Geschichte der protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhange mit der Theologie überhaupt: Band 4 Die Aufklärung und der Rationalismus. Die Dogmatik der philosophischen Schulen. Schleiermacher und seine Zeit 9783111449999, 9783111082745


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German Pages 680 Year 1867

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Siebentes Buch. Die Aufklärung und der Rationalismus
Einleitung
Erster Abschnitt. Anregungen zur Erneuerung der Theologie
Zweiter Abschnitt. Die Fortbildung des älteren Standpunkts der Dogmatik
Dritter Abschnitt. Die kritische und rationalistische Theologie
Achtes Buch. Die Dogmatik der philosophischen Schulen
Erster Abschnitt. Die Dogmatiker der kritischen Philosophie
Zweiter Abschnitt. Die speculative Dogmatik
Neuntes Buch. Schleiermacher und seine Zeit
Erster Abschnitt. Fortsetzung und Bereicherung der dogmatischen Studien
Zweiter Abschnitt. Schleiermacher′s Glaubenslehre
Register
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Geschichte der protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhange mit der Theologie überhaupt: Band 4 Die Aufklärung und der Rationalismus. Die Dogmatik der philosophischen Schulen. Schleiermacher und seine Zeit
 9783111449999, 9783111082745

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Geschichte der

Protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammenhange mit der

T h e o l o g i e überhaupt.

Bon

Dr. W . Gaß.

Vierter Band. D i e A u f k lä r u n g und der R a t i o n a l i s m u s . D ie D ogm atik der philosophischen S c h u le n . S c h le ie rm a c h e r und seine Z eit.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer.

1867.

Seinen Collegen und Freunden

Herrn Dr. H . Hesse und

Herrn Dr. A. D illm a n n ordentlichen Lehrern der Theologie an der Ludw igs-U niversität zu Gießen

vertrauensvoll zugeeignet

vom

Verfasser.

V o r w o r t . 5D iit diesem vierten Bande, dessen Druck schon zu Anfang des Jahres begonnen und zuletzt noch durch eine mir nöthige Erholungsreise verzögert worden ist, erreicht meine Geschichte der protestantischen Dogmatik ihren endlichen Abschluß. M ei­ nem ursprünglichen Vorhaben getreu habe ich sie bis in das vierte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts fortgeführt, den wissen­ schaftlichen Gang der letzten Deccnnien also nur in einzelnen Bemerkungen und Vergleichungen berücksichtigt, ohne demselben einen letzten Abschnitt zu widmen. Wo in solchen Fällen der rechte SchlnßpuM zu setzen sei, wird immer mehr oder min­ der der Willkür überlassen bleiben. D aß es möglich und nütz­ lich ist, auch die Entwicklung eines rein wissenschaftlichen und literarischen Lebensgebiets bis zm Gegenwart herabzuführen, bezweifle ich keineswegs; ist es doch erst vor Kurzem von E rd m a n n für die Geschichte der Philosophie, von D ö r n e r für die der Theologie in hervorragender Weise dargethan wor­ den. Aber bei der streng historischen Haltung meines Werks hielt ich mich für vsllkomyren berechtigt, an einer früheren

Stelle vom Leser Abschied zu nehmen, zumal an einer solchen, die, obwohl ein Menschenalter hinter uns, mir dennoch Ge­ legenheit gab, die Schwelle der Gegenwart zu betreten. Auch gestehe ich offen, daß es mir schwer geworden wäre, die Reihe noch lebender Theologen ganz eigentlich zum Gegenstand histo­ rischer Relation und Kritik zu machen. Früher dachte ich daran, in einem Anhange noch über die neuere englische und amerikanische Theologie Bericht zu erstatten. Dieser Borsatz ist leider ein Raub der Zeit geworden, denn ich überzeugte mich, daß ich nur durch einen bedeutenden Aufschub etwas mich selbst Befriedigendes würde leisten können, obwohl- es mir auch für diesen Zweck an gutem Rath nicht ganz gefehlt hätte. D as Nöthigste aus diesem Gebiet ist inzwischen von anderer Hand zusammen­ gestellt worden. Die nachfolgende Darstellung führt also von S e m le r bis S c h le ie r mach e r; sie umfaßt etwa achtzig Jahre und in ihnen das Zeitalter der theologischen Umwälzung und E r­ neuerung. S c h le i er m acher wird dabei als der zusammen­ fassende und ergänzende Repräsentant der Theologie seiner Zeit, zugleich aber auch als der Anführer eines vertieften und neubelebten dogmatischen Studium s angesehen. Bon den voran­ gegangenen unterscheidet sich diese Epoche durch ihren durch­ greifend sachlichen und principiell wissenschaftlichen Charakter; alle Aufmerksamkeit wird auf den Mittelpunkt der Glaubens­ angelegenheiten, auf Position und Negation der Lehrfragen hingerichtet; der Reiz einer systematisch oder methodisch geregel-

ten Geistesthätigkeit fehlt in den ersten Abschnitten gänzlich. D er Bearbeiter hat diese einfeikige Beschaffenheit seines Stoffes streng wiederzugeben, er darf sogar Manches vernachlässigen, was an sich wohl der Beachtung würdig gewesen wäre. B is ­ her könnten von den: M ittelpunkt der Dogmatik aus auch die übrigen theologischen Disciplinen mit einer gewissen Gleich­ mäßigkeit übersehen werden, diesmal war zu Gunsten der Gründlichkeit eine strengere Beschränkung der Aufgabe erfor­ derlich. D ie Darstellung knüpft sich daher fast ausschließlich an die dogmatische Literatur und an die wichtigsten Erschei­ nungen der Religionsphilosophie, weil in ihnen alle Gegensätze und Resultate am Grellsten offenbar werden; sie folgt der Reihe der Schriftsteller, deren M ehrheit eine genauere Charak­ teristik verdiente, und alle M ühe wird aufgewendet, den Gang der Sache bis in seine feineren Wendungen und Uebergänge zu verfolgen. An den entscheidenden Stellen mußte natürlich auch von dem M aterial der biblischen und historischen U nter­ suchungen das Wichtigere aufgenommen werden, weil dies zum Verständniß des Lehrstreits selber unumgänglich nöthig erschien. Roch mehr liegt ein anderer Unterschied ans der Hand. D e r Darsteller dieser Periode sindet sich selbst im höchsten Grade betheiligt, er wird im Vergleich zu den früheren Ab­ schnitten zu einer schärferen Geltendmächung seiner eigenen Ansicht genöthigt. E r muß also Stellung nehmen und hat dazu seine Einleitungen und Uebersichten zu benutzen, aber er soll dies nicht durch allgemeine M axim en, sondern stets im

Anschluß an dir historische Bewegung thun. N ur wenn er überall aus dem jedesmaligen Stande der Sache seine Urtheile gewinnt, kann es ihm gelingen, den Leser wirklich einzuführen und selbst für daö Bekannte durch Aufzcigung seines wahren Verhalts und seiner thatsächlichen Aufeinanderfolge eine er­ neute Aufmerksamkeit zu erwecken. Diese zweite historische Pflicht mit jener ersten zu vereinigen, war sehr schwierig; ich habe es wenigstens gewollt. Wenn daher die früheren Bände mehr Fleiß der Sammlung und Sorgfalt der Composition erforderten: so war in der Arbeit dieses letzten die innere Schwierigkeit bei Weitem die größere. Daß ich mit Billigkeit und Mäßigung verfahren bin, kann ich mir nicht zum besonderen Verdienst anrechnen, denn es ist mir noch niemals schwer geworden. Mehr Gewicht muß ich darauf legen, daß ich da, wo so viele Andere nur Worte finden zu Unehren der deutschen Theologie, auch zu deren Ehre geurtheilt habe. Den Grundsätzen wissenschaft­ licher Freiheit und kritischer Unbefangenheit wollte ich treu bleiben; ich werde daher dem Borwurf nicht entgehen, in den Rationalismus, welchen ich darstelle und dessen Gebrechen ich nachweise, selbst eingetreten zu sein; doch kann ich diesen Namen nur in einem allgemeineren wissenschaftlichen und christ­ lichen Sinne auf mich anwenden, nach welchem weder das Interesse des Glaubens noch das Bekenntniß unseres allei­ nigen Heilsgrundes jemals aufgegeben werden kann. Die S . 613 f. kurz bezeichnete religiöse Anschauung des Heilands und des Evangeliums überhaupt werde ich jederzeit vertreten.

V o r w o r t .

IX

Ich habe in den Hauptsachen meine Meinung gesagt, auch das Eigenthümliche derselben nicht verschweigen wollen, und M an­ ches mußte ausgesprochen werden, was sich in diesem Zusam­ menhange nicht begründen ließ, doch aber nicht zurück­ gehalten werdm durfte. Aber die hierauf bezüglichen Benierkungen finden sich an zerstreuten Stellen zumal des nennten Buchs. Daher nnch ich wünschen, ans dem Ganzen meiner Entwicklung, nicht aus einem einzelnen Abschnitt beurtheilt zu werden, und das ist die einzige Bitte, welche ich an meine Leser und Kritiker richte. Meine historischen Mittheilungen werden von Manchen allzu ausführlich gesunden werden. Diesen Tadel nehme ich auf mich; ich glaube nicht, daß was ich beabsichtigte, auf einem geringeren Raum ausgeführt werden konnte. Auf die in die Theologie eingreifenden philosophischen Systeme von K a n t bis S c h e llin g bin ich allerdings gründlicher einge­ gangen, als vielleicht unbedingt nöthig gewesen wäre; es war dies die Consequenz meines bisherigen Verfahrens, und sie forderte einen größeren Aufwand in einem Zeitalter, welches in einem solchen Grade von philosophischen Tendenzen bewegt wird. Ueber M änner wie D a u b soll Niemand urtheilen, der sich nicht Miche gegegeben hat, ihren Gedanken nachzu­ gehen, am Wenigsten wenn er diese tadeln will. Sollte ferner der Beschluß mit Sc hl ei er m ach er gemacht werden: so war es nöthig, dessen Glaubenslehre in einem Gesammtbilde vorzuführen und es in seinen wesentlichen Zügen auch zu beleuchten, was hoffentlich mit voller Liebe, aber auch mit

Selbständigkeit geschehen ist. ich 'jetzt weit eher in missen

als

einige

neueste

A ls mein eigener K ritiker würde

meinen Erörterungen Manches zu ver­

hinwcgzuwünschen auf

meinen

haben.

G ern hätte ich noch

Gegenstand

bezügliche

Schriften

gründlicher zu Rathe gezogen.

M e in M an uskript w ar zum

größeren

zur

Theile druckreif

D ö rn e r's

und

Absendung

bereit,

als

Geschichte der protestantischen Theologie erschien.

Ich habe dieses ganz anders angelegte Werk wohl nachgelesen, anch einige Stellen daraus entnehmen, Nicht aber unter V e r­ gleichung desselben arbeiten können;

ich

stelle daher

meine abweichende Auffassung neben die seinige in nung,

daß die Vergleichung

einfach

der H o ff­

beider der K ritik von Interesse

sein w ird .

Aehnlich ist es m ir m it einigen anderen Schriften

ergangen.

Auch H e n k e ' s schöne M onographie über F r i e s

konnte n u r da, wo sie M itthe ilu n ge n über de W e t t e und von dessen Hand darbietet, in der Kürze und während des Drucks noch benutzt werden. D ie Wunsche, welche ich diesem fieya ßißHov fiiya

xaxov m it auf den Weg gebe, find so einfach und ergeben sich so natürlich aus dem Ernst und der Schwierigkeit des I n h a lt s ,

daß

ich sie kaum zu nennen brauche.

meine A rb eit allen ernstgesinnten und

Ic h

biete

ansrichtigen Freunden

protestantischer Theologie und Forschung d a r; auch von S o l­ chen möchte ich gelesen werden, die sich m it m ir im W id er­ spruch befinden, auch Gegnern möchte ich Dienste leisten und hoffe dies sogar. Nächst diesem Wunsche bewegt mich im jetzigen Augen-

blick die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit. Ich war eilt Kultischer S tudent, als ich unter C. T h i l o ' s Leitung, — denn ihm hauptsächlich verdanke ich die Anregung zu dogmen­ historischen Studien,- — imt> bei meiner ersten Beschäftigung mit C a l v i n ' s In stitn tio den Gedanken faßte, der Reihen­ folge dogmatischer Lehrsysteme, zumal der protestantischen, eine zusammenhängende Forschung zu widmen. Späterhin/ als cs Zeit w ar etwas Selbständiges zu leisten, gerieth ich ans das entlegene Gebiet der griechischen Theologie und Kirche, dem ich auch gegenwärtig noch einige Aufmerksamkeit zuwende. D aß es mir aber dennoch int Laufe der Zeit ntöglich geworden ist, jenen Jngendgedanken wieder aufzunehmen und trotz aller M ängel und Schwächen doch meinem Vorhaben gemäß zur Ausführung zu Bringen, erfüllt mich jetzt mit Dankbarkeit gegen G o tt, weil dadurch meine literarischen Arbeiten einen festen Körper erhalten haben. A ls ich den ersten B and herausgab, stand ich m it mei­ ner Aufgabe fast allein; jetzt bin ich mit mehreren ausge­ zeichneten Gelehrten in bedeutende Concurrenz getreten. Auch Vorlesungen über Geschichte der protestantischen Theologie uitd Glaubenslehre sind inzwischen auf deutschen Universitäten ziemlich gewöhnlich geworden. Gewiß eine günstige Verände­ rung, deren sich derjenige mir zu freuen hat, der das Wachs­ thum und die Fruchtbarkeit dieser Studien an seinem Theile zu fördern bemüht gewesen ist. Schließlich sei allen denen gedankt, welche wie H a g e n bach, H u n d e s h a g e n , H a s e , G. F r a n k u. A. für das

Bekanntwerden meines Werk« durch vielfache.Benutzung neb Berücksichtigung und io wohlwollender Weise Sorge getragen haben. H errn D r. W . We i f f e u b a c h hierseW danke ich als meinem treuen Gehülfen bei der Correctm, von welchem auch die Inhaltsanzeige und das Register dieses Bande« angefertigt worden. Gießen im Octvber 1867. D r . Ga-ß.

Inhalt Seite

Siebentes Buch. Die AufklLrung und der Rationalismus. Einleitung. Historische Stellung des R ationalism us. Der Mangel an kirchlichem Interesse. Selbständigwerden des deutschen Geistes. Veränderungen im literarischen Verkehr. Alter und Herkunft des R ationalism us. Allgemeine Beurthei­ lung desselben...........................................................

1—25.

Erster Abschnitt. Anregungen zur Erneuerung der Theologie. I. J o h a n n S a lo m o S e m ! er. Sem ler's Entwicklung und Hchriftsteüerei. Sem ler öder Theologie und Offen­ barung; über Loealtheologie, gesellschaftliche und moralische Religion. Seine Bibelstudien und Urtheile über den Kanon. Sem ler fordert Austläruug der Kirchen­ geschichte. Sem ler's dogmenhistorische und dogmatische Urtheile. Seine, freiere theologische Lehrart. Sem .kr als Gegner Becsedow's und Bahrdt'S. Allgemeines Urtheil über S e m le r...................................................

2 6 —67.

II. J o h a n n A u g u st E r n e s ti. S ein theologischer Charakter. Ernesti's Vindieiae, Antimuratorius und De officio Christi triplici. Sein Hermeneutischer Standpunkt. Zwei Richtungen des theologischen Fortschritts an Sem ler oder an Eruesti a n k n ü p fe n d .............................................

6 8 —79.

Zweiter Abschnitt. Die Fortbildung des älteren Standpunktes der Dogmattt. I. H isto risc h e r S c h a u p la tz u n d P a r t e i e n . Die Facultäten von Halle, Gvt-mgen, Jen a rc. Lutherische und reformirte -Facuttäten. Allgemeine deutsche Bibliothek. Uebersicht der Z eitschriften.........................................

80—89.

XI V

In h a lt. S eite

II.

D e r e r w e ite r te kirchliche S t a n d p u n k t . M ic h a e ­ lis . H e ilm a n n . W alch. Michaelis als Gelehrter und Theologe. Seine Ansichten über Offenbarung, Genugthuung und den B aum der Erkenntniß. Heilmann über Vorsehung, Versöhnung, Erleuchtung. Walch'S Offenbarungs - und Sündenbegriff...................

89 —105.

S t r e n g e r e r A nschluß a n die k irch lich en N o rm e n . S e i l e r . C a rp z o v . S a rt-o rill-s . S e ile r's dogma­ tische Beweisführungen und Milderungen in der E rb­ sündenlehre und in der Soteriologie. Carpzov vertheidigt den alten StanHmnkt. S arto riu s lenkt zu demselben zurück. Seine S atisfactio n S th eo rie............................

106- 116.

IV . V e r m itte ln d e D a r s te llu n g n e u k irc h ttc h e r D o g ­ m a tik e r. D ano-v un-d D ö d er le in . D an ov'S S te l­ lung imt) die Urtheile über ihn. Döderlein's Funda­ mentalartikel und Gotteslehre. S ein e Ansicht von der u r­ sprünglichen Menjchennatur und vom Sündenfall. Seine Heilsordnung. Döderlein's theolo.gischer Charakter . .

116 - 128.

III.

V.

D e fe n s iv e S t e l l u n g d er N eu k irch lich en . M o r u s u n d R e in h a rd . M orus ein Nachfolger Melanlhontz. R einhards Geständnisse. Seine Beurtheilung des Ratio­ nalism us. M orus und Reinhard verglichen m it einander

128 - 141.

V I. D e r stre n g bib lisch e S u p r a n a t u r a l i s m u s . S t o r r . S to rr's biblischer- Offenbarungöglaube. S ein Schrfftprincip. S to rr benutzt die kritische Philosophie. S to rr's Berjöhnungslehre. Zachariä's erster Versuch einer biblischen Theologie. Süskind gegen Fichte'S Kritik der Offenbarung. Die Gebrüder F l a t t .......................

141 - 159.

V II.

E in m isc h u n g th eosophisch - s p e c u l a t i v e r E l e ­ m e n te . C r ü s iu s . Crusius als Kritiker der Wölfischen Philosophie. Sein Einigungsversuch zwischen der Theo­ logie und Philosophie. Crusius vom göttlichen Decorum. Seine prophetische Theologie. Die couservative Theologie im Zusammenhange betrachtet................................ .

V III. D ie p o p u lä r e n D o g m a tik e r u n d die A p o lo g e ­ te n . Leß. Haller's Briefe. Die populären Apologeten Sack, Jerusalem, Spalding n. A. Lessing und Herder

159 - 169.

I n h a l t .

XV Seite

als Theologen. Herder über Vernunft und Offenbarung. Seine anregende W irksam keit....................................

D ritter Abschnitt. I.

170- 179.

Die kritische und rationalistische Theologie.

V o rb e m e rk u n g e n . Anfänge der kritischen Bewegung. Symbolstreit Befreiung von Inspiration und Symbolnor m. D as Gegensätzliche und das Gemeinsame. . .

180- 188.

II. T ö l l n e r als Wolfianer. Sein älteres Lehrsystem und sein späterer kritischer Standpunkt Die Sünde aus natürlicher Entwicklung. Lehre Christi und von Christo'

188- 199.

III.

B a h r d t. Seine Stellung. Seine biblische Dogmatik. Seine Bibel im Volkston. Fehler des blos empirischen P ra g m a tism u s............................................................

199- 206.

IV . T e l l e ; u n d E b e r h a r d . Anlage des TMer'fchen Lehr­ buchs. Teller vom ersten und zweiten Adam. Sein Wörterbuch zum Neuen Testament. Seine Religion der Vollkommneren. Z ur Beurtheilung Teller's. Eberhards Apologie des Sokrates g e w ü r d i g t ...........................

206- 226.

V.

V I.

V II.

G r ü n e r u n d L ö ffle r. Gruner'S Urtheil über den verderblichen Einfluß des Alexaudrinismns. Grüner über T rinität und die Religionsprincipien. Löffler . . .

226- 235.

H euke u n d E ck erm an n . Henke als Historiker und Dogmatiker. Seine Principienlehre. Seine Christologie und Erbsündenlehre sind ganz neologisch. Eckermann's principielle Erörterungen über Vernunft und Offenbarung. Eckermann zur Christologie und Rechtfertigung . . .

235- 256.

U e b e rsic h t d e r R e s u l t a t e u n d e in z e ln e S t r e i t i g ­ k eiten . Umrisse des rationalistischen Systems. Kritische Abzüge von der Christologie. Der religiöse PelagianiSmuS des R ationalism us. Verschiedene Trinitätsansichlen und UrlSperger'S fpeeulative T rinität. Töllner über den thätigen Gehorsam wird von Ernesti, Seiler u. A. be­ stritten. Lebhafte Controverse über die Satisfactiouslehre. Bedeutung d e r s e lb e n .....................................

256- 279.

XVI

Inhalt. Sette

Achtes Buch. D i e D o g m a l i k der philosophischen Schwlen. Erster Abschnitt. D ie Dogmatiker der kritischen Philosophie. I.

D ie P o p u la r p h ilo s o p h ie . Steiubart'S reine Glück­ seligkeitslehre ............................................................

283 - 286.

II. K a n t. Wirkung des Auftretens seiner Philosophie. Kantes.. ReligionSphilofophie. Sünde und- deren Ueber­ windung. Gottesreich und Kirchenglaube nach Kant. Kant über wahren und falschen Religionsglauben. Kritik des Kantischen R eligionSbegrifsS.................. ....

286 - 299.

III.

IV .

D e r e o n s e r v a tiv e K a n t ia n is m u s . Der Kantianer Tieftrunk rechtfertigt, die Wunder. D er moralische Weltzweck nach Tieftrunk. Seine Erklärung der Trinität und Schöpfung. Würdigung des Tieftrunk'schen WdrkS . .

300 - 311.

K r itisc h e K a n tia n e r . I . W. Schmid. Ammon'S wissenschaftlich -practische Theologie. Positives und mo­ ralisches Christenthum nach Ammon. Schmid's und Ammon's dogmatische Erklärungen und ihre drei Glau­ bensworte. Verwirrung unter den Kantianern. Verharrd-. lungen über moralische S c h r iste r k lä r u n g ..................

311—323.

V . A m m o n 's Summa th e o lo g ia e .

Einzelnes daraus

324—330.

V I . D e r G a n g der P h ilo s o p h ie . Jakobi. Fichte-s Wissenschaftslehre und praktische Philosophie. S ein Ein­ fluß auf die Theologen. Sein späterer Standpunkt in seiner Anweisung zum seligen Leben. Kaut'S Lehre durch Fries e r g ä n z t ...........................................................

330 - 343.

V II. E klektische D o g m a tik e r . Stäudlin'S Bedeutung und theologische Bestrebungen. Er betont das Historische und Positive. Stäudlin'S Glaubenslehre. I . E. Chr. Schmidt'erstes von Lessing' beeinflußtes Lehrbuch. Schmidt in sei­ nem zweiten Lehrbuch von Fichte angeregt. Würdigung der Kantischen und Fichte'schen E p o c h e .......................

343—358.

X V II

I n h a l t .

Seile

Zw eiter Abschnitt. I.

D ie specnlative Dogm atik.

S c h e llin g .

Schelling'S N a tn r- und Geistesphilosophie.

Seine Lehre von der Freiheit. ftrnction

des Christenthums.

Im m anenz. D ie

Seine historische ConSchelling'S P rin c ip

Wiederaufnahme

des

Dogma's- durch

S ein Urtheil über die biblischen Schriften. Religionsphilosophie. ligionsphilosophie II.

der

R eligion und Philosophie nach Schelling.

Schellings späteste gnostische Re­

.................................................................... 3 5 9 — 38!).

D a u b u n d S c h w a rz .

D aub's Entwicklung von K ant

zn S chelling, von diesem zu Hegel. Schriften.

Schelling.

W erth seiner

Stufeugang seiner und

Heterodoxie.

S ein Urtheil über die Bekemnnißschriften.

D aub über

R elig'on

D anb

über Orthodoxie

und Offenbarung

unter

D as System der Theologumena.

rationis.

Schelling's

B eurtheilung der Theologumena.

rarische S te llu n g .

E influß.

G ott als principium Ih r e lite ­

D aub vom S a ta n und dessen Werk­

zeug in seinem Judas Ischarioth.

D aub 's spätere S c h rif.

teil, besonders „die dogmatische Theologie jetziger 3 v it" . I h r W erth.

Schwarz's sittlich-religiöse Grundgedanken.

Seine Berührungen m it Schelling. H I-

Anhang. Zahlung

D ie

und

V erhältniß

reform irten

allgemeine

Dogm atiker.

Schilderung

derselben.

A u fD as

S ein B erhältniß zum Luther­

Endemaun und Stosch gegen den R a tio n a lism u s.

Stosch m ildert

die Prädestiuationslehre.

das Zurückbleiben der reform irten Theologie

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

Gründe

fü r

. . . .

Schleiermacher und seine Zeit.

Fortsetzung und Bereicherung der dogmatischen

S tudien. I.

3 8 5 — 421.

von ratio und revelatio und das Funda­

mentale nach S ta p fe r. thum .

Resultat dieser Epoche

V o r b e m e r k u n g e n . Charakter und W erth des 1 9 .J a h r­ hunderts.

Seine Reaction gegen die Schwäche des N a tio ­

nalism us.

D ie hohe Aufgabe der neueren Theologie.

Erstes und zweites S ta d iu m des Jahrhunderts. Harmsische Thesenstreit.

D e r Unionsstreit.

D er

Zunehmende

Gründlichkeit in der exegetischen und kritischen L ite ratu r,

42 1— 434.

X V III

I n h a l t .

Seite

II.

II I .

in der Kirchengeschichte und comparativen Symbolik. Literarische Kritik und Zeitschriften. Die Hahn'sche Disputation. Die Denunciationen gegen Gesenins und Wegscheider................................................................

4 35—451.

D e r g ew ö h n lich e R a t i o n a l i s m u s . Methode des­ selben. Bretschneider als Theologe. Seine Dogmatik und deren Grundsätze, Tugenden und Fehler. Wegscheider's Institutio nach ihrem allgemeinen Charakter. Seine Begründung und Vertheidigung des rationalen Princips. Seine beschränkte Kritik des Uebernatürlichen. Wegschei­ d els Fuudamentalartikel. Controverse zwischen Weg­ scheider und David Schulz über Rechtfertigung. S tre it mit Möhler. R ö h ls kritische Predigerbibtiothek. Austreten Hase'S mit feiner Dogmatik. Angriffe auf Hase'S Hutterus redivivus. Hase gegen den Rationalismus vulgaris. Der A m i r ö h r .........................................

451 -4 7 8 .

Do g ma t i s c h e Ge ge ns ä t z e u n d A n n ä h e r u n g e n . Streitschriften über R ationalism us und S u p ran atu ralis­ mus. Versuche und Möglichkeit der Vermittelung. Augusti ein kirchlich accentuirter und apologetischer Dogmatiker. M arheinekls Grundlehren mit streng kirchlicher Theorie und philosophischer Methode. Sein Verhältniß zu Schleiermacher. Anlage seiner G rund­ lehren. Seine Christologie und Sündenlehre. Hahn's supranaturalistischer Standpunkt. Biblische Dogmatiker. Schott's System. Knapp's dogmatische Vorlesungen. S ten d els Glaubenslehre mit biblisch-apologetischer Ten­ denz. Grundlegung derselben und Steudel's Ansichten im Einzelnen. Kritische Dogmatiker. Tzschirnels und C ram els dogmatische Vorlesungen mit supranaturalem Rationalismus. D as Princip der Dogmatik nach Gra­ mer. Baumgarten-CrusiuS' Einleitung in die Dogmatik und sein Compendium. De Wette's Persönlichkeit, B il­ dungsgang, theologischer Standpunkt und Charakter. De Wette im Anschluß an Fries über Religion und Theologie. Sein Lehrbuch der Dogmatik und deren religionsphilosophische Prolegomena. Dogmatische Urtheile de Wette's. Sein religiöser und kritischer Idealism us und dessen relatives Recht. S ein „Wesen des Glaubens". Folgerungen aus der bisherigen Uebersicht..................

478—526.

I n h a l t .

X IX Seite

Zweiter Abschnitt. Schleiermacher's Glaubenslehre. I. E i n l e i t u n g . Schleiermacher's Persönlichkeit, Lebens, gang, religiöse und theologische Entwicklung. S ein E in­ fluß auf die Theologie. Abfolge und Zusammenhang seiner Schriften. Die Reden über die Religion. Kurze Darstellung des theologischen S tu d iu m s. Literatur über sein Werk „der christliche. G laube". Berührungspunkte mit der älteren Literatur. Einleitung der Glaubenslehre. T ie Aufgabe der Dogmatik nach Schleiermacher. D a s Abhängigkeitsgefühl als G rundprincip der Religion. Kritik der natürlichen Religion und neue G ruppirung der Religionsformen. Die positive Grundlage des Christenthums nach Schleiermacher. S ein Verhältniß zum R ationalism us und S u p ran a tu ralism u s. Kirch­ licher und wissenschaftlicher Charakter der Dogm atik im Unterschied von der Methode des R ationalism us. D er Unionöstandpunkt festgehalten. Schleiermacher's Häresieentafel. Gegensatz der katholischen und protestantischen Frömmigkeit. S e in Schristprincip. D as Alte Testament wird unterschätzt. Schleiermacher's Eintheilung der G laubenslehre......................... ....................................... II .

III.

D e r G l a u b e n s l e h r e e r s te r T h e i l . Allgemeines und leitende Gedanken. Die Gottesbeweise als philoso­ phische Elemente aus der Dogmatik entfernt. D ie reli­ giöse Bedeutung der Schöpfung aus Nichts. Schleier­ macher's Erhaltungslehre. O b ein Bedürfniß des abso­ luten W unders? Göttliche Eigenschaften der ersten Reihe. Kanon der göttlichen Ursächlichkeit. Schleiermacher's Theodicee oder die gute W elt. Ursprüngliche Voll­ kommenheit der W elt und des Menschen. Schleiermacher's Kritik der Lehre vom S a ta n . D ie Entbehrlichkeit der Vorsehungsidee nach Schleiermacher. Derselbe als P a n ­ theist angeklagt................................................................ D e r G l a u b e n s l e h r e z w e ite r T h e i l . V erhältniß desselben zum ersten. Schleiermacher's Sinnlichkeitstheorie in der Sündenlehre. Verbesserung der Erbjündeulehre. S ü nde und Uebel im Zusam m enhang. O b die S ünde von G ott geordnet? D eterm inirte oder nicht determinirte Freiheit. Herleitung und G rundsinn der Christologie Schleiermacher's. Ausnahme der Lehre von den beiden N aturen und die christologischen Folgesätze. Schleiermacher

5 2 7 — 558.

558 -5 8 2 .

Inhalt.

XX

Seite

über Christi Sündlostgkeit und Auferstehung. Wahrheit der Christologie Schleiermacher's.

G ru nd-

Einige A u s­

stellungen gegen dieselbe. Grundgedanken Schleiermacher's über das Geschäft Christi.

Gemeinschaft m it Christo als

M itte lpunkt des Systems.

B erührung m it dem P ie tis ­

m us.

D ie Aemterlehre bleibt stehen. Genugthuung und

S tellvertretung im

V erhältniß.

Starke Betonung des

Christus in uns. Vereinfachung der Heilsordnung. W ieder­ geburt als Bekehrung und Rechtfertigung.

Vergleichung

der Schleiermacher'schen D ogm atik m it seiner Ethik.

A b­

riß seiner Lehre von der Kirche und ihre Vorzüge. Schleier­ macher als Vertheidiger der Calvinischen Erwählungßlehre. Seine Lehre vom Gebet und dessen Erhörung. Unionsstandpunkt

m

der

Sacramentslehre.

macher's Verhältniß zum TriuitätSdogm a.

S e in

Schleier­ K ritik dieser

L e h re ........................................................................................... Schluß.

W ürdigung

Schleiermacher's. unionistische

Theologie

und

D ogm atik

Seine kirchliche, wissenschaftliche und

S te llu n g .

macher's Glaubenslehre. an Schleiermacher.

der

5 8 2 -6 4 9 .

Schlnßthesen

über

Schleier­

Polemik gegen und Anschluß

Seine allseitige E inw irkung.

Schluß

des W erkes.................................................................................

649— 657.

Siebentes Buch.

Die Aufklärung und der Rattonalismus.

Einleitung. 2 ) er dritte Band dieses Werks hat eine Reihe von Verände­ rungen des religiösen Geistes und wissenschaftlichen Studium s vor­ geführt, welche den Eintritt einer kritischen Umgestaltung der Theologie in Aussicht stellen, er enthält also schon eine Vorbereitung auf die folgende Darstellung, die sich mit der Ausbildung und Bekämpfung des R a t i o n a l i s m u s zunächst bis zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts und hauptsächlich innerhalb des dogmatischen Gebiets zu beschäftigen haben wird. D er Geist der UebergangStheologie macht sie selber zu einer Art von Einleitung, daher auch der ihr gegebene Name einer Vorgeschichte des Rationalism us'); allein dieser Um­ stand genügt doch nicht, um die Epoche, welcher wir entgegengehen, und deren Tendenz und Ergebniß zu erklären, noch überhebt er u«S der Pflicht, auch diesmal einige einleitende Erörterungen an die Spitze zu stellen theils über den allgemeinen historischen und litera­ rischen Charakter der nächsten Folgezeit, theils über die tieferen Gründe und Zusammenhänge der Bewegung sowie endlich über unsere Stellung zur Aufgabe. Zunächst ist es der Rückblick auf die bisherigen Entwicklungs­ stufen der protestantischen Theologie, welcher dem Historiker eine wichtige Beobachtung aufdrängt. S eit der Reformation war die Theologie durch die großen Stadien des Dogmatismus, Synkretismus •) Mit diesem Abschnitt beschäftigt sich der inzwischen erschienene erste Theil von Tholmk'S Geschichte de- Rationalismus, Abth. I, Berl. 1865. 1*

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Siebentes Buch.

Einleitung.

und Pietism us hindurchgegangen, und diese Richtungen hatten sich, wenn auch in sehr gemäßigten Verhältnissen, noch auf das letzte Zeitalter des Uebergangs übertragen. W ährend der genannten Epochen befanden sich Kirche und Theologie in lebendiger Wechselbeziehung; die letztere verfolgte diejenige Tendenz, welche ihr von der öffent­ lichen und rechtlichen Stellung der Kirche zugewiesen oder durch den Zustand und das Bedürfniß der christlichen Gemeinschaft empfohlen war. E s w ar der Wille der Confessionen, dem die Theologie deö Dogm atism us diente, es waren Bedürfnisse der praktischen Fröm ­ migkeit und des kirchlichen Gemeingeistes, welchen die Pietistische Lehrweise einen eigenthümlichen Ausdruck lieh. Von den Anführern deS Synkretism us wurde allerdings die theologische Wissenschaft selbständiger gefaßt und behauptet, daß sie noch eine andere B e­ stimmung habe, als die ihr von den Forderungen des Bekenntnisses und der Kirchenleitung unmittelbar auferlegte; im Ganzen blieb aber doch die Abhängigkeit von den rechtlichen und praktischen Kirchen­ zwecken vorherrschend. M it dem R ationalism us verhält es sich anders. Derselbe ging nicht von der Kirche im engeren S inne a u s, noch w ar er d ir e c t gegen sie gerichtet. Aus der bloßen Zurückziehung vom kirchlichen Leben folgt der Rationalism us noch nicht, sowie auch nicht jedes kirchliche Streben den Antirationalism us in sich schließt. E r ist nicht eine speciell kirchliche, sondern eine überwiegend w isse n ­ sch aftlich e Erscheinung und in dieser Beziehung vorzugsweise von p ro te s ta n tis c h e r Herkunft und Bedeutung. D a nämlich im P ro ­ testantismus Beides verbunden ist, Glaube und Forschung, Fröm ­ migkeit und Erkenntniß, religiöse Hingebung und wissenschaftliche Selbstthätigkeit: so können sich diese Factoren gegenseitig verdrängen, überholen und ablösen. Jetzt also kamen die Bestrebungen der zweiten A rt in greller Einseitigkeit zum Vorschein, während der allgemeine protestantische Geistesberuf als erklärender Hintergrund stehen blieb. W ird daher die folgende Epoche an die der streng confessionellen Kirchlichkeit herangerückt: so ergiebt sich ein vollständiger Bruch; wird sie mit dem ersten Aufschwung der Reformation verglichen: so zeigen sich Verbindungslinien, weil in diesem der Geist des Protestan­ tism us in größerer Breite offenbar wurde.

Historische Stellung des Rationalismus. Ic h

w eiß , daß ich d a m it

leicht anfechtbare

5 Sätze

hinstelle.

Niem and leugnet, daß während der Herrschaft des R a tio n a lis m u s und unter dessen E in fluß der kirchliche S in n erschlaffte und die christ­ lichen E rfahrungen zurücktraten.

D e r Schluß lie g t also sehr nahe,

daß sein Wesen überhaupt in der Unkirchlichkeit laffen

von demjenigen bestehe,

bisher zusammengehalten hatte.

was

und in dem A b -

die evangelische Gemeinschaft

Und weiter w ird gefolgert, protestan­

tisch könne man ihn darum nicht nennen,

w eil er ja auch in der

andern katholischen H ä lfte der Christenheit V erbreitung gefunden, ja theilweise aus dieser in die evangelische übergegangen fe i; es bleibe also nichts ü b rig , als seine Q uelle außerhalb des Christlichen und Kirchlichen in der W e lt und weltlichen oder humanistischen D e nka rt zu suchen.

A lle in diese Auffassung bleibt bei der Außenseite stehen,

sie bezeichnet die Schwäche, nicht die tiefere Aufgabe des R a tio n a ­ lis m u s .

D e n n bedeutend ist dieser doch erst durch die m it ihm ver­

bundene wissenschaftliche Thätigkeit geworden und durch die B e ru fu n g auf ein christlich protestantisches G rundrecht, welches von ih m über die bisherigen Grenzen in Anwendung

gebracht w urde;

in dieser

protestantisch-wissenschaftlichen Richtung ist er zwar nicht vollständig, — denn in diesem F alle würde unsere Untersuchung gar keine Schw ie­ rigkeiten haben, — w ohl aber seiner besseren H ä lfte nach enthalten. D ie Gegensätze von Kirche und W e lt, Christenthum und H u m a n is­ mus reichen zur E rklä run g nicht aus, sondern es ist nöthig, a u f das christliche P rin c ip selber einzugehen, wie dasselbe nach protestantischen Grundsätzen angeeignet und m it der allgemeinen Wissenschaft vera r­ beitet werden soll.

Kirche und Wissenschaft sind verschiedene, nicht

entgegengesetzte Größen, R elig io n und Glaube liegen zwischen ihnen, sie bilden den Boden und das B a n v der einen, beit S t o f f und Ge­ genstand der andern.

Auch ist zwar der R a tio n a lism u s

in beiden

T heile n der abendländischen Kirche aufgetreten, aber während er in der katholischen n u r wucherte, hat er in der andern eine bedeutende und dauernde W irksamkeit gewonnen. Bew eis genug daß sein V e rb ä ltn iß zu den. beiden Hauptgestaltungen des christlichen Lebens ein sehr verschiedenes w a r. „ D e r Protestantism us ist seiner N a tu r nach m it der Wissenschaft verw andt," „de r R a tio n a lism u s ist ein über-

6

Siebentes Buch. Einleitung.

triebener Protestantismus;" Beides sind Aussprüche bekannter Theo­ logen, und sie hängen so mit einander zusammen, daß der zweite seine Erklärung im ersten sucht. D er weite Name Protestantismus umfaßt alle Lebensbedingungen einer großen Glaubens- und Geistesgemeinschaft, die auf das Evan­ gelium gegründet, aber von menschlicher Satzung und Auctorität frei sein will. E r hat einen bestimmten religiösen Gehalt empfangen und pflanjt ihn fort, aber er besitzt auch die Vollmacht, ihn auf's Neue erst zu finden oder den gefundenen zu berichtigen. D as ihm zuer­ kannte Recht freier Schrift- und Geschichtsforschung ist als solches unbegrenzt. Wird nun der letztere Trieb von dem andern traditio­ nellen lange Zeit niedergehalten: so setzt sich der faktische Glaubens­ inhalt Untersuchungen aus, welche aus dem progressiven und erkenntnißmäßigen Beruf herstammen. Dergleichen kritische Revisionen des kirchlich anerkannten Lehrshstems und seiner Voraussetzungen hatten in keinem Zeitalter ganz gefehlt, diesmal aber, nachdem die Kirche so lange Zeit der erclusiven Gültigkeit ihrer Satzung sich überlassen hatte, nahmen sie die weiteste Ausdehnung und einen destructiven Cha­ rakter an. D er Rationalismus ist die durchgreifendste, durch die allge­ meine Anlage des Protestantismus herbeigeführte k ritisch e A u s ­ ein an dersetzung über das in diesem überlieferte Glaubensshstem und dessen Grundlagen. D am it ist aber nur seine allgemeine historische Stellung und Veranlassung bezeichnet, und diese wird klarer, wenn wir uns auf dem seit der M itte des vorigen Jahrhunderts eröff­ neten Schauplatz des deutschen Lebens genauer orientiren. DaS nächste Zeitalter heißt das der A u f k l ä r u n g und T o ­ l e r a n z , aber auch das der klassischen Literatur und deutschen P hi­ losophie, es ist von großer culturhistorischer Bedeutung, indem es auf dem Boden der Denkfreiheit neue Bildungskräfte in das deutsche Leben einführt. „Die Religionen," sagt F ri e drich der G r o ß e in der berühmten Verordnung von 1740, „müssen alle totertret werden, und muß der Fiscal nur das Auge darauf haben, daß keine der andern Abbruch thue, denn hier muß ein Jeder nach seiner Favon selig werden. D er Glaube und der innere Gottes­ dienst sind kein Gegenstand von Zwangsgesetzen. Jeder Einwohner

Friedrich'- des Großen Regierungsmarimen.

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soll eine vollkommne Glaubens- und Religionsfreiheit genießen. Keiner ist schuldig, dem S ta a t von seinen Privatmeinungen in Re­ ligionssachen Rechenschaft zu geben oder Vorschriften vom S ta a t darüber anzunehmen. Jeder Hausvater kann seinen HauSgotteSdienst nach Gutfinden anordnen." M it diesen Grundsätzen wurde die be­ stehende Freiheit der Kirchen von Staatswegen auf das ganze Ge­ biet persönlicher Ueberzeugungen im weitesten Umfange ausgedehnt. D as Princip selber ist von jeher und mit Recht von der persön­ lichen Denkart F rie d ric h 's und dem Einfluß seiner Umgebung unter­ schieden worden. Er selbst, der königliche Denker, war von dem Studium der Wölfischen Metaphysik ausgegangen, vertauschte aber diese mit einem Voltairischen Deismus und dachte über Seele und Unsterblichkeit materialistischer als selbst V o lta ir e ; während er die Sittenlehre der Bergpredigt bewunderte, wandte er sich mit größter Geringschätzung von allen positiven Glaubensangelegenheiten ab '). Für seine Frivolität ist ihm die evangelische Kirche keinen Dank schuldig geworden, desto mehr aber für die großartige Handhabung seiner Regierungsmaximen, deren auch sie bedurfte. Katholische Länder waren für diese neue Staatsordnung nicht reif, erstrebten sie aber doch unter großen Erschütterungen der katholischen Kirchenherr­ schast- Zwar scheiterte die Emser Punctation von 1786 wie der größere Theil der Reformen J o s e p h 's II. Die Jesuiten waren 1773 gefallen und wurden erst 1814 hergestellt, nachdem sie in der Zwischen zeit mit einem verborgenen Dasein auch eine schleichende Wirksamkeit fortgesetzt hatten. D as Papstthum überstand theils durch Weisheit, theils durch kluge Standhaftigkeit die ihm drobenden Gefahren, so­ gar die größten der französischen Revolution und der Napole'onischeu Herrschaft. Aber die katholische Kirche, welche mit der Reductiou der Klöster und dem Untergang der geistlichen Fürstenthümer noch viele andere Verluste hinnehmen und in Deutschland die Entstehung und Wirksamkeit einer wissenschaftlich veredelten und dem Ultramon­ tanismus widerstrebenden Theologie ertragen mußte, war damals zu sehr auf Vertheidigung angewiesen, um dem Protestantismus den alten aggressiven Geist entgegenzusetzen, daher das völlige Ende der *) Hettner, Geschichte der deutsche» L iteratur im 18. Ja h rh . I I , erste- Capitel.

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Siebentes Buch.

Einleitung.

Verfolgungen. Nur in der Pfalz dauerten die Bedrückungen fort bis zum Tode K arl T h e o d o r's (1799); aber J o s e p h II. hatte in dem Edict von 1781 Confessionsfreiheit bewilligt, und in Bayern wurde von M a x im ilia n J o s e p h die Duldung der Protestanten zum Landesgesetz erhoben, ohne daß jedoch eine wirkliche Gleichstellung protestantischer Einwohner innerhalb des katholischen Deutschlands schon erreicht worden wäre. DaS Gesetz der Zeit drang durch, es war aber nur die signatura temporis, die Lebensform und Bedingung für das Gedeihen anderer positiver Geislesgüter. Die Eröffnung des griechischen Alter­ thums, die Emporbildung der deutschen Prosa und Poesie, die E r­ hebung der deutschen Literatur zur Weltliteratur verliehen dem Geiste der Nation einen neuen Aufschwung, den F rie d rich der G r o ß e weder erwartet hatte, noch zu würdigen verstand. Aus der Blüthe der Nationalliteratur verbunden mit erweiterter Kenntniß der Welt und deS Völkerlebens entwickelte sich ein klassisch-deutscher Humanismus, zwar dem älteren verwandt, aber weit gehaltvoller als dieser. Die „schönen Wissenschaften" sollten kein bloßer Schmuck des Lebens bleiben, sondern nahmen eine höhere Stellung ein. Dem Dichter bleibt seine Heimath unverloren, auch wenn die Welt schon wegge­ geben ist, er versteht die Kunst sich über die Schwere des Daseins zu erheben, und wer da leben gelernt hat, wo die reinen Formen wohnen, dem wird verheißen, daß er mit den Urbildern der Schön­ heit zugleich die des Guten und die Wahrheit selber ergreifen und besitzen werde. Wir glauben nicht, daß sich diese Aussicht erfüllt hat, aber sie wirkte doch veredelnd und erweiternd auf den Geist, und der in ihr enthaltene Irrth u m war schwer vermeidlich in einer Zeit, wo es darauf ankam, ein neues und von nun an unentbehr­ liches Element in den Begriff der höheren Bildung und Gesittung aufzunehmen. Bei allen diesen geistigen Erwerbungen kam die kirch­ liche Glaubensgemeinschaft gar nicht mehr und von der Religion nur das Allgemeinste in Betracht; das Verhältniß zu ihr ward gänz­ lich dem Einzelnen anheimgestellt, und die Mehrheit war darin ein­ verstanden, daß die persönliche Schätzung nicht mehr von Ansichten, sondern lediglich von Tugend und Verdienst des Einzelnen abhängig

D er M angel an kirchlichem Interesse.

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gemacht werden dürfe. Nimmt man Alles zusammen und erkennt man namentlich die Culturaufgabe, welche die meisten productiven Köpfe vereinigte, als eine nicht bloß negative sondern zugleich als eine schöpferisch bildende und selbständige a n : so darf man sich nicht wundern, daß sie auf die öffentliche Theilnahme an den kirchlichen Angelegenheiten lähmend und gleichsam suspendirend gewirkt hat; zu verwundern wäre eher, daß diese nicht noch mehr in Verfall ge­ kommen sind. D ie protestantischen Kirchen empfingen wie bisher den Schutz des Gesetzes; Verfassung, äußerer Bestand und Cultus blieben meist ungeändert. D ie Predigt sank eine Weile auf den Standpunkt der Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse herab. D ie Veränderung der Kirchenlieder begann mit Klopstock und führte nach und nach zu einer V e rw ä s s e ru n g , welche den Beweis lieferte, daß von Kunst und Geschmack der deutschen Klassiker auf die kirchliche Lyrik nichts übergehen sollte. D er geistliche S tan d verlor einen großen Theil seines öffentlichen Ansehens. Z w ar wirkte die fromme S itte noch fort, aber religiöse Gemüthskraft und P ietät waren gewichen, durch Verordnungen wie das Wöllnerische Religionsedict und durch gebieterische Wiedereinschärfung der symbolischen Lehren konnten sie unmöglich zurückgeführt werden. D ie Z ahl der Apostaten zur Römischen Kirche war gering, und diese Wenigen waren kein Opfer eines kirchlichen Parteieifers. Auch die Sectengeschichte hat nach der Verbreitung der Swedenborgianer keine namhaften E r­ scheinungen aufzuweisen. Kleinere Verbrüderungen dienten entweder dem Unglauben wie die Jllum inaten und Theophilanthropen, oder dem Glauben wie die von U rls p e rg e r zu Basel 1779 gestiftete Christenthumsgesellschaft, oder sie gingen aus älteren Gemeinschaften hervor wie die zahlreichen Regungen des M ethodism us; erst daS folgende Jah rhu nd ert läßt mit dem kirchlichen Triebe auch den der kirchlichen Absonderung wieder stärker hervortreten. I n den großen Körperschaften also circulirte damals wenig Geist und lebendige Frömmigkeit, dagegen fanden diese eine Freistätte in einzelnen socialen Kreisen und ausgezeichneten Persönlichkeiten; denn das Recht und die K raft persönlicher Gesinnung w ar schon in der vorigen Periode

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Siebentes Buch.

Einleitung.

gewachsen und fand auch in der jetzigen eine höchst bedeutende D a r ­ stellung.

M ä n n e r wie C l a u d i u s ,

K lo p s to c k ,

H am ann,

La-

v a t e r , I . I . M o s e r , denen sich später P e r t h e s u. A . anreihen, haben das biblische Christenthum geistvoller und m an nigfaltig er rep rä sen tirt a ls die gelehrten Theologen der strengeren R ichtung, sie wurden nicht durch kleinliche P arte iun g sondern durch freie N eigung und Wahlanziehung verbunden und gehörten der N a tio n und der aufstrebenden

Geistesbildung

m it

vollem Herzen

an.

Ueberhaupt

aber giebt es in dieser Z e it nichts Schöneres und Anziehenderes als das B ün dn iß congenialer Menschen, welche, wenn auch vielfach durch M einungen und Standpunkte getrennt, doch in

einem beständigen

Austausch m it einander blieben. W aS also in der

Kirche Ueberlieferung und Gemeingeist ist,

dem wurden n u r K räfte entzogen, es hatte kein V e rh ä ltn iß zu den Bestrebungen der Z e it; desto mehr dasjenige, was freie Wisienschaft, K r itik und Forschung is t, denn dieses konnte und mußte von dem D ra n g des aufklärenden P rin c ip s ergriffen werden. hatte die stärksten G ründe,

sich

den Schranken

D ie Theologie

einer vieljährigen

T ra d itio n zu entreißen, m it kühn vordringendem U rth e il überließ sie sich einer

rücksichtslos

prüfenden T hätigkeit.

Daß

der

christliche

G laube einer gereinigten D a rste llu ng bedürfe, erkannten A lle , auch die conservative P arte i verzichtete aus verbrauchte Form eln und u n ­ taugliche B ew eism itte l, die kritische aber wurde von der modernen D e n ka rt eine Z e itla n g dergestalt fortgezogen, daß A lles, was in dieser lag, auch theologisch irgend wie zum Ausdruck gelangte. ging dabei von keiner klugen Ü b erle gu ng aus, R a tio n a lis m u s

brachten bekanntlich kein P rog ram m

w urden durch den D ra n g R esultat in

die

Aber sie

A nfänger des m it ,

sondern

ih re r S tu d ie n fortgetrieben, ohne deren

bestimmtem Umfange vorauszusehen, wodurch sich die

ganze Bewegung weit über die W illk ü r eines menschlichen Vorhabens erhebt.

Und ferner brachte schon die

wissenschaftliche M üh e und

die S prödigkeit des S toffe s eine heilsame Beschränkung m it.

D ie

Freigeisterei w a r maaßlos und unbekümmert um alle gelehrten Schwie­ rigkeiten, der R a tion alism us wurde durch sein M a te ria l begrenzt, er blieb angeregt und arbeitsam, und niem als konnte er von einem

Wachsende Selbständigkeit de« deutschen Geistes.

11

christlichen Wollen scheiden, widrigenfalls er auch seines ganzen theologischen Handwerks hätte überdrüssig werden müssen. W ar er daher der Tendenz nach ein Product der Aufklärung: so muß er doch auch als deren Gegner angesehen werden, da er die M ittel in der Hand behielt, den seichten Absprechereien eine ernste und schwie­ rige Arbeit zur Seite zu stellen. Für die deutsche Theologie kam noch ein anderer Umstand hinzu, welcher die Wichtigkeit der folgen­ den Epoche erhöhte. Die deutsche Literatur befand sich um die Mitte des Jahrhunderts in beschämender Abhängigkeit vom Aus­ lande. Mag auch der Einfluß V o lta ir e 's sowie der französischen Encyklopädisten und Materialisten wenigstens in religiöser Beziehung kein durchgreifender gewesen sein: so sind doch die Schriften der Engländer niemals mit solchem Eifer gelesen worden. Die M ei­ nungen der Freidenker wurden in den Bibliotheken von T horschm id und T r i n i u s und in ähnlichen Werken von Jö c h e r, C. Löwe, Lem ker gesammelt, und alle Zeitschriften sind voll von Anzeigen deutscher Bearbeitungen der kritischen oder apologetischen Schriften eines W a r b u r to n , S ta c k h o u se , B u r n e t, B e n so n , M ackn ig h t, L a rd n e r, B a te s , C la rk e , B u tle r , K id d el u. v. A. S p a l d in g , Sack, J e ru s a le m haben selbst eingestanden, daß die deistische Literatur von großem Einfluß auf ihre Jugendbildung ge­ wesen sei. Eine Abhängigkeit war also jedenfalls vorhanden, so wie ja auch andererseits die Schriften der Socinianer jetzt mit ganz andern Augen gelesen wurden als früher. Aber aus dem Fremden und Empfangenen wurde auf dem heimischen Boden etwas Anderes und Besseres. Die deutsche Kritik, schon weil sie stetig und zusam­ menhängend arbeitete, übertraf die der Engländer sehr bald, die deutsche Apologetik stand der andern nicht nach, und die deutsche Philosophie nahm durch K a n t einen Aufschwung, welchem die eng­ lische nicht mehr folgen konnte. Ein halbes Jahrhundert genügte, um jener Anglomanie ein Ende zu machen; das jüngere Geschlecht verhielt sich im Gegentheil allzu unbekümmert, so daß man zwar dem englischen Kirchenthum einige Aufmerksamkeit schenkte, übrigens aber ruhig abwartete, ob die Engländer umgekehrt von u n se ren wisienschaftlichen Angelegenheiten Kenntniß nehmen würden. Daß

Siebentes Buch,

12

Einleitung.

überhaupt die deutsche Wissenschaft nach ihren höheren Problemen anderen überlegen sei, ist eine Behauptung, die v o r hundert Ja h re n noch g a r nicht gewagt werden konnte; wenn sie gegenwärtig erlaubt ist: so ha t auch die Theologie an der Erhebung des deutschen Geistes zur Selbständigkeit einen nicht geringen A n th e il.

B is jetzt ist soviel

erwiesen, daß allerdings der Theologie die stärkste Veranlassung ge­ geben w a r, durch ein an sich selbst und ihren Angelegenheiten aus­ zuübendes kritisches Verfahren in die befreiende Tendenz des J a h r­ hunderts einzutreten. D ie bevorstehende Um wälzung ha t in der A r t des literarischen Verkehrs und in dem V e rh ä ltn iß der S chriftsteller zur öffentlichen M e in u n g noch einige Veränderungen hervorgebracht, die w ir nicht übersehen dürfen.

In

alter Weise konnte man

über Glaubensfragen zu streiten.

nicht fortfahren,

D ie T o le r a n z

hat sich leider

nicht im m er m it Ernst und Liebe, den schönen deutschen Eigenschaf­ ten, verbündet, sondern oft genug auch a ls selbstgefällige und hochm üthige In to le ra n z gewirkt; doch w a r sie einem Z e ita lte r unent­ behrlich, das sich unter so harten Widersprüchen und während einer schmerzlichen Zerreißung geheiligter Bande entwickeln sollte.

D ie

Verhältnisse kehrten sich um , die Neuerer und Heterodoxen, bisher die Gerichteten, wurden jetzt die Richter und führten eine herrische Sprache, wurden aber doch wie ihre Gegner unter die N o rm gegen­ seitiger Schonung gestellt.

Einige

dogmatische Verhandlungen, wie

die über den thätigen Gehorsam C hristi, sind von beiden S eiten m it ebenso vie l Ruhe als G ründlichkeit geführt worden. Gegensätze störten das persönliche V ertrauen R e in h a r d und H e n k e lebten in

nicht,

Theologische M änner

ungetrübter Freundschaft.

wie W ie

gleichgültig erscheinen die S u b tilitä te n der K ryp tike r und Kenotiker verglichen m it den jetzigen Controversen, welche weiter griffen als weiland die zwischen den S ociniane rn und daraus geworden

Kirchlichen! W as würde

sein, wenn m it der Ausdehnung des S tre itig e n

auch der polemische E ife r hätte gleichmäßig wachsen sollen!

Auch

w a r die Menge des Neuen und A uffälligen so groß, daß schon da­ durch die Leidenschaft der Bestreitung und V ertheidigung abgekühlt werden m uß te; A lles sollte zur allgemeinen Kenntniß gebracht werden,

13

Toleranz-Deränderungen im liier. Verkehr.

nicht m it flüchtigen Notizen nach A r t der „Unschuldigen Nachrichten" sondern in eingehender B eurtheilung.

Nichts w a r also natürlicher

als der Uebergang der alten Polemik zu der H a ltu n g der R e c e n ­ s io n e n , welche mehr geschäftsmäßig vieler einfließenden Bitterkeiten —

betrieben

wurden

und

trotz

denn die Feder verschärft sich,

wo sie die einzige W affe ist — sich doch im Ganzen zu einem ge­ lassenen Tone bequemten; sie traten zum T h e il an die S te lle der S tre itsch rifte n und wurden zu einem der wirksamsten Bestandtheile der L ite ra tu r.

Auch allgemeine kritische Zeitschriften widmeten der

Theologie eine stetige Aufmerksamkeit, wodurch deren Aufnahme in den

Gesammtkreis der

Wissenschaften

sichtlich

dargestellt

wurde.

D urch Recensionen und K ritike n wurde also der G ang der Theologie und die S te llu n g der ih n bestimmenden Persönlichkeiten m it G e­ nauigkeit verfolgt; allein

sie konnten nicht A lles leisten, zumal in

einer Z e it der Umwälzung, wo Jeder auf sich selbst und seine E n t­ scheidung hingewiesen

w a r.

D ie

Menge ließ sich

fortziehen,

die

Selbständigen und Vordringenden empfanden leicht die N öthigung, sich selbst eine Rechenschaft abzulegen, welche amtlich nicht mehr ge­ fordert w ard.

E s ist von großer W ichtigkeit, daß die ganze W en­

dung, von welcher w ir handeln werden, sich innerhalb E in e s M e n ­ s c h e n a lte r s vollzogen hat, also ihrem allgemeinen Charakter und Ausgang nach von denen erlebt w u rde , welche schon an deren A n ­ fängen

thätigen

A n th e il

genommen

hatten.

Welche Wechsel der

Tendenz und des U rth e ils und der ganzen wissenschaftlichen A rb e it lagen also hier dicht neben einander, wie sehr waren die Leiter der Bewegung genöthigt, au f diese Uebergänge zurückzusehen und sie in der Reihenfolge der eigenen S tu d ie n und schaftlichen E rfahrungen nachzuweisen!

religiösen

oder

wissen­

B o r Zeiten durfte Jeder n u r

das Kirchliche und Gemeinsame bekennen, jetzt auch sich selbst im V e rh ä ltn iß zu diesem.

D a ra u s erklärt sich, daß die nächste L ite ra tu r

ziemlich viele Selbstbiographieen und Geständnisse darbietet, wie die von

S e m le r ,

M ic h a e lis ,

B a h rd t,

N ic o la i,

R e in h a r d ,

A . F . W . S a c k , S p a l d i n g ; eS sind, wenn auch durch B a h r d t ' s B e itra g befleckt, doch Rechtfertigungen und Zeugnisse des GewiffenS, bei denen Niem and ohne Nachdenken und P ie tä t

verweilen w ird .

14

Siebentes Buch-

Einleitung.

N ur S ch leierm ach er hat keine Konfessionen hinterlassen als welche seinen eigenen Werken einverleibt sind. Nach diesen Vorbereitungen werden sich zwei Fragen beantworten lassen: ob der Rationalismus a l t oder neu fei, und ob er im ge­ genwärtigen Zeitpunkte mehr als a u s der Theologie hervorgegangen oder in sie eingedrungen betrachtet werden müsse. Die erste Frage scheint schon durch die Rüge der N e v lv g ie beantwortet; die kritische Theologie brach mit der kirchlichen Ueberlieferung, dem alten und reformatorischen Bekenntniß, wie hätte sie also nicht den Eindruck des Neuen und Unerhörten machen sollen! Etwas später aber, als man ruhiger geworden war und die kritischen Ansichten und Grund­ sätze mit älteren Analogieen in Vergleich zu stellen gelernt hatte, lautete das Urtheil ganz entgegengesetzt'): der Rationalismus ist so wenig neu, daß er vielmehr durch die ganze Geschichte der Religion und der Lehrmethode hindurchgeht, ja er kann nirgends gänzlich fehlen, weil das Christenthum selber einen Geist des Denkens, P rü ­ fens und Strebens nach Wahrheit und gegründeter Ueberzeugung sowie der Freiheit von willkürlichen Lehren und Satzungen in sich träg t'). E s war nicht schwierig, dies historisch zu erläutern. Schon im kirchlichen Alterthum, sobald sich eine Theologie im engeren S in n gebildet hatte, gab sie sich auch einen denkenden und erkenntnißmäßigen Beruf und knüpfte an die Pflicht des Glaubens auch ein Recht ver­ nünftiger Aneignung; dies geschah von den Alexandrinern, von O ri» g en es und A ugustin. Will man die Scholastiker auch nur als ra­ tionale Methodiker gelten lassen, welche für die Satzungen der Kirche faßliche Gründe und Demonstrationen suchten: so gab es unter ihnen auch Solche genug, die sich bei ihrem Geschäft einen mehr als for­ malen Zweifel erlaubten. Ein kritischer Rationalismus war also auch unter ihnen vertreten'). D er Geist der Reformatoren war ') Ein umgekehrtes Verhältniß bemerken wir bei der Reformation; sie selbst erklärte nur das Alte und Ursprüngliche zu wollen, bis nachmals auch in ihr eine eigenthümliche Neuheit erkannt worden ist. $) Ständlin, Geschichte des Rationalismus, Gött. 1826, S . 1—8. s) Nicolaus EnsanuS nennt die Anhänger der Aristotelischen Methode theologi rationales und versteht darunter Solche, welche die Verstandesregeln derge­ stalt handhabm, daß sie das Göttliche nach verneinenden und bejahendm Aussagen

Ist der Rationalismus alt oder neu?

15

durchaus gläubig und hingebend nach Innen und im biblischen S inn, kritisch nur nach Außen gegen Tradition und Hierarchie. Ih rer religiösen und wissenschaftlichen Bildung nach waren ja die Refor­ matoren einander sehr ungleich und näherten sich der Eine der ra­ tionalen, der Andere der supranaturalen Auffassung des Glaubens; allein diese Ungleichheit erscheint wohl in ihnen als Differenz der Ansicht, aber nirgends als durchgeführter Gegensatz. Denn zu einer wissenschaftlichen Abwägung und Abgrenzung dessen, was dem Evan­ gelium gegenüber Vernunfthätigkeit sei, konnte cs nicht kommen, weil sich T h a te n wie die Reformation überhaupt nicht spalten und zer­ legen lassen, indem sie ausgeführt werden. Erst die spätere Reflexion versuchte eine Feststellung, und daraus erklärt sich, warum die streng­ gläubigen Nachfolger, die doch innerlich gebundener waren, th e o re ­ tisch weiter gingen als die Reformatoren. Ein D a n ie l H o f f m a n n in Helmstädt wollte allen Gebrauch der Vernunft und Philosophie in Glaubenssachen verpönen, das hätte ihm L u t h e r vielleicht hin­ gehen lassen, den Zeitgenossen erschien eS barock und unausführbar, und G e r h a r d und M u s ä u S haben die Forderungen einer wissen­ schaftlichen Gestaltung besonnen ausgesprochen **). Es ist früher ge­ zeigt worden, wie in der Cartesianischen und Wölfischen Schule die kritischen Neigungen entstehen und wachsen und das Rationale dem Biblischen selbständiger zur Seite tritt'); in principieller Beziehung also zeigt sich eine allmähliche Fortschreitung. Denkt man aber an den Lehrinhalt: so braucht man nur mit den Ebioniten zu beginnen und mit den Socinianern und Arminianern zu endigen, um auf diesem Wege den nachher im Rationalismus vereinigten Ansichten oder ähnlichen zu begegnen. Wie die Gestalten des Mysticismus: so gehen auch die Bestandtheile des Rationalismus durch alle I a h runb durch Unterscheidung des Entgegengesetzten beurtheilen. Cum de Deo nos homines rationales loquimur, regulis rationis Deum subjicimus, ut alia de Deo affirmemus, alia negemus et opposita contradictoria disjunctive applicemus. Et haec est paene omnium theologorum recentiorum v ia , qui de Deo rationabiliter loquuntur. De conject. 1 ,10. Weiße, philos. Dogmatik, I , S . 227. *) Ueber den Hoffmann'schen Streit und Werdenhagen's Angriffe gegen die Rationisten und Ratiocinisten s. Senke, G. Calixt, Bd.I, S . 248.49. s) M . Geschichte d. D. II, S . 229.30. III, S . 164 ff.

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Siebente» Buch. Einleitung.

Hunderte der Kirche und zumal der protestantischen hindurch, doch aber mit großem Unterschied. DaS Princip, wie gesagt, läßt sich gradweise in aller Theologie nachweisen, soweit sich dieselbe einen wissenschaftlichen Charakter wahren will, und durch die Reformation empfing es in dem Rechte der Selbstüberzeugung Und der Prüfung aller traditionellen Annahmen einen bestimmteren Anknüpfungspunkt. Von den Resultaten und Behauptungen aber muß gesagt werden, daß sie sich bis dahin nur in heterodoxer Stellung und außerhalb des kirchlichen Consensus hatten halten können. Jetzt aber fanden sie im Inneren der Kirchengemeinschaft Anerkennung und Verbrei­ tung, die kritische Theologie des achtzehnten Jahrhunderts gab ihnen Zusammenhang und Begründung, verband mit ihnen eine scharfe Untersuchung des gesammten Schrift- und Geschichtsstoffes ohne Rück­ sicht auf Inspiration und Symbolnorm und bearbeitete demgemäß alle theologischen Disciplinen. D as war in solcher Consequenz und Vollständigkeit n ie m a ls früher geschehen, auch das wissenschaftliche Verfahren nie mit ähnlichem Erfolge angewendet worden; folglich ist der Rationalismus ungeachtet der ihm vorangegangenen Anklänge und Vorbereitungen dennoch etwas N e u e s, das auf kein früheres Zeit­ alter verpflanzt werden kann und sich mit dem nihil novi sub sole oder mit dem Gemeinplatz eines stets wiederkehrenden Kreislaufs menschlicher Dinge nicht abthun läßt. Er gehört innerlich der neueren Zeit und Bildung an und hängt wissenschaftlich mit dem allgemein protestantischen Geistesberuf, welcher auf Selbstthätigkeit und Eigen­ heit der Ueberzeugung dringt, zusammen; er ist schulmäßig beschränkt und in manchen Beziehungen nur als DurchgangSstufe anzusehen, aber mit der Vergänglichkeit des Systems ist die der Aufgabe noch nicht bewiesen. Nicht minder ernst und weitführend ist die andere Frage, ob wir diese Erscheinung, wie sie d a m a ls auftrat, aus der T h e o lo g ie se lb er oder aus den a u ß e rh a lb ih r e s n a tü rlic h e n G e b ie ts vorherrschenden Tendenzen der Welt und Wissenschaft herzuleiten haben. I s t sie ein Product der Theologie oder mehr eine Concession an die moderne Humanität und Aufklärung? Daß Beides mit Grund behauptet werden kann, darüber werden alle Sachkundigen

Der Rationalism us von Außen oder von Innen?

17

einverstanden sein. I n der ersteren Rücksicht muß auf die kurz vor­ hergegangene UebergangSepoche verwiesen werden. B is um 1750 Blieb der Lehrbestand der Hauptsache nach ««geändert, Vortrag und Behandlung desselben aber wurden immer matter und kraftloser. D as Stadium der „Vernunft- und schriftmäßigen Gedanken" war kein de­ structives, aber es ließ auch den überlieferten Lehren nur eine äußer­ liche Auctorität und Wirksamkeit übrig, und zu dem Zurücklenke« auf einen vergangenen Standpunkt fehlten alle Bedingungen. Eine morsch gewordene Dogmatik, mit Restrictionen und erweiternden Auslegungen durchschossen, von einer kalten Logik und Metaphysik uothdürstig zusammengehalten, verhieß keine lange Dauer und übte den Einfluß nicht mehr, welchen die christliche Religion forderte *). Sobald einmal der Verband der in allen Glaubenserklärungen ent­ haltenen biblischen, historischen und dogmatischen Faktoren bis zum Zerfallen gelockert war, blieb nichts übrig als jeden für sich zu prüfen, das wahrhaft Primäre zu suchen, das Secundäre hiernach zu bestimmen. Besonders waren die biblischen Wissenschaften dermalen an einer verhängnißvollen Schwelle angelangt. Am Buchstaben der heiligen Schrift war jede hermeneutische Dienstleistung treulich geübt, da­ gegen ein anderes Problem, das genetisch-historische, noch nicht ernst­ lich und unerschrocken in Angriff genommen worden. D er kritische Blick sollte in das Innere der Bildungsgeschichte der Urkunden ein­ dringen, denn daß diese mit Aufbietung alles menschlichen Scharf­ sinns ermittelt werde, duldete die heilige Schrift nicht allein, sondern fo rd e rte es zuletzt, indem sie selbst die M ittel und Fingerzeige dazu an die Hand gab. Ergab sich auf diesem Wege ein menschlich be­ dingter Proceß und mußten im Inneren der biblischen Bücher mensch­ liche Zuthaten, Abweichungen und selbst Widersprüche eingeräumt werden: so wurde auch das dogmatische Urtheil afficirt und zu einer *) D ies wird auch von Dörner anerkannt, welcher in seinem neuesten Werk: Geschichte der protestantischen Theologie, München 1867, S . 736 bemerkt, daß die Theologie an dem Werke, die historische Religion zum eigensten bewußten Besitz und zur Kraft des ganzen Gemüths zu machen, im 17. Jahrhundert so wenig gearbeitet, „daß sie vielmehr mit dem allgemein Menschlichen gebrochen, das sttt« liche Gebiet vernachlässigt und die lebensvolle Heilsihatsache des Christenthum» in ein allein seligmachendes Begriffssystem umgesetzt habe." Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

18

Siebente« Buch.

Einleitung.

durchgängigen Prüfung der bisherigen Annahmen und Folgerungen der Anstoß gegeben; denn daß die Kritik nach so langer Zurückhal­ tung mit Bescheidenheit verfahren oder auf halbem Wege stehen bleiben werde, war nicht zu erwarten. S o gefaßt ist wirklich dte umgestaltende Bewegung aus dem schw ierigen u n d u n b e f r ie ­ d ig e n d e n Z u stan d e der T h e o lo g ie als ein durchgreifender Act der Selbsthülfe hervorgegangen. Aber auch das Andere ist richtig, daß der Rationalismus der Theologie von Außen entgegen gebracht worden, denn diese befand sich als ein zeln e Wissenschaft nicht mehr in der gesicherten Stellung, um diesen Einfluß zurückzuweisen oder zu beherrschen. Für Deutschland war, wie schon bemerkt, die Ein­ wirkung der deistischen Literatur von Wichtigkeit, die aufklärende Tendenz war schon vorhanden, ehe sie eine theologische Gestalt an­ nahm. M an erinnere sich aber auch, daß schon zur Zeit der Re­ formation sich eine allgemeinere Religionsanschauung ohne kirchlichen Anspruch gebildet und im Schutze der philosophischen Facultäten fortgepflanzt hatte. D er H u m a n i s m u s nämlich widersprach der Kirche und dem Glauben nicht, schloß sich ihnen vielmehr als Ver­ treter einer klassisch-philosophischen Bildung gern an, aber er neigte sich doch zu einer zwar nicht unchristlichen, aber doch undogmatischen Auffassung des wesentlich Christlichen. Dieselbe Denkart.hatte im Laufe der Zeit, — uvd wir brauchen die historischen Mittelglieder nicht genauer anzugeben, — durch Wachsthum der Philosophie und natürlichen Theologie sowie der allgemeinen Weltbildung weit mehr Boden gewonnen, und jetzt trat sie der Fachtheologie mit gesteigerten Ansprüchen gegenüber, in der Meinung den wahren und mit dem fortgeschrittenen Geist der Menschheit allein vereinbarten In h a lt selbst ohne theologische Mühwaltung schon zu besitzen. Dieser Vernunftglaube wurde der Theologie, wenn sie fortan gedeihen wolle, gleichsam zur An­ nahme empfohlen; auch auf dem deutschen Schauplatz ist dieser allge­ meinere Drang von der speciell theologischen Entwicklung mit Recht unterschieden worden, aber die Berührungen zeigen sich überall. Dies wäre also die Bewegung von Außen her ei n, und durch sie soll die in dem protestantischen Bewußtsein entstandene Entzweiung in der Weise gelöst werden, daß sich die aufklärende Richtung auf die

Die kritische Umgestaltung unvermeidlich.

19

Theologie selber überträgt. Gewiß also daß sich im Rationalismus zw ei Strömungen begegnen und zu einigen suchen, dabei ergiebt sich aber, was w o h ltu merken, nach beiden Seiten ein ganz u n g leich ­ a r t i g e s Verhältniß. W as die Theologie aus sich selber mitbringt und entwickelt, ist eine freie Verwaltung ihrer eigensten Angelegen­ heiten, also ein Ungeschmälertes Recht der Schrift- und Geschichts­ forschung oder K r i t i k im weitesten S inn, deren Resultate aber nicht vorausbestimmt werden können; was ihr aber zugeführt wird, ist schon ein gewisser I n b e g r i f f sei es philosophisch oder populär ein­ gekleideter Gedanken, ein Ziel, dem sich die theologische Arbeit zu­ bewegen soll. Auf jener Seite liegen die eigentlichen und theologischen Stoffe sammt ihrer dauernden Schwierigkeit, auf der andern ein un­ gefähres aber leicht faßliches Resultat. J e rascher und eilfertiger dieses ergriffen wird, desto oberflächlicher erfolgt die Einigung. Die höchste Mission des Rationalismus besteht allerdings darin, daß der vorhandene Dualismus der universell wissenschaftlichen und der christ­ lichen Geistesbildung geschlichtet werde, aber diese Aussöhnung soll nicht darin bestehen, daß das besondere Christliche gegen das Abstracte und Allgemeine eingetauscht wird, sondern dieses Letztere soll auch in der Gestalt des Eigenthümlichen erscheinen und zum Ausdruck kommen. Und irren wir nicht: so lag in dieser Richtung gerade die Gefahr der Ausschreitung, der Oberflächlichkeit und selbst der Unwahrheit. Hiermit ist anerkannt, daß eine kritische Durchsicht und Umge­ staltung der Theologie und ihres Studiums unvermeidlich w ar; daß sie gerade so und nicht anders verlief und ausfiel, dafür kann na­ türlich keine Nothwendigkeit beansprucht werden, weil dies von der Beschaffenheit der leitenden Persönlichkeiten abhing, und weil eS vermessen sein würde, auch diesen zweiten persönlich bedingten Factor einer historischen Entwicklung aus allgemeinen Gründen herzuleiten. Dies führt denn noch auf das Verhältniß der folgenden Bear­ beitung zu diesem Gegenstände, welches mit einigen vorläufigen Be­ merkungen bezeichnet werden muß. W ir beginnen mit dem Leichtesten und fast allgemein Zugestandenen. Wie jeder Sturmwind den Boden säubert und die Luft klärt: so hat der Rationalismus als ein ge­ lehrter reinigender Dienst an der Wissenschaft gewirkt. Durch ihn 2*

20

Siebentes Buch.

Einleitung.

ist die gesummte wissenschaftliche T ra d itio n durchbrochen, eine Menge von V o ru rth e ile n und Voraussetzungen zerstört oder berichtigt und in alle theologischen Geschäfte eine größere S trenge und Unbefangen­ heit eingeführt w orden; dazu h a lf die in ih m vorherrschende Nüch­ ternheit.

A m Meisten bedurften die biblischen D is c ip lin e n einer k ri­

tischen E rneuerung, aber auch die übrigen erhielten in

Bezug auf

die S ich tu n g des M a te ria ls und die A r t der Begründung and B e­ w e isfüh rung ein anderes Ansehen, keine konnte au f dem Standpunkt v o r dieser Erschütterung festgehalten werden.

Auch die Bertheilung

des S to ffe s und das V erh ältn iß der Fächer zu einander gestaltete sich anders; unter dem E in flu ß des R a tio n a lis m u s wurde die alte P olem ik sistirt, an die S te lle t r a t , obwohl erst später, die neuere S y m b o l i k m it ihren historisch-comparativen Zwecken; zwischen der Exegese und D ogm atik erwuchs das fruchtbare S tu d iu m der b i b l i ­ schen T h e o lo g ie .

D ie Kirchen- und Dogmengeschichte wurde bei

a lle r Einseitigkeit des jetzt herrschend werdenden P rag m atism u s doch zu einer Menge neuer Beobachtungen und Vergleichungen veranlaßt. W ie jede K ritik , so hatte auch diese ih re S tärke in der Negation, aber auch ih re positiven E in fä lle und Verm uthungen sind als M it t e l­ glieder oder doch als R eizm ittel fortschreitender Untersuchung allen P arte ien zu S ta tte n

gekommen.

Bon

dem theologischen S tu d iu m

muß also gesagt werden, daß es durch diese Schule und unter deren E in flu ß zu einer Reife gelangt ist, welche sonst nicht erreicht sein würde. Abgesehen von dieser allgemeinen kritischen und gelehrten B e ­ deutung kann entweder der p r i n c i p i e l l e Gesichtspunkt in 's Auge gefaßt werden.

oder der s y s te m a tis c h e Schon oben ist angedeutet

worden, daß der R a tio n a lism u s auch unabhängig von der christlichen O ffenbarung gedacht werden kann; dann ist einer

fein P rin c ip n u r das

allgemeinen B e rn u n ftre lig io n , oder der philosophische W ille ,

eine durch empirische oder apriorische Schlüsse gewonnene R eligions­ erkenntniß an die S te lle der historisch gegebenen zu setzen.

W ir

haben diese Richtung im D e ism us kennen gelernt, sie kann auch an den Grenzen der Theologie auftreten, w ird aber innerhalb derselben n u r eine vorübergehende Existenz haben.

D e n n zugegeben die M ö g -

Allgemeine B eurtheilun g des R ationalism us.

21

lichkeit, durch ein solches ratio na les Uebereinkommen die praktischen Zwecke der R eligion innerhalb einer größeren Gemeinschaft sicherzu­ stellen und zu erfüllen, welche M öglichkeit w ir bestreiten müssen , so o ft sie auch in jener Z e it und in späterer von

Einzelnen voraus­

gesetzt worden is t: so würde diese B e rn un ftpro du ction

noch keinen

christlichen Charakter, also auch keine dogmatische Bedeutung haben. Eine verwandte Neigung ist auch innerhalb der christlichen Theologie eingetreten.

S o b a ld der R a tio n a lism u s

aus

der O ffenbarung zu

schöpfen unterläßt, sich von der historischen Kunde und ih re r r e li­ giös beseelenden K ra ft abwendet und sie durch bloße V ernunftope­ rationen entbehrlich zu machen u n ternim m t, ist er u n w a h r und durch die Entwicklung der Theologie und selbst der Philosophie widerlegt worden.

Und an diesem Fehler der Zurückziehung von dem H isto­

rischen und eigenthümlich Christlichen hat auch der von uns darzu­ stellende R a tio n a lis m u s der folgenden Epoche stark gelitten.

D enn

er gelangte dahin, m it seiner F re ih e it und V ernünftigkeit G e s c h ä ft m achen zu wollen, ähnlich wie der P ie tism us m it

der F rö m m ig ­

keit; dadurch verfiel er in Abstraction und Leerheit, er wurde befangen und in sich selbst un fre i, indem er fre i sein w ollte, und das ist der berechtigte S in n der seinem Namen anhaftenden leidigen

Endung

is m u s , welche auf einen beschränkenden B etrie b eines an sich noth­ wendigen Interesses hindeutet.

A lle in er kann sich selbst und seinen

S tan dpu nkt auch anders verstehen; er k a n n sich in das Geistesleben hineinstellen und von der

christliche

M a ch t der christlichen Id e e

und Thatsache ergreifen lassen: vann fo lg t er n u r dem P rin c ip einer aus kritischer B eurtheilung und Vergleichung der christlichen G la u ­ bensquellen hervorgehenden Aneignung des christlichen Glaubens d.h. einer solchen, die m it den Resultaten der allgemeinen Wissenschaft ohne W iderspruch vereinbart werden kann.

Auch dieser c h ris tlic h e

R a tio n a lis m u s kann verschieden ausgeführt werden, G rade seiner Empfänglichkeit

je nach dem

fü r die christliche Id e e und fü r

M a ch t deS Thatsächlichen in der R e lig io n .

E in

die

unbedingt g ü ltig e r

Maaßstab des V ernünftigen oder der V e rn u n ft Widersprechmden steht ihm nicht zur S eite , w e il jeder solche In b e g riff von einem zeitlich gegebenen Standpunkte des wissenschaftlichen Bewußtseins abhängig

22

Siebentes Buch,

Einleitung.

sein w ir d ; auch findet derselbe sein Gegengewicht in der natürlichen A u c to ritä t und in der unerschöpflichen Fülle des biblischen G eh alts, welcher das S tu d iu m stets wieder auf sich zurücklenkt.

A lle in in ­

m itte n dieser Schwierigkeiten und Schwankungen bleibt das P r i n ­ c ip einer c h ris tlic h r a t i o n a l e n

T h e o lo g ie dennoch stehen und

h a t seine tiefste W ahrh eit in dem Verlangen, alle Gebiete des Geistes m it demselben Denken zu umfassen.

B estritten , gründlich bestritten

kann eS eigentlich n u r werden durch die Behauptung der materiellen N o rm a tiv itä t fei eS nun a l le s Biblischen oder auch n u r der durch symbolische Bücher fixirle n Lehre, wenn also S christprincip und B e ­ kenntniß in einer Weise hingestellt werden, daß der F reih eit der .F o r­ schung dadurch E in tra g geschieht.

Eine Theologie, die sich g r u n d ­

sä tzlich in diese Schranken stellt, handelt zwar nicht u n ve rn ü n ftig schlechtweg, denn es gab Zeiten, in bäten sie durch praktische G ründe dazu genöthigt war, aber sie bindet sich an einen Complex von Lehr­ bestimmungen und schneidet sich selber das Recht ab, der christlichen Lehre, nachdem andere wissenschaftliche Bedingungen in K ra ft getreten sind, auch einen veränderten Ausdruck zu geben.

In s p ira tio n und

symbolische N o rm haben einem praktischen B edürfniß der A u c to ritä t gedient und dienen ih m noch; die wissenschaftliche Theologie im neue­ re n S in n kann und d a rf ihnen nicht unterworfen sein; die Erhebung über diese Normen ist ih r sicheres Eigenthum geworden. V o n diesem M e rk m a l ist ungeachtet aller P rüfungen, Wandelungen und Gegen­ sätze der lebendige G aug ih re r Entwicklung seit hundert J a h re n be­ gleitet gewesen. M i t dieser Anerkennung eines wissenschaftlichen P rin c ip s ist in ­ dessen noch nicht A lles gesagt, es wäre Täuschung, w ollte man gla u ­ ben, durch Zurückziehung auf das P rin cipielle und Methodische dem schwierigeren T h e il der Frage ausweichen zu können.

Historisch an­

gesehen ist der R a tio n a lism u s

sondern

kein

bloßes P rin c ip ,

eine

Lehransicht, eine Gestaltung der Glaubenslehre und T heologie; der Nam e selber w ird w eit häufiger in dieser letzteren Bedeutung a ls m it Rücksicht auf

die

wissenschaftliche F o rm

gebraucht.

Dasselbe

g i lt bekanntlich von allen theologischen Systemen, daß sie nach ihren Glaubenssätzen und nicht lediglich nach ihren Grundsätzen beurtheilt

Allgemeine Beurtheilung des Rationalismus.

23

werden, und wenn schon eine bestimmte Philosophie ihre wissenschaft­ liche S te llu n g nicht bloß der Anlage und dem philosophischen A u s ­ gangspunkt, sondern zugleich dem inneren Geist und Charakter ve r­ dankt: so ist dies bei der Theologie noch im höheren G rade der F a ll, w e il sie unter dem direkten E in flu ß der R eligion steht, diese aber von dem I n h a lt niem als absehen kann.

D ie

ganze Geschichte der

neueren Theologie lie fe rt den Beleg dazu, sie zeigt eine Entw icklung, in welcher Verwandtschaftliches und Gegensätzliches sehr oft durch Verhältnisse d o p p e lt e r A r t bestimmt werden; principielle Gegensätze m ild e rn sich bei ähnlichen Resultaten zu methodischen, und m aterielle Differenzen können, auch wo im P rin c ip

kein Gegensatz stattfindet,

eine fast principielle. Bedeutung erlangen, weil das religiöse Interesse zu stark ist, um nicht innerhalb der wissenschaftlichen Bewegung noch seine eigene K ra ft zu äußern.

E s ist ein Eingeständniß menschlicher

Schwäche, aber auch ein ermuthigender T rost zu wissen, daß zwar bei gleichen Verfahrungsweisen

verschiedene Resultate möglich sind,

aber auch ungleiche, ja gegensätzliche Wege zu ähnlichen Zielpunkten hinzuleiten vermögen. W as nun- also die Leistung oder das System des R a tio n a lis ­ m us b e trifft, über welches dessen V e rtre te r am Anfange des gegen­ w ärtigen J a h rh u n d e rts ziemlich einig w aren: so sagt E . H e n k e neuer­ lich von ih m , daß es zwar „einseitig und beschränkt, aber durchaus nicht in a lle r Hinsicht unvollkommen und verw erflich" gewesen s e i') . I c h muß mich in ähnlichem S in n e erklären, bin m ir aber w o hl bewußt, daß dieses U rth e il nicht aufrichtig noch ha ltba r sein w ürde, wenn es n u r als Ausdruck einer B illig k e it, welche jede theologische Rich*) Henke's Festrede über Rationalismus und TraditionaliömuS im 19. Jahrh. Marb. 1864. S . 8, dazu die S . 5 gegebene Definition: „ Im Verhältniß zu einer geschichtlich gegebenen Religion drückt Rationalismus den Anspruch aus, dieser Religion mit einem eigenen davon verschiedenen Fürwahrhalten beistimme» zu können, daneben die Forderung, fich sein ganzes Erkennen einheitSvoll und wider­ spruchslos zu erhalten, zugleich den Trieb bloß dasjenige aus der historisch ge» gegebene» Religion anzuerkennen und festzuhalten, wobei jene Zustimmung und diese Uebereinstimmung nicht verloren geht, endlich die Neigung das so Ausge­ wählte für die Hauptsache darin zu erklären."

24

Siebente« Buch.

Einleitung.

tu n g in ihrem relativen W erthe anerkennt, verstanden sein w ollte. D e n n eS trä g t "unstreitig selbst schon eine dogmatische Entscheidung in sich, nnd diese w ird von zwei Punkten abhängig sein.

W e r nämlich

an der Lehre von der Menschwerdung G o tte s, also von der G o tt­ heit C h risti, —

G otth eit in

dem

allein

consequenten

S in n e

des

D o g m a 's genommen, — und an der andern Lehre von der angebo­ renen Verdorbenheit der menschlichen N a tu r festhält: muß nothwen­ dig auch den R a tio n a lism u s fü r einen A b fa ll vom christlichen G la u ­ ben erklären, mag es auch m it dessen wissenschaftlichem P rin c ip be­ schaffen sein wie es w olle; n u r das Verdienst kritischer Anregungen und gelehrter Fortschritte muß auch in diesem F alle noch zugestanden werden.

W er

dagegen einen d y n a m is c h e n

B e g riff vollkommner

O ffenbarung G ottes und seines Verhältnisses zur W e lt durch C h ri­ stus und das Factum der Sündenherrschaft und dex aus derselben sich ergebenden Erlösungsbedürftigkeit zum

G runde legt: der d a rf

zw a r im m er noch m it dem R a tio n a lism u s hadern und seine Grenz­ bestimmungen überschreiten, er braucht ihn

keineswegs, wie er sich

schroff und mager zugleich ausgeprägt hat, zu deookiren, noch we­ niger die m it ihm in der Regel verbundene Lebens-Nsicht und re li­ giöse S tim m u n g hochzustellen, aber eine Anerkennung seiner theologi­ schen und christlichen Berechtigung w ird er ihm nicht mehr versagen können.

U nd m it diesem Letzteren ist der S tandpunkt der folgenden

B earbeitung im Allgemeinen bezeichnet; Beweisgründe aber können in diesem F a lle nicht hinzugefügt werden, w eil Jeder wissen muß, daß er in dem einen wie in dem andern F alle seine ganze religiöse und

wissenschaftliche Persönlichkeit zum Pfande

setzt.

In d e m

ich

jedoch nun die kritische Theologie selbst kritisch zu verfolgen un ter­ nehme, werde ich Gelegenheit finden, auch das Unterscheidende meiner Ansicht geltend zu machen. D ie D arstellung selbst muß nothwendig ein anderes Ansehen gewinnen a ls in den früheren Bänden.

Kirchliche Ereignisse begeg­

nen uns nicht, der Schauplatz ist ein durchaus wissenschaftlich lite ­ rarischer.

A u s sich selbst schöpft die Theologie die G ründe, welche

sie vo rw ä rts treiben, aber auch spalten und zur Zögerung und Re-

Uebergang zum Folgenden. actio« gegen den stürmischen F ortschritt nöthigen.

25 Zuerst bedürfen

die beiden Anfänger und Bahnbrecher der neueren Theologie, S e m l e r und E r n e s t i, einer eingehenden Charakteristik; hieraus haben w ir in das C ontinuum der literarischen Bewegung einzugehen, welche den innerlich vorhandenen Gegensatz eine Z e it lang noch v e rh ü llt, dann aber scharf an's

Licht

stellt.

Der

dogmatischen

unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise zugewendet.

Theologie bleibt

Erster Abschnitt. Anregungen zur Erneuerung der Theologie. I.

Johann

S a lo m o S e m le r .

„ 3 “ den seltenen moralischen und literarischen Erscheinungen unseres zu Ende gehenden J a h rh u n d e rts gehörte ohne allen S t r e it der berühmte D o cto r S e m l e r , Wissenschaft entrissen ist.

der nun seit zwei Ja h re n unserer

W a s w a r die Theologie in Deutschland,

a ls er sie aus B a u m g a r te n 's Händen zur Pflege übernahm, und was ist sie durch die A r t der Pflege, die er zuerst versuchte und in der

ihm

Andere folgten,

volles V ie rte l S äculum

in

unserer letzten Z e it geworden?

E in

w a r er geschäftig, dieser Wissenschaft das

veraltete und schmutzige G ew and,

das ih r P la to n ism u s ( ? )

und

Scholastik umgeworfen hatten, auszuziehen und sie verjüngt und m it neuen Reizen ausgestattet ih re r Schwester, der Philosophie, die sie auszustoßen drohte, zur Aussöhnung wieder zuzuführen.

B o n die­

sem seinem ersten W irken an verloren ih n seine deutschen Zeitge­ nossen nicht mehr aus den Augen. a ls Verächter, kämpften

fü r

S ie waren als Bewunderer oder

als Lobredner oder T a d le r über ihn getheilt und und w ider ih n ;

nur

blieben sie bei aller übrigen

Verschiedenheit über seinen uübescholtenen Charakter einverstanden." M it

diesen W orten eröffnete E i c h h o r n ' )

zwei J a h re nach

S e m l e r ' s Tode seine Charakteristik dieses M annes.

E r hat ih n

einigemal zu hoch gepriesen, einm al zu stark getadelt, im Ganzen aber nach seinem wissenschaftlichen Verdienste richtig b e u rth e ilt; uyd wenn *) S . dessen Allgem. Bibliothek der bibl. Literatur, B d. V , Leipzig 1793.

Johann Salom o Sem ler.

27

dies so bald gelungen ist: so dürfen wir uns mehr als siebzig Jahre später eine unbefangene historische Würdigung im vollen Maaße zutrauen. Höchst ausgezeichnet durch gelehrte und kritische Begabung ist doch S e m le r keine schwer v erstä n d lich e Persönlichkeit'), es fehlt ihm an derjenigen geistigen Tiefe und religiösen Eigenthüm­ lichkeit, die leicht verkannt wird und in die man nur mit bedeuten­ der Anstrengung eindringen kann; über Tugend und Schwäche seiner Leistungen kann kein Zweifel sein. Dagegen ist S e m le r eine sehr schwer d a r z u ste lle n d e Erscheinung, weil er unsere Aufmerksamkeit nach allen Richtungen zerstreut und weil wir in Gefahr kommen, über der Mannigfaltigkeit der Anregungen, die theils von ihm aus­ gingen, theils sich wenigstens an ihn anknüpften, ihn selber und den engeren Kreis seiner Bestrebungen aus dem Auge zu verlieren. Bahnbrechende Talente wie das feinige werden durch die Forderun­ gen der Zeit entwickelt und fortgezogen, die Detvachtung ihres Einflus­ ses verliert sich uV$ Unbestimmte, wenn sie nicht von vorn herein die rechten Grenzen sucht. Eine ähnliche Ungewißheit haftet auch an S e m l e r ' s wissenschaftlicher und literarischer Wirksamkeit. Nach allen Seiten hat er Keime und Anregungen ausgestreut, mancherlei gelehrte Notizen, kritische Winke und Ansätze erhalten seinen Namen noch heute unter uns lebendig; bleibt man aber bei diesen wenn auch zahlreichen Einzelnheiten stehen: so geben sie noch durchaus kein Bild dessen, was S e m le r war und wollte. *) Außer Tholuck's bekanntem Aussatz. Vermischte Schr. II, S . 39 ff. ist hauptsächlich zu vergleichen die fleißige, aber von einem sehr beschränkten Stand­ punkte gearbeitete Monographie von H. Schmid, Die Theologie Semler's, 1858. — Von der nachfolgenden theologischen Entwicklung überhaupt handeln: Brastberger, Erzählung und Beurtheilung d- VerLnder. d. Lehrbg. d. Prot. Halle. 1790. Tittm aun, Pragm. Gesch. der chrl. Rel. u. Theol. rc. B rsl. 1805. 1824. Gieseler, Rückblick aus die kirchl. u. theol. Entwicklung während der letzten fünfzig Jahre, Göttingen 1837. Tzschirner, Beurtheilende Darstellung der dogmat. Systeme, welche in der Protest. Kirche gefunden werden, Memorab. I. Stäudlin, Geschichte des Ration, und Supernat. Göttingew 1826. Amand Samtes* Hist. crit. du Rationalisme en Allemagne, Paris 1841. Nach dem Französischen mit Anmer­ kungen und Excursen von Ficker, Leipz. 1841. Kahnis, Luther. Dogmatik, I, S . 54 ff. Endlich das Neueste in Dorner's Geschichte der prot. Theplogie, 1867. S . 703 ff. -

28

Siebente« Buch,

Erster Abschnitt.

W ir halten w i6 an S e m l e r 's eigene weitschweifige, aher lehr­ reiche und im Ganzen ohne Ruhmredigkeit geschriebene A utobiogra­ phie *) und fassen außerdem aus der großen M enge seiner S chrifte n das W ichtigere zusammen, indem U rth e ile Rücksicht n e h m e n ').

w ir dabei a u f ältere und neuere

Johann

S a lo m o

© e rn te t

war

der S o h n eines Geistlichen zu S a a tfe ld in T h ü rin g e n , geboren am 18. D e r. 1725. begünstigt.

Aeußere Glücksumstände haben seine Laufbahn nicht

D ie S orgen und M üh en , m it welchen seine Jugend zu

kämpfen ha tte , weckten und

steigerten sein T a le n t, aber sie ließen

eine gewisse spießbürgerliche K leinheit der D e nka rt in ihm zurück, deren er auch in späteren J a h re n nicht H e rr geworden ist. erwuchs in

Er

dem dortigen stark pietistisch gestimmten Kreise unter

Einstüssen, denen seine natürliche Geistesausstattung entschieden wider­ strebte.

D e r Rector der dortigen Lehranstalt begünstigte die fromme

Ueberspannung, und eine Z e it lang rechnete es der junge S e m l e r selbst zur Aufrichtigkeit reckt tra u rig zu sein; aber zu den „ V e r ­ siegelten" zu gehören, welche den T a g ih re r Bekehrung genau anzu­ geben und den „neuen D ia le k t" von der Gnade geläufig zu reden wußten, w ollte ihm nicht gelingen.

Desto stürmischer ergab er sich

schon a ls Knabe dem H ang zur gelehrten L ite ra tu r.

W ährend er

durch körperliche Bewegung, durch Kegel- und B allsp iel zur Gesund­ heit und Unerschrockenheit erzogen w urde,

fehlte es ihm

auf der

Schule zwar nicht an Lob und Auszeichnung, w o h l aber an jeder besonnenen Leitung, welche dieser frühzeitigen Bücherjagd und unbe­ grenzten Lesesucht hätte Schranken setzen können.

M i t 17 J a h re n

finden w ir ihn als S tudirenden der Theologie zu H alle.

H ie r stand

dam als n u r die W a h l zwischen der gediegenen und gelehrten K irch­ lichkeit eines B a u m g a r t e n und dem überlieferten P ie tism u s.

W ir

dürfen S e m l e r glauben, wenn er erzählt, daß e rd e n dortigen Leh­ re rn anfangs m it gleicher P ie tä t nahe getreten, daß er aber auch ') S em ler's Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, zwei T h e ile , Halle 1781, 82, dazu die Bemerkungen Thvluck'», S . 41 ff. ä) I n

der genannten Eichhorn'schen Abhandlung werden noch mehrere A us.

sähe von StBffelt, W o lf, Schütz, Schlichtegroll erwähnt. vollständiges Berzeichniß von S em ler's Schriften.

Den Schluß bildet ein

S eniler als Schüler Baumgarten'S.

29

die Gegensätze der herrschenden Gesinnung stark, ja qualvoll empfun­ den habe ').

Aber die Warnungen vor der kalten Gelehrsamkeit

und vor den Collegien ohne K ra ft und Salbung wollten nicht fruch­ ten; allmählich veränderte sich sein Umgang, er konnte nicht einsehen, warum die methodische Seelenpflege wichtiger sein sollte als Fleiß und S tudium .

Nachdem er zu B a u m g a r te n in genauere Bekannt­

schaft getreten war, der ihn bald als Specialschüler auszeichnete und als literarischen Gehülfen beschäftigte, war seine W ahl zwischen der Theologie des Wissens und der andern des Gefühls entschieden. S ehr früh hat er sich in kleinen philosophischen und kritischen A u f­ sätzen sowie in der M ita rb e it an B a u m g a rte n 'S allgemeiner W elt­ historie als Schriftsteller versucht. halbpolitische Thätigkeit in Coburg,

W ir übergehen nun seine erste die einjährige aber glückliche

Professur in Aktors für Philologie und Geschichte und seine V erheirathung.

Es waren hauptsächlich B a u m g a rte n 'S Bemühungen,

welche ihm 1752 den ehrenvollen R u f als Professor der Theologie in Halle auswirkten, dem er sich erst nach längerem Widerstreben und in

richtiger Voraussicht einer schwierigen S tellung

fügte *).

Jung und unreif wie er war, verzichtete er anfangs auf jede Selb­ ständigkeit; er empfing B a u m g a rte n 'S Hefte, das B reviarium zur Kirchengeschichte und die Hermeneutik, und verwendete unsäglichen Fleiß auf die Aneignung und Bereicherung dieses M a te ria ls .

Denn

im Arbeiten scheute er keine Umwege, that Vieles ohne direkten Nutzen, und je größer die Stoffmasse, desto mehr zog sie ihn an. Von den Collegen entfernte er sich nach und nach und blieb nur m it H e ilm a n n in einigem Verkehr; die fromme P artei ließ ihn fa l­ len,

und er selbst, wie er sagt, sammelte immer mehr Ursachen,

m it ih r unzufrieden zu sein.

Nach B a u m g a r te n 'S Tode (1757)

übernahm er die Herausgabe von dessen Vorlesungen über D ogm a­ tik und Polemik; obwohl bald der angesehenste Lehrer der Facultät *) Lebensbeschreibung I , 79. allein Abends

„Recht gut weiß ich es noch, daß ich einst ganz

aus dem Collegium auf dem großen Platze de« Waisenhauses

spatziereu ging in tiefer B etrü bniß und wünschte: o wäre ich dieser Klum pen E is, dieses Stück H o lz !" ’ ) Ebendas, l , S . 182 ff.

30

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

blieb er doch noch einige Zeit dabei stehen, Empfangenes verbessert und vervollständigt wiederzugeben, bis allmählich bei wachsender literari­ scher und academischer Wirksamkeit seine kritischen Neuerungen laut werden mußten. S ein nachfolgendes Arbeitsleben unterscheidet sich wenitz von dem damals gewöhnlichen eines deutschen Gelehrten; im Hause unbescholten und fromm, der Regierung gegenüber fügsam, im S treite unerschrocken doch selten bitter, erhielt er sich unter zahl­ reichen Freunden, Bewunderern und Widersachern die äußere Ruhe seines Lebens meist ungestört. M änner wie S p a ld in g , J e r u s a le m , S u l z e r , E rn e s ti finden wir in näherer Beziehung zu ihm. S ein bedeutendstes Stadium umfaßt etwa die Ja h re 1760— 8 0, denn nachher traten Umstände ein, welche, wie w ir sehen werden, das An­ sehen, das er sich in Deutschland errungen hatte, nicht wenig er­ schütterten. D ie enge persönliche Verbindung zwischen B a u m g a r te n und S e m le r bezeichnet einen Uebergang von der S y s te m a tik zur K r i­ tik , auf dessen Merkwürdigkeit wir schon früher hingewiesen haben *). Beide M änner waren zur Hälfte einander völlig unähnlich; der Eins ein philosophisch und historisch geschulter Theoretiker, der seine Fächer allseitig übersah und mit sicherer Hand abgrenzte, jeder Ab­ sprecherei abhold und streng darauf bedacht, den überlieferten Lehr­ inhalt zu bewahren; der Andere ein geborener Kritiker und S am m ­ ler, philosophisch ungebildet, ohne S in n für systematische Einheit und künstlerische Gestaltung, ja unfähig ein Ganzes methodisch zu durchdringen, und nur unablässig der Erforschung, Sichtung, B eur­ theilung des Einzelnen zugewendet. Aber Einiges haben sie dennoch mit einander gemein, den gelehrten Standpunkt, die kühle scharfsin­ nige Berstandesthätigkeit, die umfassende Wißbegierde und die Ab­ neigung gegen diejenige Frömmigkeit, die sich selber an die Stelle der Wissenschaft setzen möchte; und vielleicht diente gerade das Ver­ trau en , mit welchem der Jü ng er sich dem Meister anschloß, dazu ihn langsam aber desto sicherer auf eigene Füße zu stellen. S e m le r griff die Theologie mit p h ilo lo g isch en Kräften an. E s w ar ihm ') Dgl. Bd. III, S . 192. 279 ff.

S e m le r's Entwicklung

und Schriftstellerei.

31

früh gelungen, sich von dem Einfluß der Pietistischen Schule loszu­ machen; als er nun später unter B a u m g a r te n 's Leitung l 2 ) das theologische Katheder betrat, als er seine ganze Ehre darin suchte dessen Werk fortzusetzen, bis zuletzt die eigenen Studien den empfan­ genen V orrath nach allen Seiten durchbrachen und überwucherten und an vielen Stellen kritischen Ansichten Raum gaben, kann man sich wohl vorstellen, daß ihm auch eine z w e ite Befreiung, die von der kirchlichen und traditionell dogmatischen A uctorität, möglich wurde, und zwar durch M itte l, welche sein Talent ihm in Menge zuführte. H alb unbewußt, halb als freier Urheber hat er das Losungswort der kritischen Theologie gesprochen"). S e m le r 's Schriftstellerei ist von Zeitgenossen und von Späte­ ren scharf getadelt worden, und m it Recht.

Von seinen 171 S ch rif­

ten und Aufsätzen Möchte man gern die H älfte streichen, könnten die übrigen dadurch verbessert werden.

Nach meiner Kenntniß findet

fich unter der ganzen Menge kaum ein einziges gleichmäßig durch­ gearbeitetes Werk; viele gleichen Excerpten oder formlosen, hier und da von kritischen Bemerkungen unterbrochenen Lesefrüchten, alle lei­ den an ermüdender Eintönigkeit und B re ite , und was das Werk selber erst mittheilen soll, schon zu hören.

bekommt man in der langen Vorrede

S e m le r hatte keinen B egriff von schriftstellerischer

Vollkommenheit, er vernachlässigte die Form dergestalt, daß auch der In h a lt darunter leiden mußte, weil derselbe vereinzelt und zer1) Eichhorn sagt a. a. O . S . 2 3 : „B au m g arte n , der schon frühe S em ler's Freim üthigkeit gewittert hatte, lauerte ih m auf jedes W o rt und stoß häufig über in Erm ahnungen, kein A btrünniger seiner Schule zu werden."

S o schlimm kann

es jedoch nicht gewesen sein, denn S em ler bemerkt in der Lebenöbeschr. I , S . 222 , daß der alte B aum garten die Freiheit im Denken, die jener zu äußern angefan­ gen, freundlich m it ihm beredet habe, wenn gleich nicht ohne W a rn u n g vor den nachtheiligeu Folgen. 2) S em ler äußert mehrfach, daß er sich ungern und nach längerem Zaudern entschlossen habe,

m it seinen abweichenden Grundsätzen und

offen hervorzutreten.

Glaubensansichten

„ W i l l dies aber Jem and meine theologische Untreue oder

Heuchelei nennen, daß ich nicht sogleich Alles u m w a rf, dem w ill ich sein U rtheil gern lassen."

„ Ic h habe m ir manche ängstliche Stun de dadurch gemacht, ob es

auch jetzt die Z e it w äre, daß ich meine eigene doch erst anfangende Erkenntniß so vielen theologischen Büchern entgegenstellen könnte."

Lebensbeschr. I I , S . 2 7 5 . 3 14 .

Siebentes Buch.

32 stückelt unb

nirgends

Erster Abschnitt.

au f einen reinen Ansdruck gebracht wurde.

Jed er Einblick in seine S ch rifte n zeigt, wie leicht ih m die Feder in beiden Sprachen floß> aber auch wie wenig er sie zu beherrschen vermochte.

Um

ih m

in

dieser Beziehung nicht Unrecht zu

thun,

müssen w ir die N a tu r seines wissenschaftlichen Unternehmens tn'S Auge fassen.

S e m l e r w a r fü r die deutsche Theologie der A n fü h ­

re r einer kritischen Um wälzung unb darum auch das O p f e r dersel­ ben.

W e r unablässig sammelt, ra u b t sich selber die K r a ft der Ge­

staltung;

wer m it seinen S am m lungen ein aufräumendes Geschäft

der Unterscheidung, A uflö sun g, und Zersetzung verbindet, um darzuth u n , daß die kirchliche Schultheologie sich in hundert unbewiesenen Voraussetzungen bewegt und ihre Untersuchungen von vorn anzufan­ gen hat, w er endlich dieses V erfahren beinahe auf alle theologischen Fächer anwendet: der w ird seine neuen W ahrnehmungen und U r ­ theile in einem chaotischen Zustande zurücklassen, er w ird in V o ra r­ beiten stehen bleiben, deren W e rth er nicht abschätzen, deren Resultat er nicht vorcküssehen kann. ES ist n ö th ig , hier von dem G ang seiner S tu d ie n und deren V e rh ä ltn iß zu dem damaligen S tande der Theologie einen Ueberblick zu geben, wozu namentlich der zweite B an d seiner Lebensbeschreibung gute Dienste leistet.

Bei

aller U nfertigkeit seiner S ch rifte n

und

Bekenntnisse erscheinen zwei Grundsätze m it seinem wissenschaftlichen und kirchlichen Charakter dergestalt verbunden, daß w ir sie unver­ änderlich von ihm verfolgt sehen. anerkannte

U n te r s c h e id u n g

von

Zuerst hat er die schon frü h e r R e lig io n

sehr bestimmt festgehalten und durchgeführt.

und

T h e o lo g ie

D ie Theologie, behaup­

tet e r, soll zwar die R e lig io n pflegen, welche ihrem Wesen nach Früchte der G ottseligkeit, Fröm m igkeit und Tugend zu bringen be­ stim m t ist; a ls Theologie aber ist sie eine durchaus g e le h r t e T h ä ­ t ig k e it und fü h rt n u r auf dem Wege strenger Wissenschaft zum Ziele.

F ü r jede öffentliche Ueberlieferung des Christenthum s ist die

theologische Gelehrsamkeit nicht minder unentbehrlich wie der from m e E ife r; wo E in s ohne das Andere w irk t, deutet dies au f einen M a n ­ gel des Zustandes oder des einzelnen S ubjects, der aber keiner von beiden Richtungen als solcher Schuld gegeben werden da rf.

Lange

Theologie im Verhältniß zur hist. Offenbarung.

ZZ

genug ist das Thema von den wiedergeborenen oder nicht wieder­ geborenen Predigern ausgebeutet worden; die fromme P artei hat sich damit Schaden gethan, da sie sich an eine erbauliche Sprache gewöhnte und den unendlichen Umfang in der Anwendung und Auf­ fassung christlicher Wahrheiten aus dem Auge verlod'). S e m l e r tritt also zunächst dem einseitigen Standpunkt des Pietism us entge­ gen, indem er die Frömmigkeit zwar in ihrem allgemeinen christlich­ religiösen W erthe bestehen läßt, aber die Ausschließlichkeit verwirft, mit der sie sich an eine gewisse Anzahl theologischer Begriffe und Ausdrücke gewöhnt hatte. Allein dieser Gegensatz führt ihn weiter. Nicht allein von den Satzungen des Pietism us will seine Theologie unabhängig sein, sie will überhaupt kein dogmatisches Program m als schlechthin und allgemein gültig anerkennen, sondern ihrer eigene» untersuchenden Thätigkeit soll es überlassen sein, die Glaubenswahr­ heiten zu finden oder genauer zu bestimmen, welche der in der Gottseligkeit und Tugendübung gegebene Zweck der christlichen Reli­ gion unweigerlich für sich fordert. F ragt man weiter, wie sie sich nach solcher wissenschaftlichen Befreiung zu der ihr vorliegenden kirch­ lichen Ueberlieferung verhalten soll: so antwortet darauf der zw e ite nicht minder bemerkenSwerthe S em ler'sche Grundsatz. D ie Theolo­ gie hat ihren I n h a lt keineswegs zu erfinden oder zu erdenken, son­ dern aus der h isto risch en O ffe n b a ru n lg u n d E n tw ic k lu n g zu schöpfen; auf die kirchlichen Gestaltungen des Glaubens ist sie hingewiesen, diese sollen als wirklich gewesene oder noch zu Recht bestehende ebenso angesehen wie zugleich nach ihren Gründen geprüft werden. Alle Erscheinung des Christlichen ist S toff, ist Gegenstand der theologischen Forschung. D er christliche Glaube hat sich ja nicht in einer einzigen Kirche, sondern in einer Reihe von Kirchen und Parteien ausgeprägt, und zwar jederzeit mit dem Anspruch, gerade in dieser Form der richtige zu sein oder sogar die W ahrheit au s­ schließlich in sich zu tragen, welcher Anspruch sich aber nur in ge­ wissen Grenzen durchführen ließ. Folglich zerfällt die christliche Religion, im Großen überschaut, in eine ganze Reihe besonderer *) Lebensbeschreibung I I , S . 177, vgl. S . 61. Die hier geübte Kritik des Pietism us stimmt mit der der kirchlichen Beurtheiln ganz überein. Besch, d. Pretest. Dogmatik IV.

3

34

Siebentes Büch.

Erster Abschnitt.

Glauben-darstellungen, deren Bildung schon von den ersten J a h r ­ hunderten ihren Anfang nahm ; alle sind von l o c a l e r und te m p o r e l l e r Gültigkeit, in allen sindet sich ein Antheil an demselben G e­ meingut, der von dem , w as sie jede für sich behaupten und lehren, unterschieden werden muß. D ie Wissenschaft als eine durch über­ zeugende Gründe sich vollziehende Vernunftthätigkeit sieht sich daher einer großen Mannigfaltigkeit

localer GlaubeüSformen gegenüber;

sie darf dieselben keineswegs ignoriren, ist aber auch ebenso wenig verpflichtet, das Dasein der christlichen Religion in der Weise zu beschränken, wie sich der örtliche und zeitliche Glaube beschränkt hat. J e allgemeiner die rechten religiösen Früchte auftreten, desto weniger lasten sie sich nach dem M aaßstabe der localen Glaubensbestimmunge« beurtheilen, desto minder kommt den letzteren ein unbedingtes und unveränderliches Ansehen zu. D aher muß sich die Theologie die Aufgabe stellen, die Haltbarkeit der so oder anders abgegrenzten Theorieen, soweit sie nicht der unmittelbare Ausdruck christlicher Ge­ sinnung und Frömmigkeit sind, in Untersuchung zu ziehen; indem sie sich dabei nur von der objectiven W ahrheit ihrer Beweisführung leiten läßt, von jeder äußerlich überlieferten A uctorität freimacht und keine religiösen Behauptungen darum gelten läßt, weil sie irgendwann und irgendwo gegolten haben oder noch gelten, indem sie m it Einem W ort nach so langer Herrschaft der kirchlichen Gewohnheit, der S tab ilitä t und gelehrten oder ungelehrten Rechthaberei und Nach­ sprecherei mit der Erm ittelung der W ahrheit Ernst macht, wird sie erst zur W isse n sc h a ft.

D ie Theologie als Wissenschaft ist somit

theils Erlernung und Erforschung theils freie Kritik de» gesammten vom Ursprung deS Christenthums an überkommenen und vielartig gestalteten kirchlichen und wissenschaftlichen M a teria ls, und wer sich entschlossen hat, sie unbeirrt von Borurtheilen und Vorschriften le­ diglich nach dem Princip des anfänglich ausgesprochenen christlichen Endzwecks der Gottseligkeit zu bearbeiten, der befindet sich in der „ h o h e n S c h u le d e r T h e o lo g ie *)." *) Lebcnrbeschr. I I , S . 245. „Ich liebte die Gelehrsamkeit um so mehr, als ste da« einzig« fast allmächtige M ittel w a r, eigenes Nachdenken in der W elt zn befördern, welche« eine unüberwindliche K raft de« Gewissen« m it sich bringt. —

35

S e n ile r über Localtheologie.

S o entzieht sich © e r n t e t a ls K ritik e r dem Ansehen der kirch­ lichen Satzungen, sofern sie der freien Entscheidung vorgreifen w o l­ le n , und so sucht er als vergleichender und forschender G elehrter dieselben Erscheinungen wieder a u f, von denen er nicht beherrscht sein, denen er aber eine zeitliche und örtliche Bedeutung zuerkennen w ill. Beides, die kritische Unabhängigkeit einerseits und die gelehrte und wissenschaftliche Verbundenheit m it den näher oder ferner liegenden Gestaltungen des christlichen Glaubenslebens andererseits, scheint ihm gleich nothwendig.

S e in eigener S tan dpu nkt verräth w o h l die Ge­

gensätze, unter denen er sich gebildet h a tte , und fü h rt doch zugleich auf etwas Anderes und Neues.

D e r kirchlichen O rthodoxie gegen­

über beruft er sich m it den Pietisten gern au f die Gottseligkeit a ls den religiösen Endzweck, den er aber w eit abstracter und moralischer als jene a u ffa ß t und mehr von dem bestimmten G lau be nsin ha lt ab­ löst.

Umgekehrt th e ilt er m it den kirchlichen Theologen die gelehrte

M ethode, w ird ').

welcher nun

von ih m

der weiteste S p ie lra u m

eröffnet

K r itik und freie Forschung waren lange niedergehalten, in

kirchliche Schranken gestellt und auf gewisse Resultate hingewiesen; jetzt soll ihnen die ganze christliche W e lt offen stehen, sie sind Selbst­ zweck geworden und dürfen auf dem unermeßlichen Felde, sei es auch anfangs p la n lo s, umherschweifen.

Es braucht kaum gesagt zu w er-

Je mehr die Grundsätze der protestautischen Kirche einem jeden Menschen diese Freiheit des eigenen Denkens und Untersuchens gewähren wider die papistische vo­ rige Lehrordnung, daß er nun selbst in feinem Gewissen es entscheiden kann: desto liebenswürdiger wurden m ir diese Grundsätze." *) Lebensbeschreibung I I , S . 247.

„W ä r e sonst zu einem TheologuS nichts

nöthig: als das einmal von einem älteren TheologuS aufgesetzte systema theolo-

giae »ach historischer und hermeneulischer angesetzter Richtigkeit selbst iuue zu ha­ ben und ferner gelehrt zu vertheidigen w ider römische, re fo rm irte , arianische, socinianische Gelehrte: so würde wenigstens tentatio zuweilen keine sehr große Bedeutung haben.

Ic h würde eS wenigstens fü r eine sehr leichte Sache halten,

ein TheologuS in dieser A rt zu werden.

In

meiner A r t zu stndire» und zu le­

sen ist es m ir eine sehr schwere Sache geworden, w eil ich zum Lehramt eine immer fortgehende, sich immer mehr ausbreitende A rbeit gerechnet habe oder habe rechnen müssen, um meinem Gewisten im m er mehr ein Genüge zu th u » , da« m ir im m er

vorhielt x a ip p

J o v i-tu m 1, wonach kein Lehrer an meiner S te lle

da« zu thun im Stande sei, wa« ich gerade jetzt thun m üßte."

3*

Siebentes Buch.

36

Erster Abschnitt.

bett, daß S e n ile r im V e rh ä ltn iß zu früheren Freunden einer freieren protestantischen Lehrentwicklung einen bedeutenden, theilweise sogar ablenkenden S c h ritt weiter th u t.

E r stim m t C a l i x t und S p e n e r

d a rin bei, daß das christlich W ahre auch als ein sittliches W irksames und Heilbringendes sich erweisen, sittlich belebt werden müsse.

der

Glaubensstoff re lig iö s

und

W enn aber C a l i x t in der M a n n ig ­

fa ltig ke it der christlichen Bekenntnisse die einfache W urzel der a ltkirchlichen T ra d itio n a ls maaßgebend festgehalten, alle genaueren B e ­ stimmungen fü r verbefferlich erklärt, und wenn S p e n e r in allen uner­ ledigten Fragen sich gegen die Machtsprüche der alten Schule kräftig, aufgelehnt hatte:

so w ill S e m l e r überhaupt nichts Dogmatisches

von betn Rechte freier Untersuchung ausgeschlossen wissen.

D e nn

die Seelengefahr, die so viele Lehrer a lle r Parteien m it der dogma­ tischen Abweichung verbunden denken, findet in der T h a t nicht s ta tt; das D ogm a a ls solches hat keine Beziehung zur S elig keit, Niem and w ird schlechter, wenn er es v e rw irft, noch besser, wenn er es annim m t, und selbst die „sogenannten H eiden" werden durch die V erdam m ung der Theologen noch nicht v e r u r th e ilt'). Beschreibung des christlichen P rin c ip s

S e m le r bleibt sich in der und Wesens allerdings nicht

gleich, doch beschreibt er gewöhnlich das Christenthum als die höchste W o h lt h a t G o tte s

und lä ß t alle S elig keit davon abhängen, daß

w ir die von dem V a te r, dem S ohne und dem heiligen Geiste aus­ gegangenen Segnungen

selbst erfahren und genießen, nicht davon

daß w ir sie in einer unveränderlichen F o rm liefern .

Sinnesänderung,

thätige

aussprechen und über­

Besserung

und

zuversichtlicher

G laube an G o tt, welcher durch C h ristus und den heiligen Geist alle n u r erdenkliche moralische W o h lfa h rt fre i und offen den M e n ­ schen zufließen lä ß t, enthalten das christliche H e il,

und S e m l e r

findet es an vielen S te lle n seiner S ch rifte n unbegreiflich, daß die Christen m it diesem m o r a lis c h e n Besitzthum, dessen Nutzen a u f der H a nd liegt, sich nicht begnügt haben.

W ir finden ih n hier auf glei­

chem Wege m it dem besseren D e is m u s ; derselbe U e b e rtritt aus dem dogmatischen in das moralische C hristenthum , wobei es unbestimmt *) Ebendas. S . 243 ff.

Semler Über gesellschaftl. und moral. Religion.

bleib t, ob

37

es überhaupt noch irgend einer Lehrbestimmung bedürfe.

Derselbe voreilige Bruch m it dem System, der aber — der Unterschied — sammenbesteht.

und dies ist

m it frommen und schonenden Gesinnungen zu­

D e nn angelangt auf dieser Höhe w ill S e m l e r doch

keineswegs m it allem Kirchlichen brechen, sondern er stellt sich wieder fried fe rtig in die M it t e der Shstembildungen, welchen er die innere theoretische Nothwendigkeit abgesprochen hatte. Ueber diese Doppelstellung S e m le r 'S geben die Lebensbeschrei­ bung und spätere Schriften hinreichenden Aufschluß 1).

M a g im m er­

hin das Christenthum eine moralische R elig io n sein: so hat es sich doch von A nfang an den Bedingungen der G e m e in s c h a ft anschlie­ ßen müssen.

Nichts w a r natürlicher als die B ild u n g der verschie­

densten M einungen,

nichts

nothwendiger

als

Befestigung eines gemeinsamen Verbandes, der noch gährenden Elemente,

die E rh a ltu n g

und

zumal bei der Menge

bei der Ueberzahl der Unmündigen

oder Streitsüchtigen, von denen E in e r den Andern meistern wollte. D ie Entstehung von Kirchen und Confessionen und selbst die einer großen katholischen Körperschaft ist eine wohlbegründete Thatsache; m it ih r aber w a r die G ültigkeit einer Lehrordnung unauflöslich ver­ bunden, w e il die kirchlichen Theitnehmer nicht ohne „äußere" M e rk­ male geeinigt und von nachtheiligen Parteiungen oder V e rw irru n g e n abgehalten werden konnten.

Nicht der C u ltu s allein, auch die Lehr-

und Glaubenssprache erheischt eine kirchliche E in he it und sichert da­ durch den Zweck der R eligion. gelegen sein, die

Nicht m inder muß dem S ta a t daran

eingeführte Lehrordnung

zu schützen,

denn

der

M a n g e l oder die Auflösung einer solchen würde ihn auch der re li­ giösen und sittlichen Früchte großentheils verlustig machen.

K urz es

ist ohne Vereinbarung über gewisse Glaubensausdrücke kein friedliches kirchliches Zusammensein möglich. das Recht der Lehrordnungen,

das

S e m le r

hat

auf diese Weise

er anderw ärts in das Gebiet

der zufälligen localen Observanzen verweist, auf einen tieferen G ru n d zurückgeführt.

Und

obigen B e h au ptun g,

wie re im t sich nun diese E rklä ru n g zu seiner nach welcher

jede

ausschließliche dogmatische

*) V g l. bef. die Schrift Über gesellschaftliche und moralische Religion der Christen, Lpz 1786.

38

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

D e fin itio n a u f ein völliges M iß ve rstä n d n is des christlichen Wesens hinaus zu laufen scheint?

W a ru m

hat d a s, w as so wenig innere

W a h rh e it behält, sich doch jederzeit gezeigt?

anderes D in g Bon

w o hlth ätig und unentbehrlich

W e il, antw ortet S e m l e r , die m o r a lis c h e R e lig io n ein ist a ls

die g e s e lls c h a ftlic h e

und

h is to ris c h e .

diesen Kategorieen macht er ausschweifenden Gebrauch.

D aS

historische Christenthum um faßt die großen Kirchengesellschaften, eS bedarf,

um

Jederm ann

kenntlich zu sein,

der

Festsetzungen fü r

S itte und Lehre, dam it auch die Unselbständigen ihres G laubens gewiß bleiben und von den Gelehrten nicht E in er dem Andern B e ­ fehle giebt.

Diesem Zweck dienten vo r A lte rs die C o n c ilie n , dem­

selben nachher die symbolischen B üch er; tigen keinen Gewissenszwang, B o rtra g

regeln, die

der

denn die letzteren beabsich­

sondern wollen n u r den öffentlichen

kirchlichen Gemeinschaft

eigene religiöse

Borstellungsweise verdeutlichen und die A rtik e l angeben, welche in unseren Kirchen so lle n ').

im m er

mehr

Dagegen ist das

und

im m er

besser gelehrt

werden

moralische Christenthum P r i v a t s a c h e ,

zu ih m gehören die Fähigen und G eübten, welche allein die Lehre m it freier moralischer B eu rtheilun g

sich

anzueignen wissen.

Ih r

Glaube ist ein innerlicher und freier, der sich gar nicht vorschreiben läßt.

Z w a r ha t diese P riv a tre lig io n bald in der Herrschsucht der

K le rike r, bald in der vermeintlichen Untrüglichkeit der Kirche und ih re r Satzungen, welche wie ein „B ic e g o tt" die Gewissen einschränken sollten, daS größte H inderniß gefunden;

aber ihre F reih eit ist

fe it der R eform ation gewachsen, so daß die Privatchristen glauben d ü rfe n , durch Aehnlichkeit ih re r Bestrebungen m it einander verbun­ den zu sein.

W e r also der Kirche w a h rh a ft nutzen w i ll,

muß sich

von der Ungleichheit der Menschen und ebenso von der Unendlich­ keit der christlichen R e lig io n überzeugt haben; er muß wissen, daß die Lehrordnung daS M it t e l sei, die Gemeinschaft „äußerlich" zu­ sammenzuhalten, daß aber der moralische P riva tg la ube ebenfalls in Betracht komme, wenn die Kirchenchristen an W o h lfa h rt und S e lig ­ keit zunehmen sollen, und daß sich derselbe ohne S tö ru n g des öffent-

*) Lebensbeschreibung I I , S . 204 ff.

Seniler'« öffentliche und Privatreligion.

ZA

lichen Friedens zumal seit der Reformation in seiner Tendenz anSspreche» dürfe'). Mancherlei Betrachtungen werden durch diese Auffassung der Kirche und der Wissenschaft angeregt. Die Unterscheidung der ge­ sellschaftlichen und moralischen Religion erinnert in gewisser Weise an daS Verhältniß der sichtbaren zur unsichtbaren Kirche, deren Mitglieder sich im Hintergrund der geordneten Gemeinschaft bewegen und von den kirchlichen Gegensätzen nicht vollständig betroffen wer­ den. Nur giebt S e m l e r seinem moralischen Glauben einen mehr wissenschaftlichen W erth, derselbe bezeichnet den Standpunkt der Wissenden, die zum sittlichen Kern des Christenthums vordringen, welcher in den bestehenden Ordnungen mehr oder weniger eingeengt uftb verdunkelt zur Darstellung kommt. Der gesellschaftlichen Kirchenform macht nun S e m l e r die größten Zugeständnisse; nicht einmal sondern hundertmal spricht er von dem Nutzen der dogma­ tischen Kirchensprache, von der Unentbehrlichkeit doctrinaler Rede­ weisen, welche der drohenden Willkür und Sprachverwirrung vor­ beugen. Dagegen untersucht er nicht, ob nicht auch seine moralische Religion, wenn sie nicht in bloßen Individualismus ausarten soll, eine lehrhafte Verständigung nöthig haben werde. Die eine Rich­ tung braucht die dogmatische Formel, die andere darf in'S Unbe­ stimmte zerfließen; jener wird das Dogma, dieser die moralische Aneignung zugewiesen, beide stehen unvermittelt neben einander. Eine ähnliche Schwierigkeit ergiebt sich bei Betrachtung der beiden anderen Namen. Zwischen doctrina publica und privata war schon früher unterschieden worden, wenn man Nebenansichten ein­ zelner Theologen aus dem Consensus der Kirche herausstellen wollte; aber S e m l e r macht etwas ganz Anderes aus dieser Distinction. Ih m ist die Privatreligion keine Nebenansicht mehr, sie ist die un­ gehemmte sittliche Entwickelung der Religion selber, während alle kirchlichen Lehrgestalten von dem Drang und Nothstand Zeugniß geben, unter welchem sie entstanden sind. Und dieser Privatglaube ist, je mehr die Einsichtsvollen den kirchlichen Schranken entwachsen, ') Ueber gesellschaftliche und moralische Religion S . 212 ff.

40

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

LM so mehr im Zunehmen begriffen und findet seine stärkste Stütze in der protestantischen Wissenschaft. Wollte man sich einen für © e rn te t wünschenSwerthen Zustand der Christenheit denken: so würde derselbe eine für die „Ungeübten" geltende Lehrordnung ent­ halten und daneben eine in's Ungeheure sich ausbreitende, also immer öffentlicher werdende Privatreligion. Eben darin zeigt sich das Inadäquate der von ihm aufgestellten Begriffe.. D er Name P rivatreligiou ist bescheiden gewählt und trägt doch den ganzen Anspruch freier Erkenntniß und Wissenschaft in sich; er verräth Schonung vor dem Bestehenden und deutet doch auf die M ittel und Mächte, es zu verdrängen. D a s Bild religiöser Gemeinschaft und Wechsel­ wirkung zerfällt, wenn die der Entwicklung förderliche Richtung zwar freigegeben, aber einer völlig unbestimmbaren Privatangelegen­ heit gleichgestellt wird. S e m l e r bemüht sich, diese Sphären zu scheiden, unterläßt aber, sie auf einander zu beziehen, er glaubt Alles gethan zu haben, wenn er seine Privatreligion aus pen Schranken kirchlicher Bevormundung herausgezogen als ein Feld freier Erkenntniß und Beurtheilung, unbekümmert darum , ob sie ein organisches Verhältniß zu dem historischen Glauben habe und haben könne. Und wie ungenirt stellt S e m le r diesen letzteren einer symbolisch eingeführten Kirchensprache und Lehrformel gleich, über welche sich hinwegzusetzen nur Sache der größeren Uebung und Fähigkeit sei! S o unbefriedigend ist eine Auffassung, welche allein mit den Begriffen der Localtheologie, des gesellschaftlichen und moralischen Christenthums, des öffentlichen und Privatglanbens die vorhandenen Widersprüche in der angegebenen Weise zu lösen unternim mt, sie endigt mit der Frage, ob am Ende alles Christliche ein locales sei, weil eS örtliche Grenzen hat! Es ist der erste rohe Versuch, mit dem Rechte und den Bedingungen öffentlicher Krrchengemeinschaft eine unbeschränkte wissenschaftliche und religiöse Freiheit des Einzel­ nen zu vereinbaren. Jndeffen so unvollkommen diese Distinktionen auch sein mögen: so sind sie doch nicht allein für ihren Urheber charakteristisch, der kritisch und konservativ zugleich gestimmt als M ann des entschiedensten Fortschritts doch keinen Bruch mit dem

41

Ungleichheit der Menschen in der Religion.

Bestehenden auf sich nehmen w ollte, sondern enthalten auch, — w er w ollte das leugnen, — an sich sehr bedeutende M om ente.

Schon das

ist wichtig, daß sich S e m l e r au f die U n g le ic h h e it der Menschen be­ ru ft,

nachdem die Kirchenparteien so lange Z e it deren G le ic h h e is t

vorausgesetzt hatten. stimmung

zu ihren

B is h e r hatten Lehrsätzen

die Confessionen

verlangt

und

wo

einfach Z u ­

dieselbe

versagt

w u rd e , den G ru n d in einer S chuld und W illk ü r des Einzelnen ge­ sucht, und diese F olgerung w a r auch zulässiger in einem Z e ita lte r, wo es da rau f ankam, große Massen durch Glaubenseinheit zusam­ menzuhalten. geworden,

Jetzt aber waren die Menschen zw ar nicht ungleicher

aber fähiger sich selbst

und zu fassen,

folglich

mußte

in

ih re r Ungleichheit zu folgen

die persönliche Verschiedenheit der

Theilnehm er an der christlichen Gemeinschaft stärker als bisher in Rechnung gebracht werden.

F erner aber redet S e m l e r nicht um ­

sonst von dem „ u n e n d lic h e n I n h a l t

der christlichen R e lig io n ".

E s schwebte ihm dam it etwas Id e a le s und Unerreichtes vor Augen. D en

bisherigen

dogmatischen

Bann

und

Abschluß

durchbrechend

suchte er die H errlichkeit des Christenthum s eben d a rin , diese höchste W o h lth a t G ottes an so vollständig, W o rte

wie die

fassen lasse,

die

christliche

kirchlichen Gesellschaften angenommen, W enn

Entwicklung

also in

die M e h rh e it behauptet hatte, den

wesentlich

abgeschlossen sei:

C a lix t ,

S p e n e r u. A . anknüpfend, —

noch f o r t,

in

sondern einer vollkommneren E rgrü nd ung und

D a rste llu ng fähig sei. daß

daß sich

die Menschen nicht so leicht und

kirchlichen

Lehrordnungen

so antw ortet S e m l e r , N e in ,



hier

an

sondern sie geht

sie vollzieht sich ebenfalls in der Geistesthätigkeit einzel­

ner Persönlichkeiten,

und die Wissenschaft hat die B a h n zu erw ei­

tern und von Schranken zu befreien,

an

welche sich die

Körperschaften bis jetzt nicht ohne G ru n d gebunden. S e m l e r keineswegs o h n e G la u b e n ,

großen

Folglich w a r

er glaubte an den u n e n d ­

lic h e n S ch a tz der christlichen R e lig io n und

an deren Fähigkeit in

neue Auffassungsweisen einzugehen, und h ie lt die Z e it fü r gekommen, wo die U nhaltbarkeit der alten A uctoritäten gründlich dargethan uitd eine reinere G laubensform

aufgesucht werden müsse.

G lauben gründete er im m er noch au f die drei N am en,

Und

diesen

welche die

42

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

T rin itä tsfo rm e l umfaßt, weshalb er denn auch das altkirchliche S ym bol stets in Ehren

gehalten hat.

Daß

nun S em l er zur

Umbildung der deutschen Theologie kräftig Hand anlegte, daß er ohne Geringschätzung der

öffentlicheri Lehrordnungen,

aber auch

ohne Furcht vor Machtsprüchen und Gewohnheitsrechten und im guten Vertrauen auf die unvergängliche Dauerhaftigkeit des Christen­ thums alle Kräfte einer neuen Bearbeitung der theologischen D is c i­ plinen m it deutscher Unermüdlichkeit und vielseitigem E rfolg widmete,— das ist fein Ruhm und fein Verdienst, und es soll ihm ungeschmälert bleiben'). M i t solchen immer mehr erstarkenden Entschließungen stürzte sich S e m le r in das M eer der Quellen: und H ü lfsm itte llite ra tu r, um eS in weiten Strecken zu durchschwimmen; man muß sich wun­ dern, daß er nicht darin untergegangen ist. Daß er die Bibliotheca

maxima patrum durcharbeitete, bezeichnet nur eine einzelne Rich­ tung seiner unersättlichen Leselust. der patristischen Literatur haupt

m it

den

kirchlichen

Kein Früherer hat sich außer

auch m it der scholastischen sowie über­ Geschichtsquellen

des M itte la lte rs

in

gleichem Umfang, wenn auch oft nur excerpirend, bekannt gemacht. I n wissenschaftlicher Beziehung fand er, daß die deutsche Theologie viel­ fach gegen die ausländische zurückstehe, daher seine Aufmerksamkeit auf die hervorragenden Niederländer und Engländer. B o s s iu s ,

der katholische K ritiker R ic h a rd

lischen Theologen und K ritiker R . B a x t e r ,

C le r ic u s ,

S im o n , W h itb y ,

die eng­ W h is to n

u. A . wurden in ihrer Wichtigkeit erkannt. Doch erließ er sich auch nicht, in dem hermeneutischen und dogmatischen Fach die kirchlich lutherische L i­ teratur von M e la n th o n , F la c iu S , C h e m n itz , G e r h a r d , H u t ­ te r bis zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts, — denn weiter reichen in der Regel seine Vergleichungen nicht, — genau zu verfolgen. N u r das Alte Testament lag ihm ziemlich fern, von welchem er be*) Schmid, die Theologie Semler'S, S . 1 7 2 : „D e n n bas ist es, w as S em le rn v o r den Theologen seiner Z e it auszeichnet, daß er sich's den größten Ernst hat kosten lassen, alle theologischen D iscip lin e n durchzuarbeiten und so zu gestalten, daß sie seine Auffassung vom Christenthum zu beweisen und zu rechtsertigen schienen."

Semler'« Bibelstudien.

43

hauptete, daß es als eine fremde Historie gar nicht zu unserem eige­ nen Christenthum zu rechnen sei **). I n der Kürze versuchen wir jetzt, seinen Leistungen durch die wichtigeren Disciplinen nachzugehen, da gerade in der Untersuchung des Einzelnen, nicht des Ganzen, seine Stärke liegt. Um mit den B ib e lstu d ie n zu beginnen: so fehlte S e m le r zum Exegeten die verweilende Ruhe, die anschmiegende Genauigkeit, die strenge M e­ thode. S ta tt eigentlicher Commentare zum Neuen Testament lieferte er Paraphrasen, jetzt vergessen, damals nützlich als Anleitungen zu einer verdeutlichenden Reproduction des Textes ’). Sein Talent tritt erst hervor, wo es auf Bewältigung großer Stoffmassen oder auf Scheidung und Verknüpfung ankommt, wo neue Fäden angeknüpft oder bereits vorhandene fortgeleitet werden sollen. I n der diplvmatischen Kritik bildet er ein nicht zu übersehendes Mittelglied. Ab­ lenkend von dem mehr äußerlichen Verfahren W e tts te in 's ergriff er mit Sicherheit die Bengel'schen Fingerzeige und lieferte den ersten bestimmteren Entwurf eines Recensionssystems der Handschrif­ ten, der nachher durch G rie sb a c h die glücklichste Ausführung er­ hielt. Er vertheidigte die latinisirenden Handschriften und bestritt den Werth des Complutensischen T extes3). Von Ausscheidung verdächtiger Schriftstellen war damals unter den Deutschen noch wenig die Rede. S e m l e r 's Untersuchungen über Io h . 5, 4 ff. und Kap. 8 , über die beiden letzten Kapitel des Römerbriefs und die letzten Abschnitte des zweiten Korintherbriefs haben sich nachmals nur theilweife bewährt*); doch zeugen sie von einem tastenden Scharfsinn, welcher äußere und innere Auffälligkeiten zu verknüpfen weiß, und führen in das Gebiet jener feinen sachlichen und sprach­ lichen Wahrnehmungen, in welchem sich zeither die biblische Kritik unter abwechselnden Erfolgen eingebürgert hat. Höchst rühmlich ist *) Den besten Ueberblick über diese Studien geben der zweite Band der Biographie sowie die bekannten Einleitungen zu Baumgarten'« Werken. *) Als Exegeten hat ihn schon Michaeli« richtig beurtheilt, Tholuk S . 63. *) Vgl. Eichhorn'« Abhandlung a. a. O . S . 49 ff. Reuß, Geschichte der nentest. Schriften § 411. *)

Diss. de duplici appendice epistolae ad Romanos, 1767.

Siebentes Buch.

44

die au f W e t t s t e i n 's

Erster Abschnitt.

Vorarbeiten

unechte T rinitä tsste lle 1 J o b . 5 ,

ruhende Abhandlung

7,

daß die Texteskritik keine verlorene M ü h e sei, F ällen bei vollständiger Kenntniß

über die

denn sie lieferte den Beweis, daß sie in manchen

des M a te ria ls und sorgfältiger

Benutzung a lle r Jud icie n ein überzeugendes U rth e il fällen konnte'). W e it wichtiger a ls diese Specialforschungen w a r die Revision der hermeneutischen Grundsätze') und die kritische B eu rtheilun g des K anons.

W as

S e m le r

in

dieser Beziehung wagte, w a r nicht

allein durch deistische E in g riffe ,

sondern auch durch mancherlei A n ­

deutungen innerhalb der Theologie, bereitet, erleichtert

zum al

es wurde durch L e s s i n g ' s und ihm selbst kam dabei

V o rb ild u n g zu H ülfe.

der

re fo rm irte n ,

v o r­

fast gleichzeitige Anregungen seine

philologisch-historische

D enn wie er Abschreiben und Drucken als

menschliche Geschäfte ansah, die bei der heiligen S c h rift nicht anders a ls

bei den Klassikern vor sich gegangen sein können,

und wie er

alle literarische Erscheinungen fü r örtlich und zeitlich bedingt erklärte: so lag es auf seinem W ege,

dieselben U rthe ile auf die Entstehung

der biblischen Bücber anzuwenden.

E in W agniß w a r es aber doch.

S o lange hatte die heilige S c h rift als geheiligter K örper, unantast­ b a r und abgelöst von allem menschlichen S c h riftth u m , dagestanden; a ls Ganzes hatte sie gew irkt,

a ls Ganzes das protestantische E r ­

kenntnißprincip dargestellt. Und jetzt sollte diese E in h e it gelöst w er­ den!

D e r Kanon, behauptet S e m l e r ') , ist nichts Untheilbares, das

beweisen fü r das Alte Testament die P arteien der S a m a ritü n e r und S adducäer, die sich m it einem kürzeren begnügten; und er ist nichts Ursprüngliches, Abschluß im

das beweist fü r das Neue Testament das seinem

vierten J a h rh u n d e rt vorangehende Z e ita lte r;

her ih m beigelegte Abgeschlossenheit besitzt er also nicht.

1) S em ler's D ogm atik.

Samm lungen

über

die

sogenannten

Erstes Stück über 1. Io h . 5, 7.

die b is ­

.W enn die

Beweisstellen

in

der

Halle und Helmst. 1764.

2) Hierher gehören: Vorbereitung zur theolog. Hermeneutik; Neuer Versuch, die Auslegung und Anwendung des N . T . zu befördern; Apparates ad libera­

lem N. T . interpretationem.

S . Neuß, ebendas. § 573.

3) V g l. über diese Sätze die Hauptschrist: suchung des Kanon, Halle 1771, 1772.

Abhandlung von freier Unter­

Sem ler's Urtheile über den Kanon.

45

B ildung und Vollendung der neutestämentlichen S am m lu n g mehrere Jah rh u n d erte einer schwierigen Entwicklung kostete: so darf man das fertige Ganze nicht zur G rundlage des christlichen G laubens und Lebens machen, weil es eben zu Anfang noch nicht vorhanden w ar. Einige Urgemeinden hatten anfangs keine evangelischen Schriften, andere nur wenige, über die Zulassung m ehrerer blieben die M e i­ nungen getheilt. „ D a s Christenthum ist da, wenn gemeine Christen auch gar nichts von allen Büchern des Alten und Neuen Testam ents w ü ß te n "'). D ie G ründe, welche nachher ein Ir e n a u s für die noth­ wendige Bierzahl der Evangelien anzugeben w ußte, waren willkür­ lich und lächerlich. Aeußere G ründe und menschliche Urtheile, nicht innere Nothwendigkeit, haben in einzelnen Fällen über die Aufnahme entschieden. Folglich kann der bloße Umstand, daß sich ein Buch innerhalb des Kanons befindet, noch keinen B ew eis der Göttlichkeit abgeben, sondern diese muß au s-d er Beschaffenheit des I n h a lts und aus den gottgemäßen W irkungen hervorgehen. W as lernen w ir aber fü r unsere Gottseligkeit aus Büchern wie Esther, R u th , E sra , N ehem ia? w as nutzen die Geschichten des S im son, Abimelech, J e robeam zu unserer moralischen „A usbesserung"? wer darf sich ihrer zu theologischen Beweisen bedienen, wer das Zeugniß des heiligen Geistes aus ihnen empfangen wollen? W as hat es für einen S in n , die In sp iratio n auch da zu postuliren, wo das V orgetragene m it dem christlichen Endzweck in keiner Verbindung steht*)? „ M it dem lieben alten Kanon hat es also keine N oth. D a s Christenthum bleibt stehen, weil es auf eine göttliche allgemeine K raft der erlang­ ten angewendeten W ahrheiten gegründet ist; ob aber der Kanon einige Bücher weniger zählt, daran ist Nichts gelegen." Z um B e­ weise, daß nicht die kanonische S tellu n g sondern der I n h a lt und dessen unerschöpfliche religiöse und sittliche Fruchtbarkeit auf den göttlichen Charakter einer S chrift schließen lassen, wie dies auch 2 T im . 3, 16 ausgesprochen fe i*23), beruft sich der Kritiker noch auf *) Versuch von freierer theol. Lehrart, S . 108. 2) Ebendas. Abhandlung I, S . 34, 66 u. o. 3) Sem ler übersetzt hier mit Beibehaltung des x«/ richtig: omms scriptura divinitus inspirata utilis est etc.

46

Siebente» Buch. Erster Abschnitt.

die „Abwechselungen in der Lehrart" über Inspiration und Kanon; er verweist auf A u g u stin 's freiere Aeußerungen, auf L u th e r'« dreiste Zurücksetzung einzelner Bücher und ähnliche Ansichten bei B u c e r, P e llic a n u s , A g ric o la , C a lix t und P f a f f ') . S o ­ dann geht er die Reihe von Instanzen durch, welche die älteren Dogmatiker als Beweismittel der Theopneustie zusammengestellt hatten. S o Vieles und Wichtiges man zu diesem Zweck anführen mag wie hohes Alter der heiligen Schrift, Herrlichkeit ihrer Lehre, Einfachheit der Sprache, wundervollen inneren Zusammenhang, be­ kehrende und heiligende Kraft, Wirksamkeit zur Enthüllung der Ge­ heimnisse der menschlichen Gemüther, Tauglichkeit zur Bestreitung der Häretiker, Stärke und Stetigkeit der für die Bibel vorhandenen kirchlichen Ueberlieferung, Beistimmung aller Nationen, schnelle Ver­ breitung der christlichen Religion, Erfüllung der Weissagungen, Standhaftigkeit der M ärtyrer im christlichen Bekenntniß, — alle solche Argumente, sowie die mancherlei Formen des testimonium Spiritus sancti, sind in sich selbst sehr ungleichartig und haben ent­ weder keine strenge Beweiskraft oder keine unmittelbare Beziehung auf die biblischen Urkunden, oder endlich dürfen sie nicht auf alles Biblische in gleichem Grade angewendet werden. Dieser hergebrach­ ten Begründung und Vertheidigung gegenüber durfte S e m l er aus­ rufen: „ich erkühne mich, den Zaun zu zerreißen, den man wie ein Gehege um alle Schriften gelegt hat""). E s ist nicht schwer, von einem vertieften und vergeistigten Standpunkt der Schriftbetrachtung aus S e m l e r 's kritisches Verfahren zu bemängeln und zu berich­ tigen; aber eben diesen Standpunkt verdanken wir großentheils doch ihm, und was er v e r w a r f, die Gleichstellung beider Testamente, die principielle Gleichschätzung aller biblischen Bestandtheile, die buchmäßige Abschließung des Kanons, die Verkennung der Ab­ stufungen innerhalb desselben, die Inspiration des T e x te s , die Jdentificirung von Schrift und Offenbarung, — das hat er auch siegreich bekämpft und es ist niemals wissenschaftlich hergestellt wor') S . Abhandlung T h. II. ä) Sou freier Untersuchung sc. II, S . 24 ff.

Urtheile über das A. T . und die Apokalypse.

den.

47

Dem Anschein nach w ar dieses Resultat ein gänzlich destruc­

tives, es zerstörte m it Recht die a lte Form des S chriftprincips, es sollte aber auch, — und dies hat S e m le r mehr geahnt als aus­ gesprochen, — zu einer neuen und besseren Behandlung der heiligen S ch rift antreiben.

Hatte die ältere Theologie alles Biblische syste-

m atisirt und generalisirt: so mußte von nun an ein individualisirendes Verfahren an die S telle treten; es wurde nöthig, dem Einzel­ nen und seiner Eigenthümlichkeit und Entstehung gründlich nachzu­ gehen, damit eS auf diesem schwierigen Umwege möglich werde, auch das Gemeinsame im Zusammenhang m it Unterschieden und bringen.

S e m le r

Abstufungen

auf's

den kritisch ermittelten

Neue zur Anerkennung zu

blieb bei seinem allgemeinen moralischen und

praktischen Maaßstabe stehen.

D as Alte Testament ist ihm n ur eine

Sam m lung von Nationalschristen verschiedenen W erthes, —

denn

man kann Türken und Heiden zu wahren Christen machen, ohne daß sie von manchen dieser Historien etwas wissen'), — aber auch das Neue ist von ungleicher D ig n itä t, da es n ur in den lehrhaften Schriften „Grundsätze" darbietet und moralische Anwendungen er­ laubt.

In d e m

so S e m le r

lediglich nach dem abstract gefaßten

Maaßstabe der sittlichen Brauchbarkeit die Schriftstücke höher oder nie­ driger stellt, fü h rt sein U rtheil zu den grellsten Contrasten.

Nicht

lange vorher hatte sich noch B e n g e l m it tiefster Verehrung und grüblerischem Scharfsinn in die Zukunftsbilder der Apokalypse ver­ senkt. F ü r S e m le r ist sie jetzt das wahre axävdaXov rijs 7Qctq>rjs, ein

„finsteres und

albernes Buch",

dessen Verfasser keine finea

aanctissimos gehabt, dessen grobe B ild e r man gar nicht in fromme Begriffe und Lehrsätze verwandeln kann.

Schonungslos schüttet er

hier die Pfeile seines W iderwillens aus,

so wie er auch m it dem

Nachweis der Unhaltbarkeit der Zeugnisse fü r den apostolischen U r*) Ebendas. Antwort aus die Göttingische Recension S . 241. Vgl. Bd. I, S . 70: „Ein gesunder Auszug aus den Büchern des A. T. würde die christl. Lehre und Religion viel leichter und überzeugender durch Ersahrung empfehlen als die kalten Wiederholungen von Begebenheiten, die ganz und gar ausländisch, ganz fremd uud unbekannt für uuS und unseren Geschmack in der Erkenntniß und Moral find uud bleiben."

48

Siebentes Buch. Erster Abschnitt.

sprung rasch fertig w ird. D en Tübingern aber w ird vorgehalten, wie w eit sie, imm er noch bei der A uctorität ihres a v t o g e y a ver­ h arren d , in der G e l e h r s a m k e i t zurückgeblieben feien123). S e n i ­ l e r e s Geist w a r, wie E i c h h o r n bemerkt, zur W ürdigung gerade dieses Buches ganz ungeschickt. A ls K i r c h e n h i s t o r i k e r ist S e m l e r m ehrm als und a u s­ reichend beurtheilt w orden'). An Belesenheil und B reite des S t u ­ dium s mag er seinen größten V orgängern gleichstehen, in einzelnen Richtungen, wie in der historisch-politischen Quellenforschung des M ittelalters, sogar überlegen sein, doch kann er weder an Geschmack und M ethode m it M o s h e i m , noch an ausharrender Gründlichkeit m it C h r . F r . W . Wa l c h verglichen werden. N u r sein kritischer Scharfblick wiegt die Gebrechen seiner oft unleidlichen Schreibweise auf, während uns zugleich die enorme A rbeitskraft, m it der er sich von den magersten H ülfsm itteln ausgehend zum umfassenden Kenner em porarbeitete, Bewunderung abnöthigt. S e m l e r hat sich in mancherlei historischen D arstellungsform en versucht, in der annalistischen, tabellarischen, untersuchenden, in allen liefert er fruchtbare V orarbeiten. S e in Hauptwerk w ählt die unvollkommenste Form der C enturien und verläuft in einer übersichtslosen Anhäufung von Notizen. Epochemachend wurden diese Schriften °) theils durch die in ihnen dargebotene Bereicherung des M a te ria ls , theils durch die dreiste Umgestaltung der historischen Urtheile. Sachen und M en ­ schen werden m it moderner Elle gemessen. S e m l e r besitzt wenig Fähigkeit und Neigung, sich in vergangene Zustände der Christenheit *) Vgl. Bd. I der freien Untersuchung, dazu die Vorrede zu Stroth's frei­ müthiger Unters, die Offeub. I o h . betr. Halle 1 771, und S .'s Neue Unters, über die Apok. H. 1770. 2) Eichhorn, S . 93. B a u r, D ie Epochen der kirchl. Geschichtsschreibung. S . 144. 3) D ie wichtigeren sind: Selecta cap. hist. eccl. Hai 1767, 1769; Versuch eines fruchtbaren Auszuges der K.-G. 3 Bde.; Versuch christlicher Jahrbücher, H. 1783; Neue Versuche, die K.-G. der ersten Jahrh, mehr aufzuhellen, Lpz. 1788; Novae observatt. a d b .e. ; Versuch, den Gebrauch der Quellen in der StaatSund K.-G. zn erleichtern. H. 1761.

49

Aufklärung der Kirchengeschicht«. m it P ie tä t zurückzuversetzen'),

vielm ehr zieht er sie ganz an sich

heran und u n te rw irft sie seinem aufklärenden G erich t,

d a m it der

N im b u s ,

der die Augen der Wissenschaft so lange geblendet hat,

schwinde.

D a h e r setzt er die erste Epoche der Kirchengeschichte tie f

herab, so tie f

daß das M itte la lte r verhältnißm äßig höher geschätzt

und besser zu E hren zum

g e b ra c h t'),

historischen Verständniß

w ird .

das fünfzehnte J a h rh u n d e rt aber

der

R eform ation

Ueberall d rin g t er d a ra u f,

sorgfältig

benutzt

daß die Geschichtschreibung sich

der hergebrachten kirchlichen Gemeinplätze

entledige und

über

die

stabilen B e g riffe von E in he it, Nothwendigkeit und Unveränderlichkeit hinauskomme. denes,

D e n n wenn schon der biblische Kanon ein G ew o r­

kein ursprünglich Gegebenes is t:

alle anderen kirchlichen Factoren

wie

vie l mehr müssen sich

in wechselnde und wandelbare B e­

standtheile auflösen lassen! W o man bisher in S y m b o l und D o gm a feste Basen gesucht h a t, lichen

Verhältnissen

herrscht, doch der n u n g ";

wenn

und

da ist doch A lles den örtlichen und w elt­ Bedürfnissen

unterw orfen

da

unvermeidliche Z w a n g

einer

„äußerlichen R e lig io nsord­

und wo umgekehrt in den m it Ketzernamen überschriebenen

K ap iteln n u r A b fa ll und Unbestand gefunden worden, die unschätzbare F reih eit der „eigenen R e lig io n ". fassung w ird die wahre H istorie kirchlich

da zeigt sich

B e i solcher A u f­

die allergewiffeste B elehrung f ü r

denkende Christen jetziger Z eiten da rbieten'). bisher

gewesen,

nicht der Eigennutz und Ehrgeiz des Lehrstandes,

S e m l e r w ill also die

eingedämmte Kirchengeschichte entschränken

und in

F lu ß bringen; er ist gegen das Klerikalische noch mehr a ls A r n o l d eingenommen,

während er die Uebergriffe der Kaiser und Fürsten

glim pflich und o ft allzu glim pflich beurtheilt. Jah rhu nde rten sagt er geradezu,

V o n den drei ersten

daß die blinde V erehrung dieser

Urzeiten noch g a r keine A ufhellung ihres Zusammenhanges habe ver­ suchen lassen.

U m so mehr erwuchs fü r ihn selbst aus der b is-

*) Ich möchte daher nicht mit Thvluck a. a. O. S . 52 sagen: „Je weniger nämlich seine Zeitgenossen ans ihn eine Einwirkung ausübten, desto mehr die Vorzeit." *) Vgl. s. treffenden Urtheile über die Scholastiker. Tholuck, S . 71. *) S . z. B, die Vorrede zu dem Versuch christlicher Jahrbücher. H. 1783. Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

4

50

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

herigen Ungewißheit eine kritische Aufgabe. Wie ist an s der freien persönlichen Wirksamkeit der Apostel die nachfolgende schon kirchlich norm irte Gemeinschaft hervorgegangen? S e m l e r ergriff diese Frage m it Scharfsinn, indem er auch hier dieselben ihm geläufigen Kategorieen zur Anwendung brachte. Christus selbst hat eine doppelte Lehrart gehabt, da er von „geübteren" und „ungeübteren" Schülern umgeben w ar. Ebenso lassen die apostolischen Gemeinden beschränkte und geistig entwickelte Bekenuer unterscheiden, und die Evangelien­ bildung stellt diese Differenz a n 's Licht; jenes waren die Judaisten, dieses die gnostischen Heidenchristen. P e tru s und P a u lu s wurden die Repräsentanten zweier Richtungen, und ihr Anhang führte, zur P arteiung, wie die Paulinische B riefliteratur beweist. Nachher aber forderte die Ausbreitung der Gemeinden wieder E inigung; die ka­ tholischen Briefe verrathen das S treben nach Ausgleichung der vor­ handenen Gegensätze. D ie Nachfolger sorgten weiter fü r die Katholisirung, aber indem sie die Vorstellung einer katholischen Kirchen­ einheit fixiren wollten, griffen sie nach irrigen Nachrichten, z. B , über den Tod des P etrus und P a u lu s , wodurch der ursprüngliche Sachverhalt unkenntlich gemacht und dem Geschichtsforscher ein fal­ sches B ild vorgehalten wurde.

H ier wie anderw ärts will der

Kri­

tiker aus der persönlichen Freiheit der „Privatreligion" durch E nt­ zweiung und Vereinbarung die festere Gestalt der gesellschaftlichen G laubensform hervorgehen lassen'). Unwillkürlich w ird man bei seiner Erklärung an die kritischen Ansichten der Neuzeit erinnert, uud jedenfalls war es verdienstlich, wenn er zuerst auf die Dunkel­ heit jener Uebergangszeit aufmerksam machte und wenn er zugleich die mehr persönlich und natürlich bestimmten Verhältnisse des apo­ stolischen Lebens von den schon kirchlich bedingten der nachfolgenden Periode unterschied. Berühren wir das Dogm en- und literarhistorische Gebiet, so empfangen wir abermals den buntesten Eindruck. F ü r den heutigen Leser ist es auffällig, wie S e m l e r in den berühmten Vorreden *) Vgl. Eichhorn fl. fl. O. S. 66 ff. Hilgenseld, Der Kanon und die Kritik des 91. T. Halle 1863. S . 105 ff.

Semler'S dogmenhistorifche Urtheile.

51

zu B a u m g a r te n 's Polemik und Glaubenslehre bald aufspeichert, bald aufräumt und mit Lob und Tadel um sich wirst. DaS Wenigste weiß er den Vätern der ersten Jahrhunderte abzugewinnen. D er Brief des Barnabas ist untergeschoben, der Pastor des HermaS eine gar „elende Arbeit", Justin ein „elender ungesunder Verfasser", der In h a lt des Tatian „anstößig und ungesund" vollends der arme PapiaS als der ofuxgög töv vovv findet gar keine Gnade mit sei­ nen Zeugnissen. Nicht viel besser ergeht eS dem „unordentlichen" Tertullian, dem Jrenäus. Späterhin erndtet Bastlius als Kirchen­ fürst und wegen seiner Schrift De spiritu sancto ein ungewöhn­ liches Lob *). Z ur Bezeichnung kirchlicher Richtungen hält sich der Schriftsteller- an die Oberhäupter der kirchlichen Provinzen. Wie von Tertullian und Cyprian ganz Afrika bestimmt wird: so kann man auch weiterhin geographisch fortfahren, man wird überall eine gewisse Local- und Provinzialtheologie vorfinden, da sich die Klerisei einer ganzen Gegend an Einen Anführer zu halten pflegte. Dieses Princip der Localtheologie muß am Ende zu dem Geständniß füh­ ren, daß das Christenthum wie jede andere Erscheinung nur locale Entstehung und Existenz hatte, womit dann noch nichts weiter be­ wiesen ist. Dieser Maaßstab bleibt also oberflächlich und äußerlich, aber mitten unter S e m le r 'S desultorischen Urtheilen finden sich scharfsinnige Winke über verdächtige Bestandtheile der kirchlichen Litera­ tur und treffliche kritische Aufschlüsse z. B . über das Nicänische Concil und Aehnliches. Ein Beispiel sorgfältiger und dennoch unglücklicher Kritik bietet der von S e m le r bestrittene Brief des PliniuS an T rajan '). Aber demselben Tertullian, der übrigens so unbillig von ihm behandelt wird, hat er durch seine Ausgabe und durch Anord­ nung der Schriften große Dienste geleistet'). Im Allgemeinen hat­ ten diese dogmenhistorischen Excurse den Erfolg, den Forschungstrieb zu reizen, die Kirchenväter wurden Hebel der Kritik, nachdem sie so lange nur Stützen des kirchlichen Ansehens gewesen waren. ') S. Semlcr's Einleitung zu Baumgarten's Polemik II, S . 6 ff. 2) Neue Versuche, die K -G. der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären. S. 119 ff. 3) Tert. Opp. ed. Semler, 1770— 1773. 6 voll.

52

Siebente« Buch.

Erster Abschnitt.

I n sachlicher Beziehung geht natürlich seine Ansicht dahin, die Gültigkeit des Dogma's nach den beiden Hauptrichtungen historisch zu erschüttern. C larke und W histon haben richtiger als B u l l verglichen, welcher die Nicänische Lehre ohne Weiteres aus den Vätern der ersten Jahrhunderte demonstriren will. Nein, antwortet S e m le r mit Recht, sie enthalten dieselbe noch nicht, so wenig wie der Arianismus als gradeö Resultat der Schrifterklärung anzusehen ist. Noch weniger will sich S e m le r von der biblischen und religiö­ sen Nothwendigkeit der Augustinischen Lehren überzeugen; in dieser Beziehung waren ihm W h ith h 's frühere Untersuchungen sehr will­ kommen *). Wie kann man Lehrstücken wie die von der Gnadenwahl und selbst von der Erbsünde eine allgemeine kirchliche Gültigkeit bei­ legen, nachdem sie doch der älteren griechischen Literatur vollständig und der lateinischen theilweise fremd gewesen waren! Die Behaup­ tungen der afrikanischen Localkirche sind darum noch keine reinen Ergebnisse des christlichen Glaubens. ES war innere Sympathie, nicht allein der Wunsch einer erneuerten unbefangenen Beurtheilung, was S e m le r bei der Herausgabe der Epistola ad Demetriadem leitete*). Seine Absicht ging abermals dahin, den Damm einer ver­ jährten und oft blindlings anerkannten Ueberlieferung zu durch­ brechen und die gewaltthätige Unterdrückung einer bedeutenden und kirchlich tadellosen Partei zu rügen**3). Aber auch sachlich ist dem P e la g iu S Unrecht geschehen; er war Gegner der Augustinischen Theologie, aber deshalb noch nicht der christlichen. Die afrikanischen Decrete waren durch äußere Umstände, durch A u g u stin 's hierar­ chischen Stolz einem unbekannten und namenlosen Mönch gegenüber, durch die neu aufgebrachte Meinung vom tradux peccati und die *) S . B d. III, S . 321. *) Lebensbeschreibung II, 348. „Gegen PelagiuS war ich schon frühe etwa« glimpflich gesinnt. Peccatum cum homine naaci, da eS doch ein moralisches Prädicat ist, konnte ich so geradehin nicht bejahen." Vgl. 6ie Praefatio zur Aus­ gabe der Ep. ad Demetr. H ai. 1775.

3) Praef. Semleri. Nec me piget et poenitet liberalia et ingenuae audaciae, licet multorum publica et private odia atquo vituperia sic in me unum maxime provocaverim. — Quantum injuriae indignitatisque pertulerunt 1111 veri Christianismi festes et confeaaorea.

©erntet als Gegner des Augustinismus.

53

Kindertaufe herbeigeführt, und sie sind dem Ganzen der lateinischen Kirche widerrechtlich aufgenöthigt worden, führten aber zu der uner­ hörten Annahme einer particularen Gnade und zu der Folgerung, daß alle außerhalb der christlichen Gemeinschaft lebenden Jü n g er auf Grund der Erbsünde der ewigen Verdammniß anheimfallen. D es A u g u stin „knabenhafte und unbesonnene Grübelei" ist schlechter als des P e l a g iu s Strenge, Lauterkeit und Gelehrsamkeit, welcher zwar als Widersacher der Gnade verklagt, aber nicht widerlegt werden konute. I n das In n ere der Controverse ist S e m l e r bei dieser Vertheidigung wenig eingedrungen, wie er auch für W H itb y 's An­ sicht nicht vollständig Partei nim m t; er hält sich an die novitas, temeritas, imperitia hermeneutica Augustini, an die Anmaßung, mit welcher die lateinische Phraseologie zum Kirchengesetz erhoben wurde, an A u g u s tin 's exegetische Verstöße, an die Exklusivität seines kirchlichen Princips und an die Gefährlichkeit der A u g u stinischen Folgesätze'). Daneben stellt er die Behauptung auf, daß der Heiland jederzeit das sittliche Vermögen des Menschen anerkannt und daher keine Naturnothwendigkeit des Sündigens vorausgesetzt habe, — lauter Gründe, die, ohne die Frage selber schon zu erledigen, doch dem dogmatischen Urtheil und Vorurtheil eine entgegengesetzte Rich­ tung geben mußten. M it dieser Gesinnung hängt eS, beiläufig ge­ sagt, zusammen, daß unter den Theologen des reformatorischen Zeit­ alters keiner so geflissentlich von S e m l e r geschätzt und hervor­ gehoben wird, wie E r a s m u s der Vertheidiger des freien W illens. Wie hat sich nun aber, fragen wir zuletzt, unser Kritiker auf dem d og ma t i s c he n Felde bewegt? D er Leser sieht sich durch das Obige hinreichend vorbereitet. E r muß auf eine völlige Umgestal­ tung des Lehrgehalts gefaßt sein; aber was er findet, ist doch keine *) Praef. Nempe ea est ferocia aut stultitia multorum theologorum, ut aut neminem hodie aliquid aliter intelligere liceat quam intellexerit illud Augustinus, novus et immensus puteus theologicae omniscientiae, aut Augüstinum statuant jam omnia ipsum omnino perspexisse et divisisse An­ teiligen di miraculo, quaecunque per omnium theologorum posteriorum omriem facultatem ingenii subtilissimi, agitatissimi, versatissimique umquam reperiri, exquiri, exsculpi, promi cicrique possint.

54

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

Zerstörung des christliche» Glaubens überhaupt, auch kein freies Ver­ werfen oder Antasten der Offenbarung, was außerhalb der Tendenz des Verfassers gelegen hätte; es ist nur der „Versuch einer freieren theo­ logischen L ehrart"'), ein Nachweis, daß sich Vieles in der Theologie vorfinde, ohne von Gott offenbart zu fein, eine Zusammenstellung des gewöhnlichen Lehrbegriffs verbunden mit allerhand Erläuterun­ gen, die den Leser in den S tand setzen sollen, mit den orthodoxen Sätzen auch andere ohne Verstoß gegen das christliche Grundwesen zu vertauschen. S e m le r fehlte zum Systematiker begriffliche Schärfe und Ruhe des Gedankens, er konnte nur in der losesten Form seine Bemerkungen diesem Stoffe einverleiben. Von vorn herein macht sich wieder eine Ungewißheit über die Grundbestimmung der christ­ lichen Religion fühlbar. Gelegentlich macht S e m le r die Bemer­ kung, das Christenthum enthalte dreierlei Lehrsätze, erstens wider das gemeine Judenchum, zweitens wider das gemeine Heidenthum, drittens wider die moralische Unordnung der Christen selbst; eS er­ hebe sich also über alles Bisherige durch reine Gottesverehrung und wahre geistliche Messianität Jesu und wurzle in der Ueberzeugung, daß Christus die beste Erkenntniß und rechte thätige Anbetung und somit die vollkommensten Pflichten unter göttlicher Auctorität gelehrt habe'). M it dieser ungefähren Beschreibung steht es auf gleicher Linie, wenn gesagt wird, das Christliche sei eine auf positiver Aucto­ rität ruhende und zur wahren GotteSanbetung und Tugend anlei­ tende Lehre, und die Theologie habe die zu ihrer Erläuterung nöthi­ gen Kenntnisse hinzuzubringen *). Damit wird aber nur der positive Grund und der letzte Endzweck, nicht das Unterscheidende der christ­ lichen Religionsanweisung bezeichnet; und da der Verfasser daS apo­ stolische Symbol als kurzen Inbegriff der Offenbarung stehen läßt: so bleibt die Auffassung in der Schwebe und man erfährt nicht, ob die christliche Anweisung die Pflichten der Gottseligkeit von Christus 1) Institutio ad doctrinam Christ, liberaliter discendam auditorum usui destinata, Hai. 1774. Wir halten uns an die deutsche Bearbeitung: Versuch einer freieren theol. Lehrart, Halle 1777. 2) Vgl. Ueber gesellschaftl. und moralische Religion, v. A. 3) Theol. Lehrart, S . 199.

55

S e m le r's Urtheile über V e rn u n ft und G lauben.

aus n u r un m itte lb a r m itth e ile n , oder ihren E m pfang von einem be­ stimmten G lau be nsin ha lt abhängig machen soll. Ebenso allgemein erklärt sich der Verfasser über das V e rh ä ltn iß von V e rn u n ft und G lauben, indem er es eine leere Abstraction nennt, entgegensetzen zu w ollen; man zuschreibt,

beide trennen oder gar

„denn es sei eben derselbe Mensch,

dem

er stehe im G lauben oder habe die lebendige E r ­

kenntniß der christlichen Lehre und sei gerade unter stetem neuen und besseren Gebrauch seiner V e rn u n ft zu dieser christlichen Uebung gekommen" l )2.

E tw a s bestimmter heißt es an de rw ärts,

der Mensch sei

nicht im S tan de, die W ahrheiten selbst zu finden und zu bewilligen, welche zum Zweck der besten V ereinigung m it G o tt befolgt werden müssen.

D ie

geoffenbarten Sätze

haben weder ihren Erkenntniß­

grund in der V e rn u n ft, noch können sie m it Beiseitsetzung derselben gefunden werden, diese bleibt also das alleinige W erkzeugs).

H ie r­

m it w a r allerdings das Recht vernünftiger Aneignung des Geoffen­ barten anerkannt, aber auch n u r in der allgemeinen W eise, wie es schon in der Wölfischen artige G rundlegung trä g t:

Schule geschehen m ä r3).

W enn eine der­

viel Schwankendes und Unentwickeltes an sich

so zeigt der nachfolgende dogmatische V o rtra g ein seltsames

Gemisch von Keckheit und Bescheidenheit. nungen dem Leser nicht aufnöthigen, beweisen, stellen.

er w ill Der

S e m l e r w ill seine M e i­

noch als die allein möglichen

sie vielm ehr neben

der Kirchenlehre zur W a h l

„gewöhnliche" Lehrbegriff w ird nicht gering

geschätzt

noch schlechtweg verworfen, aber er soll doch häufig n u r den W e rth einer kirchlich recipirten A u s d r u c k s w e i s e

haben,

nicht Jederm ann zugemuthet werden kann.

S o stellt sich die T r in itä t

deren Annahme

*) Theol. Lehrart, S . 2 1 0 . 2) Einleitung zu B au m g arten's G laubensl. I , 37 ff. 3) A n

einer

andern S te lle sagt er:

arme V ern u n ft nicht zur Meisterin

„ Ic h

w ill gewiß unsere wenige und

und A nfüh rerin

des selig machenden G la u ­

bens, oder zum eigentlichen Erkenntnißgrmide theologischer und uns seliger, unentbehrlicher, obgleich nicht vollständig begreiflicher W ahrheiten machen, obgleich ich eS m it völligem Grunde thun könnte, wenn ich dazu setzte, die christliche, die Gottes W o r t gebrauchende und dadurch erleuchtete V e rn u n ft,

wodurch die herrschende

Abneigung vor G o tt und geistlichen D ing en und der Kitzel der Selbstgenügsam­ keit wegfallen w ürde."

Tholuck, S . 6 7.

56

Siebent« Buch.

Erster Abschnitt.

in einer doppelten Form vor Angen, und es steht Jedem frei, ob er sich dem „Sprachgebrauch" des Dogma's anschließen ober mit der allgemeinen Wahrheit begnügen will, daß Vater, Sohn und Geist ohne Nachtheil der Einheit des göttlichen Wesens anzuerkennen und zu lehren seien. Die Unterscheidung der Personen oder Subjecte ist nothwendig, die Präcision der trinitar-ischen Satzung gehört einer besondern nicht allgemein verbindlichen theologischen Uebung a n '). Die Abhandlung von dem particular-prädestinirenden Willen Gottes kann man jetzt wegfallen lassen, da sie aus lateinischen sehr unge­ gründeten Betrachtungen zusammengesetzt worden, und da Röm. 9 keine Lehre für Christen, sondern eine Widerlegung der Juden aus ihren heiligen Büchern enthalte'). D er Sündenfall rebucirt sich auf den Gedanken, daß die ersten Menschen ihren frühesten Zustand selbst verschlimmert und bereit Nachkommen in eine immer größere Zerrüttung und Unglückseligkeit gerathen seien, weshalb Alle Gott danken müssen, welcher ihnen durch Christus eine neue Wohlfahrt und Ordnung der Glückseligkeit angeboten habe. Und ebenso ist es der Wahrheit gemäß, daß der Eintritt der Sünde erst einige Zeit hinter den Lebensanfang der Menschen gesetzt, folglich ein Zustand moralischer Harmonie und Unverdorbenheit ihr vorangestellt wird. Aber weiter darf man den S tand des Ebenbildes nicht erforschen wollen, denn er betrifft eine Sache, die „lange vorbei"'). I n daö göttliche Ebenbild und den Sündenfall also, meint der Verfasser sehr naiv, darf schon darum nicht so viel hineingetragen werden, weil sie längst hinter uns liegen, weil Niemand dabei gewesen ist. Demgemäß wird die Erbsünde zwar nicht schlechthin, wohl aber in ihrer Augustinischen Form als Neuerung verworfen, ebenso die un­ mittelbare Zurechnung und die bet Erbsünde anhaftende Verdammniß. E s muß freistehen, mit manchen Kirchenvätern den Tod als natürlich und unvermeidlich anzusehen, und wenn schon E r a s m u s den A ugustin nicht zum Sprachmeister haben wollte: so dürfen ‘) Theolog. Lehrart. S . 290 ff. Ebendas. S . 282. 3) Ebendas. S . 334 ff.

*)

Freiere theolog. Lehrart.

Christologie.

57

auch wir uns nicht an L u th e r's Privatmeinungen binden'). I n dem Abschnitt über Engel und Dämonen S . 321 wird jede dogma­ tische Bestimmung abgelehnt. Bekanntlich war S e m le r derjenige, welcher in mehreren Schriften der neueren Ansicht über die Dämonen­ besitzungen der Evangelien Bahn brach, und mit diesem Angriff auf die biblischen Vorstellungen ist eigentlich seit 1760 die rationalistische Kritik im engeren Sinne eröffnet wordena). Aus der Christologie brauchen wir, um den S in n des Ganzen zu bezeichnen, nur einzelne Sätze heraüszugreifen. Die gewöhnlichen Beweise der Gottheit Christi bleiben stehen, ihre Strenge fällt mit den genaueren Bestim­ mungen der Naturenlehre hinweg. Die Aemter- und Ständelehre gehört nur der Historie Christi an. Wenn man von B lut und Tod, von Genugthuung und leidendem Verdienst Christi redet: so muß man alle physischen und äußerlichen Vorstellungen entfernen und nur einen moralischen Zusammenhang und Erfolg festhalten; dann ergiebt sich ein Werk Christi von der A rt, daß alle Menschen sich der Liebe Gottes gleich vollständig versichern können. Die An­ wendung der alten O pfer- unb- Priesteridee kann und darf immer nur eine uneigentliche sein'). Die S em ler'sche Kritik kleidet sich hier in leicht hingeworfene Observationen, denn ebenso leicht ist die Bemerkung, daß es unnütz sei, die so unbekannte innere Historie Christi unaufhörlich zu untersuchen und von der Kindheit herzulei­ ten, unnütz also die dogmatische Deutung des Standes der Ernie*) Ebendas. S . 359—364. „Alle Menschen nehmen in Folge des Falles eine Gewohnheil der Sünde viel eher an als eine gute Fertigkeit. Aber Niemand wird nm der Erbsünde willen verdammt." *) Schon in der Commentatio de daemoniacis, Hai. 1760 von Belke ist Semler's Anficht niedergelegt; daraus folgte des Letzteren Umständliche Unter­ suchung der dämonischen Leute, Halle 1762, H. Farmar, Vers, über die Dämo­ nischen, übers, v. v. Cölln mit Vorrede v. Sem ler, Stern. 1776, dessen Briese über die Dämonischen in den Evangelien mit Zus. v. Semler, H. 1783. *) Lehrart, S . 39 5 —397 , 448— 150. „Manchen gefiel ein« Bluttheologie, Andern ein gleichsam juristischer Proceß Gotte« wider Christum, Andern eint Opsertheologie, — dies sind zufällige Vorstellungen, wodurch die Liebhaber der Sache nach nichts mehr gewinnen als Andere, welche sich nicht an tropoe allein hangen."

58

Siebentes Buch. Erster Abschnitt.

brigwtg **). Wenn es ferner in vielen Stellen auch schwer zu ent­ scheiden sein mag, ob der Name heiliger Geist ein eigenes Subject oder nur eine göttliche Wirkung bedeutet: so ist doch allemal eine Wohlthat und ein Geschenk Gottes an die Menschen damit gemeint. I n der Soteriologie kann sich der Verfasser enger an den gewöhn­ lichen Lehrbegriff anschließen. Bekehrung und Wiedergeburt sind wichtigere Artikel als die von der Dreieinigkeit und den beiden N a­ turen. Es ist nicht ohne Grund, wenn man sagt, daß ein geistlich wiedergeborener Mensch im Bewußtsein seines elenden Zustandes und im Verlangen nach der Gnade Gottes sich das Verdienst Christi im Glauben zueignet; nur muß streng darauf gehalten werden, daß dieser Glaube auch die ganze Heilsordnung und die Reihe der in ihr geforderten Bestrebungen und Veränderungen genehmigt und sich aneignet'). Nicht minder zulässig ist, die Rechtfertigung so zu denken, daß Gott uns unter der Bedingung des Glaubens das Recht ertheilt, Vergebung der Sünden zu haben, gerecht und heilig zu werden. D er Mensch gefällt alsdann G ott in der Empfänglich­ keit des Glaubens, weil er mit diesem die moralische Tüchtigkeit be­ sitzt, die verheißenen Wohlthaten wirklich in sich aufzunehmen. Christus bleibt auch bei dieser Vorstellungsweise die c a u s a m e r i t o r i a ; aber eben darum braucht die protestantische Lehrbestimmung nicht so scharf von der katholischen geschieden zu werden, denn der Glaube begreift das Thun schon in sich und er ist das Christenthum selbst'). Einer so zerfließenden Darstellung gegenüber, welche neben der gewöhnlichen Lehrart überall noch andere Zulässigkeiten und erlaubte Ansichten nachweist und sich in tausend concessionirenden Wendungen ergeht, weil sie stets findet, daß für dieses und jenes Grund genug vorhanden fei, Anderes nicht übertrieben und nicht zu scharf genom­ men werden dürfe, und welche nur bei jeder Gelegenheit hervorhebt, daß die fortdauernde gelehrte Uneinigkeit die heilsame Anwendung der christlichen Lehren nicht beeinträchtigen möge, kommt der Leser nicht zur Ruhe und kann nicht festen Fuß fassen. Er sieht sich von ') Ebendas. S . 477. *) Ebendas. S . 53 6 ff. 8) Ebendas. S . 55 3 ff.

Semler's freiere theol. Lehrart.

59

einer Reihe theologischer Zufälligkeiten und „Abwechselungen" um­ geben und wird durch den ewig wiederkehrenden Comparativ in Verlegenheit gesetzt. Zwar über den Geist und die Tendenz des Werks wird sich Niemand täuschen; es bewegt sich in dem allge­ meinen Thema, daß das Christenthum die höchste zur Rechtschaffen­ heit und Tugend erforderliche Wohlthat Gottes sei, und die Begriffe der Erlösung und Versöhnung seien auch nur besondere Namen für einen göttlichen Segen, welcher den möglichst guten und seligen Zu­ stand des Menschen an die Stelle des schlechteren gesetzt und damit geleistet hat, was Juden- und Heidenthum nicht vermochten. S e m ­ l e r 's Glaubenslehre ist eine moralische und latitudinarische Lehrart, welche den Verband mit dem Dogma lockert, aber ohne ihn abzu­ brechen. D as Recht des öffentlichen Lehrbegrisfs wird nicht ange­ tastet, aber der wissenschaftlich Geübte erhält volle Freiheit, ihm jenen erweiternden S inn abzugewinnen. Wachsthum, Reinigung und kritische Befreiung ist das Ziel der Theologie, nicht Ablösung von ihrem Gegenstände. Wenn S . 429 gesagt wird: „an Worten und Re­ densarten liegt Christo gar nichts, der rechten christlichen Religion auch nichts, aber an unserer geistlichen Veränderung ist Alles ge­ legen": so muß man fragen, ob nicht auch nach dieser Auffassung der Religion Worte und Redensarten nöthig sind, damit jene Ver­ änderungen möglich werden. S e m le r will eben bessere, haltbare und zweckentsprechende Ausdrucksweisen mit den hergebrachten ver­ tauschen, nicht aber ein Nichtglauben überhaupt an die Stelle des Glyubens setzen, und er meint es ernst, wenn er jedem Christen zur Pflicht macht, Christum als Lehrer, Herrn und Retter von der eige­ nen Sünde wahrhaftig anzunehmen ‘) und von der „wirklichen VollTheol. Lehrart, S . 432. Der Behauptung Schm id's, welcher S . 172 seiner Schrift bemerkt: „Es ist in der That ein durchgeführtes theologisches System, das Semler vorlegt, wie wir es sonst bei keinem Theologen seiner Zeit finden", muß ich bestimmt widersprechen. Sem ler hat kein System, er ist weder ein bloßer Moralist, noch ein entwickelter Dogmatiker. Seine stets wiederkehren­ den Gedanken haben keine systematische Präcision, sondern ziehen sich bald weni­ ger bald mehr vom Dogm a zurück, ohne sicher durchgeführt zu werden. D as Verhältniß des sittlichen ReligionSz w ecks zu einem nicht preiszugebenden Religions­ in h a lt bleibt ein unbestimmtes.

60

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

kommenheit der Erlösung C h risti himmelfest versichert" zu sein. — Ueberall finden w ir endlich die Unterscheidung Theologie durchgeführt,

und

von R e lig io n

und

diese hat S e m l e r the ils nicht selber

aufgebracht, denn sie ist w e it ä lte r, the ils la x gehandhabt, aber eine W a h rh e it ist sie doch, nicht wie T h o lu c k w ill, der G ru n d irrth u m der S e m le r'sch e n T h e o lo g ie '). Z u r Vollständigkeit unserer Charakteristik fehlt noch ein letztes, aber höchst merkwürdiges Stück.

S pätere Freunde und Anhänger

S e m l e r 's , indem sie ih n a ls Ueberwinder des alten Systems p re i­ sen, beklagen es zugleich, daß er zuletzt die ganze saure A rb e it seines Lebens m it einem einzigen Schlage „vernichtet" habe und in Folge dessen m it seiner eigenen P a rte i zerfallen, von früheren Bewunde­ re rn verkannt und scheel angesehen

aus

der W e lt geschieden sei;

und dieser S c h ritt w a r die unvorsichtige A n tw o rt auf B a h r d t ' s Glaubensbekenntniß.

Umgekehrt haben Neuere,

wie S c h m id ,

in

diesem Schicksal nur die gerechte S tra fe fü r den von S e m l e r v o r­ bereiteten A b fa ll vom christlichen G lauben erblickt,

welchen letzteren

er dann zum großen Nachtheil seiner Gem üthsruhe

und äußeren

S te llu n g gegen extreme Widersacher in Schutz zu nehmen sich ge­ drungen gefühlt habe').

E s ist wahr»

er wurde als Gegner des

Fragm entisten, B a s e d o w 's und B a h r d t ' s empfindlich gedemüthigt, und allgemein verwunderte man sich,

ih n unter denen zu finden,

welche zu Gunsten des W ö lln e r's c h e n Religionsedicts ih re S tim m e erhoben.

D ie preußische R egierung,

d. h. der M in is te r Z e d lit z ,

der G önner B a h r d t ' s , nahm S e m l e r die Leitung des theologisch') Tholuck, a. a. O . S . 63. 2) V g l. Eichhorn, «. a. O . S . 193.

Allgemeine deutsche Bibliothek, B d . 40.

D azu Tholuck, a. a. O . S . 73 und Schmid, S em ler's Theologie, S . 178, 204. D e r Letztere sagt S . 176: „D e n n den B ew eis werden w ir freilich nicht noch zu führe» brauche», daß S em ler an dem positiven Christenglauben vollständig S chiffbruch gelitten hat, und werden uns in diesem U rtheil auch dadurch uichl irre machen lassen dürfen, daß S em ler dies auf's Eifrigste in Abrede stellte. W o der ganze Glaube auf den Satz zusammengeschrumpft ist, daß eine E inw irkun g Gottes auf den Menschen S ta tt habe, da ist nicht mehr Christenglaube." ist diesen Beweis schuldig geblieben.

A lle in Schmid

S enn erstens w a r es nicht dieser allgemeine

Satz alle in , woran S em ler festhielt, und zweitens ist e«, G o tt sei Dank, über­ haupt nicht so leicht wie Schm id m eint, vom Christenglauben loszukommen.

Seniler'« Verhältniß zu Basedow imb Bahrdt.

61

pädagogischen Sem inars ab, „da wegen seiner letzten Unternehmung das Publicum ihm das Vertrauen entzogen habe." W ir können jedoch jenen entgegengesetzten Urtheilen nicht beipflichten und benutzen diese Gelegenheit, um sofort zu constatiren, daß in der ganzen Be­ wegung, von welcher wir handeln, eine zwiefache Gesinnung wirkte, eine ernstere wissenschaftliche und eine unfromme und leichtfertige, beide soweit verschieden, daß die erstere sich selber untreu geworden wäre, wenn sie sich mit der andern verwechselt oder dieser zu wider­ sprechen Anstand genommen hätte. D er Handel M t in die Jahre 1779 und 1780, als © e rn te t noch bei rüstigen Kräften war. E r fühlte selber, wie mißlich es für ihn sei, von dem Standpunkte eines freimüthigen Kritikers zu dem eines Apologeten überzugehen, sah sich aber doch als Lehrer wie als religiöser Mensch herausgefordert. I n den Wolfenbüttler Fragmen­ ten verletzte ihn mehr oder minder Alles, weshalb er sich hier eine Punkt für Punkt fortschreitende Widerlegung auferlegte, die freilich sehr ungleich gerathen ist'). Besonders anstößig war ihm, daß der Fragmentist Christi messianische Thätigkeit völlig in die jüdischen Schranken verwiesen, jeden Offenbarungsgehalt seiner Lehre beseitigt und die Predigt Jesu auf Empfehlung der Demuth und des recht­ schaffenen Wesens herabgesetzt hatte. Zw ar hatte unser Theologe ebenfalls die „moralische Ausbesse­ rung" jederzeit im Munde geführt, aber doch mit Festhaltung der göttlichen Auctorität, unter welcher Christus gelehrt, daher sucht er jetzt die geistliche und universelle Messianität des Herrn und den Kern des alten Symbols zu retten, indem er ohne Verleugnung seiner früheren Behauptungen darauf besteht, daß das Bekenntniß des V aters, Sohnes und Geistes deshalb noch nicht falle, weil aller­ dings, die späteren dogmatischen Zuthaten sammt allen Nebenbestim') Beantwortung der Fragmente eine« Ungenannten vom Zweck Jesu und seiner Jünger, Halle 1779. Vorrede: „ I n mancher Stadt gab es Leser, welche gerade heran«sagten, diese Fragmente können nicht widerlegt werden; die Theo­ logen können wohl Allerlei schreiben und sagen, aber wer kann davon gewiß sei», daß sie e« selber glauben. Andere wünschten zwar eine gute statthafte Wider, legung, aber au« meinen Händen sei nicht viel wider einen Naturalisten zu er­ warten."

Siebentes Buch.

62

Erster Abschnitt-

münzen der freien B e u rth e ilu n g der P rivatchttsten anheim gegeben werden müssen. Fragmentisten

ES sei nicht m inder falsch, daß nach Annahme des die universelle Bestim m ung

Absicht des S tifte r s fern gelegen habe.

des Christenthum s der

E s ist ein loses S p ie l, das

Wesen der R eligion von einzelnen biblischen und dogmatischen A r ­ tikeln abhängig zu machen, gestürzt zu erklären.

Der

um sie nach Bestreitung derselben fü r christliche G laube fä llt noch nicht,

gewisse Umstände der Auferstehung C h ris ti,

wenn

welche im Zusammen­

hang m it dessen Lehre zu verstehen und anzuerkennen ist,

preis­

gegeben w erden, wenn eingeräumt w ird , daß die W under, — denn diese läßt S e m l e r im Allgemeinen a ls göttliche W irkungen stehen, — die „innerliche G lau bw ürdigke it" nicht entbehrlich machen, noch über­ haupt fü r jeden religiösen S tan dpu nkt nothwendig s in d '). V o n ähnlicher A r t sind seine V erantw ortungen gegen B a h r d t und B a s e d o w .

D ie persönliche Bekanntschaft m it Beiden machte

diesen C o n flict äußerst peinlich,

denn S e m l e r

hatte hem Ersteren

zu einer Anstellung in Gießen verhelfen und auch m it dem A nd ern mehrere Berührungen

gehabt.

bekenntniß enthielt V ie le s, belegen ließ , im

B a h r d t' s

berüchtigtes GlaubenS-

was sich m it S e m le r 'S K ritik

füglich

weshalb ihn auch die von diesem erlittene Anfechtung

höchsten G rade erbitterte.

D ie

Spitzen des D o gm a 's werden

sämmtlich abgebrochen, der G laube an C hristus soll a ls Bedingung der

S elig keit

in n e r h a lb

Unterschied lag aber in

des

Christenthum s

fortbestehen.

dem aggressiven V erfa hren .

S e m l e r m it den Lehren von Erbsünde im m e r noch im Verkehr geblieben w a r ,

Der

D e n n wenn

und Genugthuung u. a. w e il sie einer guten und

nützlichen D e u tu n g fähig seien: so w a rf B a h r d t sie a ls verderblich über den Haufen und forderte, stehen

solle,

deren Abschaffung.

wenn das Christenthum länger be­ Eben

diese feindliche S chroffheit

veranlaßte jenen, sich von einem S tan dpu nkt loszusagen, welcher die dogmatische Discussion

in

der genannten Beziehung abzuschneiden

drohte und in das Recht der öffentlichen Lehrverkündigung e in g riff, —

') Die interessanten Stellen finden fich Beantwortung S . S, 9 , 17 ff., 99, 139 ff.

S en iler als Gegner B ahrdt'S und Basedow'«.

63

eine Verantwortung, die er selbst niemals hatte auf sich nehmen wollen. Zerstörung, Aufhebung kirchlich eingeführter und der Unter­ suchung immer noch sehr bedürftiger Lehrstücke sei B a h rd t'S ver­ werfliche Tendenz, während der wahre Theologe sich Prüfung, Rei­ nigung und Berichtigung des Vorhandenen zur Aufgabe zu stellen habe. Als er dem deistischen B a h r d t dergestalt den Frieden auf­ gekündigt, bezeigt ihm B asedow seinen Zorn, weil er hierarchische Grundsätze verrathen, die jenem wie der S atan und Adramelech verhaßt seien, und verbindet mit der Uebersendung seiner „Urkunde" zur Einführung der vermeintlichen Universalreligion eine empfindliche Vorhaltung. „W as, — heißt es in der Zuschrift, — den ferneren Erfolg betrifft: so ist nur ein dreifacher möglich, der mir gefallen würde: erstlich daß ich, wenn ich in Ihrem Gedankensystem geirrt hätte und es einsähe, förmlich widerriefe; zweitens daß S ie mir geständen, dies System (nämlich ein mit dem feinigen übereinstim­ mendes) zwar gehabt zu haben, aber jetzund einzusehen, daß der Ursprung des Christenthums übermenschlich und sowohl von philoso­ phischer Einsicht und Gutherzigkeit als von jüdisch-platonischer An­ dächtelei ganz verschieden gewesen wäre; drittens daß S ie sich zu einem solchen Naturalismus oder Deismus bekennten, nach welchem Jesu und seinen Aposteln keine bösen Absichten können zugeschrieben werden. I m ersten Fall bedarf man keiner Weitläuftigkeit, sondern nur meines Geständnisses. Im zweiten Falle bin und bleibe ich ein Erzfeind von Ihnen, im dritten Falle steht Ihnen mein ganzes Ver­ mögen zu Diensten, falls S ie in die Lage kommen sollten, I h r Amt niederzulegen"'). S o stark herausgefordert wie konnte © ern tet anders, als den unter dem zweiten Falle ihm hingeworfenen Hand­ schuh aufzunehmen! Denn, antwortet er, zu der armseligen Religion, daß Christus nur keine bösen Absichten gehabt, sinke ich nicht herab. M an überzeugt sich leicht, daß er in seiner Erwiderung B asedow an Erkenntniß und Gesinnung weit überragt. An dem ganzen Project widerstand ihm schon die Vorstellung einer naturalistischen *) Vgl. ©erntet’« A ntw ort aus H errn Basedow'« Urkunde, Halle 1780. Vorrede und vorläufige Nachricht.

64

Siebentes Buch.

Erster Abschnitt.

U n iversa lre lig ion , die er in Uebereinstimmung m it seinem Grundsatz von der Ungleichheit der Menschen fü r ein U nding erklärte.

DaS

B a n d der E in h e it und Uebereinstimmung muß man in die N e i ­ g u n g e n , nicht die M e i n u n g e n verlegen: Eine Seele!

E in G eist, E in Herz,

Noch ist nicht jeder T rä u m e r und M üß iggänger zur

E in fü h ru n g einer absoluten Erzrekigion unter dem V orw ände berech­ tig t, a ls ob w ir bisher keine W a h rh e it gehabt oder erst durch B a ­ se d o w zum Verständniß kommen sollten. der Absicht zurechtmacht, daß leicht wie B a s e d o w

w ill, geliebt

schafft ein Nichtchristenthum. m als

die

es

W e r ein Christenthum in

ig allen Palästen und H ü tte n so und

geübt

werden möge,

B e i w eiterer D a rle g u n g w ird

einfache christliche Glaubenssumme a ls

der aber­

m a te rie ll,

nicht

fo rm e ll verbindlich w iederholt; die T e rm in o s mag ein treuer Lehrer erlassen,

so lange n u r anerkannt b le ib t,

„neue ganz einzelne V e rh ä ltn iß endlichen V orzug ha tte ",

daß C hristus durch das

des «ingebornen Sohnes einen u n ­

und daß man diese Beziehung zu G o tt

selbst nicht m it den S o cin ia n e rn als übermenschliche Erleuchtung be­ zeichnen da rf. thu m

keine

G lau be ns,

Radikale Behauptungen wie die, daß das Christen­ andere Bürgschaft

habe a ls

die

unseres subjectiven

oder daß Christus und die Apostel ihre außerordentliche

göttliche Sendung n u r vorgegeben oder in Andacht sich eingebildet, oder daß am Pfingstfest in den Jü n g e rn n u r erhitzte E in b ild u n g skra ft oder menschlicher Borsatz gewirkt habe, —

dergleichen möge der

Fragm entist verantworten, er selbst habe keinen T h e il d a ra n '). S e m l e r giebt sich alle M ü h e , zwischen der eigenen schonenden K r itik und der zerstörenden und feindseligen falscher Genossen oder vermeintlicher

Geistesverwandten

die

richtige

Grenze

zu

ziehen.

S eine Verantw ortungen hätten kürzer und einfacher ausfallen sollen. A lle rd in g s geredet,

hat

er sich hie und da zu sehr h in e in - und heraus­

ohne zu erwägen,

welche Veranlassung er selbst zu dem

Andringen extremer P arteihäupter gegeben aus der U nfertigkeit seiner eigenen Ansichten.

hatte, Im

das erklärt sich Allgemeinen aber

ha t er seinen th e o lo g is c h e n und e rn s te n Libe ralism us von dem

*) S . die Antwort gegen Basedow, S . 64, 66, 235.

66

S eniler gegen B a h rd l und Basedow

maaßlosen und leichtsinnigen eines B a h r d t und B a s e d o w m it fubjeclivem und objectivem Recht unterschieden und indem er dies tha t, keineswegs,

wie E ic h h o r n sagt, seine Lebensarbeit vernichtet oder

auch n u r derselben Abbruch gethan.

E s ist bekannt,

daß auch wo

die Ansichten sich berühren, die Absichten zuweilen w e it auseinander gehen.

Auch ist von T h o lu c k und S c h m id nachgewiesen worden,

daß S e m l e r 's

kritische Hauptgedanken auch in den nach 1780 ab­

gefaßten S ch rifte n

unverändert

wiederkehren,

nur

verbunden m it

einem mehr conservativen und apologetischen I n t e r e s s e , welches sich ihm jetzt stärker

als frü h e r a u f d r ä n g t e F ü r

einen M a n n

wie

S e m l e r , welcher die Gelehrsamkeit schwärmerisch verehrte und bei­ nahe fü r allmächtig hielt, ist es doppelt merkwürdig, daß er einm al zu einem S c h ritt bewogen w u rd e , den ihm n ic h t seine G elehrsam­ keit eingegeben hatte.

W enn ih m dieser S c h ritt b itte rn T adel und

Geringschätzung zu zo g t),

wenn die liberalen S tim m fü h re r sich m it

*) Lesenswerth ist in tiefer Beziehung:

Lavater's und eines Ungenannten

Urtheile über S teinb art's System des reinen Christenthums, m it vielen Zusätzen von S e m le r,

Halle 1780.

Hatte S em ler eben erst gegen B a h rd t und Basedow

pro te stirt: so vertheidigt er hier S te in b a n gegen Lavater's übertriebene Anschul, digungen, scheut sich also nicht, zu machen. theilung

nach zwei Seiten hin kurz nach einander F ro n t

V om D eism us sagt er S . 1 1 9 :

dieses Namens

viel

„ W ir sollten aber in der A us-

vorsichtiger und

bedächtiger sein und

Früchte, aus die Lebensart zuerst sehen, welche am Tage ist. srechen B u b e n , die alle R eligion der Christen,

alle Folgen einer geistlichen mo-

ralischen Gemüthsfassung verlachen, meine ich nicht; verdienen.

aus die

Jene wissentlichen

nenne man sie, wie sie es

Aber so viele Zeitgenossen, welche Christum selbst nie verspotten und

lästern, seine Lehre ihres Werthes

wegen hochschätzen und gerne selbst ausüben,

von der Person Christi aber noch nichts weiter bejahen, w eil sie m it ihrer U nter­ suchung nvch nicht so weit sortgekommen sind,

als es jetzt die genauere herme­

neutische Gelehrsamkeit möglich macht; diese Zeitgenossen kann ich nicht geradehin Deisten nennen, w eil sie nicht geradehin H err H e rr sagen. Z u r Erkenntniß gehört Z e it, zum gewiffenhasten Glauben noch m e hr." *) I n

der Borrede zu dem genannten Büchlein

über S te iu b a rt sagt e r:

„ Ic h ertrage auch gern allerlei Urtheile und Aeußerungen,

die Manche hie und

da bekannt machen, die sogar sehr u n w illig geworden sind, daß ich dem B a h rd tischeu Bekenntniß öffentlich widersprochen habe. m ir Manche ankündigen: zu zeigen,

Ic h w ill es auch e rw a rte n , was

daß ich selbst dies

da oder dort gelehrt oder behauptet hätte;

und jenes also ehedem

w ie ich die Demonstration auch er­

w a rte , daß ich gar kein Christ sei, w eil ich mich einem so christlichen Vorhaben, Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

5

66

Siebente« Buch.

Erster Abschnitt.

Befremde« von ihm abwendeten und sogar seine wiederholten P r o ­ teste gegen gewisse weitgreifende Verbindungen zur E in fü h ru n g eines allgemeinen schwerlich

Christenthum s fa n d e n '):

dasselbe Schicksal, welches neuer Richtungen,

auf

Kosten

der

auch Andere

sobald sie in die

nnd

höchst be­ W e l t und

besonders A n fü h re r

Lage kamen,

entgegengesetzten S eiten erklären zu müssen, hat. —

Localkirche

so w a r dies n u r der L a u f d e r

sich nach zwei

n u r allzu oft betroffen

Erst in den letzten Lebensjahren ermattete S e m l e r gänzlich.

Auch seine Besinnung muß ihn

verlassen haben,

denn sonst würde

man nicht begreifen, wie ein so nüchterner und phantasieloser Mensch von früheren mineralogischen Liebhabereien zu einer seltsamen theosophischen Passion übergehen und von dem alchymistischen Schw indel vie ler Zeitgenossen ergriffen werden konnte, — D in g e » die er bis dahin w e it von sich gewiesen h a tte "). S e m le r

ist also eine von

den Erscheinungen,

wie sie jede

große Bewegung des Geistes und der Wissenschaft an die Spitze zu stellen pflegt, zum Bahnbrechen geschaffen, nicht zuin Gestalten noch zur D a rste llu n g eines abschließenden Rnhepunkts. ren S ta d iu m

In

einem späte­

würde er nicht mehr verständlich sein,

und er hätte

keinen G ru n d

gehabt,

P riva ta nsicht

vorzutragen.

seine Neuerungen unter dem Namen einer Bon

den

systematischen

deren A uftreten er theilweise noch erlebte, schieden w orden;

theils

überbietet er

R ationalisten,

ist er m it Recht un ter­

sie und a n tic ip irt M anches,

was sich nachher erst aus einem langsamen nnd schwierigen Gange der Untersuchung ergeben sollte, the ils bleibt er h inter ihnen zurück. S eine Gleichstellung der theologischen M e in u n g e n ,

sobald sie n u r

dem moralischen Zweck der christlichen R e lig io n dienen,

macht ih n

einer allgemeinen neuen Religion, widersetzt habe. Wenn ich auch ähnliche Be­ hauptungen hie und da geäußert hatte: so ist doch wohl klar genug, daß ich e« durchaus nicht in dieser Absicht und Bestimmung gethan habe als in diesem un­ treuen Bekenntniß geschieht." . S . 131 ff. Bgl. auch Ammon's Abhandlungen zur Erläuterung seiner wifsensch.-pr. Theol. I , 1. Gött. 1798.

314

Achtes Buch. Erster Abschnitt.

erheben, die Zuversicht des Gewissens zu bestätigen, aus welcher die größten Geister der Christenheit ihre K raft geschöpft haben. ES kann in der Seele eine Ueberzeugung entstehen, nach welcher unsere religiösen Einsichten nicht aus uns selber stammen, sondern ein Werk der Gottheit sind. Nicht Alleö wird durch die Sinnenw elt vermit­ telt, es giebt eine Unmittelbarkeit der Einwirkung, ja man darf auch ohne Bestreitung der K an tischen Theorie von Raum und Zeit in uns selbst nach unserer absoluten N atur ein übersinnliches Correlatum der Zeit statuiren, „welches der Form derselben und allen dar­ aus abgeleiteten Berhältnißvorstellungen, also auch der Kategorie der Zeit entspricht" *). Die Bestätigung des sittlichen Bewußtseins durch historische Zeugnisse, die Verbindung von Thaten und sittlich-religiö­ sen Ideen ist das Merkmal einer positiven Religion, wie sie uns die h. Schrift vor Augen stellt, und Christi Ueberzeugung von seiner unmittelbaren Verbindung mit G ott giebt dieser Synthese des Ideellen mit dem Historischen eine objective W ahrheit und S tärk e, der w ir uns durch bloße Fortschritte des Denkens nicht so leicht entziehen werden. A m m o n stellt sich also apologetisch der Aufklärung gegenüber, er will nicht bloße Lehren sammeln, sondern sieht in dem historischen Zeugniß einen Beweis ihrer religiösen Kraft und W ahrheit. Recht und Fortschritt in diesen Behauptungen sind unverkennbar. Aber wie wird in seiner wissenschaftlich-praktischen Theologie über daS Einzelne geurtheilt? Vergleichen wir kürzlich S c h m i d t u n d A m m o n : so werden wir von jenem die oberflächlichen und abstracten, von die­ sem die gehaltvolleren Antworten vernehmen. D ie Offenbarung dient nach S c h m id nur zur Nachhülfe, nach A m m o n zur Object!virung der sittlichen Vernunft, da sie auf einem übersinnlichen und selbst überzeitlichen Verhältniß Gottes zum menschlichen Geist beruht 1) Ammon's Abhandlung zur Erläuterung rc. S . 105. 64 ff. D en reinsten Ausdruck des mystischen Standpunkts findet A. bei Äobert Barklay, besten Neligionslehre nicht ohne Grund mit der Nautischen vergliche» worben fei. W ilmang, De similitudine inter mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam, Hai. 1797.

2) I . W. Schm id, Ueber christl. Rel., deren Beschaffenheit und zweckmäßige Behandlung rc. Jena 1797. Auszüge aus dieser Schrift bei ManitiuS, S . 131 ff.

Ammon.

Positives und moralisches Christenthum.

315

und in den Denkmalen der biblischen Geschichte und Rede nieder­ gelegt ist. D er I n h a lt kann sich aber nur der Q uelle, nicht der A rt nach von dem vernünftigen unterscheiden, und der positive W ahrheitsbeweis muß in dem rationalen seine Wurzel haben. W under und Weissagungen, bereit übersinnliche Cansalität ohnehin nicht erkannt werden kann, haben einen introductorischen Zweck, Evidenz aber nur für Solche, die durch sinnliche Gründe überzeugt werden müssen, und unabhängig von der Religion verliert nach Jesu eigener Erklärung das W underbare allen W erth. D er G rund­ satz des Christenthums als einer positiven Religion ist: wer an Jesum Christum glaubt, der hat das ewige Leben; theologisch und wissenschaftlich lautet er: es ist eine moralische N atur des Menschen, folglich auch ein höchster W eltregierer. Hiernach entscheidet sich denn, wer im p o s itiv e n oder im m o ra lisc h e n Sinne ein Christ sei, und es kommt nur darauf an, ob Christus selbst nach S ch m id nur als der S tifter der christlichen Religion, oder tiefer mit A m m on als der Einzige hingestellt w ird, welcher die volle Wirksamkeit Gottes in sich empfangen und die Heiligkeit des Ewigen seinen B rüdern in einem sonst nie gesehenen Lichte gezeigt hat. Von die­ sem Gesichtspunkt aus betrachtet erhält das überlieferte Lehrmaterial eine völlig verschiedene, ja entgegengesetzte Gestalt. W as bisher Kern und Höhepunkt gewesen, wird zum Anhang, zur Hülle und Schale. Fundamental kann nach S c h m id nur sein, was die sitt­ liche Vernunft mit der christlichen Religion gemein h at, der G la u b e an G o t t , T u g e n d u nd U n ste rb lic h k e it, das eigent­ liche Thema der Predigt Christi. Alles Andere ist nicht fundamental, es dient der Begründung, Einkleidung, E rläuterung, oder es läßt sich als Erweiterungslehre sei es nun ersten Ranges betrachten, wie die Erklärung der göttlichen Eigenschaften, oder zweiten Ranges, wie die eigentlichen Dogmen von der T rin ität, Genugthuung, Rechtfer­ tigung, — lauter Dinge, die der Dogmatiker wenn nicht zu verwerfen, doch nur für den angegebenen Zweck zu verwerthen h a t J e weiter sich also ein Dogm a von jenen Fundamentalsätzen entfernt, desto ent» ') Vgl. die Belegstellen bei ManitiuS, a. a. O. S . 159. 1 6 3 - 6 7 .

Achte» Buch.

316

Erster Abschnitt.

behrlicher und unselbständiger w ird es.

Demgemäß ist auch das

W o rt Gottes nur der In b e g riff der wahren Kernlehren und ent­ spricht einem subjectiven GotteSwort dergestalt, daß sich die M ö g ­ lichkeit einer Scheidung des Göttlichen S c h rift ergeben muß.

und Menschlichen in

der

Bon S c h m id erfahren w ir wenig mehr als

magere Nutzanwendung oder ein kritikloses Aufsichberuhenlaffen. E r bezeichnet die Gottheit Christi und T rin itä t als unschädliche Dinge, die man moralisch benutzen kann, die aber an sich weder Bestätigung noch Widerlegung verdienen; A m m o n dagegen, weit schärfer sehend, erkennt an, daß diese Lehre das Christenthum gegen Deismus und N aturalism us sichergestellt und den sinnlichen Menschen in den S tand gesetzt habe, sich an Jesu und seiner höheren Würde zu einer mora­ lischen Erkenntniß und Verehrung des Ewigen emporzubilden.

D ie

Annahme einer dreifachen Persönlichkeit in G o tt kann m it Beihülfe der Einbildungskraft die praktische Fruchtbarkeit des Gottesglaubens vermehren, während man im wissenschaftlichen Vortrage nicht über die Unterscheidung göttlicher Relationen hinausgehen d a rf*). aber bemerkt A m m o n ,

die W ahrheit

W eiter

des Satzes: der idealische

Gottessohn hat eine göttliche W ürde, sei keinem Zweifel unterwor­ fen,

da er nur ein analytisches U rtheil

enthalte; dagegen das

U rth e il: dieser Sohn Gottes ist m it Jesu Eine Person, sei ein syn­ thetisches und daher nicht rational noch empirisch erweislich, sondern nur durch Auctoritätsgründe gewonnen, weshalb es fü r praktische Zwecke hinreichen müsse, Christus als Herzensbildung

vollendeten

Freund

und

einen durch Geistes- und Geliebten seines ewigen

Vaters zu betrachten. W ir bemerken dazu, vollkommen richtig ist, der T hat

daß die gemachte Unterscheidung logisch

sachlich dagegen nicht entscheidet.

Denn in

verhält es sich doch so, daß der historische Gottessohn

jenen idealischen in solcher Vollendung erst geistig in'S Dasein ge­ rufen hat und zwar keineswegs durch bloße Auctoritätsgründe. A ls der christliche Glaube in dem historische» Christus den idealen fand, war dies fü r ihn kein synthetisches U rtheil, sondern er empfing in *) Ebendas. S . 177 ff.

Schmid's nnd Ammon's dogmat. Erklärungen.

317

und m it der historischen Erscheinung zugleich die Id e e unbeschadet dessen, daß nicht alle Züge der ersteren auch aus die letztere über­ tragen daher

wurden. nur

die

D u rch

die erwähnte philosophische In s ta n z w ird

Nothwendigkeit

der Unterscheidung

nicht die der Trennung bewiesen. in welcher Weise

beider

S eiten,

E s läßt sich nun leicht ermessen,

auch die übrigen A rtik e l

nach den angegebenen

M om enten beurtheilt werden.

D ie Engel sind problematisch, aber

unschädlich,

Physisch ebenfalls

der S a ta n

moralisch steht er fest.

mag

au f sich beruhen,

D ie Genugthuung hat fü r O r t und Z e it

gegolten, S c h m id findet sie nicht n u r in jedem Betracht v e rn u n ft­ w id rig , sondern selbst nachtheilig fü r die M o r a lit ä t , da sie zu dem W ahne verleitet, daß statt der eigenen Besserung vielm ehr der V e r­ söhnungstod C hristi zur Vergebung hinreichend sei, — th e ilig

die R echtfertigung,

wenn

der Glaube

guten Handlungen sie bewirken soll.

m it

ebenso nach­

Ausschluß

der

A m m o n , indem er die objec­

tive Bersöhnungskraft des Todes C hristi fallen lä ß t, h ä lt doch eine andere Bedeutung des D o g m a 's fest;

denn subjectiv angesehen sei

dasselbe sehr w ichtig, w e il es allerdings die Ruhe des G em üths in dem S ü n d e r wiederherstelle, den Tugendeifer stärke und der Erzeu­ gung des wahren G laubens den Weg bahne.

D e r religiöse G laube

ist an sich nichts Anderes als die Ueberzeugung,

daß das S itte n ­

gesetz in uns Ausdruck des göttlichen W ille n s sei und der Maaßstab unserer Anerkennung vor G o tt; christlich gedacht aber gestaltet er sich als V ertrauen auf die G öttlichkeit der Lehre Jesu, nnd da Christus vermöge seiner Verbindung m it dem Logos auch m it G o tt E in s ist: so t r if f t der christliche R eligionsglaube ebenso m it dem G lauben an C hristus zusammen, wie der vernünftige m it dem G lauben an G o tt ‘ ). Dagegen soll die Sündenvergebung nach A m m o n im m er n u r einen negativen W e rth haben, und ehe nicht wirkliche Besserung h in z u tritt, kann sie die Rechtfertigung nicht begründen,

da es nicht erweislich

ist, daß G o tt aus der F ülle seiner H eiligkeit ergänzen w ill, was den G läubigen an W ürdigkeit abgeht. gebotene E rklä run g abgelehnt.

In

D a m it w ird die von K a n t dar­ der Eschatologie hat sich n u r

*) Vgl. die von ManitiuS ausgezogenen Stellen S . 203. 8.

318

Achtes Buch.

Erster Abschnitt.

T i e f t r u n k den kirchlichen Vorstellungen, die von den beiden Anderen als

sinnliche H ü lle

vö llig

abgestreift

werden,

einigermaßen ange­

schlossen. D ie Einsetzungsworte des Abendmahls haben nach A m m o n den sehr matten S in n : der Genuß dieses B ro d ts und W eines macht euch von den beschränkten Vorstellungen der jüdischen Passafeier los und m it dem Geiste meiner Lehre und dem Endzweck meines Todes be­ k a n n t'), wobei noch E rw ähnung verdient, daß A m m o n , wie neuerlich R ü c k e rt, den Text des M a tth ä u s und M a rc u s vorzuziehen geneigt ist, obwohl in der M einung, daß selbst wenn das tovto n o itn t ein spä­ terer Zusatz w ä re,

dennoch die F eier den A u ftra g des H e rrn fü r

sich haben würde oder doch in seinem Geiste angeordnet sein würde. S o lautet die moralisirende D o gm a tik der damals sogenannten „kritischen Theologen", stimmung

des

und abgesehen von dem Fehler in der Be­

R eligionsbegriffs

macht

sie zugleich

eines raschen und übereilten Fertigmachens auf den Gegenstand.

D aß

den Eindruck

ohne rechtes Eingehen

sie unter einander nicht einig waren,

daß es von ih re r Neigung abhing, w eiter oder weniger w e it in ihrem Reductionsgeschäft zu gehen, hat die obige Zusammenstellung gezeigt, und es erklärt sich aus ihrem schwankenden, halb kritischen halb accommodirenden V erfahren.

Gegen den von K a n t gegebenen R e lig io ns­

en tw urf stehen Manche von diesen P raktikern und K ritik e rn an inne­ rem G eh alt offenbar zurück.

Denken w ir namentlich an S c h m id :

so hat sich bei ihm die G estalt der Glaubenslehre vollständig um ­ gekehrt. D a s ganz Allgemeine ist zum Fundamentalen geworden, alles Uebrige ist secundär und nähert

sich dem Entbehrlichen, ja dem

Beschwerlichen desto mehr, je mehr es das alte System zum Wesen­ haften erhoben h a t; die bisherigen Spitzen des D o gm a 's lassen sich höchstens noch als problematische Anhänge eines v ö llig ungleicharti­ gen G laubensm aterials überliefern.

D a ß die kritische Bewegung bis

an diese Grenze gelangte, w a r natürlich, auch behalten jene S chille rschen G laubensworte ihren guten K lang, wenn sie uns anleiten, bei *) Ebendas. S . 220. Paffafestes Lossagung, to n

D er ursprüngliche Zweck w a r also Veredelung

des

der mosaischen ReligionSverfassnng und Aufnahme

in die neue Gemeinschaft, welche Bestimmung dann bei wiederholter Feier erweitert wurde.

Glauben»Worte der „kritischen Theologen".

319

aller Untersuchung dessen, was in endlicher und zeitlicher Form auf­ getreten ist, von der Betrachtung des Ewigen auszugehen und auf ihm m it unverwandten Blicken zu ruhen.

A llein als voller In b e ­

g riff des Christlichen können jene W orte

nicht genügen.

b lo ß e n A n e rk e n n u n g der W ahrheiten:

G o tt, Tugend und Un­

In

der

sterblichkeit kan» das Wesentliche des Christenthums noch nicht aus­ gesprochen feilt, wenn man dieses nicht von seinem C h a r a k te r un­ abhängig denken w ill.

Jene Namen umfassen zwar das Allgemeine

und Objective, worauf aller christliche Glaube hinausläuft, aber nicht die bestimmte R ic h tu n g , von welcher aus es angeschaut und ange­ eignet werden soll, und von dieser absehen, heißt m it dem historischen Gehalt auch den idealen verkürzen..

D ann hätte die christliche Re­

ligion nichts weiter geleistet als ihre eigenen Voraussetzungen zu be­ stätigen, und das Schlußwort des Evangeliums würde n u r dessen eigenen Anfang unbereichert und unvervollständigt wiederholen. Auch Christus hat de» Glauben an G o tt und Tugend verkündigt, aber doch so, daß seine Verkündigung von der Thatsache des Unglaubens und der Untugend ausging.

D ie Ideen der B e s s e ru n g und W ie ­

d e rg e b u rt, der G n a d e und L iebe dringen von Unten herauf und von Oben herab, sie bilden keine Glaubensartikel für sich, wohl aber unentbehrliche Hülfen, aus denen erkannt werden soll, w elcher Gott und welche Tugend zu glauben und wie das V e r h ä lt n iß zu G o tt christlich anzuschauen sei.

Kant

selber hatte Verständniß dieser

Ideen gehabt, nachher wurden sie vielfach gering geachtet, und M änner wie S c h m id

begnügten sich, die Lchrartikel nach dem

Grade ihres Abstandes von den Hauptwahrheiten zu ordnen. solchen Ausläufern gelangt der kritische M o ra lism u s

In

abermals zu

einer Auffassung, welche die dynami sche Seite der Lehre und des Glaubens unberücksichtigt läßt.

Nachdem er sich einfach dahin ent­

schieden, daß alles Positive und Historische n ur die Bedeutung einer Jntroduction und Geburtshülle der christlichen Religion habe, fragt er wenig mehr darnach,

welche Ideen

und Geisteskräfte dadurch

lebendig erhalten werden. D ie genannten Dogmatiker erlauben uns zugleich einen ver­ gleichenden Einblick in die ihnen verwandte religionsphilosophische,

320

Achte» Buch.

Erster Abschnitt.

theologische oder populäre Literatur. re ic h ,

N ie t h a m m e r ,

D ie Schriften von H e id e n ­

R e in h o ld ,

G . 8. M ü l l e r ,

B e rg e r,

J a k o b s u. A. hat F lü g g e , selbst dieser Richtung zugethan, fleißig ausgebeutet'); sie versetzen uns in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, und überall t r it t uns in ihnen dieselbe wogende Zeit­ stimmung entgegen.

D ie Geister trachteten und rangen nach Ent­

scheidung, ohne zur Ruhe zu kommen"). höchst ungleiche,

D a s B ibelw ort übte eine

aber niemals verschwindende Anziehungskraft, die

symbolischen Bücher wurden gelegentlich hervorgehoben. ten einer völligen. Emancipation das W o rt.

Einige rede­

D as moralische R e li­

gionsprincip der Gegenwart erklärten sie fü r etwas Neues, bisher nur unvollkommen Vorhandenes, denn Christus kannte n ur im sta­ tutarischen S inne göttliche Gesetze, aber nicht die Autonomie des MenschengeisteS und nicht ein moralisches P rin cip , aus welchem das Dasein Gottes

und die Unsterblichkeit m it unmittelbarer Evidenz

abgeleitet w ird, er war also, setzen w ir hinzu, selbst kein Kantianer! D ie Epoche religiöser und sittlicher Selbständigkeit, welche der P h i­ losoph als in weiter Ferne bevorstehend angekündigt, ist in W ahrheit angebrochen, und so lange der historische Beweis der Offenbarung nicht befriedigend geführt w ird , den P rim at.

übernimmt die moralische Religion

Nachdem die Brücke abgebrochen, soll man sie nicht

durch morsche P feiler wiederherstellen wollen.

Aus diesem Grunde

‘ ) Hierher gehören die S c h rifte n : Niethammer, Ueber R eligion als W iffenschast, Neustrelitz 1795. R el. 1790. 91 .

Heidenreich's Betrachtungen über die Philos. der n a tü rl.

2 Thle.

Pölitz, Religionsphilosophie.

K ritik der R eligion und aller religiösen Dogmen. der geoffenbarten R eligion ,

J a lo b 's A nnalen,

einer Wiffenschastslehre der R eligion , Lpz. 1796. philosophischen Religionslehre, H alle 1797.

Tiestrunk, Versuch einer

Briese über die Persectibilität

1796.

Berger'« Aphorismen zu

G . L. M ü lle r , E n tw u rf einer

Zenisch, Sendschreiben an S p a ld in g :

S o llte R tlig io n den Menschen jem als entbehrlich werden? B e rl. 1797, u. a. — V g l. übrigen« Flügge'« Versuch, beide Theile. 2) D ie G ährung und den D ra n g dieser Z e it beschreibt Flügge I , S . 3 m it den W o rte n : unseren Tagen.

„A b e r noch nie w ar die Kris« so bedeutend, so fürchterlich als in W ie sie enden w ird , das w ird die Znkuust enthüllen.

W ir leben

in dieser Krise und w er von uns glücklich genug ist, da« Ende zu durchleben und sich durch sie hindurch zu arbeite», der w ird in der Lage derjenigen (ein, die eine Pest überstanden.

D e r Uebriggebliebene und Gerettete befindet sich desto besser" »c.

Verwirrung unter den Kantianern.

321

wurden auch gegen die von K a n t vorgeschlagene Wiederaufnahme längst veralteter Dogmen ernstliche Bedenken laut. Den Altgläubi­ gen, hieß eS, ist mit Deutungen, die eine fiträßaaig tig ällo yivog in sich schließen, nicht gedient, die Liberalen bedürfen ihrer nicht. Aeußerte doch J a k o b i selber, das Gute werde im K an tisch en System auf das Döse geimpft, das Verdienst der Tugend und die Größe der Sittlichkeit auf die Unterjochung schlimmer Maximen, die Gerechtigkeit der Kinder Gottes auf eine Enterbung des T eufels'). Andere hingegen äußerten sich milder und hielten noch für noth­ wendig, daß der Geschichtsglaube durch sittliches Verständniß belebt und genährt werde; man lasse das Neue Testament unangetastet, bis die Menschen fühlen, daß sie dieser Stützen nicht mehr bedürfen. D ie Lehre selber wirkte also noch anziehend, wenn auch in ungleichem Grade. Wieder Andere begnügten sich, Philosophie und christliche Religion als selbständige und einander unentbehrliche G rößen, die durch denselben Zweck verbunden werden, einfach neben einander zu stellen. M itten unter dieser Verwirrung wurden Alle von dem eine» tröstlichen Gedanken berührt, daß der praktische Glaube an das Ewige unter den Fehlgriffen der Theorie seine heilsame Kraft behaupte und für die vergänglichen Satzungen eines philosophischen oder theologi­ schen D ogm atism us Ersatz zu bieten vermöge. S o ll nun aber die christliche Id e e auf der historischen Erscheinung ruhen bleiben, in welchem Falle sie eines Mittelpunktes und Zeugnisses bedarf, oder soll sie nach langer historischer und positiver Beschränkung von nun an in unsichtbarer Allgemeinheit über den D ingen schweben? — D a s w ar die große F rage, welche mit ungleicher Dringlichkeit und Schärfe an die Geister herantrat, und es w ar zugleich eine Frage an die Zeit und an die Geschichte, welche aber anders geantwortet hat als jene eilfertigen M oralisten wollten. D ie Einwirkung der K an tisch en Principien, die wir in der Dogmatik nachgewiesen, läßt sich bekanntlich in allen anderen theo­ logischen D isciplinen, selbst die praktischen nicht ausgenommen, wahr­ nehmen. I n der Ethik liegt sie unmittelbar und durchgreifend zu *) Jakob,'« Schriften, III, Lp,. 1816. S . 190. Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

322

Achtes Buch. Erster Abschnitt.

Tage, da die Religion in der M oral ihre alleinige Grundlage haben und abgelöst von ihr nichts Eigenes besitzen soll als den Gottes­ dienst l)k Die Kqntische Moraltheologie sollte den Gedanken aus­ führen, daß der Mensch, obwohl er keine Aussicht hat, das sittliche Id e a l jemals zu erreichen, doch demselben unablässig nachzutrachten habe. D as historische Studium empfing gewisse leitende Gesichts­ punkte; der Begriff der Kirche wurde verallgemeinert und ein mora­ lischer Pragmatismus eingeführt, der auf diesem Felde zu mancherlei schiefen Urtheilen führte. I n praktischer Beziehung wurde gerade von dieser Seite die Nothwendigkeit fester kirchlicher Ordnungen mehrfach anerkannt, und es fehlte nicht an Solchen, welche für das Ansehen der symbolischen Bücher als öffentlicher und gemeinverständ­ licher Auslegungen der biblischen Offenbarung philosophische Gründe fanden8). Aber alle diese Einwirkungen bewegen sich auf dem allge­ meineren begrifflichen Gebiet, und wo die Philosophie in das theo­ logische Specialgeschäft Eingriff, zeigte sich bald, daß die Theologie selbständig genug w ar, um in ihrer gelehrten Arbeit nicht gestört werden zu wollen. M an erinnere sich an K a n t ' s Empfehlung einer moralischen Schrifterklärung, angeknüpft an den Ausspruch 2. Tim. 3, 16 (— xal cicpelifiog ngög ncudtiav TtjV iv Sixaioavvtj), und an die dadurch veranlaßten weitläufigen Verhandlungen8). K a n t beabsichtigte nicht eigentlich ein neues Hermeneutisches Princip aufzu­ stellen, sondern er wollte nur ein Verfahren moralischer Uebertragung oder Erweiterung, wie er selbst es in Betreff des Dogma's geübt *) Flügge a. a. O- I, S . 326 stellt über da» Verhältniß de» Sittlichen zum Religiösen sechs mögliche Fälle hin: Religion ohne Moralität — bloßer Gottes­ dienst; Moralität ohne Religion — rein aber trostlos und äußerlich durch die sinnliche Natur des Menschen unvermeidlich gehindert; Religion auf Moralität gegründet — beides eigennützig (!); M oralität neben Religion, von einander un­ abhängig, aber so verbunden, daß Moralität der Religion negativ subordinirt ist — ein gewöhnliche« Verderben der Gesinnung durch positive» Glauben bei einiger Achtung vor der Vernunft; Religion neben Moralität, beide von einander »»ab­ hängig, aber so verbunden, daß Religion der M oralität negativ untergeordnet wird — eine Gesinnung des positiv Gläubigen, wo die Vernunft sich durch po­ sitive Lehre von der Befolgung ihres eigenen Gesetzes doch nicht abbringen läßt ,c. 2) Flügge, I, S . 327. *) Kant, Religion innerhalb der Grenzen ic. S . 161 ff.

Verhandlungen über moralische SchristerNLrung.

323

hatte, auch für den Bibelerklärer zur Ergänzung seines Geschäfts in Vorschlag bringen. D aran hielten sich auch die Freunde dieser Methode und suchten die Gefahr einer exegetischen Täuschung und Unredlichkeit zu zerstreuen. Der Ausleger solle sich eben auf einem höheren Standpunkt befinden als der biblische Autor und brauche nicht ängstlich abzuwägen, ob der Schriftsteller alle die moralischen Gedanken wirklich, gehegt, die er seinem Texte beilege oder an ihn anknüpfe; dann finde sich leicht ein höherer Gesichtspunkt, wohl ge­ eignet, den biblischen Buchstaben auch dem gegenwärtigen Bewußtsein zugänglich zu machen, dann werde es möglich sein, die h. Schrift den Dogmatikern zu entreißen, um sie ganz der Obhut der M ora­ listen anzuvertrauen. S o urtheilten T i e f t r u n k , Pölitz und Andere. Allein die strengen Exegeten wie Eichhorn, N ö sselt, S t o r r , R o s e u m ü l l e r ließen sich nicht irren, sie protestirten lebhaft im Namen der wissenschaftlichen Wahrheitsliebe gegen diesen neuen Origenismus, nicht minder im Nameu der h. Schrift selber, deren Ansehen durch dergleichen halbe oder ganze Allegorieen nur scheinbar, nicht wirklich gefördert werde. An sich wäre eS möglich gewesen, daS rein exegetische Geschäft von der moralischen Auslegung unab­ hängig zu halten; sobald aber diese letztere einmal als Auslegungs­ mittel eingeführt und irgendwie zur Interpretation als solcher ge­ rechnet wurde, konnten verwirrende Uebergriffe gar nicht ausbleiben. M it Recht wurde erinnert, daß auf diese Weise Veranlassung ge­ geben werde, den wahren sittlichen Gehalt der h. Schrift zu unter­ schätzen und selbst fremdartige dogmatische Vorstellungen deshalb ein­ zumischen, weil sie eine moralische Deutung begünstigen'). N ur K a n t ' S eigene geistvolle Versuche konnten dieser exegetischen BehandlungSweise einigen Schein geben; doch hatte sie selber nicht lange Bestand, nicht so lange als der M oralism us, aus dem sie hervorgegangen war. Indem die Interpretation ihrer Aufgabe treu blieb, erhielt sie auch die Theologie mit ihrer biblischen Basis in Verbindung. *) Vgl, Flligge's Erläuterungen a. a. O. I, 101—128. II, S . 7 —78 und die daselbst angegebene Literatur.

324

Achtes Buch. Erster Abschnitt.

V. A m m on'S S u m m a t h e o l o g i a e . Bon A m m on ist oben erwähnt worden, daß er seiner kritischen Tendenzen unbeschadet doch auf die älteren Dogmatiker zurückwies, statt sie aus den Augen zu verlieren. Derselbe Schriftsteller führt uns noch einen Schritt weiter. Seine Summa') von 1802 giebt sich selbst für einen Fortschritt nach der Seite des Positiven aus, zu welchem er ein besseres Vertrauen gewonnen zu haben erklärt; denn diejenigen können nicht Recht behalten, die vielleicht durch den antiken Gegensatz von Physis und Thesis verleitet, unter dem Po­ sitiven nur das Willkürliche und Statutarische haben verstehen wol­ len. Nein, bemerkt er treffend, das Positive der christlichen Religion gleicht nicht einer gesetzlichen Auctorität, eS ist nicht ein Gemachtes, noch widerstrebt es der Vernunft und N atur, sondern ruht auf deren Grundlage. In der wahren Theologie werden sich drei Be­ standtheile vereinbaren müssen, die Basis der natürlichen Vernunft­ erkenntniß, die höhere Bürgschaft einer gotteswürdigen Lehre und drittens die außerordentlichen Thatsachen und Erscheinungen, welche die ReligionSbegriffe veranschaulicht und dem Bewußtsein der Ge­ meinschaft eingeprägt haben. Durch die Verknüpfung dieser wohlberechtigten Elemente wird es gelingen, das Studium der Theologie auf's Neue emporzubringen und das vergessene Andenken der Refor­ matoren zu erneuern. Am m on läßt daher den Leser erkennen, daß er der Alleinherrschaft der K antischen Philosophie und ihres ledig­ lich moralischen Religionsbegriffs entwachsen sei. Jetzt ist ihm die Theologie nicht bloß die religiöse Auffassung des Sittengesetzes, son­ dern die Lehre von Gott in seinem V e r h ä ltn iß zu r W e lt, also etwas Theoretisches und Scientifisches, dem das Praktische erst zu *) Summa theologiae Christianae, Erl. 1802. ed. 2. 1808. Praef. p. VII. Theologiam docemus, non nova Plotini vel Pseudodionysii caligine circumfusam, sed Christianam atque evangelicam; ad notionem itaque divinam, in quam theologia germana desinit, ante omnia nobis revocanda sunt literarum sacrarum praecepta, priusquam dogmata in ecclesia sancita proponantur, quae ab hominibus constituta censuram modestam admittunt eaque multis in locis opus habent.

folgen hat. Rationale Theologie, die wieder die reine oder empirische sein kann, und historische, sei es im S inn e der Offenbarung oder der menschlichen S tiftu ng (symbolica), unterscheiden sich nach Quelle, B ew eisart und Methode, können aber nicht von einander loskommen, darum ist das S treben, sie in Eintracht zu bringen, ein nothwen­ diges '). D a nun die M ehrheit der Menschen nicht G ott und der Vernunft zugleich zu gehorchen vermag: so haben die Verkündigun­ gen heiliger M änner des alten und neuen Bundes sich als unent­ behrliches Erkenntnißmittel des höchsten W illens dazwischen gestellt. D a s höchste theologische Princip, wohl zu unterscheiden von dem Fundamentalartikel der christlichen Religion (M atth. 22 , 37 —40), muß sich über den abstrakten Gottesgedanken erheben, dann gelangt es zu dem bestimmteren Ausdruck, daß der Schöpfer und Lenker der W elt zugleich durch Christus der Urheber und Spender der mensch­ lichen Glückseligkeit geworden sei'). W ir sollen uns also doch, wenn gleich aus empirischen G ründen, zu einem synthetischen Urtheil ent­ schließen, welches die Vernunftidee der Gottheit historisch ergänzt und bestimmt, und auf welches dann alle andern dogmatischen A us­ sagen zurückweisen. M an hat A m m on häufig und nicht ohne G rund eine schlechte diplomatische Behutsamkeit zum V orwurf gemacht, aber die Summa macht eigentlich nur den Eindruck einer versöhnlichen M ilde, während das Princip dasselbe bleibt und über einzelne F ra ­ gen, z. B . über Weissagung und Erfüllung, sogar mit rationalistischer Einseitigkeit geurtheilt wird. Allein der Bann des Kantianism us soll überschritten werden, auch beweist die häufige Erwähnung S p i n o z a 's , F ic h te 's , S c h e l l i n g 's , daß der philosophische Schau­ platz sich inzwischen verändert hatte und selbst der R ationalism us sich von Gefahren des Pantheism us und Atheismus umgeben sah. A m m o n verzichtet nicht mehr auf die Möglichkeit einer t h e o r e t i ­ schen Gotteserkenntniß, er läßt das ontologische Argument, wie es von M e n d e l s s o h n erneuert worden, wieder in seine Rechte treten *) Summa theol. § 5 ed. altera. Nostra institutio lineamenta ducet theologiae positivae Christianorum sanae rationi consentaneae. 2) Ibid. § 25. Deus auctor et gubernator mundi humanae etiam felicitatis auctor et largitor est per J. Christum (Joh. 17, 3).

326

Acht« Buch. Erst« Abschnitt.

und stellt in der Eigensthaftslehre btt das Wesen betreffenden den intellektuellen und moralischen Attributen voran. Die Trinität soll nicht aufgegeben, sondern richtig verstanden werden; nach einer kur­ zen knappen Zusammenfassung der gewöhnlichen Gegengründe begnügt sich der Dogmatiker, der immanenten T rinität eine o p e ra tiv e zur Sette zu stellen, wie sie innerhalb des Gottesreichs offenbar wird. W esen s- und O f f e n b a r u u g s tr in itä t wurden später die G at­ tungsnamen für den dogmatischen Gegensatz; die biblische Einheit gilt dem Wesen, die Dreiheit dem Verhältniß zur Menschheit «nd W elt, und wenn jenes Trinitarifche den Schein des Tritheismus erweckt: so haben wir, heißt es mit Recht, die Einheit mit Mitteln der Vernunft und Schrift auf's Neue sicherzustellenl). Wird jedoch die Lehre in religiöser Einfachheit gedacht, dann ist Christus der göttliche Menschensohn, welcher als Bringer des Heils und der Un­ sterblichkeit den ewigen Logos unter uns wohnhaft und wirksam gemacht. Die Angelologie und Dämonologie, in Bezug auf welche der chaldäische Einfluß auf die jüngere Bibellehre bereits feststand, wird mit Vorsicht behandelt, doch finden fich gegen den persönlichen S atan schon einige Instanzen, wie sie späterhin S ch l ei er macher geltend machte, so daß schließlich gerathen w ird, nur diejenige praktische Vorstellung festzuhalten, welche uns die gottfeindliche, wider Christum und fein Reich gerichtete und täglich mehr zu überwindende Macht vergegenwärtigt'). M it der Sündenlehre findet sich der Dogmatiker allzu kurz ab. Wenn er behauptet, daß das göttliche Ebenbild fakultativ zu fassen sei, da eine anerschaffene ac tu ekle und schon entwickelte Heiligkeit einen Widerspruch in sich schließen würde, daß ferner der Mensch von Haus aus nach beiden Seiten fähig fei, Ibid. § 58. Dissimulare nolim, unitatem numinis e scr. s. haustam, trinitatem personarum vero ad homines referendam esse videri. — Hane fidem nobis eripi vel propterea aegre ferimus, quia insita est ammis nostris notio hominis perfecti Deo proximi. Quidni igitur gratissima mente ampleetamur historiam Jesu Christi, qua in ipsam numinis societatem adducimur! Vereor ut hominibus liceat, ultra humanem conditionem sapere veile. 2) Summa theol. § 70. Primum enim Spiritus omnis boni expers se ipse destruit ideoque existere nequit.

Ammon.

Erweiterung der Weltansicht.

327

folglich die S ünde nicht aus Zeitgründen, sondern immer n ur aus der Freiheit herstammen könne, während der natürliche Reiz und die Begierde immerhin aus einer langen Erbschaft erklärt werden möge: so urtheilt er zwar im Allgemeinen richtig, aber er hat die factische Herrschaft der S ünde nicht m it der Offenheit wie K a n t und Andere anerkannt. D ie von K a n t hingeworfene Id e e einer intelligibeln T h at hätte nicht ignorirt werden sollen, denn sie bot einen Gesichts­ punkt, um das Gemeinschaftliche in der Erscheinung der S ünde von dem Besonderen und Persönlichen zu unterscheiden. Dagegen läßt sich in der Weltanschauung wie in der Begrün­ dung des Vorsehungsglanbens ein erfreulicher Fortschritt nicht in Abrede stellen. D er Geist hatte sich von den Spitzen des Dogma'ö zurückgezogen, aber auf dem allgemeinen Boden der religiösen An­ dacht konnte er stärker wehen, denn er wehte über eine größere Fläche. D ie von L eib n itz und W e ls überkommene Teleologie, früher so kleinlich auf den O rganism us der einzelnen Naturweseu angewendet, jetzt gewann sie einen höheren M aaßstab. I n welchem Umfang lag die W elt, das Universum und das Leben der Menschen den Denkenden wie den Frommen vor Augen! D ie großartige Um­ schau, welche K a n t über die Ergebnisse der physischen Geographie und Anthropologie und welche H e r d e r 's Ideen über das Werden und Wachsen der Menschheit und das Bölkerleben eröffnet hatten, wirkte ergreifend und verlieh auch dem Preise des Schöpfers und höchsten Lenkers der D inge einen volleren Klang.

Nicht auö der

wundervollen Einrichtung der Schnecke und des Vogels brauchte die Güte Gottes bewiesen zu werden, der Mensch ist ihr vornehmster Zeuge, mag er auch nur die E rde, nur diesen kleinen Punkt im unendlichen W eltall bewohnen. D ie neueren Beobachtungen über die gleichmäßige E rhaltung der beiden Geschlechter und die Bedingungen einer gesunden Bevölkerung und Fortpflanzung waren sittlich und religiös bedeutend, denn sie erweiterten die Erkenntniß einer gött­ lichen O rd n u n g '). D er achte Psalm kam zu Ehren. D e r Mensch ist die Krone, aber er ist auch das Auge der Schöpfung. D ie N atu r *) Süßm ilch, Göttliche Ordnung in de» Veränderungen des menschlichen Geschlechts, 2 Thle-, 2. Stuft. Berl. 1761.

328

Achtes Buch.

Erster Abschnitt.

bewegt sich nicht müßig in sich selbst, sondern dient dem Menschen, seiner unendlichen Vervollkommnung, seiner Würde und Freiheit. Auch die Theologie konnte von diesen Fortschritten nicht unberührt bleiben, eS war kein Verdienst, wenn auch der Dogmatiker für die tausend Anregungsmittel einer umfassenderen W elt- und tieferen Geschichtsbetrachtung Ohren und Sinn hatte und eine Sprache führte, welche fich über die alten Unterscheidungen von p ro v id e n tia u n iv e r­ s a l » und sp e cialis und ähnliche Kategorteen erhob. Auch HiobSgedanken tauchten auf und wurden sogar poetisch, wenn auch mit sehr unpoetischer Handgreiflichkeit in T ie d g e'S Urania vorgetragen; doch ließen sie sich kurz abschneiden, wenn man nur den Rousseau'schen Satz wiederholte, daß das moralische Uebel lediglich unser eigenes Werk sei, das physische aber erst durch unsere Sünden empfindlich werde *)• I n der Christologie bleibt A m m o n , um nochmals auf ihn zurückzulenken, bei dem allgemeinen Gedanken stehen, daß der Logos, der Jesu einwohnte, vom Himmel gekommen sei. Die Subtilität des kirchlichen Dogma's verdient Bewunderung, wir dürfen die kirch­ lichen Formeln nicht überschätzen, wohl aber zur Schonung der alt­ christlichen Ueberlieferung, zur Uebung des Scharfsinns uud zur Erweckung der Frömmigkeit, welche durch die Annahme einer gött­ lichen Natur Christi unterstützt wird, bescheiden in Anwendung bringen'). Dagegen theilt der Verfasser die Zweifel, welche schon seit einiger Zeit gegen die Annahme einer übernatürlichen Erzeugung laut geworden, er beruft sich auf das Schweigen des Johannes (vgl. Jo h . 7, 42), die Dunkelheit der beiden Kindheitsgeschichten, auf den Widerspruch dieser Nachricht mit der Volksansicht, welche Christus für den Sohn Soseph's erklärt (Joh. 1 ,1 4 . M atth. 13. 55. Mc. 6, 3. Luc. 2, 48. 4, 22. Jo h . 6, 42. Röm. 9, 5), und auf den Umstand, daß die Vorstellung einer jungfräulichen Geburt sich an ähnliche *) Vgl. den Abschnitt § SOaqq. 2) Summa, § 99. Hane vero ecclesiasticam doctrinae subtilitatem adeo miramur, ut formas receptas non gravi quidem auctoritate retinendas, sacrae tarnen silvae licet spinis et difficultatibus obsitae etiamnum parcendum esse facile opinemur.

Einzelne« au« Ammon'»

Summa theologiae.

329

Sagen des außerchristlichen Alterthums sichtlich anlehnt, hier aber durch die Deutung einer prophetischen Stelle erleichtert w urde'). Diese Gründe sind im Wesentlichen auch später wiederholt worden; sie haben einen ungleichen W erth, die größte Wichtigkeit wird immer in dem Umstande liegen, daß die Angaben über die übernatürliche Geburt uns nur in der Kindheitsgeschichte vorliegen, ohne übrigens auf eine einstimmige und unzweifelhafte apostolische Ueberzeugung zurückzuweisen, weshalb dieser Glaube auch in den Briefen nirgends bestimmt hervortritt. M it dem Werk und Verdienst Christi, fährt A m m on fort, empfängt der Glaube noch mehr einen historischen Charakter; dieser ist von der größten Wichtigkeit, muß aber gleich­ wohl in die religiös-sittliche Ueberzeugung aufgenommen werden, welche von Christo zum V ater empor- und von diesem wieder zum H errn zurückleitet, denn die Zeit ist vorbei, wo Glauben und Wissen nach A u g u stin wie Auctorität und Vernunft einander entgegenge­ stellt werden durften. An der Id e e der Sündenvergebung haben Einige einen allgemeinen Anstoß genommen in der M einung, daß sie von bürgerlichen und irdischen Verhältnissen entlehnt, eine der Gottheit unwürdige Willkür einführe, die Gewissen schwäche und die Kraft zur Tugend lähme. Dessenungeachtet behauptet dieselbe ihre gute S telle, hängt unlöslich mit der Buße und Besserung zu­ sammen und bezeichnet den wahren W eg, auf welchem wir in die göttliche Kindschaft aufgenommen werden. Und selbst die Lehre von der Genugthuung, sobald sie nur innerhalb der subjektiven Erw ägun­ gen gerechtfertigt und mit Rücksicht auf das Typische des O pfers erläutert w ird, behält ihren W erth, weil eben von dem subjektiven Vertrauen auf Christi Todesopfer eine erlösende und versöhnende Kraft, ausgeht, sowie die Jntercession wenigstens dem Ungelehrten zum heilsamen Trostmittel gereichen kann. Uebrigens möge die Heilsordnung nur in die beiden Hauptstücke Rechtfertigung und *) Vgl. die genauere Entwicklung in Ammon'» Bibl. Theol. II, 245. Summa, § 95. Quae quidem argumenta, licet rationibus ab experientia ductis refutari aegemme poasint, convellere tarnen nequeunt sententiam, löyov, qui Jesu infuit, de coelo venisse, et in hac persuaeione cum auctoribus sacris (Job. 1, 14. 6, 62J subsistere eufficiat.

Achtes Buch.

330

Erster Abschnitt.

H e ilig u n g zerfallen, die übrigen sind entbehrlich. aus sittlichen Gründen beklagt,

Manche haben es

daß der Protestantism us, statt sich

an C h risti eigene und einfachere Lehre von der Besserung zu halten, vielm ehr die schärfere und vielleicht gar bedenkliche Rechtfertigungs­ lehre so einseitig bevorzugt habe. sich A m m o n nicht fügen,

A lle in auch diesem U rth e il w ill

er beruft sich a u f das dem D o gm a ein­

wohnende P rin c ip , welches Luther a ls W affe gegen W erkheiligkeit und sittlichen Leichtsinn so hoch emporgehalten,

und g la u b t,

daß

wenn w ir recht in 's In n e re gehen, w ir noch heute dieser Methode der Aneignung

des göttlichen W ohlgefallens

durch

den

Glauben

allein treu bleiben werden. In

A m m o n 's S u m m a ,

einem auf geringem R aum gehalt­

vollen Büchlein, halten sich kritische und conservative Neigungen daö G leichgewicht, ja es zeigt sich eine Reaction gegen bedachtlose oder unfrom m e V erw erfung

alles

Ueberlieferten.

So

viel 'w a r da m it

dargethan, daß man nicht reinen Tisch machen dürfe unter dem V o r ­ wände, daß ja A lle s n u r „statutarisch" sei und w irkungslos fü r die religiöse Ueberzeugung.

Auch suchte sich das Religiöse wieder zu

eigener subjektiver Existenz von dem M oralischen kritische Theologie

war

also

nicht

Der

G ang

u n fä h ig ,

abzulösen.

auch

sich

selbst

D ie zu

kritisiren.

V I.

d e r P h ilo s o p h ie .

D ie Philosophie erlebte inzwischen die wunderbarsten Wendungen. S ie

zog die ganze Eigenthümlichkeit des deutschen Geistes in sich

hinein und offenbarte zugleich dessen Fähigkeit, sich in weitem U m ­ fang über alle Interessen der Wissenschaft auszudehnen. G egenw art nicht darbot,

W a s die

wurde aus der Vergangenheit des A lte r­

thum s herbeigezogen; P la to und Aristoteles waren lebendig geworden und der vergessene und von der Kirche verschmähte S p in o z a er­ wachte zu einem staunenswerthen Nachleben.

D ie kritische Philoso­

phie gewährte keinen Ruhepunkt und ließ sich durch bloße F o rtfü h ­ ru n g ih re r P rin c ip ie n nicht zum Abschluß bringen. D e m Skepticism us, welchen sie v o rfa n d , gab sie ein heilsames Gegengewicht und einen

Der Gang der Philosophie. Jalobi.

331

tieferen sittlichen Ernst, ohne ihn zu bannen. S ie endigte mit einer inneren D u plicität, mit einer S paltung des geistigen Menschen, dessen eine Hälfte die Früchte der Erkenntniß brechen und genießen durfte, während die andere zu einem entscheidungslosen kritischen Nachdenken über den G rund der Dinge sich ver urtheilt sah. Nach­ dem die reine Vernunft sich selber so tief erforscht hatte, sollte sie nach so gewaltiger Anstrengung jetzt innehalten, statt den kühnen S chritt vorn Denken zum Wissen auf's Neue und glücklicher zu wagen? D er philosophische Fortschritt war au f doppelte Weise mög­ lich. Entweder es mußte dem kritischen Triebe H alt geboten und die Gewißheit, die das Denken in praktisch-moralischer Beziehung schon errungen hatte, auch dem theoretischen Gebiet mit veränderten M itteln zurückgegeben werden; oder aber es war nöthig, die kritische Richtung K a n t ' s so weit fortzutreiben, bis -sie bei einem positiven und höchst überraschenden Resultat anlangte. Jenes ist durch F. H. J a k o b i , dieses durch F ic h te geschehen, der Eine ein P h i­ losoph im erweiterten, der Andere im engsten S in n und daher durch eminente Schärfe und methodische Kunst der Dialektik ausgezeichnet; und so weit auch diese M änner von einander abstehen mochten, in Einem trafen sie doch zusammen, w as das Bedürfniß der Zeit ihnen aufnöthigte, daß sie nämlich in der unsichtbaren Welt der Ideen den unzweifelhaften G rund aller W ahrheit und Erkenntniß wiederfinden wollten. J a k o b i gehörte bekanntlich zu denjenigen Erscheinungen, die in jeder philosophischen Entwicklung zuweilen auftreten müssen, damit sie nicht schulmäßig eingedämmt werde. D ie Kritik, der er entgegentrat, machte ihn selbst zum scharfsinnigen Kritiker, während er übrigens nur die Ueberzeugungen einer geist- und gemüthvolleu Persönlichkeit unmittelbar wirken ließ. E r beschränkte die Aufgabe der Philosophie, aber er bereicherte und vertiefte den Schatz, auS dem sie zu schöpfen hat. Den R iß, der zwischen der W elt der menschlichen Begriffe und der objectiven Wirklichkeit der Dinge ent­ standen w ar, wollte er mit Einem Schlage heilen durch die einfache Behauptung, daß der Sinnenwahrnehm ung eine thatsächlich vorhan­ dene R ealität entsprechen müsse, möge auch die Art, wie die letztere auf jene einwirkt, stets unerforschlich bleibe«. Und ebenso unzweifel-

Achtes Buch.

332

Erster Abschnitt.

haft ist daS Factum einer idealen W ahrheit im menschlichen Be­ wußtsein,

die V e r n u n f t empfängt sie, denn sie v e r n im m t die

leisen Zeugnisse der Ahnung und des G efühls, welche aus der U rstätte des Gemüths emportauchen.

Es giebt eine W a h r h e it d e r

I d e e n und sie liegt als unantastbares Besitzthum in uns verborgen. Dieselbe Gewißheit, welche K a n t fü r den kategorischen Im p e ra tiv in Anspruch nim m t, überträgt sich auf ein u n m itt e lb a r e s W isse n des Uebersinnlichen, welches der V ernunft aus dem Gefühl und der Ahnung zufließt,

ein Innewerden

des Göttlichen, das w ir dem

zweifelhaften Erfolg eines demonstrirenden Verfahrens nicht aus­ setzen,

noch den Borurtheilen des Verstandes,

Gottesleugners,

uuterwersen dürfen.

dieses geborenen

I n der Philosophie hat auch

der Glaube ein Bürgerrecht, ähnlich der alten « « m s der Alexan­ driner, welche jeder yvcoatg und Reflexion vorangeht. J e höher der Gegenstand des Glaubens steht, desto mehr entzieht er sich den B e­ dingungen einer eigentlichen Beweisführung,

desto mehr gehört er

aber der V e rn u n ft, die das Geglaubte durch A n s c h a u u n g des im Gefühle Gegebenen zur Idee entwickelt.

M i t der Anschauung des

Idealen erwächst der Mensch zum Bewußtsein seiner höchsten Würde und Bestimmung, erhoben über alle untergeordneten und thierischen Triebe bemächtigt er sich der seiner N a tu r einwohnenden sittlichen K ra ft und Freiheit.

E r kann nicht anders als dasselbe Gepräge

der Freiheit und Persönlichkeit, in welchem die endliche V ernunft sich vollendet, auch der unendlichen beizulegen.

„D enn so gewiß die

V ernunft vernünftig ist, kann sie nichts U n d e n k b a re s denken lernen. D ie Größe des Bedürfnisses hebt nicht die Unmöglichkeit a u f,

ge­

wissen Ideen objective Existenz zu verleihen, sobald die S ubjectivität derselben außer allen Zweifel gesetzt w ird ."

Folglich muß die V e r­

nunft diese Unmöglichkeit aus eigener Vollmacht negiren, sonst ver­ harren w ir in einem ewigen Widerspruch zwischen den praktischen Postulaten und dem Bernunftgebrauch, und alles Philosophiren über Religion und Freiheit liefert uns n ur ein problematisches fü r sitt­ liche Lebenszwecke nützliches Ideenmagazin.

N ein,

G ott ist ebenso

gewiß als das Wahre, Gute und Schöne. Und mag der speculirende Denker aus der Gesetzmäßigkeit der N a tu r eine Gottheit im S inne

Jakobi.

S p i n o z a 'S erschließen,

333

Fichte'» Wissenschaft-lehre.

der g a n z e Mensch fo rd e rt G o tt a ls fre i­

waltendes persönliches Wesen, so wie er sich in seinen reinsten G e­ fühlen

von ihm

berührt und ergriffen findet.

A u f diesem Wege

gelangte J a k o b i zu einem Christenthum deS G em üths, und er be­ kennt selber, daß er n u r m it diesem mystischen, nicht m it dem histo­ rischen zurechtkomme, ja daß er zwischen zwei Wassern schwimme, die sich ih m nicht vereinigen w o lle n , so daß sie gemeinschaftlich ihn trügen, sondern so wie daS eine ihn fortdauernd hebe, so versenke ih n auch unaufhörlich das andere'). la utet

sein

Desto

frischer

anthropologisch begründetes Zeugniß

G ottesglaubens,

welches nicht

und kräftiger

eines

lebendigen

aus der philosophischen Kunst und

Methode hervorgegangen ist, darum aber auch nicht m it deren Wechsel abgethan werden kan n'). W ie anders erscheint daneben F ic h t e 's Wissenschaftslehre, von der m it Recht gesagt worden, daß sie den Schlüssel zum Verständniß der neueren S pe culation b ild e 3) . S e in subjektiver Id e a lis m u s schreitet kühn bis zur äußersten

Grenze und w ir ft die Brücke h inter sich,

welche die K a n t i s c h e K ritik noch hatte bestehen lassen.

E s ist nach

F ic h te gar kein M a n g e l, wenn sich unsere Erkenntniß n u r innerhalb der subjectiven B e g riffsfo rm e n bewegt und von der O b je c tiv itä t der D in g e scheinbar abschneidet;

denn eben unser Bewußtsein ist ja die

einzige S tä tte des Wissens,

im Gedanken erst empfängt das S e in

R e a litä t und W ahrh eit.

W ir werden nie und nim m er ein M it t e l

finden, ein Reales außer uns so zu denken, wie es ist, sondern n u r wie es in u n s ist.

M ögen auch unsere Em pfindungen, Gefühle und

Vorstellungen von Außen veranlaßt sein, w ir haben sie doch n u r so, wie sie aus unserem intellectuellen Handeln hervorgehen, bleiben innerhalb dieser subjectiven S p h ä re ; nannte

folglich

und sie

ist alle soge­

objective R e a litä t lediglich gedachtes oder von uns gesetzte-

*) B g l. Hermann, Gesch. I, S . 171. 2) M a n denke an den Schluß der berühmten Abhandlung über das Unter­ nehmen des KritieismuS, die Vernunft zu Verstände zu bringen, Iakobi's Schrif­ ten I I I , S . 183 ff. 8) LhalybäuS, Histor. Entwicklung rc. S . 1 4 7 ff. Rosenkranz, Gesch. der Kantischen Philos. S . 447. der Philos., B erl. 1866.

H, § 312.

Herrmann, I , S . 1 5 7 ff.

Erdmann, Grundriß der Gesch.

Acht« Buch-

334 S e i« .

D a s Bewußtsein

Thatsache,

Erster Abschnitt.

m it seiner unerklärlichen Schranke ist die

auf welcher alle Wissenschaft r u h t,

einzig W irkliche;

zwar ist dasselbe m it

das Ic h

also das-

der Schranke des Nichtich

behaftet, es ist selber bedingt, dennoch aber in dem ganzen Umfange seiner Denk- und Wissensbestimmungen wieder unabhängig und frei. D a s Setzen des Nichtich oder der W e lt ist kein w illkü rlich es, es h ö rt niem als au f, stellen.

aber

die eigene P ro d u c tiv itä t des S u b je cts darzu­

Nach solchen Prämissen

erscheint die W e lt a ls

die nach

Dernunftgesetzen versinnlichte Ansicht dessen, was das einzelne Ic h oder dessen M e h rh e it in sich und aus sich gesetzt haben,

a ls der

Reflex unserer subjectiven Geistesthätigkeit, welchen w ir zu statuiren oder hinzuwerfen durch unsere N aturbestim m theit genöthigt werden. S o schlechtweg wie die W e lt vom gemeinen Menschenverstände be­ hauptet w i r d ,

ist sie nicht vorhanden,

folglich d a rf auch nicht von

ih r auS au f einen Schöpfer geschloffen werden.

F ic h t e 's A theism us,

d. h. seine B ehauptung, daß der B e g riff G ottes als einer besonderen Substanz unmöglich sei, stammte aus keiner unfrom m en oder gotteSleugnerifchen Absicht,

sondern er w a r die Folge davon, zum a b s o lu te n

P r in c ip

erhoben

daß der

Philosoph

das I c h

und jede

E rklä run g

desselben aus einer über ihm schwebenden M a ch t abge­

schnitten hatte, die Folge seines in den ersten S chritten großartigen, dann

aber

höchst gewaltsamen subjectiven Id e a lis m u s .

Auch lag

d a rin allerdings eine willkürliche philosophische Z urückhaltung, er in

daß

jedem G ottesbegriff n u r die G efahr einer körperlichen S u b -

stauziirung oder Beschränkung vo r Augen hatte. the il drängt die Id e e

eines

persönlichen G ottes

Nach seinem U r ­ nothwendig

zur

Annahme eines körperlichen S ubstrats statt des reinen H andelns, und selbst

der Name Geist als positiver Ausdruck des

göttlichen

Wesens ist g ä n z lic h u n b r a u c h b a r , — ein Satz, der selbst in der Geschichte der Philosophie kaum vorgekommen w a r. unendlich zu sein, sobald

er zum O bject

G o tt h ö rt auf

eines B e g riffs

gemacht

w ird , — also w e il dieser B e g riff niem als adäquat vollzogen werden kann,

darum ist er überhaupt unstatthaft.

A n dieser S te lle stehen

J a k o b i und F ic h te einander scharf entgegen, indem der E in e , so zu sagen, dem P rin c ip der fooloyice xaracpanx^, der Andere dem

Fichte'« praktische Philosophie.

335

bet anocparutri huldigt. J a k o b i empfindet in dem Bewußtsein der freien Persönlichkeit gerade die GotteSnähe und berechtigt seine Ver­ nunft, der Gottheit diesen Charakter beizulegen, mag demselben auch etwas Menschliches und Endliches unvermeidlich anhaften; F ic h te sieht in jedem Persönlichen nur die Entfernung von einem Absoluten, die Vervielfältigung des eigenen endliche» und beschränkten Selbst und verzichtet auf einen Begriff, welcher lediglich durch den absolu­ ten Widerspruch zu Stande kommt. Die Theologie hat der darin angedeuteten speculativen Schwierigkeit ihr Verständniß in keinem Zeitalter ganz versagt, dennoch aber nur in dem andern S tan d ­ punkt, dem religiösen, Ruhe gefunden. Und Fichte seinerseits hat sich nicht jedem Zugeständniß verschlossen, denn er erkannte an, daß ein Wissen, in welchem lauter Bewußtsein, Intelligenz, geistiges Leben und Thätigkeit ist, wohl Gott fein würde, wenn es nur be­ greiflich wäre. Verräth sich nicht darin das Verlangen der höchsten Idee, sich selbst nicht fallen zu lassen, wenn sie auch ein nicht be­ griffenes Moment in sich aufnehmen muß? Nach dieser Seite hin also erscheint der Zugang zur Religion verschlossen, doch will ihn Fichte auf dem Wege der praktischen Philosophie gewinnen. Zwar soll auch diese letztere in derselben wissenschaftlichen Thätigkeit wurzeln; sie hat eben darin ihre Stärke, daß in ihr alles Denken und Wissen zugleich als ein intellectuelleS Handeln gefaßt, also für die theoretische und praktische Wissenschaft derselbe tiefste Einheits- und Ausgangspunkt gefunden wird: indessen entsteht doch im zweiten Theil des Systems eine neue Wendung, und die W elt, die anfangs nur einem Scheinbild glich, erlangt eine unentfliehbare Wahrheit. Es ist dieselbe Geisteskraft, welche, wie alle Borstellungsacte, so auch alle Richtungen des Wollen« aus sich heraus setzt; der Zweck alles Handelns fällt mit der Selbstbestim­ mung und Selbstthätigkeit der Vernunft zusammen. Und diese kann nichts Höheres leisten, als daß sie, statt einem äußeren Machtgebot zu gehorchen, immer nur aus sich selber schöpft, immer nur von dem Zuge der eigensten Menschennatur sich leiten und forttreiben läßt. D ie Sittlichkeit der Vernunft ist deren aus ihr selbst hervorgehende F r e ih e it. D ie ganze Aufgabe des Willens ist darin enthalten,.

336

Achtes Buch.

Erster Abschnitt.

daß er Allem, wovon die Möglichkeit und wozu der D rang in der vernünftigen Anlage gegeben ist, unbeirrt und unablässig Folge leistet und die W elt der Erscheinung als M ittel zu seiner Entwicklung be­ nutzt. Hier also thut sich die anfangs verschlossene oder zum Schat­ ten herabgesetzte Welt wieder in ihrer Wirklichkeit au f, zwar nicht als N atur, aber als M aterial der sittlichen Pflichten, als Inbegriff einer O rdnung, in welcher jedem Handeln seine Stelle angewiesen wird. Wie K a n t durch die praktische Vernunft zu G ott geleitet wird: so gelangt F ichte auf ähnlichem Wege wenigstens zu einer W elt und sittlichen W eltordnung, welche für ihn die Stelle der Gottheit v ertritt, und diese Erkenntniß allein erhebt ihn über daS Dunkel, welches auf den Außendingen ruht, zu vertrauensvoller Z u­ versicht. E s bleibt geheimnißvoll, auf welche Weise die W elt, wäh­ rend sie nur unsere eigene N atur abspiegelt, dennoch als ein außer unS Gegebenes unwidersprechlich auf uns eindringt; wir aber sollen in ihrer moralischen Einrichtung eine objective W ahrheit der Ver­ nunft wiederfinden und in dem Sinnlichen ein Uebersinnliches und Göttliches erkennen und g la u b e n lernen. I n diesem Glauben an die sittliche Ordnung der Dinge vollendet sich das Gebäude der Wissenschaft. F ic h te 'S System , obwohl in sich selber höchst geistvoll ausge­ bildet und künstlerisch abgeschlossen, bewegt sich nur i» der einen Hälfte der philosophischen Aufgabe, die andere läßt es auf sich be­ ruhen, und längst hat die Kritik nachgewiesen, daß es, wenn nicht mit einem Räthsel endigt, doch jedenfalls mit einem solchen beginnt. D a s Ich kann die ihm zuerkannte Stellung eines Princips nicht ausfüllen, denn in seiner Selbständigkeit bleibt es von einem uner­ klärten und unerklärlichen Anderen abhängig; zwar soll dieses Andere nur insofern vorhanden sein, als eS vom Ich vorausgesetzt wird, da aber das Bewußtsein des Ich ohne die in ihm auftretende fremde Bestimmung sich nicht entwickeln kann: so weist es dennoch über sich selbst hinaus und beide Theile des Gegensatzes behaupten dieselbe Nothwendigkeit. D as menschliche Bewußtsein soll sich selbst fassen und alles ihm Vorschwebende in freier Thätigkeit produciren, aber es liegt in den Banden seiner eigenen N atur gefangen, muß also

Fichte'S Einfluß auf die Theologen.

337

die Schranke, die es als eine ä u ß e re verleugnet und negirt, in sich anerkennen. Diese innere Unhaltbarkeit des P rin cip s') ist dem Philosophen selbst klar geworden, er fand sich genöthigt, in der letzten Entwicklung seiner Speculation über die Grenzen jenes sich selbst aufhebenden subjectiven Idealism us hinauszugehen und sogar ein anderes absolutes Schema der Gottheit als des allerrealsten S ein s und der unendlichen Vernunft aufzustellen. Also auch der muthige geisteSstarke F ic h te , der keine W ahrheit kannte als die Wissenschaft, keine Wissenschaft als die zwingende Gewalt des folgerichtigen D en­ kens, hat der menschlichen Schwäche ihren Zoll abgetragen und von der W elt aus Eindrücke empfangen, stärker und wirksamer als sie mit der wissenschaftlichen Selbständigkeit seines ersten Auftretens ver­ träglich erscheinen. Z u einer ausgebildeten Religionsphilosophie ähnlich der K a n ti­ schen kam es auf diesem Standpunkte nicht, sondern nur zu einzel­ nen M aterialien einer solchen. F ic h te hat mehr auf die T h e o ­ lo g e n als auf die T h e o l o g i e gewirkt. E s w ar der Eindruck seiner männlichen und charaktervollen Persönlichkeit, es w ar das von ihm ausgehende Streben nach Kräftigung der Gesinnung mitten unter den Zerwürfnissen einer trostlosen Zeit, und nach Gewinnung eines unzerstörbaren Eigenthums im Geist, was unter Schülern und Verehrern, die nachher der Kirche dienten, sein Andenken Jahrzehnte lang lebendig erhalten hat. D er Einfluß auf die systematische Lite­ ratu r knüpft sich hauptsächlich an d r e i P u n k t e . Die „ K r i t i k a l l e r O f f e n b a r u n g " ging noch ganz nach Ka nt i s c he n Maximen zu Werke, so daß der Zweck aller göttlichen Belehrung in der B e­ förderung reiner M oral gefunden wird. I n abstrakter Weise wer­ den nach der Kategorieentafel die inneren und äußeren Bedingungen einer Offenbarung entwickelt, und das vornehmste Kriterium besteht darin, daß sie durch keine M ittel gewirkt sein dürfe, die dem G e­ danken der göttlichen Causalität zuwiderlaufen. Auch kann nur eine solche Offenbarung göttlichen Ursprungs sein, die einen anthropomorphisirten G ott und eine versinnlichte Unsterblichkeit nicht als ‘)

Vgl. die kritische« Bemerkungen von Chalybiius #. a. S. 177ff.

Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

22

Achtes Buch.

338

Erster Mschuitt.

objectiv, sondern als subjektiv nothwendig und gültig hinstellt. D er Begriff der Offenbarung selbst sammt seinen Merkmalen ist voll­ kommen denkbar, aber es lassen sich keine theoretischen Beweisgründe auffinden, welche nöthigen, ihn innerhalb der Erscheinung als ver­ wirklicht anzusehen, und dieser Annahme liegt unsererseits nur ein Wunsch, ein formaler empirisch bedingter Glaube zum Grunde, der fich nicht von Jedermann fordern läßt. D er Schluß läuft darauf hinaus, daß Anerkennung einer Offenbarung aus theoretischen G rün­ den unmöglich sei, möglich aber durch eine Bestimmung unseres Begehrungsvermögens, und daß aller S treit darüber auf ewige Zei­ ten beigelegt sein werde, sobald die Offenbarung nur vor dem Richter­ stuhl ihrer eigenen durchaus moralischen Kritik bewährt gefunden sei'). W ir kommen also hier wenig weiter als bei K a n t , in ähnlicher Weife werden theoretische und praktische Motive unterschieden, und der fragliche Begriff wird so aufgefaßt, als ob er sich gleichsam selbst erzeugt habe und nicht auf dem Wege einer historischen Ver­ mittlung in die religiöse Gedankenwelt eingeführt worden sei. Ein zwei tes theologisch wichtiges Moment finden wir in dem Princip der Fichte'schen Sittenlehre oder dem Grundsatz absoluter Selbständigkeit des reinen Ich. D er vernünftige Geist wird frei, indem er seine eigene wesentliche Selbständigkeit zur Norm seines Handelns macht; aus dieser anfänglich nur formalen Freiheit soll eine wirkliche werden, und dies geschieht, wenn der Wille jede Ab­ hängigkeit von den Naturtrieben überwindet und wenn er als Sieger über allen blinden Hang, — denn in der Trägheit besteht das Erb­ liche der Sünde, — das Pflichtgebot allein in sich zur Herrschaft bringt. Von einem äußerlich dargebotenen Gesetz wird dabei gänz­ lich abgesehen, das Ich ist sich selber Gesetz und trägt den kategori­ schen Im perativ in sich. Besitzt nun das Ich diese absolute und autonome Freiheit und kann es sie rein aus sich erzeugen und fest­ halten, ohne in das Bewußtsein einer religiösen Einwirkung einzu­ treten? I s t es nur das sich selbst überlassene Ich, welches von der Form zum wahren In h a lt der Freiheit selbstthätig überzugehen ver‘)

Kritik aller Offenbarung, 2. Aust. S . 233. 34.

339

Fichte's späterer S tandpunkt.

mag?

Diese Frage bleibt unbeantwortet.

Schärfe und T ie fe ,

m it welcher die F o rm

Aber abgesehen von der der freien Handlungen

von F ic h te entwickelt w i r d ') , fü h rt die Fichte'sche Lehre auch über die gesetzliche S t a r r h e i t des K antianism uS h ina us,

sie förde rt

die Liebe und Lust an der F re ih e it und tre ib t zum sittlichen A u f­ schwung und zur LoSreißung von allen ärgerlichen Banden des F le i­ sches a n ; dadurch berührt sie sich m it der evangelischen Ansicht. Zuletzt betrat F ic h te selber in seiner „A n w e isu n g zum seligen Leben" daS religiöse Gebiet und e rg riff die christliche Id e e , wie sie sich ih m in der Johanneischen D arste llu ng des Evangelium s darbot. D ie

mancherlei biblischen

Mißverständnisse

und

F ehlgriffe

Buchs zu untersuchen, liegt außerhalb unseres Zwecks; bemerkenswerth,

wie geringschätzig sich der S chriftsteller über den

hermeneutischen Grundsatz einer bestimmten „P a r te i" zufolge

sie die

ernstesten und

biblischen A utoren

unumwundensten

können').

Aeußerungen

dem der

bis eine P la tth e it her­

wie sie diese E rklä re r w o hl auch selbst hätten erfinden F ic h te

wiedergeben, In

äußert,

fü r bloße B ild e r und M etap he rn halten und so

lange an und von ihnen herunter erklären, auskom m t,

dieses

aber es ist

w ill also die biblischen Id e e n

obgleich

keineswegs

alle

positiven

viel eigentlicher

Lehren adoptiren.

jeder R eligionslehre soll das Setzen einer S c h ö p f u n g das erste

K rite riu m der Falschheit sein, die V e rw erfun g eines solchen A cts der W illk ü r ,

im

tiefsten

G runde v e rd irb t, das vornehmste Merkzeichen der W ahrh eit.

dessen Vorstellung den B e g riff der G o tth e it

W o llte

man diesen Satz auf die bekannten D a ta der D ogm en- und R e lig io n s­ geschichte anwenden: geben,

so würden sich die auffallendsten Resultate er­

und man müßte zugleich folg ern ,

daß m it der Schöpfung

nichts w eiter als bloße W illk ü r ausgesagt werden soll.

D a n n wären

die Gnostiker die B ew ahrer eines reineren G otteSbegriffS, dann bliebe unbegreiflich,

daß m it der Schöpfungslehre die ganze antike W e lt­

anschauung abschließt und eine neue und einheitliche eröffnet w ird . Doch hängt dieser Satz bei F ic h t e dam it zusammen,

daß es nach

seinem System um die R e a litä t der W e lt und N a tu r selber so m iß*) Fichte'- System der S ittenlehre, S . 163 ff. J) Fichte's Anweisung zum selige» Leben, S . 157.

Achtes Buch.

340 lich steht.

Erster Abschnitt.

Demgemäß w ird nun der Iohanneische P ro lo g so ange­

sehen, daß e r, was jedoch nicht der F a ll ist, ganz eigentlich an die S te lle einer Schöpfungslehre treten wolle. reicht es daher zur größten E h re ,

D e m Evangelisten ge­

daß er den Logos,

das W o r t

oder die V e rn u n ft, an die Spitze der D in g e stellt; denn d a m it ist G otte s Dasein unlöslich

ausgedrückt,

verbunden ist.

welches m it seinem verborgenen S e in

Und in demselben Dasein

w a r auch das

wahre Leben enthalten, welches sich im Menschen auf dem Wege der Reflexion zum Bewußtsein des eigenen Wesens und zum Lichte der Selbsterkenntniß gesteigert hat.

M i t dieser absoluten und ewig g ü l­

tigen W a h rh e it verbindet aber das E vangelium den weiteren histo­ rischen S a tz , nach welchem das wahre Licht und Leben der Menschen in C hristus menschlich erschienen sei, —

das charakteristische D o gm a

des Christenthum s als einer Zeiterscheinung und A nstalt zur re lig iö ­ sen B ild u n g der Menschheit.

D urch Christus also soll die absolute

E in h e it des menschlichen Daseins m it dem göttlichen und die tiefste Erkenntniß derselben offenbart sein, und da es einem ungeheuern W u n d e r gleicht, wie Christus zu dieser Einsicht gelangt ist:

so be­

hauptet daS D ogm a m it Recht, daß Christus wie kein zweites I n ­ dividu um der erstgeborene und eingeborene S o h n G ottes sei. S o g a r die Wissenschaft, mag sie auch den Gedanken dereinst in allgemeinerer Weise deuten, ist doch erst durch Christus zu der Höhe ih re r A n ­ schauung emporgedrungen.

In

sich selber ist das göttliche Wesen

verborgen, im Bewußtsein t r i t t es heraus,

der S o h n weiß sich in

der E in h e it m it dem V a te r, er kann nichts von sich selber thun, seine Selbständigkeit ist ganz in der des V a te rs aufgegangen.

Ebenso

haben die Gläubigen das wahre und unvergängliche Leben, wenn sie C h ris ti Fleisch und B lu t genossen und sein Lebensprincip in sich zur G e ltu n g gebracht haben;

wer also an ih n glaubt und sich dadurch

von ih m durchdringen und bestimmen läßt, der wandelt in G o tt und ist über T o d und Sünde hinweggehoben. zeugt

sich leicht,

daß der von

D e r Unbefangene über­

dem Philosophen

aufgestellte B e ­

g r iff der göttlichen Lebenseinheit ein anderer is t, a ls welchen das Iohannesevangelium v o rträ g t; aber eine innere Verwandtschaft lä ß t sich ebenfalls nicht verkennen, und es bleibt bedeutend, daß F ic h te

341

Fichte, Jakobi und Frier.

von seiner anfänglich nur moralischen Ansicht des Christenthums zu einer religiösen übergegangen ist, welche ihn in demselben die Idee einer Gemeinschaft m it G o tt im menschlichen Bewußtsein verwirk­ licht finden läßt. sich allein,

Denn in der Sittenlehre steht das freie Ic h auf

hier aber soll es seine Selbständigkeit an ein Anderes

und Universelles hingeben.

Auch die Person Christi erscheint jetzt

in anderem und religiösem Licht, Christus ist nicht wie nach K a n t das sittliche V o rb ild ,

sondern die Offenbarung des Göttlichen im

Selbstbewußtsein'). Es muß wiederholt werden, daß von F ic h te n ur einzelne und weit auseinander liegende Anregungen und Ideen der Theologie zu Gute gekommen sind, bilden konnte.

weshalb sich eine Fichte'sche Schule nicht

Wirksamer nach dieser Seite erwies sich J a k o b i'S

Richtung, wie sie durch I . F r . F r ie s im wesentlichen Anschluß an Kant

shstematisch ausgebildet wurde.

D ie Philosophie war m it

sich uneins geworden ähnlich wie die Theologie;

K a n t hatte durch

Gewissen und praktische Vernunft, F ic h te durch speculative Wifsenschaft,

J a k o b i durch unmittelbares Wissen, Gefühl und Glauben

die übersinnliche W ahrheit erreichen wollen.

Während aber J a k o b i

sein tiefstes Gottesgefühl einfach an die S telle jeder speculativen Beweisführung setzte, gab ihm F r ie s in der Reihe der wissenschaft­ lich berechtigten Erkenntnißmittel eine organische Stelle.

D ie S ch rif­

ten dieses schon durch sein Verhältniß zur Brüdergemeinde merk­ würdigen Mannes bezeichnen, wie allgemein anerkannt, eine Seiten­ bewegung der Philosophie, welche deren Gang nicht ablenkte, deren S tudium

und Wirksamkeit aber erweiterte.

Durch ihn wurde die

K a n tis c h e Lehre psychologisch ergänzt und bereichert, aber sie verlor ihre kritische Schärfe, sie kehrte zurück zu Voraussetzungen, die K a n t *) Man vgl. die berühmte sechste Vorlesung. Welche Stimmung Fichte damals (1806) noch bei seinem Publicum v»raussetzen durfte, ergiebt sich aus den Worten S . 187: „Es ist mir nicht unbekannt, daß man in unserem Zeit­ alter in keinen nur ein wenig zahlreichen Zirkel aus den gebildeten Klaffen treten kann, worin sich nicht Einzelne befinden sollten, bei denen die Erwähnung Jesu und der Gebrauch biblischer Ausdrücke unangenehme Empfindungen anregt und den Verdacht, daß der Redende Eins von Beiden, entweder ein Heuchler oder ein beschränkter Kopf sein müsse."

342

Achte« Buch. Erster Abschnitt.

aufgegeben ha tte , und selbst L e ib nitzische Id e e n wie besten W e lt wurden von F r i e s

wieder aufgenommen.

die von der D a s allge­

meine P ro b le m des ErkennenS oder die Frage, ob unserm subjektiven Denken und Wissen ein Gegenständliches entspreche, bleibt auf sich beruhen; der Z w eife l hat sie aufgeworfen, aber die V e rn u n ft braucht n u r sich selber zu vertrauen, S te lle

jeden Beweises

um ihre eigene Ueberzeugung an die

zu setzen.

V e rn u n ft- und Verstandesrechte

treten auseinander, haben sich aber gegenseitig anzuerkennen; eS giebt eine u n m it t e lb a r e V e r n u n f t e r k e n n t n iß , wenn nicht a ls ange­ borene Id e e ,

doch a ls immanente,

durch D eduction und Reflexion

zum Bewußtsein zu bringende W a h rh e it der V e rn u n ft.

M i t dieser

W a h rh e it steht und fä llt auch das Wesen der V e rn u n ft; der idealen Vernunftansicht ist eigenthümlich, daß sie sich zu der Annahme eines Einheitlichen und Ganzen erhebt, während der Verstand stets in ne r­ halb des Beschränkten, G etheilten und Unvollendeten stehen bleibt. A u s jener stammt auch der Glaube an das aller Erscheinung un ter­ liegende Wesen und an die übersinnliche W e lt, F re ih e it und G o tt

dem

und die ideale S phäre

D ie

endliche

scheinen sich gänzlich zu trennen, allein sie

dürfen und können einander nicht fremd werden. lichen, —

wo Unsterblichkeit,

denkenden Geiste aufgehen.

D e n n allem E n d ­

und dies ist der ästhetische Reiz der F r ie s is c h e n P h ilo ­

sophie, — sind Züge des Schönen und Erhabenen eingewebt, deut­ lich genug, um auf eine übersinnliche H eim ath aller Vollkommenheit hinzuweisen. religiösen

Diesem Triebe ahnungsvoll zu folgen,

W eltbetrachtung,

und

wenn

dieselbe a ls

ist Sache der Andacht

und

G laube an das Ewige zunächst einem ruhenden Vermögen gleicht: so muß sie sich doch sofort m it einer thätigen K ra ft verbinden;

in

diesem Uebergang verräth sich abermals die Verwandtschaft m it den K a n tis c h e n Lehren. der W ahrnehm ung

Nicht müßig kann die gläubige Ahnung bei

des Ewigen

verw eilen,

sie muß demselben den

höchsten W e rth und den Selbstzweck alles Lebens zuerkennen, dann findet sie in der idealen oder

„besten W e lt"

zugleich Grundsätze,

welche zur Regel fü r das sittliche H andeln werden müssen, und aus der spekulativen GotteSidee entwickelt sich die praktische.

N u n ist

leicht einzusehen, daß der religiöse Mensch, um dem höchsten Geister-

Eklektische Dogm atiker.

S tä u d lin .

343

reiche anzugehören und die Stufe seiner wahren Würde zu ersteigen, auch der sittliche werden und das Gesetz des heiligen Schöpfers und Lenkers der Dinge in seinen Willen aufnehmen muß. UebrigenS bewegt sich die F riesische Religionsphilosophie nur in den allge­ meinen Aeußerungen des religiös-vernünftigen Geistes, in die dogma­ tischen Grenzen tritt sie nirgends ein. VH. Eklektische D o g m atik er. S tä u d lin und I . E. C hr. Schm idt. D as Vorstehende bezeichnet kurz die Fortbildung und Be­ kämpfung der K a » tis c h e n Philosophie durch ihre nächsten Nach­ folger, soweit sie in unsern Gesichtskreis fallen; es deutet auf den Uebergang von der Kritik und dem Zweifel zu einer Gewißheit, welche der subjective Geist im eigenen Innern sei es durch Speculation oder durch Gefühl und Ahnung zu suchen hat. Die Theo­ logie trat gleichzeitig aus dem Schulverbande heraus, der philoso­ phische Einfluß wurde freier und eklektischer, wie sich schon bei A m m on ergab und jetzt noch bei zwei andern Dogmatikern nach­ gewiesen werden soll. I n Göttingen waren nach I . D . M ic h a e lis Tode die neuen Ansichten nicht vollständig eingedrungen, dagegen die von M o sh e im ererbte wissenschaftliche und gelehrte Tüchtigkeit dieselbe geblieben. S p i t t l e r und Planck, K oppe, A m m on, P o t t , M ille r und der Apologet Leß bearbeiteten das kirchenhistorische und exegetische Feld mit glücklichem, zum Theil ausgezeichnetem Erfolge; sie waren vom Rationalismus ungleich afficirt, nicht gänzlich eingenommen, mag auch das Koppe'sche Neue Testament heut zu Tage nur als Denkmal verstäubter Gelehrsamkeit und oberflächlicher Hermeneutik gelten. I n diese Facultät trat 1790 von Tübingen aus K a r l F rie d ric h S t ä u d l i n ') ein und brachte als Gelehrter Eigenschaf­ ten mit, welche gerade an dieser Universität in vorzüglichem Grade ') Geb. 1764 zu S tu t t g a r t , von 1786 —90 auf Reisen» in diesem J a h r e nach Göttingen berufen, wo er bi» an seinen Tod 1826 blieb. — Selbstbiographie herauSg. von I . T . Hemsen, G ött 1826.

344

Achter Buch.

gedeihen sollten.

Erster Abschnitt.

Dieser M a n n hat andern D isciplinen wie der

Kirchen- und Dogmengeschichte, der M o ra l, kirchlichen Statistik und Encyklopädie seinen Namen dauernder als der Dogmatik eingeprägt, und überall ist ihm die Behandlung des Literaturstoffs am Besten gelungen.

Aber gerade seine umfassende Receptivität macht ihn be-

achtenswerth, weil er ohne im höheren S inne productiv zu sein, doch Vieles auf sich wirken ließ und mancherlei theologische I n t e r ­ essen geschickt zu verknüpfen wußte.

Auch w ar er nicht ohne philo­

sophisches Talent, man hat ihn als den historisch gelehrten Kantia­ ner zu bezeichnen, daher seine Vorliebe fü r die Geschichte der S itte n ­ lehre, deren einzelne Kapitel er in großer Anzahl bis zur neueren Z e it verfolgte.

Fehlte es ihm an Selbständigkeit des Geistes, so

doch nicht an Weite des Gesichtskreises, denn er überschaute die großen, seine Z eit berührenden Bewegungen des Skepticism usl 2 ) und R ationalism us bis zu ihren fernliegenden Anfängen. sind seine Verdienste

Unbestritten

um kirchliche Geographie und S tatistik und

sehr brauchbar die Beiträge zu der gleichzeitig auch von F lü g g e bearbeiteten Geschichte der Wissenschaften,

wenn auch seine zer­

streuende literarische Methode überall auf die sachliche Entwicklung lähmend einwirkt. A ls Encyklopädiker und Dogmatiker befand er sich in einer schwierigen Lage; von S t o r r und S c h n u r r e r unterrichtet, brachte er aus Tübingen eine starke biblisch-positive

Anhänglichkeit m it,

welche sich nun mit den Grundsätzen eines kritischen M o ra lism u s in ihm vertragen sollte.

Ueberall zeigt sich in seinen Urtheilen der

engste Zusammenhang m it den herrschenden philosophischen Principien, aber auch das Bemühen, das Christliche aus der Gefahr des Bruchs und der Verflüchtigung zu retten. Accommodation, historische In t e r ­ p re ta tio n '), Vernunftrecht und K ritik werden anerkannt, sollen aber

1) Geschichte und Geist des S kepticism us vorzüglich in Rücksicht auf M o ra l und R e lig io n , 1794. 2 Bde.

D ie übrigen Schriften finden sich kurz aufgezählt in

Henke's A rtikel bei Herzog.

2) Stäudlin, De Interpretatione N. T. historica non unice vera, Gott. 1807. Encyklopädie und Methodologie, Hann. 18 21,

S . 113:

„D urch manche dieser

exegetischen Bemühungen wurde das religiöse und sittliche Znterefse dieser Bücher

S tä u d lin 's theol. Bestrebungen.

345

nicht in der bisherigen Maaßlosigkeit m it dem Christenthum schalten. M a n verzichte auf eine wissenschaftliche Vollendung, welche der Gegen­ stand nicht verträgt, man wolle das Positive nicht verdrängen durch ein Natürliches, welches ohne die Form der Unmittelbarkeit nicht als von G ott kommend angenommen w ird ;

man entschlage sich jenes

unhaltbaren Absolutismus der Vernunft, der die göttliche Auctorität gänzlich aufhebt.

„D ie formalen Principien der theoretischen und

praktischen Christuslehre sind rationalistisch und supranaturalistisch zugleich, so sind sie in den Urkunden selbst gegeben und durchdringen das Ganze. N u r so gewinnen die christlichen Lehren und ihre ersten h. Urkunden Wahrheit, Zusammenhang, Haltung, Würde, K ra ft und erwünschten E influß."

„D a s Christenthum ist ein vereinigter R a­

tionalism us und Supranaturalism us und kann nur als solcher kon­ sequent dargestellt w erden"'). Z u demselben Ziele fü h rt S t ä u d l in seine Geschichte des R ationalism us, indem er es unbegreiflich findet, wie sonst das Christenthum neben der positiven Religion auch die der V ernunft und N a tu r und weit mehr als die Borträge, S ch rif­ ten und Schulen der Philosophen unter Menschen von allen G a t­ tungen verbreitet und erhalten h a t'). M i t Recht beruft sich S t ä n d l in

auf das universelle Wesen

des Christenthums, welches ohne seinen eigenthümlichen M ittelpunkt zu verlieren, doch V ernunft und N a tu r im weitesten Umfange ge­ pflegt und in Thätigkeit gesetzt habe; damit habe es also eine V e r­ bindung jener beiden Geistesmächte, der positiven und rationalen, schon zu Stande gebracht, welche daher auch in der Theologie alö vereinbar angesehen werden müssen.

S ein Streben war lobens-

werth und gegenüber der Entfremdung von allem Positiven, die eben noch geherrscht hatte, vollkommen berechtigt; er wollte eine Versöhso tief heruntergesetzt, daß kaum noch begreiflich w ar, w aru m so vie l Geist, Nach­ denken und Gelehrsamkeit an sie gewandt worden und w arum sie eine so bewundernswerthe universalhistorische und dauerhafte W irkung hervorbringen tonnten " *) Encyklopädie, S . 160. a) Geschichte de« R ationalism us, S . 4 6 8 : „Ic h bekenne offen und freim üthig, daß m ir das Christenthum n u r als ein vereinigter R ation alism us und S u p ra N aturalism us in dem S in n e , der sich aus dem Vorhergehenden von selbst ergiebt, begründet und haltbar zu sein scheint."

346

Achtes Buch.

Erster Abschnitt.

ttuttg des religiösen S in n e s m it dem wissenschaftlichen P rin c ip , ähn­ lich wie sie von Späteren beabsichtigt, aber tiefer begründet worden ist. R a tio n a lis m u s und S u p ra n a tu ra lis m u s lassen sich a ls M ethoden nicht vereinigen, noch in demselben System gleichmäßig befriedigen, w o h l aber ist es möglich, w o rau f auch w ir hinaus wollen, die Id e e des R a tio n a lism u s m it dem Interesse am Positiven und religiös U nm ittelbaren zu verbinden. A u f dieselbe breite B asis stellt uns S t ä u d l i n ' s G la u b e n s ­ le h r e , die sich aus biblischen und philosophischen Elementen zusam­ mensetzt; sie ist, wenn auch nicht befriedigend, doch m it T a le n t und Geschick gearbeitet.

D ie D ogm atik kann ohne Philosophie so wenig

wie ohne exegetische und historische Gelehrsamkeit bestehen, sie ist eine th e ils philosophische theils gelehrte Wissenschaft, an dem einen F actor hängt die M öglichkeit deS S ystem s, an dem andern der S t o ff und die T ra d itio n .

R eligion und M o r a l lassen sich nicht in Kantischer

Weise einfach aus einander ableiten, sondern jede derselben, indem sie zugleich ihre Gründe in der andern h a t,

ist doch eigener A b­

stammung, und die R eligion ru h t nicht allein au f der V e rn u n ft und moralischen Anlage, sondern auch auf der Anschauung eines schlecht­ h in

bestimmenden

S tä u d lin

Verhältnisses

deö

Endlichen

zum

Absoluten.

bemüht sich n u n , au f subjectivem Wege das Recht des

G la u b e n s an O ffenbarung, welchem dann die h. S c h rift erst Be­ stätigung giebt, nachzuweisen *). Erkenntniß etwas Gegebenes, Wunsch,

D e r Mensch findet in seiner religiösen was nicht sein W erk ist,

er hat den

seinen Ueberzeugungen eine objective W a hrh eit zu sichern,

das macht ihn zum G lauben an das O ffenbarte geneigt. hat K a n t behauptet,

M i t Recht

daß das Uebernatürliche kein Gegenstand der

E rfa h ru n g sein und das Absolute sich nicht in eine physische Ursache verwandeln könne; wohl aber können Ereignisse von uns wahrgenom­ men werden,

die w ir aus natürlicher C ausalität nicht zu erklären

wissen, und es ist möglich, daß demjenigen, was w ir n u r aus der Reflexion über gewisse Begebenheiten schließen, spricht.

etwas Reelles ent­

Uebernatürlich ist daher der Name fü r das Unerklärliche,

*) Stäudlin's Lehrbuch des christl. Glaubens, . 413 ff. D e r absolute Zweifel als Mittel der Entwicklung de» dogmatische» Lehrbegriffs. Au diesen Punkt knüpft S tra u ß seine Kritik des Buchs a. «. O. S . 144. T) Hierher gehören die Schlußabschnitte, das eine und andere Extrem, S . 487ff. *) Vgl. z. B . die Kritik des Supranatnralism us S . 3 6 9 , bei S tra u ß S . 141.

Schwarz in Heidelberg und seine College».

416

Heilkräfte konnten von einer solchen Kritik nicht ausgehen, eher noch Reizungen zum Gegentheil dessen, was der Kritiker bezweckte. D er Ton des Ganzen ist frostig und zeugt von einer Stimmung der Verdrießlichkeit, die Zusammenstellung von kritisch, hyperkritisch und hypokritisch ist nur eine von den zahlreichen dieser starr begrifflichen Deduktion eingestreuten Bitterkeiten. D arau s und nicht allein aus der Dunkelheit der Sprache erklärt sich, daß dieses richterliche Wort, dem die Liebe fehlt, keine gute S ta tt gefunden hat. Eine ebenso achtbare, aber minder einseitig organisirte Persön­ lichkeit war der College des Vorigen, F rie d ric h H einrich C h r i­ stian S c h w a r z ') , der uns schon durch seine Verbindung mit I u n g - S t i l l i n g , C re u z e r und D a u b sowie durch sein Z u­ sammenwirken mit M a rh e in e k e , de W e tte , P a u l u s , R e a n d e r einen bedeutenden Kreis und eine reichhaltige Lehrwirksamkeit ver­ gegenwärtigt. S c h w a rz bezog 1804, ungefähr zehn Ja h re später wie D a u b , die Universität Heidelberg und brachte das Lutherische Bekenntniß m it, wie jener das rrformirte vertrat. Aber beide Männer befreundeten sich und halfen daher auch zur Einigung der Confessionen in ihrem Kreise; die Union der badischen Landeskirche kam 1821 unter ihrer beiderseitigen kräftigen Mitwirkung zum Ab­ schluß. Auch war S c h w a rz der Erste, der sein dogmatisches Lehr­ buch mit dem Stempel der kirchlichen Union versah, also das kirch­ liche Interesse, welches der Rationalismus fallen gelassen, in erwei­ tertem und veredelten S in n wieder aufnahm. Dieser Umstand ehrt sein literarisches Andenken, die P riorität in der Bearbeitung der Lehre für den allgemeineren kirchlichen Zweck ist ihm von S c h le ie r-

*) Geb. am 30. M ai 1766 zu Gießen und Sohn des dortigen Predigers nud Prosessors. Er empfing seine Erziehung zu AlSseld, wohin fich sein Vater in Folge seines Auftretens gegen Bahrdt zurückgezogen hatte, wurde Gehülfe seines BatekS und dann Prediger in der Nähe von Marburg. Hier schloß er Freund­ schaft mit Iung-Stilling und wurde deffen Schwiegersohn. Neue Anstellungen führ­ ten ihn nach Dexbach, Echzell und in die Näh« von Butzbach, er fing an fich durch pädagogische Schriften hervorzuthun und erhielt 1804 den Ros als Profeffor der Theologie nach Heidelberg, wo er denn auch bi« zu feinem Tode am 3. April 1837 verblieben ist. Genauere« berichtet der mit vieler Lieb« geschrieben« Artikel von HundeShagen bei Herzog.

416

Achte« Buch. Zweiter Abschnitt.

m acher ausdrücklich abgetreten worden. Die wahre Union setzt ein Interesse an der Kirche voraus, statt es zu verleugnen'). S chw arz hat mit selbständigem Talent und Glück nur die P ä d a g o g ik bearbeitet, indem er beweisen wollte, daß wahre B il­ dung nur im Christenthum gefunden werde; weniger bedeutend sind seine Beiträge zur systematischen Theologie. Die „evangelisch-christ­ liche Ethik", in ein Lehrbuch und Hausbuch eingetheilt, und der „Grundriß der kirchlich-protestantischen Dogmatik"') sind sinnvolle Gedankenentwürfe, von einer liebenswürdigen Persönlichkeit und reinen Gemüthsstimmung Zeugniß gebend, aber ohne begriffliche Schärfe und ohne Kritik. Sein Standpunkt ist ein viel umfassender, das „Zeitsystem" soll erweitert, der religiöse S inn auch für solche Betrachtungen erschlossen werden, denen der Tadelname „Mysticis­ mus" alles Zutrauen entzogen hatte. D as philosophische Jntereffe, welches S ch w arz nirgends verleugnet, soll den Theologen nicht mehr stören, denn C reu zer hatte der Alterthumsforschung eine religiöse, ja überschwengliche Richtung gegeben; daher aber auch die bekannten Angriffe von H einrich D oß gegen C re u z e r'S Symbolik. D ie Naturanschauung, durch S c h e llin g vergeistigt und vertieft, liefert ebenfalls fruchtbare Anregungen; auch diesen darf sich der Theologe überlassen, ohne darum seinem biblisch-positiven Boden entfremdet zu werden. Sucht man nach einem bestimmteren Einfluß S c h e lltn g 'S und D a u b 's auf die S chw arzische Lehrweise: so zeigt er sich in der Einführung der Religion in die Wurzel alle» Geisteslebens; doch will S c h w a r z immer nur erklären, was die Religion für den Menschen, nicht waS sie für das Absolute selber ist, er bleibt mit seinen Aussagen streng in der subjective» Sphäre. D ie Religion ist die Idee Gottes im Menschen, wohnhaft im Ge­ m üth, unbegreiflich in ihrer Entstehung, sie ist daS Bewußtsein unserer Abhängigkeit von Gott, in welchem sich der höchste Gedanke, 0 Ueber die damalige» wissenschaftlichen Verhältnisse Heidelbergs und nament, lich Creuzer'S Thätigkeit finden fich einige Bemerkungen in der kürzlich erschienenen Schrift von Beyschlag: C. Ullmann, Blätter der Erinnerung, S . 14 ff. s) D as Büchlein erschien Heidelb. 1816 als deutsche Bearbeitung der 1808 edirten Seiagraphia dogmatices christianae.

Schwarz'« sittlich, religiöse Grundgedanken.

417

der beste Wille und das seligste Gefühl vereinigen. D er Glaube an G ott ist die tiefste W ahrheit des Gemüths und erwächst auS dem Grunde der Seelen da, wo Köpf und Herz E ins find. Ohne G ottes S ein hat die Vernunft keinen G rund, die W elt keine Rea­ lität, ohne I h n giebt es keine W ahrheit und kein Gewissen'). M it höchster Zuversicht wird also die Religionswahrheit ihrem Grunde nach m it der W ahrheit überhaupt in E ins gesetzt; der Dogmatiker beginnt mit dem Glauben an die W ahrheit des Glaubens selber, entzieht sich aber der psychologischen Begründung. W ir erfahren von der Religion, daß sie den ganzen Menschen nach Verflmffk, Wille, Gefühl, Herz und Ahnung in sich trägt oder heranzieht, aber wir lernen nicht, w ie und von welcher Stelle aus diese Thätigkeiten in ihr verbunden werden. D er aufgestellte Begriff mag vollständkg sein, ist aber gestaltlos und läßt die Möglichkeit einer Erkenntniß ohne religiöses Bewußtsein unerörtert. Ebenso verhält es sich mit der Verbindung des sittlichen und religiösen M om ents. Wie S c h w a rz in der Ethik das Gewiffen kurzweg als religiöse Function b efiniit2) : so läßt er in der Dogmatik die ethischen Erwägungen sofort in die religiösen eingehen. Dem Abschnitt: G ott an sich, soll in ethischer Beziehung die Lehre vom Gewissen, dem Abschnitt: G ott in Beziehung auf die W elt ethisch angesehen die Achtung vor dem Gesetz, dem Geheimnißvollen in G ott von moralischer Seite die An­ betung Gottes als des höchsten Gutes entsprechen und zugehören; bei der Erlösung des Menschen soll zugleich die Nächstenliebe, bei der Lehre vom Heil die sittliche Gottesliebe mitgedacht werden. An sich sind diese Wechselbeziehungen lehrreich, allein sie fordern eine schär­ fere Gebietstheilung als sie hier vorgenommen w ird; der Verfasser will eben beweisen, daß der Mensch in und mit der Religion, zumal der christlichen, Alles besitze und empfange, was den Dollgehalt des Lebens ausmacht, er will jeder Entblößung der Religion von Seiten ') Vgl. der Grundriß, S . 20.

z) ® . Schwarz, S v . chrl. Ethik, § 43. 44. Heiligen« hat diese« Handbuch ffr der zweiten Auflage, Heidelb. 1830, sehr gewonnen und zeichnet sich durch schiidenswerthe Mittheilungen au« der Geschichte bet Philosophie aus. Der zweite Theil ist wehr erbaulich. Gesch. d.

Protest. Dogmatik IV.

Achter Buch. Zweiter Abschnitt.

418

der M o r a l und V e rn u n ft, aber auch jeder bloß begrifflichen und gemüthlosen Behandlung entgegentreten. DaS

P rin c ip

der

D ogm atik

ist nach S c h w a r z

der durch

C hristus offenbarte göttliche Rathschluß der E rlö sun g, in der S c h rift gelehrt und m it unserer V e rn u n ft angeeignet. den R ubriken S atz,

D e r S t o f f w ird nach

Gegensatz und Berbindungssatz,

oder O bject,

S u b je ct und Beziehung beider behandelt, daraus ergiebt sich G otte s­ und Menschenlehre und V e rh ä ltn iß des Menschen zu G o tt a ls christ­ liche R e lig io n .

W ie sich S c h w a r z zu den einzelnen Lehren verhalte,

lä ß t sich bei der Kürze des Buchs, das w o hl auf mündliche E r ­ läuterungen berechnet w a r, D ogm a

n u r in

n u r ungefähr erm itteln.

Umrissen vo r

und

E r trä g t das

begleitet es nicht

selten

m it

Warnungszeichen oder Erm ahnungen zu biblischer V e re in fa ch u n g '); aber der allgemeine R a th , das Geheimnißvolle anzuerkennen, bleibt stehen.

D e r T r in itä t

w ill er z. B .

au f

rationalem

Wege einen

S c h ritt näher kommen durch die Bemerkung, daß in der V e rn u n ftfo rm

sich ein Dreifaches unterscheiden und dieses

V e rn u n ft

unter

Persönlichkeit

der

s y m b o lis c h e n

anwenden

lasse.

A lle in

Vorstellung

auf die höchste einer dreifachen

diese Analogie

w ird

nicht

w eiter benutzt, sondern zuletzt der S in n der Lehre dahin angegeben, daß G o tt vermöge seines unbegreiflichen Wesens au f dreifache A r t in der S chöpfung, weshalb

ih m

nach

E rlösung allen

und H e ilig u n g

Richtungen

sich offenbart

Anbetung

habe,

gebühre*).

So

dogmatisiren heißt aber zwischen zwei Vorstellungen ab- und zugehen, denn bekanntlich kann nach diesem letzteren Gesichtspunkt die kirch­ liche T r in itä t ebenso w o hl bestritten wie vertheidigt werden.

Aehn-

lich w ird das Geheimnißvolle in der Person C h risti behandelt m it dem Zusatz,

daß die Ausdrücke Erhöhung und E rnied rigu ng

symbolische Bedeutung haben. merkung,

nur

Daneben sinket sich wieder die B e­

daß aus der religiösen Betrachtung der Menschheit und

4) Grundriß der kirchl. Protest. Dogm. S . X X I: „Jedes Dogma ist ein menschlicher Begriff einer göttlichen Lshre, mithin veränderlich und nur kreativ wahr, inwiefern dasselbe zur Einsicht in die Idee, die über alle Begriffe liegt, zrr Gottes W ort hinführt." 2) Grundriß, S 57. 64.

Schwarz. Berührungen mit Schilling.

419

aus der frommen Liebe zu ihr sich auch die würdigste Anficht von dem Welterlöser ergeben müsse *). Nirgends findet sich der Versuch, die historische mit der dogmatischen, die symbolische mit der eigent­ lichen Ausfassung zu vermitteln oder auseinander zu setzen; es bleibt bei einzelnen Winken, in denen die Einwirkung S c h e llin g 'S nicht verkannt werden kann. Der Abschnitt über die Erbsünde endigt mit der paränetischen Aeußerung: „Jeder prüfe sich selbst mit Gewissenhaftigkeit und er wird im tiefen Grunde etwas Böses finden, wo­ gegen er immer zu wachen und zu kämpfen hat. S o gelangt er durch demüthige Selbsterkenntniß zur Besserung. Nichts werde aber hierbei übertrieben; denn auch darin ist der Dünkel verhüllt, wenn man sich mehr anklagt, als es die gründliche Erkenntniß der be­ stimmten Fehler, die man hat, erfordert"'). Sehr richtig, und an dieser Stelle hören wir den guten Pädagogen sprechen, welcher wohl weiß, daß nur solche Erklärungen der allgemeinen Sündhaftigkeit Bestand haben, welche in dem Zeugniß des persönlichen Gewissens Bestätigung finden. S ch w a r z bezeichnet also bei überwiegend positiverund zugleich praktischer und pädagogischer Tendenz nur eine leise Berührung mit der Schelling'schen Speculation. Seinem Grundriß fehlt der ein­ heitliche Charakter, da er Urtheile, die auf ganz verschiedenem Wege entstanden sind, unvermittelt neben einander stellt. Ein bestimmteres wissenschaftliches Verdienst ist diesem Büchlein nicht beizulegen, nur insoweit konnte es förderlich wirken, als es von dem Vertrauen ein­ gegeben war, daß in der Dogmatik noch etwas Höheres als eine „Sammlung von gezählten und ungezählten Meinungen" enthalten sei. Solche Anregungen flössen später mit der durch S c h le ie r ­ macher hervorgebrachten Erneuerung des dogmatischen Studiums zusammen. D a s sind die Dogmatiker der K antischen und S c h e llin g schen Epoche, die Einen zahlreich, weitverbreitet und populär, die Andern in geringer Anzahl, isolirt, aber in vornehmer Haltung dem Zeitbewußtsein entgegentretend; Beide bezeichnen in ihrer Aufeinander*) Grundriß, S . 104. 109. a) Ebendas. S . 89ff.

420

Achte» Buch. Zweiter Abschnitt.

folge ein sehr wichtiges Stück der historischen Entwicklung. F ü r den Betrieb der theologischen Studien hat die erstere Schule deshalb mehr greiftet, weil sie das allgemeine Werkzeug der Kritik niemals aus der Hand legte. D er M e th o d e nach gehören beide dem R ationaNsmuS an , denn sie entwickeln ihren Religionsinhalt, auch wo et überkiatürliche Momente darbietet, dennoch als einen vernünf­ tige» »nd nach wissenschaftlichen Grundsätzen. S c h e llin g 's Oppo­ sition gegen den Rationalism us hatte dem Vernunftprincip nicht gegolten, sondern dem kleinlichen Em pirism us und dem M angel an Verständniß für die dem Dogm a einwohnenden Id e en ; D a u b aber bekämpfte das kritische V erfahren, als welches die Vernunft gar nicht zur rechten Anwendung auf das Absolute gelangen lasse. E s w ar eine Scheidung der Geister innerhalb desselben Erkenntnißprincips. D er theologische Rationalism us konnte es als den Fluch aller Schul­ weisheit betrachten, daß sie niemals Ruhe finde, sondern ihre eigenen stolzen Gebäude selbst wieder cinreißen und zerstören müsse; aber auch er selber durste sich nicht rühmen, die christliche Religionserkenntniß von dem menschlichen Schicksal der Veränderlichkeit erlöst zu haben. Ein unbedingtes Verhältniß des Princips zu systematisch abschließenden Resultaten war nicht nachzuweisen, folglich gab es keinen theologischen Bernunftkatechismus, von welchem zu behaupten gewesen w äre, daß die V ernunft, sei es die geschulte oder unge­ schulte, in ihm ihren allein gültigen Ausdruck finde, •— freilich eine alte Erfahrung, die sich aber hier auf dem Gebiete der wissenschaft­ lichen Freiheit wiederholte. Höchst bedeutend ist das innere Verhältniß der beiden Richtun­ gen dieser philosophisch gebildeten Dogmatik. D er theologische Kantianism us m o r a l i s i r t mit Vernachlässigung des historischen Be­ standes der christlichen Religion, in welchem er sich erst allmählich wieder zurechtzufinden sucht, der speculative Standpunkt d o g m a tis i r t , aber mit Verkürzung der sittlich.praktischen Interessen. D ie Lehrer der ersten A rt laufen G efahr, Alles in moralische Gemein­ plätze aufzulösen und gelangen so zu einer geschichtslosen Allgemein­ heit, umgekehrt wird von den Vertretern der zweiten gerade das Besondere und Specifische aufgegriffen, das Factum der Offenbarung,

Resultat dieser Epoche. Anhang.

421

wie es im Dogm a als ein absolutes vorgetragen wird. Auf der einen Seite lautet das T hem a: G ott und Unsterblichkeit, auf der andern gelten nur die Sätze: Menschwerdung G ottes, Versöhnung, T rinität. D ie speculative D octrin will die kritische berichtigen, allein sie scheidet von ihr, indem sie nur einen weiten Abstand und eine unausgefüllte Lücke zurückläßt. Wenn irgendwo, so ist an dieser Stelle die Frage berechtigt: liegt denn tllchts Wirkliches zwischen und über diesen Einseitigkeiten des Zuwenig und Zuviel? Giebt es keine wahre Mittelstellung zwischen der geschichtslosen Abslraction der ersteren und dem historisch-dogmatischen Absolutismus der zweiten Richtung? Bleibt keine Möglichkeit, im engere« Anschluß an die e rste re kritische Schule die allgemeineren ReligionSwahrheiten also zu gestalten, daß auch dem eigenthümlich Christlichen Rech­ nung getragen w ird? Ich meine, daß die folgende Geschichte darayf geantwortet hat. D ie Theologie, indem sie sich weder der einen, noch der andern Schule vollständig ergab, setzte sich selbst in den S tan d , den angedeuteten Weg einzuschlagen und weiter zu verfolgen. HL Anhang. D ie r e s o r m ir te n D o g m a tik e r. E s ist eine bekannte Thatsache, daß die reformirt« Dogmatik, nachdem sie sich bisher mit ausgezeichneter Continuität fortgebildet, nach der M itte deö vorigen Jahrhunderts in einen Stillstand ge­ rathen ist und an den Streitigkeiten des Rationalism us geringe« Antheil genommen hat. D ie Theologie selber gestaltete sich in den verschiedenen Ländern ungleich. I n England hatte sie den D eism us hinter sich und kehrte zu ihrer alten und steifen apologetischen H al­ tung zurück, bis sie nach und nach wenigstens den überlegenen W erth der deutschen S tud ien, die früher von ihr abhängig gewesen waren, schätzen lernte. D ie Niederländer setzten ihre exegetischen Arbeiten mit Glück und gründlicher Gelehrsamkeit fort, A. S c h u l t e n S , H . B e n e m a , H . M u n t i n g h e wurden berühmte Namen. Einzelne Schriftsteller wie J o d o c u s H e r i n g a in Utrecht geriethen in den

422

Achtes Buch. Zweiter Abschnitt.

Verdacht der Neologie, auch wurde» E rn esti'K und S e m le r 'S Schriften verbreitet und wirkten befreiend auf die Schrifterklärung, ohne daß es deshalb zu einer entschiedenen Durchführung des R a­ tionalismus gekomcken wäre. E s ist ein großer Unterschied, kritische Ansichten im Einzelnen zu verfolgen, oder sie einer systematischen Gestaltung einzuverleiben, wozu mehr M uth und philosophischer Geist erforderlich ist. Dogmatiker waren in Holland J o h a n n W ilh e lm B e rn sa u zu Franecker und H e rrm a n n M u n tin g h e in Hardenvyk; der Erstere reiht sich der conservativen Wölfischen Schule an, der Andere erlaubte sich stärkere Abweichungen, indem er das reformirte Lehrshstem nach allen Seiten verfeinerte'). I n Deutschland und der Schweiz trat in diesen Decennien eine Pause ein. Bon den deutschen Reformirten mögen einige wie W ilh e lm M ü n sch er den kritischen Rationalismus ganz in sich aufgenommen haben, allein sie hielten sich mehr innerhalb der historischen For­ schung. Auch ist D au b bereits als Systematiker beurtheilt worden, doch führt dieser Mann nur den Namen eines Reformirten, denn bestimmte Merkmale eines confessionellen Standpunkts fehlen ihm fast ganz. Ziemlich vereinzelt stehen die dogmatischen Werke des Wolsianers D . W httenvach in Bern, ferner von I . Chr. Beck in Basel, J o h a n n B e rn e t in G enf'), S a m u e l M u r s in n a in Halle, S a m u e l E n d em an n in Hanau, H ein rich D a n ie l S to sch in Frankfurt a. d. O .; sie begleiten uns, wenn wir M u n ­ tin g h e hinzunehmen, bis zum Schluß des Jahrhunderts. S ie lassen ihr Zeitalter deutlich genug merken, Toleranz und milde Be­ urtheilung aller Streitfragen lernten sie aus den Kämpfen der Wissenschaft, aber der scharfe Gegensatz des Rationalismus und Supranaturalism us ist in ihnen nicht nachweisbar, und verglichen mit den Schriften eines W e re n fe ls , der damals mitten in der *) Bernsau, Theol. dogm. methodo scientif. pertract. cum praef. Wolfii p. I, Hai. 1745. p. II, Lugd. 47. — Muntinghe, Pars theol. ehr. theor. 2 voll. Harderv. 1800. 2) D. Wyttenbach, Tentamen theol. dogm. 3 v o ll Bern. 1741, 42. Ejusdem Compendium Francs. 45. Fundamenta theol. naturalis et revelatae, Bas. 1757. Yemet, Instruction chrötienne, Genfeve 1754. 3 voll.

Allgem. Stellung der reform. Dogmatiker.

423

Bewegung stand, bezeichnen sie eine Zurückziehung in engere positive Grenzen. D er Einfluß der Wölfischen Philosophie dauerte fort, und diese hatte auch der Lehre von der Vorherbestimmung einen Anknüpfungspunkt geboten, welchen ihr K a n t und F ic h te versagten. D ie reformirte Theologie bedurfte allerdings weniger der. Befreiung, sie w ar von vornherein rationaler angelegt und hatte den Druck der Shm bolnorm in viel geringerem Grade empfunden. Auch jetzt stell­ ten die Dogmatiker nur das Schriftprincip in voller Schärfe voran, ohne symbolisch abhängig sein zu wollen, denn selbst über das apo­ stolische Bekenntniß erlaubten sie sich freie Urtheile. D ie Folge dieser nachlassenden wissenschaftlichen Energie von S eiten der Reformirten w ar, daß sich um so weniger eine confessionelle Reibung in die ganze große Bewegung einmischen konnte; die Lutheraner blieben unbehelligt, wenn sie fortfuhren, die Lehre von der absoluten Vorherbestimmung geradehin verkehrt, widersinnig und obsolet zu schelten. Doch es ist nöthig, Einige der genannten Schriftsteller genauer in's Auge zu fassen. Um die M itte des Jah rhu nd erts hat sich der Prediger S t a p f e r in Bern als besonnener kirchlicher P o le m ik e r und als populärer G la u b e n s le h r e r sehr verdient gemacht, seine beiden Hauptwerke gehen den kritischen Neuerungen voran. D ie Unterscheidung der natürlichen und offenbarten Religion und Theologie w ar den Resormirten längst geläufig gewesen und wurde durch die Wölfische Philosophie bestätigt. S t a p f e r stellt die Gesammtheit der theologischen W ahrheiten unter das doppelte Princip der Ver­ nunft und Offenbarung, jener fallen die allgemeinen und grund­ legenden, dieser die besonderen und positiven Bestandtheile zu; aus beiden setzt sich das Wesen der christlichen Religion und Theologie zusammen'). Und nicht durch Bekenntnißschriften wird das Positive gewonnen und bestimmt, sondern lediglich durch die schlechthin güli) Fr. ßtapferi Institutiones theologiae polemicae universae online scientifico dispositae, 5 voll. Tig. 1734—47. Conf. 1, cp. 1. De vera ratione studii theologiae elenchticae.

424

Achtes Buch. Zweiter Abschnitt.

tige S ch riftn vrm : quidquid sacra scriptura affirmat, illud verum

est.

E - giebt B e r n u n ft h ä r e s ie e n , die das gesunde Wesen des

Menschengeistes antasten, es giebt G la u b e n S h ä re s ie e n ,

welche

das M ic h e HetlSbedürfniß beeinträchtigen; dort w ird der geistbegabte, hier der tkwralisch qualisicirte, aber factisch verschuldete Mensch in seinem Rechte verkürzt.

D e r Polemiker muß daher seine Gegner

in zwei Röchen ordnen; er soll zuerst Atheisten, Deisten, Epikuräer, N aturalisten,

dann die Gegner der Heilslehre als A n titrin ita rie r

und Socinianer bekämpfen, drittens aber auch Solche widerlegen, die zur V ernunft qnd Offenbarung fälschlich noch ein drittes P rincip bet T ra d itio n sich gesellen lassen wie die Katholiken, und endlich Solche, die wie A rm inianer und Pelagianer von dem positiv Ge­ gebenen sich gefährliche Abzüge gestatten.

D ie Sicherheit des pole­

mischen Verfahrens beruht auf der Vereinbarkeit der genannten Factore»; die innere Vernünftigkeit muß als ein nothwendiger Cha­ rakterzug in

die christliche R eligion eintreten,

ohne sie wäre die

letztere der menschlichen N a tu r fremd und entspräche nicht dem höch­ sten Maaßstabe der Gotteswürdigkeit ( & £ o n Q s n u a ).



In d e m

S t a p f o r in dieser Weise seine Polemik anlegt, befindet er sich auf dem uns von früherher bekannten Standpunkt der UebergangStheologie, er verbindet die theologischen Interessen in ihrem von keiner K ritik erschütterten Gleichgewicht und giebt der S chriftauctorität eine völlig Ästracte Horm.

Im m e r beweist es ein achtungswertheS

Vertrauen, wenn die christliche W ahrheit auf der Voraussetzung der V ernunft ruhend gedacht» wenn Atheismus und M aterialism us als A bfall des Menschengeistes von sich und seinen höchsten Trieben, folglich als Vernunfthäresie bezeichnet werden.

Vergleichen w ir aber

diese Grundsätze m it dem nachherigen Programm des R ationalism us: so ergiebt sich ein scheinbar leichter, aber vielsagender Unterschied. D ie O rdnung der beiden Principien kehrt sich um ,

es heißt nicht

mehr ratio et revelatio oder V ernunft und S c h rift, wie S t a p f e r sagt, sondern revelatio et ratio:

die V ernunft erhält die zweite

S telle und w ird dadurch zu einet u r th e ile n d e n Thätigkeit veran­ laßt.

D e r Rationalismus hatte sich oft das Ansehen gegeben, als

Stapfer. Verhältniß von

ratio

und

rerelatio.

425

ob er erst die Vernunft zu der Satzung hinzubringe; darin dachten die Alten unbefangener, sie wußten, daß mit dem Offenbarten stets auch ein Vernünftiges verbunden gewesen sein müsse, wenn jenes überhaupt Eingang finden sollte. Denken wir aber die Theologie als Wiffenschaft: so hat sie die Aufgabe, die allgemeinen und die besonderen Glaubensgedanken in ein Ganzes zu verarbeiten, was abermals nur mit Hülfe einer Vernunftoperalion geschehen kann. Diese Thätigkeit war bisher nur als eine exegetische und als V er­ knüpfung biblischer Resultate anerkannt worden, nun sollte sie den Charakter eindringender Untersuchung und prüfender Freiheit an­ nehmen. Und das wäre die ratio, wie sie auf die revelatio folgt und zu welcher sich der gesammte Religionsinhalt g e g e n stä n d lic h verhält. D ie dogmatische Skizze, welche S t a p f e r der Polemik zum Grunde legt, entspricht ganz dem rationalen S upranaturalism us der W olfianer. D a s logische Princip des zureichenden Grundes, die Sätze von der Zufälligkeit der W e lt') , von ihrem Verhältniß zu dem Complex der göttlichen Id e en , von der Auswahl der wirk­ lichen W elt aus der Menge der möglichen, vom physischen, meta­ physischen und moralischen Uebel, von der Nothwendigkeit der M it­ theilung der Vernunft unerreichbarer, aber m it ihr vereinbarer gött­ licher Geheimnisse, — lauter Gedanken dieser Schule, und der Ver­ fasser bedarf nur gewisser Vorkehrungen zur Einführung des göttlichen DecretS. D enn dieses, obgleich unveränderlich, darf doch weder die Zufälligkeit des Weltlichen, noch die creatürliche Freiheit aufheben, alle Dinge erfolgen nur nach einer hypothetischen Nothwendigkeit. *) Ueber die Möglichkeit des Wunders, Stapfer, Institt. polem. I, cp. 3. § 396. Miracula sunt possibilia. Mundus enim est ens contiugens, quod per totum rerum nexum aliter esse potest, ideo etiana leges motus sunt contingentes; quicquid autem est contiugens, ejus oppositum non involvit contradictionem, quicquid autem nullam involvit contradictionem, est possibile. Eine possibile est, a caussa extramundana omnipotente in mundo tales effectus produci, qui effectibus hujus rerum nexus sunt oppositi et in essentia et vi universi non fundati sunt etc.

426

Achtes Buch. Zweiter Abschnitt.

D ie Offenbarung ist das Medium zur Erlösung der Menschen, und indem sie den göttlichen Ruhm vollständig manifestirt, dient sie der Vollendung deS ganzen Weltzwecks'). — Um nun zu dem schwieri­ gen der gewissenhaftesten S o rg falt bedürftigen polemischen Geschäft den Uebergang zu finden, bedarf es einer Umgrenzung des Wesent­ lichen. W orin besteht das Fundamentale? D a s Christenthum ist das Geheimniß der Gottseligkeit, /ivat^Qiov r iss tvaeßtia$, 1. Tim . 3 , 16. ES bezweckt, daß der Mensch zu eigenem Heil auch der Verherrlichung Gottes nachlebe (u t homo cum propria salute aeterna ad gloriam Dei v ivat) , oder daß er in der A b h ä n g ig ­ k eit von G o t t (dependentia) und in der Unterwerfung aller Handlungen unter den höchsten Willen die ewige Seligkeit suche, w as aber nur möglich ist, wenn Christus als der allein erlösende und die Gottseligkeit bewirkende Heilsgrund anerkannt wird. Folg­ lich müssen die praktischen auf den höchsten Religionszweck und dessen Erreichung unmittelbar bezüglichen Artikel*), nicht die theoretischen, fundamentalen Werth haben, und selbst das apostolische Sym bol enthält nicht lauter Fundamentales. Wie Schöpfung und Vorsehung den Vernunftglauben: so constituirt Christus als alleinige Ursache der Erlösung und des vollkommenen Gottesdienstes den HeilSglau6en*23). Von hier aus und mit der Formel durch C h ris tu s a lle in hätte S t a p f e r zu einer einfach großartigen Anschauung gelangen *) Ibid. cp. 3. § 1021. Medium liberationis revelatum multum contribuat oportet ad perfectionem totius Universi. Perfectio autem mundi consistit in hoc, quando omnes fines speciales tendunt ad finem aliquem genera­ lem, finis autem mundi generalis est manifestatio gloriae Dei. 2) Ibid. cp. 4. § 1838. Patet ergo, articulos practicos maxime funda­ mentales esse, unde evangelium vocatur mysterium pietatis et summa praedicationis evangelicae est fides cum resipiscentia, et omnium praeceptorum evangelicorum tenor huc tendit, ut Deum cum proximo nostro amemus, et eum in finem gratiam salutiferam nobis apparuisse credamus, ut abnegantes impietatem — pie vivamus in hoc saeculo. 3) Ibid. I, cp. 4. § 1877. Jesus Christus ceu unica atque perfectissima salutis caussa ab homine peccatore agnoscendus et recipiendus, Deusque propterea a toto homine, hoc est anima et corpore glorificandus est.

Was ist fundamental? Verhältniß zum Lutherthum.

427

können; er h ä lt sich nicht au f dieser Höhe, sondern n im m t dann die theoretisch-orthodoxen Bestimmungen der L e h r e

von C hristus doch

wieder a ls exclusiv bedingend in seine G rundlegung auf.

Aber der

W e rth seiner Auffassung des Fundamentalen bleibt stehen, und es muß gesagt werden,

daß in dieser Polem ik die praktische Richtung

der re fo rm irte n Lehre m it dem allgemeinen metaphysischen und teleo­ logischen Rahmen der Wölfischen Philosophie geschickt und scharfsinnig verbunden w ird . A m Schlüsse der ganzen antihäretischen B earbeitung handelt es sich um

das V e rh ä ltn iß zum Lutherthum .

S t a p f e r zeigt sich zu

einer offenen und friedlichen Handreichung bereit, ja er entschuldigt sich beinahe, daß er bei dem obwaltenden wesentlichen Consensus die kirchliche Meinungsverschiedenheit überhaupt Sprache bringe, —

in

einer Polem ik zur

welch' ein Abstand gegen frühere Zeiten, wo das

Schweigen darüber k e in e Entschuldigung gefunden hätte.

D ie H a l­

tung des S chriftstellers ist anständig, er ig n o rirt weder die D iffere nz, noch w ill er sie feindlich

ausbeuten.

W enn frü h e r der G ru n d des

Confessionsstreits über die Borherbestimmung einfach auf den I r r ­ thum der einen oder andern Lehre zurückgeführt w urde:

so ist es

ein F o rts c h ritt, daß ihn S t a p f e r in der G r ö ß e des P r o b l e m s sucht.

D e r Mensch übersieht n u r einen T h e il der göttlichen W ir ­

kungen, er ist unvermögend, den höchsten Rathschluß denkend zu um ­ spannen, zu durchdringen; wo also adäquate Erkenntniß unerreichbar ist,

da d a rf keine menschliche Lehre sich m it exclusiver S prödigkeit

gebehrden.

D a s religiöse P rin c ip der Abhängigkeit von G o tt kann

auf mehrere A rte n durchgeführt werden, je nachdem man sich dafür entscheidet, den menschlichen Geschöpfen innerhalb der höchsten C ausa litä t eine relative F reih eit zu vindiciren oder nicht. die äußerlichen M it t e l,

Ebenso können

deren sich die Gnade bedient,

ungleich in

Anschlag gebracht werden, W erth und Schranke aller M ittelursachen sind streitig.

D a zu

kommt endlich die D ehnbarkeit und M iß v e r­

ständlichkeit aller in diesem A rtik e l üblichen Kunstausdrücke.

Kurz

je umfassender die Frage, desto größer die Berechtigung verschiedener Auffassungen.

S t a p s e r w ill als», und er th u t Recht d a ra n , die

428

Achte» Buch.

Zw eiter Abschnitt.

Controverse dem höheren wissenschaftlichen Gebiet überweisen,

wo

der S t r e it niem als aufhören w ird , w e il jede Ansicht, indem sie sich theoretisch f ix ir t , nothwendig etwas Beschränkendes und folglich I n ­ adäquates in sich tragen muß ')•

D a n n liegt auch die weitere F o l­

gerung, — die unser Polem iker unterlassen hat, — nicht mehr fern, daß eine Z e it kommen werde, wo nicht mehr die Confessionen a ls solche, sondern die Schulen und die einzelnen Persönlichkeiten fü r die gründliche F o rtb ild u n g des Problem s einzustehen haben.

Und diese

E rw a rtu n g ist denn auch in den Unionsverhandlungen des folgenden J a h rh u n d e rts o ft genug ausgesprochen w orden;

besonnene Freunde

der U nion w ollten den S t r e it über die Vorherbestimmung k irc h lic h ausgleichen,

indem sie ih n

dauernd anerkannten.

sachlich und wissenschaftlich a ls fo rt­

Ganz anders stellte sich das V e rh ä ltn iß zur

Abendmahlsfrage, denn dieser S tre itp u n k t kann und soll gerade sach­ lich und exegetisch geschlichtet werden, wenn er auch in der S ubject iv itä t des Gemeindebewußtseins noch lange fortbestehen w ir d ') .

Institt. polem. tom. V , cp. 20. § 6. Nullum vero mihi relinquitur dubium, quin ipsa doctrinae hujus sublimitas prima ac praecipiia caussa sit, cur lites circa hanc materiam hucusque nondum fuerint compositae. § 9sqq. 2) D ie gute Gesinnung Stapser's zeigt sich auch in den Vorschriften, die er Polemiker auferlegt. V g l. 1. 1. I , cp. 2. De cautelis in theologia elencht. observandis. § 146. Qui elenchum instituere vult, exploret se ipsum, quo fine et Studio id faciat, an ex sincero veritatis amore an vero ex ambitione potius aut damnandi libidine aut aliis passionibus pravis. § 156. Cum pravi voluntatis affectus, praecipue ambitio odium theologicum et sectae Studium veritati tantopere noceant, inde deponendi prius antequam de religione disputemus. Dergleichen Mahnungen wären auch heute nicht über*

jedem

flüssig. — W e it unbedeutender ist das zweite Werk desselben Dersassers: G ru n d ­ legung zur wahren R eligion , 12 T h le ., Zürich 1746 — 5 3 ,

eine äußerst w eit­

schichtige Vertheidigung des älteren Lehrbegriffs, welche sich nu r m it Gegnern außerhalb der Theologie, nicht innerhalb derselben zu schaffen macht.

E r be­

kämpft die Unfrömmigkeit der Zeitgenossen und zählt die Fehler der Erziehung und die herrschende Religionsspötterei zu den Folgen der Erbsünde.

E r beschreibt

den „elenden Zustand, in welchem sich alle Menschen aus dem ganzen Erdboden zu allen Zeiten befunden haben."

„ D ie ganze Erde ist ein S p ita l voller Kran»

ken, da der Eine m it diesem, der Andere m it einem-andern Uebel behaftet is t."

429

Endemann und Stosch gegm den R ationalism us.

Z w e i andere D ogm atiker, E n d e m a n n zu H anau und S to s c h in F ra n k fu rt,

versetzen uns

schon in die Z e it des R a tio n a lism u s,

Beide folgen an W h t te n b a c h 's G ru n d lin ie n anknüpfend der W ö l­ fischen Methode. gischen

Bemerkenswerth ist ihre S te llu n g zu den theolo­

Neuerungen, denn

gründlich angreifen,

indem

sondern

sie

diese weder ig n o rire n , noch

n u r im

Allgemeinen ablehnen, aber

sehr m ilde und fast n u r historisch beurtheilen, beweisen sie, daß sie nicht vollständig in den K am pf selbst verflochten waren.

I m Lu ther­

thu m w a r Jed er zu einem schärferen F ü r oder W id e r genöthigt. M i t M i c h a e l i s ',

S e m le r 's ,

T ö lln e r 's

S ch rifte n sind sie be­

kannt.

E n d e m a n n beklagt es,

denen,

die T r in it ä t und G enugthuung in alter Weise lehren, fast

der

daß es dahin gekommen sei, daß

gemeine Menschenverstand abgesprochen werde;

auch die S ta rre n ,

welche im

aber er tadelt

sichern G efühl ih re r Rechtgläubigkeit

jede Meinungsverschiedenheit m it V erdruß

aufnehmen, die doch in

problematischen D inge n ganz in der O rd n u n g s e i').

Stosch

setzt

sich in der E in le itu n g m it dem modernen S tan dpu nkt auseinander. D ie jetzige Theologie, sagt er, geht theilweise darauf aus, die christ­ liche R eligion ganz auf die natürliche herabzusetzen, sie denkt dieselbe n u r als eine von C hristus dem höchsten Gottgesandten m it vorzüg­ licher G ew ißheit verkündigte und durch die Verheißung des ewigen Lebens bereicherte V e rn u n fte rke n n tn iß ').

A lle positiven Lehren wer-

D aher die Nothwendigkeit eines göttlichen Erlösers, welchem es „angenehm " sein mußte, in menschlicher Gestalt aufzutreten.

D er Auseinandersetzung des könig­

lichen A m ts Christi geht beispielsweise eine D e fin itio n des B egriff» König vo ra n ; au« der Auszählung sämmtlicher Eigenschaften, Gerechtsame und Obliegenheiten eines. Monarchen «rgiebt sich die S te llu n g der Unterthanen, daher abermals eine lang« Reihenfolge von Rechtm und Pflichten. W as Christus von eine» irdischen Könige unterscheidet, w ird «vollständig v on demjenigen erdrückt, wa« er m it ih m gemein haben soll.

Gegen eine so äußerliche. Behandlung der Aemterlehre, wie

sie hier populär; von Andern aber in gelehrter F o rm geliefert worden, w a r nach­ her Ernesti'» K ritik im Recht.

*) Endemaim, tpetitt. theoT. dogm. Hanov. 1777. 1. 2. Conf. praef. p. 4. 5 Stosch, Institt. theol. dogm. Francof. a. V. 1779. Prolegomena de praesenti theologiae eccles. state. § 3. 4. Hörem (nämlich der iatrtlitinarier

430

Achte» Buch. Zweiter Mschuitt.

den in ih r beseitigt und da m it daS C hristenthum selber verkürzt, dessen Wesen in

der V erbindung geoffenbarter W ahrheiten m it den

natürlichen und vernünftigen besteht. nützliche Untersuchungen

angeregt

neu ist sie aber keineswegs, scheinungen.

W o h l hat diese Theologie viele

und

die Wissenschaft

gefördert;

sondern n u r W iederholung älterer E r ­

Unstreitig paßte sein U rth e il auf den gemeinen auf­

klärenden R a tio n a lism u s, indem er es aber auf den ganzen Zustand der damaligen Theologie ausdehnt und indem er m it ih r den N a ­ tu ra lis m u s und D e ism us auf gleiche Linie stellt und dann die ein­ zelnen Lehransichten n u r re fe rirt, erläßt sich S lo s c h eine gründliche P rü fu n g und zieht sich n u r in eine gesicherte S te llu n g zurück. Uebrigens erscheinen die beiden Genannten a ls gemäßigt posi­ tive, wohlunterrichtete und kleineren Verbesserungen zugeneigte Lehrer. D ie B oranstellung des göttlichen D e cre ts, als des M it t le r s ,

die Bezeichnung C h risti

die Aufnahme eines Abschnitts vom

christlichen

Leben beweist den reform irte n, die Verm eidung Calvinischer S ch ro ff­ heiten den deutschen Lehrcharakter.

D ie R e lig io n ist eine m it F rö m ­

migkeit verbundene Erkenntniß göttlicher D in g e ,

objectiv aber die

mündlich oder schriftlich überlieferte Lehre von ihnen.

D aS Wesen

G ottes nach E n d e m a n n ist die innere M öglichkeit eines vollkom­ mensten Wesens R e a litä te n ;

oder der vollendetsten Verknüpfung a lle r größten

das Dasein aber oder die A c tu a litä t ist das K om ple­

ment der M öglichkeit, seitig

bestimmt

h a t') .

denn ein actuelles Dasein ist, was sich a ll­ Bei

der T r in itä t soll man nach S t o s c h

und Indifferentisten) vestigiis recentiores quidam tbeologi insistendum esse existimarunt, quorum de religione Christian» sententia huc redit: eam non esse nisi ipsam religionem naturalem a Christo plenins et certius traditam, cui ab eo tanquam praecipuo Dei legato promissa remissioniß peccatomm et vitae aeternae per obedientiam mandatis Dei praestandam addita fuerint. — Sunt tarnen quoque a lii, qui quidem ab ea quae protestantibns probatur doctrina in summa rei non recedunt, haud pauca tarnen rectius et scripturae et rei ipsi convenientius exponi posse existimant, quorum monita mihi non per omnia negligenda videntur. — Theologi enim est4 n dvta jSoxifid&iv, TO xalov x a x i/jiv etc. *) Endemann 1. c. I, § 17 sqq.

Stosch. Milderung der Prädestinationslehre.

431

niemals vergessen, daß sich in ihr mit dem Geheimniß des gött­ lichen Wesens zugleich das deS Rathschlusses der Erlösung offenbare, weshalb es Jedem freistehen muß, diese zweite Darstellung des tri« nitarischen Verhältnisses zur Hauptsache zu machen'). D ie absolute Gnadeuwahl erregt S to sch ernstliche Bedenken, und statt von I n ­ fralapsariern und Supralapsariern, von Hypothetikern und Kategorikern zu handeln, möchte er lieber bei dem Paulinischen Ausruf Röm. 11, 3 3 8) Ruhe finden; doch hilft er sich getrost mit der Aufnahme einer factischen Bedingtheit in den Rathschluß. Zwar ist der ganze Verlauf der Dinge von Gott vorher verordnet; allein diese Prädestination ruht auf dem Factum der Schöpfung und des Sündenfalles, der selbst nur gewußt, nicht gewollt war. D er ge­ ordnete Wille unterscheidet sich durch Gestattung eines ersten Actes der Freiheit von dem absoluten, und nur also läßt sich die erste Sünde auf den göttlichen Rathschluß zurückführen, daß dieser sofort

*) Stosch, 1. c. § 45. Est vero hic ante omnia observandum, quod revelatio hujus mysteril pari quasi passu cum revelatione arcani illius consilii Dei, humanum genus per filium suum unigenitum ad aeternam salutem formandi, facta sit. Bgl. über das Werk Christi § 219. Qui Jesum Christum merum hominem, singulari tarnen divina virtute instructum credunt, omnem apparitionis ejus inter homines scopum eo absolvi volunt, ut tanquam immediatus Dei legatus verae illius, ad quam natura ducit, religionis cognitione homines imbueret, eam morte sua confirmaret, absolutae erga Deum inter odia hominum et durissima fata obedientiae castissimum se illis exemplum praeberet, omnibusque se ad eandem obedientiam efformantibus peccatorum remissionem et vitam aeternam nomine Dei promitteret. Verum haecr doctrinae Cbristianae notio illis non sufficit, quae scriptura et de Jesu Christo et scopo adventus ejus in mundum docet. I m Folgenden werden vom Schrift-

princip an die gegensätzlichen Ansichten aufgezählt, überall mit schonender Verschweigung ihrer Vertreter, auch der Name Rationalismus findet sich nicht. 2) Auch die Abstammung von Einem Menschenpaare bringt der Verfasser mit dem E tlichen Heilsplan in Verbindung. Wieviel trauriger würde das Schistfal gewesen sein, wenn es sich an viele erste Uebertretungen angeknüpft, hätte! Quam triste spectaculum, omnes forte simul lapsos et morte punitös vel lapsos et peccati veniam consecutos, attamen peccato corruptos, tantam multitudinem in mutua odia et scelera omnia ruenteml § 88.

432

Achte» Buch. Zweiter Abschnitt.

auf den Gedanken der Erlösung hintreibt, um auf diesem allein m it der creatürlichen Freiheit verträglichen Wege die M ittheilung der Gnade (asQtoatia tr,s #aptrog) herbeizuführen. G ott hat daraus erkannt, daß es für das menschliche Geschlecht heilsamer sein würde, wenn alle von Adam Abstammende auch an seiner Uebertretung Theil hätten, wenn also die Erlösung die Thatsache des Sünden­ falls zur Voraussetzung hätte, — dies der In h a lt des Consilium generale. D as Consilium speciale aber übernimmt die historische Verwirklichung des erlösenden W illens durch die S tiftung des evan­ gelischen Bündnisses innerhalb der herrschenden S ünde, und diese Ausführung ist nach der lex optimi verfügt worden, nämlich nach dem Gesetz des besten Erfolges, welches bei der Beschaffenheit deö menschlichen Gesammtlebens am Meisten geeignet w ar, die Harmonie der göttlichen Eigenschaften in's hellste Licht zu setzen'). I n dieser Weise wird eine gemilderte Erwählungslehre mit dem L eibnitzischen O p tim is m u s verknüpft; von dem reformirten Dogm a ist nur die Form und die Zweckbeziehung auf den göttlichen Ruhm übrig ge­ blieben, die Härten aber sind hinweggenommen, und die Lutheraner derselben philosophischen Schule hatten sich einer sehr ähnlichen V or­ stellung bedient. — Demgemäß will S to sc h dem Augustinismus nicht mehr huldigen. Auch von der Erbsünde hält er nur das Factum einer frühzeitigen und schon in den Kindern erwachenden Neigung zum Verbotenen fest und läßt diesen sündhaften Hang ohne unmittelbare Im putation auf dem Naturwege der Fortpflanzung verbreitet sein. E r behauptet, daß der Mensch, wie er ist. dem e r k a n n t e n Guten nicht widerstrebe, sondern vermöge eines ange­ borenen moralischen S inn es sich zuwende; da aber dennoch Adam aus dem ersten Ungehorsam einen subjektiven Schaden davongetra­ gen hatte: so mußte dieser ein erblicher werden, weil es zum Gesetz der Abstammung gehört, alle Nachkommen den Voreltern ähnlich zu machen. D aher die Trübung des immer noch vorhandenen eutlichen Ebenbildes. W er sieht micht, daß damit der Begriff der angeborenen *) Stosch, lib. I, cp. 3. IV, cp. 2.

Endemann § 50sqq.

433

W arum blieb die « fo rm . Theologie zurück?

Verderbtheit eigentlich aufgegeben ist! Auch der etwas strenger ge­ sinnte E n d e m a n n erreicht diesen nicht; zwar findet er im natür­ lichen Menschen ein Trachten nach allem Scheinguten d. h. Schlech­ ten, was aber zur Erklärung gesagt w ird, kommt darauf hinaus, daß das Verderben der Voreltern als eine Beschränkung der sitt­ lichen N atur auf die Nachkommen übergegangen sei'). Aus diesen Beispielen ergiebt sich die Tugend und die Schwäche der damaligen reformirten Lehrer. Wie sie fortfuhren, den empfan­ genen Standpunkt nur mit M ilderungen, aber ohne kritischen Trieb und ohne alle Verbesserung des Schriftprincips festzuhalten, konnten sie der systematischen Sachlage wenig Dienste leisten. Ih re Gesin­ nung ist achtungswerth, aufrichtig und duldsam, an Verdienst stehen sie den Lutherischen Parteirichtungen nach. Und woraus erklärt sich die in jener Zeit nachlassende Kraft der reformirten Theologie? M an hat mit Recht in Betracht gezogen, daß dieselbe, wie vorhin bemerkt, sich theils rationaler theils stetiger und gleichförmiger ent­ wickelt und daher den Aufregungen des Rationalism us länger wider­ standen habe als die Lutherische, die sich seit hundert Jah ren auf demselben Schauplatz aus einem Kampf in den andern hatte stürzen müssen. Doch glaube ich, daß diese Erklärung erst dann ausreicht, wenn sie nicht aus der Confession und Confesstonsgeschichte allein, sondern in Verbindung mit dem allgemeinen Einfluß der N ationalität hergeleitet wird. Nicht Kirchlichkeit und Theologie allein kommen *) Stosch, lib. II, cp. 4. § 169. Adamus scilicet post lapsum non sibi et peccati sui effectibus totus traditus, sed gratia donatus Dei imaginem quamquam aliqua ratione laesam servavit. Igitur omnis naturae humanae haec nunc est indoles, ut ipso naturae instinctu in virtutem feratur, quam cognitam abhorrere nemo potest; unde antequam homo totus peccato mancipatus est, saepe non sine lucta in ea quae mala sunt, mit. Cum tarnen Adamus non potuerit non aliquid vitii et labis e transgressione sua trahere, eandem quoque ad posteros transmisit. Endemann § 101 — 110. I n der

folgenden Heilslehre findet sich bei beiden Schriftstellern durchaus die reformirte Eigenthümlichkeit. Zu dem Glauben treten auch die Werke als zweite B e d i n ­ g u n g des göttlichen W ohlgefallens hinzu (fides et resipiscentia), aber m it der Verwahrung, daß sie kein Verdienst sind und im Glauben ihre Q uelle haben. Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

28

434

Achter Buch. Zweiter Mschuitt.

dabei in Betracht, sondern Alles, was auf sie wirkt, Philosophie, Bildung, Literatur und nationale Denkart. Die Lutherische Theo­ logie war historisch angesehen eine vorwiegend deutsche, sie hatte einen großen Theil des vaterländischen BodenS inne. D er d eu t s c he G e i s t machte sie uneinig, aber auch geschmeidig, gründlich und un­ ermüdlich, gab ihr also Eigenschaften, welche für die tumultuarische Epoche der Wissenschaft vor allen andern erforderlich waren.

Neuntes Buch.

Schlcimnacher und seine Zeit.

Erster Abschnitt. Fortsetzung und Bereicherung der dogmatischen Studien. I. V orb em erk u n gen . „wächst dem Reformationsjahrhundert hat keines der Jahr­ hunderte seit der Völkerwanderung für den Fortschritt der Mensch­ heit mehr gethan als das achtzehnte. Nach dem Stillstand und Rückfall des siebzehnten nahm es die Aufgaben des sechzehnten in umfassenderem Sinne wieder auf und führte sie der Lösung so nahe, als dies in dem verschlungenen Gange der Geschichte, die niemals rein abrechnet, möglich ist. Die Reformation wurde zur Aufklärung; an die Stelle des Glaubens traten Denken und Gewissen; aus Christen sollten Menschen, aus Unterthanen Bürger werden. D a s neunzehnte Jahrhundert hat eine reiche Erbschaft angetreten; aber selten ist auch ein reicher Erbe gegen den Erblasser undankbarer ge­ wesen. Beinahe bis in die M itte unseres Jahrhunderts herein war die Geringschätzung des vorigen guter Ton." M it diesen Worten eröffnet S t r a u ß seine Schrift über R e im a r u s '). S ein schneidendes Urtheil mögen sich diejenigen zu Herzen nehmen, welche das vorige Jahrhundert vergessen und be­ graben wollen; wir aber müssen alles Ernstes Verwahrung einlegen gegen eine solche Entgegensetzung zweier Zeitalter, — Zeitalter, von denen das eine nicht dem Glauben, das andere noch viel weniger dem Denken und Gewissen entsagt hat; und wir glauben nicht, daß dieses letztere darum den Borwurf der Undankbarkeit verdient, weil *) Reimaru» und feine Schutzschicht für die vernünftigen Verehrer Got­ te«, 1862.

438

Neunte» Buch.

Erster Abschnitt.

es die von jenem dargebotene A ufklä run g nicht m it leichter Hand und wie eine reife Frucht n u r abpflücken und genießen w ollte. S o v ie l ist indessen gewiß, daß das neunzehnte J a h rh u n d e rt w eit schwerer a ls das

vorangegangene zu charakterisiren ist, wenigstens

fü r u n s , die w ir noch darin stehen.

Aerm er als d a - vorige ist es

gewiß nicht, vielmehr reicher und vielseitiger, aber auch verw orrener, gegensätzlicher und drangvoller; lassen und abgebrochen,

eS hat nichts Empfangenes liegen

aber zu den ererbte» Aufgaben viele neue

hinzugefügt und ein m annigfaltiges M a te ria l der Forschung in sich aufgehäuft unter gesteigerten Schwierigkeiten sichten.

Aber welche von diesen Arbeiten hat den meisten Anspruch,

die Tendenz des Z e ita lte rs

im Allgemeinen

w ir seine Bedeutung danach benennen, kritische

und erneuerten A u s­

Forschung

oder fü r

die

auszudrücken?

S o lle n

was es fü r die fortgesetzte

Wiederherstellung

des positiven

Christenthum s oder fü r die Bereinigung und Gestaltung der evan­ gelischen Kirchen und die Hebung des christlichen Lebens oder endlich fü r philosophische Wissenschaft und S p e culation geleistet h a t!

A lle

diese Bestrebungen ringen um den V o rra n g , jede w ill dergestalt an die Spitze treten, daß die übrigen zwar nicht verleugnet, aber nach ihrem Maaßstabe beurtheilt werden.

D e r H isto riker, wenn er von

der unvergänglichen D a u e r der christlichen R e lig io n überzeugt ist, erw artet auch aus diesen Kämpfen eine Erneuerung des christlichen Geistes und Lebens,

und zwar eine großartigere und segensvollere,

a ls welche das vorige J a h rh u n d e rt darzubieten vermochte; aber die H a nd versagt ihm , wenn er jetzt schon sagen soll, w ie sie ausfallen werde,

und

indem

er die Entscheidung der Z u ku n ft anheimstellt,

welche die wahre D eutung des schon Erlebten offenbaren werde, ist er genöthigt, abermals nach dem unbestimmten Namen einer Uebergangszeit zu greifen. Diese Dunkelheit b e trifft hauptsächlich das religiöse und kirch­ liche Gebiet, denn politisch hat dieses Ja h rh u n d e rt eine Bestimmung, an welcher Niemand zweifeln w ird , und selbst wissenschaftlich erh ält es durch den höchst umfassenden B etrie b der historischen S tu d ie n und durch die außerordentliche B lü th e und Ausdehnung der exacten N a tu r­ forschung einen sicheren und stetigen Charakter.

V o n beiden S eite n

439

Werth und Charakter des 19. Jahrhunderts.

ist auf die Auffassung deS Religiösen und Kirchlichen etwas über­ gegangen, doch blieb die religiöse Entwicklung um so wechselvoller, da sie willkürlichen Störungen und fremdartigen Eingriffeu so viel­ fach ausgesetzt w ar. Verglichen m it dem vorigen Jahrhundert hat das gegenwärtige einen ungleich mehr realistischen und praktischen Geist. gleichfalls Toleranz,

E s w ill

aber nicht ohne Anerkennung eines In h a lts ,

um deßwillen die D uldung geübt werden soll; es w ill Freiheit, aber nicht ohne Bethätigung; es w ill Humanismus, aber nicht mehr jenen kosmopolitischen und abstrakten, dem die Gebildeten als In d iv id u e n angehören, sondern in welchem die Nationen eine lebendige S tellung einnehmen und die Geistesmächte der Geschichte sich regen; es w ill Christenthum, aber nicht mehr als P rivatreligion gegenüber den rechtsbeständigen Confessionen, sondern in innigem Zusammenwirken der Gesammtheit und als fruchtbringenden Glauben;

es w ill über­

haupt Gemeinsamkeit und ist dazu theils berechtigt durch eine B il ­ dung, die in höherem Grade Gemeingut geworden ist,

theils ge­

nöthigt durch eine unendlich gesteigerte Concurrenz. Demgemäß ver­ änderte sich auch der S in n fü r das Ideale, denn dieses wurde aus seiner unbegrenzten Weite zurückgerufen und wieder in

faßlichere

Lineamente gekleidet, damit es ruhen könne auf dem Historischen. In

den Grundfactoren deö religiösen Bewußtseins ist eine leise

Veränderung unverkennbar; das neue Jahrhundert hatte oder be­ hauptete nicht ganz denselben Gottesbegriff wie das vorige, noch auch denselben W eltbegriff.

D e r erstere, wie bereits in der philoso­

phischen Entwicklung gezeigt worden, tr a t aus der deistischen Jen­ seitigkeit heraus und nahm eine Richtung zur Immanenz, die sogar bis zum Pantheismus vordrang.

D ie Anschauung des Kosmos aber

wurde zwar mathematisch nicht wesentlich erweitert,

aber in sich

selbst wunderbar bereichert; die Spekulation gewährte der Mensch­ heit ein Anrecht, sich selber nicht mehr als den winzigen Punkt im Universum zu denken, sondern als den Schauplatz fü r die V erw irk­ lichung der höchsten Weltzwecke, daher die Neigung, das Absolute in den Proceß des Endlichen hineinzuziehen.

D ie persönliche Unsterb­

lichkeit war neben der Freiheit als unverlierbares Glaubenswort in

440

Neuntes Buch.

Erster Abschnitt.

allen reinen G emüthern der Aufklärungszeit stehen geblieben; wurde

auch jetzt niem als

V ie le n die dunkle F rage, he it n u r

sie

aber es regte sich doch in

ob vielleicht auch diese christliche W a h r­

innerhalb der unendlichen E n d lic h k e it des menschlichen

Geschlechtslebens, habe.

aufgegeben,

D ie

nicht

Gegensätze

außerhalb nahmen

derselben ih re

also

in

einzige R e a litä t

mancher Beziehung noch

größere Dimensionen an a ls frü h e r, und der religiöse G laube wurde den Kindern und Enkeln an einer S te lle erschwert, wo er den V ä ­ tern noch leicht geworden w a r. Schon aus diese» Andeutungen e rh e llt,

daß das gegenwärtige

J a h rh u n d e rt die wissenschaftliche A rb e it des vorangegangenen nicht g ra d lin ig t fortsetzen, noch deren theologische Ergebnisse ohne W eiteres genehmigen konnte,

sondern es mußte die S tu d ie n desselben durch

Wiederaufnahme des Liegengebliebenen oder durch erneuerte U n te r­ suchung des

eilfertig

Erledigten

ergänzen, also wieder in Frage

stellen, was bereits a ls ein Ausgemachtes von der Schule gepriesen worden w a r.

D a m it ist das Recht und die Nothwendigkeit einer

R e a c t io n anerkannt.

Ic h

scheue mich nicht,

dieses W o rt zu ge­

brauchen, und wo wäre eine A c t i o n , noch dazu eine so bedeutende und stürmische, ans welche nicht eine verweilende, retardirende, er­ gänzende und berichtigende Reaction hätte folgen müssen! herige R e s t a u r a t io n

des A lte n

und die U m k e h r

D ie nach-

d e r W is s e n ­

s c h a ft w a r vom Uebel, die bloße Reaction gegen die Oberflächlichkeiten der letzten theologischen Epoche dagegen unverm eidlich, und die aus derselben hervorgegangenen guten Früchte zu verleugnen,

hieße fü r

Jeden unter uns soviel als sich eines T h e ils seiner theologischen B ild u n g entledigen.

D ie F ü lle der Geschichtsstudieu und selbst das

tiefere S chriftverständniß, eröffnet haben,

welches die beiden letzten Menschenalter

würde in dieser Vielseitigkeit ganz gewiß nicht er­

schlossen worden sein, wenn man n u r auf dem älteren kritischen Wege fortgefahren wäre. Und selbst diejenigen Restaurationsversuche, welche w ir als verwerflich bezeichnen müssen, behalten, —

wären sie doch

m it reineren M itte ln ausgeführt w orden! — im m er noch den W e rth und die W a hrh eit eines großen Principienkam pfes. D e r R a tio n a lism u s, wie w ir ihn b is jetzt kennen gelernt, hatte

Stärke und Schwäche des Rationalismus.

441

seine Stärke in der eigentlich dogmatisch-historischen Kritik gegenüber dem alten D ogm a; schwach war er in der Beurtheilung dessen, was v o r und h in te r der bloßen Lehrbestimmung liegt und was er selber nach seiner doctrinal-verständigen Denkweise als Nebensache behandelt hatte. Jen es ist das R e lig iö s e , dieses das K irch lich e; der R a ­ tionalismus w ar arm an religiöser Innerlichkeit, er w ar auch ohne Neigung, die sittlich-religiöse Grundrichtung der kirchlichen Gemein­ schaft sich zu vergegenwärtigen und von der Reihe der einzelnen Satzungen zu unterscheiden. D ie Vertiefung des religiösen S innes und die Belebung und Kräftigung des kirchlichen Gemeinschaftsgefühls wurden die Hebel einer Wiederaufnahme kirchlicher Bestrebungen, welche also indirect auf die theologischen Angelegenheiten wirkte. D ie evangelischen Ideen der Wiedergeburt und Gnade, der Erlösung und Heiligung, jene Schöpferworte des Himmelreichs, waren gering geachtet, jetzt kehren sie aus der Vergessenheit zurück und mit ihnen Christus, nicht mehr als der „Lehrregent", wie ihn P aulus nannte, sondern als der Träger des christlichen P rincips selber und der alleinige historische Grund des Evangeliums. Dieselben G rund­ gedanken waren aber auch in den kirchlichen Denkmalen in eigentthümlicher Weise und Tendenz verknüpft worden; es kam darauf an, sie auch da wieder aufzusuchen; es genügte nicht länger, dieses ganze M aterial als veraltete „Menschensatzung" bei S eite zu schieben; von dem Einzelnen mußte auf das Allgemeine, von der Schale auf den Kern, von dem Dogma auf das dogmatische M otiv zurückgegangen werden. D ies Alles geschah langsam, unter Widersprüchen und in verschiedener Absicht, aber es führte zu Anregungen, aus welchen auch das dogmatische Studium neue Kraft gewann. S o ll die Aufgabe der neueren Theologie ganz im Allgemeinen ausgesprochen werden: so besteht sie darin, daß die im vorigen J a h r ­ hundert errungene gelehrte Unbefangenheit und wissenschaftliche F rei­ heit mit der wiedergewonnenen religiösen Empfänglichkeit und dem S in n für kirchlichen Gemeingeist zusammengeleitet werden soll, da­ mit keine religiöse W ahrheit verloren gehe, sondern Alles was sich in der einen Richtung als haltbar oder wirksam erwiesen hat, auch der andern zu S tatten komme. I n der Pflege dieser beiderseitigen

Neuntes Buch.

442

Erster Abschnitt.

Obliegenheiten erfüllt sie ihre Bestimmung als gelehrtes O rgan und als Auslegerin des christlichen Bewußtseins, und n ur wenn sie daSLetztere niemals ohne jenes sein w ill, giebt sie sich, wie D ö r n e r sagt, einen „regenerirenden" Charakter.

D ie Verbindung von Fröm ­

migkeit und Wiffenschaftlichkeit wurde daher das K rite riu m rechter theologischer Ausrüstung; nur in dieser doppelten Eigenschaft schien sie ihren neuen Arbeiten gewachsen zu sein.

Allein die Verbindung

selber, kaum geknüpft, drohte unter dem Druck entgegengesetzter Ge­ wichte wieder gelockert zu werden und zu zerreißen.

Denn die Be-

lebuugsmittel der Theologie wurden bald auch die Anknüpfungspunkte einer re s ta u rire n v e n , in das Alte zurückgreifenden und den R a­ tionalism us überspringenden Thätigkeit. Es blieb nicht dabei, daß die Begriffe des Glaubens und der Kirche in jener erweiterten Bedeutung festgehalten wurden; in den einen drängte sich wieder der ganze alte dogmatische Körper hinein, an den andern hängte sich die Confession m it ihrer trennenden Sprödigkeit. m it

Es schien halbe A rbeit, wenn nicht

der Kirche auch deren vollständiger

zurückgeführt wurde, und w ir

überlieferter Lehrgehalt

haben es erlebt, daß Theologen,

welche eine vergeistigte und entwicklungsfähige Kirchlichkeit aufrichtig gewollt hatten, von den Epigonen nur als Brücken und Uebergangshelfer bezeichnet wurden, welche man m it billiger Dankbarkeit fü r das Geleistete möglichst bald zu den historischen Größen zu zählen Ursache habe.

D ie Forderung der Z e it wurde gern in die Formel zusam­

mengefaßt: keine Kirche ohne Bekenntniß; darauf wurde ebenso a ll­ gemein geantwortet: kein Bekenntniß ohne Kirche, d. h. ohne S ubstract einer beistimmende» Gemeinschaft und B ildung. D ie nächstfolgende Darstellung w ird nur wenig über das erste Menschenalter dieses Jahrhunderts hinausgehen.

D e r Weg durch

die Decennien w ird interessanter, aber auch dornenvoller, je mehr w ir uns der M itte nähern, sehen.

er läßt sich nur nach Stationen über­

D e r uns beschäftigende Zeitraum enthält deren zwei.

D er

erste Abschnitt bis 1815 bietet innerhalb der Theologie und Kirche n u r wenig Bemerkenswerthes, aber er ist von welthistorischen Ereig­ nissen angefüllt, welche unter dem F a ll und Auferstehen der deutschen N ation wie unter einer göttlichen Heimsuchung ih r erschütterndes

Erstes imb zweites S ta d iu m des Jahrhunderts.

und

reinigendes

A m t ausüben.

E in

tiefes

Verlangen

443 nach

Q uellen des fittlichen Lebens bemächtigte sich der Gemüther.

den D ie

R elig io n suchte ihre Urstätte a u f; das deutsche V o lk wurde an seinen eigenen GeisteSgehalt seiner

älteren

gemahnt

und fand

Geschichte und Poesie

w ü rd ig auch neben den

in

ein

der W iederaufnahme

frisches

B ild u n g s m itte l,

antiken V o rb ild e rn eine S te lle zu finden.

Geist und Forschung konnten sich dauernder in christlich-germanischen Lebens niederlassen. regte sich in einzelnen Sym ptom en.

den Gebieten des

D e r theologische S t r e it

Schon 18 00 hatte R e in h a r d

in seiner R eform ationspredigt zu bedenken gegeben, w ieviel die evan­ gelische Kirche der Erneuerung der Lehre von der freien Gnade in Christo verdanke; ein Landprediger, R ö h r , bezeugte seine Unzufrie­ denheit.

Dennoch beklagten V ie le den V erlust der schönen I n d iv i­

d u a litä t des Christenthum s, dern,

statt eine Schrankenlosigkeit zu bewun­

welche überall R aum lasse zum „D u rch la u fe n und D a rü b e r­

springen."

D ie Besseren erfüllte das V erlan gen ,

unvergängliches Eigenthum fallenden T rü m m e rn

aufzurichteu

der Z e it.

D ie

m itten

in sich selbst ein

unter den um her­

gebildeten Laien hielten sich

zw ar meist an die allgemeineren R eligionsw ahrheiten, verbanden m it diesen aber eine E hrfu rch t vor den positiven Lehren des S u p ra n a ­ tu ra lis m u s , welche auch in den „S tu n d e n der Andacht" (1 8 0 9 — 1815) noch gewahrt w ir d ') . W e it bunter ist das B ild des zweiten bis in das vierte J a h r ­ zehnt reichenden Abschnitts.

Jetzt treten schon die kirchlichen und die

P rincipienfragen in den V ordergrund. innerte sich ihres Ursprungs R eform ation

und

der

D ie evangelische Kirche er­

durch die Feier der Gedenktage der

Uebergabe

der

Augsburgischen

Confession.

Aber was die Theilnehm er am kirchlichen Leben sammeln und ver­ einigen sollte,

entzweite sie zugleich,

indem es den Gegenstand ge­

meinsamer P ie tä t entgegengesetzten Erklärungen aussetzte.

W a r es

die R eform ation a ls G ründung der evangelischen Kirche oder n u r a ls Lehre L u th e r'» ,

was einem entfremdeten Geschlecht in seiner

G röße und W a h rh e it zum Bewußtsein gebracht werden sollte?

In

*) Giesel», Kirchengeschichte der »euesten Zeit von Redeperming, S . 305.

444

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

diesem letzteren Sinne benutzte C la u s H a r m s 1817 den öffentlichen A nlaß, indem er den 95 Streitsätzen Luther's ebenso viele andere auf das Glaubensbedürfniß der Gegenwart berechnete zur S eite stellte. D er H arm sisch e Thesenstreit hat dadurch heilsam gewirkt, daß er in den Nächstliegenden Kreisen Biele zu einer persönlichen Entscheidung nöthigte; einen nachhaltigen Erfclg aber konnte er nicht haben, am Wenigsten einen der Absicht des Urhebers entsprechenden. Denn abgesehen von der rohen Verwerfung der Vernunft und des Gewissens forderten die Thesen auch Zurücknahme wissenschaft­ licher Ergebnisse, wie die Trennung der G laubens- und der Tugend­ lehre; was sich längst systematisch bewährt hatte, konnte unmöglich aufgegeben werden. D ie zwischen A m m o n und S c h le ie rm a c h e r gewechselten Controversschriften (1817 und 18) haben den Beweis geliefert, daß jene „bittere Arznei", wenn auch noch so aufrichtig und treulich dargeboten, doch allzu scharf war, um in den O rg anis­ mus der Kirche und Theologie, wie er w ar, einzudringen. S e it­ dem tra t die Sym bol- und Bekenntnißfrage, sei es mit oder ohne Rücksicht auf die Union, in die Reihe der unvermeidlichen Gegen­ stände kirchlicher Discussion. Vergleichen wir diese Verhandlungen, von denen kein Jahrzehnt, ja kaum ein Lustrum der theologischen Literatur verschont geblieben und welche für Preußen durch das J a h r 1834 einen neuen Anstoß erhielten, mit ähnlichen der Auf­ klärungszeit: so ist ein Fortschritt unverkennbar. D ie damalige Beurtheilung war an der gebieterischen Glaubensvorschrift als solcher haften geblieben, die jetzige trat dem Gegenstände näher und führte zu der Einsicht, daß die Bekenntnißschriften auch eine protestantisch­ religiöse T en d en z haben, welche mit den einzelnen dogmatischen Bestimmungen, in welche sie eingekleidet ist, noch nicht steht und fällt. Diese Erwägung erledigt freilich den S tre it nicht, aber er wird doch gründlicher und tiefer, sobald sich ergeben hat, daß mit der bloßen Beseitigung der kirchlichen Zeugnisse ohne Anerkennung ihres religiös-kirchlichen und principiellen W erthes der Gipfel kirchlicher Weisheit und theologischer Erkenntniß noch nicht erreicht sei. D ies wäre das geistige Resultat, welches unter stets wiederkehrenden Ge­ meinplätzen und Ausbeugungen zur Rechten und zur Linken dem

Thesenstreit, Bekenntniß und Union.

445

B etrachter dieser weitschichtigen P olem ik in der Hand bleibt.

Auf

der andern S e ite wiederholte sich auch das alte M ißverständniß, als ob kirchlich und symbolgerecht im m er noch wie vorm als a ls Wechsel­ begriffe

gelten dürften.

Nach ähnlichen Gesichtspunkten wurde der

U nionsstreit ge führt, doch m it dem großen Unterschiede, daß sich dieser um

eine unleugbare Thatsache,

Grundsätze

drehte;

und

nicht um

diese Thatsache

bloße Lehren und

enthält durch sich selber

schon eine bedeutungsvolle Erhebung über die kirchliche Schlaffheit und M uthlosigkeit des vorigen Ja h rh u n d e rts.

M a g die feit 1817

in 's Leben tretende U nion von unglücklichen Umständen begleitet ge­ wesen sein und mancherlei V e rw irru n g e n und Zerwürfnisse im G e­ folge gehabt haben: th e ilt

diese ihre

das kann ihren W e rth

Leiden

m it

andern

nicht herabsetzen;

sie

hochwichtigen Begebenheiten,

deren Schwierigkeit erst nach d e r T h a t erkannt w ird und in deren W a h rh e it das Ganze, dem sie dienen, muß.

erst langsam hineinwachsen

M i t der U nion wurde das Bekenntniß nothwendig verallge­

m eine rt, da sich der Consensus der Confessionen wenigstens dogma­ tisch nicht vollkommen fixire n lie ß ; Gelegenheit,

ergab sich b a ld , sei,

die Theologie aber erhielt neue

sich an den kirchlichen Interessen zu betheiligen.

daß die U nion kein E in fa ll von heut und gestern

sondern einen reichhaltigen historische» H in te rg ru n d

gewährte

also

Es

der

Theologie

geschichte und S y m b o lik ,

einen

Einblick

in

die

habe;

sie

Confessions-

aus welchem ein frischer Z w eig des S t u ­

dium s hervorgehen m u ß te '). Manche andere Angelegenheiten wie Verfassung und L itu rg ie liegen außerhalb der uns hier obliegenden Berücksichtigung.

Das

religiöse Leben w ird v o lle r, das beweisen selbst die Nebenerscheinun­ gen und A usartungen der M ystik und Theosophie, des C hiliaSm us und der Sectenbildung.

D ie Zerstückelung Deutschlands zeigte sich

jetzt wie frü h e r dieser V ie la rtig ke it

des

religiösen

und

kirchlichen

T riebes günstig; sogar die U nion wurde in ihren A n f ä n g e n durch den politischen P a rtic u la ris m u S befördert, denn schwerlich würde sie eine so gesicherte Existenz erlangt haben, wenn sie nicht an verschie') Gieseler, «. a. O. S . 208 ff. S . 152 ff.

Baur, Geschichte der christl. Kirche V,

Neuntes Buch.

44 6

Erster Abschnitt.

denen O rte n nach einander selbständige W urzeln hätte fassen können. Dagegen w a r das protestantische Deutschland

außer S ta n d e ,

den

Fortschritten der katholischen und päpstlichen Kirchenmacht ein ein­ heitliches Handeln entgegenzusetzen.

D e n n daß das Papstthum von

der M e h rh e it der deutschen Concordate auch V o rth e il zog, daß der Jesu itism u s au f's Neue sein H a u p t erhob,

daß

die französischen

Protestanten nach der Rückkehr der Bourbonen den alten Ketzerhaß empfinden mußten, daß den Waldensischen Gemeinden ein verstärkter hierarchischer Druck auferlegt w u rde , daß die V e rtre te r eines reine­ ren und friedlich gesinnten K a th o licism u s, wie W e s s e n b e rg , D a l ­ b e rg und S a i l e r , dem Andringen des U ltra m o n ta n ism u s weichen mußten, daß endlich nach den K ölne r W irre n der confessionelle E ife r, der lange Z e it erkaltet gewesen, zu feindlicher S pann un g erstarkte, — sind bekannte Thatsachen, und soweit sie Deutschland betreffen, sind sie durch den M angel einer einheitlichen H a ltu n g auf S eiten der deutsch-protestantischen Kirchenpolitik erleichtert worden. A ls Uebergang zum Folgenden scheinen noch einige Bemerkungen über den G ang der theologischen L ite ra tu r in den einzelnen D is c i­ p line n am Platze zu sein.

S ucht m an nach einem allgemeinen N a ­

men fü r das V e rh ältn iß der neu angeregten theologischen Forschung zu der frü h e re n : so weiß ich keinen andern als den der zunehmenden G r ü n d lic h k e it .

W e r historisch-kritisch verfahren w ill,

O bject auch in seiner Eigenheit kennen und gelten lassen. gänger in

soll sein D ie V o r ­

der Exegese und biblischen Theologie hatten sich A lle s

leicht gemacht,

zufrieden die biblischen B eg riffe in geläufiger Weise

zu ru b ric ire n ; sie waren weit abgetreten von ihrem Gegenstände, jetzt w urde es n ö th ig , m it diesen w a h rh a ft ve rtra u t zu werden, d a m it das B iblische, wenn auch a ls ein historisch und menschlich Entstan­ denes,

doch in der F ü lle und O rig in a litä t seines Geistes erkannt

werde.

E in

Buch w ie das T e lle r's c h e

Lexicon m it seinen w e it­

schichtigen D efinitionen läßt sich gar nicht mehr in dieses Z e ita lte r versetzt denken.

Auch Werke wie

sam m t den Fortsetzungen

das Neue Testament von K o p p e

von T h c h s e n ,

Am m on,

H e in r i c h s ,

P o t t (seit 1778) und K u in o e l'S Commentare in ih re r nüchternen B re ite hängen noch ganz an dem S ta n d p u n kt der vorigen exegetischen

Exegetische uttb kritische Literatur.

447

Epoche. Eine Verbesserung des hermenentischen Verfahrens konnte in mehrfacher Weise erzielt werden, entweder durch geistreiche Her­ vorhebung des Einzelnen in Tholuck'scher Art, oder durch er­ schöpfende Reproduktion eines Ganzen wie bei B leek und Lücke, oder endlich durch Feinheit und gehaltvolle Kürze der Auslegung wie bei de W ette. Aehnliche Fortschritte werden sich auf Seiten des Alten Testaments nachweisen lassen, wo aber die R o se n m ü ller'schen Scholien (1788— 1817) für längere Zeit eine solide Grundlage darboten. Die Philologie sollte nicht mehr die alleinige Herrin der Auslegung sein, und dennoch leistete sie weit mehr als früher, da jetzt erst zu genauer Ermittelung des neutestamentlichen Idiom s Anstalt gemacht wurde, wobei denn auch die durch G r i e s ­ bach gereifte diplomatische Kritik hülfreich zur Seite stand; denn diese beschäftigte noch viele Hände, bis sie zuletzt wenigen Talenten und Liebhabern neidlos abgetreten worden ist. D as nächste Geschäft der biblischen Wissenschaft war die Verdeutlichung der neutestament­ lichen Charaktere und Lehrbilder. Der Hebräerbrief trat den P au­ linischen in selbständiger Haltung und Zweckbestimmung zur Seite; die synoptischen Evangelien wurden bei aller Verwandtschaft doch zu sachlich und sprachlich überall erkennbaren Individuen. Gelehrte wie D . S c h u lz ') verwendeten ausgezeichneten Fleiß und Scharfsinn auf diese innere Vergleichung und verfolgten sie bis in die Einzelheiten des Sprachgebrauchs. Nehmen wir hinzu, daß die Evangelienkritik durch E ic h h o rn 's, G ie s e le r 's , H u g 's und S c h le ie rm a c h e r's Hypothesen und selbst durch B re ts c h n e id e r's Probabilia (1820) in ihre tieferen Probleme eingeführt wurde: so ergab sich für die Einleitungswissenschaft ein beträchtlicher Gewinn, welchen de W e tte 's Lehrbuch veranschaulicht und mit gehaltvoller Präcision zugänglich gemacht hat. I m Vergleich zu diesen Studien steht die biblische Theologie noch zurück» und U s te ri's Paulinischer Lehrbegrifs (1824) darf als die erste bedeutende Leistung auf diesem Felde bezeichnet werden. ') Vgl. über diesen meine« Lehrer meine Bemerkungen in der Borrede zu Schleiermacher'« Briefwechsel mit Gaß, S . 54.

Neuntes Buch.

448

Erster Abschnitt.

W a s die übrigen D is c ip lin e n b e trifft: so waren die praktischen theilweise liegen geblieben, sie bedurften am Meisten einer wärmeren Behandlung.

Aber auch in das historische S tu d iu m kam durch die

erwachende Liebe zum kirchlichen A lte rth u m die allseitig treue,

ein neues Leben.

Für

sorgfältig sammelnde und den V e rla u f m it ge-

wisserhafter und keineswegs geistloser Theilnahm e begleitende Ueber­ lieferung des historischen S to ffs w a r S ch rö ckh der ehrwürdige Re­ präsentant gewesen; fü r den historischen P ra g m a tism u s waren es H e n k e , P la n c k und S p i t t l e r . die Aufgabe

D ie drei Letztgenannten ergriffen

der neueren historischen K unst;

sie stellten

Gegenstände m it scharfer Beobachtung gegenüber, und fast abgeneigter S tim m u n g ,

sich dem

H e n ke in kühler

S p i t t l e r m it großem politischen

Verstände, P la n c k anziehend und echt historisch, abgesehen von dem schon

oben

gerügten Fehler.

nach dem Maaßstabe

D ie N eigung,

der G egenwart

das Vergangene n u r

zu beurtheilen,

herrscht v o r;

aber auch die liebevolle Hingebung an die Vergangenheit gehört zur Aufgabe der Geschichtschreibung, und dam als w a r sie an der Z eit. F ü r diese Richtung ist N e a n d e r a ls der D a rste lle r des religiösen Lebens, des religiösen und des sittlichen wie des wissenschaftlichen in seinem ganzen Umfange, Neander

bahnbrechend geworden;

und

wenn

auch

bei der Vergegenwärtigung der alten Kirche und Theo­

logie und ih re r Persönlichkeiten in allzu große Gemüthsweichheit ver­ fallen ist:

so stand ihm doch sein echter prunk- und makelloser Ge­

lehrtencharakter jederzeit hülfreich zur S eite, sowie seine B ere itw illig keit, die historischen Erscheinungen gelten zu lassen a ls das was sie sind. G ie s e le r aber wurde der A n fü h re r einer objectiven au f E rm itte lu n g des Thatsächlichen und sichere Quellenkunde gebauten historischen E r ­ kenntniß.

D a ß auch die Reformationsgeschichte wieder m it Vorliebe

aufgesucht wurde, beweisen nicht n u r P la n c k 's und M a r h e in e k e 's zugehörige S chrifte n, sondern auch die Herausgabe der Werke Luth e r's , M e la n th o n 's, Z w in g li'S und C a lvin 'S , wiewohl man hinzu­ setzen m uß,

daß diese neuen Ausgaben

lange Z e it mehr m it V e r­

gnügen angesehen als gründlich benutzt worden sind.

Höchst w e rth voll

erwies sich um dieselbe Z e it das durch P la n c k , W in e r und M a r h e in e k e erneuerte S tu d iu m der S y m b o lik ; denn was sich a ls ver-

Theol. Literatur. Sittenlehre.

449

einzelnde und zerstückelnde Polemik ausgelebt hatte, sollte bei histo­ risch-comparativer Methode für das Verständniß des in den Haupt­ kirchen ausgeprägten Lehr- und Lebensgeistes große Dienste leisten. Theils wurde die historische Bedeutung der Confessionen tiefer er­ kannt, theils nachgewiesen, in welcher Weise sie mit dem kirchlichen Bewußtsein der Gegenwart noch zusammenhängen. Am Meisten hat die Untersuchung der reformirten Theologie in ihrem Verhältniß zur Lutherischen den comparativen Scharfsinn in Bewegung gesetzt, und gerade von diesen feineren Vergleichungen, wie sie nachher U llm a n n , H u n d e s h a g e n , S chw eizer und S chneckenburger an­ stellten, wird man nicht sagen können, daß sie den Geist der kirch­ lichen Einigung beeinträchtigt haben. Die Sittenlehre war in den Vorkantischen Bearbeitungen fast zerfallen; es zeigte sich, daß sie noch keinen festen Körper hatte und der wiffenschaftliche Geist war nicht stark genug, um den Mangel der Tradition zu ersetzen. D er Vortrag der M oral blieb entweder ganz an den biblischen Elementen haften, oder ging in ein unbedeu­ tendes und halbphilosophisches Raisonnement über. W as R e in h a rd in seinem fünfbändigen Werk (1788— 1815) leistete, sollte durch Reich­ thum der Stoffsammlung und psychologischen Verstand, nicht durch systematische Gestaltung einen bleibenden Werth behaupten. Während dieser K antischen Epoche ist der Gang der Entwicklung schon aus dem der Dogmatik erkennbar und demselben parallel; die von uns genannten K antischen Dogmatiker wie I . W. S c h m id , S t ä u d l i n , A m m on, T ie ftru n k traten auch als Moralisten auf, und F ich te'S sittlicher Standpunkt fand in E. C h r. S ch m id seinen theologischen Darsteller. M an sollte glauben, daß die K antischen Grundsätze sich auf diesem Gebiet länger hätten aufrecht erhalten müssen, denn K a n t hatte ja der Sittenlehre eine Metaphysik ge­ geben, die er der Glaubenslehre gerade entzog. Allein K a n t'S Moralprincip, so absolutistisch es auftrat, hatte doch mit dem prak­ tischen Bedürfniß menschlicher Glückseligkeit, welches den Zugang zur Religion offen ließ, nicht brechen wollen, war also von einer innern Duplicität nicht frei geblieben. Auf den ersten kühnen Aufschwung folgten bald Milderungen jener starren Gesetzlichkeit. Die Dogmatik Gesch. d. Protest. Dogmatik IV. 29

450

Neunte« Buch. Erster Abschnitt.

gab sich nicht völlig an die M oral preis, sondern zog diese allmäh­ lich an sich heran, so daß gerade M änner wie S t ä u d l i n und A m m on in ihren späteren Beiträgen zur Sittenlehre sich mehr mit der religiösen Grundansicht befreundeten. A m m on wurde durch fein Handbuch von 1823—29 der gewandteste Vertreter des verbesserten eklektischen Standpunkts; seinem Rationalismus aber stellte die T ü­ binger Schule durch F l a t t (1823) ihre strenger biblische und supra­ naturalistische Bearbeitung des Gegenstandes gegenüber. I n allen diesen Schriften kreuzen und mischen sich die theologischen und phi­ losophischen Eigenschaften oder Differenzen; zu einer Abgrenzung kam es hier noch weniger als auf dem dogmatischen Gebiet, und grade die allgemeine Grundlegung erschien so unzureichend, daß für eine» M ann wie S chleierm acher der Versuch nahe liegen konnte, durch eine fast radicale „Kritik aller bisherigen Sittenlehre" (1803) mit der älteren wissenschaftlichen Ueberlieferung zu brechen'). Die Regungen eines erneuten sei eö wissenschaftlichen oder reli­ giösen StrebenS vertheilen sich sehr ungleich auf die verschiedenen Fächer, sie fehlen nirgends. Die Fortbildung der theologischen Disciplinen verräth einen d o p p e lte n Trieb, der eine giebt allen Untersuchungen eine tiefer eindringende Gründlichkeit, indem er an das bisher Geleistete anknüpft; der andere ist ergänzender und er­ weiternder Art und führt über die liebgewordenen Maximen und Schranken hinaus. Beide dienen dazu, die Theologie und ihr S tu ­ dium über die Stufe des vorigen Jahrhunderts zu erheben; die mit dem letzteren Triebe verbundene R e a c tio n hielt sich meistens noch in gesunden Grenzen, denn sie begünstigte eine allseitige Wirksamkeit und Vertretung des protestantischen Geistes, zu welcher eS auch ge­ hörte, daß der Standpunkt des Supranaturalism us, weil er nicht entwerthet, noch vollständig gewürdigt war, ebenfalls fortgesetzt wer­ den mußte. Doch ist das Ende unseres Abschnitts durch einige Vor­ fälle bezeichnet, welche einen weit härteren Rückschlag und schwere Gefahren für die wissenschaftliche Freiheit vorausverkündigten. D a ­ hin gehören die Hahn'fche Disputation von 1827, in welcher der *) Vgl, Schmid. Christi. Sittenlehre vou Heller, S . 102 ff.

Literarische Kritik und Zeitschriften.

451

Rationalism us m it Unrecht der bloßen Bernunftreligion und dem N atu ralism us gleichgestellt wird, und die bekannten Denunciationen gegen G e s e n iu s und W e g sc h e id e r (1830). I n diesen Jah ren wächst und verdoppelt sich die Reibung. D ie ganze theologische Li­ teratur zerfiel in entgegengesetzte Lager. M it dem J u li 1827 w ar die „Evangelische Kirchenzeitung" in's Leben getreten, und nach ihren besseren Anfängen wurde sie bald zu schroffer Ausschließlichkeit und richterlicher Anmaßung fortgetrieben. I h r gegenüber diente die in demselben J a h re eröffnete „Allgemeine Kirchenzeitnng" dem R atio­ nalism us nach seinen Abstufungen; in den mittleren R aum zwischen diesen Parteirichtungen stellten fich seit 1828 die „Theologischen S tudien und Kritiken", und da sie Frömmigkeit mit gediegener Wissenschaftlichkeit verbinden und nach einer gelegentlichen Aeußerung S c h le ie r m a c h e r 's keine S tudien ohne Kritiken geben wollten und keine Kritiken ohne S tu d ien : so fiel ihnen eine schöne Mission zu. D ie kritische Vielthätigkeit wuchs durch den Z u tritt der allgemeinen Literaturzeitungen, zumal der Hallischen und Jenaischen, aber es ist wohl erinnerlich, daß das Recensionswesen viel zu sehr überhand nahm, um nicht den Gefahren einer leichten In d u strie zu verfallen.

II.

D er

g e w ö h n li c h e

R a tio n a lis m u s .

B r e t s c h n e id e r und W e g sc h e id e r. I n der systematischen Literatur als solcher hat der Wechsel deS Jah rh u n d erts zunächst keine bedeutenden S p u re n zurückgelaffen. D er R ationalism us setzte den eingeschlagenen Weg fort und befestigte sich auf ih m , erst jetzt erreichte er diejenige Gestalt, in der er historisch geworden und während der ersten beiden Decennten in großem Um­ fange, als bedeutender F actor aber weit länger geherrscht hat. D ie protestantische Dogmatik w ar nun schon eine alte Wissen­ schaft geworden. I h r e letzten Schicksale hatten sie sich selbst sehr unähnlich gemacht, w ir müssen also fragen, auf welche Weise es ihr dennoch möglich geworden ist, sich in der Continuität des System s fortzupflanzen.

D ies ist durch Zweierlei geschehen, erstens durch 29 *

452

Neunte« Buch. Erster Abschnitt.

Fortführung der altkirchlichen T radition und sodann durch Schonung der bisherigen systematischen Anlage sowie der wichtigsten religiösen Grundbestimwungen.

D ie aufklärende K ritik hatte sich des hinter

ih r liegenden Ballasts entledigen wollen, allein der wieder erwachende historische S in n zog diesen heran und ließ auch, was der Glaube auf­ gegeben oder verkürzt hatte, fü r den Zweck einer unentbehrlichen ge­ lehrten Kenntnißnahme fortbestehen. D a ra u s ergab sich das von den Schriftstellern einzuschlagende Verfahren,

daß sie nämlich in jedem

Abschnitt auf die unveräußerliche biblische Grundlage,

in

zweiter

Rubrik die dogmenhistorischen M ittelglieder, in d ritte r die allkirch­ lichen Erklärungen sammt ihren späteren Folgerungen oder D eutun­ gen bis zum Schlußurtheil des Verfassers folgen

ließen.

Denn

ig n o rirt soll nichts werden, auch nicht das A lte und Unbrauchbare, und

der Rationalismus ist ehrlich genug, auch dem Gegner die

M itte l zu seiner eigenen Controle darbieten zu wollen.

Unter B r e t -

sch n e ide r'S und W e g s c h e id e r'S Händen wurde daher die D og­ matik zu einer Geschichte ih r e r se lb st, die in jedem A rtikel m it kritischen Observationen abschließt; theilweise ist sie das noch jetzt und sie darf es sein.

A llein die damalige Behandlung des histori­

schen Lernstoffs w ar allzu gedächtnißmäßig.

Theils dienten die a lt-

kirchlichen M aterialien als Füllartikel, weil sie den größeren Raum einnahmen, theils veranlaßten sie den Schriftsteller, Leistung lediglich in

der Form

Schlußerklärung vorzuttagen.

feine eigene

einer kritischen Unterschrift oder

Es ist nicht gut, wenn der Dogma­

tiker nicht anders zu W orte kommt denn als K ritiker bereits abge­ schlossener und hinter ihm liegender Lehrbestimmungen, er entzieht sich dadurch die Gelegenheit zu eigener freier Gedankenentwicklung. S o sehr also auch im Einzelnen fü r exegetische und historische E r ­ läuterung und Vergleichung gesorgt werden mochte: die dogmatische Arbeit vertheilte sich doch wesentlich in die beiden Geschäfte theils der Relation, — denn das A lte läßt sich nur noch referiren, — und der K rittk ;

zu einer reproducirenden Darstellung konnte eö nicht

kommen. E in zweites Bindem ittel lag in der Aufrechterhaltung der systematischen Ordnung.

Z w a r der Schwerpunkt des Ganzen ver­

änderte sich, denn er rückte aus der Soteriologie in die allgemeine

Methode des gew. Rational. Bretschneider.

453

Gotteslehre als die Basis der christlichen Religion; übrigens aber blieb die Reihenfolge der Artikel und der Umriß der Glaubenslehre unverändert. Ebenso entschieden wurden die religiösen Grundbegriffe im Gegensatz zu den allgemeinen Gefahren des kirchlichen Glaubens festgehalten. Pietismus und Mysticismus werden zwar anders auf­ gefaßt, aber ebenso scharf wie einst von Löscher zurückgewiesen, und was den Pantheismus betrifft: so hat sich gerade dieser Standpunkt vor jedem Gerüche desselben mit hhperkirchlicher Empfindlichkeit ab­ gewendet; der Vorwurf des Antichristlichen ist von Männern wie B retsch n eid er oft genug gegen M arh ein ek e und S c h le ie r ­ macher wiederholt worden. Aus dem Folgenden wird erhellen, daß der Rationalismus d ieser A rt zwar h äretisch, aber nicht h eterod ox war, und daß er mit seiner kritischen Tendenz doch eine schonende Anhänglichkeit an die gebahnten Wege verband. Standhaft und gründlich in seinen Grenzen liefert er eine kritische Reduction des Gegebenen, aber ohne ergänzende und umbildende Neuerungen. Originalität haben wir nicht von ihm zu erwarten, und seine begrtffsbildende und an­ schauende Denkthätigkeit hält nicht gleichen Schritt mit der ur­ theilenden. Bon K a rl G o ttlie b B re tsch n e id e r') ist bekannt, daß er nicht ganz in diese Kategorie gehört, sondern nur einen Uebergang zu ihr bildet. Dieser vielthätige, geschickte und ungemein kenntnißreiche Schriftsteller hat als Herausgeber des Corpus Reformatorum, als Verfasser der scharfsinnigen Probabilia über das Johannesevan­ gelium (1823) und des neutestamentlichen Lexikons und als rüstiger Bekämpfer einer unbedingten Symbolverpflichtung großen Anspruch an unsere Dankbarkeit; aber er würde einen bedeutenderen Namen hinterlassen haben, wenn er auf seine Hauptaufgaben mehr verwei­ lende Kraft verwendet und wenn er nicht gegen Ende seines Lebens sich in eine für einen Gelehrten unrühmliche Schreiberei eingelaffen ') Geb. 11. Febr. 1776 zu Gersdorj im Schöuburgischen, von 1816 bis z« seinem Tode am 22. Jan. 1848 Generalsuperintendenl zu Gotha als Löffler'« Nachfolger. Seine Selbstbiographie „Aus meinem Leben" erschien in Gotha 1851.

464

Neunte- Buch. Erster Abschnitt.

hätte'). Seine zahlreichen Schriften begleiten uns durch vier Decennien (1805 bis 1847); das giebt ihnen einen historischen Charak­ ter, denn B re tsc h n e id e r hat sich mit S c h le ie rm a c h e r, M a r h e in e k e ') und S t r a u ß auseinandergesetzt, über Deutschkatholiken, Römlinge und evangelischen Pietismus und Altgläubige erklärt, und erlebte es zuletzt noch, selbst zu den „Verschollenen" gezählt zu wer­ den. Aeltrre und jüngere Elemente verbinden sich in ihm, auch innerlich zeigt sich ein Uebergang, da B re tsc h n e id e r späterhin entschiedener auf die Seite des gewöhnlichen Rationalismus gedrängt wurde; aber das Bestreben, die Aussprüche der erleuchteten Vernunft mit einer göttlichen Auctorität in Einklang zu bringen, hat er jeder­ zeit festgehalten. Als Dogmatiker war er mehr Gelehrter und Sam m ler als selbständiger Denker, darum hat er auch in der „Systematischen Entwicklung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe (4. Ausl. Lpz. 1841)", wo es ihm gelang, einen Stoff, den er als gänzlich zerfahren und weit auseinander liegend vorfand, über­ sichtlich zu machen und für den Zweck des Studiums zuzubereiten, — von seinem Talent den glücklichsten Gebrauch gemacht. Bekanntlich ist dieses Hülfsmittel sehr brauchbar und dankenSwerth. I n seiner eigenen Dogmatik schließt er sich an A m m on'S Summa, die jedoch weit interessanter geschrieben ist, ungefähr an. Die Verbindung mit der kirchlichen Lehranlage soll nicht abgebrochen, daS altprotestantische System mit der späteren Scholastik nicht verwechselt, der Rückblick in das patristische Zeitalter und dessen freiere Ansichten, z. B. über Sünde und sittliches Vermögen, offen erhalten, der Zusammenhang des Evangeliums mit der alttestamentlichen Grundlage, welchen S ch leierm ach er lockern wollte, anerkannt und gepflegt werden. D ie Bearbeitung des Biblischen hat hier das meiste Verdienst. ES wäre unbillig, mit B re tsc h n e id e r über Einzelnes, was wir jetzt besser verstehen, — z. B . wenn daS Princip der alttestamentlichen *) D ie Belege zu dieser Anklage sind leicht zu finden. Z u seinen schwäche­ ren Arbeiten rechne ich die „Grundlagen des evang. Pietism us." Lpz. 1833. *) Ueber Beide findet sich ein kritischer Abschnitt in dem Handbuch der D og­ matik I, S . 93 ff., der doch gründlicher ausgefallen ist als Wegscheider's gelegent­ lich« Bemerkungen.

455

Bretschneider's Dogmatik und beten Grundsätze. R e lig io n als b lo ß e r M on othe ism us gefaßt w ir d , — w ollen;

es genügt,

rechten zu

ih n über das Wesen der D o gm a tik und deren

Geschäfte zu vernehmen.

D a s alleinige Ansehen der h. S c h rift, ge­

nauer des Neuen Testaments, und die E rlösung durch C hristum als ein unwiederholbares und jede suppletorische S a tiS fa ctio n ausschlie­ ßendes Factum Kirche;

da

bezeichnen

aber

der

die Fundamentalsätze

der

evangelischen

zweite aus dem ersten hervorgeht:

so drückt

schon die in der h. S c h rift e n t h a lte n e O ffenbarung das protestan­ tische P rin c ip a u s ') .

D ie s

aus

ih r

geschöpfte System

soll

aber

wissenschaftlich be urthe ilt und verarbeitet werden, es unterliegt daher einer dreifachen, dogmatisch vergleichenden, historischen und philoso­ phischen B e u rth e ilu n g , erkennenden Geistes

a ls

und das

diese letztere muß au f die Gesetze des uranfänglich W ahre gegründet,

aber

auch an die jedesmalige Weltanschauung a ls die praktische S e ite der Gottesidee angeknüpft werden. D ie O ffenbarung ist göttlich gewirkte M itth e ilu n g höherer religiöser Einsichten.

I h r e M öglichkeit ist ein­

zuräumen, wenn nicht G o tt zum müßigen Zuschauer der D in g e ge­ macht werden

soll;

ihre Nothwendigkeit

bedarf

keines

Beweises,

genug wenn sie thatsächlich gegeben ist und wenn G ründe vorliegen, aus

denen

ih r

unentbehrlicher W e rth erhellt.

F ü r diesen spricht

aber zunächst die G e sch ich te d e r V e r n u n f t b i ld u n g .

D ie E r ­

ziehung zur religiösen Erkenntniß ist stufenweise e rfo lg t, und im m er stammte sie aus derselben Q u e lle ,

der höchsten V e rn u n ft oder dem

Logos und dem h. G eist, von denen daher auch die h. S c h rift alle Erleuchtung auch in B e tre ff des Schönen herleitet. höheres S ta d iu m dem tieferen folgte:

W enn nun ein

so muß die M itth e ilu n g der

Erkenntniß als vollendet angesehen w erden, sobald alle in der V e r­ n u n ft

angelegten

religiösen Id e e n

entwickelt und alle Bedingungen

eines religiösen Lebens erreicht waren.

D ie s ist abschließend durch

*) Bretschneider'S Handbuch der Dogmatik, 4. Aufl. Lpz. 1838. I, © .6 0 ff. Sehr einseitig findet Br. die Quelle aller dogmatischen Irrthümer in der alten Herrschaft der Priesterbegriffe und sagt von Luther, daß außer der Schristnorm die einmalige genugthueude Versöhnung der feste Punkt gewesen sei, von welchem au» er die Reformation geleitet habe, I, S . 54. Aber diese Lehre für fich allein hat Luther noch nicht zum Reformator gemacht.

Neuntes Buch.

456

Erster Abschnitt.

Christus geschehen; von ih m an ist eine anderweitige V e rm itte lu n g des G öttlichen durch ausgezeichnete Persönlichkeiten nicht zu e rw a r­ te n ; es kann keinen E rlöser außer ih m geben, darum w a r auch seine Persönlichkeit

selber

in

geistiger

Beziehung

die

vollendete').

Je

mehr nun die W ahrh eit, welche w ir ih m verdanken, in unseren Geist e in d rin g t: desto eher w ird ein Z eitpunkt eintreten, wo eS kaum noch möglich ist, unsere eigenen Gedanken von dem I n h a lt der christlichen O ffenbarung zu unterscheiden.

R a tio n a lism u s und S u p ra n a tu ra lis -

mus gehen a u f dieselbe W u rze l zurück;

es

ist

wesentlich dasselbe,

was der eine a ls höchste B lü th e der V ernunfterkenntniß , der andere als göttlichen U nterricht betrachtet,

und

verhält

es sich so:

dann

fo lg t auch, daß die O ffenbarung zwar ra tio n a l UnerweislicheS, aber nichts Widersprechendes noch Unbegreifliches m ittheilen d a rf,

w e il

dieses keine Verknüpfung m it anderen Vorstellungen erlauben w ü rd e '). B is soweit t r i f f t diese D eduktion m it ähnlichen der vorigen Epoche zusammen.

Hiernach wäre die O ffenbarung n u r die höchste S tu fe

der durch göttliche Erziehung gesteigerten V e rn u n ftb ild u n g und C h ristus deren V ollender.

Aber wie verh ält sich denn diese zu andern F o rt­

schritten menschlicher Wissenschaft, die doch ebenfalls unter göttlicher Leitung sich entwickelnd gedacht werden m uß? und wie erklärt es sich, daß dennoch aus dieser erleuchtenden O ffenbarung so vie l Unfaßliches hervorgegangen ist, wenn wirklich die V e rn u n ft n u r zu dem Vollbesitz ih res Jdealgehalts hat erhoben werden sollen? D aS bleibt ungewiß, und darum muß denn auch in dem B e d ü rfn iß einer k irc h lic h e n G e m e in s c h a ft ein zweiter Gesichtspunkt zu H ü lfe genommen w er­ den,

denn,

sagt B r e t s c h n e id e r ,

jede O ffenbarung

muß sich an

*) Handbuch bet Dogmatik, I, 219. Vgl. Ammon's Fortbildung der Christenthums, I, 66. s) Handbuch I, S. 243. „Aber auch das über unsere Fassungskraft Hinaus­ gehende, das Unbegreifliche, dessen es für uns, weil unser Erkenntnißvermögen beschränkt ist, gar Vieles geben kann, kann nicht Inhalt der Offenbarung {ein, weil wir es nicht mit anderen Vorstellungen verknüpfen und dasselbe uns nicht aneignen könnten, mithin es ein un» fremdes bleiben müßte." Das kann aber doch nur von dem Undenkbaren gesagt werden; denn auch die Begriffe Gott, Schöpfung und Vorsehung gehen über die menschliche Fassungskraft hinaus und dürsten somit ebenfalls nicht znm Inhalt der Offenbarung gerechnet werden.

Bretschneider's Dogmatil, deren Tugend und Fehler.

457

Thatsächliches anschließen, und ohne diesen Anschluß scheint die S t i f ­ tung eines Gesammtlebens etwas Unmögliches zu sein').

D e r D og­

matiker verbindet also m it dem intellectuellen noch einen zweiten und nicht minder nothwendigen Factor, er verbessert nach K a n t'S A n ­ leitung den bloß scientifischen Rationalismus.

M i t Recht nim m t er

eine Synthese an, aber die Verbindung von vernünftigen Gedanken einerseits und göttlicher Bürgschaft andererseits bleibt doch eine höchst unvollkommene, eö ist eine Komposition ohne Bindeglied, und dieses kann doch nur in der Annahme eines grundlegenden sittlich-religiösen Im pulses gefunden werden.

D a s Thatsächliche, das er zu H ülfe

nim m t, dient ihm nur dazu, den V e rnunftinhalt m it seiner Auctoritä t zu stützen, nicht aber ihm Gestalt und Richtung zu geben. Ideelles und FactischeS stehen äußerlich neben einander, ohne auf einander bezogen, ohne auf ein Gemeinsames und Principielles zurück­ geführt zu werden, damit sich ergebe, vo n w e l c h e r A r t die intellectuelle M itth e ilu n g sei und wie sie zur Vernunstthätigkeit als solcher in Beziehung trete.

D ie sittlich-praktische N a tu r deS Christenthums,

sofern eS ein bestimmtes Verhältniß des Menschen zu G o tt constitu irt, auf welches das Denken und Handeln eingehen soll, w ird nicht anerkannt, also ein B ild der christlichen Religion nicht gegeben. D ies scheint der auch von Anderen gerügte Hauptfehler dieser Construction. Z w a r erwähnt der Verfasser auch bestimmtere Ideen wie die der E r ­ lösung, aber er läßt sie wieder fallen, und was nachher das dogma­ tische System wirklich b rin g t, darauf werden w ir in der Einleitung nicht vorbereitet, sondern bleiben in der allgemeinen E rw artung, eine Reihe von religiösen Aufschlüssen unter göttlicher A uctorität empfan­ gen zu sollen.

D a m it hängt noch ein anderer Umstand zusammen,

daß w ir nämlich in Ungewißheit gelassen werden, ob auf den b ib li­ schen Unterricht als solchen oder auf die historischen Erscheinungen, von denen er Zeugniß giebt, das größere Gewicht zu legen sei. Ge­ lungener ist der folgende Abschnitt von der Beglaubigung der christ­ lichen Offenbarung,

in welchem manche ältere Argumente in ver-

*) Handbuch, I, S . 220.

458

Neunte« Buch. Erster Abschnitt.

Bessertet Gestalt wiederholt werdenl). D er W erth des weitläuftigen Werks wird hauptsächlich in den speciellen Erörterungen, nicht in der religiösen oder wissenschaftlichen Grundauffassung zu suchen sein. Kein Dogmatiker ist mit dem Namen des Rationalism us enger verbunden als J u l i u s A ugust L u d w ig W eg sch eid er; das An­ denken dieses M annes knüpft sich an die Institutio theologiae christianae dogmaticae, neben welcher feine übrigen Schriften nicht in Betracht kommen. E r w ar ein Schüler H e n k e 's , diesem aber an Begabung und schriftstellerischer Kraft entschieden untergeordnet, doch übertraf er ihn wie E ck erm an n durch die größere Abgeschlossen­ heit des System s. E r selbst erklärte sich für den ersten consequenten Rationalisten, und sehr Wenige sind ihm als S y s te m a tik e r völlig zur S eite getreten. Reinlicher und unumwundener hat gerade diesen Standpunkt kein Anderer vertreten, und das müßte doch sehr auffallen, wenn wirklich das wissenschaftliche Princip, welchem er huldigt, keinen anderen Ausdruck gestattete als diesen. Doch hat eben diese in sich geschlossene Entschiedenheit dem Werke nach einer Verbreitung durch acht Auflagen*) eine historische Wichtigkeit und die überall durchblickende und durch die Persönlichkeit der Verfassers außer Zweifel gestellte Achtbarkeit der Gesinnung zugleich eine mo­ ralische gesichert. W egscheid er ist einiges Talent für daS Syste­ matische nicht abzusprechen, dar zeichnet ihn aus vor D . S ch u lz, welcher ihm seinerseits an exegetischem S in n , kritischer Selbständig­ keit und an geistiger Lebhaftigkeit überlegen war. W eg sch ei d e r 's philosophische Bildung gehörte durchaus der K an tisch en Schule an, aber seine philosophische Kenntnißnahme reichte viel weiter. Außer der sehr vollständig benutzten dogmatischen Literatur hat er auch die der Religionsphilosophie sammt den Schriften yon K ö p p en , K ru g , *) Bon den Wundern wird I, S . 3 0 5 ff. gesagt, daß sie ihre Weihe al« gött­ liche Wunder zwar erst von dem göttlichen Werke, für da« sie geschehen, empfan­ gen, „aber sie unterstützen doch wieder den Glauben an die Göttlichkeit diese« Werk«. S ie bilden daher keinen strengen logischen Beweis, aber doch einen subjectiven." 2) D ie erste 1815, die letzte 1844. D ie beigegebene Sam m lung der D icta probantia hat weniger Verbreitung gesunden.

Wegscheider'» Institutio, allgem- Charakter.

459

B outerw eck, B ocksham m er, G erlach , M e in e rS u. A. stets herbeigezogen, und wenn man bei dieser notizenhaften Berücksichtigung eigentlich nichts in seiner Art kennen lernt: so liegt die Schuld an der F o r m eines Lehrbuchs, welches alle Vergleichungen und Neben­ beziehungen aus dem Text in ein buntes Mosaik der Anmerkungen verbannt. Die auf dieses Lehrbuch gebauten Vorlesungen waren völlig reizlos, wie ich aus Erfahrung weiß, wirkten aber dadurch unterrichtend, daß der Docent nach allen Seiten hin noch etwas „beizubringen" wußte. Bei guter Latinität und präciser Darstellung folgt das Ganze dem schon oben von uns angegebenen SchemaBiblisches, Dogmenhistorisches und Kirchliches sind die Bestandtheile jedes Lehrstücks; sie werden unabhängig von einander mit Genauig­ keit und Treue hingestellt, und nicht leicht ist der Erklärer in Ge­ fahr, einer Schriftstelle zu seinen Gunsten Gewalt anzuthun. W as er dann selbst hinzubringt, ist die E p ik risis als das endgültige Urtheil der „richtig geleiteten" Vernunft, welches zuletzt mit den seiner Ansicht günstigen Bibelzeugnissen unterstützt wird. W eg ­ scheider war geschworener Feind alles Umdeutens, Unterlegene oder Modernismus, daher seine Lieblingsfrage unde nosti? so oft er fand, daß ein Schriftwort über seinen Inhalt hinaus interpretirt worden war. Demgemäß will er auch von dem Dogma ein „reines Bild" geben; er hält dabei die authentisch genaueste Relation auch für die objectivste, was sie doch nicht immer ist, sondern nur dann, wenn mit den Theilvorstellungen des Gegenstandes zugleich der S inn des Ganzen und der Boden, auf welchem es erwachsen ist, zum Verständniß gebracht wird, damit nicht der Buchstabe lediglich als trennende Schranke wirke. I n dieser geistigeren Beziehung fehlt es ihm an Objectivität, und H a se hat die ältere Kirchenlehre zwar nicht richtiger, aber wahrer vorgetragen. Wo nun der Dogmatiker selbst das W ort ergreift, argumentirt er scharf, aber mit einer abstract logischen Dialektik. Eine logische petitio principii, ein entdecktes Hysteron-Proteron bezeichnet seine Siege, obgleich diese Fehlschlüsse, rein logisch angesehen, auch vermieden werden können, sogar der be­ rühmte Cirkel der alten Jnspirationslehre, in welcher aus Stellen wie 2. Tim. 3. 16, 2. Petr. 1, 21, welche die Eingebung des Alten

460

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

Testaments behaupten, auf diese selbst und zwar für die ganze h. Schrift geschlossen wird. Wo aber eine Lehre als untriftig im All­ gemeinen bezeichnet werden soll, beruft er sich gern auf die aetas incultior, aus welcher sie stammt, oder aus rudioris aevi commenta und läßt dann solchen Satzungen die aana ratio als alleiniges Correctiv gegenübertreten. D a s sind aber Kategorieen, welche, in solcher Kürze gehandhabt, von der Wissenschaft noch nicht als ausreichend und endgültig anerkannt werden dürfen; und darin liegt der G rund, weshalb man mehrfach mit W eg sch e id er'S Resultaten einverstanden sein kann, ohne doch durch die A rt seiner Beweisführung befriedigt zu werden. Doch w ir 'vollen nicht plänkeln, sondern an entscheidender S telle in das Werk eintreten, wenigstens in die gründlich gearbeiteten Prolegomena *). Zwei Grundsätze, welche schon die Borrede nachdrück­ lich hervorhebt, gehen dann durch die ganze kritische Beweisführung hindurch, e rs te n s daß nach T it. 2 , 12 alles christliche Lehren und Glauben in dem gottseligen Leben und dem Aufbau des Gottesreichs feine rechte Begründung finden müsse, und z w e ite n s daß die christ­ liche Offenbarung mit Ausschluß alles Uebernatürlichen und Unmittel­ baren lediglich als ein natürlicher Hergang und als mittelbare Wirk­ samkeit anerkannt werden dürfe, weil sie nur so den Bedingungen einer vernünftigen Erkenntniß entspreche. D ie Offenbarung ist nämlich zu einer Zeit in's Leben getreten, als der Unterschied des Natürlichen und Uebernatürlichen noch nicht erkannt w ar, sie mußte daher in supranaturalistischer Form vorgetragen und zunächst fortgepflanzt w erden'); dennoch aber finden sich überall in der Schrift auch sitt­ lich-rationale Anschauungen, und diese hat der Dogmatiker zum Grunde zu legen, ohne daß er zu fürchten braucht, den positiven Charakter der christlichen Religion zu zerstören. Dabei wird vor*) W as das Wort religio Betrifft: so wurde damals die Ciceronische Ablei­ tung von relegere von Wegjcheider und Gleichgesinnten entschieden adoptirt; es schien sogar verdächtig, wenn Jemand mit Hahn der Laetanzischen von religare den Borzug geben wollte. Dennoch hat sich diese letztere aus wissenschaftlichen Gründen als die wahrscheinliche erwiesen. a) Institutiones, § 2. 3. edit. VII.

Wtgscheider's Begründung des rationalen Princips.

4ßl

ausgesetzt, daß die Bernunstthätigkeit, sobald sie sich zu der reinen Gottesidee erhoben hat, mit dem Denken auch das Wollen an das Absolute zu fesseln strebt; denn Religion und Sittlichkeit (honestas) lassen sich zwar unterscheiden, sind aber doch dergestalt verbunden, daß die letztere in der religiösen Ueberzeugung ihren nöthigsten Be­ gleiter und ihr kräftigstes Antriebsmittel findet. Bon diesen beiden Principien ist das erste unbedingt einzuräu­ men, daö zweite rationale dagegen muß zuvörderst mit der nachfol­ genden Ausführung und Anwendung verglichen werden. Z u r I n ­ struction des S treits gehört, daß beide theologischen Standpunkte sich gegen einander aussprechen, was in folgenden Sätzen geschieht. I n der That hat alle Religion als positive gewirkt; im Christen­ thum aber entstand das volksthümliche Bedürfniß, alle anderen Glau­ bensweisen zu natürlichen herabzusetzen'), damit die christliche als übernatürliche ihren absoluten Vorzug habe. An dieses Interesse knüpft der S u p r a n a t u r a l i s m u s an. S u b je c tiv bezeichnet derselbe eine Regel für die Aneignung der christlichen Religion, nach welcher die letztere als eine unmittelbare und wunderhaste göttliche Mittheilung schlechthin und ohne Zu z i e h u n g i r g end ei nes B e r n u n f t u r t h e i l s Glauben verdient, oder im engeren S inn nach welcher nur der aus der h. Schrift geschöpfte Religionsinhalt, dieser aber unbedingt auf Annahme Anspruch hat. O b j e c t i v bedeutet er das diesem Grundsatz gemäß entworfene System, welches seine Nothwendigkeit aus der Mangelhaftigkeit oder aus der sündhaften Schwächung der menschlichen Erkenntnißkraft erweist. Zum Beweise beruft er sich theils auf ein subjectives Organ der Beistimmung, theils auf die innere Kraft und Eigenschaft der geoffenbarten Lehre, theils auf Theophanieen, Angelophanieen, Wunder, Weissagungen, historische und dogmatische Mysterien. N ur als supranaturalismus 4) Proleg. § 7. p. 31. Qtiamobrem quaevis fere religio positiva eimul pro revelata habita est; inprimis autem Judaica et Christiana solae revelatae nominantur. Revelata igitur religio species tan tum est rel. positivae, cui ad normam discriminis, quod inter jus positivum et jus naturae factum est, religio naturalis recte opponitur. Et errant qui naturali revelatam vulgo opponunt.

Neuntes Buch.

462

Erster Abschnitt.

teratologicus bleibt er sich selber tre u , v e rfä llt aber a ls bedingter oder rationalis stets in Jnconsequenzen') . —

D ieser Richtung der

Theologie t r i t t nun der R a t i o n a l i s m u s in der Ueberzeugung ent­ gegen, daß gerade in den höchsten Angelegenheiten der Menschen das U rth e il der B e ru u n ft als des obersten Geistesvermögens seine volle G eltung haben müsse; da nun dieses fo rd e rt, barung a u f dem N a tu r-

daß auch die O ffe n ­

und Bernunftwege an den Menschen ge­

langt sein m uß : so fü h rt der R a tio n a lis m u s diesen Grundsatz folge­ richtig durch, erklärt n u r das m it ih m Vereinbare fü r h a ltb a r und giebt demselben eine entsprechende Fassung,

indem er alles Uebrige

als zeitliche H ü lle oder symbolische Einkleidung von den unvergäng­ lichen sittlich-religiösen Id e e n abzustreifen sucht. folgende:

S eine G ründe sind

1. W ie jedes Geschöpf die fü r seine Bestim m ung nöthigen

K rä fte besitzt:

so auch der Mensch,

weiß also auch, was R e lig io n

er ist seines Wesens mächtig,

und P flich te rfü llu n g ihm auferlegen,

dergestalt daß es keiner w u n d e r h a f t e n In te rv e n tio n bedarf, ihn dessen zu vergewissern.

2.

um

W e r m it V erleugnung seiner B e r-

n u n ftk ra ft der O ffenbarung als einer übernatürlichen eine A u c to ritä t zuerkennt, m uß,

welcher

hebt

Denken

die

muß

allein

wahre

und ohne jeden Z w e ife l gehorcht werden

Menschenwürde

seinem Gesetz zufolge,

auf.

was

es

3.

Das

menschliche

sinnlich oder geistig

empfangen h a t, auf eine sinnlich oder geistig nachweisbare, folglich innerhalb

des

Naturzusammenhanges

füh re n;

es hat keine Berechtigung,

greifen,

deren Kennzeichen nicht

D a zu kom m t,

sicher

daß sich im V e rla u f

gelegene C ausalität

nach einer

zurück­

außernatürlichen zu

angegeben

werden können.

der historischen Untersuchungen

viele vo rm a ls fü r miraculoS gehaltene Vorgänge in natürliche auf­ gelöst haben. natürlichen andere

D ie

vom

von Vielen

beliebte Unterscheidung

W idernatürlichen

verm ittelnde Auskunft

des

ist

ebenso

des Ueber-

vergeblich

wie

jede

sogenannten rationalen S u p ra ­

n a tu ra lism u s.

4.

D e r Vernunftgebrauch ist unter allen Umständen

unentbehrlich;

auch die christliche R e lig io n forde rt ihn, wie könnten

w ir sie sonst m it Ueberzeugung ergreifen und m it andern vergleichen,

*) I m

Obigen ist der In h a lt von § 1 0 — 12 kurz zusammengefaßt.

Wegscheider's Vertheidigung des rationalen Princips.

463

die sich ja ebenfalls auf Wunder gestützt haben! Kein historisches Zeugniß vermag uns völlige Gewißheit zu geben, ehe nicht die B ei­ stimmung des rationalen Denkens und sittlichen Gewissens hinzutritt. 5. Die Gegner schöpfen ihr scheinbarstes Argument aus gewissen Schriftstellen unter Voraussetzung ihrer theopneustischen Gewißheit, die ja erst bewiesen werden soll. Demonstrandum ergo pro demonstrato ponunt, ein Fehler, der sich wiederholt, so oft die strei­ tige Erbsünde als Beweisgrund für die Unzulänglichkeit der mensch­ lichen Vernunft auftritt. 6. Dasselbe Resultat bestätigt sich auch nach einer andern Seite. Die Idee Gottes des Allmächtigen und Allwiffenden schließt zugleich eine Unwandelbarkeit in sich, mit wel­ cher die Annahme einer unmittelbaren Offenbarung nicht vereinbart werden kann. D er ganze Unterschied des Mittelbaren und Unmittel­ baren gehört der menschlichen Auffassung an, denn der Sache nach ver­ hält es sich so, daß alle göttlichen Wirkungen, sofern sie vom Ab­ soluten ausgehen, als unmittelbare gelten müssen» während sie für den zeitlich und in der Endlichkeit lebenden Menschen in den Bereich des Vermittelten fallen und eben dadurch denkbar und begreiflich werden. Sollte nun in dem Verlauf der Dinge etwas übrigbleiben, was nur durch die Dazwischenkunft des Wunders hätte zur Ausfüh­ rung gebracht werden können: so würde dies auf einen Mangel der N atur und der göttlichen Thätigkeit schließen lassen; auch müßte man alle Naturgesetze vollkommen kennen, um eine solche Begebenheit aus ihnen mit Sicherheit herausrücken zu können. — Som it bleibt nur die Annahme einer m itte lb a re n und nat ür li chen göttlichen M a­ nifestation übrig, welche aber im Christenthum, wo sie durch die stärksten Beweise göttlicher Vorsicht erkennbar und wirksam geworden, auch im besondern Grade stattgefunden haben muß. Eine vorange­ gangene göttliche Erziehung hat hier ihren Höhepunkt erreicht. Nach Beseitigung der vergänglichen Hülle und nach Abzug der scholastischen und mystischen Zuthaten erscheint erst die Religion im wahren Lichte ihrer Würde, denn ihre geschichtliche Veranstaltung verweist uns auf denselben Grund, dem wir auch die Wohlfahrt der Vernunft ver­ danken. „ Je klarer aber der S tifter des Christenthums nicht ohne Antheil Gottes die Idee einer von wahrer Religion erfüllten Der-

464

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

mmft den Menschen vorgetragen hat, so daß er gleichsam ein Spiegel­ bild göttlicher Bernnnft und göttlichen Geistes darstellte: desto eifri­ ger sollen sie bemüht sein, diesem Urbild möglichst nahe zu kommen und es in Leben und S itten nachzuahmen. Welch' eine innige und unzerstörbare Eintracht des Christianismus mit dem R ationalism us')!" D am it ist der Gedanke des Werks wesentlich ausgesprochen. Allein die aufgezählten Beweisgründe sind höchst ungleich und einige verdienen gestrichen zu werden. D er erste ist so beschaffen, daß ihm zufolge auch das Bedürfniß einer natürlichen Offenbarung in Abrede gestellt werden müßte; denn selbst eine m itte lb a r e Intervention wäre doch immer ein Zuhülfekommen von Seiten G ottes, und da­ für hat der Verfasser in seiner ganz allgemeinen Beschreibung der sittlichen Menschenwürde keinen Raum gelassen. 3m Folgenden ist von einer g änzlich en Verleugnung des Bernunfturtheils die Rede, wie sie selbst die alte Orthodoxie nicht forderte; zwar dem biblischen Glaubensinhalt soll sich der Mensch nach dem alten System unbe­ dingt unterwerfen, aber ehe er auf diesen Standpunkt gelangt, treten Erwägungen ein, welche innerhalb seiner sittlich-rationalen Selbst­ thätigkeit liegen, und darin ist der neuere S up ranaturalism u s noch viel weiter gegangen. D ie meiste Beweiskraft zu Gunsten unseres Dogmatikers liegt in demjenigen, was oben über die Einheit des Naturgesetzes und der W eltanlage und gegen die Möglichkeit der Aussonderung des Uebernatürlichen vom Natürlichen gesagt ist. Wie von ihm die Gegensätze fixirt werden, zieht er das Recht auf seine S eite; ein S upranaturalism us, welcher Aufhebung des Naturgesetzes, Zuruckweisung jeder biblisch nicht mitgetheilten Religionserkenntniß, Ausschließung aller rationalen Kritik und Beurtheilung zum Princip erhebt, fällt dahin oder ist genauer gesagt für unser gegenwärtiges wiffenschaftliches Bewußtsein nicht mehr brauchbar. Allein damit ist *) Proleg. § 12. p. 60. Quo clarius autem religionis Chr. auctor non sine numine ideam rationis vera religione imbutae hominibus exposuit, ita ut rationis divinae s. Spiritus divini quasi anctvyaöjLia referret, eo diligentius homo eniti debet, ut ad archetypum illud quam proxime accedat idque pro viribus vita moribusque imitari studeat. En intimam atque inseparabilem Christianismi cum Rationalismo amicitiam et concordiam! Conf. Praef. p. XIV. XV.

Wegscheider'« Kritik de» Uebernalürliche».

4ß5

doch nur die metaphysische Seite der Frage beantwortet; der Knoten wird zerhauen, nicht Alle- kommt zur Betrachtung, was mit dem bestrittenen Princip innerlich zusammenhängt. D as empirische und religiöse Moment, was die Gegner für sich anführen konnten, wird nicht gewürdigt, sondern W egscheider bleibt durchaus innerhalb der schulmäßigen Anschauung, nach welcher Natürliches und Uebernatürliches zwei getrennte Daseinsformen bedeuten müssen, deren eine das Gesetz der anderen durchbricht. Feinere Erwägungen würden sein Resultat erschwert oder modificirt haben. D ie An­ schauung eines übernatürlichen Wirkens reicht weiter, als sie der Verfasser reichen läßt; sie bezeichnet auch eine von Gott ausgehende Wirksamkeit in n erh a lb des Natürlichen, hat also einen allgemein religiösen Sinn und erlaubt zugleich eine Anwendung auf das sitt­ liche Gebiet. Wenn behauptet wird, daß der Begriff der natürlichen Religion durch die Entgegensetzung des Positiven und Geoffenbarten entstanden sei: so ist das freilich richtig, allein damit ist noch nicht alles gesagt, sondern der Name bezieht sich zugleich auf die innere Beschaffenheit einer vom Natürlichen hingenommenen und ihm die­ nenden Religionsrichtung, welcher das christliche Princip mit seiner Erhebung ü b er die Natur und mit seinem sittlichen contra naturam gegenübertritt. Diesem ganzen Gedankengebiet gegenüber er­ scheint die von W egschetder gegebene Beurtheilung unzulänglich und beschränkt. Etwas Aehnliches ergiebt sich, wenn wir das Gesagte auf deu historischen Mittelpunkt, Christus selbst, anwenden. Auch in dieser Beziehung wird der dogmatische und metaphysische Supranaturalis­ mus, wie er ihn setzt, mit Recht von ihm abgelehnt, aber damit ist die Untersuchung nicht abgeschloffen, noch die adäquate Auffassung schon gefunden. Jenes non sine numine, welches Lehre und Thä­ tigkeit Christi auszeichnet, ist wahrlich eine allzu magere Bezeichnung für die Herrlichkeit Christi als des gotterfüllten und in Gott lebenden Men­ schen. Denken wir auch den Heiland als Persönlichkeit aufgenommen in den Umfang der Menschheit: so ist doch damit nicht ausgeschlos­ sen, daß er im V ergleich und V e r h ä ltn iß zu dem sonst bekann­ ten historisch natürlichen Verlauf der D inge, also im em pirischen Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

30

466

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

Sinne der Uebernatürliche und innerhalb dieser Welt der Vermitte­ lung der U n m itte lb a re sei. D er Leser erinnere sich an die von uns in der Vorstellung des Uebernatürlichen nachgewiesenen Wande­ lungen. Anfangs lauteten die Definitionen kraß und mechanisch, dann erweichten sie sich und wurden der Anknüpfung an das N atür­ liche zugänglicher; in der K antischen Schule wurde aus dem Ueber­ natürlichen das Uebersinnliche, bei Eckerm ann ging es in das Un­ ergründliche und Außerordentliche über, von S chleierm ach er wurde es in das Thatsächliche selber verlegt, bis znletzt in neueren Zeiten die Vorstellung eines Einzigartigen und Unvergleichlichen an die Stelle getreten ist. Alle diese Kategorieen hängen an demselben Faden, sie suchen nach einem Ausdruck für das historisch Absolute, waS in Christus aufgegangen ist und was keine Analogie in der Reihe der Erscheinungen hat und darum auf ein centrale« und universelles Verhältniß zur Menschheit hindeutet. Auch der andere Begriff des U n m i t t e l b a r e n erlaubt Veredelung. Vor Zeiten wurde daffelbe durchaus metaphysisch definirt und jedem end­ lichen und menschlichen Medium entgegengesetzt; wollten wir eS in dieser mathematischen Weise auch auf Christus und sein Werk be­ ziehen: so würde eS doch für uns nicht vorhanden sein, da unsere Rede von Christo und vom Evangelium überhaupt sich in den Grenzen der Vermittlung, d. h. der menschlichen Sprache und Denk­ fähigkeit bewegt. Später ist erkannt worden, daß auch der Geist seine Unmittelbarkeit hat, die Religion lebt in ihr, und Christus allein ist ihr evidenter und unvergleichlicher Ausdruck. E s fehlt also nicht an Hülfen und Anknüpfungen, welche die wissenschaftliche Reflexion, wenn sie dem Gegenstände gerecht werden will, zu be­ herzigen hat; W egscheider weist sie von sich und spricht dem Supranaturalen, welches nur Uncultur und Verstandesmangel ein­ geführt haben sollen, jede empirische und religiöse Bedeutung ab; aber daß die Vernunft ihm diese Schroffheit gebietet, hat er nicht bewiesen. Eigentlich sind eS also nur zwei Factoren, welche der Dogma­ tiker zur Erklärung der grundlegenden Thatsache des Evangeliums in der Hand behält, die göttliche V o r s e h u n g einerseits und die mensch-

Beschränktheit der Anficht Wegscheider'».

467

liche V o rtre fflic h k e it Christi andererseits, diese letztere als reinste Bernunftthätigkeit und sittlich-religiöse Kraft gedacht'). Zu seiner Ehre muß gesagt werden, daß er mit diesen M itteln ausrichtet, was er kann. E r nennt Christus das Licht der Welt, er macht Gebrauch von der Idee deS Logos als einer göttlichen Kraft, welche in Chri­ stus zur Erneuerung der sittlichen Welt sich manifestirt habe, er nennt Gott den Urheber der christlichen Religion, die alle anderen an Vollkommenheit überragt und deren Erscheinung und Erfolg in allen Punkten auf göttliche Veranstaltung zurückgeht, er leitet eö von göttlicher Vorsicht ab, daß gewisse specifische Lehren wie die von der Versöhnung gerade in dieser für viele Gemüther so tröstlichen und erwecklichen Form vorgetragen worden sind; auch die Idee der Sündenvergebung wird festgehalten und über Accommodation und Perfectibilität maßvoll geurtheilt. Dennoch wird an allen ent­ scheidenden Stellen die Linie der bloßen P r o v i d e n z innegehalten; Gott ist immer nur der Leitende, der moderator eapientissimus et benignissimus, der Mensch der Geleitete und Unterstützte, und nirgends wird ein Wirkendes hervorgehoben, in welchem der Abstand des Menschlichen und Göttlichen für das religiöse Bewußtsein auf­ gehoben erscheint; sogar die göttliche Liebe wird als lebendiger Ex­ ponent des in Christo offenbarten neuen Verhältnisses zu Gott zwar anerkannt, aber nicht durchgeführt. Selbst Gemeinschaft mit Gott ist eine Kategorie, welche Wegscheider ein ? abnöthigt, weil sie mystisch klingt'). Während er von der Religion handelt, macht er nicht den ganzen Umfang der Religionswirkung zum Gegenstände seines Denkens, sondern nur die Lehrbestimmung und die moralische l) Institt. § 44. p. 181. 82. Namque Deus omnipraesens nemini deest stadiose ipsum quaerenti et ad Consilia divina exequenda prompte ac parato. Quis autem dignior unquam exstitit ejusmodi auxilio, quisve graviora etiam providentiae divinae documenta expertus est, quam auctor religionis Christianae in aeternum grato animo prosequendus? *) Institt. § 3. p. 17. D ie Religion wird p. 7 besinnt als aequabilis atque constans animi affectio, qua homo necessitudinem suam eamque aeternam, qua ei cum summo omnium rerum auctore ac moderatore sanctissimo inter** cedit, intimo sensu complexus, cogitationes, voluntates et actiones suas ad eum referre studet, also der Kantische Begriff berichtigt.

468

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

Bethätigung. Mysticismus und Pietism us werden schlechtweg a lAuSwüchse angesehen, als ob sie überhaupt keine W ahrheit und für die Theologie keinen W erth hätten. Unter diesen Umständen müssen auch die dogmenhistorischen Erklärungen und Uebersichten unzuläng­ lich ausfallen, denn das Dogma erscheint ihnen zufolge meist nur als Resultat eines supranaturalistisch irre geleiteten Verstandes und Product der aetas incultior, ohne daß das dabei mitwirkende reli­ giöse M otiv in Anschlag gebracht würde. D a s sind die Gesichtspunkte, von welchen die Kritik dieses Werks auszugehen hat, sie führen auf einen Defect, welcher weder den historischen Geist, noch den Idealism us der christlichen Religion zu seinem Rechte kommen läßt; und von diesem M angel wird die dogmatische Argumentation und Beleuchtung im Allgemeinen, oft aber auch die Fassung der Resultate gedrückt. W as aber das rationale Princip betrifft: so haben wir eS seinem tieferen Wesen nach aner­ kannt; doch ist mit Recht geurtheilt worden, daß die sana ratio bei W eg sch e id er zwar sehr sicher als abgeschlossene Größe gehandhabt, aber nicht wissenschaftlich begründet wird und sich nicht dar­ über ausweisen kann, der reine Ausdruck der Denkgesetze zu sein. Kürzlich möge jedoch noch über einige einzelne Punkte dieser Institutionen Auskunft gegeben werden. Auch wer wie ich den allge­ meinen religiös-wissenschaftlichen Geist des Werks keineswegs hochstellen kann, wird ihm doch ein doppeltes Lob nicht vorenthalten dürfen, daß eS dem sch ein bar Tiefen und sublim Klingenden gegenüber,— man denke z. B . au den Ausspruch M a r h e in e k e 'S , daß die Uebertretung Adams in das untergeordnete Gebiet des Thier- und N atur­ lebens „durchgeschlagen" sei, — ein heilsames Richteramt übt, und daß eö zweitens seine s ittlic h e Tendenz m it Ernst und großer Bündigkeit vertritt. W egscheider gehört entschieden mehr auf die S eite des moralischen als des intellectuellen Rationalism us und zeigt darin eine einheitlichere H altung als B r e t f c h n e i d e r . D a s Princip der christlichen Religion lautet: G ott ‘) der allheilige und all­ gütige Schöpfer und Leuker aller D inge hat durch Jesum Christum >) Conf. § 115. p. 414.

Wegscheider'S Fnudamentalartikel.

469

alle» Menschen den Weg aufgethan, auf welchem sie durch den höchsten auf Gott gerichteten sittlichen Eifer Gott wohlgefällig werden und das ewige Leben erlangen können'); in diesem Satze wird der christ­ liche Grundgedanke mit Uebergehung des Moments der Sünde und der Erlösung, sonst aber richtig wiedergegeben. Als Fundamental­ artikel sind vier festzuhalten: die h. Schrift als Quelle der christ­ lichen Religion, G ott in der eben erwähnten Eigenschaft, Christus als der Erlöser der Menschen und die Unsterblichkeit der Seele mit der Folgerung eines vergeltenden jenseitigen Zustandes, welcher dem Verhalten im Diesseits entspricht'). Vom h. Geist wird also in erster Linie nichts ausgesagt. I n beiden Punkten hat der Dogma­ tiker die Glaubenssumme der K antischen Aufklärung verbessert. Die gelungensten Abschnitte der ganzen Darstellung betreffen natür­ lich den ersten Artikel; die Gottes- und Eigenschaftslehre ist mit verständiger Sicherheit und in klarer Ordnung entwickelt, während die Kritik der Trinitätslehre nur bei der logischen Außenseite stehen bleibt'). Lob verdient der allgemeine Umriß der Theodicee, der Kosmologie und AehnlicheS; auch daß die sogenannten Gottesbeweise zwar nicht als Demonstrationen, aber doch als biblisch zu belegende Nachweisungen ihre Stelle behaupten, können wir nicht mißbilligen. Weiterhin erinnert Einiges an den Stand der derzeitigen biblischen 4) Prolegg. § 22 Deus rerum omnium auctor ac gubemator sanctissimus et benignissimus omnibus hominibus per Jesum Christum viam et rationem patefecit, qua summo honestatis ad Deum conversae Studio Deo probati salutem aeternam adipisci possint. 2) Ibid. § 23 mit dem Zusatze: quibus alios quosdam tanquam secundarios addere licet. 8) Institt. § 92. D ie Gegenbemerkungen sind zunächst nur logischer Art. Dann folgt der entscheidende Satz: Praeterea quod attinet ad D ei in Jesu homine incarnationem ( tvaagxtooiv) et Spiritus sancti in columbae specie apparitionem, nullo modo fieri potest, ut natura infinita finitae speciem et formam induat, et ut Deus corpore qualicunque in oculos sensusque incurrat, id quod in ipsis N. T. libris diserte negatur (Joh. 1 , 18. 1 Joh. 4 , 12. 1. Tim. 6, 16). Hier bin ich zwar sachlich einverstanden, aber nicht mit der Bew eis­ führung, denn es genügt nicht, aus einem allgemeinen nullo modo fieri potest

zu folgern, ohne daß zugleich das Wesen des Gegenstandes, also des Ehristenthumund seiner Entwicklung, in Betracht gezogen würde,

470

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

Kritik. Wenn Viele Anstand nahmen, Christus in die messianische Würde, welche ihm von der Volkserwartung entgegengebracht wurde, mit Ueberzeugung eintreten zu lassen: so verweist W egscheider unbefangen auf die ziemlich zahlreichen Zeugnisse, nach denen das dennoch geschehen ist. Die Auferstehung aber stand für ihn wie für D . S chulz und viele Gleichgesinnte als historische, weil vom ganzen kirchlichen Alterthum anerkannte Thatsache fest; noch gegenwärtig werden Viele mit mir darin jenen Altliberalen beitreten. Und wenn man damals zu der Annahme eines Scheintodes griff: so hat das meines Erachtens die Bedeutung, daß nur die ethische und subjective Seite des Todes Christi klar vor Augen liegt, während die N atur­ seite dunkel bleibt. Wo dagegen eine Lehre der religiösen Contemplation angehört, verfällt W egscheider in eine kahle Verständigkeit. Bon der Dersöhnungslehre läßt er lediglich den abstracten Gedanken übrig, daß durch die von Christus vorgetragene und mit seinem Tode besiegelte L eh re der Weg gezeigt werden soll, auf welchem wir mit Zurück­ weisung aller Opfer und sonstigen ceremoniellen BersöhnungSmittel in wahrer Liebe und Gehorsam uns Gott wohlgefällig zu erweisen haben; und nur der Schw ächeren wegen wird gestattet, dem Tode Christi eine nach mehreren Seiten hin mögliche symbolische oder declaratorische Bedeutung abzugewinnen'). Eigentlich also ist es nur die religionia doctrina überhaupt, nicht ein bestimmter ideeller Ge­ sichtspunkt in ihr oder in dem Werke des Heilands, was an dieser Stelle als Resultat der dogmatischen Kritik übrig bleibt; von dem durchgreifenden religiösen Eindruck des Todes Christi wird abgesehen und damit die ganze Vorstellung entleert. Denn es läßt sich nicht ermessen, warum die Momente der Gnade, der versöhnenden Liebe und Sündenvergebung, die ja Weg scheib er selbst gelten läßt, hier nicht mitsprechen dürfen, und warum es zur Geistes- und Vernunftstärke gehören soll, sie etwa aus Furcht vor einer A nselm ischen A) Institt. § 142. p. 506. Attamen ne animis fortioribus bene consulendo imbecilliores offendamus, sententiam de morte Jesu Christi expiatoria ipsorum ss. scriptorum exemplo etiam symbolica quadara ratione adumbrare licebit etc.

Wegscheider und Schulz über Rechtfertigung.

471

Theorie außer Anwendung zu lassen. D ie Schwächeren aber, denen der Schriftsteller jenes weitere Zugeständniß macht, repräsentiren in der T hat daS christliche Gefühls- und Erfahrungsleben, und dieses muß sich gefallen lassen, zur imbecillitas herabgesetzt zu werden. Liegt eine solche Entwerthung wirklich im Wesen der christlichen Wissenschaft? Besser und sinnvoller ist der Dogmatiker auf die R e c h tf e r ti­ g u n g ö l e h r e eingegangen, denn er bezeichnet doch deren kirchlich­ protestantische Wichtigkeit, welche viele Vorgänger ignorirt hatten. Nicht einzelne Gutthaten und Verdienste, sondern Glaube, d. h. An­ schließung an Christi Vorbild, Hingebung der Gedanken und des W illens an den gütigen und heiligen G ott und Vertrauen auf seine G üte, welche Christus m it seinem Tode herrlich dargethan, sollen UNS mit der zuversichtlichen Hoffnung des zukünftigen Heils nach M aaßgabe unserer sittlichen Würdigkeit erfüllen. „Aber nur im Selbstbewußtsein (Röm. 2, 1 5 .1 6 . G al. 6, 4) können die Menschen dieser Rechtfertigung gewiß werden, und je eifriger und gewissenhaf­ ter sie der eigenen Besserung nachtrachten, desto mehr wird die Ueber­ zeugung des göttlichen Wohlgefallens in ihnen erstarken" *). Hierm it ist das M om ent der Innerlichkeit der protestantischen Lehre gewahrt; doch wurde damals auch deren biblische und namentlich Paultnische Grundlage ernstlich in Untersuchung gezogen. D a v i d S ch u lz in seiner S chrift über die christliche Lehre vom Glauben verwarf den gewöhnlichen Begriff der Rechtfertigung: „dtxatovv, sagt er, kann etwas Anderes nicht bedeuten, als tüchtig, gut, fromm machen und in Folge dessen alö wirklich fromm, tüchtig und gut, wie es sein soll, befinden, bil­ ligen und anerkennen, gutheißen, dixcuovo&at gut und tüchtig wer­ den und als fromm, in der rechten Verfassung eines G ott wohlge­ fälligen Christen erfunden, anerkannt, also für tüchtig erklärt und d a, wo eö ein richterliches Urtheil gilt, auch losgesprochen, als *) Ibid. § 155. p. 542. Verumtamen conscientia tantum (Rom. 2, 15. 16. Gal. 6, 4) de ejusmodi justificatione certiores fieri possunt; et quo diligentras ac religiosius in animo emendando et ad Deum pie convertendo elaborare perrexerint, eo magis persuasio de Deo Studium ipsorum approbante illudque boata Sorte fotura band indignum judicante iaeta capiet incrementa.

472

Neunte» Buch.

Erster Abschnitt.

schuldlos und unsträflich losgelassen werden," — worauf W egschei­ d er antwortet, daß in Stellen wie Röm. 1, 17. 3 , 20. 4 , 5. 25. 8, 3. 33. G al. 3 , 21. Tit. 3, 7 allerdings der Nachdruck auf der von Gott über den Sünder gegebenen Erklärung, also auf dem actus forcnsis nach der Kirchensprache zu liegen scheine'). S ch u lz geht von der sicheren Grundbedeutung justum facere und fieri aus, er ist ganz im Recht, wenn er gegen eine Deutung protestirt, nach welcher in dem Gerechtfertigten noch nichts von demjenigen, wofür er von G ott erklärt wird, enthalten gedacht werden, also der ganze Act auf ein bloßes oder gar „fälschliches Zuschreiben und Behaupten von Frömmigkeit, wo keine vorhanden wäre, oder ein beliebiges Urber­ tragen der Tüchtigkeit des Einen auf den Anderen" hinauslaufen soll. Eine willkürliche und bloß imputirende Declaration hat Paulus nicht im Sinne gehabt, aber sein dtxcaovo&tu ist auch nicht der Ausdruck einer aus persönlicher Kraft schon e rla n g te n Rechtbe­ schaffenheit, sondern mit einem liebevollen göttlichen Urtheil verbun­ den, welches in dem gläubigen Bertrauen den Ansatz einer neuen nicht auf eigene werkthätige Würdigkeit gebauten Rechtbeschaffenheit anerkennt. D er Glaube wird nach Röm. 4, 5 als Gerechtigkeit an­ gerechnet. weil diese aus jenem als eine werdende hervorzugehen ver­ spricht. An diesen Gesichtspunkt, also an den M o d u s der biblischen Gerechtmachung, hat sich die protestantische Lehrform angeschlossen'). *) Schulz, die christlich« Lehre vom Glauben, Lpz. 1834. S . 1 4 5 .4 6 . Weg­ scheider 1. o. § 153. p. 537.

*) Schulz jagt a. a. £>. @ .1 4 7 : „Wer demnach vor Gott als fromm und gut erscheinen oder nach der hergebrachten Redeweise gerechtfertigt werden will, der muß seiner Gesinnung, seinem Wollen nnd Streben nach gut und rechtschafsm sein. Nicht den vollbrachten Thaten und Tngendwerken nach; denn in deren Betracht ermangeln wir Alle de» Ruhme», den wir vor Gott haben sollten." Gewiß, allein da» ist gerade die Bedeutung dieser Lehre, daß sie jene» S e in der guten Gesinnung oder de» rechtschaffenen Streben« in eigenthümlicher Weise zum Maaßstabe macht. Die Beffernng soll eben von dem tiefsten und subjektivsten Punkte ausgehen, wo der Mensch nicht allein da» Gute und Göttliche ergreift, sondern selbst davon ergriffen wird, damit e« durch den Glauben, also von Innen heran», sich an ihm verwirkliche. — D aß in der kirchlichen Doctrin die Paulinische Auffassung überspannt und aus die Spitze getrieben wird, brauchen wir nicht erst

ausdrücklich anzuerkennen.

Wegscheider über Rechtfertigung.

M öhler.

473

D aß in ihr die Tendenz einer v o rg re ife n d e n und darum erheben­ den göttlichen Liebe ausgedrückt und durch Sendung und Werk Christi beglaubigt wird, haben neuere Studien ergeben. W egscheider möchte also hier richtiger geurtheilt haben, auch das Moment des subjektiven Bewußtseins hebt er angemessen hervor; da aber in dieser ganzen Lehranschauung entweder die religiös-idealistische S eite, die der kirchlichen Doktrin unterliegt, oder die empirisch-moralische, die bei S ch u lz einseitig vorherrscht, bevorzugt werden konnte, und da sogar die rein exegetische Untersuchung keineswegs einfach war: so ist die Controverse stehen geblieben bis auf unsere Tage. ES genügt, die Ueber­ zeugung auszusprechen, daß die deklaratorische Bedeutung der Recht­ fertigung sich in der angedeuteten Weise biblisch halten läßt und daß sie zwar gereinigt und veredelt, aber nicht ihrer Idee nach aufgegeben werden darf. Dam als machte ein konfessioneller S treit diese Kritik noch merk­ würdiger. Schon im vorigen Jahrhundert war der Rationalismus mit dem Pelagianischen oder Semipelagianischen im katholischen System in Berührung getreten; der rein principielle Gegensatz stei­ gerte sich also, während der dogmatische in einigen und namentlich anthropologischen Beziehungen gemildert oder verwischt wurde. Wenn man nun die Paulinische und somit auch die protestantische Justification als Gerechtmachung erklärte: so näherte man sich mutatis mutandia der factio justitiae im Tridentinum; die Mehrzahl war auf diesem Wege, indem sie die schroffe Scheidung von der Heiligung fallen ließ. D araus erklärt sich ein Theil des Eindrucks, welchen M ö h le r'S Symbolik auf die junge theologische Lesewelt und die Studirenden der protestantischen Theologie übte. S ie waren betrof­ fen, denn sie fanden bedeutende Züge in dem katholischen Lehrshstem, schroffe und unfügsame in dem ihrigen. Den strengen Supranatu­ ralismus und Dualismus beneideten sie M ö h le r nicht, wohl aber den praktischen MoraliSmuS; der Satz M ö h le r'S , „daß in dem Protestantismus das religiöse Element die glänzendere Seite, das sittliche dagegen die dunklere fei, was von der Folge begleitet gewesen, daß auch das Religiöse am Ende doch nur schief und verzerrt auf-

474

Neuntes Buch.

gefaßt werden konnte"



Erster Abschnitt.

verletzte sie, ohne seine vollständige E r ­

ledigung u n ter ihnen zu finden.

Gleichzeitig wurde von ausgezeich­

neten M ä n n e rn wie N itz s c h , M a r h e in e k e und B a u r der hinge­ worfene Handschuh aufgehoben');

sie führten ihre Sache m it Geist

und E r fo lg , aber die kirchliche Satzung mußten sie nothwendig über­ schreiten, weshalb sich denn auch N itzsch späterhin von Lutherischer S e ite dem V o rw u rf ausgesetzt h a t, T rid e n tin ism u S

selbst verfallen

in

den

zu sein.

von

D ie

ih m

bekämpften

V ertheidiger haben

in diesem ehrenhaften S t r e it w o h l mehr gelernt a ls ih r A ngreifer, und a ls

R esultat darf angegeben werden,

daß die protestantische

Rechtfertigungslehre m it ih re r subjektiv religiösen und idealistischen Tendenz sehr hoch und fre i gefaßt werden muß, wenn sie der unbe­ weglichen und keiner Entwicklung fähigen, aber doch praktisch frucht­ baren M ittelm ä ß igke it des T rid e n tin u m s überlegen sein soll.

D enn

bloß a ls berechtigt daneben zu stehen, kann dem protestantischen B e ­ ru fe nicht genügen. S o viel über den verständigen Vorsehungsrationalism us W e g scheide r ' s .

Neben ihn stellen sich als D o gm a tiker K l e i n ' ) ,

der

durch seine kirchliche Wirksamkeit ausgezeichnete R ö h r und die „ K r i ­ tische P redigerbibliothek",

welche ganz denselben S tan dpu nkt e ifrig

und m uthig vertheidigte, ohne daß er dabei an religiösem oder wis­ senschaftlichem G eh alt gewonnen hätte.

Auch diese magere und o ft

so geistlos vorgetragene D e nka rt mußte,

um in ihrem W e rth und

U n w erth erkannt zu werden, eine Z e it lang die herrschende werden; daß sie so viele und gleichartige,

ja fast exclusiv ih r ergebene A n ­

hänger fand, erklärt sich aus ih re r Einfachheit, w eil eben V iele keine andere A uskunft sahen, a ls sich aus allen dogmatischen und philoso­ phischen Verwicklungen heraus in dieses Gebiet des S tre itlo se n und Wasserklaren zurückzuziehen.

D a zu kam, daß auch dieser S tandpunkt

w o h lth ä tig wirken konnte, wo er nämlich m it einer ernsten und tüchtigen 1) V g l. Hase's Protestantische Polemik S . 274. 1. Stuft. 2) D er S tre it fällt in die Jahre 1834— 36.

S . die Literatur in A. Baier'S

Symbolik, I, e in t S . 21. s) Klein, Darstellung des dogm. Systems nebst hist, und krit. Bemerkungen, Jena 1822, 2. Aust, von L. Lange, Jena 1835, 3. Bearb. 1840.

S tre it mit Wühler.

Auftreten Hase's.

475

Gesinnung verbunden w ar. Bon den Anhängern dieser Schule wurde häufig ausgesprochen, daß das Wesentlichste und Nothwendige in der christlichen Religion überhaupt niemals streitig gewesen sei, — eine Behauptung, die zugegeben werden kann; doch stellen wir sofort eine andere daneben, nach welcher dieses Wesentliche in jedem Zeitalter in anderer Form vorgetragen und dadurch von Jncidenzpunkten abhängig wurde, die es wieder streitig m achten. Denn sonst würde die Lehrentwicklung im Lichte der traurigsten Willkür er­ scheinen. Und ähnlich steht es m it dem anderen Gemeinplatz, daß Glaubensmeinungen gleichgültig seien, daß sie keinen Strohhalm be­ wegen; er ist richtig, sobald diese eben nur als M einungen und außerhalb ihres entweder religiösen oder wissenschaftlichen Zusammen­ hangs gedacht werden, wie dam als häufig geschehen; für sich allein darf man ihn bei der Schätzung der Lehrgeschichte nicht zum M aaßstabe erheben. D ie P artei der genannten M änner gruppirte und befestigte sich durch die „Kritische Predigerbibliothek". W e g s c h e id e r's Lehrbuch wurde in ihr als die vollkommenste Dogmatik gepriesen, jede religiöse oder speculative Neuerung gemißbilligt, für die Röhr'schen „G rundund Glaubenssätze" eine allgemeine Zustimmung erwartet. F ü r den Standpunkt selber hatte das R h e in w a ld 'sc h e Repertorium den Namen R ationalism us vulgaris aufgebracht, ein Beiwort welches die Betroffenen mit communis vertauschen wollten und das sich freilich auf jede schulmäßig verbreitete und dadurch unvermeidlich trivialisirte Ansicht anwenden läßt. Doch sollten diese „Vulgären" in ihrer sicheren Ruhe durch das Auftreten eines Gegners aus der eigenen Nachbarschaft empfindlich gestört werden. W ir meinen K a r l H a s e , dessen literarische Wirksamkeit wir nur theilweise und in ihren Anfängen vorführen können. H a s e 's Evangelische Dogmatik trug in ihrer ersten Auflage von 1826 Censurlücken zur Schau, welche seltsam genug selbst A m m o n als Censor unter dem M ini­ sterium E i n s i e d e l n nicht hatte verhindern können. Schon dieses Buch erregte einige Verwunderung, das kundgegebene S treben, die kühnsten Forderungen der Vernunft m it den Bedürfnissen des christ­ lichen Gefühls und der Phantasie als einig darzuthun, schien nur

N eunte« B uch.

476 auf eine V a ria tio n auszulaufen.

Erster A bschnitt.

der S c h e llin g 's c h e n ReligicnSphilosophie h in ­

W e it mehr aber befremdete das zuerst 18 33 unter der

F irm a eines Hutterus redivivus erschienene dogmatische Reperto­ riu m » —

ein zweideutiges, unaufrichtiges, mindestens gefährliches

P ro d u c t, —

so hieß es von vielen S e ite n , —

eine unberechtigte

W iederaufnahme verschollener Satzungen. „W a s w ill dieser Hutterus

redivivus unter uns?

W a s hat das Schattenbild dieses aus der

G r u ft des sechszehnten Ja h rh u n d e rts heraufbeschworenen evangelischen Scholastikers den protestantischen Söhnen des neunzehnten J a h rh u n ­ derts kundzuthun?" B ei genauerer Einsicht wurde gefolgert, daß eS dennoch kein Schattenbild sei, sondern daß in beiden F ällen derselbe S chriftsteller sich vernehmen lasse, derselbe D r. H a s e , welcher seine individuellen Neigungen und M einungen zuerst in vorgetragen und sodann dem alten H u t t e r habe;

in

eigener Person

den M u n d gelegt

darum sei der letzte B e tru g schlimmer a ls der erste, w e il er

eine M u m ie der Vergangenheit künstlich und nicht ohne S ophism en und Geistesspiele belebe, um sie auf dem v ö llig veränderten Schau­ platz der G egenw art redend und lehrend einzuführen.

E s mag be­

quem sein, ist aber darum noch nicht zulässig und redlich, einem alten G ew ährsm ann eine Kenntniß moderner Verhältnisse, nicht haben konnte,

die er

zu leihen und durch ih n w ider den „sittlichen

Leichtsinn" des R a tio n a lism u s Zeugniß ablegen zu kaffen; fü r diese unberechtigte Anschuldigung bleibt also der S c h rifts te lle r, antiker S tim m fü h re r ve ra n tw o rtlich ').

nicht sein

S o klagte der Recensent der

K r it. P r . B ib l., er zählte den Verfasser zu denen, welche in „schein­ bar lib e ra le r Renitenz" gegen die Fortschritte des menschlichen Geistes A ltes und Neues vermengen und dem G lauben der V ä te r ein mo­ dernes Gewand

umhängen w o lle n*).

*) V g l. A n t i- H a s ia n a

ober S a m m lu n g

W a s H a s e geantw ortet,

der Recensionen der K r it. P r . B . ,

durch welche die S tre ilsch risle n D r . Hase'« v e ra n la ß t w u rd e n . 1 8 3 6 , S tü c k I .

ist

N eustadt a. d. O .

V o n den w eiteren Besprechungen der Kirchengeschichte u n d de«

Leben« Jesu sehe» w i r hier ab. s) V o n Hase'« eigener D o g m a tik sagte ein Recensent der M g . L it. Z . :

„sie

sei b loß der Fünstelsast eine« S c h illin g -S c h le ie r macher'schen E k le k tic is m u s , v e r . b rL m t m it einigen eigenthümlichen R edensarten, welche ih n zu etw a« O rig in a le m stempeln so llte n ."

Hase'« S tre its c h rifte n , A n tir ö h r S . 57.

bett älteren Zeitgenossen noch wohl erinnerlich. Abgesehen von seiner übrigen ungewöhnlichen Begabung hatte er den Vortheil der größeren Geistesfreiheit und des tieferen historischen S in n es; gerade diese Eigenschaft hatte ihm das Unternehmen eingegeben, die alte Lehre einmal zu r e p r o d u c ir e n , damit sie, worauf jede Erscheinung der Vergangenheit Anspruch hat, auch geistig und nicht bloß buchstäblich verstanden werde. Seine Vertheidigung w ar glücklich und geschickt und wurde durch Lehrer und Schüler thatsächlich unterstützt; denn am Meisten haben die Studenten demonstrirt, da sie mit Beseitigung des empfohlenen Klein'fchen CompendiumS „für'S Examen" nach und nach dreizehn Auflagen des H u tteru s verbrauchen halfen, Be­ weis genug, daß der „Glaube der V äter" einer solchen Vergegen­ wärtigung fähig und bedürftig war. Aber aus der Verantwortung H a s e 'S wird ein Angriff. D a s r a t i o n a l e P r i n c i p bleibt unan­ gefochten, der R ationalism us R ö h r 'S und W e g fc h e id e r'S wird bestritten. Dieser mag den W erth eines Versuchs haben, aber er irrt, wenn er der Protestantism us selber zu sein vorgiebt, und er bleibt weit hinter seinem Anspruch zurück, wenn er nach unbedingten Vernunftgesetzen zu urtheilen unternim m t, welche doch in ihrer wiffenschaftlichen W ahrheit nirgends begründet und nachgewiesen werden. Sein Princip giebt sich für den Inbegriff „allgemeiner und von jedem gebildeten Bernunftwesen zugestandener und angenom­ mener Bernunftwahrheiten" au s; in der T hat aber ist es nur der gesunde Menschenverstand als der Niederschlag dessen, worüber ein gewisses Zeitalter ungefähr einig geworden. Dieser aber darf sich nicht auf sich selbst stellen, noch sein Gesetz der Wissenschaft als Schranke auferlegen, denn er ist selbst aus ihr hervorgegangen, soll sich also mit dieser den Weg zu einer vollkommneren Ausbildung offen erhalten. Diese Bemerkungen rügen demnach die unphiloso­ phische Sicherheit, mit welcher die Vernunft als W ahrheitssumme umgrenzt w ird, ohne daß dieser In h a lt aus seinen Gründen herge­ leitet und vor der Aufgabe der wissenschaftlichen Erkenntniß gerecht­ fertigt w ürde'). D a s Recht, die christliche Religion aus sich selber •) Hase, Antiröhr, S . 83: „Die- nun ist das Wunderbare an der Wegscheider'jchen Dogmatik, daß sie für das dogmatische Hauptwerk des Rationalismus

Neunte« Buch.

478

Erster Abschnitt.

m it kritischer F reih eit verstehen und m it ihren eigenen Aeußerungen vergleichen zu w ollen, da m it sie dem Ganzen der Wissenschaft ohne W iderspruch eingefügt werde, —

dieses Recht bleibt unangetastet;

aber die zu diesem Zweck aufgebotenen M it t e l bestehen häufig n u r in Gemeinplätzen und B erbaldefin itio nen , jene V ollm acht zn bewahrheiten.

Zu

sie sind zu schwach,

um

einer gründlichen E rö rte ru n g

des P rin cip ie lle n w a r allerdings der S t r e it nicht geeignet, schon w e il die Sprecher der Pred. B ib l. auf die Hauptsache nicht eingingen, sondern

sich an einzelne Gegenbemerkungen hielten;

ihnen im m er noch in der H a n d , Ausstellungen U rth e il

Veranlassung

H a s e 's ,

s c h e id e r's

„daß

diese blieben

und H a s e selbst hatte zu einigen

gegeben.

Aber

m it

dem

der R a tio n a lis m u s R ö h r ' s

allgemeinen und W e g -

die historische Bedeutung deS Christenthum s verkenne,

die In n ig k e it deS religiösen Lebens verflache und den philosophischen Ernst der Wissenschaft vermeide," — hat es noch gegenwärtig seine Richtigkeit **).

ID .

D o g m a tis c h e

G e g e n sä tze u n d

D e r S t r e it gegen W e g s c h e id e r

A n n ä h e ru n g e n .

und R ö h r

war

von H a s e

selbst a ls ein häuslicher K rieg bezeichnet worden, w e il er hauptsäch­ lich die A usbildung und Anwendung des wissenschaftlichen G ru n d ­ satzes, nicht diesen selber betraf.

E r beschäftigte n u r die Freunde

der kritischen Theologie, die meisten Anderen sahen zu und zwar m it Aufmerksamkeit, da sie sich das R esultat gern aneigneten. w ir w eiter um her:

Blicken

so befinden w ir uns au f einem Schauplatz, wo

derselbe gleichnamige P rincipienkam pf unablässig literarisch wie aka­ demisch fortgesetzt w ird .

Länger als zwanzig J a h re , —

etwa von

1811 bis zum Auftreten der fpeculativen Theologie der Hegel'schen Schule und zum S tra u ß is c h e n

„Leben J e s u ",

welches in

seiner

g ilt, wahrend doch dasjenige, wodurch der R atio n a lism u s sich wissenschaftlich dar­ stellt, in einem Stück der Prolegomena (egt. bes. § 2 ), kaum berührt ist und in W ahrheit ih r gänzlich abgeht." *) Andere Beurtheilungen von von 1817, B d . I , S a rto riu s , Steiger.

B a u m g a rte n -C ru s tu « , Oppositionsschrislen

Streitschriften über R ation al, und S u p ra n a t.

479

ersten Gestalt (1835) der K ritik eine neue Wendung gab, — dauert die allgemeine Polemik über R ationalism us und Supranaturalism us und sie w ird

bei eintretenden Pausen durch öffentliche Vorgänge

immer auf's Neue angeregt; hat doch das Eine J a h r 1818 nicht weniger denn 230 Streitschriften aufzuweisen. Thesen von 1817,

D ie H a rm s is c h e n

die Hahn'sche D isp u ta tion von 1827, die be­

kannten Hallischen Vorfälle von 1830 gossen immer neues O el in'S Feuer.

D e r Rationalism us tra t in eine defensive S te llu n g , seine

S treitkräfte wuchsen eben dadurch, daß er nicht sich selber als be­ stimmte theologische Ansicht, sondern zugleich die Freiheit der Lehre und der Forschung,

also allgemeinere protestantische Rechte zu ver­

treten hatte, denn sonst würden sich manche Sprecher wohl anders verhalten

oder geschwiegen haben.

In

den Schranken sittlicher

Würde ist diese Polemik nicht immer geblieben, sie enthielt auf bei­ den Seiten auch leidenschaftliche Ausfälle und persönliche Gehässig­ keiten.

D ie lange Reihe polemischer, apologetischer und irenischer

Abhandlungen v o n T z s c h irn e r, P la n c k , S c h r ö te r , K r u g , S c h u lz , M ä r te n S , B ö h m e , T it t m a n n ,

K ö th e , B a u m g a r t e n - C r u -

f i u s , K ä h le r , K le u k e r, Z ö llic h , G e r la c h , W i t t i n g , B ocksH a m m e r, S a r t o r i u s , H o ls t, B r e ts c h n e id e r , Z im m e r m a n n , K la ib e r ,

S t e u d e l,

W a g n e r,

H ü f f e l , S c h o tt ,

U llm a n n ,

F ritz s c h e , S c h u b e r o f f ' ) u. A. erlaubt uns, jede mögliche S te l­ lung zum Gegenstände m it Beispielen zu belegen. le r, doch nur Wenige wie etwa T i t t m a n n

Einige Beurthei-

und S a r t o r i u s ,

nahmen dergestalt P a rte i, daß sie den Gegnern jedes Recht ab­ sprachen; der R ationalism us,

behaupten sie, fü h rt schließlich zum

Atheismus oder zum Romanismus, — nein, antwortete R ö h r , er ist der wahre Protestantismus. scher Höhe, zudringen; Wissens,

Andere hielten sich in philosophi­

ohne in das Materielle des Gegensatzes gründlich ein­ sie forderten

Einheit und rationale

Vollendung

alles

welche aber durch die christliche Offenbarung nicht gestört

oder beschränkt, sondern gerade herbeigeführt werde.

I h r Resultat

*) Ic h erlass« m ir die T ite l abzuschreiben, sie finden sich nebst kurzen J n b a lts angabe» fleißig gesammelt bei Bretschneider: Systematische Entwicklung rc. S . 185. 189 ff. der 4. Ausl.

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

480

w a r ein supranaturaler R e lig io n s in h a lt a ls vernünftige Erkenntniß uachgewiesen.

O der auch sie gingen so w e it, den Unterschied sachlich

zu beseitigen; denn eS sei wesentlich dasselbe, was im S u p ra n a tu ra lis m u s als sinnliche Erscheinung, im R a tio n a lism u s a ls ursprüng­ liches Eigenthum des Menschengeistes auftrete, B ild u n g habe n u r die E in ig ung stellungsweise

factisch zu

und die christliche

dieser zwiefachen religiösen D a r ­

vollziehen.

Ganz

im Gegentheil konnte

statt der W a h rh e it vielm ehr die U n w ah rhe it und

wissenschaftliche

Verw erflichkeit beider Standpunkte behauptet werden; das V o tu m D a u b 's daß und w a rum

von 1 8 3 3 ,

von welchem w ir gezeigt haben,

es wenig G ehör fand.

diejenigen Gutachten,

dahin lautete

Nützlicher wirkten im m er

welche die Berechtigung des S tre ite s w ü rd i­

gend sich ü b e r w ie g e n d der einen oder anderen Richtung zuwende­ ten.

Aber auch unter diesen regte sich u n b e irrt durch die beidersei­

tigen Uebertreibungen eine versöhnliche Tendenz.

S ie konnten ent­

weder, wie E inige thaten, m it dem einfachen Trostgrund dazwischen tre te n , daß der ganze K am pf n u r der grauen Theorie angehöre und das praktisch Nothwendige und Wesentliche der christlichen R e lig io n nicht betreffe,

oder sie ließen sich mehr von einer wissenschaftlichen

E rw ägung leiten.

M i t Recht wurde gesagt, daß der logische Gegen­

satz dieser P rincipien n u r ein c o n t r ä r e r , kein c o n t r a d ic t o r is c h e r fe i, man müßte denn daö eine a ls unbedingten A n tis u p ra n a tu ra lis m uS, das andere als Ir r a tio n a lis m u s fassen wollen.

D e r S u p ra ­

n a tu ra lism u s w ill noch keinen blinden G lauben, noch ist er gezwun­ gen,

dessen I n h a lt jeder P rü fu n g zu entziehen oder g a r in starrer

Abgeschlossenheit außerhalb der gesicherten wissenschaftlichen Erkennt­ niß bestehen zu lassen; der R a tio n a list braucht die historische P ie tä t nicht zu verleugnen, noch die religiöse W a hrh eit jedem E in g r iff des zersetzenden Verstandes preiszugeben, da ihn ja sein B e ru f auf einen maßvollen und geregelten Bernunftgebrauch hinweist. ten,

statt

des willkürlichen

D aS etwa meinten die Versöhnlichen und Friedlichgestnn-

und sie waren nicht die Schlechtesten unter den W o rtfü h re rn ;

es hat sich gezeigt, daß der Abstand entgegengesetzter P rin c ip ie n bei oberflächlicher Behandlung

wächst,

bei gediegener sich verm indert,

w e il alsdann die streitenden Richtungen sich des ihnen zugänglichen

Parteikampf.

Möglichkeit der Vermittelung.

481

Raumes vollständig zu bemächtigen suchen. W egscheid er hatte be­ hauptet, daß jene Systeme allzu entgegengesetzt und widersprechend seien, um eine Vermittelung zu gestatten'), und in Bezug auf das wissenschaftliche V e r f a h r e n hatte er Recht und behielt Recht; da­ gegen konnte er die Wirksamkeit eines vermittelnden G e iste s nicht verhindern. DaS juste milieu, das bloße Gleichgewicht ist jederzeit unwahr und gleicht dem todten Punkt der Indifferenz, nicht so die­ jenige Vermittelung, die sich über die Schranken eines bereits traditionell gewordenen Gegensatzes e rh e b e n will; ihr liegt eine Zusammenfas­ sung des sachlich Nothwendigen und principiell Möglichen ob, und sie führt zu einer „naturgemäßen Annäherung" des Getrennten. F ü r solche Bestrebungen kamen die Benennungen rationaler S u p ra naturalism uS oder supranaturaler Rationalism us in Um lauf, und sie konnten nur den Zweck haben, auf den wir schon früher hinge­ wiesen, daß nämlich nicht das Gleichartige beider Systeme, sondern das U n g le ic h a rtig e , also hier das Religiöse und Historische und dort das Wissenschaftliche vereinbart und in ein Ganzes gebracht werden sollte. I n seiner Beweisführung kann der Rationalism us zwei wesentlich verschiedenen Grundsätzen unmöglich genug thun wollen, sondern er vermag nur den historischen und religiösen F acto r, wel­ chen ihm der andere Standpunkt zuführt, in seiner schöpferischen K raft und christlichen Eigenheit anzuerkennen, er erhebt sich damit über seinen gewöhnlichen Betrieb. Wie und wieweit diese Berm itte­ lung möglich sei, darüber giebt aber die allgemeine Fassung der Auf­ gabe noch niemals Aufschluß; daher werden wir von jedem derarti­ gen Program m immer wieder auf die systematische Ausführung selber zurückgewiesen. Durch die Langwierigkeit dieser Polemik ist die Theologie in Athem und Aufregung erhalten, aber auch in ihrer Stim m ung allen Nachtheilen des Parteieifers ausgesetzt worden. „Ueber Parteisucht klagt Jederm ann, und zwar nimmt sie tagtäglich zu, und bald wird *) Institt. § 12. p. 62. Supranaturalismi autem et Rationalismi systemata, licet vario modo theologi copulanda vel confundenda judicaverint, adeo sibi sunt opposita, ut, dummodo sibi constare velint utriusque defensores, conciliari Inter se omnino nequeant. Gesch. d. Protest. Dogmatik IV.

482

Neuntes Buch.

Erster Abschnitt.

es dahin kommen, daß gar nicht mehr daS Gesunde und Gewisse, w as jeder Mensch in sich trä g t,

als ausgesprochene M e in u n g ver­

nommen w ird , sondern ehe er spricht, ja ehe er noch denkt, ist A lle schon durch den vorauswirkenden E in flu ß

der F a ctio n bestimmt" *).

Diese W o rte eines Verstorbenen sind von einem weit späteren Z e it­ punkt gem eint, erleiden aber auf jenen früheren ihre volle Anw en­ dung.

D ie

Einkönigkeit

des H aders

verengte

das

religiöse

und

wissenschaftliche Streben und nöthigte Manchen, seine S tu d ie n eben n u r auf den polemischen Zweck einzurichten und in dessen Grenzen zu bannen. d a rin ,

D a u n fand der R a tion alist seine höchste Genugthuung

den S up ra n a tu ra liste n zu bekämpfen

und umgekehrt.

So

wurden Beide von einander abhängig, ja sie „lebten von einander," um ein treffendes W o rt von T w e s te n zu gebrauchen, und versagten sich doch, —

wie sich mein V a te r ausdrückte,

welchem die tägliche

W iederholung dieser S tich w o rte höchst lästig w a r, — Bürgerrecht und Gastfreundschaft in der Kirche."

„gegenseitig

W enn de W e t te

und S c h le te rm a c h e r auch nichts w eiter gethan hätten, theologischen Gesichtskreis Geiste

neue Gefilde

a ls

den

zu erweitern und dem wissenschaftlichen

der Betrachtung

aufzuthun,

wo

nicht

jeder

S c h ritt m it demselben Scheidewege des Entweder — O d e rl ) bezeichnet w a r:

sie würden unserer größten D ankbarkeit

w ü rd ig sein.

D ie

Tendenzen der Theologie drohten diese selber zu spalten, zu zersetzen, sie verhielten sich wie Häretisches und Antihäretisches oder T r a d itio ­ nelles;

aber vielleicht vertrugen sie sich besser, nachdem ein drittes

Elem ent a ls wohlthuende H e t e r o d o x i e hinzugetreten w a r. l) t .

A . Suckow, der Prophet, Monatsschrift fü r die ev. Kirche, B d . V I I I ,

S . 1. s) H ierzu möchte ich eine Aeußerung von Dr. Kahm « anführen.

Dieser sagt

in seiner Lutherischen Dogm atik, B d . I I , S . 6 2 5 : „U nreife, parteibeschränktc, n n gebrochene N a tü re n kennen in der Kirche n u r da« Entw eder — O der.

Entweder

di« Jnspirationslehre der Orthodoxie oder die radicale K ritik ; entweder die unbe­ dingte G eltu n g der Sym bole oder die A brogirung

derselben.

W a h r h e it

m achen k a n n ,

su c h t,

w e iß ,

daß

m an

sie n ic h t

n e h m e n m u ß » w i e s ie l i e g t " (von m ir unterstrichen). wahre Bemerkung.

W er

aber

d ie

s o n d ern

D a « ist eine gute und

Doch m uß ich Kahnis daran erinnern, wie so Manche gerade

unter denen, die gewiß nicht zu den „ungebrochenen N a tu re n " gezählt sein wollen, doch so leichtsinnig m it dem Entweder — O d er umgegangen sind.

483

Augusti als Dogm atiker.

D ie Reihe der Dogmatiker, die uns jetzt noch zu einer kurzen Charakteristik übrig bleibt, ist ziemlich bedeutend; sie möge nach einer Bewegung von der Rechten zur Linken hier vorgeführt werden, so daß

k irc h lic h

a c c e n tu ir te ,

b ib lis c h

a rg u m e n tir e n d e

und

k ritis c h e L e h rb ü c h e r einander folgen. Schon 1811 tra t C h r is t ia n W ilh e lm

A u g u s ti') , der viel­

seitige Gelehrte und in allen Fächern arbeitende, besonders aber fü r die kirchliche Archäologie bedeutend gewordene Schriftsteller, m it einem neuen systematischen E n tw u rf auf. getische,

Seine Absicht war eine apolo­

und von vorn herein w irft er den Kritikern das W o rt

L e s fin g 's entgegen, daß das alte Religionssystem kein Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen sei.

M i t einem sehr allgemein

gehaltenen Anschluß an das kirchliche Dogma

verbindet A u g u s ti

einige eigenthümliche Züge, die uns an R e in h a r d und an T e ll e r 's älteres Lehrbuch erinnern.

D ie christliche Religion bezweckt Wieder­

herstellung der sündigen Menschheit, die Theologie hat diesen ihren S in n deutlich zu machen, muß also den Menschen zuerst auf

den

Standpunkt hinführen,

wo er des göttlichen Beistandes und der

Erleuchtung bedarf und

auf selbständigen Vernunftgebrauch zu ver­

zichten hat.

Aber auf die Entfremdung des Abfalls folgt die A n­

ziehungskraft der Gnade.

Jetzt eröffnet also die Religion

ihren

positiv offenbarenden Gehalt, sie w ird Glaubenswissenschaft; aus der inspirirten S ch rift entwickeln sich die Bestandtheile christlicher E r ­ kenntniß, die Wahrheiten

des Gottesbegriffs,

der T rin itä t, V o r­

sehung und Geisterwelt sowie der menschlichen Bestimmung in die­ sem und dem zukünftigen Leben. Sow eit reicht die L e hre als solche. Aber durch diese allein würde das Christenthum sich niemals zum Range einer W ettreligion

erhoben haben; daher muß ein d ritte r

T h e il, das T h a ts ä c h lic h e ,

welches durch sich selber und seine

historische R ealität w irkt und Glauben fordert, der bloßen Lehrwahr­ heit zur Seite treten.

Christus als der Gottmensch, sein Werk als

Grundlage der Heilsordnung, *) Geb. zu Eschenberga 17 72,

die S tiftu n g

der Kirche und der

gest. 1841 in Koblenz.

Lebens und seine amtlichen Stellungen

D e r Gang seines

in J e n a , B re s la u und Koblenz werden

von Hagenbach in Herzog'» Encyklopädie angegeben.

484

Neunte« Buch. Erster Abschnitt.

S akram ente bilden zusammen einen Complex faktischer G rößen, wel­ chen die christliche R e lig io n ih r Dasein und ih re F ortpflanzung ver­ dankt.

„Dem nach

Thatsache,

besteht das P rin c ip

des Christenthum s in

der

daß Jesus C hristus der im A lte n Testament verheißene

Messias und der S o h n G ottes sei, G o tt selbst ist,

daß dieser S o h n G otte s,

der

(J o h . 1, 1) menschliche N a tu r angenommen und in

der B ereinigung seiner göttlichen und menschlichen N a tu r a ls G o tt­ mensch au f Erden erschienen sei, um die Menschen von der H e rr­ schaft der S ünde, von der M acht des Todes und G e w a lt des T e u ­ fels zu erlösen.

Diese E rlösung ist nicht bloß ein gewisser Z eitact,

sondern das größte e y ’ « « « | der Geschichte und die größte U niversal­ w irkung bei dem Menschengeschlecht, welche w ir bis jetzt kennen" ')• B e i der B egründung seiner Thesen wendet sich A u g u s t i von aller K r itik vornehm

ab;

er

v in d ic irt

der V e rn u n ft nicht bloß das Recht der

A uslegung, sondern auch der unparteiischen B e u rtheilun g der in der h. S c h rift selbst enthaltenen Sätze und rechnet es doch zu den P rä ­ lim inarbedingungen der R e lig io n , im V e rh ä ltn iß zu G o tt auf den Gebrauch der V e rn u n ft und F re ih e it fre iw illig zu verzichten ’ ). w ird

Auch

die eigene Ueberzeugung des Verfassers dadurch zweifelhaft,

daß er schon in der Vorrede e rk lä rt, das M a te rie lle des kirchlichen S ystem s,

welches man

m öge, —

besonders auch in dem S in n e ,

N a tu r und habe

er

das supranaturalistische nennen w e il es wirklich über die

den H o rizo n t V ie le r seiner Bestreiter hinausgehe, —

nicht zu

Lobes w e rth , und Gnade

im m erhin

vertreten.

weil in ihm

wieder

stärker

Dennoch ist dieser E n tw u rf einiges die evangelischen Gedanken der Sünde hervortreten,

w e il

die W ichtigkeit des

Faktischen im Christenthum, wenn auch ohne alle V e rm itte lu n g m it dem D o c trin a le n , hier

vielleicht

C h risti g ls

von

anerkannt w ird und w e il endlich der Verfasser, S c h e llin g

angeregt,

die größte U niversalw irkung

geschichte p re is t').

Auch

mag

man

ih m

W erk

und

innerhalb

Erscheinung

der Menschen­

nicht verübeln,

wenn er

*) System bet christl. Dogmatik § 188. S . 206. ') Ebendas. § 28. 31. 96. S . 104. *) Bezeichnend für den Stand der Kritik ist § 171 die Frage, ob die neu» testamentlichen Schriftsteller die messtanische Weissagung „als Interpretation oder

Marheineke und bessert „Grundlehren".

485

gegenüber den gleichzeitigen Conflicten und Spaltungen innerhalb der Philosophie daö Selbstgefühl der Theologen durch Hinweisung auf die W ürde der Theologie als der „Königin der Wissenschaften" zu heben suchte. S ollte auch die strenge kirchliche Theorie wieder aufgenommen werden: so konnte dies entweder mehr in h isto risch em S inne oder nach p h ilo so p h isc h e r Methode geschehen, und die erstere Form ist mit A. H a h n , die andere mit M a rh e in e k e zu belegen. P h i l i p p M a r h e in e k e ') , dieser vornehme theologische Charakter, den aber am Abend seines Lebens eine weichere Gemüthsstimmung bei erhöh­ tem Freim uth sehr wohl kleidete, — würde eine ausführlichere D a r­ stellung verdienen, wenn w ir hier auch seine spätere Stellung und Thätigkeit innerhalb der Hegel'schen Schule in Betracht zu ziehen hätten. Seinem Verdienst können wir nicht vollständig gerecht wer­ den. E r hatte sich schon vielfach auf dem Felde der Symbolik und Kirchengeschichte ausgezeichnet, ehe er 1819 mit seinen Grundlehren der christlichen Dogmatik hervortrat, und dieses Buch erklärte er selbst für unvollkommen; gleichwohl macht es schon in seiner ersten, obwohl weit weniger kunstvoll als die späteren Bearbeitungen durch­ geführten Gestalt den Eindruck einer sehr durchdachten Leistung. Indem es der Anlage nach auf D a u b zurückweist, steht es in unserer Reihe einsam da. M a rh e in e k e hat stets zu D a u b wie zu seinem Meister emporgeblickt; ich meine aber, er hätte sich dreist neben ihn stellen dürfen, denn er war mehr Theologe als jener; er zeigt sich in höherem Grade H err seines S toffes, und die Tugenden einer Accommodation angesehen haben". „D as Letztere, sagt August«, ist sicher am Häufigsten geschehen, ob aber immer, wie angenommen wird, läßt fich mit Grün­ den bezweifeln." ') Geb. zu Hildesheim am 1. M ai 1780, gest. am 31. Mai 1846. Eine genügende Darstellung der Persönlichkeit und der Leistungen dieses Manne» ist mir nicht bekannt, und der Artikel von Kling bei Herzog kann diese Lücke wenig­ stens in dogmatischer Beziehung nicht ersetzen. Vgl. jedoch Bretschneider'« Hand­ buch der Dogmatik, I , S . 115 ff., Dörner, Geschichte der Theologie, S . 784. — W ir hätten freilich die Grundlehren der christlichen Dogmatik, Verl. 1819, ebenso wohl im unmittelbaren Anschluß an Daub behandeln können» haben sie aber hier­ hergezogen, um den sür diesen Abschnitt nöthige» EonsvectuS möglichst zu vervoll­ ständigen.

Neunles Buch. Erster Abschnitt.

486 faßlichen,

fließenden,

o ft edeln und nachdrucksvollen D ik tio n

D arste llu ng verlassen ihn nie. lernen w i ll,

und

W e r jedoch diesen D o gm a tiker kennen

der muß ihn selbst aufsuchen, ohne auf ein Entgegen­

kommen von

dessen S e ite zu rechnen.

E inladend w ill das W erk

nicht w irken, sondern eher abschließend gegen ganze K laffen des be­ theiligten P ublikum s, gegen Unreife, die nicht verstehen wollen, gegen die Anhänger der A ufklärungsleerheit, des R a tio n a lis m u s und K a n t i ­ schen M o ra lis m u s wie überhaupt eines S u b je k tiv is m u s , welcher den W e rth der A u cto ritä t, d. h. der Urheberschaft, in der R e lig io n nicht gelten

lassen

w ill

und

m it dem daher auch in theologischen D i n ­

gen nichts anzufangen ist. zugeherrscht w ird : h e it,

E s kann geschehen, daß ihnen das W o rt

„A u s Solchen spricht nicht der Geist der W a h r­

und die W ahrheit ist nicht in ihnen."

S c h le ie rm a c h e r'S

D u rch die Ablehnung

sollten später diese polemischen Schärfen noch

gesteigert werden. M an

würde irre n , w ollte man diese „G ru n d le h re n " n u r als

philosophisches Kunstwerk beurtheilen, nein sie sind auch ein Ausdruck des G laubens und eines auf die kirchlichen Denkmale der Vergangen­ heit, au f Augustin, Luther und die Bekenntnißschriften gestützten und dem

irre

gewordenen Zeitgeist

entgegentretenden G laubens.

Der

S chriftsteller ist diesem Standpunkte m it A ufrichtigkeit ergeben, und gerade das patristische S tu d iu m hat offenbar großen E in flu ß auf ih n geübt; ten ,

aber er w ill seinen G lauben auch wissenschaftlich bewahrhei­

indem

er ihn aus die Gottesidee a ls den einzigen Gegenstand

a lle r R eligionslehre reducirt.

D ie G n o s is , sagt er ganz im S in n e

der alten Alexandriner, steht nicht höher a ls die P i s t i s , w ird v ie l­ m ehr durch diese erst bedingt und würde ohne sie zu einem proble­ matischen Denken herabsinken; dennoch aber lie g t zugleich im G la u ­ ben ein Streben nach dem W issen,

ein tiefes V erlangen,

daß die

unsichtbaren G üter und hohen Verheißungen der R elig io n nicht allein „gegründet,

sondern auch ergründet und erkannt werden möchten".

E in Trachten nach höchster Erkenntniß gehört zur W ürde der Wissen­ schaft, und fü r diese einzustehen, hat sich M a r h e in e k e stets ange­ legen sein lassen.

Im

G lauben

hat die R e lig io n ih r Leben, von

der Theologie empfängt sie begriffliche G estaltung;

darum

ist die

Mar-eineke Im BerhLktniß zu Schleiermacher.

497

Religionswissenschaft ihrer Form nach Menschenwerk, göttlich aber nach ihrem Gegenstand.

M it

dieser Hervorhebung des positiven

Glaubens verbindet der Dogmatiker ferner ein lebhaftes subjektives Interesse, das beweisen zahlreiche und affectvolle Aeußerungen, und wenn er geltend macht, daß eS immer n ur Religion fei, w orauf alle Theologie

hinauslaufe, daß die fubjective Frömmigkeit in jedem

Augenblick betheiligt sei und im gläubigen Gefühl ihren unmittelbar­ sten Ausdruck finde: so scheint er sich auf ähnliche» Wegen wie S c h le ie rm a c h e r zu bewegen.

A llein diese Aehnlichkeit offenbart

zugleich die schärfste Differenz,

und es bedarf n ur eines kurzen

Nachdenkens, um wahrzunehmen, daß w ir uns methodisch angesehen hier auf der entgegengesetzten Seite befinden. — D a s P rincip der Dogmatik ist nach M a r h e in e k e die O f f e n b a r u n g G o t te s in dem N o rm

B e w u ß ts e in und in

vo n

ih m ;

sie hat im

W orte Gottes ihre

den kirchlichen Formeln oder Analogieen, die eine

gewisse Glaubenssumme auf den G rund der h. S c h rift zurückführen, ihre R e g e l.

D e r Mensch verdankt die Gottesidee nicht sich selbst,

sie ist ihm verliehen und kundgethan, und darauf beruht alle W ahr­ heit der Offenbarung, denn diese ist nicht eine einzelne Darstellung der Religionsidee, sondern fä llt m it deren absolutem In h a lt zusam­ men.

D a s Gottesbewußtsein darf sich daher keineswegs als die

Wurzel der Gottesidee bettachten, deren erstes Product und Gewächs sie vielmehr ist.

Diese und ähnliche Sätze mag man immerhin auch

m it S c h le ie rm a c h e r'S Ansicht noch vereinbar finden, aber sie find ganz anders gemeint, als er sie interpretiren müßte.

D a s Selbst­

bewußtsein w ird freilich als O rgan christlicher Aussagen anerkannt, aber nur weil und soweit es einen durch göttliche A uctorität verbürgten Ausdruck m itbringt, nicht weil es sich innerhalb der christlichen Ge­ meinschaft gebildet und befestigt hat.

Denn selbständig kommt es

nicht zur Sprache, w ird nicht in seinem eigenen Zusammenhange verfolgt, noch unter Bergleichung möglicher Abweichungen auf einen stetigen Gehalt zurückgeführt, waS der religiösen S ubjectivität zu sehr Borschub leisten würde.

D ie Frömmigkeit gelangt also zu kei­

ner E ntfaltung in sich selbst; auch fehlt die Gelegenheit, die G la u benöweise» zu gruppiren, damit sich die protestantisch-christliche

aus

488

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

bereit M itte in ihrer Eigenheit heraushebe; und damit fällt eine ganze Reihe von Reflexionen hinweg, welche bei S c h le te rm a c h e r eine große historisch-kritische Wichtigkeit haben. Bei M a r h e in e k e ist Alles wesentlich gegeben und trägt sofort den Stem pel göttlicher Urheberschaft. Zw ar hat der Dogmatiker auch eine kritische O b ' liegenheit, sowohl eine speculative, welche auf den Sym bolism us in der Religion gerichtet fein m uß, als auch eine historische, die das Zeitliche von dem ewigen Gehalt der religiösen Wahrheiten zu unter­ scheiden h at; allein von diesen historisch-kritischen Befugnissen wird wenig Gebrauch gemacht, und selbst Reformation und Protestantis­ m us gelangen zu keiner W ürdigung. Methodus est arbitraria, pflegt gesagt zu werden, hier aber deutet schon die Anlage sehr bestimmt auf die Ausführung und bereit Charakter. D a s Werk legt das Schema der T rinitätslehre zum Grunde, ihm wird der positive Lehrinhalt dergestalt eingeordnet, daß immer nur G ott selbst entweder als Gegenstand oder als absoluter M aaßstab dogmatischer Reflexion stehen bleibt, also Anthropologie und Soteriologie keine selbständige Stellung einnehmen. D em ent­ sprechend handelt ein erster und sehr schön ausgearbeiteter Haupttheil von G o tt, d. h. von dessen S e in , Wesen und Eigenschaften, und wir erfahren, daß der Verfasser an gewisse Unterscheidungen S c h e ll i n g 's , z. B . des Grundes Gottes von ihm selber, keineswegs ge­ bunden sein wollte. Ein zweiter Theil von G ott dem Sohne beginnt mit den Artikeln von der ewigen Existenz des Sohnes aus dem V ater, von der Offenbarung, der Schöpfung und betn göttlichen Ebenbilde, geht sodann zur Menschwerdung über, welcher zunächst Erhaltung und Providenz, Erlösung und Prädestination und endlich die Lehre von der Person Christi als des Gottmenschen subsumirt werden, und schließt mit der Darstellung des Verdienstes Christi, wobei also die Aemter- und Ständelehre sammt den W undern in Betracht kommen. I m dritten Theil steht die göttliche Dreieinigkeit an der Spitze, ihr folgt die W eltregierung, welcher sich als Folgen oder Wirkungen Bekehrung und Befferung, HeilSordnung, sowie ein Schlußabschnitt von der Kirche anschließen. D ie Folgen dieser abweichenden Nebenund Unterordnung sind augenfällig. Wenn Schöpfung, E rhal-

Marheineke'« Grundlehren und deren Anlage.

489

tun g und Vorsehung dem ersten H a up ta rtikel entzogen und den

zweiten gestellt

werden:

unter

so treten sie m it betn B e g riffe der

O ffenbarung a u f gleiche Linie, und die letztere th e ilt m it jenen die­ selbe kosmisch-metaphysische G ü ltig ke it und Ausdehnung.

D a n n lä ß t

eS sich leichter ausführen, daß „da s Christenthum in seinem Wesen nichts Entstandenes", daß „ohne den G lauben an den S o h n G ottes es ganz unmöglich sei, glauben",

an die G öttlichkeit der R elig io n selber zu

„w e il eben die Id e e desselben nichts Anderes ist als die

Id e e des G o tt offenbarenden G o tte s ," daß endlich „a lle r Atheism us n u r AntichristianiSm us sei, welcher n u r den menschgewordenen S o h n G ottes leugnet, indem er sich innerlich von G o tt geschieden h a t " ') ; dann w ird

aber auch das Recht, die O ffenbarung a ls h is to ris c h e

G r ö ß e anzuschauen und zu prüfen, abgeschnitten.

D a m it hängt zu­

sammen, daß hiernach die E rh a ltu n g und Providenz au f der W a h r­ heit der Menschwerdung C h risti r u h t,

während nach gewöhnlicher

D arstellung das umgekehrte V e rh ä ltn iß stattfindet.

W enn ferner das

göttliche Ebenbild und dessen tirsprünglicher Besitz und V e rlu st in der angegebenen Weise geordnet werden: so empfangen auch diese Lehr­ stücke in der vorangestellten Id e e des Sohnes G ottes ihren absolu­ ten Maaßstab und treten dam it in eine Abhängigkeit, unter welcher die in ihnen enthaltenen B e g riffe biblisch nicht entstanden sind. ist zuzugeben,

Es

daß auch diese von M a r h e in e k e gelieferte systema­

tische Verknüpfung im Einzelnen gerechtfertigt werden kann;

noch aus

betrachten

dem kirchlichen D o gm a

w ir sie aber im Ganzen:

so

beruht sie mehr auf patristischen als auf reformatorischen und pro­ testantischen Anschauungen. denn auf diese w ird

E s ist a n t ik , der Id e e des Logos, —

oftm a ls und deutlich zurückgegangen, —

so weitreichende dogmatische W irksamkeit zu verleihen,

eine

daß sie die

ganze Reihe der schöpferischen, erhaltenden und erlösenden göttlichen M anifestationen gleichmäßig beherrscht; die protestantischen System a­ tiker haben das niem als gethan, sondern bei der Schöpfung und V o r ­ sehung bezeichnen sie den S o h n jederzeit n u r alö die m it t h ä t ig e

*) Marheineke, G rundlehren, § 306. 340. m it den obigen Sätzen vereinbar?

W ie ist aber M a tth .

12,

31 ff.

490

Neuntes Buch.

Erster Abschnitt.

göttliche Potenz, und verrathen dam it, daß sie schon einer mehr historischen Anschauung deS Christenthums sich zuwenden wollten. S ie sind auch nicht so weit gegangen, Atheismus und Antichristianismus, d. h. Verleugnung Christi als Wechselbegriffe hinzustellen. Auch das ist nicht ohne Bedeutung, daß die Lehre vom Menschen nicht unter der bloßen Rubrik des göttlichen Ebenbildes, sondern in den eigenen Artikeln von der Sünde und vom Heil entwickelt zu werden pflegt. D er Dogmatiker verfährt nicht richtig, wenn er die histori­ schen Factoren der Offenbarung von vorn herein mit einem Ring metaphysischer Begriffe umklammert, innerhalb dessen sie sich gar nicht regen können. D ie Ausstellungen, zu denen wir bei D a u b genöthigt w aren, sind daher auch hier am O rte , wenn auch in ge­ ringerem G rade, denn M a r h e i n e k e verliert sich niemals so weit und gelangt innerhalb seiner Grenzen zu einer befriedigenderen inneren Abrundung. D aß sich dieser Schriftsteller auf biblische Erörterungen niemals eingelassen hat, ist bekannt; im vorliegenden Falle begnügt er sich einfach m it biblischen und symbolischen Citaten und erklärt bei Ge­ legenheit, es fei ein ganz falscher Grundsatz, daß man sich von der Kirche trennen (sic) müsse, um die Bibel erst zu verstehen, — ein Urtheil, welches den Standpunkt des Symbolikers bezeichnet und in u t r a m q u e p a r te m gewendet, gewiß also auch stark gemißbraucht werden kann. Eine symbolisch unabhängige Schriftforschung ist noch keine Trennung von der Kirche, noch darf als Grundsatz hingestellt werden, was nur eine wissenschaftliche Obliegenheit enthält. Einer so bedeutenden Gedankenarbeit, — denn dafür wird auch der Gegner dieses Buch erklären, — nach allen Seiten zu folgen, wäre mühelohnend; doch gestatte ich m ir nur über zwei Punkte eine eingehende Erklärung. D ie systematische Stellung des D ogm a's vom Gottessohn ist oben ausgezeichnet worden, in Uebereinstimmung mit derselben wird § 2 6 0 gesagt, „die Lehre von dem menschgewordenen S oh n G ottes sei wesentlich eine t heologische und nicht eine a n ­ t h r o p o l o g i s c h e , d. h. nicht an und für sich in der menschlichen N atur, sondern in dem Wesen Gottes lassen sich zunächst und zuoberst die

Marhelneke'S Christologie.

491

Gründe dafür auffinden" **). Dieser Satz ergiebt sich aus der trinitarifchen Anlage des Ganzen, aber aneignen können wir ihn uns nicht; w ir halten mit S c h le ie rm a c h e r die Lehre von dem persön­ lichen Christus für eine wesentlich anthropologische, so daß nur das P r i n c i p der durch ihn offenbarten Gnadenstellung und heiligenden Geisteswirksamkeit ein th e o lo g isc h e s ist und bleibt, und um dieses Princips willen gebührt allerdings dem Lehrstück eine eigene Stelle, wie sie sich hier nicht vorfindet. Aber M a rh e in e k e bleibt auch nicht auf dieser Linie. Wenn er § 295 weiter hinzufügt, „die Menschwerdung sei nichts Anderes als die vollkommenste Menschlichwerdung des vollkommensten Bewußtseins G ottes, eine Heiligung und Durchdringung der menschlichen N atur m it unmittelbar gött­ lichem Leben und wahrhaft göttlicher Gesinnung": so muß gefragt werden, ob eS nicht zum Ziele des menschlichen Lebens gehört, mit göttlicher Gesinnung erfüllt zu werden, nachdem wirklich mit Christo „eine ganz neue W elt aufgegangen ist." Durch diese Bestimmung wird die genannte Lehre noch nicht aus der Anthropologie in die Theologie gerückt, sondern sie bezieht sich auf den letzten von der göttlichen Liebe gesetzten Endzweck des Menschenlebens. I m Folgen­ den schließt sich der Dogmatiker an die wichtigeren Momente der orthodoxen Christologie an, behauptet aber § 3 0 3 : „nicht die mensch­ liche Person hat der S oh n Gottes angenommen, weil jene außer allem Verhältniß zu G ott wesentlich menschlich gar nicht existirt"'). M an muß ihn gewähren lassen, wenn er auf die „ I r r e a l i t ä t der menschlichen N atur außer der göttlichen", also auf die Vorstellung ’) Grundlehren § 296. „D er Begriff vom Gottmenschen ist der von einem Mensche», dessen Bewußtsein Gotte» von demjenigen, wie e» Gott von sich selber hat, nicht wesentlich verschieden ist/' *) Z u r Erklärung dient da» Folgende: „D a» Denken de» Menschen außer G ott aber, mithin auch da» Denken seiner selbst außer Gott ist wie sein S ein außer Gott gar nicht» Reelle», mithin ist auch die persönliche Existenz de» Menscheu außer G ott und ohne G ott überall gar keine, und die menschliche N atur auf diese A rt persönlich und von sich selber wiffend, ist mithin gar nicht wahr­ haft; e» kann ihr ohne irgend ein Verhältniß zur göttlichen N atur keine Subst. stenz, keine Hypostase oder Persönlichkeit, kein wirkliche« und wahrhafte« S ein zu­ geschrieben werden."

492

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

von der Unpersönlichkeit der menschlichen N atur Christi so großes Gewicht legt (§ 304): aber darüber ist zu rechten, daß er von dieser Annahme eine ganz unerlaubte Anwendung macht. Weder die V ä­ ter noch die neueren Dogmatiker sind der M einung gewesen, daß die menschliche N atur außer der Verbindung m it dem S ohn G ottes überhaupt nicht wahrhaft und p e rsö n lic h vorhanden gewesen son­ dern erst geworden sei, nachdem er sie ganz und gar angenommen; sie haben vielmehr jene Anhhpostasie stets n u r für die Constituirung der Persönlichkeit Christi in Anspruch genommen. Is t jedoch eine solche Verallgemeinerung dennoch zulässig: mm dann wäre ja die Christologie recht eigentlich eine anthropologische Lehre, denn anthro­ pologisch muß doch das genannt werden, dessen I n h a lt oder W ir­ kung die menschliche N atur erst ihrer selbst vollständig theilhaftig macht. Wie die Einigung der beiden N aturen zu denken sei, ergiebt sich aus der Behauptung, daß Christus nur der Form nach von G ott verschieden w ar; der Gottessohn konnte als solcher nicht ge­ boren werden, nur der Mensch wurde f ü r ih n geboren. Folglich w ar der Act der Menschwerdung absolut und schöpferisch, da durch ihn die menschliche N atur erst wieder in's Dasein gerufen worden, und er soll doch andererseits nur eine formale W ahrheit haben'). Hier befindet sich der Dogmatiker an einer ähnlichen Grenze, wie einst die Scholastiker; er behauptet die Menschwerdung in höchster Potenz, indem er ein menschliches Bewußtsein dem Selbstbewußtsein Gotteö von sich selber gleichstellt, und er ist doch in demselben Augenblicke in Gefahr, sie zu verlieren, da er sie zu einer formalen herabsetzt. Endlich aber, wenn wir mit dieser Construction den von D a u b entlehnten einleitenden Satz vergleichen, daß Sym bolism us und Anthropomorphismus durch alle Religion hindurchgehen, daß aber die W ahrheit der Menschwerdung Gottes zum Zweck der Wiederher­ stellung der Menschenwürde das höchste S y m b o l se i'), — wie dann? soll dann das Symbolische auf der menschlichen S eite, die vorher noch keine Realität hatte, oder auf S eiten der göttlichen ') Grundlehren, § 282. 302. 8) Ebendas. § 70.

Marherneke von der Menschwerdung und Sünde.

493

N atur, welche die menschliche ihrer Form nach ganz mit sich einigte, ohne freilich an der menschlichen Geburt Theil zu nehmen, gesucht werden, und worin besteht diests Symbolische eigentlich? Fürw ahr es ist schwierig, in der M itte dieser Positionen überhaupt noch festen Fuß zu fassen'). Scharfsinnig und geistvoll ist die Entwicklung der Sündenlehre, obgleich auch sie zum Widersprüche reizt. Bon den altkirchlichen Definitionen des göttlichen Ebenbildes, des ursprünglichen und des sündhaft verletzten, soll nichts abgedungen werden. Nicht allein be­ saß der Urmensch In teg rität aller Seelenkräfte, sondern auch die volle Erkenntniß Gottes und seines W illens und ein ihr entsprechen­ des Handeln. Und ebenso muß der S tan d der Gefallenen, welche die Adamitische N atur nur als eine verderbte in sich tragen, als Mangelhaftigkeit oder carentia und als Hang oder concupiscentia vorgestellt werden. D er Ursprung des Bösen im Menschen aber ist nur aus der P rio rität eines Urbösen zu begreifen, denn er selber hat es nicht gemacht, s o n d e rn es h a t ihn g em acht, indem es dessen an sich reine N atur mit sich verwickelte. Dessen ungeachtet w ar die erste Sünde des Menschen eigene freie T hat, weil sie aus dem Grundvermögen der Freiheit hervorging, und er büßte auch nicht den W illen, sondern nur dessen reine intellectuelle und sittliche Bewegung ein. Aber nicht als Privateigenthum besaß und verlor er die aner­ schaffene Gerechtigkeit, sondern als Repräsentant der Menschheit, und darin liegt der Grund der Zurechnung. Actuelle und originelle Sünde verhalten sich zu einander wie die Subjektivität der Sünde zu deren Objektivität, darum fällt diese der Gesammtheit, jene den Einzelnen zur Last; obgleich aber beide nicht wesentlich aus einander *) Auf die Jdivmenlehre legt M . nach § 326 ff. wenig Gewicht. Ebenso ver­ wirft er die gewöhnliche Lutherische Deutung der Höllenfahrt Christi und mißt dieser Vorstellung nur eine allgemeine ethisch, religiöse Wahrheit bei. Auch in den verworfensten Seelen und in dem schwärzesten Abgrund eines bösen Gemüths zeigt sich noch ein lichter Punkt, an welchem Christus sich verkündigt. Dieser scheuet also die erstickende Atmosphäre des Bösewichts und die Hölle der Teufel nicht, um dazuthun, daß er noch lebe und nimmermehr untergehen könne. „ In diesem S in n e hat der Sohn Gotte» auch die Schmerzen der Hölle empfunden, sich bewußt einer Macht, kraft deren er ihrer Meister und Herr war." § 416.

494 sind:

Neuntes Buch.

Erster Abschnitt.

so kann doch die Erbsünde n u r als zuständliche und fortge­

pflanzte D e pra vation bezeichnet werden. zung w ird dadurch begreiflich, menschlichen N a tu r ,

N a tu r

D ie A r t ih re r F o rtp fla n ­

daß die Persönlichkeit außerhalb der

kein D asein

hat.

Adam

sondern aus persönlichem W ille n ,

sündigte

aber

nicht

aus

er th a t eS nicht,

ohne durch seine persönliche Vergehung die gesammte N a tu r zu ver­ g ifte n ; nachdem dies geschehen, mußte umgekehrt die natürliche V e r­ derbtheit in die durch Abstammung m it Adam Verbundenen auch per­ sönlich überfließen. N u r so vie l ist daher einzuräumen, daß wo sich m it

der angeerbten V itio s itä t

noch keine persönliche S chuld ver­

bunden h a t, auch keine Berdam m niß stattfindet.

In

dieser Deduk­

tio n ,

welcher S c h le ie r m a c h e r die feinige m it scharfer Unterschei­

dung

entgegengestellt h a t,

werden

die besseren Bestandtheile

der

Augustinischen E rklärung prä cis und gedankenmäßig wiedergegeben. E inige Punkte

aber bleiben dunkel,

der

eine b e trifft das Urböse,

welches den Menschen zum S ü n d e r m a ch t und doch nicht a ls zwei­ tes P rin c ip vorgestellt, noch m it S c h e ll in g aus dem G ru n d G ottes abgeleitet werden d a rf; den anderen kennen w ir bereits, er lie g t in dem Berdorbenwerden der N a tu r A dam 's a u s seiner T h a t. auch

das

natürlich

ist nicht ersichtlich»

Aber

wie in den Nachkommen A dam 's die

gesetzte D e pra vation

in

das persönliche Leben überfließen

konnte; denn dem Obigen zufolge w a r ja außerhalb der Verbindung m it dem Gottessohn die menschliche N a tu r nicht w a h rh a ft und per­ sönlich vorhanden, und doch w ird sie hier gerade in der E ntw icklung der S ün dh aftigke it als eine vollständige vorausgesetzt. A lle diese Eiuzelnheiten weisen zuletzt wieder auf die T r in itä t a ls den K ern des Ganzen und den In b e g r iff der D o gm a tik zurück. D ie Aufnahm e des Glaubenssystems in die Construction des Abso­ luten selber verlieh demselben a u f's Neue eine imponirende H a ltu n g , eine der „subjektiven W illk ü r " schlossenheit,

aber sie entzog

und auch

M e in u n g widerstehende Abge­ einen

T h e il

des dogmatischen

S to ffe s dem Lebensboden, a u f dem er erwachsen w a r und verpflanzte ih n auf ein anderes Gebiet. H e g e l'fc h e

philosophische

Noch mehr w a r dies der F a ll, a ls die M ethode

sich

vollständig

der

kirchlich­

orthodoxen Term inologie bemächtigte, um sie spekulativ zu bewahr-

Marheineke.

Heiken.

S tandpunkt Hahn'«.

495

M a rh e in e k e als der Repräsentant einer Theologie, die

zugleich Philosophie sein w ill, Vertrauen ergriffen.

In

hat auch diese Methode m it ernstem

ihm überwog der Theologe noch den P h i­

losophen, und er ließ sich seiner S tellung nicht entfremden.

Aber

indem er viel wollte, hat er auch viel aus'S S p ie l gesetzt; er konnte nicht verhindern,

daß durch das Bündniß der Speculation m it den

dogmatischen Begriffen Mißverständnisse und Täuschungen herbeige­ führt wurden, welche die K ritik zur Anwendung ihrer schärfsten Waffen herausfordern sollten. A u f den kirchlich traditionellen Standpunkt leitet uns A u g u st H a h n , der mehrerwähnte aufrichtige Vertreter des alten, m it soli­ der Gelehrsamkeit und klassischer B ildung verbundenen S upranatu­ ralism us der sächsischen Schule. anerkannt.

Seine literarischen Verdienste sind

S ein „Lehrbuch des christlichen Glaubens" diente in

erster Gestalt zur Rechtfertigung der in der D isputation von 1837 verfochtenen Grundsätze.

D as U rtheil über dieses Buch ist durch

H ase u. A . festgestellt; auch I . K ö s tlin räum t ein, daß H a h n bei allem E ifer wider den Rationalism us und ungeachtet aller kirchlichen Anhänglichkeit doch keineswegs fü r einen Repräsentanten der stren­ gen kirchliche» Rechtgläubigkeit habe gelten sönnen1).

E r selber er­

klärte sich damals gegen falsche Orthodoxie, welche n ur eine einzige und doch immer nur menschliche und beschränkte Auffassung evange­ lischer W ahrheit gelten lassen wolle, M y s tic is m u s ');

er verwarf Pietism us und

der Grundton seiner Darstellung ist erbaulich und

praktisch, ablenkend von der Schärfe des Dogma's.

Häretische Ab­

weichungen, an sich löbliche, lassen sich hier ohne Schwierigkeit ent­ decke«; weder Erbsünde noch T rin itä t werden correct vorgetragen, die ältere Satzung in wesentlichen Punkten erweitert und gelockert. S päterhin hat sich H a h n den symbolisch-Lutherischen Bestimmungen weit entschiedener und in der Ueberzeugung eines Fortschritts zuge­ wendet.

E r äußert in der Vorrede, daß „die in früherer Ausgabe

*) B g l. den A rtikel der Herzog'schcn Encyklopädie, woselbst auch über Hahn'« Leben und Schriften vollständige A uskunft gegeben w ird .

Dazu die Bemerkungen

des Hutterus red. 2) Siehe die Vorrede der ersten Ausgabe.

Lpz. 1828.

496

Neuntes Buch.

Erster Abschnitt.

hervorgetretene D ifferenz zwischen der kirchlichen Theorie und der eigenen m it dem F ortschritt

der Erkenntniß

der Schriftgem äßheit

des evangelischen Lehrbegriffs, wie er zu Augsburg bekannt und in den übrigen

allgemein

anerkannten Bekenntnissen der Lutherischen

Kirche entwickelt und begründet worden ist, —

aufgehoben sei und

som it auch die Discrepanz der dogmatischen Theorie der bekenntnißtreuen Theologen bis in unsere T age."

D a s W erk

ist in zweiter

G estalt zu einem durch dogmenhistorische Excurse und reichliche lite ­ rarische und biblische Nachweisungen

sehr brauchbaren H ü lfs m itte l

fü r den Unterrichtszweck geworden; allein au f dem kirchlichen S ta n d ­ punkt, den es beansprucht und von dem es sich nirgends durch eine kritische Auseinandersetzung ablöst, vermag eö auch in dieser Bearbei­ tung sich nicht zu halten.

Doch kann man eigentlich m it H a h n nicht

rechten, wenn man nicht m it einer weitschichtigen kirchlich historischen Controverse beginnen w ill.

E r hat eS o ft a ls seine Ueberzeugung

ausgesprochen und auch seiner „B ib lio th e k der S y m b o le " (1 8 4 2 ) liegt dieser Gedanke zum G runde, „daß die Glaubenszeugnisse der Luthe­ rischen Kirche, welche auf den Bekenntnissen der alten noch nicht in die römische und griechische zerspaltenen w a h rh a ft katholischen Kirche der ersten sechs Jahrhunderte ruhen, den adäquatesten Ausdruck des Evangelium s

nach der Verkündigung des H e rrn und sslner Apostel

e n th a lte n "').

E in inhaltsschwerer Satz, und endlose D isp u ta tio n e n

würden erforderlich sein,

um ihn stückweise durchzufechten.

der Verfasser darin Recht ha t:

W enn

dann sind unsere doctrinalen V o r ­

bilder und Schranken ein fü r allem al gegeben;

dann

sind

w ir

an

das U rth e il der Reform atoren und des C a lix t gebunden, die freilich nicht anders konnten, a ls ihre Lehre auf den Consensus der ersten sechs Jahrhunderte, soweit dieser nämlich vorhanden ist, zu gründen; dann besteht die Lehraufgabe des Protestantism us fü r im m er in der W iederaufnahme des altkatholischen Standpunktes und in dessen E r ­ gänzung durch die Augsburgische Confession;

dann w ird aber auch

die neuere protestantische Geistesentwicklung, die sich andere und a ll-

*) Lehrbuch des christl. Glaubens, 2. Ausl, in 2 Bdn., Lpz. 1857. rede S. 7.

Vor­

497

Hahn über Inspiration und Offenbarung.

gemeinere Z iele setzt, —

rechtlos und unverständlich.

I c h kann mich

dem gegenüber n u r auf die Tendenz meines W erks beziehen, weiter lä ß t sich dieser S t r e it hier nicht

verfolgen;

er bezeichnet das V o r ­

handensein zweier re la tiv entgegengesetzter Lebenstriebe, welche zuletzt mehr aus Erfolgen als aus G ründen ihre K ra ft schöpfen.

Abgesehen

davon würde es nöthig sein, die H ahn'sche Glaubenslehre m it sich selber und ihren eigenen G rundlagen zu vergleichen;

dabei würde

sich ergeben, daß dieselbe zw ar bemüht ist, „die kirchliche dogmatische T heorie tre u , geben,"

vollständig und doch so präcis als möglich wiederzu­

daß sie aber doch die Tugenden genauer Bezeichnung und

eingehender Begründung, welche die Leistungen der alten D ogm atiker auszeichnen, mehrfach vermissen läßt.

M a n vergleiche den Abschnitt

über die In s p ira tio n , er enthält die bekannten C itate, verbunden m it der B e ru fu n g auf den von C hristus selbst den Aposteln verheißenen Beistand des h. Geistes; die Bedenken und Beschränkungen der neue­ ren K ritik bleiben vö llig unberücksichtigt.

W enn nun diese ganz a ll­

gemein gehaltenen G ründe schon genügten, um gebung der „ganzen h. S c h r ift" oder „ A l l e s

die

göttliche E in ­

dessen,

was die h.

S chriftsteller a ls solche über R elig io n berichten oder lehren," darzut h u n ') : dann würden die Schicksale, Verwicklungen und Fährlichkeiten, ich sage nicht des praktisch-religiösen, aber des wissenschaftlichen S c h riftp rin c ip s unbegreiflich sein. F rage zu

leicht,

der

den

D erjenige

Unterschied

macht sich doch die

zwischen biblisch-christlicher

W a h r h e i t und zwischen der H a l t b a r k e i t einzelner M om ente auf sich beruhen läßt. Zugleich behauptet H a h n , daß O ffenbarung und In s p ira tio n nicht wesentlich verschieden seien, Unterscheidung

der „S ch u lth e o rie "

seit

er v e rw irft also die

Q u e n s te d t;

aber

gerade

diese w a r ja v ö llig berechtigt und unvermeidlich, wenn erkannt w er­ den sollte, daß das Offenbarende in der historischen Erscheinung als solcher und in deren u n m itte lb arer Geisteswirkung gegeben sei, welchen sich dann die h. S c h rift b e z e u g e n d halten hat.

zu

und e r k lä r e n d ver­

M a n beachte ferner den Abschnitt von der D reieinigkeit.

') Lehrbuch de« christl. Glaubens, 2. Stuft. I , § 24. Gesch. d Protest. Dogmatik IV .

498 In

Neuntes Buch.

Erster Abschnitt.

diesem Falle w ird die Schultheorie n u r r e fe rirt, nicht ad o p tirt,

noch m it einer andern vertauscht.

H a h n selbst, um das Zusammen­

sein der E in h e it m it einem M ehrheitlichen im Wesen G ottes zu ver­ anschaulichen, begnügt sich m it einigen biblisch-patristischen Analogieen von Feuer und Licht, indem er die Gefahren des T rith e is m u s und M o d a lis m u s ausdrücklich anerkennt ‘). genügen?

offenbar beabsichtigt, — auch die F o r m w ird ,

Aber sollte w ohl das schon

F o rd e rt nicht das D ogm a, wenn es, —

was der Verfasser

sachlich festgehalten werden soll, daß ihm

einer theoretischen Bestim m theit nicht vorenthalten

sei diese auch eine andere als die vo r Zeiten übliche?

anderw eitig

finden w ir w ohl den S in n

des D o g m a s ,

dessen eigentliche M einung wiedergegeben*),

und

Auch

aber nicht

solche W ahrneh­

mungen machen die P rü fu n g des H ah naschen W erks nützlich, denn sie nöthigen

zu der Anerkennung, daß

*) Ebendas, i , § 55. 5 . 29.

gerade

diese Lehre

ihrem

„ Kein B ild aus der N a tu r ist so anwendbar

zur Veranschaulichung des unendlichen Geistes als eben das des Licht« oder Feuers; einm al durchdringt es die ganze N a tu r (S y m b o l der Allgegenw art) und leuchtet doch n u r hier und da heraus,

und wo es im

minderen Grade sich äußert,

da

sehen w ir Alles in Tod erstarren, — und dann gleicht sein Wesen dem des G ei­ stes, welcher Theil nim m t und sich m itth e ilt ohne V erm inderung, und endlich ist es die A rt des Lichts zu wirken durch S elbstm ittheilung" rc. 2) D ie ursprüngliche Vollkommenheit der U reltern w ird B d. II, § 76 so er­ klärt , daß darunter nicht bloß eine „schlummernde A n l a g e " verstanden werden soll,

sondern „e in e

ihrer

Bestimmung

entsprechende A u s s t a t t u n g

derselben

(d. i. der Menschen) durch die Gnade des schöpferischen B ild ners, wodurch sie be­ fähigt waren, von den ihnen verliehenen Kräfteu den ihrer S te llu n g in der W elt als

Repräsentanten

Gottes

angemessenen Gebrauch zu

W orte verdecken den eigentlichen Fragepunkt. Anlage des Menschen ist eine A usstattung, kunftsvollste.

Es

fragt sich aber,

keuntnißschristen verbundenen

A llein

diese

und zwar die wesenhasteste und zu­

ob die m it dieser Ausstattung nach den Be-

Eigenschaften:

n o titia

fid u c ia D ei als st c tu e i l im Urmenschen vorhanden fen. —

machen."

Auch die sittliche und intellecluelle

A u f eine andere Ungen au igkeit hat Hase,

D ei

c e rtio r,

tim o r D e i,

angenommen werden d ü r­

Polemik S . 273 A u m ., auf­

merksam gemacht. — Um m it diesem m ir übrigens widerstrebenden Werk, dessen Verfassers aber auch ich m it P ietät zu gedenken habe, mich in Einem Punkte zu einigen, erwähne ich die Aeußerung der Vorrede S . I X :

„ D ie Gleichgültigkeit

gegen gründliche Gelehrsamkeit überhaupt und klassische B ild u n g

insbesondere ist

eins der bedenklichsten Zeichen der Z e it, und w ir müssen dringend wünschen, daß sie unter un s nickt weiter greife."

Biblische Dogmatiker.

499

Schott.

Wesen nach ein starkes Bedürfniß formeller Präcision m it sich bringt, ohne welche sie schwerlich aufrechterhalten werden kann. D ie genannten Darstellungen sehen einander höchst unähnlich, aber die Sorge fü r den k irc h lic h e n L e h rb e s ta n d ,

sei es nun

dessen Umrisse und Denkbestimmungen oder mehr dessen In h a lt und Glaubensstoff, —

verbindet sie.

Eine z we i t e G r u p p e fü h rt in

das Centrum dieser Reihenfolge und faßt solche Theologen zusammen, die wie S c h o t t , K n a p p und S t e n d e l ohne sonderliche Betonung des kirchlichen Mom ents den christlichen Glauben nur biblisch gewin­ nen und biblisch normiren wollten. D e r fromme H e i n r i c h A u g u s t S c h o t t s hat bekanntlich für mehrere gelehrte Fächer,

am Glücklichsten aber wohl fü r die prak­

tische Theologie gearbeitet.

Einem M o r u S nicht unähnlich, mag er

durch ernstes S tudium und Gesinnung mehr als durch strenge S y ­ stematik auf seinen

zahlreichen

Schülerkreis gewirkt

haben.

Ein

biblisch-religiöser S upranaturalism us m it sehr milder Beurtheilung des Gegnerischen verbunden bezeichnet den Charakter seines zunächst fü r den Zweck academischer Vorträge bestimmten dogmatischen E n t­ w urfs.

S c h o tt w ill das Positive und Offenbarende retten, er w ill

es aber auch nur auf der Grundlage eines allgemeinen ReligionsglaubenS aneignen; zu Beidem soll der Schüler angeleitet werden, damit er weder den Unterschied des Allgemeinen und Besonderen rationalistisch verwische, noch unwissenschaftlich deren Zusammenhang vernachlässige.

D er Zweck aller dogmatischen M itth e ilu n g ist,

die

evangelische Lehre in ihrer Erhabenheit über den Wechsel der P h ilo ­ sophie als den Weg zu wahrer Gotteögemeinschaft zur Erkenntniß zu bringen.

Demgemäß bilden G o tt,

Elemente der wahren

R eligion,

Schöpfung, Vorsehung die

denen sich die besondere Lehre

Christi und der Apostel angeschlossen hat.

Bei der Schöpfung er­

halten die Engel ihre bescheidene S tellung, während der S atan erst m it der creatürlichen Freiheit und Sünde auftaucht. also diese Pneumatologie in zwei H älften,

was an sich zulässig ist,

worin aber die stillschweigende Aufforderung liegt,

4) Frank, die Theologie Ien a's, S . 113.

S c h o tt spaltet ohne Rücksicht

500

Neuntes Buch. Erster Abschnitt.

auf das WesenSverhältniß bei der praktischen Bedeutung dieses Lehr­ stücks stehen zu bleiben, zumal wenn, wie hier geschieht, die Annahme einer Accommodation zu Hülfe genommen wird. Ferner opfert S c h o tt die von Adam hergeleitete Erbschuld und reducirt die Erb­ sünde aus den individuell verschiedenen Einfluß der natürlichen Ab­ stammung, vermöge dessen Alle der andringenden Sinnlichkeit früher verfallen, ehe das vernünftige Urtheil in ihnen zur Herrschaft kommt; die überlieferte Borstellung ist damit aufgegeben'). E r räum t ein, daß die Lehre vom Opfertode Christi mit den vorchristlichen Religions­ anschauungen eng zusammenhänge, folglich der göttliche Rathschluß sich in dieser Veranstaltung dem Bedürfniß der damaligen Mensch­ heit angeschlossen habe, womit aber der Opferidee ihre bleibende Wirksamkeit noch nicht entzogen werde'). E r giebt der Auferstehung des Leibes einen rationalen H alt ünd bedient sich zur Bezeichnung der göttlichen W ürde Christi einer weit gefaßten F orm el; die altior natura Christi ist nur die unvergleichliche Verbindung des Menschen Christus mit dem V ater, welcher eine Existenz des Logos bei G ott voran­ ging. D ies Alles sind bedeutende M ilderungen. Auch verdient E rw ähnung, daß die Heilslehre an das Schema des Gottesreichs, seiner G ründung, Bedingung und Wirkung angeknüpft wird; die Entwicklung unterscheidet eine dreifache schöpferische Gottesmacht und endigt mit der T rinität; folglich w ar S c h le ie rm a c h e r nicht der Erste, welcher die göttliche Dreiheit an den Schluß des Systems gestellt hat. Som it findet sich in diesem Büchlein überhaupt nichts Schroffes außer der einen Behauptung, daß der göttliche Ursprung der christlichen Religion immer nur durch W u n d e r und W e is s a ­ g u n g e n , nicht durch Argumente der Erfahrung und Geisteskraft bewiesen werden könne'). I n diesem Satz tritt S c h o tt der M a4) Schott, Epitome theol. Christ, dogmaticae, Lips. 1811, § 83. p. 91. 2) Ibid. § 111. p. 148. § 88. p. 100. s) Ibid. § 14. p. 10. Neque vero hoc testimonium experientiae per se spectatum, nisi alia criteria accesserint, comprobare potest, Deum hanc doctrinam institutione patefecisse extraordinaria. Provocat Jesus ad illaro doctrinae suae efficaciam saluberrimam Joh. 6, 3 5 cfr. Joh. 14, 10. 11. 15, 22sqq. (ambigua est interpretatio loci vulgo laudati Joh. 7, 16. 17). Theologi autem, qui sub illo testimonio experientiae (sive ut vocant, interno 8p. s.

Schott. Beweiskraft der Wunder.

501

jorität selbst unter denen entgegen, welche den W erth der Weissagung festhalten und auch dem W under nicht seine religiöse Bedeutung absprechen wollen. D er G rund der Differenz liegt nicht allein in der Abneigung gegen das W under, sondern auch in der verschiedenen Beurtheilung des Verhältnisses zwischen den Beweismitteln der Re­ ligion und dieser selbst. Wenn es darauf ankäme, die Offenbarung gleichsam v o r ihrer Aneignung ganz eigentlich zu beweisen: so würde dies schwerlich anders als durch Wunder geschehen können. Von der neueren Theologie aber gilt in großem Umfange, daß sie das Ver­ langen hat, diese Aneignung selber an die Stelle des Beweises tre­ ten zu lassen; sie findet die höchste Bürgschaft der Religion in dem, was diese unmittelbar bietet, in der Fülle ihrer Segnungen, sucht daher auch das Wunderbare in diese historische Wirksamkeit und Wirklichkeit selber zu versetzen, statt es als bloße Stütze voranzu­ stellen. I n etwas anderer Weife behauptet G e o rg C h r is tia n K n a p p ') den biblischen Standpunkt. Seine dogmatischen Vorlesungen, au s­ gearbeitet in den Jahren 1 7 8 5 —89 und dann bis 1811 ohne wesent­ liche Veränderung vorgetragen, traten, als L. T h ilo sie 1827 in zwei Bänden herausgab, in sehr veränderte Zeitverhältnisse, doch sind sie als ein noch immer dankeuswertheS Andenken an diesen verdienten und allgemein geachteten biblischen Gelehrten mit vieler Theilnahme aufgenommen worden. „Knapp, sagt der Herausgeber, wollte sein und war ein biblischer Theologe, daher galt ihm als Hauptaufgabe der christlichen Dogmatik, dieselbe so wie er sie nach den Gesetzen der historisch-grammatischen Interpretation verstehen zu müssen testimonio) persuasionem immediatam de effectibus, quos religio Christ, in mentibus humanis excitet, supernaturalibus intelligunt, profecto ad eam, qu&e per orbem incedit, argumentationem deveniunt, hac ratione divinam rel. Chr. originem probaturi, neque ad effecta 1. Cor. 2 , 4. Rom. 8 , 16. 1. Joh. 5, 7. recte provocant.

4) Geb. 1753 zu Glaucha, gest. 1825 am 14. Oct. in Halle, der Sohn des früher von uns erwähnten Johann Georg, der „letzte Sprößling der alten Hallifchen Glaubensschule", der Verfasser der werthvollen Scripta varii argumenti (2. A. 1823) und Herausgeber des N. T . S . Tholuck in der Herzog'schen Encyklopädie.

Neunte« Buch.

502

Erster Abschnitt.

glaubte, abzuleiten, sie darnach zwar m it gebührender Rücksicht auf die Geschichte,

aber ohne Anwendung einer bestimmten S c h u lp h ilo ­

sophie wissenschaftlich darzustellen und zugleich ihre praktische A n ­ wendung zu v e rm itte ln " '). und Geschicklichkeit, klassischen

er

L ite ra tu r,

Diesen W eg verfolgt K n a p p m it T reue

verschmäht

noch

die

weder die E rlä u te ru n g aus der

gelegentliche Vergleichung

kirchlichen Lehrtropen und Bekenntnißschriften, unm ittelbarem Verkehr m it dem S c h riftw o rt. und das constructive T a le n t eines S t o r r fangener a ls dieser, auch der

bleibt

m it

aber

den

stets in

Ohne den S charfsinn

erscheint

er

doch unbe­

der K ritik vorbeugend oder ausweichend,

dogmatischen Uebertreibung

und

aber

systematischen Künstelei.

D e r Gebrauch der V e rn u n ft w ird a ls gesetzmäßig vorausgesetzt, der leidige Gegensatz des R a tio n a lism u s gessen.

Desto

und S u p ra n a tu ra lis m u s ver­

näher liegt dem Lehrer

tischen Endzweck der

R e lig io n ;

denn

die M a h n u n g an den prak­ „die

Eigenthümlichkeit

des

Christenthums besteht nun eben da rin , daß es dem Menschen vorher Befreiung von der S ün de und deren S tra fe n verheißt, ehe es gott­ gefällige H eiligkeit von

ihm fo r d e r t" ') .

Knapp

w ill

also

lieber

die F rucht eines frommen Glaubens von dem B aum e der h. S c h rift pflücken

a ls

wenig au f

die dürren B lä tte r trinitarische

wie des thätigen und

der T heorie sammeln.

D e fin itio n e n ,

wenig

leidenden G ehorsam s;

E r giebt

aus Unterscheidungen ohne Umstände substi-

t u ir t er öfters die leichtere Vorstellung, z. B . vom S ta n d e der Un­ schuld und göttlichen Ebenbilde, der anfechtbaren, und es liegt ihm besonders fern, sich in düsteren Schilderungen des menschlichen V e r­ derbens

zu

gefallen.

„E s

ist ein

unserem

Wesen

eingepflanzter

*) Kuapp'S Vorlesungen über die christl. Glaubenslehre, herauSg. v. L. T h ilo , H alle 182 7 , 2 Bde.

V g l. die Vorrede.

B a u r (Lehre von der Bersöhuung, S . 5 30 )

stellt dieses W erk in's vorige J a h rh u n d e rt,

w eil das Knapp'sche M anuskript seit

1 7 9 0 keine wichtigen Veränderungen mehr erfahren hatte. historisch,

E r verfährt also streng

aber es ist ebenso e rla u b t, dem literarisch-historischen Gesichtspunkt zu

folgen, nach welchem ein Buch dieser A rt in denjenigen Zeitpunkt gehört, wo eS öffentlich w irkt und nach der Absicht des Herausgebers wirken soll. — Guericke besorgte Bearbeitung der Knapp'schen Glaubenslehre Gebrauch erschien 1 84 0 . s) Knapp'« Vorlesungen I I , S . 120.

D ie

von

fü r den praktischen

K napp'« Vorlesungen.

Stendel.

503

G rundtrieb, nach welchem w ir die Gesinnung, die dem Rechten ge­ mäß ist, billigen und die, welche ihm zuwider ist, mißbilligen; die Achtung fü r das Sittengesetz ist dem Menschen tief eingeprägt, das ist die Lehre des Christenthums."

Eine Glaubenssprache,

wie sie

hier geführt w ird, gewinnend, frisch und verständig zugleich, hat be­ kanntlich noch niemals ihre Wirkung verfehlt,

zumal wenn sie m it

einer oberflächlichen Systematik oder m it dem Drängen auf die rich­ tige Lehre verglichen wird.

K n a p p 's Vorlesungen

wurden

eine

wohlthuende dogmatische Lectüre, wenn sie auch die Sache nicht un­ mittelbar förderten.

Denn aus einer bloßen Zusammenstellung des

Biblischen w ird nun einmal keine Dogmatik, und die übrigen wissen­ schaftlichen Faktoren kommen in diesem Buch n ur gelegentlich und unvollständig zur Anwendung'). Wenn K n a p p einem früheren Stadium angehört:

so werden

w ir durch J o h a n n C h r is tia n F r ie d r ic h S t r u d e l wieder in die eben vorhandenen Zeitverhältnisse zurückversetzt.

Dieser war nicht

mehr S t o r r 'S , aber F la t t 'S und S ü s k in d 's Schüler und g ilt m it Recht S c h u le ;

als und

der

letzte

Repräsentant

der

älteren

T ü b in g e r

nachdem er sich in zahlreichen Abhandlungen nach

allen Seiten hin ausgesprochen hatte, ließ er auf seine „Grundzüge einer Apologetik fü r das Christenthum" (Tüb. 1830) eine „Glaubens­ lehre" folgen1).

D a s Buch bezeichnet eine unbedingt biblisch-apolo­

getische Tendenz, wie sich dieselbe im Gegensatz zu der K ritik und im Gegensatz zu der jetzt auftretenden Hegel'schen Speculation, in

einiger

Annäherung

an S c h le ie rm a c h e r

aber

festzuhalten suchte.

Von diesem w ird der Verfasser gleichzeitig angezogen und abgestoßen. S tru d e l

erscheint als ein einfach frommer Charakter,

war aber

doch eingeweiht und nachdenklich genug, um die Schwierigkeit seiner S tellung zu empfinden. Hatte einst S t o r r die K a n tis c h e n P rin ­ cipien für seine Zwecke benutzt: so tra t S t r u d e l vielmehr von dem i ) B g l. die Recension meine« V ater« in den Theol. S in d . u. K rit. 1830. H . 3. *) Glaubenslehre der evang.-prot. Kirche

nach ihrer guten Begründung m it

Rücksicht aus da« B ed ü rfn iß der Z e it, T ü b . 183 4 .

Ueber die sonstigen Schriften

und den späteren C onflict S tru d e l'«

berichtet Oehler in

Encyklopädie.

m it S tr a u ß

Herzog'«

504

Neunte« Buch.

Erster Abschnitt.

philosophischen Verkehr gänzlich zurück.

D ie moderne Tendenz der

Philosophie und ih re r speculativen Ueberschwenglichkeit verletzte ih n , er sah sich von Bestrebungen umgeben, welche dem religiösen G ehalt der h. S c h rift durch eine F ülle

von allerlei Geistesreichthum „a u f-

und nachhelfen" w o llten ; daher seine E rklä ru n g , es sei an der Z e it, von dieser Leckerhaftigkeit wieder zu dem gesunden Geschmack an der großartigen E in fa lt des Christenthum s zurückgeführt zu werden und zw ar verm ittelst einer keuschen und nüchternen Exegese.

D aS V e r­

h ä ltn iß zur Weltwissenschaft ist so gegensätzlich und gespannt, entweder au f die H altbarkeit der fraglichen christlichen Glaubens

verzichtet

werden m u ß ').

sich rückhaltslos dem S c h riftw o rt, aber nicht überbiblisch und noch

daß

S pe culation oder des S tru d e l

ergiebt

er w ill durchaus biblisch sein, weniger

streng symbolisch;

denn

ganz im Geist seiner V orgänger v e rw irft er die Abhängigkeit von F o rm e ln ,

welche öfters den S tem p el der Uebertreibung pder des

M a n g e ls an D urchbildung an sich tragen.

W ie in n ig diese G ru n d ­

sätze m it der religiösen Gesinnung des Verfassers zusammenhingen, beweist jede S eite seiner D arstellung. E in

Recensent würde an dieser Glaubenslehre

viel aussetzen

und namentlich die Sprache und D iale ktik, welche weder schlicht, wie die K n a p p 'sch e , noch zu

höherer Wissenschaftlichkeit

Lesung des Buchs beschwerlich macht,

entwickelt die

streng rügen müssen.

Der

historische B e u rth e ile ! da rf von Nebendingen absehen, aber er w ird dem Werke doch n u r

eine secundäre S te lle

S t r u d e l wirkten ungleichartige Einflüsse. seiner Schule m it,

d rin g t also,

zuweisen können.

Auf

E r b rin g t die Absichten

obgleich m it gem ilderter Strenge,

auf L e h rm e in u n g und Le h rb e stim m u n g ; das fü h rt ih n , wie O e h l e r bemerkt, zu einem durchaus intellectualistischen O ffenbarungsbe­ g riff.

Zugleich aber fo lg t er doch S c h le ie r m a c h e r in der häufigen

B etonung der Fröm m igkeit und des religiösen S in n e s ,

und

diese

subjectivirende Richtung w ird m it jener andern nicht ausgeglichen. R e lig io n ist ein „bestimmtes Ganze von Ansichten", die in bestehen­ den Weisen dargelegt und gepflegt werden, subjectiv aber ist sie die-

') Steudel'S Glaubenslehre, Borrede.

Strudel'» Glaubenslehre.

Grundlegung.

505

jenige Stellung des Gemüths, bei welcher Gedanke, Gefühl und Streben auf ein Uebermenschliches sich richtet'). Also erst das be­ stimmte Ganze von A nsichten giebt der Religion ein objectives Dasein, und nur in dieser Abhängigkeit darf sich die subjective Ge­ müthsstellung entwickeln. Und doch verschmäht S te u d e l die Be­ gründung aus dem religiösen und christlichen Bewußtsein nicht, er läßt sie in sofern gelten, „als dasselbe dem in der Schrift ausge­ prägten christlichen Bewußtsein nachweisbar an alo g ist"'). Diese Beschränkung wäre anzuerkennen, wenn der Dogmatiker nur das Ganze seiner „Ansichten" auch auf ein biblisches Bewußtsein zurück­ geführt hätte. Denn die einzelnen Lehransichten der h. Schrift dür­ fen nicht ohne Weiteres als Ausdruck und Inbegriff eines einheit­ lichen biblischen Bewußtseins gelten; zwischen ihnen liegt ein Abstand, welcher erst durch Unterscheidung eines Gemeinsamen und Abweichen­ den ausgefüllt werden muß, also durch kritische Untersuchung, wie sie in diesem Buche nicht angestellt wird. Zur genaueren Kenntnißnahme dienen die einleitenden Begriffe in ihrer Aufeinanderfolge. Die Dogmatik soll über den In h a lt des kirchlichen Glaubens Auskunft geben; Kirche ist der Verein derer, die sich nach Ansichten und Einrichtungen in der Verwirklichung religiöser Zwecke fördern wollen. Die Bildung einer solchen Ge­ meinschaft ergiebt sich, wenn Mehrere über ein Ganzes von W ahr­ heiten und die zu deren Darstellung und Pflege nöthigen Vorkehrun­ gen übereinstimmen; und eines der M ittel zur Erreichung dieses Zieles ist die Feststellung der S y m b o le . S o rasch gelangt der Leser zu den symbolischen Normen und durch sie zur h. Schrift, und über die christlich^ Religion erfährt er Nichts3). Ohne in deren Wesen eingeführt zu sein, soll er sich schon überzeugen lassen, daß die der Leitung der h. Schrift entbehrende Vernunft in göttlichen Dingen keine Stimme habe, daß aber dennoch der Mensch mit einem Keime von Urtheilsfähigkeit ausgerüstet sei, welche das dem mensch­ lichen Geiste Zusagende von dem Irrtüm lichen unterscheiden helfe. >) Ebendas. § 2. *) Bgl. di« Hanptstelle § 5. S . 3 3 - 3 4 . *) Glaubenslehre S . 1— 14.

506

Neuntes Buch.

Erster Abschnitt.

Eine solche Deduction kann keine Befriedigung geben, außerhalb ihres Gegenstandes vollzieht.

D ie

w eil sie sich

angegebene B e g riffs ­

folge h ä lt sich allzu sehr im Allgem einen, um darüber zu einer E in ­ sicht zu fü h re n ,

wie sich G laube und Denkthätigkeit,

S c h rift und

Bekenntniß innerhalb der christlichen R eligion zu einander verhalten werden.

In

C hristus

selbst

treten;

ähnlicher Weise

w ird

das S c h riftp rin c ip

diese höchste Bürgschaft

geht von ihm auf die Apostel und

deren schriftliche und mündliche Verkündigung, nächststehenden

begründet.

ist als Lehrer unter göttlicher Beglaubigung aufge­

apostolischen M ä n n e r,

le h rh a ft benutzte Alte Testament über.

von

von Allen

ihnen

auf die

endlich auf

das

D ie also autorisirte h. S c h rift

erweist sich sodann als eine Lehr- und O ffenbarungsquelle, die den Menschen zugleich auf die M itg a b e der V e rn u n ft und des religiösen S in n e s hinleitet *).

Diese Bew eisführung hat ihre religiöse W a h r­

heit und katechetische Brauchbarkeit; h in a u s,

aber sie lä u ft abermals darauf

daß zuerst die A u c t o r i t ä t der h. S c h rift festgestellt und

dann erst ein Verständniß derselben herbeigeführt werden soll. strengere wissenschaftliche S tandpunkt w ird

Der

sich an das umgekehrte

V erfahren halten müssen: zuerst Erkenntniß der B ib e l in ih re r B e­ schaffenheit und ihrem urchristlichen Q uellen- und Zeugnißwerth, da­ m it dann au f dieser G rundlage ih r Ansehen e rm itte lt werde. Eine D ogm atik wie diese konnte neben der S c h l e i e r m a c h e r schen,

der

sie doch in

mehreren Punkten W iderstand leisten soll,

schwer zur G eltung gelangen. h a ltb a r

Müssen w ir deren Anlage als un­

bezeichnen: so soll doch der A usfü hrun g im Einzelnen ih r

W e rth

nicht

w arm .

D a s biblisch geleitete und durchgängig milde und besonnene

U rth e il fü h rt

abgesprochen zu

werden.

D ie Gesinnung

ist in nig und

mancherlei dankenSwerthen Betrachtungen.

Keine

S chriftstelle, sagt der Verfasser, erklärt die V e rn u n ft fü r ungeschickt zur Auffassung der W ahrheit in göttlichen D inge n, und ebenso wenig der Geist des Christenthums.

D a h e r sollen sich auch R a tio n a lism u s

und S u p ra n a tu ra lis m u s nicht gegenseitig verstoßen, sondern beisteuern zu derselben wissenschaftlichen G eiftesthätigkeit; der eine hat ein u r-

4) Vgl. 6 .3 8 ff.

Steudel's Ansichten im Einzelnen.

507

sprüngliches Besitzthum der V ernunft auch in der Religion zu ver­ treten, der andere den „geschichtlichen Zuwachs an Erkenntniß" als der Aneignung würdig zu rechtfertigen. Auch lassen w ir uns die Eintheilung gefallen, nach welcher die G laubenslehre das B ild des zwischen G ott und Menschen stattfindenden Verhältnisses darstellen, also zunächst den in Christo offenbarten G o tt, dann den Menschen als Em pfänger der Heilsthatsachen und zuletzt deren vollendende W irkung kennen lehren soll. Christo „eingepfropft" zu werden, be­ zeichnet den ganzen In h a lt des christlichen H eils, — dies ähnlich wie bei S c h le ie rm a c h e r, wo aber dieselbe Auffassung weit univer­ seller und geistvoller durchgeführt wird. Z u r Ablehnung des A theis­ m us und speculativen P antheism us w ird alle Anstrengung aufgebo­ ten, obwohl m ehr durch Aufzählung von Gegengründen als durch begriffliche Entwicklung. Achtungswerth ist das Bem ühen, in der Süudenlehre den strengsten dogmatischen Folgerungen zu entgehen, wobei richtig bemerkt w ird, daß die ältere Theorie zu einer unbe­ fangenen Ansicht darum nicht habe gelangen können, weil sie die sittliche M enschennatur lediglich nach dem Gegensatz des ante et post lapsum betrachtet und daher alles Freie auf die eine, alles Unfreie auf die andere S eite gestellt habe. Dessenungeachtet bleibt S t e u d e l dabei, daß die Folge der ersten Uebertretung als Z e rrü t­ tung zu denken und daß Gen. 2 und 3 eine „geschichtliche Thatsache" erzählt w erdel). D ie symbolische Christologie w ird nicht gründlich kritisirt, sondern nur bemängelt und beanstandet, weil sie in Bestim ­ mungen auskaufe, welche wie die Jm p erso n alität der menschlichen N a tu r Christi n ur vom Standpunkte einer vorübergehenden Z eit­ philosophie einigermaßen genügen konnten. Indessen gelangt der Verfasser doch zu der tieferen und beifallswerthen E rw ägung, daß die einseitige Geltendmachung der Vorstellung, als hätte G ott den Menschen in sich aufgenommen, etw as sehr Bedenkliches habe, und die richtige Lehre von Christo vielmehr den anderen Gedanken a u s­ drücken müsse, nach welchem der Mensch G ott in sich ausgenommen hat, um ihn durch sich darzustellen'). 0 Glaubenslehre S . 200. 2) Ebendas. S . 342. 45. 46. Die Denkart des Verfassers ergiebt sich z. B.

508

Neuntes Buch.

Kürzer können w ir

Erster Abschnitt.

uns über die d r i t t e

k r itis c h e

fassen, soweit sie eben n u r Bekanntes wiederholt. abstracten R a tio n a lism u s

und

dessen Gegensatz

In

Richtung

den älteren

weisen H e in r ic h

G o t t l i e b T z s c h i r n e r ' s ' ) dogmatische Vorlesungen zurück.

W äh­

rend der Z e it des schwebenden S tr e its konnte der academische Lehrer sich zunächst zu einer

treuen Rechenschaft über die gegensätzlichen

Systeme verpflichtet glauben.

E in er derartigen R e latio n unterzieht

sich T z s c h i r n e r m it großer Unbefangenheit und dam it begnügt er sich; der Lehrer öffnet seinen Z u h ö re rn „abwechselnd die T h ü r nach beiden Schulen zu beliebigem Platznehmen in der einen oder andern." E in B e u rth e ile r seiner Vorlesungen spricht seine V erw underung d a r­ über aus, „w ie ein M a n n von so vielem Geist und einer bekannten freisinnigen D enkart in der engen Umzäunung dieses Gegensatzes sich beinahe zwanzig Jah re lang habe bewegen können, und daß ihn die vielen von anderen Grundsätzen geleiteten Bestrebungen umher nicht bestimmen konnten, suchen"').

jene Schranken zu verlassen und das Freie zu

G ewiß ist durch eine so stabile zwiespältige Ueberlieferung

das dogmatische S tu d iu m nicht gefördert worden; aber um dasselbe neu zu beleben und zu bereichern, besaß w ohl dieser Theologe, der ja

auf

einem

Eigenschaften räu m t.

andern Felde nicht,

Tzschirner

wie hat

so glücklich gearbeitet,

die

auch sein Herausgeber H a s e

nöthigen selbst ein­

sich niem als unter die öffentlichen A n-

aus der S te lle : „H ören w ir aber die S tiln m e des religiösen S in n e s : so muß eS ihm höchst kostbar sein,

in Christo sich G o tt so nahe gekommen und die Undeuk-

barkeit der Lossagung Gottes

vom Menschen sich verbürgt zu sehen.

Nicht von

G o tt ab, sondern einzig wirksam zu G o tt hin ziehet Christus, und wer den S oh n h a t,

der hat den V a te r.

Nicht einen Andern als G o tt, sondern den in Christo

der Menschheit aus'S Nächste angehörigen wahrhaftigen G o tt — ner erhabensten Vollkommenheit —

und zwar in sei­

beten w ir in Christus an als unseren Gott.

D ab ei m uß in jedem Fortgange der Entwicklung das Leben in Christus hinein oder sein durch den Glauben in uns aufgenommenes Leben aus uns heraus sich als Leben für die Zwecke Gottes bewähren rc." 1) G eb. 1 7 7 8 bei Leipzig, seit 1 8 0 9 Professor daselbst, wo er am 17. gebt. 1 823 gestorben ist.

D ie Vorlesungen über die christl. Glaubenslehre wurden 1 82 9

von Hase edirt. 2) W o rte

meines Vaters

Tzschirner's Vorlesungen.

in der

genannten

Recension über Knapp's und

509

Tzschirner und Cramer'S Vorlesungen.

führer der rationalistischen P artei gestellt, allgemeinen Charakter nach an.

Er

doch gehört er ih r dem

bezeichnet seinen Standpunkt

als supranaturalen Rationalism us, gegründet auf „die Idee Gottes als des Erziehers des Menschengeschlechts, aus das Bedürfniß des Menschen, durch ein Aeußeres zu dem Bewußtsein dessen, was er in sich trä g t, geweckt zu werden, auf das Providentielle in der P fla n ­ zung des Christenthums, auf den Achtung und Ehrfurcht einflößen­ den Charakter seines S tifte rs und auf die große und heilsame V e r­ änderung, welche seht W o rt hervorgebracht hat."

Unerläßlich bleibt

ihm das Bekenntniß, daß das Christenthum eine Offenbarung Gottes durch Christum zur Kundmachung und Fortpflanzung der wahren Religion,

der religiösen Ideen

deren Erkenntniß das H e il, Menschen beruhtl).

und der sittlichen Gesetze sei, auf

d. h. die Tugend und Freiheit des

Abermals eine Formel, wie w ir sie schon früher

kennen gelernt und begutachtet haben.

S ie bezeichnet den allgemei­

nen S in n und Endzweck der christlichen Religion, aber ohne Angabe ihres dynamischen Wesens, freiende Macht,

die Freiheit w ohl,

aber nicht die be­

das Dasein einer religiösen Lehre und W ahrheit,

aber nicht deren Bewegung.

T z s c h irn e r war also in der älteren

religiösen und intellectuellen B ildung stehen geblieben, wenn er das Christenthum ganz allgemein als göttlich beglaubigte Vernunftange­ legenheit betrachtete. Gleichzeitig wurden

L u d w ig

D a n k e g o tt C r a m e r 's

V o r­

lesungen durch N ä b e öffentlich m itgetheilt; sie erweisen sich, obwohl in einer nüchternen und oft nur logischen Dialektik abgefaßt, doch weit gehaltvoller als die von T z s c h irn e r.

D e r Einfluß S c h le ie r ­

mach e r 's ist bei ihm wie bei S te u d e l fühlbar.

C ra m e r ist bereit,

das Außerordentliche der christlichen Kundmachung als eines histori­ schen Factums,

dessen Unmöglichkeit nicht

bewiesen werden kann,

dessen relative Nothwendigkeit sich aus dem religiösen und sittlichen Bedürfniß der Menschheit ergiebt, anzuerkennen und zu verwerthen. D ie Offenbarung fä llt nothwendig der Geschichte zu und lebt in ih r fo rt,

sie w irkt unmittelbar auf die nächsten Empfänger, m ittelbar 0 Diese S tellen entlehne ich aus dem A rtikel von Frank in Herzogs Encykl.,

woselbst Tzschirner's Leistungen ausführlich gewürdigt werden.

Neuntes Buch.

510 auf

die

folgenden;

Erster Abschnitt.

aber selbst diese verm ittelte W irksamkeit w ird

innerhalb des kirchlichen Lebens wieder zu einer unm ittelbaren. tio n a lis m u s und S u p ra n a tu ra lis m u s erstere leugnet nicht die allgemeinen

rücken

einander n ä he r;

R a­ der

religiösen und philosophischen,

sondern n u r die besonderen dogmatischen M ysterien, der andere ent* schlägt sich nicht des Bemühens einer rationalen Begründung oder Rechtfertigung des G laubens, auf die er vielm ehr in seinem Interesse den größten W e rth legen muß. Beide begegnen sich also oder können sich doch in der Annahme außerordentlicher göttlicher Beranstaltungen sowie in der Zurückführung auf eine ratio na le B asis begegnen, und beide haben einen i r r a t i o n a l e n S tandpunkt, wie ihn n u r die katholische Kirche gestattet,

außer ) \ t y 1).

Das

richtige Verfahren ergiebt sich

aus der Unterscheidung des Lehrinhalts von der besonderen positiven A r t seiner M itth e ilu n g .

S o ll die O ffenbarung als die einige N o rm

des christlichen Lebens Bestand haben: in

demjenigen,

so verlangt sie Anerkennung

was keine B ern un ftthä tigkeit ersetzen kann,

in der

eminenten F o r m und Eigenthümlichkeit ih re r Erscheinung und ihres W irkens.

Das

M aterielle

oder den Lehrgehalt selber dagegen

zu erklären und zu beurtheilen kommt der Theologie als Wissenschaft zu, und sie soll sich dabei selbst an die im Neuen Testament gegebenen Deutungen nicht unbedingt gebunden glauben. die ra tio n a le K ritik in ihre Befugnisse;

A n dieser S te lle t r it t

was die christliche Verkün­

digung theils i l l u s t r i r t theils e o n f i r m i r t , soll der V e rn u n ft ge­ mäß sein, n u r m it dem V o rb e h a lt, daß diese nicht in ihrem jedes­ m aligen und individuellen

Gebrauch,

sondern lediglich

nach ih re r

ursprünglichen Gesetzmäßigkeit als Maaßstab gelten kann.

D ie an­

gegebene

offenbar

Unterscheidung

von

*) C ram er's Vorlesungen über Lpz. 182 9 .

M a te rie

und

F o rm

hat

die christl. D o g m a tik , herausgeg. von Nabe,

V g l. § 1 0 — 12. S . 5 0 ff., wo die gewöhnlichen Begriffsbestimmungen

m odificirt werden.

D ie Id e e

nicht der V ern unft (§ 6 — 8 ).

einer

außerordentlichen O ffenbarung widerspricht

„Uebrigens ist durch diese Namensverwechselung

der theologische Sprachgebrauch sehr v e rw irrt S t r e it veranlaßt worden.

und viel unnützer

und

liebloser

M i t bei weitem größerem Recht kann der S u p ra n a tu -

ralis m u s R ationalism us genannt werden; denn er begnügt sich nicht allein dam it, die Möglichkeit der außerordentlichen Offenbarung darznthun, sondern sucht sogar die Nothwendigkeit derselben a p rio ri zu deduciren."

D as Princip der Dogmatik nach Cramer.

Schwierigkeit,

511

das

denn es kann ebensowohl diese Form als

Reale

angesehen werden, welches dann in dem Andern seine formelle und scientifische Darstellung empfängt. scheint,

Allein C ra m e r

hat,

wie

es

m it seiner Form vielmehr das Actuelle der Religion und

Offenbarung gemeint, welches, nachdem eö einmal durch Christus in das Geistesleben pflanzt;

eingetreten, in gleichartiger Effectivität sich fo rt­

und zu diesem soll sich dann die M aterie als die faßliche

und vorstellungsmäßige Deutung verhalten.

Bei solcher Behandlung

des Gegenstandes w ird die vulgär rationalistische Methode entschieden verbessert und berichtigt.

Auch im L e rla u f des Systems w ird das

von Christus Ausgegangene wieder nachdrucksvoller als K ra ft,

nicht als

bloße D o ctrin

hervorgehoben.

D as

treibende

constitutive

P rincip der christlichen Dogmatik, d. h. der dogmatischen K ritik und Systematik ist ein positives, philosophisch-historisches und in der Formel enthalten:

D eus

suae

h o m in ib u s

cum

p e r r e v e la t io n e m le g ib u s

et

C h ris t, id e a m d e s id e riis

n e c e s s itu d in is

a n im i h u m a n i s a n -

c tis s im is c o n v e n ie n tis s im a m i l l u s t r a v i t e t c o n f i r m a v i t 1).

Factisch

ist die Idee dieser Gottverwandtschaft durch Christus illu s trirt und confirm irt worden,

von ihm aus soll sie dann in der Form

der

Erlösung von der Sünde und der Befestigung innerhalb der religiösen Gemeinschaft realisirt

werden.

D as sündige Geschlecht vermochte

nur dadurch wieder zur Vereinigung m it G ott zu gelangen, daß G ott das Id e a l des religiös seligen Lebens oder das göttliche Eben­ bild in Einem In d iv id u u m verwirklichte, was eben nur in außer­ ordentlicher Weise geschehen konnte.

Derjenige also, in welchem die

Id e a litä t des göttlichen Ebenbildes persönlich dargestellt w ird , „ist eben deshalb auch als Stellvertreter Gottes und selbst gewissermaßen als verkörperter G o tt,

Gottmensch,

d t v is g o g

ä 's o g zu betrachten;

denn den Unendlichen selber kann der Mensch nicht ermessen, sondern sich nur unter dem B ilde der höchsten menschlichen Vollkommenheit vorstellen" 2). *) Cramer's Vorlesungen S . 124. 2) Ueber das Problem der Sünde äußert sich Cramer S . 402 dahin, daß es wohl eine objective, nicht aber eine snbjective Nothwendigkeit des Sündigens geben könne und nur die subjective Selbstbestimmung zur Sünde zurechnungS-

Neunte» Buch.

51 2

Erster Abschuitt.

L u d w ig F r ie d r ic h O t t o B a u m g a r t e n - C r u s iu S in Je n a (gest. 1843) n im m t fü r uns n u r eine Nebenstellung ein.

A ls höchst

gelehrter, scharf beobachtender und fein combinirender Dogmenhisto­ riker verdient er noch jetzt unsere Beachtung, und er ist zu frü h aus der H and gelegt worden.

Doch ist bekannt, daß es diesem trefflichen

und philosophisch gebildeten Forscher an entwickelnder D enkkraft ge­ brach. die

S eine Darstellungen verlaufen in interessanten Aphorism en,

aber

durch

den Reichthum

des

anhängenden GeschichtS- und

Beobachtungsstoffes allzu sehr belastet werden;

darum w a r e r, —

auch seine Grundzüge der biblischen Theologie und seine E th ik be­ weisen dies, —

zum Systematiker wenig geeignet.

W a s er selber

w ollte, beweist seine K ritik W e g s c h e id e r'S , aber auch seine Proteste gegen H a r m s

und gegen die nachherigen A n g riffe au f

mische Lehrfreiheit.

die acade-

E r sah als Theologe auf die Schwächen des

vorigen Ja h rh u n d e rts zurück, die gangbaren Form en des R a tio n a lis ­ m us genügten ihm nicht,

doch hat er sich später einem positiveren

und durch S c h le ie r m a c h e r 's E in flu ß angeschlossen. le n,

m odificirten R a tio n a lism u s

W ir dürfen B a u m g a r t e n - C r u s i u s zu denen zäh­

welche von den schwierigen und streitigen D o g m e n ,

die the il-

weise n u r entstellende Auffassungen des Urchristenthums, wenn nicht Nachklänge frem da rtige r Vorstellungen w a re n , zu dem wahren prak­ tischen Lebensgrunde des Christenthum s an der H aud der Wissen­ schaft vordringen wollten.

In

diesem S in n e w a r er F reund eines

sittlich-religiösen Glaubens, welcher davor bewahrt werden soll, durch Lehren

verdunkelt

und

entweiht

zu

werden;

denn diese sind das

Spätergekommene, welches das Schicksal a lle r menschlichen B e g riffs ­ bitdung th e ilt.

E s ist der Gottesgedauke, der das menschliche Leben

fähig und strafbar fei. erst m it Adam

„W eder die objective Nothwendigkeit de» Sündigen» hat

begonnen, unter welcher vielmehr Adam schon vor dem Falle

stand, noch findet nach dem Falle eine subjective Nothwendigkeit de« Sündigen« statt, bei welcher weder Freiheit noch Zurechnung denkbar wäre und G o tt selbst der der Urheber de» Uebel» genannt werden müßte.

S o nothwendig als e« ist, daß die

Wissenschaft den Unterschied zwischen objectiver und subjcctiver Nothwendigkeit fest­ h ä lt: so wenig kann sich doch der religiöse Mensch al» solcher um denselben kümmern. Vielm ehr bleibt dieser bloß dabei stehen, daß er sich selbst wegen seiner S ü n d ­ haftigkeit anklagt, indem er dieselbe bloß ans die Rechnung seiner Freiheit b rin g t."

Baumgarten - CrusiuS. D e Wette.

513

sichert und erhebt. Offenbarung ist ein Handeln GotteS, für sie findet sich kein schickliches Werk als das einer „großen Anstalt für alle Zeiten und zu dem Zweck, die heiligsten G üter der Menschen­ seelen, vor Allem aber den Glauben zu ertheilen und zu erhalten." Dieses Werk hat Christus auf Erden gegründet, „durch ihn ist, so zu sagen, daS Ewige in die W elt eingetreten, also daß derselbe Glaube, mit welchem der Mensch den ewigen G ott umfaßt, auch in Christus die Offenbarung des Ewigen schaue und altbete." Ob aber diese Offenbarung unmittelbar oder mittelbar erfolgt sei, braucht weder, noch kann es vollständig beantwortet werden. Auf solche Grundanschauungen ist die Einleitung in das S tudium der Dogmatik und das spätere „Compendium" gebaut, und über seine Berührung m it S c h le ie rm a c h e r hat sich B a u m g a r t e n - C r u s i u s selbst aus­ gesprochen *). Endlich fehlt in diesem Kreise noch W ilh e lm M a r t i n L eb e­ recht de W e tte , geb. 1780 bei W eim ar, gest. am 16. J u n i 1849 zu Basel, und daß w ir ihn als eine der tüchtigsten, reinsten und liebenswürdigsten Persönlichkeiten, welche die theologische Literatur dieses Jah rhu nd erts auszuweisen hat, willkommen heißen, wird der Leser nicht anders erwarten. D e W e t t e w ar ein Lehrer Deutsch­ lands, die Studirenden mehrerer Decennien haben ihn in die G rund­ lage ihrer Büchersammlungen aufgenommen, und doch wirkte er stets auch auf die Kenner, selbst wo er für Schüler arbeitete. Die W ir­ kung seiner Schrifken hat er nicht überlebt und sie reicht bis zur Gegenwart. Biele haben es beklagt, daß dieser vorzügliche und un­ ermüdliche Schriftsteller seine Kräfte so sehr getheilt, daß er als biblischer Kritiker und Commentator beider Testamente, als Bibel­ übersetzer, als Darsteller der Religionslehre und der Dogmatik und *) Einleitung in das Studium der Dogmatik, Lpz. 1820. Grundriß der ev. kirchl. Dogmatik, Jena 1830. S . Hase, H att. red. § 27 und Frank, die Theologie Jena's, S . 117: „Der Standpunkt deS Baumgarten-CrusiuS, der im Einjcluen immer etwas elastisch und fließend geblieben ist, charakterisirt sich durch die Annahme unerkennbarer TranScendenzen, unter welche Kategorie auch die Fra­ gen über Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit göttlicher Offenbarung fallen." — Un­ bekannt geblieben ist mir T heile, Tabulae rer. dogm. compendiariae, p. 1. 2. Lips. 1830. Gisch, d. Protest. Dogmatik IV.

Neuntes Buch.

514

Erster Abschnitt.

M o r a l aufgetreten und n u r der kirchenhistorischen Forschung, — L u th e rs B rie fe n abgesehen, —

fremd geblieben ist.

von

A lle in zu einer

wissenschaftlichen Concentration, die spät zum Z iele fü h rt und lange Pausen des Stillschweigens auferlegt, w a r er a ls eine m ittheilsame N a tu r

nicht geschaffen,

Größe.

Au

wie

dem B e ifa ll,

überhaupt

welchen

deren F o rm nicht geringen A n th e il;

nicht

zu einer einseitigen

seine Lehrbücher fanden,

bildung der theologischen Lehrsprache sehr verdient gemacht. kühl,

gedrungen,

hatte

denn er hat sich um die A u s ­ P rä cis,

stets geschmackvoll und besonnen als Cxeget und

E p ito m a to r, w a r er doch in andern Schriften auch rhetorischer E r ­ hebung und poetischer W ärm e fähig ohne blendend zu werden; denn er w a r ein guter Deutscher, der den Eindruck nicht m achen w i l l , sondern n u r wiedergeben was in ihm lebt. Darstellungen seines Bildungsganges

besitzen

w ir

von bester

H a n d ') ; es ergiebt sich aus ihnen, daß er sehr zahlreiche A nregun­ gen empfangen, daß er sie aber auch m it ungewöhnlicher Anstrengung zu

einem

selbständigen Eigenthgm

zu verarbeiten vermocht- hatte.

G r ie s b a c h und P a u l u s haben ihn zum kühnen K ritik e r, H e r d e r zum christliche/! H um anisten,

F r ie s zum religiös-ästhetischen Id e a ­

listen gemacht; der Verkehr m it S c h le ie rm a c h e r steigerte und ver­ tiefte seine theologische Reflexion: aber es w a r sein Verdienst, diese heterogenen Bestrebungen in einer umfassenden Religionsanschauung zu einigen.

Bekanntlich hat sich de W e t t e als K r i t i k e r dem R a ­

tio n a lism u s entschieden zur S e ite gestellt, er verfiel sogar zuweilen dem V o rw u rf einer übertriebenen Skepsis, bis ihn späterhin die sehr veränderte Sachlage schonender und vorsichtiger stimmte.

M i t V e r­

werfung der gewaltsamen natürlichen Deutungen fü h rt er die m y­ thische Ansicht in mehrere Bestandtheile auch hes Neuen Testaments ein, dem W under gegenüber erklärt er sich niem als fü r starkgläubig; aber sein Z w eifel g ilt n u r dem einzelnen historischen Umstand, S to ff oder D a tu m ,

er ist verbunden m it einem G la u b e n an die offen­

barende Thatsache des E vangelium s und m it einem begeisterten V e r*) B g l. die Gedächtnißrede von Hagenbach,

Lpz. 18 50,

dessen Artikel

bei

Herzog, und Schenket'- Abhandlung: d. W . u. die Bedeutung seiner Theologie fü r unsere Z e it, 1849.

D e Wette'« theol. S tand pun kt und Charakter.

515

trauen au f die bildende M a ch t der religiösen Id e e n , welche in und m it jenen historischen Größe« und durch sie eine unendliche schöpfe­ rische W irksam keit 'empfangen. biblisch-historische» S t o f f , D e u tu n g

stets

E ine ideale W a h rh e it ru h t a u f dem

m it ih r fett derselbe durch 's h a lk a lis c h e

verknüpft

werden;

denn zu dieser is t'd e W e t te

jederzeit zu greifen geneigt intb er tre ib t seinen ästhetisch-frommen Id e a lis m u s zuw eilen, wie im „T h e o d o r", bis zum Uebermaß. de W e t t e 's theologischer Entwicklung sind mehrere,

In

w iew ohl nicht

gre ll abstechende S ta d ie n nachgewiesen w orden; doch finden w ir ih n stets in d e r Ueberzeugung m it sich einig,

daß der

protestantische

Theologe als solcher untersuchen und zweifeln muß und nicht überall zum Wissen und F ü rw a h rh a lte n gelangt, dagegen der G la u b e a n d a s U n s ic h tb a r e tm S ic h t b a r e n svll ih n nie verlassen. Nur

die d o -g m a tifc h e n

Leistungen de W e t t e ' s

sollen hier

etwas genauer geprüft werden, diese aber'w erden erst durch ihren religionsphilosophischen H in te rg ru n d verständlich.

M i t voller Ueber­

zeugung h a t er sich an seinen Lehrer F r i e s angeschtoffen, ihm wollte er, Ivenn auch nicht seine Ansicht selber, doch deren ganze systema­ tische G estaltung verdanken'). speculatives Lehrsystem

auf

F r i e s bot ih m ein empirisch-kritischanthropologischer G rund la ge,

stellte demselben eine Theologie zur S e ite ,

in

welcher

und

er

gleichfalls

*) D ie schöne M onographie: Jakob Friedrich F ries, aus seinem handschristlichm Nachlasse dargestellt von C. Henke; Lpz. 1867,

erschien zu spät,

entscheidender S ta lle von m ir gebraucht werden zu können.

mn an

H ier benutze ich sie

n u r , um