um ein einfaches Beispiel zu bemühen: ,Deutschland ist Weltmeister!' ist eine Metonymie, ,das deutsche Volk ist Weltmeister!' ist eine Metapher. Trotzdem - und das gilt in gleicher Weise für Redeweisen wie (a) — hat der Satz ,Deutschland ist Weltmeister' über die enge metonymisch aufzulösende Bedeutung ,die deutsche Nationalmannschaft' immer auch die Nebenbedeutung ,alle Deutschen' — nur deshalb hat der Satz seinen prominenten Ort im kollektiven deutschen Gedächtnis. — Zur Semantik des Ländernamens Deutschland im öffentlichen Sprachgebrauch der Bundesrepublik und der DDR siehe Hermanns (1995).
4.3. Nation
131
auch hier um ein von diskursspe2ifischen Formulierungsmustem getragenes Konzept, das als metonymische oder metaphorische Verdichtung des Konzeptes DEUTSCHLAND IST EIN EINHEITSPRINZIP (4.3.2.) angesehen werden kann. Das Konzept hat einen deutlichen Verwendungsschwerpunkt in der zweiten Diskursperiode. Hinsichtlich der nationalpädagogischen Markierung gilt es, zwischen den einzelnen Ausdrücken zu unterscheiden: (Das deutsche) Volk als Agens ist vor allem bei Dehio und in den Texten der 1930er bis 1950er Jahre belegt. Danach ist es nicht mehr akzeptabel. (Die deutsche) Nation und Deutschland dagegen sind die unmarkierten Formen. Sie sind vereinzelt als Stilvariante auch in den jüngeren Diskursbeiträgen belegt. Synonym wird dann Bundesrepublik verwendet (c). Im jüngeren Diskurs finden sich einschlägige Belege vor allem bei Klotz. In zwei Texten, bei Dehio und bei Weigert, wird das Holonym der Norden in der Bedeutung >Europa nördlich der Alpen< agentiviert. In Beleg (e) erhält der Ausdruck der Norden noch dadurch eine zeitliche Bedeutungskomponente, dass er parallelisiert mit die Antike verwendet wird. Der Ausdruck Antike bekommt damit seinerseits eine geographische Bedeutungskomponente zugeordnet, nämlich als >südliche Hemisphären Der Geltungsraum der gemachten Zuschreibung wird damit in zwei komplementäre Bereiche gegliedert: d) Deho i I [1919: 285]: Die antiken Empfindungen sind restlos erloschen, und die INDIVIDUUM,
e)
große Neuschöpfung "Mes Nordens*", die gotische Kathedrale, beherrscht gleichmäßig den Goldschmied und den Tischler, den Glasmaler und den Textilkünsder. Weigert [1942: 0]: Die Antike und "*der Norden*" haben die Kunst als Geschenk der Musen, der Götter oder eines Gottes verehrt.
Der Norden hat hier zwar eine der Geographie entlehnte Bedeutung, ist vor allen Dingen aber als ideelle Vergrößerung des Wissensbereichs DEUTSCHLAND gemeint. Bei (dem in Straßburg lehrenden Kunsthistoriker) Dehio dient der Norden als Chiffre für die Synthese aus den Kunsträumen ,Nordfrankreich' und ,Deutschland' im Hochmittelalter (d), welche dadurch entsteht, dass beide Kunsträume ideell vom germanischen Erbe geprägt sind — was sich in der gemeinsamen ,Neuschöpfung' des gotischen Stils äußert. Bei Weigert bezeichnet der Norden die mythische Sphäre des Germanentums als komplementären Kunstraum zur mediterranen Antike (e). Diese agentivierende Verwendung des Ausdrucks der Norden ist hoch nationalistisch markiert und nur in den beiden genannten Texten belegt. Als Ortsbezeichnung {im Norden) findet sich der Ausdruck in der Bedeutung >Europa nördlich der Alpen< jedoch regelhaft, auch in den Texten der jüngsten Quellengruppe.
132
4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
Auch Alteronyme werden solchermaßen als INDIVIDUEN konzeptualisiert. Die mit Abstand häufigsten Ländernamen sind in diesem Zusammenhang Frankreich und Italien. Meist werden die Ländernamen in den Rollen Agens, Contraagens, Benefaktiv oder Experiens als Vergleichsgrößen fur Zuschreibungen an ,Deutschland' verwendet: f)
Dohme [1885: 408]: Während "^Italien*" im allgemeinen in dieser Periode die turmlose Fassade liebt, bevorzugt "^Deutschland*", unverkennbar unter der Nachwirkung des mittelalterliches Kathedralbaues, die zweitürmige Front.
Im Beispiel dient die kontrastive Konzeptualisierung von ,Italien' und ,Deutschland' in der Rolle Experiens dazu, zwei architektonische Stilelemente zwei verschiedenen Geltungsräumen zuzuordnen. 4.3.2. Deutschland ist ein Einheitsprinzip Das Konzept DEUTSCHLAND IST EIN EINHEITSPRINZIP ergibt sich aus dem generischen Gebrauch von der Deutsche (markiert) bzw. die Deutschen (unmarkiert). Hier wird die ,Gesamtheit aller Deutschen' jeweils als Gruppe angesprochen, der eine oder mehrere Eigenschaften gemeinsam zukommt. In (a) lautet die entsprechende Zuschreibung ,x ist nicht neuerungssüchtig'. Unter der Hand wird ,deutsch' damit definiert als >Summe der allen Deutschen gemeinsamen Eigenschaften^ Deutschland erscheint hier als eine Menge von Menschen, die alle etwas gemeinsam haben, und damit als ein Einheitsprinzip: a)
Dohme [I88S: 120]: ~*Der Deutsche*" ist nicht neuerungssüchtig; nur langsam findet fremdes Wesen Eingang bei ihm.
Die Bestimmung von ,deutsch' als >Wesens- oder Charaktereigenschaft der Deutschen< muss auch gelten, wenn Fügungen wie der deutsche Volkscharakter (b) verwendet werden: b)
Förster II [I85J: 22?]: Der Grundzug aber seines hellglänzenden Kunstgeistes ist "Mem deutschen Volkscharakter*" vorzugsweis eigene Wahrhaftigkeit, die nicht auf halbem Wege zur Wahrheit stehen bleiben mag und selbst vom Ideal sich abwendet, wenn ihm darin die lebendige Wärme, die überzeugende Kraft zu fehlen scheint.
Die Fügung der deutsche Volkscharakter lässt sich auf zwei Weisen interpretieren: Entweder versteht man Volk als Ganzheitsbezeichnung, dann lässt sich die Fügung mit dem Satz ,das deutsche Volk hat einen Charakter' umschreiben. Oder man liest Volk als Totalitätsbezeichnung, dann würde die Umschreibung lauten: ,Alle Angehörigen des deutschen Volkes haben einen Charakter'. In beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass alle, die dem deutschem Volk angehören, etwas gemeinsam haben, nämlich ihren Cha-
4.3. Nation
133
rakter. In diesem Sinne funktioniert die Fügung als Ausdruck der Einheitsperspektive auf DEUTSCHLAND. Die Konstruktion in dem Beleg ist aber noch komplizierter: Die gemachte Zuschreibung ,der Grundzug von χ ist seine Wahrhaftigkeit' ergeht nämlich nicht an ,den deutschen Volkscharakter', sondern an ,den Kunstgeist des deutschen Volkscharakters'. Damit werden drei Prädikationen ineinander verschachtelt: Das deutsche Volk hat einen Charakter. Der Charakter hat Kunstgeist. Der Kunstgeist hat den Grundzug der Wahrhaftigkeit.
Das Prädikat ,Wahrhaftigkeit' wird hier also nicht auf den ,deutschen Volks Charakter', sondern auf dessen ,Kunstgeist' bezogen. Die verschachtelte Konstruktion lässt sich folgendermaßen erklären: Dass der ,deutsche Volkscharakter' auf,Wahrhaftigkeit' beruht, wird hier als allgemein akzeptiert vorausgesetzt. Auf die ,Kunst' kann ,Wahrhaftigkeit' aber nur bezogen werden, wenn diese wiederum als Symptom des deutschen Charakters exponiert wird. Es handelt sich also um ein kreuzprädikatives Verfahren. 22 Das wird hier durch den syntaktischen Ausdruck eines dreifachen Zugehörigkeitsverhältnisses erreicht. Durch den synthetischen Satzbau fallt fast gar nicht auf, dass hier gar nicht ,der deutsche Volkscharakter', sondern dessen ,Kunstgeist',wahrhaftig' ist — dem Leser wird die Kreuzprädikation gleichsam untergeschoben. Ebenso wird das Konzept DEUTSCHLAND IST EIN EINHEITSPRINZIP in den Fügungen Wesen der Deutschen (,alle Deutschen haben dasselbe Wesen'; c) und die deutsche Menschenart (,alle Deutschen gehören derselben Menschenart an'; d) vorausgesetzt: c)
d)
Dehio I [1919: 5]: Die dieses Buch durchgehend beherrschende Frage lautet nicht: was erfahren wir durch die Deutschen über das Wesen der Kunst? sondern: was offenbart uns die Kunst vom "^Wesen der Deutschen*"? Pinder III [1940: 120]: Goethe hat öfters als ein Hauptmerkmal des Genies den Fleiß bezeichnet. Die Geschichte gibt ihm darin, mindestens für "^die deutsche Menschenart*", Recht: Luther, Friedrich der Große, Mozart sind Musterbeispiele. Und im höchsten Maße ist es auch Dürer.
Pinder modelliert in (d) ein prototypisches Konzept von DEUTSCHLAND als Einheitsprinzip indem er die Zuschreibung ,die deutsche Menschenart ist fleißig' an herausragende Vertreter der Gattung ,Deutscher' bindet. Hier wird gleichzeitig suggeriert, es gäbe fleißigere und weniger fleißige — und damit deutschere und weniger deutsche — Deutsche. Weitere Realisierungen dieser Perspektive auf DEUTSCHLAND finden sich in Fügungen wie deutscher Charakter Bode [1885: 109], Dehio III [1926: 281], deut-
22
Zu Kreuzprädikationen siehe die Kapitel 4.2.4., 5.3.2., 6.1.6.
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4. Lexikalische und textstrategische Perspektivierung der Wissensbereiche
scher Volkscharakter Janitschek [1890: 266], deutscher Wille Dehio III [1926: 275], deutsches Denken Dehio III [1926: 418], deutsches Element Dehio I [1919: 57], deutsches "Fühlen Schweitzer [1905: 497], deutsches Wollen Müseier [1934: 7] (vgl. dazu 6.1.5.). Allgemeine Zuschreibungen an Totalitäten dieses Typs dienen als Grundlage erstens für Übertragungen von Zuschreibungen an ,die Deutschen' auf ,die deutsche Kunst' und umgekehrt, und zweitens für Argumentationen aus den Teilen und dem Ganzen, in denen Eigenschaften des deutschen Wesens' auch für die ,deutsche Kunst' geltend gemacht werden (vgl. 6.3.3.). Die Zuschreibungen von gemeinsamen Eigenschaften an ,die Deutschen' im Diskurs zur ,Geschichte der deutschen Kunst' unterscheiden sich nicht von denen in anderen bildungssprachlichen Texten im 19. und frühen 20. Jahrhundert, ζ. B. in Sprachgeschichten (vgl. Gardt 2000: 25Iff.). Sie gehen auf Gemeinplätze zurück, die der Zuschreibungstradition an ,die Germanen' entstammen, die sich bis auf die Tacitus-Rezeption im deutschen Humanismus zurückführen lässt.23 Da in den Geschichten der deutschen Kunst bis zu den 1950er Jahren die ,deutsche Kunstgeschichte' mit der germanischen Kunst' beginnt, findet sich in den Korpustexten eine direkte Fortschreibung dieser Prädizierungstradition an ,die Germanen' (e, f). Prädikate wie ,Wahrhaftigkeit', ,Treue', ,Innerlichkeit' und ,das Getriebensein' werden zuerst ,den Germanen' zugeschrieben und auf ,die germanische Kunst' übertragen24: e)
23
24
Förster I [1851: 4]: [17ber die germanische Kunst·] Die Strenge der Sitten, die Liebe zum Vaterlande, zur Freiheit und Selbstständigkeit, die Herrschaft von ^Wahrhaftigkeit und Treue*" sicherten der später aufwachsenden Kunst die Kraft der Innerlichkeit*".
Vgl. zur Entwicklung des Germanenmythos vom Humanismus bis zur Kaiserzeit und zu Zuschreibungstradiöonen an die Germanen Kipper (2002), von See (1994); siehe auch Kap. 6.2.2. Die Erbfolgereihe .Germanen' - .Deutsche' spielt in besonderer Weise auch in der Sprachhistoriographie ein Rolle, und zwar vor allem in der Sprachauffassung des Barock, ζ. B. bei Gottsched. Dabei ist die Tendenz zu erkennen, die Geschichte der deutschen Sprache in die Germanenzeit „zurückzuverlängern" (Reichmann 1998: 4). Zur „nationalen Rückverlängerung des Deutschen in die Stammesgeschichte der Germanen" siehe ausfuhrlich Sonderegger (1998: 422ff.). Auch im Bereich der Sprachgeschichtsschreibung werden aus der Identifizierung des Deutschen mit dem Germanischen Selbstzuschreibungen rekrutiert, die dann von den Deutschen auf die deutsche Sprache übertragen werden. Gardt (1998: 335) schreibt über die Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts: „Sowohl der dt. Sprache als auch ihren Sprechern werden in den Texten immer wieder Güteeigenschaften wie „Ehrlichkeit", „Reinheit", „Natürlichkeit", „Treue", „Redlichkeit", „Aufrichtigkeit" etc. zuerkannt." Vgl. auch Gardt (1999: 114; 2004: 41 f.). Auch dort dient die Prädizierung der Schaffung einer nationalen Einheitsprinzip-Perspektive, Gardt (2005) belegt für sprachreflexive Texte des 17. und 18. Jhs. die Konzeptualisierung der Deutschen als eine „Wesens"- bzw. „Kognitionsgemeinschaft" (160ff.).
4.3. Nation f)
135
Weigert [1942: 230]: Die Aktivität, das ewige Getriebensein*" und "*Über-sichhinaus-Müssen*" ~*der Germanen*" sind die Grundkraft der Gotik, die in jenen nordfranzösischen Gebieten geprägt worden ist, die in der Völkerwanderung einen starken germanischen Einschlag erhalten hatten.
Derartig eingeführte Prädikate können dann erstens auf ,die Deutschen' und zweitens auf ,deutsche Kunststile' übertragen werden. In Beleg (g) wird das Prädikationsmotiv der .deutschen Sehnsucht nach dem Metaphysischen' im Rückgriff auf Spenglers Begriff des ,Faustischen' mehrfach variiert und schließlich auf den Bereich ARCHITEKTUR übertragen: g)
Schwander [1936: 12]: Dem "^deutschen Wesen*" liegt die ^drängende Bewegung*", [...], "Mas unruhige Sehnen*", hinter die Dinge dieser Welt zu blicken. ~*Das Faustische*" ist die deutsche Ur- und Grundstimmung durch alle Zeiten. Dieses Aktivitätsbedürfnis, dieses "^Streben über die faßbare Wirklichkeit hinaus*", war auch bestimmend für "Mas Bauempfinden der Deutschen*".
Für diese mythisierende Präsentation der ,Deutschen' als Empfindungsgemeinschaft eignet sich der generische Gebrauch der Totalitätsbezeichnungen der DeutscheIdie Deutschen in der Experiens-Rolle besonders gut. Solche nationalistisch markierten Verwendungsweisen der Ausdrücke der Deutsche/die Deutschen sind bis in die 1950er Jahre belegt. Danach ist in meinem elektronischen Sekundärkorpus nur noch bei Klotz der generische Plural die Deutschen belegt: h)
Klotz III [2000: 78]: Die Maschine veränderte nicht nur die Produktionsweise der Güter [...], sondern sie veränderte auch die Umwelt, die Landschaft und die Stadt. Zwar hatten "*wissenschaftliche Disziplin, die sich mit Kunst befasst< verwendet wird. In dieser Verwendung wäre Kunstgeschichte kein Hyponym zu Geschichte.
5.1. Kunst + Geschichte
147
Kunstgeschichte·, vgl. 4.1.2.) oder durch die Verbindung mit einer Handlungsprädikation agentiviert. In Beleg (a) wird durch die Verwendung des Kompositums Kunstgeschichte der Bereich G E S C H I C H T E als handelndes Individuum (vgl. 4.1.1.) aspektualisiert, während K U N S T unspezifiziert bleibt — das bedeutet, dass weder durch die Totalitätsbezeichnung Kunst noch durch ihren Gebrauch im Kompositum genauere Informationen über K U N S T gegeben oder eine konkrete Perspektive darauf festgelegt wird: a) Förster I [1851: 14]: Die "^Kunstgeschichte*" zeigt uns fast überall den gleichen Entwickelungsgang der Kunst in der fortgesetzten Annäherung des Ideals an das Leben.
Hier ergibt sich — bezogen auf die Kunstgeschichte — der typische Fall einer Überblendung von Geschichte^] ^tatsächliche Vergangenheit) und Geschichte^] (>Text der GeschichtsdarstellungGesamtheit aller künstlerischen Ereignisse der Vergangenheit auffassen, oder man versteht den Ausdruck als die >Gesamtheit aller historisch arbeitenden Kunstwissenschaftlern Beide Lesarten sind plausibel; jedenfalls wird der ganzheitliche Charakter des Ausdrucks Kunstgeschichte durch die folgende Zuschreibung ,zeigt uns den Entwicklungsgang der Kunst' verstärkt. Damit wird die Rezeptionsperspektive auf die Fügung Entwickelungsgang der Kunst festgelegt, nämlich als >homogen und zielgerichtet ablaufende VeränderungMenge aller Geschichten< diejenige, die sich im Bereich KUNST vollzieht, ausgesondert. Die Fügung kann daher äquivalent zu Kunstgeschichte verwendet werden. Sie wird als Totalitätsbezeichnung gebraucht, um prägnant und ökonomisch Aussagen über die Menge aller künsderischen Ereignisse insgesamt machen zu können. In Beleg (a) wird Geschichte[η der Kunstpj mit einer beschreibenden Prädikation versehen und in dieser Weise verwendet: a)
Suckale [1998: 12]: Die "^Geschichte der Kunst*" ist auch eine der allgemeinen und persönlichen (Schönheits-) Ideale. Bilder sind oft Wunschbilder, zuweilen auch Propaganda.
Häufig anzutreffende Fügungen desselben Musters sind Geschichte der (,die Kunst ersteht wieder'. Im Unterschied zu den zuerst besprochenen Genitiv-Konstruktionen wird hier also erstens der Bereich GESCHICHTE perspektiviert, und zwar durch die lexikalische Bedeutung der phrasalen Kerne: Aufschwung (a) verweist auf den Verbesserungsaspekt, Eindringen (b) auf den Veränderungsaspekt und Wiedererstehung (c) auf den Wechselspielaspekt von GESCHICHTE. Zweitens werden die Kunstwörter im Genitiv aber textstrategisch als handelnde Individuen präsentiert und verweisen so auf das Konzept KUNST IST EIN INDIVIDUUM.
152
5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
iii) Patiens-Genitiv Konstruktionen mit dem Patiens-Genitiv sind die häufigsten eingliedrigen Fügungen zur Integration der Bereiche GESCHICHTE und KUNST. Hier werden Nomina, die einen Vorgang bezeichnen, als Geschichtswörter mit Ganzheitsbezeichnungen aus dem Bereich KUNST zusammengebunden. Die Geschichtswörter können entweder neutrale VERÄNDERUNG (b: Entwicklung), VERBESSERUNG (a: Aujblühen) oder VERSCHLECHTERUNG (c: Erschlaffung, Erschöpfung) signalisieren: a)
Suckale [1998: 634]: Der Kunstmarkt war den Bildenden Künsten in den letzten Jahrzehnten günstig. Die Voraussetzung dafür aber liegt weniger im Aufblühen der Kunst*" selbst, als in der Struktur des Sammeins und Kunstkaufens. b) Fischer [1951: 174]: Es bleibt die "^Entwicklung des Holzschnitts*" in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu behandeln. c) Janitschek [1885: 533]: Dem Zeitalter Dürers und Holbeins folgte eine ^Erschlaffung und Erschöpfung künsderischer Kraft4", die fast zwei Jahrhunderte lang anhielt.
Transformiert man diese Fügungen, dann erscheinen die Kunstwörter zwar meist als grammatisches Subjekt, inhaltlich wird mit ihnen aber das Patiens eines Vorgangs bezeichnet: (a) ,die Kunst blüht auf; (b) ,der Holzschnitt entwickelt sich/wird entwickelt'; (c) ,die künstlerische Kraft erschlafft und erschöpft sich'. Während also in den Agens-Konstruktionen die Kunst als Träger der historischen Handlung erscheint, so wird sie hier zum Objekt eines autonomen Geschichtsprozesses. Die Kunst wird nicht als bewusstseinsfahiges Individuum, sondern als Organismus vorgestellt. Der Patiens-Genitiv eignet sich also hervorragend zum Ausdruck der diskursimmanenten Naturmetaphorik (vgl. 2.2.2., 6.2.4.). Daher ist die Fügung so häufig belegt; und zwar durchgängig, allerdings mit einem Schwerpunkt auf der ersten Diskursperiode. e) Nominalphrasen mit präpositionalem Attribut In vereinzelt auftretenden Fügungen wird der zweidimensionale Bereich GESCHICHTE+KUNST durch Nominalphrasen mit präpositionalem Attribut spezifiziert. Hier erscheint das Geschichtswort als Kern der Nominalphrase, während das Kunstwort in die attribuierende Präpositionalphrase integriert ist. Eine solche Konstruktion wird gewählt, wenn dem Geschichtsprozess bildlich ein Ort, ein Ausgangspunkt oder ein Ziel innerhalb der ,Kunst' zugeordnet werden soll, so wird ζ. B. in der Fügung Wandel in der bildlichen Darstellungsweise Dehio II [die Menge aller Expressionisten deuten, welche sich allesamt von der Tradition befreit haben. Der semantische Gehalt der Handlungsprädikation ist also jeweils maßgeblich für die Interpretation des Totalitätswortes in Agensposition. b) Vorgangsprädikate Die Zusammenbindung von lexikalischen Konkretisierungen des Bereichs KUNST mit Vorgangsprädikaten verläuft analog, nur dass hier die Argumente der jeweiligen Proposition als Patiens realisiert sind. Die Kunst ist 7
Zur Terminologie vgl. Kap. 3.4.
156
5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
in solchen Sätzen nicht handelnde Triebkraft, sondern eine von den historischen Vorgängen betroffene Gegebenheit. Auch hier können Epochenstile (a) oder Gattungen (b) betroffen sein: a) b)
Gebhardt [2002: 44]: Die "*Gotik blutete in der Erstarrung der Form, im Schematismus aus*"; das Individuelle wurde zugunsten des Typischen aufgegeben. Falke [1888: 163]: War die Erhebung der deutschen Glasgefäße im Jahrhundert der Renaissance keine besonders glänzende, so war das Schicksal, welches der glänzendste Kunstzweig des Mittelalters, die "^Glasmalerei*", erlitt, noch ein schlimmeres. ~*Von ihrer höchsten Höhe sank sie ziemlich rasch herab*", um "^gänzlich zu verschwinden*".
In solchen Syntagmen werden Gattungen und Epochenstile als kohärente Gesamtphänomene präsentiert; diese Individualisierung kann in der textlichen Umgebung abgetönt werden, ζ. B. durch eine unpersönliche Spezifizierung des Gesagten (a); oder sie kann durch weitere Individualisierungen verstärkt werden (b; vgl. 6.2.1.). Insgesamt ist das Prädikationsmuster ein Phänomen hauptsächlich der ältesten Diskursperiode. Jüngere Formulierungen dieses Typs, wie die von Gebhardt (a), sind Einzelfaüe und können als Archaismen betrachtet werden. c) Zustandsprädikate Syntagmen mit Zustandsprädikaten sind nur dann in der Lage, eine historische Perspektive auf KUNST zu gewährleisten, wenn der nominale Bestandteil der Prädikation eine Bedeutung hat, welche als Ausschnitt oder Aspekt einer Entwicklung interpretierbar ist. In den Beispielen (a) und (b), die exemplarisch für ein verbreitetes Formulierungsmuster stehen, ist jeweils ein Gattungswort als Experiens vertextet, indem es an die Prädikation ,x erlebt y' gebunden ist: a)
b)
Förster III [1855: 45]: Während die Baukunst in der abwärts gehenden Richtung bleibt und noch immer tiefer sinkt; die Bildnerei nur vorübergehend durch einzelne Individuen gehoben wird; nimmt die Malerei nicht nur im Allgemeinen einen neuen Aufschwung, theilweis sogar einen höhern als früher, sondern sie treibt sogar ganz neue Wurzelschößlinge und "^erlebt an ihnen eine reiche, volle Blüthezeit*". Ulimann [1981: 24]: Die Bildwirkerei ^erlebt eine neue Blüte*".
Blüte als nominaler Kern der Zuschreibung impliziert eine Entwicklung, nämlich das AußAvhe,n davor und das VeAblühen danach.8 Durch die Zuweisung der Rolle des Erlebenden an die (Gattung) wird gewährleistet, dass nicht nur der explizit ausgesagte Zustand, sondern auch der virtuelle
8
Zum Einsatz der Pflanzenmetaphorik als diskurstypisches Strategiemuster der narrativen Entfaltung siehe Kap. 6.2.4.
5.1. Kunst + Geschichte
157
Entwicklungsprozess, der in ,Blüte' steckt, auf die (Gattung) anzuwenden ist: Das virtuelle Aussagepotenzial des Ausdrucks Blüte wird so auf die (Gattung) übertragen. Die Zuschreibung an die Kunst in (c), ,x hat nur eine Wurzel', wiederum bedingt einerseits die Vorstellung des Wachstums, also eine Veränderung, andererseits befördert sie die Vorstellung der Konstanz, des Beharrens an demselben Ort und der prinzipiellen Unveränderlichkeit der Kunst als einer überhistorischen Wesenheit; in diesem Sinne ist auch der Beleg (c) zu verstehen: c)
Die meiste Konkurrenz aber macht die Kunst*" sich selbst. In der Tiefe zwar ^hat sie nur eine einzige Wurzel"*", über der Erde aber verästelt sie sich zu einer Vielheit.
Dehio I [1919: 4]:
Zum Ausdruck einer Perspektive auf KUNST als (äußerlich) veränderliches und gleichzeitig (innerlich) konstantes Geschichtsphänomen eignet sich das Bild der ,Wurzel' hervorragend. Zustandsprädikationen dieses Typs sind insgesamt häufig und durchgehend belegt. 5.1.3. Adverbiale Angaben Adverbiale Angaben sind in diesem Zusammenhang dann von Interesse, wenn in der Angabe ein zentraler Wissensbereich in den Text eingeführt wird. Hier ist es in der Regel der Bereich KUNST. Der historische Prozess ist in den Beispielen (a) und (b) als unpersönlicher Vorgang vertextet, während die Gattung in der spezifizierenden Angabe als ein Ort konzeptualisiert wird. Die Kunst erscheint in diesen Konstruktionen also weder als Handelnder noch als Erleidender oder Erlebender der Geschichte, sondern vielmehr als historischer Handlungsraum (vgl. 4.2.3.): a) b)
Barthel [1949: 58]: Um die Mitte des 14. Jahrhunderts vollzog sich ^in der Baukunst^ wieder ein tiefgreifender Wandel. Falke [1888: 46]: Wann und wie jener bedeutsame Wandel ^in der Goldschmiedekunst*" eingetreten, welcher [...] von der Anwendung des Emails auf Gold zu dem auf Kupfer hinübergefuhrt hat, darüber ist viel geschriebenf...] worden.
In (c) wird der passivisch ausgedrückte Vorgang konkretisiert, indem eine Künstlergruppe als HandlungsSubjekt eingeführt wird, in der spezifizierenden Angabe wird nicht KUNST, sondern der zweidimensionale Wissensbereich ,Geschichte der (Gattung)' als Ort eingeführt: c)
Lüttow [1891: 297]: Eine neue Wendung ~*in der Geschichte des Kupferstiches*" wurde in den zwanziger Jahren durch eine Gruppe junger deutscher Maler herbeigeführt.
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5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
Solche Konstruktionen eignen sich vor allem, um einen Themawechsel zu markieren. Das neue Thema der nachfolgenden Textpassage wird mit der jeweiligen Gattungsbezeichnung in der Präpositionalphrase angezeigt.
5.2. Kunst + Nation Im Folgenden behandle ich Fügungen, in denen die Wissensbereiche KUNST und NATION ineinander integriert sind. In ihnen wird entweder eine nationale Bestimmung der KUNST oder - noch öfter - eine künstlerische Bestimmung der NATION vorgenommen. Durch den Bezug auf den Bereich GESCHICHTE im Kotext werden die in den folgenden Fügungen ausgedrückten Redegegenstände historisch aufgefächert und als Diskursgegenstände der nationalen Kunsthistoriographie etabliert. 5.2.1. Nominalphrasen a) Integrative Nomina Ein Ausdruck, mit dem die Wissensbereiche KUNST und NATION gemeinsam aufgerufen werden, ist Kulturpj. In dieser Bedeutung meint Kultur >die Erzeugnisse und Tätigkeiten einer Gemeinschaft, welche räumlich und/oder ideologisch definiert istdie Erzeugergemeinschaft selbstFranzosen und Deutscheeinem bestimmtem Geschichtsraum angehörigeiner bestimmten Gestaltungstradition zuzurechnen^ Noch deutlicher wird diese qualitative Aufladung in der adverbial erweiterten Fügung echt deutscher Baugedanke (d): c)
d)
Pinder II [1937: 41]: Daß Michelangelo selbst schließlich einer ursprünglich deutschen Form*" [dem plastischen Vesperbild] zu neuem und durchaus italienischem Leben verholfen hat, dürfen wir mit gutem geschichtlichen Gewissen feststellen. Dehio I [1919: 289]: Wir erinnern uns, daß die vielzahlige Gruppierung der Türme ein von alters gepflegter, ~*echt deutscher Baugedanke ist.
Hier legt deutsch einen nicht nur qualitativ bestimmten, sondern auch prototypisch gedachten Referenzraum von ,Baugedanke[n]' fest: Es gibt demnach ,echt deutsche' und ,weniger echt deutsche' Baugedanken ^architektonische Gestaltungsweisennordeuropäisch< ist vor allem in den 1930er und 1940er Jahren frequent, vereinzelt aber auch in jüngeren Texten anzutref-
5.2. Kunst + Nation
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fen. Germanisch hat in seiner unmarkierten Verwendungsweise — je nach Beleg — neben der räumlichen vor allem eine zeitliche Bedeutungskomponente (>zur Zeit der Germanendie (bevorzugte) Kunst des 11
In der an der Sprachwissenschaft geschulten Hintergrundsideologie dieser Formulierung ist ,germanisch' prototypisch modelliert: Der zentrale Geltungsraum des Attributs ist Deutschland, es gilt es aber auch für alle (europäischen) Regionen, in denen .germanische' Sprachen gesprochen werden, v. a. Skandinavien ist immer mitgemeint; weniger deutlich England.
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5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
Kleinbürgertums, unabhängig von deren stilistischer Homogenität meinen oder aber, wie in Beleg (f), eine >in einer bestimmten Weise ausgeprägte Art, Kunst zu produzieren^ In (f) wird diese qualitative Lesart erstens durch die Parallelisierung mit dem Adjektiv realistisch und zweitens durch den Einbau der Fügung in eine Stilbeschreibung angelegt: f)
Weigert [1942: 352]: Der Vergleich mit der Bamberger Apokalypse drängt sich auf. Sie hatte einzelne Gestalten gegeben, die unheimlich groß, mit einem Blick, der erschauem ließ, aus dem Jenseits kamen [...]. Dürer, aus einer realistischen und ^kleinbürgerlichen Kunst*" kommend, vermag die göttlichen Gestalten nicht mehr dem Menschlichen zu entrücken, ihrer Majestät, dem „ganz anderen", gerecht zu werden.
In (g) wird der soziologische Hintergrund der marxistisch inspirierten Attribuierung mit bürgerlich-kapitalistisch lexikalisch in dem soziologisierenden Kompositum Kunstverhältnisse reflektiert und verstärkt: g)
Olbrich [1988: 23f.]: Für München schätzte man 1907, daß zusammen mit den Kunsthandelsgalerien etwa 40000 Kunstwerke ausgestellt worden sind, [...]. In dieser Zahl spiegeln sich die entfalteten Widersprüche der ^bürgerlichkapitalistischen Kunstverhältnisse*": | die volle Freisetzung der Künsderindividuen, die der freien Konkurrenz auf dem Kunstmarkt ausgesetzt sind.
Eine solchermaßen soziologische Differenzierung des Themas ,deutsche Kunst' ist regelhaft nur in der marxistisch inspirierten Kunstbetrachtung der DDR-Publikation zu beobachten. Im gesamten Diskurs begegnen die Adjektive bürgerlich, vor allem angewendet auf die deutsche Renaissancekunst, und seltener höfisch, bezogen auf die weltliche Kunst des hohen Mittelalters. d) Nominalphrasen mit Possessivpronomen Der Gebrauch des Possessivpronomens in der 1. Person Plural als relationales Attribut von lexikalischen Konkretisierungen des Bereichs KUNST kann als Realisierung des Konzeptes DEUTSCHLAND SIND WIR gedeutet werden. Im Gegensatz zu den dreidimensionalen Fügungen dieses Typs (5.4.1.) fehlt hier die zeitliche Komponente. KUNST als ,unsere Kunst' wird aus der Binnenperspektive als überzeitliches Gesamtphänomen präsentiert, das allen Deutschen als geistiger Besitz zukommt. Diese ahistorische Konzeptualisierung steht dann als gedankliche Basis zur Verfügung, die im Kotext zeitlich aufgefächert werden kann. Allerdings hat die Fügung unsere Kunst immer eine auf die Gegenwart bezogene Bedeutungskomponente, weil wir im Sinne von >wir Deutschem immer ein inkludie-
5.2. Kunst + Nation
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rendes wir ist, als referentielle Basis also immer die Kommunikationsgemeinschaft von Autor (,ich£) und Leser Odu') hat12. Im Beleg (a) wird ζ. B. die ahistorische Konstruktion unsere nationale Kunst auf das 11. Jahrhundert bezogen und dann durch die Fügung der germanische Geist historisch aufgefächert. Wegen der präsentischen Bedeutungskomponente von wir entsteht eine Geschichtsreihe germanischer Geist' - ,11. Jahrhundert' — ,wir', die von dem mit Kunst Gemeinten gedanklich umschlossen wird: a)
Lübke [1890: 79]: Das 11. Jahrhundert ist für unsere eines kühnen Aufschwunges. Der germanische starkt, um sich gegenüber der antiken Tradition und aus den alten Formen ein neues Lebensgesetz
nationale Kunst*" die Zeit Geist war hinlänglich erselbstständig zu erweisen zu entwickeln.
Das identifikatorische Potenzial dieser Formulierung wird in Fügungen noch verstärkt, in denen KUNST durch Nomina acti (unsere Schöpfungen·, b) oder durch Nomina actionis (unser Kunstschaffen·, c) als Tätigkeit präsentiert wird. KUNST ist in solchen Fügungen nicht nur unser geistiges Eigentum (welches man sich auch etwa als ,Erbe' vorstellen könnte) sondern auch Ergebnis unseres Handelns: b) c)
Lübke [1890: 2]: Die originellsten "^unserer Schöpfungen*" hat zu allen Zeiten der Holzbau hervorgebracht. Schwarder [1936: 10]: Der Weihnachtstag des Jahres 800, der Tag der Kaiserkrönung Karls des Großen, wurde richtungsgebend für die deutsche Kunst. Nie wieder hat ein Einzelner gleich großen Einfluß auf unser Kunstschaffen*" ausgeübt wie Karl.
e) Nominalphrasen mit Genitivattribut Auch die Bereiche KUNST und NATION können in Nominalphrasen ineinander integriert werden, indem ein Ausdruck für den Bereich NATION im Genitiv einen Ausdruck für den Bereich KUNST attribuiert. Bei den genitivischen Integrationsmustern der Bereiche KUNST und NATION lassen sich drei Fälle unterscheiden: der relationale Genitiv, der AgensGenitiv und der Experiens-Genitiv:
12
Das gilt natürlich nur dann, wenn der jeweilige Autor sich seinen Modell-Leser als Deutschen (bzw. Schweizer, Österreicher) vorstellt. Das wiederum ist zwar nirgends explizit formuliert, lässt sich aber in allen Texten daran ersehen, dass alle anderen Nationalitäten, etwa Franzosen, Italiener oder auch Niederländer ausnahmslos in der Außenperspektive angesprochen werden. Auch spricht der umstandslose Umgang mit dem nationalen ,wir', ζ. B. in den vorliegenden Belegen, dafür, dass der Leser im ,wir' eingeschlossen ist. Eine Formulierung, die dieser Interpretation auch nur ansatzweise widerspräche, ist nicht belegt.
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5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
i) Relationaler Genitiv Vom relationalen Genitiv lässt sich hier sprechen, wenn ein Nationalwort im Genitiv einen Ausdruck für den Bereich KUNST in der Weise attribuiert, dass ein Bezug zwischen KUNST und NATION hergestellt wird. Der Nationalausdruck definiert dabei den Geltungsraum der Bedeutung des Kunstwortes. Ein häufig anzutreffender Ausdruck in solchen genitivischen Fügungen ist Abendland (a). Abendland ist ein Holonym zu Deutschland und meint — ohne zeitliche Nebenbedeutung — >die Gesamtheit des europäischen Kunstraumes, bestehend aus einer ,nordischen' und einer ,antik-mediterranen' Hemisphären Die Kunst des Abendlandes (a) ist hier nicht die Kunst, die dem Abendland gehört, sondern vielmehr >die Kunst im Abendlandc a)
Fischer [1951: 260]: Er [Dürer] hat auch auf die gesamte "*Kunst des Abendlandes*" eine Wirkung wie kein anderer deutscher Meister ausgeübt.
Eine komplexere Integration nach diesem Muster findet sich in (b): In der Fügung künstlerische Begabung unseres Volkes attribuiert die aus der Binnenperspektive gebildete Nominalphrase unser Volk den abstrakten Ausdruck künstlerische Begabung. Damit wird erstens das ,Volk' als Totalität präsentiert, dessen Bestandteilen alle die gleiche Eigenschaft — nämlich künstlerische Begabung' — zukommt, zweitens werden Autor und Leser in diese Totalität eingegliedert (,unser Volk') und drittens wird durch das Abstraktum künstlerische Begabung die Möglichkeit geschaffen, DEUTSCHLAND eine konkrete Eigenschaft aus dem Bereich KUNST (hier: ,Bedürfnis, sich in Linien auszusprechen') zuzuschreiben. Kunstwissenschaftliche Formbeobachtungen (,Linien') werden so auf DEUTSCHLAND übertragen - die Bereiche KUNST und NATION werden überblendet. Auf diese Weise kann nationale Identität aus der Kunst geschöpft werden: b)
Fischer [1951: 7]: Die ^künstlerische Begabung unseres Volkes*" hat ein besonderes Bedürfnis, in Linien sich auszusprechen, Schwarz auf Weiß zu gestalten und mit graphischen Zeichen die Phantasie hinauszulocken über das, was der rein bildhaften Anschauung zugänglich ist, in das Reich der Gedanken und Gefühle, ja des dichterischen Worts und der unfaßbaren Musik.
Hier wird dem nationalen Geltungsraum für Aussagen über ,die Kunst', der im Genitiv ausgedrückt ist, eine homogene innere Verfasstheit zugeschrieben. ii) Agens-Genitiv Konstruktionen, in denen ein Nationalwort als Agens-Genitiv realisiert ist, haben ein hohes nationalpädagogisches Potenzial, weil mit ihnen die gesamte nationale Großgemeinschaft entweder als Handlungsgemeinschaft oder - metaphorisch - als handelndes Individuum präsentiert werden
5.2. Kunst + Nation
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kann. Eine solche Konstruktion ist die Fügung Schaffen unseres Volkes (a), wobei Schaffen hier als Kurzwort fur >Kunstschaffen< zu interpretieren ist: a)
Fischer [1951: 498]: Man kann die Bedeutung der Zeichnung für die germanische und ganz besonders für die deutsche Kunst nicht leicht überschätzen. Die Rolle, die sie im ^Schaffen unseres Volkes*" spielt, ist größer und wesentlicher als die Funktion, die das Zeichnerische in der Kunst anderer Kulturen und vor allem bei den übrigen Nationen des Abendlandes auszuüben scheint.
Hier werden zwei Funktionen des Genitivs überblendet: Weil die Fügung Schaffen unseres Volkes im Lokativ und parallelisiert zu dem Ausdruck deutsche Kunst verwendet wird, ergibt sich die neutrale Interpretation >Kunst Deutschlands^ Der Genitiv hätte hier die Funktion, aus der allgemeinen Klasse ,Schaffen' die Teilklasse ,Schaffen unseres Volkes' auszugliedern, er wäre also als relationaler Genitiv zu lesen. Zweitens ergibt sich aber nach der lexikalischen Bedeutung von Schaffen die Lesart >unser Volk schafft etwasGESCHICHTE IST EIN O r t ) präsentiert, in welchen ,die Germanen' zu einem bestimmten Zeitpunkt eintreten und historisch wirksam werden. Die Fügung mit Präpositionalattribut fungiert hier als Eröffnungsklausel einer mythisierenden Geschichtserzählung19: b)
Schreyer [1931: 48]: Der "^Eintritt der Germanen in die Geschichte*" geschah zur Zeit der Geburt des Christentums. [...] Die neue Weltordnung, die mit dem Christentum beginnen sollte, bedurfte eines jungen, starken Volkes zu ihrer Verwirklichung. Da rief das Schicksal das germanische Volk herbei.
Im ersten Fall (a) hat die präpositionale Fügung als Formulierungsalternative (etwa zu Einflussnahme des Auslandes) also eine eher Neutralität stiftende Funktion, während im zweiten Fall im präpositionalen Muster eine stark weltanschaulich geprägte Formulierung (als Alternative etwa zu der Zeitpunkt, an dem die Germanen erstmals historisch verbürgt sind) entsteht. 5.3.2. Prädikationsgefüge a) Handlungsprädikate Es lässt sich eine Klasse von Sätzen bestimmen, in denen der zweidimensionale Bereich G e S C H I C H T E + N A T I O N ausgedrückt wird, indem Nationalwörter mit Handlungsprädikationen versehen und damit agentiviert werden. In den Belegen zu dieser Konstruktion werden die Nationalwör-
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Abgesehen sei hier von der spektakulären historischen Unangemessenheit der Aussagen über ,die Germanen' in dem Schreyer-Beleg.
5.3.1. Nominalphrasen
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ter (die deutsche Volkskraft, a; die Nation, b) aus der Außenperspektive des erzählenden Historikers als historisch Handelnde und damit als kohärente Ganzheiten präsentiert und zur Erzählung eines geschichtlichen Vorgangs herangezogen: a)
b)
Dehio I [1919: 205]: Deutschland war sich zu klein geworden. Nach allen Seiten und unter den verschiedensten Formen "^drängte die deutsche Volkskraft über die alten Grenzen hinaus*". Dohme [1885: 290]: Es ist, als ob der gewaltige "^Gedanke der Reformation*", "Men die Nation mit ihrem Herzblut durchgeführt*", das große Wollen auf anderen Gebieten erschöpft hätte.
Solche Formulierungen präsentieren Großgruppen in ihrer Ganzheit als handelnde Individuen und sind daher unter dem Gesichtspunkt der Nationalpädagogik hoch markiert. Als einzelne Syntagmen können sie erzählökonomisch motiviert sein, gehäuft (ζ. B. bei Dehio oder Barthel) drücken sie aber nationalistische Emphase aus (vgl. dazu ausführlich 6.2.2.). b) Vorgangsprädikate In Vorgangspropositionen werden Nationalwörter als Patiens eines Vorgangs präsentiert. So wird in Beleg (a) als Nationalwort Volk eingesetzt. Der Ausdruck wird an die Prädikation ,x macht eine Entwicklung durch' gebunden. Die mit Volk bezeichnete Gemeinschaft wird auf diese Weise erstens als Individuum konzeptualisiert und zweitens als Betroffener eines evolutionären Vorgangs präsentiert. Die dergestalt aufgerufene Vorstellung eines homogen sich entwickelnden Volkskörpers kann dann wiederum auf der Textebene an den Bereich KUNST (hier: Kunsttechniii) gebunden werden: a) Falke [1888: 6]: Eine Kunsttechnik, wie sie an jenen Arbeiten \nordeuropäische l'undstücke aus der Bron%e%eit\ sich darstellt, kann nicht allein stehen; sie setzt voraus, daß "^ein Volk*", welches im Besitz solcher Künste ist, "*eine lange Epoche der Entwickelung durchgemacht hat*" und sich in einem Zustande erhöhter und ausgebildeter Zivilisation befindet.
In (b) wird der Homogenitätsgedanke etwas schwächer durch den Plural die Deutschen ausgedrückt. Sie werden ebenfalls gedanklich an einen positiv verlaufenden Entwicklungsvorgang, nämlich den der Bewusstwerdung, gebunden: b)
Schwander [1936: 22]: Unter diesen Voraussetzungen erstarkte das Weltgefuhl "*der Deutschen*", ^sie wurden sich ihrer völkischen Einheit bewußt*".
In (c) wird ein soziologisch perspektivierter Ausschnitt des Bereichs NA^Bürgertum*) an einen Vorgang (,x evolutioniert kapitalistisch4) gebunden, der im Beleg neutral präsentiert wird, im Kontext des staatssozialistischen Kommunikationsraumes der DDR-Kunstgeschichte aber negativ konnotiert ist. Hier ist also nicht die Nationalgemeinschaft, sonTION
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5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
dem ein selbstständiger Teil der Gemeinschaft, ,das Bürgertum', als Betroffener eines Entwicklungsvorgangs gedacht. Die »Gesellschaft' wird damit implizit als heterogenes Entwicklungsobjekt präsentiert, das interne Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung aufweist: c)
Ullmann [1981: II]: Die folgende Epoche wurde in steigendem Maße von den erstarkenden Elementen des Kapitalismus geprägt. Dies führte zu einer Veränderung im sozialen Wesen des "^Bürgertums*", "*es begann, kapitalistisch zu evolutionieren,4" und seine soziale Differenzierung, die seit langem schon im Gange war, nahm zu.
5.3.3. Adverbiale Angaben Mit adverbialen Angaben wird der Bereich NATION als Ortsangabe und damit als historischer Handlungsraum in die Proposition integriert. Damit wird die Position des grammatischen Subjekts frei, die nun der vertextete Entwicklungsprozess selbst einnehmen kann. In (a) ist das der Ausdruck Umwälzung der Anschauungen, in (b) die Entwicklung (hier elliptisch für stilistische EntwicklungVergangenheit< und >Text< von Geschichte. Im Übrigen sind an dieser Stelle Fügungen zu behandeln, in denen ein Epochenstilwort wie Gotik, Renaissance oder Barock mit dem Adjektiv 20
So lautet auch der Titel der Texte von Knackfuß [1888] und des Bnickmann Verlags [1942-55],
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5. Die syntaktische Integration der Wissensbereiche
deutsch attribuiert wird. Es entstehen Fügungen wie deutsche Rßnaissance oder deutscher Barock. Die Epochenstil-Wörter bezeichnen erstens einen bestimmten Ausschnitt der ,Geschichte' (die Epoche) und zweitens einen bestimmten Kunststil (vgl. 5.1.1.). Mit dem attributiv gebrauchten Adjektiv deutsch können sie auf einen bestimmten geographisch-ideologischen Geltungsraum bezogen werden. Die entstehenden Fügungen sind potenziell mehrdeutig, weil ,deutsch' hier sowohl als lokales Determinans der Epochenstil-Wörter als auch als qualitativ aufgeladenes Attribut gemeint sein kann. Besonders deutlich wird das in der Fügung deutsche Sondergotik, die der Kunsthistoriker Kurt Gerstenberg (1913) in einem Buch dieses Titels geprägt hat. Mit deutsche Sondergotik ist nicht nur >der gotische Stil< bzw. >im gotischen Stil gehaltene Kunst auf deutschem Boden< gemeint, sondern auch und vor allem >eine stilistische Variante des gotischen StilsSchicksalZeitabschnitt zwischen zwei EpochenStilEinflüsse aus dem AuslandEinflüsse aus dem Auslandin Deutschland besonders ablaufendein Deutschland selbstständig ablaufende