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German Pages [869] Year 2019
Gerhard GerhardK. Schäfer// Wolfgang /Wolfgang WolfgangMaaser Maaser(Hg.) (Hg.) Gerhard K.K.Schäfer Schäfer Maaser (Hg.)
Geschichte Geschichte der der
Diakonie Diakonie in in Quellen Quellen Von Vonden denbiblischen biblischenUrsprüngen Ursprüngen Von den biblischen Ursprüngen bis biszum zum18. 18.Jahrhundert Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert
Gerhard K. Schäfer / Wolfgang Maaser (Hg.)
Geschichte der Diakonie
in Quellen Von den biblischen Ursprüngen bis zum 18. Jahrhundert
Vandenhoeck & Ruprecht
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2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Franziska Witzmann
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-61629-7
Inhalt
Ulrich Lilie
Geleitwort ..........................................................................................1 Gerhard K. Schäfer/Wolfgang Maaser
Einleitung ..........................................................................................2 I.
Biblische Ursprünge
A.
Altes Testament
1.
Exodus 22,20–23,9: Rechtsschutz für Benachteiligte ........... 17
2.
Levitikus 19,1–34: Von der Heiligung des Lebens ............... 20
3.
Deuteronomium 14,28–15,11: Der Zehnte und das Erlassjahr .............................................. 22
4.
Psalm 9/10: Arme und Gottes Rechtshilfe ............................ 25
5.
Psalm 82: Der höchste Richter .............................................. 27
6.
Sprüche 19,1–7; 22,1–16; 29,13f.: Arme und Reiche als Geschöpfe Gottes ................................ 28
7.
Jesaja 58,6–12: Falsches und rechtes Fasten ......................... 30
8.
Amos 4,1–3; 6,1–6; 8,4–7: Sozialkritik und Gericht ............ 32
B.
Apokryphe und frühjüdische Schriften
9.
Jesus Sirach 3,30–4,11; 12,1–6; 13,3–24; 29,1–13; 33,25–30; 35,16–22: Arme und Reiche ................................ 34
10.
Testament Hiobs 9,1–12,4: Diakonie eines Herrschers ........ 38
11.
Slavisches Henochbuch 44,1–5: Gottebenbildlichkeit des Menschen ...................................... 41
VI
Inhalt
C.
Neues Testament
12.
Matthäus 25,31–46: Vom Weltgericht .................................. 42
13.
Markus 1,40–45: Die Heilung eines Aussätzigen ................. 46
14.
Markus 10,17–31: Reichtum und Nachfolge ......................... 48
15.
Markus 10,35–45: Vom Herrschen und vom Dienen ........... 50
16.
Lukas 6,20–36: Feldrede ....................................................... 52
17.
Lukas 10,25–37: Die Frage nach dem ewigen Leben. Der barmherzige Samariter ................................................... 55
18.
Johannes 13,1–17.34f.: Die Fußwaschung ............................ 57
19.
Apostelgeschichte 2,42–47; 4,32–35: Die erste Gemeinde ... 59
20.
Apostelgeschichte 6,1–7: Die Wahl der sieben Diakone ...... 61
21.
1. Korintherbrief 12,4–31: Viele Gaben – ein Geist, viele Glieder – ein Leib ......................................................... 63
22.
2. Korintherbrief 8,1–15: Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem ........................................................................... 65
23.
2. Thessalonicherbrief 3,10–13: Arbeiten und Essen ............ 67
24.
1. Timotheusbrief 3,1–13: Bischöfe und Diakone ................ 68
25.
Jakobusbrief 2,1–9.14–17: Reiche und Arme in der Gemeinde – Glaube und Werke ..... 70
II.
Alte Kirche
26.
Didache – Lehre der zwölf Apostel (90–100) ....................... 75
27.
Erster Clemensbrief (96) ....................................................... 79
28.
Ignatius von Antiochien: An die Magnesier (ca. 110) .......... 81
29.
Ignatius von Antiochien: An die Traller (ca. 110) ................ 83
30.
Plinius d. J. an Kaiser Trajan: Zur Rechtslage der Christen im Römischen Reich (ca. 110/111) ....................................... 84
31.
Hirt des Hermas (ca. 140) ..................................................... 87
32.
Aristides: Apologie (um 140) ............................................... 91
33.
Justin der Märtyrer: Erste Apologie (150–155) .................... 93
34.
Tertullian: Verteidigung des christlichen Glaubens (198) .... 96
Inhalt
VII
35.
Tertullian: Über die Geduld (um 200) ................................ 101
36.
Klemens von Alexandrien: Welcher Reiche wird gerettet werden? (190–200) .............. 103
37.
Traditio Apostolica – Apostolische Überlieferung (um 215) ................................. 108
38.
Syrische Didaskalia (um 230) ............................................. 112
39.
Origenes: Kommentar zum Evangelium nach Matthäus 20,25–28; 21,12f.; 24,45 (um 240) ............. 119
40.
Cyprian: An Donatus (ca. 248) ........................................... 125
41.
Cyprian: Brief an die Presbyter und Diakone Karthagos (250) .................................................... 127
42.
Cyprian: Brief an numidische Bischöfe (253) .................... 128
43.
Cyprian: Über gute Werke und Almosen (um 255) ............ 131
44.
Pontius: Das Verhalten Cyprians und seiner Gemeinde in den Zeiten der Pest (um 260) .......................................... 135
45.
Apostolische Kirchenordnung (Ende 3. Jahrhundert) ......... 137
46.
Eusebius von Caesarea: Kirchengeschichte (um 300) ........ 142
47.
Brief Kaiser Julians an Arsakios, Oberpriester von Galatien (362) .......................................... 145
48.
Basilius: Predigt, gehalten während Hunger und Dürre (368) ................................................................... 148
49.
Basilius: An Elias, Statthalter der Provinz Kappadokien (365–369) ............................................................................ 156
50.
Gregor von Nazianz: Über die Liebe zu den Armen (373) ................................... 159
51.
Gregor von Nyssa: Von der Liebe zu den Armen (378) ..... 169
52.
Gregor von Nazianz: Trauerrede auf Basilius (381) ........... 178
53.
Johannes Chrysostomus: Predigt über das Almosen (um 390) .................................... 182
54.
Ambrosius von Mailand: Über die Pflichten der Kirchendiener (um 391) ................................................ 191
55.
Sulpicius Severus: Das Leben des heiligen Martin (396) ... 199
56.
Paulinus von Nola: Brief an Pammachius (396) ................. 204
VIII
Inhalt
57.
Hieronymus: Auf den Tod Fabiolas (399/400) ................... 207
58.
Augustin: Predigt über Almosen, die allen zugutekommen (ca. 400) ..................................................... 209
59.
Hieronymus gegen Vigilantius (406) .................................. 216
60.
Augustin: Die Not Christi und die Chance der Reichen (410) ............................................. 220
61.
Über den Reichtum (413/414) ............................................. 225
62.
Salvian von Marseille: Des Timotheus vier Bücher an die Kirche (um 440) ....................................................... 236
63.
Papst Leo I.: Kollektenpredigt (445) ................................... 239
64.
Valerian von Cimiez: Predigt über die Barmherzigkeit (um 450) .......................... 242
65.
Gerontius: Das Leben der heiligen Melania (um 452/453) ................... 245
III.
Mittelalter
66.
Papst Gelasius I: Verteilung des Kirchenguts (494) ........... 253
67.
Konzil von Orléans: Asylrecht, Sklaven, Kirchengut (511) ................................................................. 254
68.
Benedikt von Nursia: Regel (550) ....................................... 258
69.
2. Synode von Tours: Armenunterstützung als Aufgabe jeder Gemeinde (567) .... 262
70.
Gregor von Tours: Hungersnot (585) .................................. 263
71.
Synode von Mâcon: Beschlüsse (585) ................................ 264
72.
Venantius Fortunatus: Das Leben der heiligen Radegunde (um 590) ..................... 268
73.
Gregor der Große: Buch der Pastoralregel (590) ................ 272
74.
Gregor der Große: Predigt zu Lukas 16,19–31 (591/592) .. 279
75.
König Pippin: Kapitular von Ver (755) .............................. 284
76.
Karl der Große: Allgemeine Ermahnung (789) .................. 285
77.
Frankfurter Kapitular (794) ................................................. 288
78.
Aachener Kapitular (802) .................................................... 290
Inhalt
IX
79.
Nimwegener Kapitular (806) .............................................. 291
80.
Einhard: Das Leben Karls des Großen (ca. 825) ................. 293
81.
Fuldaer Annalen: Hungersnot (850) .................................... 295
82.
Regino von Prüm: Das Sendhandbuch (um 908) ................ 297
83.
Wilhelm III. von Aquitanien: Gründungsurkunde Clunys (910) ........................................ 300
84.
Vita des heiligen Fridolin: Mehrfache Heilung an einem Mann (970–975) .................. 303
85.
Gerhard von Augsburg: Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich (982–993) ............................................. 305
86.
Theophanu: Testament (um 1050) ...................................... 308
87.
Bertha: Das Leben der heiligen Adelheid von Vilich (1057) ................................................................ 312
88.
Robert von Arbrissel: Brief an Ermengarde (1110) ............ 315
89.
Erstes Laterankonzil (1123) ............................................... 318
90.
Gerhoh von Reichersberg: Über das Haus Gottes (1128) ... 319
91.
Guigo I.: Brief an Kardinal Haimerich (1132) .................... 322
92.
Dekret Gratians: Der Bischof als Vater der Armen (um 1140) .......................................................... 325
93.
Anfänge des Zisterzienserordens: Statuten der Mönche (1147) ................................................ 327
94.
Herbord von Michelsberg: Leben und Werke des seligen Bamberger Bischofs Otto (1159) ...................... 330
95.
Hildegard von Bingen: Brief (1170) ................................... 336
96.
Drittes Laterankonzil: Kirchen für Aussätzige (1179) ........ 338
97.
Petrus Valdes: Glaubensbekenntnis (1180/1181) ............... 340
98.
Johanniterorden: Hospitalordnung (1181) .......................... 342
99.
Radulfus Ardens: Typologie von Almosen (um 1200) ....... 347
100. Jakob von Vitry: Das Leben der Maria von Oignies (1215) ........................... 357 101. Caesarius von Heisterbach: Dialog über die Wunder (1220) .......................................... 363
X
Inhalt
102. Franziskus von Assisi: Nicht-bullierte Regel (1221) .......... 366 103. Franziskus von Assisi: Vermächtnis für Klara und ihre Schwestern (1226) ....................................................... 370 104. Petrus Abaelard: Über das Almosen (um 1235) .................. 371 105. Thomas von Celano: Zweite Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus (1247) ........................................... 380 106. Das Rituale von Lyon (nach 1250) ..................................... 385 107. Ordnung des Heilig-Geist-Hospitals zu Lübeck (1263) ...... 392 108. Berthold von Regensburg: Von den fünf Pfunden (1264) ............................................. 397 109. Thomas von Aquin: Über das Almosen (um 1270) ............ 401 110. Statuten des Leprosenhauses zur Marbecke/Soest (1277) .. 410 111. Statuten des Beginenkonvents „Auf dem Sande“ in Wesel (1309) ...................................... 412 112. Konzil von Vienne: Beschlüsse zur Leitung diakonischer Einrichtungen (1311/1312) ............................ 414 113. Meister Eckhart: Maria und Martha (um 1314) .................. 417 114. Hermann von Fritslar: Zum Namenstag der heiligen Elisabeth (1343–1349) .................................... 423 115. Nürnberger Bettelordnung (um 1370) ................................. 428 116. Statuten der Müllergesellen-Bruderschaft zu Basel (1427) ................................................................... 430 117. Statuten des Trierer Leprosoriums St. Jost (1448) .............. 432 118. Memminger Antoniterspital: Urkunden (1451/1471/1475) ............................................... 435 119. Nikolaus von Kues: Testament (1464) ................................ 438 120. Statuten der Rosenkranzbruderschaft von 1475 (1476) ...... 441 121. Nürnberger Bettelordnung (1478) ....................................... 446 122. Sebastian Brant: Das Narrenschiff (1494) .......................... 451 123. Testament der Barbara Grieninger (1494) .......................... 456 124. Reichstag zu Lindau: Abschaffung unziemlichen Bettelns (1497) ........................ 459
Inhalt
XI
125. Johann Geiler von Kaysersberg: Armut und Reichtum (1498) ............................................... 460 126. König Maximilian I.: Einrichtung einer Wechselbank in Nürnberg (1498) .......... 467 IV.
Zeitalter der Reformation
127. Martin Luther: Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (1519) .................................... 471 128. Martin Luther: Ein Sermon von dem Neuen Testament (1520) ...................................... 475 129. Martin Luther: Von den guten Werken (1520) ................... 477 130. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) ...................................................... 481 131. Ordnung des Gemeinen Beutels zu Wittenberg (1521) ...... 484 132. Armenordnung der Stadt Nürnberg (1522) ......................... 487 133. Leisniger Kastenordnung mit der Vorrede Martin Luthers (1523) .............................. 501 134. Huldrych Zwingli: Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel (1523) ........................................... 518 135. Martin Luther: Predigt am St. Stephanstag (1523) ............. 522 136. Wenzeslaus Linck: Von der Arbeit und vom Betteln (1523) ............................................................. 524 137. Erasmus von Rotterdam: Bettlergespräch (1524) ............... 530 138. Huldrych Zwingli: Wer Ursache zum Aufruhr gibt (1524) ............................... 536 139. Juan Luis Vives: Über die Unterstützung der Armen (1526) ................................................................ 542 140. Hans Hergot: Von der neuen Wandlung eines christlichen Lebens (1527) ......................................... 557 141. Verhör der Täuferin Anna Salminger, Augsburg (1528) .... 560 142. Von der falschen Bettler Büberei. Mit einer Vorrede Martin Luthers (1528) ........................... 563
XII
Inhalt
143. Stadt Hamburg: Christliche Ordnung (1529) ...................... 568 144. Kaiser Karl V.: Von Bettlern und Müßiggängern (1530) ......................................................... 579 145. Kaiser Karl V.: Edikt für die Niederlande (1531) ............... 581 146. Gutachten der Theologischen Fakultät Paris zur Armenordnung der Stadt Ypern (1531) ........................ 588 147. Lukas Hackfurt: Denkschrift zur Verteidigung und Verbesserung der Armenpflege (1532) ........................ 591 148. Johannes Ferrarius: Von dem Gemeinen Nutzen (1533) .... 608 149. Ordnungen der Hohen Hospitäler Hessens (1534/1535) ..... 615 150. Heinrich Gresbeck: Das Täuferreich zu Münster (1535) .... 624 151. Almosenordnung Kurtrier (1537) ....................................... 627 152. Martin Bucer: Leibsorge (1538) ......................................... 634 153. Domingo de Soto: Über die Regelung der Armenhilfe (1545) ......................... 637 154. Konzil von Trient: Rechtfertigung und praktische Fragen der Caritas (1546–1563) .......................................... 645 155. Katharina Schütz Zell: Diakonin der Fremden in Straßburg (1556) ........................ 651 156. Johannes Calvin: Diakonenamt (1559) ............................... 655 157. Konvent reformierter Gemeinden in Wesel: Beschlüsse zur Diakonie (1568) .......................................... 657 158. Emdener Synode: Grundsätze (1571) ................................. 661 159. Stiftungsurkunde des Juliusspitals Würzburg (1579) .......... 664 V.
17./18. Jahrhundert
160. Johannes Althusius: Politik (1614) ..................................... 673 161. Johann Valentin Andreae: Christianopolis (1619) .............. 679 162. Johann Gerhard: Diakone und Diakonissen (1619) ............ 682 163. Johann Gerhard: Von der politischen Obrigkeit (1619) ...... 685 164. Johann Valentin Andreae: Gründungsstatuten des Färberstifts in Calw (1621) ........................................... 689
Inhalt
XIII
165. Johann Valentin Andreae: Gespräch Xenoras mit ihrer Tochter Psilolea (1630) ........................................ 697 166. Louise von Marillac: Brief an Vinzenz von Paul (1649) .... 701 167. Louise von Marillac: Brief an Vinzenz von Paul (1651) .... 703 168. Vinzenz von Paul: Regeln der Schwestern der Barmherzigkeit (1658) ............ 705 169. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Begegnung mit Bettlern (1672) ........................................... 712 170. Philipp Jakob Spener: Unmaßgebliche Vorschläge (1697) ..................................... 716 171. August Hermann Francke: Die Pflicht gegen Arme. Lukas 16,19–31 (1697) ....................................................... 724 172. August Hermann Francke: Ordnung und Lehrart (1702) .... 737 173. August Hermann Francke: Wahrhafte und umständliche Nachricht (1701/1709) .................................. 744 174. August Hermann Francke: Verfassung der zu Glaucha an Halle befindlichen Anstalten (1709) .............................. 749 175. Georg Christoph Brendel: Verfluchte heilige Almosen (1710/1746) ............................ 754 176. August Hermann Francke: Bewegungsgründe. Pflicht gegen die Armen (1714) .......................................... 770 177. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Statuten Herrnhuts (1727) ................................................... 774 178. Christian David: Von der ersten Austeilung der Ämter (1731) ................................................................. 778 179. Gerhard Göcking: Die Aufnahme der vertriebenen Salzburger in Leipzig (1734) .............................................. 783 180. Gebet der Insassen des Esslinger Spitals (1737) ................. 787 181. Veit Ludwigs von Seckendorff: Der deutsche Fürstenstaat (1737) ........................................ 789 182. Johann Lorenz Mosheim: Die Natur der wahren Barmherzigkeit. Lukas 6,36 (1741) .................................... 795 183. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (1769) ............................................................ 803
XIV
Inhalt
184. Christian Friedrich Menschenfreund: Warum ist oder war bisher der Wohlstand der protestantischen Staaten so gar viel größer als der katholischen? (1782) ........................................................... 810 185. Heinrich Gottlieb Zerrenner: Volksaufklärung (1786) ....... 815 186. Neue hamburgische Armenanstalt: Fragestücke zur Abhörung der Armen (1787) .................... 823 187. Neue hamburgische Armenordnung (1787) ........................ 828 188. Johann Heinrich Pestalozzi: Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz (1799) ............................... 840 Verzeichnis der Bibelstellen .......................................................... 845
1
Geleitwort Verkündigung und Dienst am Nächsten sind in der biblischen Tradition elementar miteinander verbunden. In immer neuen Konkretisierungen bestimmt diakonisches Handeln von Beginn an und im Laufe der Geschichte in unterschiedlicher Weise das Profil christlicher Gemeinden und Gruppen. Um sich ein Bild von den Grundlagen und Entwicklungen zu machen, die auch die moderne Diakonie prägen, bleibt die Arbeit mit und an den Quellen unverzichtbar. Es ist ein großes Verdienst, dass sich die Herausgeber die Zusammenstellung und Kommentierung einer Quellensammlung für Studienzwecke zur Aufgabe gemacht haben. Die bereits 2016 erschienene Sammlung wesentlicher Quellentexte des 19. und 20. Jahrhunderts wird mit dem nun vorliegenden Band komplettiert. Das Werk wird die diakoniehistorische Arbeit im Rahmen der sozialen und theologischen Ausbildung vereinfachen und beleben, ihr neue Impulse geben, indem es wichtige Entwicklungen eines Kerns der christlichen Botschaft nachvollziehbar macht. Ich wünsche der Quellensammlung eine breite positive Aufnahme in der Diakonie, in der Kirche, der Wissenschaft und der weiteren Öffentlichkeit. Herzlich danke ich den Expertinnen und Experten, die zu der Sammlung beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt beiden Herausgebern, die seit Jahrzehnten die diakoniewissenschaftliche und diakoniegeschichtliche Diskussion bereichern. Ulrich Lilie Präsident Diakonie Deutschland
Einleitung Geschichte der Diakonie in Quellen Diakonisches Handeln, das tätige Eintreten für Menschen in Not, ist im Selbstverständnis des Christentums von Anfang an verankert und gewinnt konkrete Gestalt als Reaktion auf die Nöte der jeweiligen Zeit. Diakonie ist eine Signatur des Christentums und hat die Ausbreitung der neuen Religion in der Antike wesentlich gefördert. Das diakonische Engagement gewann dabei eminente kulturelle Bedeutung. Es hat die abendländische Kultur tiefgreifend geprägt und verändert. Diakonie, im Zentrum des christlichen Glaubens verankert, strahlte intensiv in die Welt aus. Nachdem wir in unserem Band „Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“ (2016) die Genese der „modernen“ Diakonie in exemplarischen Texten dokumentiert haben, erschließt der vorliegende Quellenband die Entwicklung von den biblischen Wurzeln bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In den ausgewählten und kommentierten Dokumenten kommen Kontinuitäten und Umbrüche, Tiefenstrukturen und Konflikte in den Blick, die das diakonische Handeln über Jahrhunderte prägten. Spezifische Begründungszusammenhänge und paradigmatische Diskurse, programmatische Initiativen und exemplarische Handlungsschwerpunkte sowie gesellschaftliche Bezüge und Anforderungen an staatliche Verantwortung werden in den Quellen deutlich. Ideal und Wirklichkeit diakonischen Handelns gewinnen in je spezifischen geschichtlichen Konstellationen Konturen. Der Band will zur geschichtlichen Rekonstruktion der facettenreichen Entwicklung der Diakonie und zur Auseinandersetzung mit zentralen diakonischen Themen beitragen. Wir hoffen, dass die präsentierten Quellen neugierig machen, Zusammenhängen und spezifischen Fragen weiter nachzugehen. Das Studium der Quellen kann zugleich den verstehenden Blick für gegenwärtige Herausforderungen und die diakonische Orientierung schärfen. Zum Verständnis von Diakonie Wir gehen davon aus, dass Diakonie im Kern eine christlich begründete Hilfepraxis für Menschen in Not ist, die darauf zielt, ihnen ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen. Dieses Verständnis ist aus der kritischen Auseinandersetzung mit vielfältigen Entwicklungen der Diakonie und der entsprechenden Diskurse erwachsen. In der Geschichte der Diakonie begegnet eine Vielfalt von solidaritätsfördernden und paternalistischen Hilfeformen. Hilfe in existentiellen Nöten und Maßnahmen, die selbständige Lebensführung ermöglichen, gewinnen in unterschiedlichen Zu-
Einleitung
3
sammenhängen Gestalt. Befreiung von der Gier nach Reichtum und die verantwortliche Verwendung von Gütern sind immer wiederkehrende Themen diakonisch-theologischer Reflexion. Neben der Verwirklichung barmherziger Hilfe steht auch das Drängen auf Gerechtigkeit. Die Praxis der Nächstenliebe ist über Jahrhunderte hinweg mit der Sorge um die eigene Heilsgewissheit verwoben. Biblische Überlieferungen und Motive wurden unterschiedlich interpretiert, und auf kontextuelle Herausforderungen reagierten christliche Gruppen bzw. die Kirche mit neuen diakonischen Gestaltungsformen. Die Auswahl der Quellen will diese facettenreichen Prozesse dokumentieren. Dabei waren für uns insbesondere folgende Fragen leitend: Wie wird das diakonische Handeln theologisch begründet und welche Ziele verfolgt das diakonische Handeln? Wie wird Not als Herausforderung für helfendes Handeln gedeutet? Welche Zielgruppen stehen im Fokus der Diakonie? Wie nehmen Betroffene ihre Lage und wie nehmen Nutzer_innen diakonische Hilfeleistungen wahr? Wer ist das Subjekt von Diakonie bzw. von wem wird Diakonie getragen und verantwortet? Welche kirchlichen Strukturen fördern oder hindern die Wahrnehmung diakonischer Verantwortung? In welchen Organisationsformen und mit welchem Mitteln vollzieht sich Diakonie? Wie wird das Verhältnis der verschiedenen kirchlichen Aufgaben – Verkündigung, Gottesdienst, Bildung, Diakonie – bestimmt? Welche Anforderungen stellt das Thema Diakonie an die christliche Lebensführung? Wie kommen gesellschaftliche Bedingungen sowie staatliche Strukturen und Verantwortlichkeiten in den Blick? Solchen und ähnlich basalen Fragen muss sich jede Generation im Blick auf die auftragsgemäße und zeitgemäße Gestaltung diakonischen Handelns neu stellen und entsprechende Antworten finden. Geschichtliche Ausprägungen dieser Aspekte, die Art und Weise, wie solche Fragen aufgeworfen wurden, theoretische Ansätze wie praktische Modelle aus der Geschichte bieten dabei instruktive Anschauungen und kritische Potenziale. Die ausgewählten Quellen dokumentieren signifikante Erfahrungen, Praxismodelle und normative Perspektiven. Zugleich ist festzuhalten, dass in den Epochen, die hier im Blick sind, kaum Quellenmaterial zur Verfügung steht, das die Perspektiven Betroffener und der Nutzer_innen diakonischer Hilfeeinrichtungen zum Ausdruck bringt. Ausnahmen bestätigen auch hier die
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Regel. Damit ist ein Desiderat dieser Edition markiert, das aus der Quellenlage und den Überlieferungsprozessen resultiert. Gliederung Die Gliederung orientiert sich an geläufigen Epocheneinteilungen. Dabei ist klar, dass solche Einteilungen mit erheblichen Unschärfen behaftet sind. Sie suggerieren scharfe Zäsuren, wo in Wirklichkeit lange fließende Übergänge statthaben. Zudem fügen sich soziale Entwicklungen nicht einfach den gängigen, schematisierenden Periodisierungen. So erweist sich beispielsweise die gängige Periodeneinteilung zwischen Mittelalter und Neuzeit um 1500 für das Themenfeld „Armut“ als nicht adäquat. Vielmehr vollzog sich seit Mitte des 14. Jahrhunderts ein umgreifender Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit der Armut. Für die neuere Armutsforschung markiert die Pest, die das gesamte Abendland erfasste, die Scheidelinie zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Armutsgeschichte. Die Gliederung der Quellen nach Epochen bietet daher nicht mehr als eine Struktur, die der groben Orientierung dient. Wir gehen von biblischen Wurzeln aus, die der Christenheit gemeinsam sind, und dokumentieren dann Entwicklungen der Alten Kirche, d.h. des griechischen Ostens und des lateinischen Westens. Mit dem Mittelalter liegt der Fokus beim sog. Abendland, und mit Beginn des 16. Jahrhunderts konzentriert sich die Darstellung von Quellen auf den deutschsprachigen Raum bzw. auf Prozesse, die sich wirkungsgeschichtlich für den deutschen Bereich als besonders bedeutsam erwiesen haben. Biblische Wurzeln Diakonie wurzelt in biblischen Zusammenhängen. Im ersten Teil der vorliegenden Quellensammlung werden biblische Texte dokumentiert, denen u.E. für die Begründung und Gestaltung diakonischer Praxis eminente Bedeutung zukommt. Die Texte werden nach der revidierten Lutherbibel (2017) wiedergegeben. Die Auswahl der Texte orientiert sich zum einen an dem neutestamentlichen Wortfeld von Diakonie. Im Griechischen und im Neuen Testament bezeichnet diakonia im Kern die Ausführung eines Auftrags. Diakonie ist ein Mandat, etwas zu tun. In unserem Zusammenhang stehen dabei naturgemäß neutestamentliche Stellen im Fokus, die diakonia – im Sinne der Ausführung eines Mandats – inhaltlich in karitativer Perspektive konturieren. Darüber hinaus ist es zum anderen notwendig, biblische Überlieferungen, Texte und Motive in den Blick zu nehmen, bei denen zwar der Begriff Diakonie nicht vorkommt, die aber von spezifischer Bedeutung für die Zuwendung zu Menschen in Not sind. Dies gilt auch und gerade für alttestamentliche Bezüge. Im Alten Testament gibt es keine Entsprechung zum Begriff Diakonia. Aber die Sache der
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Diakonie ist durchgängig präsent. Dabei geht es einerseits um Sachverhalte, die im Neuen Testament vorausgesetzt werden und wiederkehren. Andererseits begegnen in der Hebräischen Bibel Motive, die im Neuen Testament zurücktreten, gleichwohl aber von großer Relevanz für diakonisches Handeln sind (z.B. Klage, Recht, Gottesverständnis). Unser besonderes Augenmerk gilt naturgemäß solchen Texten, die in dem Zeitraum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wirkungsgeschichtlich besondere Erwähnung finden und sich als bedeutsam erwiesen. Dazu gehört auch das apokryphe Buch Jesus Sirach, das bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder in diakonischer Hinsicht rezipiert worden ist (Text 9). Wir dokumentieren zudem beispielhaft frühjüdische Überlieferungen, die diakonisch von Belang sind und zeigen, wie sich karitative Praxen und entsprechende Narrative unmittelbar vor und parallel zum Urchristentum ausbildeten (Testament des Hiob [Text10], Slavisches Henochbuch [Text 11]). In jeweils knapper Weise haben wir versucht, wirkungsgeschichtliche Linien zu skizzieren und exemplarisch darauf hinzuweisen, wie Texte im Laufe der Geschichte rekontextualisiert und interpretiert wurden. Alte Kirche Für die Alte Kirche (ca. 100 bis ca. 450 n. Chr.) ist zum einen bezeichnend, dass sich früh kirchliche Strukturen ausbildeten, in die diakonische Aufgaben eingezeichnet wurden. Die dreigliedrige Ämterstruktur entstand, in der dem Bischof Leitungsvollmacht eingeräumt und Diakonen und Diakoninnen spezifische Verantwortung übertragen wurde. Im 1. Clemensbrief (Text 27) und durch Ignatius von Antiochien (Texte 28; 29) ist diese Entwicklung angebahnt. Entsprechende normative Regelungen finden sich vor allem in Gemeinde- bzw. Kirchenordnungen des zweiten bis vierten Jahrhunderts im Osten (Didache [Text 26], Apostolische Überlieferung [Text 37], Syrische Didaskalia [Text 38], Apostolische Kirchenordnung [Text 45]). Zum zweiten sind es frühe Autoren, die in ihren Schriften zur Verteidigung des Christentums ein hohes, diakonisch durchgefärbtes Ethos der Christinnen und Christen zur Sprache bringen (Aristides [Text 32], Justin [Text 33], Tertullian [Text 34]). Instruktive Außenperspektiven vermitteln zum einen der Brief Plinius d.J. an Kaiser Trajan (Text 30) und zum anderen Kaiser Julians Versuch, die christliche Diakonie heidnisch zu imitieren (Text 47). Ethische und soteriologische Fragen der Armut und des Reichtums sowie der guten Werke, vor allem des Almosens, stehen dann im Zentrum wirkungsgeschichtlich bedeutsamer Diskurse, die in den ausgewählten Quellen paradigmatisch zur Geltung kommen („Hirt“ des Hermas [Text 31],
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Klemens von Alexandrien [Text 36], Origines [Text 39], Cyprian [Texte 41–43], Eusebius von Caesarea [Text 46]). Die sog. Konstantinische Wende (seit 312) markiert in der Geschichte der Diakonie zwar keine scharfe Zäsur, hatte aber zur Folge, dass die materielle Basis der Diakonie ausgebaut werden konnte. Seit 321 war es der Kirche gestattet, private Vermächtnisse anzunehmen. Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion (380) sah sich die Kirche in die staatlichen Bemühungen einbezogen, den sozialen Frieden im Reich zu sichern. Damit begann sich der Bezugsrahmen kirchlicher Diakonie tiefgreifend zu verändern. Hatte die Diakonie bisher ihren Ort im Lebensgefüge der christlichen Gemeinden in einem heidnischen Umfeld, so wurde ihr Bezugspunkt nun die massenhafte Armut der sich anbahnenden christlichen Gesellschaft. Im Horizont der sich ausformenden Reichskirche bilden Predigten, Schriften und praktische Initiativen griechischer Kirchenväter (Basilius der Große [Texte 48; 49], Gregor von Nazianz [Text 52], Gregor von Nyssa [Text 51], Johannes Chrysostomus [Text 53]) einen markanten Höhepunkt diakonischer Wirksamkeit, auf den in den folgenden Jahrhunderten immer wieder rekurriert wird. Insbesondere die Verklammerung von gemeinschaftlichem mönchischem Leben und Diakonie sowie sozialethische Kriterien des Umgangs mit Besitz erwiesen sich als wegweisend. Im Westen entstand um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert u.a. die Heiligenlegende des Martin von Tours [Text 55], die für die diakonische Überlieferung eine kaum zu überschätzende Bedeutung hatte und nachhaltige kulturelle Prägungen entfaltete. Zugleich war diese Zeit gekennzeichnet durch instruktive Konflikte um Geld und Reichtum, Spenden und die wahren Armen (Hieronymus [Texte 57; 59], Augustin [Texte 58; 60], Über den Reichtum [Text 61], Papst Leo I. [Text 63], Gerontius: Das Leben der heiligen Melania [Text 65]). Im Kontext der spätantiken Völkerwanderung, der Kriegswirren, des Niedergangs der Kirche und des staatlichen Zerfalls stellten sich schließlich Fragen der Erneuerung der Christenheit und der Veränderung christlicher Lebenspraxis mit großer Radikalität (Paulinus von Nola [Text 56], Salvian von Marseille [Text 62], Valerian von Cimiez [Text 64]). Mittelalter Die frühmittelalterlichen Quellen belegen die Bemühungen, in dem sich christianisierenden Reich der Merowinger und Franken soziale Regelungen zu treffen und durchzusetzen. Fragen des Umgangs mit Kirchengut (Papst Gelasius [Text 66]), der diakonischen Verantwortung der Bischöfe wie der ländlichen Pfarrgemeinden, des Asyls sowie des Rechtsschutzes der Armen gegenüber den Mächtigen stehen
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dabei im Zentrum einschlägiger Synodenentscheidungen (Orléans [Text 67], Tours [Text 69], Mâcon [Text 71], Ver [Text 75]) und Berichte (Gregor von Tours [Text 70], Fuldaer Annalen [Text 81]). Gregor der Große (Texte 73; 74) schärft die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ein und begründet – wie Cyprian (Text 43) – den Nutzen des Almosens theologisch: Almosen tilgen Sünden, und die Armen können im Jüngsten Gericht als Fürsprecher für die Reichen auftreten. Dieser Topos durchzieht in vielfacher Wendung das Mittelalter. Karl der Große verstand sein König- und Kaisertum im Sinne christlich-sozialer Verantwortung. Vor dem Hintergrund krisenhafter politischer Entwicklungen und wiederkehrender Hungersnöte rief Karl nicht nur zu allgemeiner Nächstenliebe auf, sondern machte auch die Verpflichtung des Lehnsherrn, für seine Armen zu sorgen, rechtlich verbindlich (Texte 76–80). Das Sendhandbuch des Regino von Prüm (Text 82) zielt u.a. darauf ab, Kleriker und Laien im Rahmen einer bischöflichen Visitation mit ihrer sozialen Verantwortung zu konfrontieren, indem auf entsprechende autoritative Rechtssätze und ethische Maximen verwiesen wird. Im Zuge der cluniazensischen Reform im10. Jahrhundert wurden die Klöster zum wichtigsten Träger der Diakonie (Text 83). Hatte Basilius im Osten die substantielle Verbindung von Mönchtum und Diakonie begründet, so zeichnete Benedikt von Nursia im Westen die diakonische Verantwortung in die Mönchsregel ein (Text 68). Die Werke der Barmherzigkeit bildeten einen integralen Bestanteil klösterlicher Praxis. Die wechselseitige Durchdringung von Liturgie und Diakonie, die in Texten exemplarisch zum Ausdruck kommt, bringt die Würde der Armen symbolisch zum Ausdruck (z.B. Lebensbeschreibung des hl. Ulrich [Text 85]). Diakonie wird zugleich mit herausragenden Einzelnen in Verbindung gebracht, deren Handeln – nach dem Vorbild des Martin von Tours – mit der Aura der Heiligkeit versehen wurde. Heilige galten als Vorbilder im Blick auf die Zuwendung zu den Armen (Radegunde [Text 72], Adelheid von Vilich [Text 87], Elisabeth von Thüringen [Text 114] und konnten darüber hinaus als Vermittler göttlichen Heils bei Krankheit und Behinderung und als heilige Ärzte verehrt werden (Fridolin [Text 84]). Das Beispiel des Testaments der Äbtissin Theophanu (um 1050) erlaubt einen zeitlich frühen und facettenreichen Einblick in den engen Zusammenhang der Sorge um das eigene Seelenheil, der Gewährleistung einer dauerhaften Memoria (Gedächtnis) und von karitativen Hilfeleistungen für Arme (Text 86). Eine Reihe von weiteren Quellen veranschaulicht diese Verbindung (z.B. Testamente des Nikolaus von Kues [Text 119]) und der Barbara Grieninger [Text 123], die für das Mittelalter essenziell war
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und darüber hinaus katholische Entwicklungen prägte, während Martin Luther im 16. Jahrhundert eben diese Koppelungen einer scharfen Kritik unterzog. Seit dem 11. und verstärkt im 12. und 13 Jahrhundert vollzogen sich in Westeuropa epochale Umwälzungen. Die Bevölkerung verdoppelte sich, die Stadtkultur blühte wieder auf, Wirtschaft und Handel weiteten sich aus. Einerseits stieg der Wohlstand in den Städten, andererseits entstand eine neue Form spezifisch städtischer Armut. Im Zuge dieser Veränderungen entstanden neue Bewegungen, die Armut in spezifischer Perspektive wahrnahmen. Zugleich blühte die Wohltätigkeit von Laien auf. Diskurse über die Verwendung von Kirchengut, Armut und das Almosen gewannen an Intensität. Die ausgewählten Quellen dokumentieren die Entstehung und die Programmatiken der Armutsbewegungen (Robert von Arbrissel [Text 88], Zisterzienserorden [Text 93], Valdes [Text 97], Beginen [Texte 100; 111], Franziskus von Assisi [Texte 102; 105], Klarissinnen [Text 103], Katharer [Text 106]) und der damit einhergehenden Kritik an einer Kirche, die sich dem Reichtum weltlicher Herrschaft angepasst hatte (Guigo an Kardinal Haimerich [Text 91]). Die Verwendung des Kirchenguts im Sinne des Armenguts und die Verantwortung des Bischofs als „Vater der Armen“ werden immer wieder thematisiert (1. Laterankonzil [Text 89], Dekret Gratians [Text 92], Leben und Werke des seligen Bamberger Bischofs Otto [94]). Für die Entwicklung diakonischer Einrichtungen waren die einschlägigen Entscheidungen des Dritten Laterankonzils (Leprosorien) und die Hospitalordnung der Johanniter wirkungsgeschichtlich von eminenter Bedeutung (Texte 96; 98). Instruktiv sind zugleich die intensiven und hoch differenzierten theologische Erörterungen, die sich auf unterschiedliche Formen der Armut (Gerhoh von Reichersberg, Text 90), den verantwortlichen Umgang mit Besitz (Berthold von Regensburg [Text 108], Hildegard von Bingen [Text 95]), das Verhältnis von vita contemplativa und vita activa (Meister Eckhart [Text 113]) und grundlegende Aspekte des Almosens beziehen (Radulfus Ardens, Petrus Abaelard, Thomas von Aquin [Texte 99; 104; 109]). Die Schwarze Pest, die von 1348 bis 1350 das gesamte Abendland erfasste, stellt in der Armutsgeschichte eine einschneidende Zäsur dar. Man schob Armen und Bettlern die Schuld an der Pest zu. Hunger, Revolten, Kriege sowie Probleme der Wirtschaftskonjunktur und der Sozialstruktur verschärften die Lage der Armen drastisch. Das Bild des lästigen, bedrohlichen, betrügerischen Armen gewann Konturen und verfestigte sich. Von solchen Armen bzw. „starken“ Bettlern
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wurden die ehrbaren, unterstützungswürdigen Armen abgegrenzt. In Sebastian Brants „Narrenschiff“ (Text 122) sowie in Geiler von Kaysersbergs Predigt über Armut und Reichtum (Text 125) schlagen sich entsprechende Diskussionen nieder, die sich im 16. Jahrhundert fortsetzten (z.B. Text 142). Seit Mitte des 14. Jahrhunderts begannen deutsche Städte allmählich, sich die Ordnung des städtischen Lebens insgesamt zur Aufgabe zu machen und damit auch soziale Verantwortung zu übernehmen. Die abgedruckten Nürnberger Bettelordnungen (Texte 115; 121) belegen die beginnende Kommunalisierung der Armenfürsorge. Daneben verdeutlichen die beispielhaft dokumentierten Statuten, wie Bruderschaften als Fürsorgegemeinschaften an Gewicht gewannen und sich zunehmend ausdifferenzierten (Müllergesellen zu Basel [Text 116], Rosenkranzbruderschaft [Text 120]). Eine Reihe von Quellen bezieht sich auf unterschiedliche diakonische Einrichtungen. Die hier in Auszügen abgedruckten Ordnungen des Heilig-Geist-Spitals zu Lübeck (Text 107) sowie der Leprosorien von Soest und Trier (Texte 110; 117), die Beispiele zur Aufnahme von Kranken in das Memminger Antoniterspital (Text 118) und der Plan zur Einrichtung einer sog. Wechselbank in Nürnberg (Text 126) zeigen, wie sich Fürsorgeinstitutionen im 14. und 15. Jahrhundert in Deutschland ausbreiteten und ausdifferenzierten. Zugleich treten signifikante Konflikte zutage, die insbesondere die Leitung karitativer Einrichtungen oder die Strukturen des Zusammenlebens betreffen (Konzil von Vienne [Text 112]). Schließlich enthält der einschlägige Abschied des Lindauer Reichstags (Text 124) erstmalig eine allgemeine Direktion, in der die Obrigkeiten angewiesen werden, unziemliches Betteln nicht zuzulassen und zu verhindern, dass Betteln sich gleichsam vererbt. Dieser Beschluss des Reichstags wurde mit den einschlägigen Verordnungen Kaiser Karls V. 1530/31 (Texte 144; 145) aufgegriffen und fand dann Eingang in die Reichspolizeiordnungen. Zeitalter der Reformation Seit den 1520er Jahren führten etwa 60 mittel- und westeuropäische Städte und dann auch Staaten eine Reform der Armenfürsorge durch. Sie knüpften dabei an spätmittelterliche Bestrebungen an – auf dem Hintergrund krisenhafter sozioökonomischer Entwicklungen: Die Diskrepanz zwischen dem Wachstum der Bevölkerung und dem Mangel an Nahrungsmitteln in Folge wiederkehrender Missernten wurde zunehmend gravierender. Landstreicherei wuchs zu einem Massenphänomen an. Da die Depression auch den Handel und die Industrie erfasste, re-
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duzierten die Städte die Arbeitsmöglichkeiten. In Bauernaufständen und städtischen Revolten kamen soziale Verwerfungen zum Ausdruck. Humanistische, reformatorische und reformkatholische Kräfte und Anliegen begründeten und begünstigten die Reformen der Armenfürsorge in je spezifischer Weise. Die abgedruckten Quellen dokumentieren das Spektrum der Reformansätze im 16. Jahrhundert. Dabei treten gemeinsame Zielsetzungen und Instrumentarien ebenso zutage wie theologische Unterschiede und praktische Differenzen. Das Bettlergespräch des großen katholischen Humanisten Erasmus von Rotterdam (Text 137) spiegelt die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um das Bettlerwesen und die Ansätze einer Armenpolitik wider, mit denen das Verbot oder zumindest die Kontrolle des Bettels einhergingen. Die Texte Martin Luthers und die von ihm inspirierten Ordnungen (Texte 127–133; 135; 143) basieren auf der Lehre von der Rechtfertigung, die der Anschauung den Boden entzieht, das Almosen habe Sünden tilgende Kraft und könne dem Geber das Seelenheil sichern. Radikales Bettelverbot, das Zusammenführen sämtlicher Mittel in einem gemeinen Kasten, die starke Betonung der Arbeit (Wenzeslaus Link [Text 136]) sowie die Einschärfung der sozialen Verantwortung der Obrigkeit wie der christlichen Gemeinde kennzeichnen die lutherischen Ansätze. Bemerkenswert ist, dass mit der Gründung der hessischen Hospitäler die territorialstaatliche Verantwortung im Zuge der Reformation systematisch auf soziale Ausgaben ausgeweitet wurde (Text 149). Johannes Ferrarius hat diesen Prozess in seiner Lehre vom Staat und seiner Wohlfahrt in lutherischer Perspektive reflektiert (Text 148). Die Quellen aus Straßburg ermöglichen einerseits facettenreiche Einblicke in die soziale Praxis der Stadt (Lukas Hackfurt [Text 147], Katharina Schütz Zell [Text 155]) und führen andererseits ein Kirchenverständnis vor Augen, für das die Leibsorge und das Diakonenamt wesentlich sind (Martin Bucer [152]). Die Auszüge aus Schriften Huldrich Zwinglis (Texte 134; 138) veranschaulichen dessen Sozialkritik und zeigen, dass der Züricher Reformator der Obrigkeit die prinzipielle Verantwortung für die Sozialfürsorge übertrug, die sie in der Verantwortung vor Gott ausüben sollte. Johannes Calvins Diakonieverständnis hat die Wiedereinführung des kirchlichen Amts des Diakons und der Diakonin zum Zentrum (Text 156). Die ekklesiologischen Überlegungen des Genfer Reformators bildeten die Grundlage für die praktische Ausformung des Diakonenamtes und der Diakonie, wie sie reformierte Synoden vorgenommen haben (Wesel [Text 157], Emden [Text 158]). Die Dokumente aus dem Bereich des „linken“ Flügels der Reformation
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lassen vor allem die Bedeutung zutage treten, die die Forderung nach Gütergemeinschaft in Täufergruppen hatte (Hans Hergot [Text 140], Verhör der Täuferin Anna Salminger [Text 141], Heinrich Gresbeck [Text 150]). Das katholisch-humanistische Konzept Juan Luis Vives‘ (Text 139) stellt in systematischer Weise insbesondere Grundzüge staatlicher, d.h. vor allem städtischer Sozialverantwortung dar. Es unterscheidet sich in der Frage der Einbeziehung des Kirchenguts von lutherischen Ansätzen. Während die beiden Verordnungen Kaiser Karls V. Ansätze zentralstaatlicher Armenpolitik dokumentieren (Texte 144; 145), belegt die Kurtrierer Ordnung die Konkretisierung reichsrechtlicher Prinzipien durch einen katholischen Landesherrn (Text 151). Dabei treten insbesondere bei den Ausnahmeregelungen vom Bettelverbot Differenzen zu protestantischen Regelungen zutage. Die Stiftungsurkunde des Juliusspitals Würzburg (Text 159) ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich ein katholischer Landesherr die Fürsorge der Armen als eine obrigkeitliche Aufgabe zu eigen machte. Als bahnbrechend erwies sich dabei die fachmännische Versorgung durch Ärzte. Das Gutachten der Pariser Theologischen Fakultät (Text 146), die Ausführungen Domingo de Sotos (Text 153) sowie einschlägige Beschlüsse des Konzils von Trient (Text 154) belegen schließlich paradigmatische Kontroversen, die mit den sozialen Reformansätzen im 16. Jahrhundert verknüpft waren. 17./18. Jahrhundert In den auszugsweise wiedergegebenen Texten von Johannes Althusius (Text 160) einerseits und Johann Gerhard (Texte 162; 163) andererseits werden Fragen der kirchlichen und politischen Ordnung weiter ausgearbeitet, die in reformierter und lutherischer Tradition angelegt waren. Während für Althusius‘ calvinistisch inspirierter politischer Theorie der Gedanke der Subsidiarität maßgeblich war, trieb der Lutheraner Gerhard die Ausgestaltung obrigkeitlicher Sozialverantwortung systematisch voran. Johann Valentin Andreaes Wirken als lutherischer Theologe stand dann im Zeichen der konfessionellen Spannungen, die 1618 bis 1648 im Dreißigjährigen Krieg ihren gewaltsamen Ausdruck fanden (Texte 161; 164; 165). Der Dreißigjährige Krieg brachte die obrigkeitliche Armenfürsorge fast völlig zum Erliegen. Vor dem Hintergrund des sozial und wirtschaftlich brachliegenden Landes und des Bettels, der durch den Krieg eine neue Dimension angenommen hatte (vgl. z.B. Grimmelshausens Schilderung der Begegnung mit Bettlern [Text 169] und Georg Christoph Brendels Schrift „Verfluchte heilige Almosen“[Text 175]), knüpften die in den
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deutschen Territorien installierten Armenordnungen erneut an die Prinzipien der Armenfürsorge des 16. Jahrhunderts an. Zugleich entwickelten sich neue diakonisch-soziale Initiativen, die im Pietismus, der Aufklärung und in katholischen Reformbewegungen wurzelten. In Frankreich entstand die von Vincent von Paul und Louise von Marillac geprägte Gemeinschaft der Schwestern der Barmherzigkeit, von der wegweisende Impulse für die neuzeitlich katholische Caritas und die protestantische Diakonissenbewegung ausgingen (Texte 166; 167; 168). In Deutschland entfalteten Philipp Jakob Spener (Text 170) und vor allem August Hermann Francke, die prägenden Gestalten des Pietismus, weitreichende diakonische Perspektiven. Mit dem von Francke gegründeten Waisenhaus in Halle entstand ein neuer Typus von Diakonie in Deutschland – die privat getragene, von Gleichgesinnten unterstützte Anstalt (Texte 171–174; 176). Pietistische Wurzeln hat auch die Herrnhuter Brüdergemeine, deren Anfänge durch eine Vielfalt von Ämtern – auch und gerade diakonischen – gekennzeichnet sind (Texte 177; 178). Gerhard Göckings Bericht (Text 179) schildert ein Stück protestantischer Willkommenskultur in Bezug auf vertriebene Glaubensgenossen, während das abgedruckte Gebet der Insassen des Esslinger Spitals (Text 180) Einblicke in die Spiritualität einer sozialen Einrichtung gewährt. Mit den Auszügen aus Veit Ludwig von Seckendorffs Fürstenstaat (Text 181) wird die von Luther akzentuierte Linie weitergeführt, die Wohlfahrt als eine zentrale Regierungsaufgabe des Fürsten sieht, der idealerweise als sozialfürsorglicher, paternalistischer Landesherr erscheint. Ähnlich betont der Aufklärer Christian Wolff die obrigkeitliche Sozialverantwortung, die er allerdings nicht aus der religiös begründeten, personalen Verantwortung des Landesherrn, sondern aus einer prinzipiellen vertragstheoretischen Begründung des Staates herleitet (Text 183). Die Predigt Johann Lorenz Mosheims zum Thema Barmherzigkeit (Text 182) spiegelt das Pathos moralischer Aufklärung wider. Die Aufklärung für die Lebensführung des Einzelnen und für die Bildung des Volkes praktisch werden zu lassen, ist die Intention, die bei Heinrich Gottlieb Zerrenner zum Ausdruck kommt (Text 185). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts reflektiert der katholische Jurist Johann Adam von Ickstatt (Christian Friedrich Menschenfreund) in instruktiver Weise das Verhältnis von protestantischer und katholischer Praxis der Armenfürsorge (Text 184). Ausführlich ist die 1787/ 1788 ins Leben gerufene Hamburger Armenanstalt dokumentiert, die für die Folgezeit Modellcharakter gewann. Die Gründung der Anstalt war geprägt von einer Humanität, in der sich aufklärerischer Geist, christliches Ethos und Gemeinsinn in der bürgerlichen Verantwortung für die Kommune verbanden (Texte 186; 187). Den Abschluss der Quellensammlung bildet der auszugsweise wiedergegebene berühmte
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Stanzer Brief Johann Heinrich Pestalozzis (Text 188). Im Denken Pestalozzis kommen aufklärerisch-philanthropische und reformiertpietistische Einflüsse zur Geltung. Von seinem sozialpädagogischen Ansatz gingen wichtige Impulse aus, die in den neuen diakonischen Aufbrüchen des 19. Jahrhunderts (u.a. Johannes Falk, Johann Hinrich Wichern) aufgenommen und weiterentwickelt wurden. Redaktionelle Hinweise Die Reihung der Quellen erfolgt chronologisch. Um eine größtmögliche Nähe zu den Originalen zu bewahren, haben wir nur geringe redaktionelle Veränderungen in den Quellen vorgenommen: Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden behutsam an heutige Regelungen angeglichen. Die Zitierweise von Bibelstellen erfolgt einheitlich nach den Loccumer Richtlinien. Hinweise auf biblische Bezüge kommen, soweit sie nicht integraler Bestandteil des Originaltextes sind, als Fußnoten zur Darstellung. Fußnoten wurden in der Regel so belassen, wie sie sich in der jeweiligen Quelle finden. Die Nummerierung der Anmerkungen in den Quellen weicht aus formatierungstechnischen Gründen gelegentlich von der des Originals ab. Die jeweiligen Titel der Quelle wurden stellenweise leicht verändert oder ergänzt, um eine Orientierung am Textinhalt zu ermöglichen. Der Originaltitel findet sich stets als Quellenangabe unter dem jeweiligen Text. Trotz aller Bemühungen war es nicht möglich, bei allen Quellentexten die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Für entsprechende Hinweise sind Redaktion und Herausgeber dankbar. Dank Wir haben bei unserer Arbeit an den Quellen vielfältige Unterstützung erfahren. Frau Erika von Blumenthal und Herr Albrecht von Blumenthal, Herr Christoph Engelhard, Herr Prof. Dr. Stephan Ernst und Herr Tobias Janotta, Herr Dr. Joachim Halbekann, Herr Prof. Dr. Udo Jeck, Herr Prof. Dr. Klaus Militzer, Herr Prof. Dr. Adolf Martin Ritter, Frau Maria Schöffel, Herr Dr. Hans Werner Schmidt und Herr Prof. Dr. Sebastian Scholz haben für diese Edition lateinische und mittelhochdeutsche Quellentexte übersetzt und übertragen. Ohne ihre engagierte und kompetente Übersetzungsarbeit hätte eine Reihe von wichtigen Quellen nicht präsentiert werden können. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen haben uns bei der Suche nach geeigneten Quellen und bei der Klärung fachlicher Fragen mit ihrer Expertise geholfen. Für ihre wohltuend unkomplizierte kollegiale Hilfe danken wir sehr herzlich Herrn P. Alberich Martin Altermatt O. Cist. (Kloster Eschanbach), Herrn Prof. Dr. Mark Burrows (EvH RWL), Herrn Prof. Dr. Christofer Frey (Ruhr Universität Bochum), Herrn Prof. Dr. Sigurd Hebenstreit (EvH RWL), Herrn Prof. Dr. Gerhard Lubich
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(RUB), Herrn Dr. Karl Mayer (Stadtarchiv Calw), Frau Prof. Dr. Daniela Müller (Radboud Universiteit Nijmegen), Herrn PD Dr. Christian Schulz (RUB), Herrn Prof. Dr. Theodor Strohm (Universität Heidelberg) und Herrn Dr. Norbert Wex (Stadtarchiv Soest). Bei unseren Recherchen haben uns Frau Sylvia Heinen, Frau Kristina Kempkes, Herr Martin Kutz (EvH RWL) sowie Karl-Benedikt Schäfer und Kilian-Theodor Schäfer nachhaltig geholfen. Ihnen sei herzlich gedankt. Heike Bährle, Dr. Reinhild Stephan-Maaser und Frau Pastorin Barbara Montag haben uns in vielfältiger Weise unterstützt und ermutigt. Danke dafür! Vielen Dank an Frau Franziska Witzmann für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts. Frau Jana Harle vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht gilt unser Dank für die gute Zusammenarbeit. Die Diakonie Bayern, die Diakonie Deutschland, die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, die Evangelische Kirche im Rheinland und die Evangelische Kirche von Westfalen haben die Drucklegung des Quellenbandes durch Zuschüsse finanziell gefördert. Dadurch konnte ein erschwinglicher Preis ermöglicht werden. Dafür sind wir außerordentlich dankbar. Gerhard K. Schäfer und Wolfgang Maaser Bochum, im Mai 2019
I. Biblische Ursprünge
A. Altes Testament 1. Exodus 22,20–23,9: Rechtsschutz für Benachteiligte Die folgenden Ermahnungen zum Schutz traditionell Benachteiligter aus dem Buch Exodus sind Teil des sog. Bundesbuches (Ex 24,7), der ältesten Sammlung von Rechtssätzen und Mahnungen des Alten Testaments. Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) entstand wahrscheinlich im 7. Jahrhundert v.Chr. Es fußt auf einer Sammlung von Rechtssätzen, die mit der Erzählung der Offenbarung Gottes am Sinai verklammert und um Mahnungen erweitert wurde. Damit gingen eine explizit theologische Begründung des Rechts und eine Verschränkung von Ethos und Recht einher. Während sich die Rechtssätze auf Straftatbestände beziehen, zielen die Ermahnungen darauf, durch die Ausbildung eines Ethos der Solidarität mit den Schwachen Straftaten zu verhindern. Mahnungen zum Schutz von Fremden rahmen die Sozialbestimmungen ein. Die prekäre Lage anderer sozial Schwacher – Witwen, Waisen und Arme – spitzt sich in der von Fremden in signifikanter Weise zu. Die verschiedenen Mahnungen ergehen jeweils als Gotteswort. Die Begründungen sind dabei unterschiedlich: Während die Bestimmung zum Schutz der Fremden mit der Empathie ermöglichenden Tradition der eigenen Fremdlingschaft begründet wird, ist es Gottes Zorn, der diejenigen trifft, die Witwen und Waisen bedrängen. Die Armen schließlich haben ihre fundamentale Würde darin, dass sie Glieder des Volkes Gottes sind. Die Bestimmungen zu Zins- und Pfandnahme richten sich darauf, Verschuldung, entwürdigende Abhängigkeit und die Entstehung sozialen Elends bereits im Ansatz zu verhindern. (22,20) Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken und bedrängen; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen. (21) Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken. (22) Wirst du sie bedrücken und werden sie zu mir schreien, so werde ich ihr Schreien hören. (23) Dann wird mein Zorn entbrennen, dass ich euch mit dem Schwert töte und eure Frauen zu Witwen und eure Kinder zu Waisen werden. (24) Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, an einen Armen neben dir, so sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln; ihr sollt keinerlei Zinsen von ihm nehmen. (25) Wenn du den Mantel deines Nächsten zum Pfande nimmst, sollst du ihn wiedergeben, ehe die Sonne untergeht, denn sein Mantel ist seine einzige Decke auf der bloßen
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Haut; worin soll er sonst schlafen? Wird er aber zu mir schreien, so werde ich ihn erhören; denn ich bin gnädig. […] (23,6) Du sollst das Recht deines Armen nicht beugen in seiner Sache. […] (9) Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid. Die Mahnung, Witwen und Waisen, die nicht rechtsfähig waren, nicht zu bedrücken bzw. ihnen beizustehen, wird in vielen Quellentexten aufgenommen und jeweils neu eingeschärft. Die Wendung „Witwen und Waisen“ fungiert dabei zumeist als Synonym für Menschen in einer Lebenssituation, für die „Gewalt und Unrecht“ (Konvent reformierter Gemeinden in Wesel, s. Text 157) kennzeichnend sind. Adressiert wird die Forderung an alle Christen und Gemeinden (z.B. Hirt des Hermas, s. Text 31; Aachener Kapitular, s. Text 78), aber insbesondere auch an Bischöfe und Diakone (z.B. Syrische Didaskalia, s. Text 38; Konvent reformierter Gemeinden in Wesel, s. Text 157), Priester (Regino von Priem, Sendhandbuch, s. Text 82) und weltliche Amtsträger (Kapitular von Ver, s. Text 75). Die Ehrenbezeichnung der „Witwen und Waisen“ als Altar Christi bzw. Gottes, die in der Syrischen Didaskalia (s. Text 38) und der Apostolische Kirchenordnung (s. Text 45) begegnet, bringt den besonderen Status der Gruppe zum Ausdruck. Der Titel hebt hervor, dass das, was ihnen an Unterstützung zuteil wird, Gott selbst gegeben wird, und verbindet damit zugleich die Forderung an die Unterstützten, für ihre Wohltäter zu beten. Während Witwen und Waisen in den meisten Texten als Unterstützungsbedürftige aufgefasst werden, erscheinen sie bei Gerhard Göcking bemerkenswerter Weise auch als Subjekte, die in der Lage sind, andere zu unterstützen (s. Text 179). Vor allem Waisen stehen immer wieder im Fokus der Fürsorge und sozialer Ordnungen. Dies beginnt mit der Syrischen Didaskalia, die der Erziehung von Waisen großes Gewicht beimisst (s. Text 38). Im Mittelalter reflektiert insbesondere Radulfus Ardens das Geben von Almosen als gezielte Hilfe für Waisen (s. Text 99). Die Armenordnungen des 16. Jahrhunderts schenken der nachhaltigen Unterstützung von Waisen besondere Aufmerksamkeit (z.B. Leisniger Kastenordnung, s. Text 133; Almosenordnung Kurtrier, s. Text 151). Schließlich entwickelte August Hermann Francke eine pädagogische Diakonie, die auf die Förderung von Waisen zugeschnitten war (s. Text 172). Das Gebot, einen Fremdling nicht zu bedrücken, wird in den Texten vor allem mit Bezug auf Mt 25,35.38 im Zusammenhang der Werke der Barmherzigkeit aufgegriffen. Das alttestamentliche Verbot, an einen „aus meinem Volk“ Geld gegen Zinsen zu verleihen, wurde zur Grundlage des kirchlichen Zinsverbots, das auch Eingang in das weltliche Recht fand (Konzil von Vienne, s. Text 112). Die Kritik an der Wucherpraxis der Reichen durchzieht die Quellentexte (z.B. Syrische Didaskalia, s. Text 38; Thomas von Aquin, s. Text 109; Sebastian Brant, s. Text 122; Luther: Von den guten Werken, s. Text 129). Im deutschen Luther-
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tum war es schließlich Johann Gerhard, der einen festen Zinssatz für ethisch verantwortbar erachtete und dabei soziale Ausnahmetatbestände definierte (s. Text 163).
2. Levitikus 19,1–34: Von der Heiligung des Lebens Das sog. Heiligkeitsgesetz (Levitikus 17–26) ist eine der wichtigsten alttestamentlichen Rechtssammlungen. Umstritten ist, ob das Heiligkeitsgesetz ein ursprünglich eigenständiger Rechtskorpus war, der in exilisch-nachexilischer Zeit die älteren Sammlungen (Bundesbuch und Deuteronomium) aktualisieren sollte, oder ob es sich um einen integralen Bestandteil des priesterschriftlichen Textbereichs handelt. Das Verhältnis von Jahwe und Volk wird so bestimmt, dass Gottes Heiligkeit die Heiligung Israels fordert. Dabei bezieht sich die vom Volk erwartete Heiligkeit nicht nur auf kultische Sachverhalte, sondern auf die ganze Fülle des alttäglichen Lebens. Dazu gehören das Verbot der Nachlese bei der Ernte und Weinlese, um den Rest Armen und Fremden zu überlassen, die Warnung vor massiven Rechtsbrüchen, die Mahnung, Schwache (Tagelöhner, Taube, Blinde) nicht zu bedrücken, Verhaltensregeln in rechtlichen Auseinandersetzungen sowie das Verbot von Hass und Rache. Die Anweisungen zu sozialem Verhalten finden ihren zusammenfassenden Abschluss im Gebot der Nächstenliebe. Dieses Gebot, das im Neuen Testament in zentraler Weise aufgenommen wird (Lk 10,27par.), bezieht sich auf die Menschen, mit denen man im Alltag zusammenlebt, und zwar gerade auf die, zu denen Hass und Feindschaft besteht. Dabei sind die Fremden dezidiert einbezogen. Die Weisung zielt darauf, für das Recht des anderen einzutreten, wie man es für das eigene tut, bzw. dem Nächsten Gutes zu erweisen, wie man es für sich selbst in der Regel tut. (1) Und der HERR redete mit Mose und sprach: (2) Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott. (3) Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der HERR, euer Gott. (4) Ihr sollt euch nicht zu den Götzen wenden und sollt euch keine gegossenen Götter machen; ich bin der HERR, euer Gott. […] (9) Wenn du dein Land aberntest, sollst du nicht alles bis an die Ecken abschneiden, auch nicht Nachlese halten. (10) Auch sollst du in deinem Weinberg nicht Nachlese halten noch die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen; ich bin der HERR, dein Gott. (11) Ihr sollt nicht stehlen noch lügen noch betrügerisch handeln einer mit dem anderen.
Von der Heiligung des Lebens
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(12) Ihr sollt nicht falsch schwören bei meinem Namen und den Namen eures Gottes nicht entheiligen; ich bin der HERR. (13) Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. (14) Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten. (15) Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. (16) Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR. (17) Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. (18) Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volkes. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR. […] (33) Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. (34) Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägypten. Ich bin der HERR, euer Gott. Wirkungsgeschichtlich wurde vor allem das Gebot der Nächstenliebe diakonisch bedeutsam. In einigen Texten wird es in der Levitikus-Fassung zitiert: Im Aachener Kapitular Karls des Großen markiert das Gebot der Nächstenliebe in Verbindung mit den Werken der Barmherzigkeit den verbindlichen Orientierungsrahmen für die Gesamtgesellschaft und das Ethos des Einzelnen (s. Text 78). Bei Hildegard von Bingen findet das Gebot der Nächstenliebe seine Zuspitzung darin, dass es in spezifischer Weise auf den Armen als Ebenbild Gottes bezogen wird (s. Text 95). In den meisten Fällen rekurrieren die Quellen auf die einschlägigen neutestamentlichen Stellen (Lk 10,27par.)
3. Deuteronomium 14,28–15,11: Der Zehnte und das Erlassjahr Das Deuteronomium (gr. zweites Gesetz) / 5. Mose weist eine komplexe Entstehungsgeschichte vom 8. bis zum 5. Jahrhundert v. Chr auf. Es stellt sich als Testament des Mose an das Volk Israel im Sinne einer von Gott bestätigten Unterweisung und Verfassung dar. Es wiederholt und interpretiert das in Exodus bis Numeri dokumentierte sog. erste Gesetz. Dabei werden die Überlieferungen auf die beiden Grundgedanken der Zentralisierung des Kultes und der unbedingten Loyalität des Volkes gegen Jahwe hin systematisiert. Die Gebote zum Zehnten und zum Erlassjahr bringen spezifische soziale Aspekte zur Geltung, die in Gottes Bund mit seinem Volk wurzeln. Der Zehnte war die traditionelle Hauptsteuer, die auf agrarische Produkte entrichtet werden musste. Dtn 14,28f. legt fest, dass in jedem dritten Jahr der gesamte Zehnt in den einzelnen Ortschaften an die landlosen Leviten, Fremden, Waisen und Witwen verteilt werden soll. Diese „Sozialsteuer“ ist der „weitestgehende Versuch, im Rahmen der biblischen Sozialgesetze die Versorgung der Randgruppen sicherzustellen“ (Frank Crüsemann). Daneben tritt die Einrichtung eines regelmäßigen Schuldenerlasses als Versuch, soziale Verelendung zu begrenzen und zu verhindern (Dtn 15,1ff.). Die Institution des Erlassjahres bezieht sich auf die Binnenwirtschaft und soll nicht für Ausländer bzw. die Außenwirtschaft gelten. Bezeichnend ist schließlich die Spannung von Realität und Utopie im Blick auf die Wahrnehmung von Armut: Armut ist eine Realität, und muss gelindert werden, und zugleich ein Tatbestand, den es zu überwinden gilt. Der Zehnte 14 (28) Alle drei Jahre sollst du aussondern den ganzen Zehnten vom Ertrag dieses Jahres und sollst ihn hinterlegen in deiner Stadt. (29) Dann soll kommen der Levit, der weder Anteil noch Erbe mit dir hat, und der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben, und sollen essen und sich sättigen, auf dass dich der HERR, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hand, die du tust. Das Erlassjahr 15 (1) Alle sieben Jahre sollst du ein Erlassjahr halten. (2) So aber soll’s zugehen mit dem Erlassjahr: Wenn einer seinem Nächsten etwas geborgt hat, der soll’s ihm erlassen und soll’s nicht eintreiben von seinem Nächsten oder von seinem Bruder; denn man hat ein Erlassjahr ausgerufen dem HERRN. (3) Von einem Ausländer darfst du
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es eintreiben; aber was du deinem Bruder geborgt hast, sollst du ihm erlassen. (4) Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein; denn der HERR wird dich segnen in dem Lande, das dir, der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, (5) wenn du nur der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchst und alle diese Gebote hältst, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust! (6) Denn der HERR, dein Gott, wird dich segnen, wie er dir zugesagt hat. Dann wirst du vielen Völkern leihen, doch du wirst von niemand borgen; du wirst über viele Völker herrschen, doch über dich wird niemand herrschen. (7) Wenn einer deiner Brüder arm ist in irgendeiner Stadt in deinem Lande, das der HERR, dein Gott, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder, (8) sondern sollst sie ihm auftun und ihm leihen, soviel er Mangel hat. (9) Hüte dich, dass nicht in deinem Herzen ein arglistiger Gedanke aufsteige, dass du sprichst: Es naht das siebente Jahr, das Erlassjahr –, und dass du deinen armen Bruder nicht unfreundlich ansiehst und ihm nichts gibst; sonst wird er wider dich zu dem HERRN rufen und bei dir wird Sünde sein. (10) Sondern du sollst ihm geben, und dein Herz soll sich’s nicht verdrießen lassen, dass du ihm gibst; denn dafür wird dich der HERR, dein Gott, segnen in allen deinen Werken und in allem, was du unternimmst. (11) Es werden allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande. Auf die Regelungen zum Zehnt (Dtn 14,22–27; 28ff.) nimmt die Syrische Didaskalia Bezug (s. Text 38). Die Synode von Mâcon erklärt dann die Abgabe des Zehnten für die Kirche als verpflichtend (s. Text 71). Diakonische Zielsetzungen im Zusammenhang des Kirchenzehnten werden u.a. im Sendbuch Reginos (s. Text 82), in Beschlüssen des Dritten Laterankonzils (s. Text 96) und in Huldrych Zwinglis Vorschlägen zu sozialen Reformen in Zürich (s. Text 138) zur Geltung gebracht. Vor allem im Zusammenhang der Neuordnung der Armenfürsorge im 16. Jahrhundert griffen Autoren auf Bestimmungen des Deuteronomiums zurück. Für Luther (Adelsschrift) wie für Vives bot der Satz „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein“ (Dtn 15,4) eine wesentliche Orientierung. Martin Luther bezog diese Weisung dezidiert auf das Problem der Bettler (s. Text 130). Juan Luis Vives würdigt die alttestamentliche Einrichtung des Erlassjahres als vorbildlich und ist wie Luther der Auffassung, das Ausmaß des Bettels sei eine Schande für die Christenheit (s. Text 139). Johannes Ferrarius hingegen rechnet nüchtern mit Armut als geschichtlichem Phänomen und konzentriert seine Überlegungen zum Gemeinwohl darauf, im Sinne von Dtn 15,11 zur Hilfe für Arme aufzufordern (s. Text 148). Philipp Jakob Spener rekurriert wie Lu-
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ther auf Dtn 15,4. Dabei betont er, dass den Armen in einer Weise geholfen werden müsse, die das Betteln unnötig macht (s. Text 170).
4. Psalm 9/10: Arme und Gottes Rechtshilfe Die im Folgenden wiedergegebenen Auszüge aus Psalm 9 und 10 dokumentieren – neben Psalm 82 (s. Text 5) – exemplarisch den Umgang mit Erfahrungen von Elend und Armut in den alttestamentlichen Psalmen. Die als Einheit zu betrachtenden Psalmen 9/10 sind durch die unterschiedlichen Formen des Danklieds eines Einzelnen, der individuellen Klage und des Lobpreises geprägt. Dank für Rettung aus großer Not, Vertrauen in Gott, der die Armen und Elenden nicht im Stich lässt und ihnen gegen die Mächtigen hilft, Klage über die Ferne Gottes, Anklage der Frevler, Bitte um Gottes Rechtshilfe und lobpreisendes Bekenntnis zu Gott als dem, der die Elenden sieht und hört und ihnen Recht verschafft, folgen aufeinander und durchdringen sich. Die „Armen“ sind die Opfer der „Frevler“. Die „Elenden“ sind Menschen, die von gewalttätigen Feinden bedrängt und um ihr Recht gebracht werden. Deshalb fliehen sie in den Tempelbezirk, suchen Schutz und bitten Jahwe um sein helfendes Einschreiten und um Überwindung der Frevler. Bedeutsam ist, dass die „Armen“ in Ps 9/10 – wie in den Psalmen insgesamt – nicht nur als Opfer von Gewalt und als Objekte von Mildtätigkeit, sondern auch als Subjekte in Erscheinung treten: Sie bringen ihr Elend zur Sprache, klagen die Personen und Mächte an, die Leben zerstören, artikulieren Hoffnung, klagen zu Gott hin und drängen ihn zu handeln. 9 (2) Ich danke dem HERRN von ganzem Herzen und erzähle alle deine Wunder. […] (10) Der HERR ist des Armen Schutz, ein Schutz in Zeiten der Not. […] (19) Denn er wird den Armen nicht für immer vergessen; die Hoffnung der Elenden wird nicht verloren sein ewiglich. 10 (1) HERR, warum stehst du so ferne, verbirgst dich in Zeiten der Not? (2) Weil der Frevler Übermut treibt, müssen die Elenden leiden; sie werden gefangen in den Ränken, die er ersann […] (8) Er sitzt und lauert in den Höfen, ermordet die Unschuldigen heimlich, seine Augen spähen nach den Armen. (9) Er lauert im Verborgenen wie ein Löwe im Dickicht, er lauert, dass er den Elenden fange; er fängt ihn und zieht ihn ins Netz. (10) Er duckt sich, kauert nieder, und durch seine Gewalt fallen die Schwachen.
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(11) Er spricht in seinem Herzen: „Gott hat’s vergessen, er hat sein Antlitz verborgen, er wird’s nimmermehr sehen.“ (12) Steh auf, HERR! Gott, erhebe deine Hand! Vergiss die Elenden nicht! […] (17) Das Verlangen der Elenden hörst du, HERR; du machst ihr Herz gewiss, dein Ohr merkt darauf, (18) dass du Recht schaffest den Waisen und Armen, dass der Mensch nicht mehr trotze auf Erden. Zahlreiche Quellentexte nehmen auf Stellen aus den Psalmen Bezug. Die Sprache der Psalmen wird zum einen aufgegriffen, um Gott als Helfer der Armen zu charakterisieren. So beschreibt z.B. Gregor von Nazianz in seiner Trauerrede auf Basilius (s. Text 52) Gott als den, der die Armen mit Speise sättigt (Ps 131,15) und sie in ihrem Hunger ernährt (Ps 32,19). Gerühmt wird mit Ps 112,9 Gottes Gerechtigkeit, die sich in der Hilfe für die Armen manifestiert (z.B. Apostolische Kirchenordnung, s. Text 45; Valerian von Cimiez, s. Text 64; Robert von Abrissel, s. Text 88; Petrus Abaelard, s. Text 104). Zum zweiten dient der Rekurs auf Psalmtexte dazu, vor der Verachtung der Armen und vor Geiz zu warnen, so z.B. Gregor der Große in seiner Pastoralregel mit Bezug auf Ps 49,8 (s. Text 73). Darüber hinaus suchen die Statuten der Rosenkranzbruderschaft (s. Text 120) mit Hilfe von Psalmverweisen zu belegen, dass das Gebet der Armen Gott angenehmer ist als das der Reichen (Ps 22,25; 69,34; 102,18). Schließlich unterstreichen z.B. Radulfus Ardens (s. Text 99), die Armenordnung der Stadt Nürnberg von 1522 (s. Text 132) und Juan Luis Vives (s. Text 139) mit Hilfe von Psalmzitaten, dass die Unterstützung der Armen den Almosenspendern Befreiung im Jüngsten Gericht und einer Stadt zeitliches Glück und Gedeihen bringt. Geiler von Kaysersberg greift Aussagen des 9. Psalms auf, um zu betonen, dass die Armen bei Gott besonderes Ansehen genießen: Gott gedenkt ihrer, wacht über sie und bietet ihnen Zuflucht. Die Reichen sollen die Armen deshalb auf keinen Fall verachten, sondern sich vielmehr bewusst machen, dass sie auf die Armen als Fürsprecher im letzten Gericht angewiesen sind (s. Text 125).
5. Psalm 82: Der höchste Richter Die biblische Verklammerung von Gottesverständnis und Eintreten für die Elenden wird in Ps 82 unüberbietbar deutlich. Der prophetische Psalm setzt die sehr alte Vorstellung voraus, dass Jahwe, der Gott Israels, zu einer größeren Versammlung von Göttern gehört. Zugleich markiert der Psalm das Ende dieser religionsgeschichtlichen Idee, die bis in die spätvorexilische Zeit verbreitet gewesen sein dürfte: Jahwe tritt in dieser Versammlung auf; er hält Gericht über die Götter und entlarvt sie als Götzen. Die Götter erweisen sich dadurch als Götzen, als Nichtse, dass sie nichts tun, um den Armen zum Recht zu verhelfen und die Schwachen zu retten. Ja sie verstehen nicht einmal, was Jahwe von ihnen fordert und zerstören damit die Schöpfung. Sie verkehren die Schöpfung ins Chaos. Die Göttlichkeit Gottes bemisst sich am Eintreten für die Elenden. „Diakonie“ ist mithin ein Gottesprädikat und ein Wesenszug der Geschichte Gottes mit der Welt. (1) Gott steht in der Gottesgemeinde und ist Richter unter den Göttern. (2) „Wie lange wollt ihr unrecht richten und die Frevler vorziehen? […] (3) Schaffet Recht den Armen und der Waise und helft dem Elenden und Bedürftigen zum Recht. (4) Errettet den Geringen und Armen und erlöst ihn aus der Gewalt der Frevler.“ (5) Sie lassen sich nichts sagen und sehen nichts ein, sie tappen dahin im Finstern. Es wanken alle Grundfesten der Erde. (6) „Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten; (7) aber ihr werdet sterben wie Menschen und wie einer der Fürsten zugrunde gehen.“ (8) Gott, mache dich auf und richte die Erde; denn du bist Erbherr über alle Völker! Nur in der Apostolischen Kirchenordnung wird der 82. Psalm aufgenommen (s. Text 45). Die Ordnung zitiert dabei Vers 6 in der Absicht, die hohe Stellung des Bischofs zu betonen. Er erscheint als „irdischer Gott“, dem Ehre erwiesen werden muss. Groteskerweise wird also der Bischof mit denen verglichen, die in der Gerichtsszene des 82. Psalms als Götzen entlarvt werden, weil sie nichts tun, um den Armen zu ihrem Recht zu verhelfen! Die anderen Quellen nehmen keinen Bezug auf Ps 82. Das mag vor allem damit zusammenhängen, dass die archaische Vorstellung von der himmlischen Ratsversammlung den Zugang zu dem Psalm erschwerte.
6. Sprüche 19,1–17; 22,1–16; 29,13f.: Arme und Reiche als Geschöpfe Gottes Bei dem Buch der Sprüche (Salomos) handelt es sich um eine Sammlung von Sammlungen erfahrungsbezogener Spruchweisheit. Die Entstehungsgeschichte umfasst einen langen Zeitraum vom 9. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. Das Buch der Sprüche soll dem einzelnen Menschen Orientierung im Alltag bieten und im Horizont der Schöpfung sowie auf der Basis der Furcht Gottes eine an Weisheit und Gerechtigkeit ausgerichtete Lebensführung ermöglichen. Dabei kommen unterschiedliche Facetten von arm und reich zur Geltung. Drei Aspekte treten in den Sprüchen des 19. Kapitels hervor: Der Arme, dem sonst viel fehlt, erscheint im Gegenüber zum lügnerischen Toren als rechtschaffen. Dies ist eine Anschauung, die zum späteren Bild vom frommen Armen führt. Im Gegenüber zum Reichen hingegen ist die Situation des Armen durch soziale Isolierung gekennzeichnet. Schließlich wird dem, der sich des Geringen erbarmt, versichert, Jahwe werde ihm seine Wohltat vergelten. In Kap. 22 ist durchaus positiv von Reichtum die Rede. Zugleich werden Arme wie Reiche als Gottes Geschöpfe verstanden, die insofern die gleiche menschliche Würde haben. Der Reiche darf deshalb dem Armen gegenüber nicht überheblich werden, sondern soll ihm mit Güte begegnen. In Kap. 29 richtet sich der Fokus darauf, dass der Arme und sein Unterdrücker einander begegnen. Dabei wird dem Peiniger eingeschärft, dass Jahwe beiden das Lebenslicht geschenkt hat. Schließlich wird im Kontrast zu dem Bedrücker des Armen ein König vorgestellt, der dem Bild eines gerechten Herrschers dann entspricht, wenn er den Geringen in Wahrhaftigkeit richtet. 19 (1) Ein Armer, der in Unschuld wandelt, ist besser als ein Lügner, der doch ein Narr ist. [...] (4) Reichtum macht viel Freunde; aber der Arme wird von seinem Freund verlassen. [...] (17) Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn, und der wird ihm vergelten, was er Gutes getan hat. […] 22 (1) Ein guter Ruf ist köstlicher als großer Reichtum und Ansehen besser als Silber und Gold. (2) Reiche und Arme begegnen einander; der Herr hat sie alle gemacht. [...] (4) Der Lohn der Demut und der Furcht des Herrn ist Reichtum, Ehre und Leben. [...] (7) Der Reiche herrscht über die Armen; und wer borgt, ist des Gläubigers Knecht. (8) Wer Unrecht sät, der wird Unglück ernten, und die Rute seines Übermuts wird ein Ende haben. (9) Wer ein gütiges Auge hat, wird
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gesegnet; denn er gibt von seinem Brot den Armen. [...] (16) Wer dem Armen Unrecht tut, mehrt die Habe; wer dem Reichen gibt, schafft nur Mangel. [...] 29 (13) Der Arme und sein Peiniger begegnen einander; der beiden das Augenlicht gab, ist der Herr. (14) Ein König, der die Armen treulich richtet, dessen Thron wird für immer bestehen. Geiler von Kaysersberg rekurriert u.a. auf Spr 19,4, um die „Geldnarren“ zu charakterisieren (s. Text 125). Spr 19,17 wird in der Apostolischen Kirchenordnung herangezogen, um den Auftrag des Bischofs, Hilfebedürftige zu unterstützen, biblisch zu begründen (s. Text 45). Gregor von Nazianz nimmt in seiner Trauerrede auf Basilius auf Spr 19,7 Bezug, um damit die Spekulanten zu kritisieren, die dem Herrn gerade nicht leihen (s. Text 52). Der Spruch war schließlich für das Wirken August Hermann Franckes grundlegend. Der Satz hatte orientierende Funktion für das Werk Franckes, das sich aus kleinen Anfängen entwickelte (s. Text 173). Spr 22,2 wird von Georg Christoph Brendel zitiert und so gedeutet, dass das Nebeneinander von Reichen und Armen von Gott gewollt sei und der göttlichen Ordnung entspreche (s. Text 175).
7. Jesaja 58,6–12: Falsches und rechtes Fasten Der in nachexilischer Zeit entstandene Textbereich Jes 56–66 wird als Tritojesaja (Dritter Jesaja) bezeichnet. Der programmatische Beginn Jes 56,1 knüpft an Deuterojesaja an, dessen Heilsankündigung eine ethische Akzentuierung erfährt: Gottes kommendem Heil und seiner Gerechtigkeit sollen Menschen durch gerechtes Tun entsprechen. Die eschatologische Perspektive bestimmt auch und gerade das soziale Handeln – in einer Zeit, in der es zunehmend verarmte und entwurzelte Menschen gibt. Der folgende Abschnitt macht dies exemplarisch deutlich. Als spezifische Form des Fastens, d.h. der Selbstbeschränkung, gilt die Zuwendung zu sozialen Problemgruppen. Dabei kommen traditionell Gefährdete und Schwache in den Blick. Signifikant ist aber, dass die Mahnrede mit der Aufforderung beginnt, Unterdrückte zu befreien. In der Betonung der Hilfe zur Freiheit schlagen sich die Exilerfahrungen und die Verkündigung Deuterojesajas nieder, die ihren Fokus in der Zusage umfassender Befreiung hat. Die Mahnungen zu barmherzigem und gerechtem Handeln werden mit Segenszusagen verbunden, die zum einen dem Einzelnen und zum anderen dem Volk insgesamt gelten. (6) Ist das nicht ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! (7) Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! (8) Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. (9) Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, (10) sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. (11) Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. (12) Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet
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ward; und du sollst heißen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“ Eine Reihe von Quellentexten zitiert Jes 58,6–12, zum Teil in Verbindung mit Mt 25,31ff. Aristides bezieht sich in seiner Apologie auf Jes 58, um das vorbildliche Ethos der Christen zu veranschaulichen (s. Text 32). Die Apostolische Kirchenordnung greift auf den Text zurück, um die Pflicht des Bischofs zu unterstreichen, alle Hilfebedürftigen zu unterstützen (s. Text 45). Gregor von Nyssa rezipiert das Motiv der Hilfe für Obdachlose und Nackte, das im zeitgenössischen Kontext spezifische Aktualität besitzt (s. Text 51). Bei Valerian von Cimiez hat der Rückgriff auf Jes 58 die Funktion, zum rechten Gebrauch von materiellen Gütern anzuleiten (s. Text 64). August Hermann Francke legt anhand des alttestamentlichen Textes das biblische Verständnis von Almosen dar (s. Text 171).
8. Amos 4,1–3; 6,1–6; 8,4–7: Sozialkritik und Gericht Amos ist der älteste Prophet, von dem ein eigenes Buch erhalten ist. Der aus dem Südreich Juda stammende Amos wirkte um 750 v. Chr. im Nordreich Israel. Dort trat er in einer Zeit wirtschaftlicher Blüte und zunehmenden Reichtums mit dem Anspruch auf, im Namen Jahwes die ausbeuterischen Methoden der Oberschicht anzuprangern und das Gericht über das Land anzusagen. Die folgenden drei Abschnitte aus dem Buch Amos stehen beispielhaft für die Sozialkritik, die sich in ähnlicher Form auch bei den Propheten Hosea, Micha und Jesaja findet. Amos droht den vornehmen, vollgefressenen Frauen Samarias mit Verbannung, weil sie die Armen schinden, während sie sich bequem mit Wein bedienen lassen (Am 4,1–3). Er geiselt das „Frevelregiment“ und das Luxusleben der Mächtigen (6,1–6). Der Prophet sagt Gottes Gericht an über die, die insbesondere die Kleinbauern um ihre Eigenständigkeit und ihre Lebensressourcen bringen, indem sie sie in die Schuldenfalle locken (Am 8,4–7). Bei Amos kommt Verarmung als Folge von Ausbeutung in den Blick. Armut ist in dieser Perspektive weder gottgewollt noch selbstverschuldet, sondern das Ergebnis sozialer Umschichtungen und ungerechter Bedrückung. 4 (1) Hört dies Wort, ihr fetten Kühe auf dem Berge Samarias, die ihr den Geringen Gewalt antut und schindet die Armen und sprecht zu euren Herren: Bringt her, lasst uns saufen! (2) Gott der HERR hat geschworen bei seiner Heiligkeit: Siehe, es kommt die Zeit über euch, dass man euch herausziehen wird mit Angeln und, was von euch übrig bleibt, mit Fischhaken. (3) Und ihr werdet zu den Mauerlücken hinaus müssen, eine jede vor sich hin, und zum Hermon weggeschleppt werden, spricht der HERR. […] 6 (1) Weh! Die ihr sorglos seid zu Zion und die ihr voll Zuversicht seid auf dem Berge Samarias, ihr Vornehmen des Erstlings unter den Völkern, […] (3) die ihr meint, vom bösen Tag weit ab zu sein, und trachtet immer nach Frevelregiment, (4) die ihr schlaft auf elfenbeingeschmückten Lagern und euch streckt auf euren Ruhebetten? Ihr esst die Lämmer aus der Herde und die gemästeten Kälber (5) und spielt auf der Harfe und erdichtet euch Lieder wie David (6) und trinkt Wein aus Schalen und salbt euch mit dem besten Öl, aber bekümmert euch nicht um den Schaden Josefs.
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8 (4) Höret dies, die ihr die Armen unterdrückt und die Elenden im Lande zugrunde richtet (5) und sprecht: Wann will denn der Neumond ein Ende haben, dass wir Getreide verkaufen, und der Sabbat, dass wir Korn feilhalten können und das Maß verringern und den Preis steigern und die Waage fälschen, (6) damit wir die Armen um Geld und die Geringen um ein Paar Schuhe in unsere Gewalt bringen und Spreu für Korn verkaufen? (7) Der HERR hat bei sich, dem Stolz Jakobs, geschworen: Niemals werde ich diese ihre Taten vergessen! In seiner Predigt anlässlich einer Hungersnot bezieht sich Basilius ausdrücklich auf Amos. In seiner Kritik an dem rigiden Geschäftsgebaren der Grundbesitzer und Getreidespekulanten sowie mit seinem Ruf zur Umkehr und der Androhung des Gerichts sieht sich Basilius in der Tradition des Propheten (s. Text 48). Guigo zitiert in seinem Brief an Kardinal Haimerich Amos 6,1–6. Er bezieht die prophetische Anklage, die den Mächtigen Israels galt, auf die Kirche seiner Zeit: Die Kirche – so Guigo – ist von weltlichen Machtvorstellungen korrumpiert und hat sich an die luxuriösen Lebensformen und den Reichtum weltlicher Herrschaft angepasst (s. Text 91).
B. Apokryphe und frühjüdische Schriften 9. Jesus Sirach 3,30–4,11; 12,1–6; 13,3–24; 29,1–13; 33,25–30; 35,16–22: Arme und Reiche Das Buch Jesus Sirach zählt zur jüdischen Weisheitsliteratur und gehört zu den sog. Spätschriften des Alten Testaments. Es wurde nicht in die hebräische Bibel aufgenommen, ist aber in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, überliefert. In katholischer Tradition ist die Weisheitsschrift Teil der sog. Deuterokanonischen Schriften. Luther hat das Buch den Apokryphen zugeordnet, die er zwischen das Alte und Neue Testament stellte. Das Buch wurde wahrscheinlich zwischen 180 bis 175 v. Chr. von dem Weisheitslehrer Jesus, Sohn Sirachs, verfasst. Vor dem Hintergrund des Eindringens hellenistischer Philosophie in die hebräische Lebenswelt zielt das Buch auf eine „Synthese von Glaube, Kult und Ethos“ (Johannes Marböck) und auf eine Lebenspraxis, die durch Gottesfurcht und Weisheit geprägt ist. In dieser Perspektive hat die Verantwortung für die Armen wesentliche Bedeutung. Unterschiedliche Facetten kommen dabei zur Geltung: Die Forderung barmherziger Zuwendung zu dem Armen findet ihre Begründung darin, dass der Arme Geschöpf Gottes ist. Sie ist zugleich durch die Aussicht motiviert, durch Wohltaten einen kostbaren, unvergänglichen und rettenden Schatz aufzubauen. Eingeschärft wird, im Blick auf die Adressaten guter Werke zwischen „Frommen“ und „Frevlern“ strikt zu unterscheiden. Bemerkenswert ist einerseits die für einen Weisen ungewöhnlich harte Kritik an der von Reichen geübten Ungerechtigkeit. Im Zusammenhang damit kommen Mechanismen sozialer Ausgrenzung in den Blick. Andererseits kann Reichtum, wenn ihm keine Sünde anhaftet, positiv beurteilt werden.
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3 (30 [33]) Wie das Wasser ein brennendes Feuer löscht, so tilgt Almosen die Sünden. (31 [34]) Der die Wohltaten vergilt, wird dereinst ihrer gedenken, und wer fällt, wird eine Stütze finden. 4 (1) Mein Kind, lass den Armen nicht Not leiden, und verschließe nicht deine Augen vor den Bedürftigen. (2) Verachte den Hungrigen nicht, und betrübe den Menschen nicht in seiner Armut. (3) Einem betrübten Herzen füge nicht noch mehr Leid zu, und versage deine Gabe dem Bedürftigen nicht. (4) Die Bitte des Elenden schlage nicht
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ab, und wende dein Angesicht nicht von dem Armen. (5) Wende deine Augen nicht von dem Bittenden, und gib ihm keinen Anlass, dir zu fluchen. (6) Denn der ihn gemacht hat, erhört sein Gebet, wenn er mit bitterem Herzen dich verflucht. (7) Mach dir Freunde in der Gemeinde, und vor einem Großen beuge dein Haupt. (8) Höre den Armen an, und antworte ihm freundlich und sanft. (9) Rette den, dem Gewalt geschieht, vor dem, der ihm Unrecht tut; und sei unerschrocken, wenn du urteilen sollst. (10) Sei zu den Waisen wie ein Vater, und tritt für ihre Mutter ein, als wärst du ihr Mann; (11) so wirst du sein wie ein Sohn des Allerhöchsten, und er wird dich mehr lieben, als deine Mutter dich liebt. 12,1–6 12 (1) Willst du Gutes tun, so siehe zu, wem du es tust; dann verdienst du Dank damit. (2) Tu dem Frommen Gutes, so wird dir’s reichlich vergolten, wenn nicht von ihm, so doch gewiss vom Höchsten. […] (4) Gib dem Frommen, doch des Frevlers nimm dich nicht an. (5) Tu Gutes dem Demütigen, aber dem Gottlosen gib nichts. Verweigere ihm dein Brot und gib ihm nichts, damit er dadurch nicht stärker wird als du: Denn du wirst doppelt so viel Schlechtes empfangen, wie du ihm Gutes getan hast. (6) Denn auch der Höchste ist den Sündern feind und wird die Gottlosen bestrafen. 13,3(4)–24(30) 13 (3 [4]) Der Reiche tut Unrecht und beharrt noch darauf; der Arme erleidet Unrecht, und muss sich dafür noch bedanken. (4 [5]) Solange du ihm nützlich bist, bemüht sich der Reiche um dich; aber wenn du nicht mehr kannst, lässt er dich fallen. (5 [6]) Solange du etwas hast, bleibt er bei dir, nimmt dich aus und müht sich selbst nicht ab. (6 [7]) Wenn er dich braucht, so täuscht er dich: Er lächelt dich an, verheißt dir viel, tut dir schön und fragt: Brauchst du etwas? (7 [8]) Er lädt dich großzügig ein, um dich später zwei- oder dreimal auszunehmen, und zuletzt verspottet er dich noch. [9] Dann sieht er dich an, lässt dich fallen und schüttelt den Kopf über dich. (8 [10]) Darum sieh zu, dass du dich nicht täuschen lässt [11] und in deiner Einfalt nicht gedemütigt wirst. [...] (19 [23]) Wie der Löwe in der Wüste die Wildesel frisst, so fressen die Reichen die Armen. (20 [24]) Dem Hochmütigen ist Demut ein Gräuel; so ist auch dem Reichen der Arme ein Gräuel. (21 [25]) Ein Reicher, der zu fallen droht, wird von seinen Freunden gestützt, ein Armer aber, der fällt, wird von seinen Freunden zu Boden gestoßen. (22 [26]) Wenn ein Reicher strauchelt, so gibt es viele, die ihm beistehen; wenn er sich mit Worten vergriffen hat, so gibt man ihm auch noch recht. [27] Wenn aber ein Armer strauchelt, so
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macht man ihm noch Vorwürfe; er spricht verständig, und doch gilt es nichts. (23 [28]) der Reiche redet, und alle schweigen, und seine Worte hebt man in den Himmel. [29] Der Arme redet, und man sagt: Wer ist denn das? Und beim kleinsten Fehltritt fällt man über ihn her. (24 [30]) Reichtum ist gut, wenn an ihm keine Sünde haftet, und allein der Gottlose nennt die Armut schlecht. 29,1f.3.7–13(17) (1) Wer seinem Nächsten etwas leiht, tut ein Werk der Barmherzigkeit, und wer ihm aushilft, der hält die Gebote. (2) Leihe deinem Nächsten, wenn er’s nötig hat, und zahle auch du deinem Nächsten deine Schulden, wenn es an der Zeit ist. […] (7 [10]) Viele leihen ungern, nicht aus Bosheit, sondern weil sie fürchten, schuldlos um ihr Gut zu kommen. (8 [11]) Doch du habe Geduld mit dem Bedürftigen, sei barmherzig und dränge ihn nicht! (9 [12]) Um des Gebotes willen hilf dem Armen, und lass ihn in der Not nicht mit leeren Händen fortgehen. (10 [13]) Verlier dein Geld lieber an deinen Bruder oder Freund, und lass es nicht unter einem Stein rosten, bis es verloren ist! (11 [14]) Sammle dir einen Schatz nach dem Gebot des Allerhöchsten: Er wird dir mehr einbringen als alles Gold. (12 [15]) Fülle deine Kammer mit Wohltaten: Sie werden dich aus allem Unglück retten; (13 [16]) sie werden dich besser vor deinen Feinden schützen [17] als ein starker Schild oder schwerer Spieß. 33,25–30 (25) Futter, Stock und Last dem Esel, Brot, Zucht und Arbeit dem Knecht. […] (28) Treibe ihn zur Arbeit an, dass er nicht müßig gehe, [29] denn Müßiggang lehrt viel Bosheit. (29 [30]) Lege ihm Arbeiten auf, wie es ihm gebührt, und gehorcht er dann nicht, so mache die Fußfesseln schwer. (30) Doch nutze deine Macht nicht aus und tue nur, worauf du ein Recht hast. 35,16–22 (16) Er [Gott] hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. (17) Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. […] (21) Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt (22) und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält. Der Herr wird nicht säumen noch Langmut zeigen, bis er den Unbarmherzigen die Lenden zerschmettert. Insbesondere die Vorstellung von der sündentilgenden Kraft des Almosens (Sir 3,30 [33]) war wirkungsgeschichtlich von großer Bedeutung. Cyprian brachte
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den Verdienstgedanken des Almosens systematisch zur Geltung (s. Text 43). Paulinus von Nola entfaltet die Idee des himmlischen Bankiers, der zugunsten der Armen auf seinem Wechslertisch das ewige Leben ausgibt. Er geht – wie andere – von einem Kreislauf der Ressourcen aus: Gott schuf die Reichen für die Armen und die Armen für die Reichen, damit der Überfluss des einen zum Unterhalt des anderen dient und der Arme das Werkzeug für die gute Tat des Reichen und dessen himmlischen Lohn wird (s. Text 56). Mit dem Verdienstgedanken begründet auch z.B. Radulfus Ardens die überragende Funktion des Almosens (s. Text 99). Thomas von Aquin hebt hervor, dass das leibliche Almosen geistige Frucht bringt, insofern es einen „Schatz nach den Geboten des Allerhöchsten“ begründet (s. Text 109). Domingo de Soto (s. Text 153) und die Almosenordnung Kurtriers (s. Text 151) vertreten im 16. Jahrhundert die Auffassung, dass Almosen Sünden tilgen. Während diese Anschauung die Kritik der Reformatoren auf sich zog, konnte sich z.B. der Lutheraner Wenzeslaus Link (s. Text 136) in anderer Weise auf Jesus Sirach beziehen. Für Link wie auch für Georg Christoph Brendel (s. Text 175) ist Sirach 33,28b der biblische Kronzeuge für die Hochschätzung der Arbeit und die Kritik am Müßiggang und Bettel. Mit der grundsätzlichen Warnung, „Frevlern“ Gutes zu tun (Sir 12,1–6), setzt sich Augustin kritisch auseinander. Dabei entfaltet er die Unterscheidung zwischen dem Sünder, der Zurechtweisung verdient, und dem Menschen, der als Geschöpf Gottes der barmherzigen Unterstützung bedarf (s. Text 58).
10. Testament Hiobs 9,1–12,4: Diakonie eines Herrschers Das zwischen 100 v. Chr. und 150 n. Chr. entstandene Testament des Hiob ist eine volkstümlich-erbauliche Fortschreibung des biblischen Hiobbuchs. Die Schrift gehört in den Bereich des hellenistischen Judentums. Der Verfasser der Schrift ist nicht bekannt. Das Testament stellt ein wichtiges frühjüdisches Dokument über die Armenfürsorge dar. An die Sorge des biblischen Hiob für Arme und Fremde (Hi 31,16–20.31f.) anknüpfend, schildert das Testament eine gut geplante, organisierte und differenzierte Armenpflege, die als „Diakonie“ bezeichnet wird. „Diakonie“ ist demnach ein terminus technicus für Armenfürsorge im griechisch sprechenden Judentum. Hiob erscheint als Idealgestalt des zum Judentum bekehrten Herrschers, der seine soziale Verantwortung konsequent und in großem Stil wahrnimmt: Er stellt einen Teil seines Besitzes für Bedürftige zur Verfügung und richtet Tische für Fremde, Witwen und Arme ein. Bemerkenswert ist, dass Gruppen, die selbst bedürftig waren, in die „Diakonie“ einbezogen werden. Dazu gehören Personen, die mittellos waren und nun gegen Lohn in der Armenfürsorge mitarbeiten. Andere erhalten Kredite, um Geschäfte zu gründen, deren Erträge wieder der Armenfürsorge zugutekommen. Eine Begrenzung der sozialen Maßnahmen aus ethnischen oder religiösen Gründen ist im Testament Hiobs nicht erkennbar. Hiobs „Diakonie“ ist, über das bloße Almosengeben hinaus, durch vorausschauende Planung gekennzeichnet und zielt auf die Aktivierung Bedürftiger und deren Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Dieses „soziale Konzept“ ist „für antike Verhältnisse einzigartig“ (Klaus Berger). 9 (1) Hört nun! Ich will euch kundtun alles, was mir zugestoßen ist und was mir weggenommen wurde. (2) Ich besaß 130.000 Schafe (3) und sonderte von ihnen 7000 ab zur Schur, um Waisen und Witwen und Arme und Schwache zu bekleiden. Ich hatte auch einen Rudel Hunde, 800 (an der Zahl), die bewachten meine Herden. Ich hatte auch 200 weitere Hunde, die bewachten meinen Palast. (4) Ich besaß 9000 Kamelstuten, und aus ihnen wählte ich 3000 aus, eine jede Stadt zu versorgen. (5) Beladen mit Gütern schickte ich sie in Städte und in Dörfer. Ich ordnete an, hinzugehen und (die Güter) an die Schwachen und die Bedürftigen und alle Witwen zu verteilen. (6) Und ich besaß 140 000 Eselinnen auf der Weide, und ich sonderte von ihnen 500 ab und befahl, die Jungen zu verkaufen und (den Erlös) den Armen und Notleidenden zu geben. (7) Und es kamen zu mir aus allen Ländern
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alle (nur möglichen Leute). Offen standen die vier Tore meines Palastes. (8) Ich hatte meinen Dienern befohlen, sie stets offen zu halten in der Absicht, dass die um Unterstützung Bittenden nicht kommen und mich am Tor sitzen sehen und aus Scheu (vor mir) wieder weggehen, ohne etwas empfangen zu haben. Sondern wenn sie mich vor einem der Tore sitzen sahen, sollten sie durch die anderen gehen können und so viel empfangen, wie sie benötigten. 10 (1) Es gab aber auch in meinem Palast 30 Tische, die standen bereit als feste Einrichtung zu jeder Tageszeit allein für die Fremdlinge. (2) Auch hatte ich 12 andere Tische aufstellen lassen für die Witwen. (3) Und wenn ein Fremdling kam mit der Bitte um Unterstützung, dann musste er zuerst zu Tisch (sich setzen und) sich sättigen, ehe er das Gewünschte empfing. (4) Und ich erlaubte nicht, dass jemand aus meinem Tor hinausging mit leerem Beutel. (5) Ich besaß ferner 3500 Joch Ochsen und wählte von ihnen 500 aus und stellte sie zur Verfügung, dass jeder, der sie mietete, mit ihnen auf seinem Feld pflügen konnte. (6) Und den (Miet)Ertrag zweigte ich ab den Armen für ihren Tisch. Ich legte den Ertrag davon für meinen Armentisch beiseite. (7) Ich besaß auch 50 Backöfen, von denen stellte ich 12 zur Versorgung des Armentisches bereit. 11 (1) Es gab auch einige Fremdlinge, die sahen meine Gebefreudigkeit und äußerten den Wunsch, sich selbst auch am (Armen)Dienst [diakonia] zu beteiligen. (2) Und es gab bisweilen einige andere, die selbst mittellos waren und daher nichts aufwenden konnten. Sie kamen aber dennoch und sagten: „Wir bitten dich, können nicht auch wir diesen Dienst übernehmen? Wir besitzen (allerdings) nichts. (3) Hab Mitleid mit uns und leihe uns Geld, damit wir in die großen Städte gehen (können) und dort Handel treiben und (dann auch) in der Lage sind, den Dienst für die Armen zu verrichten. (4) Und danach wollen wir dir das Deine wieder erstatten.“ (5) Und als ich das hörte, freute ich mich, dass sie gerade von mir (die Mittel) zur Versorgung der Armen erhalten wollten. (6) Ohne weiteres nahm ich einen Schuldschein an und gab ihnen so viel sie wollten. (7) Als Sicherheit ließ ich mir von ihnen nichts (anderes) als nur die Schuldurkunde aushändigen. (8) Und so betrieben sie mit meinem (Geld) Handel. (9) Manchmal hatten sie dabei Erfolg und konnten (von den Erträgen) den Armen geben. (10) Manchmal wurde sie auch beraubt und (dann) kamen sie, wandten sich an mich und sprachen: „Wir bitten dich, habe Geduld mit uns. Wir wollen sehen, wie wir dir (alles) erstatten können.“ (11) Und unverzüglich holte ich ihren Schuldbrief her und las ihn vor; setzte den Kranz der Tilgung darauf und sprach: „Was immer ich euch für die Armen anvertraut habe, nichts davon will ich von euch
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(zurück)fordern.“ (12) Auch sonst nahm ich nichts von meinem Schuldnern. 12 (1) Und wenn einmal ein Mann frohen Herzens zu mir kam und sagte: „Ich habe zwar kein Vermögen, um den Armen zu helfen; doch würde ich den Armen heute gern an deinem Tisch aufwarten“, – (2) ja, dann bediente er sie mit (meiner) Erlaubnis und aß (selbst auch mit). Und wenn es Abend wurde und er nach Hause gehen wollte, wurde er von mir genötigt, Lohn zu nehmen. Ich sprach: (3) „Ich weiß, dass du als Arbeiter auf deinen Lohn aus bist und wartest. Du musst ihn annehmen.“ (4) Und nie ließ ich den Lohn eines Arbeiters (über Nacht) bei mir in meinem Haus zurück. Quelle: Berndt Schaller, Das Testament Hiobs, Jüdische Schriften aus hellenistischrömischer Zeit, Bd. 3. © 1979, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Textausschnitt: 325–374: 332–335.
11. Slavisches Henochbuch 44,1–5: Gottebenbildlichkeit des Menschen Während die hebräische Bibel von Henoch, einem der Patriarchen, nur in knapper Weise berichtet (Gen 4,17; 5,21–24), ist die außerbiblische Henochüberlieferung breit. Henoch ist eine der wichtigsten literarischen Gestalten der jüdischen Apokalyptik. Es existieren drei Sammelwerke, in denen Henoch im Zentrum steht. Die Werke werden nach den Sprachen unterschieden, in denen sie überliefert sind. Das ursprünglich griechisch verfasste slawische Henochbuch (Zweiter Henoch) entstand im ersten Jahrhundert n. Chr. noch vor dem Jahr 70 möglicherweise in Alexandrien. Kennzeichnend ist der Versuch, jüdische Glaubenstradition mit Vorstellungen der griechisch-hellenistischen Philosophie zu vermitteln. Zentrale Themen des Buches sind Weisheit, Ethik und Kult. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen (vgl. Gen 1,27) wird in ethisch und diakonisch bedeutsamer Weise entfaltet: Wer den Menschen entehrt, schmäht den, der als Höhepunkt des Schöpfungswerkes König der Erde ist, und den Schöpfer selbst. Das schöpfungstheologisch begründete barmherzige Verhalten gegenüber dem Bedürftigen ist auch Gegenstand des großen Gerichts. 44 (1) Der Herr hat den Menschen mit seinen eigenen Händen gemacht zur Ähnlichkeit seines Angesichts. Klein und groß hat der Herr ihn geschaffen. (2) Und wer das Angesicht eines Menschen schmäht, schmäht das Angesicht eines Königs und verabscheut das Angesicht des Herrn. Wer das Angesicht eines Menschen verachtet, verachtet das Angesicht des Herrn. (3) Wer gegen irgendeinen Menschen Zorn übt ohne [vorausgegangene] Kränkung, den wird der große Zorn des Herrn dahinmähen. Wer in das Angesicht eines Menschen speit, den wird Schmach zum großen Gericht des Herrn dahinmähen. (4) Selig ist der Mensch, der sein Herz nicht in Bosheit gegen irgendeinen Menschen richtet und der dem Gekränkten und dem Gerichteten hilft und den Niedergeschlagenen aufhebt und Barmherzigkeit tut an dem Bedürftigen. (5) Denn am Tag des großen Gerichts wird jedes Maß und jede Standwaage und jedes Gewicht wie auf einer Waage sein, das heißt, an einer Waage hängen, und wird [wie] auf dem Markt stehen, und er wird sein Maß erkennen, und nach dem Maß wird er seinen Lohn empfangen. Quelle: Christfried Boettrich, Das slavische Henochbuch, Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 5. © 1996, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Textausschnitt: 829–1039: 959–961.
C. Neues Testament 12. Matthäus 25,31–46: Vom Weltgericht Die von Matthäus überlieferte Rede Jesu vom Weltgericht ist ein Grundtext christlicher Diakonie. Die Titulierung des Textes als Magna Charta der Diakonie bringt dies markant zum Ausdruck. Diakonein fasst hier das helfende Handeln in elementaren Notsituationen zusammen. Der Katalog solcher Notlagen und entsprechender Liebeswerke bzw. Werke der Barmherzigkeit beruht auf einer langen Überlieferung und war in der antiken orientalischen Welt weit verbreitet. Einschlägige Zeugnisse sind aus Ägypten bekannt. Ein prägnantes Beispiel aus der biblischen Tradition ist Jes 58,7. Die Intention, zu Werken der Barmherzigkeit zu motivieren und diese einzufordern, hat in Mt 25 ihre Pointe darin, dass das Handeln an Hilfebedürftigen als ein dem Weltenrichter selbst zukommendes Tun angesehen wird. Der Menschensohn-Weltenrichter und König und die Geringsten werden in eine spezifische Beziehung zueinander gesetzt: Die Niedrigsten erfahren die Solidarität des Königs. Sie werden dadurch mit einer spezifischen Würde versehen und in den Status von „Brüdern“ erhoben. Diakonisches Handeln als Zuwendung zu Notleidenden erscheint in dem Text schließlich als grundlegendes Kriterium des Gerichts. Umstritten ist freilich, wem das Gericht gilt und wer mit den „geringsten Brüdern“ gemeint ist. Mit der Wendung „alle Völker“ (V. 32) können alle Heiden gemeint sein, die danach gerichtet werden, wie sie sich gegenüber notleidenden Christen verhalten haben. Eine andere Auslegung geht davon aus, dass mit „alle Völker“ die Heidenschaft gemeint ist, sofern sie zur Jüngerschaft gehört, d.h. Heidenchristen. Der Text hätte entsprechend seinen Fokus darin, die Unterstützung der urchristlichen Wandermissionare als den „geringsten Brüdern Jesu“ innerhalb der Kirche einzuschärfen. Die dritte – u.E. wahrscheinlichste – Interpretation nimmt an, dass die Formulierung „alle Völker“ darauf zielt, analog der universalen Ausrichtung der Verkündigung (Mt 24,14; 28,19) die Universalität des Gerichts zu betonen. Folglich entwirft Mt 25,31–46 ein Bild des Gerichts, nach dem alle Menschen danach beurteilt werden, wie sie sich Bedürftigen gegenüber verhalten haben. In diesem Horizont geht es im Besonderen darum, die Jünger, d.h. die Christinnen und Christen, mit aller Schärfe
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daran zu erinnern, dass es im Gericht entscheidend auf die Lebenspraxis ankommt. (31) Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, (32) und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, (33) und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. (34) Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! (35) Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. (36) Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. (37) Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu essen gegeben? (38) Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? (39) Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? (40) Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (41) Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! (42) Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. (43) Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. (44) Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? (45) Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. (46) Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. Mt 25,31–46 ist der biblische Text, der in den Quellen am meisten zitiert wird. Die Bezugnahme auf das Gleichnis dient insgesamt dazu, diakonisches
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Handeln zu begründen und zu Werken der Barmherzigkeit zu ermutigen und aufzufordern. Dabei treten unterschiedliche Akzente zutage: Aristides rekurriert auf Mt 25, um das Ethos der Christen in seiner Besonderheit herauszustellen (s. Text 32). Bei Klemens liegt der Fokus darauf, dass Werke der Barmherzigkeit Ressourcen im Sinne von Vermögen voraussetzen. Zugleich macht er deutlich, dass Besitz eben dadurch legitimiert ist, dass er barmherziges Tun ermöglicht (s. Text 36). Rhetorisch eindrücklich bringt Gregor von Nazianz zum Ausdruck, dass der Dienst an Notleidenden Dienst für Christus selbst ist (s. Text 50). Gregor von Nyssa stellt seinen Zuhörern das Gericht über das „ganze Menschengeschlecht“ vor Augen und schärft in diesem Zusammenhang den „Nutzen der Wohltätigkeit“ ein (s. Text 51). In Sulpicius Severus‘ Vita des Heiligen Martin hat die Identifikation Christi mit dem Notleidenden ihren anschaulichen und wirkmächtigen Ausdruck gefunden (s. Text 55). Augustin (s. Text 60) und Salvian von Marseille (s. Text 62) heben in spezifischer Weise hervor, dass es in der Hinwendung zu den Armen um die Begegnung mit Christus geht. Valerian von Cimiez betont, dass barmherziges Handeln bedingungslos jedem hilfebedürftigen Menschen gelten muss. Jemanden wegen seiner Religion, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder aus der Sorge heraus, eine Gabe könnte missbraucht werden, von der Hilfe auszuschließen, könnte ja bedeuten, Christus auszuschließen (s. Text 64). Auf der Basis von Mt 25 beschreibt Benedikt insbesondere die Sorge für Kranke und die Aufnahme von Fremden als konstitutiv für das mönchische Leben (s. Text 68). Karl der Große stellt dagegen heraus, dass die Werke der Barmherzigkeit normativen Charakter für die gesamte Gesellschaft besitzen (Aachener Kapitular, s. Text 78). Die Vita des Bamberger Bischofs Otto zeichnet nach Maßgabe von Mt 25 das Ideal einer Bischofsgestalt (s. Text 94). Bei Caesarius von Heisterbach liegt der Akzent auf der Aussicht auf himmlischen Lohn, der Almosen bzw. Werken der Barmherzigkeit verheißen ist (s. Text 101). Nach den Legenden bildet die Identifikation Christi mit den Armen die Grundmelodie, die das Leben und Handeln Elisabeths von Thüringen durchgängig prägt (s. Text 114). Geiler von Kaysersberg verwendet das Motiv der Solidarität Christi mit den Notleidenden, um die Verachtung der Armen durch die Reichen massiv zu kritisieren (s. Text 125). Im Zusammenhang der Neuordnung der Armenfürsorge seit den 1520er Jahren greifen die Nürnberger (s. Text 132), Leisniger (s. Text 133) und Hamburger Ordnung (s. Text 143) auf Mt 25 zurück, um die städtischen Neuansätze theologisch zu legitimieren. Huldrych Zwingli, der Züricher Reformator, hebt hingegen einen anderen Aspekt heraus: In seiner scharfen Auseinandersetzung mit kirchlichen und staatlichen Repräsentanten erinnert er an das auf Benedikt zurückgehende Verständnis der Klöster als „Herbergen der Armen“ und kritisiert zugleich eine Wirklichkeit, in der die Armen als Abschaum und damit Christus selbst als „Auswurf“ behandelt werden (s. Text 138). Der spanische katholische Theologe Domingo de Soto unterstreicht im Kontext der Auseinandersetzungen um soziale Reformen nachdrücklich, dass „jeder beliebige Arme“ Repräsentant Christi ist. Er stellt damit die Würde des Armen und die gleichsam sakramentale Bedeutung des Armen, in dem
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Christus begegnet, heraus (s. Text 153). Das Konzil von Trient bezieht sich in seinen Regelungen zur institutionellen Gastfreundschaft und zur Beseitigung von Missständen bei Hospitälern auf das Gleichnis vom Weltgericht (s. Text 154). Vor dem Hintergrund konfessioneller Kontroversen um die guten Werke rekurriert August Hermann Francke auf Mt 25: Die lutherische Ablehnung der Verdienstlichkeit guter Werke dürfe – so Francke – nicht dazu führen, dass gute Werke überhaupt in Misskredit geraten. Vielmehr gehe es darum, die Gaben, die Gott einem Menschen verliehen hat, im Dienst am Nächsten zur Entfaltung zu bringen und in den Werken der Barmherzigkeit dem Nächsten zugutekommen zu lassen (s. Text 171).
13. Markus 1,40–45: Die Heilung eines Aussätzigen Die Wundererzählung markiert in exemplarischer Weise einen „Wandlungsprozess im Verständnis von Krankheit und besonders von Aussatz im frühen Christentum“ (Peter Müller). Die Geschichte setzt das traditionelle Verständnis von Aussatz voraus und geht zugleich in Distanz dazu. Die herkömmliche Auffassung war eingebunden in den Gegensatz von Reinheit und Unreinheit, dem für die alttestamentlich-jüdische Weltdeutung zentrale Bedeutung zukommt. In dieser Perspektive macht Aussatz in signifikanter Weise unrein und schließt den Kranken aus der kultischen und sozialen Gemeinschaft aus. Lev 13f. enthält entsprechende rechtliche Vorschriften zum Umgang mit der Krankheit und den von ihr Befallenen. Indem Jesus den Kranken berührt, durchbricht er traditionelle Unterscheidungen und Grenzziehungen. Das durch Erbarmen („es jammerte ihn“) motivierte Handeln Jesu geschieht in göttlicher Vollmacht. Es bewirkt Reinigung und Heilung sowie die kultische und soziale Reintergration des vom Aussatz Befreiten. Die Geschichte ist Teil der markinischen Erzählkonzeption mit ihrem charakteristischen Schweigegebot (V.43). Die Wundererzählung will die Bedeutung Jesu und die Wirkkraft seines Handelns herausstellen. Zugleich sollen die Leserinnen und Leser des um 70 n. Chr. verfassten Markusevangeliums zu einem Verhalten Aussätzigen und Ausgegrenzten gegenüber angeleitet werden, das dem Handeln Jesu entspricht. (40) Und es kam zu ihm [Jesus] ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. (41) Und es jammerte ihn, und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun; sei rein! (42) Und alsbald wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. (43) Und Jesus bedrohte ihn und trieb ihn alsbald von sich (44) und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. (45) Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, sodass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; und sie kamen zu ihm von allen Enden.
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Das Thema Aussatz spielt in den hier präsentierten Quellentexten eine bedeutsame Rolle. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, als die Lepra aus Mitteleuropa verschwand, bildete der Aussatz im Spiegel der vorliegenden Texte nach dem Themenfeld Armut die wichtigste diakonische Herausforderung. Es gibt eine christliche Auslegungstradition, in der der Aussatz allegorisch gedeutet wird und die im Aussätzigen ein Bild für den sündigen Menschen sieht (z.B. Origenes, Augustin, Thomas von Aquin). Im Fokus der in diesem Band zusammengestellten Quellen stehen dagegegen die ethisch-diakonischen und sozialen Aspekte des Umgangs mit der Krankheit und den Kranken. Gregor von Nazianz z.B. beschreibt in eindrücklicher Weise die Herausforderung, sich verstümmelten, entstellten, Ekel erregenden und dahinsiechenden Menschen zuzuwenden. Seine Predigt zielt darauf ab, die Isolation der Aussätzigen aufzubrechen, ihr Leiden zu mindern und Vorurteile abzubauen (s. Text 50). Die Hinwendung Martins von Tours zu den Armen findet in Anlehnung an Mk 1,41f. ihren pointierten Ausdruck darin, dass er einen Aussätzigen küsst (s. Text 55). Nach der Schilderung Hieronymus‘ pflegte Fabiola eigenhändig Aussätzige in dem von ihr gegründeten Krankenhaus (s. Text 57). Venantius Fortunatus stilisiert Radegunde zu einer Martin von Tours ebenbürtigen diakonischen Heiligen, für die insbesondere die unmittelbarte Zuwendung und körperliche Nähe zu Aussätzigen kennzeichnend ist (s. Text 72). Maria von Oignies, die erste Begine, diente zumindest einige Zeit einer Gruppe von Leprakranken (s. Text 100). Thomas von Celanos Lebensbeschreibung zufolge war die Begegnung mit einem Aussätzigen für den Weg des Franziskus von Assisi von einschneidender Bedeutung. Wie der heilige Martin wendet sich auch Franz Aussätzigen liebevoll zu und küsst sie (s. Text 105). Die Nähe zu Aussätzigen wird bei Elisabeth von Thüringen noch einmal spezifisch konturiert. Sie pflegte nach der Legende Aussätzige und ließ sie – bei Abwesenheit ihres Mannes – im ehelichen Bett schlafen. Als der Ehemann einen solchen Vorgang aufdecken wollte, fand er anstelle eines Aussätzigen den am Kreuz hängenden Christus vor. Für die institutionelle Gestaltung einer spezifischen Hilfe für Leprosen, die von normalen Unterstützungseinrichtungen weitgehend ausgeschlossen waren, legte das 3. Laterankonzil wesentliche Grundlagen (s. Text 96). Seit Ende des 12. Jahrhunderts kam es vermehrt zur Gründung von Leprosorien (s. Texte 110; 117). Hans Hergot schließlich sieht die von ihm prophezeite Wandlung der Lebensverhältnisse u.a. durch eine intensive Sorge für Arme und Kranke gekennzeichnet. Dazu gehört auch ein „Haus für die am Aussatz des Leibes“ Erkrankten (s. Text 140).
14. Markus 10,17–31: Reichtum und Nachfolge Das Lehrgespräch Jesu mit einem Reichen, der durch die matthäische Fassung zum reichen Jüngling geworden ist (Mt 19,16–30), verbindet die Frage nach dem ewigen Leben, d.h. nach dem, was nötig ist, um Eingang in Gottes Herrschaft zu bekommen, mit dem Thema Besitz. Der Ruf in die Nachfolge schließt als Prüfstein die Forderung in sich, den Besitz aufzugeben. Der Schatz im Himmel und der Schatz auf Erden schließen sich gegenseitig aus. In der Matthäusfassung erhält die Geschichte durch die Einführung des Begriffs „Vollkommenheit“ eine spezifische Zuspitzung. Vollkommenheit meint dabei die Nachfolge Jesu, die sich in radikaler Liebe und ungeteiltem Gehorsam darstellt und sich im Verzicht auf den eigenen Besitz zugunsten der Armen konkretisiert. An das Gespräch Jesu mit dem Reichen schließt sich ein Jüngergespräch an. Dabei wird im Sinne eines Fazits der Grundgedanke unterstrichen, dass es einen fundamentalen Gegensatz zwischen irdischem Besitz und der kommenden Gottesherrschaft gibt. (17) Und als er [Jesus] hinausging auf den Weg, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? (18) Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott. (19) Du kennst die Gebote: „Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; du sollst deinen Vater und Mutter ehren.“ (20) Er aber sprach zu ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. (21) Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach! (22) Er aber wurde betrübt über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. (23) Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! (24) Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist’s, in das Reich Gottes zu kommen! (25) Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. (26) Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann dann selig werden? (27) Jesus sah sie an und sprach: Bei
Reichtum und Nachfolge
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den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott. In der theologischen Beurteilung des Reichtums spielte die Auslegung von Mk 10,17–31 bzw. Mt 19,16–26 und Lk 18,18–27 in der Alten Kirche eine große Rolle. Die radikale Kritik des Reichtums in der kirchlichen Frühzeit (z.B. Tertullian, s. Text 35) wird durch Klemens von Alexandrien abgelehnt bzw. abgemildert. Er interpretiert die Geschichte vom reichen Jüngling so, dass die innere Einstellung zum Reichtum und die Verwendung der irdischen Güter in den Fokus rückt (s. Text 36). Dagegen entzieht die radikale pelagianische Streitschrift „Über den Reichtum“ um 400 dem persönlichen Reichtum jede Rechtfertigung (s. Text 61). Entsprechend schildert Gerontius, wie Melania Jesu Aufforderung an den reichen Jüngling Folge leistet, ihren riesigen Besitz verkauft, den Armen gibt und den Weg freiwilliger Armut geht (s. Text 65). Im Mittelalter begründet Franz von Assisi das Leben der Minderbrüder ohne Eigentum ausdrücklich mit Mt 19,21, der Forderung, die Jesus an den reichen Jüngling richtet (s. Text 102). Daneben rückt in den Diskursen um das Almosen die Verheißung des Schatzes im Himmel in den Vordergrund. Die Almosentheorie des Radulfus Ardens ist ein Beispiel dafür (s. Text 99).
15. Markus 10,35–45: Vom Herrschen und vom Dienen Das Wort von der Diakonia, vom Dienst, als Kennzeichnung der Grundstruktur christlicher Gemeinde und der Sendung Jesu Christi ist im Neuen Testament in verschiedenen Varianten überliefert (Mk 10,43f.; Mt 20,26f.; Lk 22,26f.; Mt 23,11; Mk 9,35; vgl. Joh 12,26). Die Vielfalt der Formulierungen belegt, dass der Vorstellung vom Dienst in der frühen Christenheit zentrale Bedeutung zukam. Mk 10,43f. ist wohl die älteste erhaltene Fassung des Dienstwortes. Es gewinnt Konturen durch spezifische Kontrastierungen: Der ehrgeizigen Bitte der beiden Söhne des Zebedäus, himmlische Ehrenplätze zu erhalten, wird zum einen die diakonische Ordnung der christlichen Gemeinde gegenübergestellt. Das Wesen der gemeindlichen Grundstruktur steht zum zweiten im Gegensatz zu autoritären Herrschaftsformen und zum Machtgebaren, wie sie bei heidnischen Völkern üblich sind. Vor dem Hintergrund der sozialen Spannungen zwischen Freien und Sklaven, die in die Gemeinden hineinwirkten, werden schließlich übliche Rangordnungen umgekehrt: Wer „groß“ bzw. „erster“ sein will, also nach Rang und Vorsitz strebt, soll wie ein „Diener“ (diakonos) und „Sklave“ (doulos) sein. Ihre Begründung findet die diakonische Grundverfassung christlicher Gemeinde und Kirche in der Geschichte Jesu, die mit dem Stichwort „diakonisch“ in bestimmter Hinsicht zusammengefasst wird. In seiner Todeshingabe findet die „ganzheitliche Zuwendung zu den Menschen“ (Ulrich Luz), insbesondere zu den „Kleinen“, Kranken und Armen, die die Sendung Jesu auszeichnete, ihre Fortsetzung und Vollendung. (35) Da gingen zu ihm [Jesus] Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebädäus, und sprachen zu ihm: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden. (36) Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? (37) Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. (38) Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? (39) Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; (40) zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.
Vom Herrschen und vom Dienen
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(41) Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. (42) Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. (43) Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; (44) und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. (45) Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Zwei Quellentexte nehmen Mk 10,42–45 bzw. die Paralleltexte (Mt 20,25– 28; Lk 22,26f.) explizit auf: Die Syrische Didaskalia ermahnt die Diakone, ihren Dienst entsprechend der Diakonie Christi auszuüben. Sie sollen ihr Amt nicht zur Selbstdarstellung und im Sinne der Machtausübung nutzen, sondern in Liebe und Zuwendung zu den Notleidenden ausüben (s. Text 38). In seiner Auslegung von Mt 20,25–28 konturiert Origenes den Dienstcharakter kirchlicher Ämter und übt schneidend scharfe Kritik am Machtmissbrauch von Bischöfen, die Arme als lästige Bittsteller behandeln und sich ihnen gegenüber wie Tyrannen gebärden (s. Text 39).
16. Lukas 6,20–36: Feldrede Lukas und Matthäus überliefern die „Antrittsrede“ Jesu in einer Weise, die wesentliche Gemeinsamkeiten, aber auch markante Unterschiede zeigt. Der lukanischen Feldrede (Lk 6,20–49) und der matthäischen Bergpredigt (Mt 5–7) liegt eine gemeinsame griechische Vorlage, die sog. Logienquelle, zugrunde. In der Verarbeitung dieser Quelle setzt Lukas spezifische Akzente. Die Feldrede fasst die Botschaft Jesu durch die Verbindung von Seligpreisungen und dem Gebot der Feindesliebe zusammen. Bei den sehr wahrscheinlich auf Jesus selbst zurückgehenden Seligpreisungen hält Lukas daran fest, dass die gute Nachricht vom Reich Gottes vornehmlich den Bettelarmen (Mt „geistlich“ Armen) gilt. Den Seligpreisungen entsprechen die Weherufe an Reiche, Satte und Lachende. Die Gegenüberstellung von Armen und Reichen ist für Lukas typisch. Da in den lukanischen Gemeinden viele der oberen Schicht angehören, ist der Umgang mit Besitz ein wichtiges Thema. Er stellt für Lukas einen Testfall des christlichen Glaubens und Handelns dar. Lukas will gut situierte Gemeindeglieder und Lesergruppen wachrütteln. Er möchte sie für die Lebensbedingungen der Armen sensibilisieren und bei ihnen die Unterstützung der Bedürftigen anmahnen. Der folgende Aufruf zur Feindesliebe bricht mit einem Ethos berechnender Gegenseitigkeit und zielt auf eine proaktive Haltung, die den Feinden Gutes tut. Mit der positiv formulierten Goldenen Regel sucht Lukas das Gebot der Feindesliebe für Außenstehende mit einem kulturell verbreiteten Ethos zu verbinden. Der Evangelist motiviert die ethische Forderung mit der eschatologischen Zusage der Sohnschaft. Er deutet zugleich die Feindesliebe als Barmherzigkeit nach Gottes Vorbild. Dabei knüpft er an die alttestamentliche Heiligkeitsforderung in Lev 19,2 (s. Text 2) an. Die Seligpreisungen (20) Und er [Jesus] hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. (21) Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. (22) Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohns willen. (23) Freut euch an jenem Tage und tanzt; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan.
Feldrede
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Die Weherufe (24) Aber dagegen: Weh euch Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt. (25) Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet weinen und klagen. (26) Wehe, wenn jedermann gut über euch redet; denn das Gleiche haben ihre Väter den falschen Propheten getan. Von der Feindesliebe (27) Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; (28) segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. (29) Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. (30) Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. (31) Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! (32) Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. (33) Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. (34) Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. (35) Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Vom Umgang mit dem Nächsten (36) Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Der dokumentierte Abschnitt aus der lukanischen Feldrede hat eine facettenreiche diakonische Wirkungsgeschichte. Einige Beispiele: In seiner Verteidigung des Christentums weist Aristides u.a. darauf hin, dass die Christen sogar ihren Feinden eifrig Wohltaten erweisen (s. Text 32). Tertullian begründet seine rigorose Beurteilung von Armut und Reichtum dezidiert mit der Seligpreisung der Armen und den Weherufen an die Reichen. Jesus habe damit die Armen für gerecht erklärt und die Reichen von vornherein verdammt (s. Text 35). Johannes Chrysostomus ruft dazu auf, der Barmherzigkeit Gottes zu entsprechen und Nachsicht mit den Armen zu haben und auf eine kleinliche Überprüfung der Lebensumstände der Armen zu verzichten (s. Text 53). Ähnlich argumentiert Radulfus Ardens: Gott nachahmen heißt, jedem, der bittet, Almosen zu geben, auch den „Schlechten und Undankbaren“ (s. Text 99). Geiler von Kaysersberg betont die Würde der von Jesus selig gepriesenen Armen und kritisiert mit den lukanischen Weherufen die Reichen, die für die Ar-
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Feldrede
men nur Verachtung übrig haben (s. Text 125). Martin Luther unterstreicht in seinem Sermon von den guten Werken (s. Text 129) die Bedeutung der „Freigebigkeit“: Jedermann soll bereit sein, mit seinem Gut zu helfen und zu dienen. Luther begründet dies mit der Goldenen Regel (V. 31). Schließlich setzt sich Wenzeslaus Link mit dem Gebot Christi, jedem zu geben, der dich bittet, auseinander. Link betont die Verpflichtung, jedem Bedürftigen zu helfen und ihn der Not zu entreißen. Er will aber dieses Gebot nicht auf die Bettler bezogen wissen (s. Text 136).
17. Lukas 10,25–37: Die Frage nach dem ewigen Leben. Der barmherzige Samariter Der Text setzt sich aus zwei ursprünglich getrennt voneinander überlieferten Abschnitten zusammen, die möglicherweise erst Lukas miteinander verklammert hat. Die Frage eines Gesetzeslehrers nach dem Tun, das zum ewigen Leben führt, und Jesu Antwort bilden in der lukanischen Komposition den Rahmen für die Beispielerzählung des Samariters. Während ein Gesetzeslehrer in den Parallelüberlieferungen (Mk 12,28–34par.) nach dem höchsten Gebot fragt, formuliert er bei Lukas bemerkenswerterweise die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe selbst. In Rede steht hier das entsprechende Tun. In der Beispielgeschichte wird den beiden Repräsentanten des jüdischen Kultes ein Samariter gegenübergestellt. Der Samariter, der beim Anblick des unter die Räuber Gefallenen mitleidiges Erbarmen zeigt, beschämt durch sein Verhalten den Priester und den Tempeldiener. Er verwirklicht beispielhaft das Liebesgebot, bei dem es darum geht, sich dem, der Hilfe braucht, als Nächster zu erweisen. (25) Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn [Jesus] und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? (26) Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? (27) Er antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). (28) Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. (29) Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? (30) Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. (31) Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. (32) Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. (33) Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; (34) und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. (35) Am nächsten Tag zog er zwei Silber-
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Die Frage nach dem ewigen Leben
groschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. (36) Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen ist? (37) Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen! Die vorliegenden Quellen nehmen nur in wenigen Fällen auf Lk 10,25–37 Bezug: Sulpius Severus greift bei der Beschreibung der Begegnung zwischen Martin und dem nackten Armen auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zurück (s. Text 55). Domingo de Soto zitiert das Gebot der Nächstenliebe nach Lukas (s. Text 153).
18. Johannes 13,1–17.34f.: Die Fußwaschung Die johanneische Szene der Fußwaschung setzt wohl die Überlieferung vom Herrenmahl voraus und gibt ihm eine spezifische symbolische Deutung. Im Zeichen seines bevorstehenden Todes und des Abschieds von seinen Jüngern vollzieht Jesus eine Zeichenhandlung, in der der innerste Beweggrund seiner Sendung anschaulich wird – die radikale Liebe zu den Seinen. Jesus leistet seinen Jüngern den Sklavendienst der Fußwaschung. Jesus, ihr Herr und Meister (V. 13), verrichtet damit einen äußerst niedrigen Dienst, zu dem man nicht einmal einen jüdischen Sklaven, sondern nur einen heidnischen verpflichten konnte. Die Geschichte endet mit dem Aufrufe an die Jünger_innen, dem Tun Jesu für sie in ihrem Handeln zu entsprechen. (1) Vor dem Passafest aber erkannte Jesus, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt ginge zum Vater. Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende. (2) Und nach dem Abendessen – als schon der Teufel dem Judas, dem Sohn des Simon Iskariot, ins Herz gegeben hatte, dass er ihn verriete, (3) Jesus aber wusste, dass ihm der Vater alles in seine Hände gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott ging, – (4) da stand er vom Mahl auf, legte seine Kleider ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich. (5) Danach goss er Wasser in ein Becken, fing an, den Jüngern die Füße zu waschen und zu trocknen mit dem Schurz, mit dem er umgürtet war. (6) Da kam er zu Simon Petrus; der sprach zu ihm: Herr, du wäschst mir die Füße? (7) Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren. (8) Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir. (9) Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! (10) Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen werden; er ist vielmehr ganz rein. Und ihr seid rein, aber nicht alle. (11) Denn er wusste, wer ihn verraten würde; darum sprach er: Ihr seid nicht alle rein. (12) Als er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder und sprach zu ihnen: Wisst ihr, was ich euch getan habe? (13) Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin’s auch. (14) Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinan-
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der die Füße waschen. (15) Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe. (16) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr und der Gesandte nicht größer als der, der ihn gesandt hat. (17) Wenn ihr dies wisst – selig seid ihr, wenn ihr’s tut. [...] (34) Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. (35) Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Benedikt von Nursia hat die Symbolhandlung der Fußwaschung in sein Regelwerk für das klösterliche Leben aufgenommen: Der Abt und die Brüder sollen allen Gästen die Füße waschen (s. Text 68). Bei Ulrich von Augsburg findet der Zusammenhang von Gottesdienst und Diakonie in spezifischen Ritualen Ausdruck. Von Ulrich wird berichtet, dass er nach der Messfeier jeweils zum Armenhospiz ging, um zwölf Armen die Füße zu waschen und ihnen etwas Geld zu geben. Zum Brauch der Fußwaschung trat am Gründonnerstag als öffentliche Zeichenhandlung der Würdigung die Einkleidung von zwölf Armen mit neuen Kleidern (s. Text 85). In der Hospitalordnung der Johanniter wird die Wertschätzung der „Armen Christi“ in spezifischer Weise zur Geltung gebracht: Während der Fastenzeit werden an jedem Samstag 13 Armen die Füße gewaschen, und sie erhalten Kleidung (s. Text 98). Auf Jesu „neues“ Gebot wird in der Alten Kirche sowohl in Aristides Apologie (s. Text 32) als auch in Tertullians Verteidigung des Christentums (s. Text 34) Bezug genommen. Dass sie „einander lieben“, gilt Aristides als Kennzeichen der Christen. Dies wird nach Tertullian auch von außen so wahrgenommen. Zu Beginn der Neuzeit konturiert Juan Luis Vives das Christentum als Religion der Liebe. Joh 13,35/15,12 gilt ihm als grundlegendes Dogma und als Kennzeichen der Christenheit (s. Text 139). Zur selben Zeit rekurriert die Christliche Ordnung der Stadt Hamburg auf Christi Gebot im Sinne des Grundprinzips christlichen geprägten Zusammenlebens (s. Text 143). Schließlich stellt August Hermann Francke Jesu Gebot als Kennzeichen der „wahren“ Jünger dar (s. Text 176).
19. Apostelgeschichte 2,42–47; 4,32–35: Die erste Gemeinde In den beiden Sammelberichten fasst Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, zusammen, was für das Leben der Jerusalemer „Urgemeinde“ charakteristisch und bleibend bedeutsam war. Die überlieferten Merkmale Lehre der Apostel, Gemeinschaft, Brotbrechen (Mahlfeier), Gebet und die Wunder der Apostel werden von Lukas so entfaltet, dass das Spezifikum der Gemeinschaft als Solidargemeinschaft hervortritt: In der Gemeinde, in der es keine Notleidenden gibt, ist die biblische Verheißung (Dtn 15,4; s. Text 3) erfüllt. Zugleich nimmt Lukas in seiner idealen Schilderung ein Motiv antiker Philosophie auf: „Alles gemeinsam“ erinnert an Platons Idealstaat, an die Gemeinschaft der Pythagoräer und an antike Freundschaftsethik. Hinter dem von Lukas gezeichneten idealen Bild steht eine in ihren Grundelementen greifbare geschichtliche Wirklichkeit: Die Anhängerinnen und Anhänger Jesu haben von Anfang an ihre Mahlfeiern mit einem Sättigungsmahl verbunden, das vor allem den „Armen“ Hilfe bot. Unterstützung war insbesondere wichtig für die aus Galiläa stammenden Anhänger_innen Jesu, die ihre Heimat verlassen hatten und nach Jerusalem gezogen waren. Sie hatten in der heiligen Stadt keine ökonomische Basis. Der Verkauf von Besitz diente der Unterstützung der Bedürftigen in der Gemeinde. In ihm spiegeln sich zugleich die Kritik am Reichtum, die bei Lukas besonders hervortritt, einerseits und die Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu andererseits, die Fragen der wirtschaftlichen Vorsorge und Existenzsicherung in den Hintergrund treten ließ. Bei dem, was als „Liebeskommunismus“ (Ernst Troeltsch) bezeichnet worden ist, stand kein längerfristiges Konzept des Wirtschaftens Pate. Leitend waren vielmehr Spontaneität, diakonische Verantwortung, eschatologische Grundstimmung und eine kritische Einstellung zum Eigentum, die auf Jesu Besitzverzicht zurückgeführt wurde. 2 (42) Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. (43) Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. (44) Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. (45) Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. (46) Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten
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Die erste Gemeinde
mit Freude und lauterem Herzen (47) und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. 4 (32) Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. (33) Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Land oder Häuser hatte, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte (35) und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte. Wirkungsgeschichtlich lassen sich verschiedene Schwerpunkte identifizieren: In der Alten Kirche konnte auf Apg 2 und 4 Bezug genommen werden, um die „Verfassung der ersten Christen“ als Norm für gegenwärtige Herausforderungen herauszustellen. Beispiele dafür sind Basilius und Cyprian. Während Basilius vor allem auf die „unzertrennliche Bruderschaft“ und die „ungeheuchelte Liebe“ verweist (s. Text 48), entwickelt Cyprian ein spezifisches Verständnis von Besitz. Es gründet darauf, dass Güter, die von Gott kommen, allen Menschen zum gemeinsamen Gebrauch dienen sollen. Besitzende entsprechen – so Cyprian – der göttlichen „Gleichheitlichkeit“, wenn sie das, was sie haben, mit den Brüdern teilen. So wahren sie die Gleichheit und üben Gerechtigkeit (s. Text 43). Im 16. Jahrhundert wurden Apg 2 und 4 im Kontext der Reformation und sozialer Reformen in unterschiedlicher Weise zur Geltung gebracht. Der katholische Sozialreformer Juan Luis Vives entfaltete eine ökumenische Perspektive, der gemäß die Liebe Christi den ganzen Erdkreis umfangen und kein Mensch Mangel haben sollte. Er schlägt deshalb vor, dass reiche Spitäler und reiche Leute nicht nur die Armen in der eigenen Stadt unterstützen, sondern auch Not in Nachbarstädten, ja auch in weiter entfernten Städte lindern sollten (s. Text 139). Der evangelische Theologe Martin Bucer konzentriert sich auf die Wiedereinführung des Diakonenamtes, um nach dem Beispiel der „ersten Kirche“ anzustreben, dass niemand Mangel leidet (s. Text 152). Der „linke Flügel“ der Reformation drang in radikaler Weise auf die Realisierung der Gütergemeinschaft. Heinrich Gresbeck schildert die Einführung der Gütergemeinschaft durch die Täufer in Münster (s. Text 150). Hans Hergot entwirft ein gesellschaftliches Zukunftsmodell, in dem die Gütergemeinschaft im Zentrum steht (s. Text 140). Dass die Forderung nach Gütergemeinschaft als „aufrührerisch“ galt, zeigt sich in der Hinrichtung Hergets wie im Bericht über das Verhör der Täuferin Anna Salminger (s. Text 141). „Alles gemeinsam“ – Vinzenz von Paul schreibt dies im 17. Jahrhundert in die Regeln der Schwestern der Barmherzigkeit ein. Die Schwestern sollen keinen privaten Besitz haben, sondern vom Gemeinschaftseigentum in höchster Bescheidenheit leben (s. Text 168).
20. Apostelgeschichte 6,1–7: Die Wahl der sieben Diakone In dem Abschnitt mischen sich Nachrichten aus der Frühzeit und die kirchlichen Verhältnisse zur Zeit des Lukas (ca. 90 n. Chr.). Im Hintergrund steht wohl ein massiver Konflikt zwischen zwei christlichen Gruppen in der Jerusalemer Urgemeinde – den „Hellenisten“, d.h. den aus der Diaspora stammenden, griechisch sprechenden Judenchristen, und den „Hebräern“, d.h. den in Palästina beheimateten, aramäisch sprechenden Judenchristen. Mit dem Zwölferkreis der Apostel und dem der Sieben verbinden sich Erinnerungen an Leitungsgremien von Gruppen, die sich separat entwickelten. Nach der lukanischen Darstellung entzündete sich der Konflikt daran, dass die hellenistischen Witwen bei der täglichen „Diakonie“, die in den Händen der aramäisch sprechenden Christen lag, übergangen wurden. Lukas nimmt Nachrichten aus der Frühzeit auf, um für seine Zeit ein Modell kirchlicher Konfliktbearbeitung zu entwickeln. Er will zeigen, dass neue Aufgaben neue Mitarbeiter erfordern, ohne dass damit die Einheit der Kirche in Frage gestellt wird. Probleme, die sich mit der Institutionalisierung der täglichen Versorgung und der Differenzierung von Aufgaben ergeben, versucht er durch Zuordnung zu lösen: Er unterscheidet zwischen „Dienst des Wortes“ und „Dienst an den Tischen“. Dabei geht es ihm nicht darum, eine Höherwertigkeit des Wortdienstes zu behaupten, sondern die Gleichberechtigung beider Funktionen als Ausdrucksformen der einen Diakonie zur Geltung zu bringen. Entsprechend wird das neue „Amt“ den Aposteln zugeordnet. (1) In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegenüber den hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. (2) Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. (3) Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. (4) Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. (5) Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Niko-
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Die Wahl der sieben Diakone
laus, den Proselyten aus Antiochia. (6) Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Der Abschnitt, in dem das Wort „Diakon“ nicht vorkommt, wurde wirkungsgeschichtlich oft als Begründungstext für die Einsetzung der Diakone aufgefasst. Seit der Alten Kirche wurde die Weihe der Diakone nach Apg 6,6 gestaltet (s. Texte 37; 38). Anstelle der Apostel nahmen die Bischöfe die Handlung vor. In der Reformationszeit rekurrierten insbesondere Martin Luther (s. Text 135), Martin Bucer (s. Text 152) und Johannes Calvin (s. Text 156) auf Apg 6, um – in Kritik an der mittelalterlichen Praxis – das Diakonenamt zu erneuern. Das Amt des Diakons gilt ihnen als konstitutiv für die Kirche. Johann Gerhard betont die öffentliche Berufung in das Amt des Diakons und begründet dies mit Apg 6,6 (s. Text 162). Althusius bestimmt im Rückgriff auf Apg und 1Tim 3,1ff. die Aufgaben der Diakonen (s. Text 160).
21. 1. Korintherbrief 12,4–31: Viele Gaben – ein Geist, viele Glieder – ein Leib Paulus versteht in 1Kor 12 – wie in Röm 12 – die Gemeinde als Leib Christi. Dabei klingt die in der Stoa verbreitete Vorstellung nach, das die Notwendigkeit der Zusammenarbeit im Staatswesen zum Ausdruck bringt. Für Paulus gewinnt im Leib der Gemeinde Christus geschichtlich Gestalt. In diakonischer Hinsicht sind im folgenden Text insbesondere vier Aspekte von Bedeutung: Zum einen werden die kulturellen und sozialen Unterschiede von Juden und Griechen, Sklaven und Freien relativiert. Gemeinde erscheint als inklusiver Sozialraum. Zum zweiten bezeichnet der Apostel sämtliche Gnadengaben (Charismen) als diakoniai (Plural von Diakonie), d.h. als Beauftragungen. Die Pointe ist dabei, dass die sich minderwertig Fühlenden oder als minderwertig Erachteten dadurch aufgewertet und gestärkt werden, dass sie als von Gott Beauftragte verstanden werden. Dem entspricht, dass Gott gerade den unscheinbaren Gemeindegliedern die höchste Ehre gibt. Zum dritten erwähnt Paulus unter den Beauftragungen die des Gesundmachens und Helfens, also spezifisch karitative diakoniai. Schließlich sollen alle Begabungen und Beauftragungen nach dem Grundkriterium der Liebe (Kap. 13) mit dem Ziel der wechselseitigen Sorge zusammenwirken. (4) Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist. (5) Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. (6) Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. (7) Durch einen jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller. (8) Dem einen wird durch den Geist ein Wort der Weisheit gegeben; dem andern ein Wort der Erkenntnis durch denselben Geist; (9) einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; (10) einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern, sie auszulegen. (11) Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist, der einem jeden das Seine zuteilt, wie er will. (12) Denn wie ein Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. (13) Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem
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Viele Gaben – ein Geist, viele Glieder – ein Leib
Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt. (14) Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. […] (18) Nun aber hat Gott die Glieder eingesetzt, ein jedes von ihnen im Leib, so wie er gewollt hat. (19) Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? (20) Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. (21) Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. (22) Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer erscheinen, die nötigsten; (23) und die uns weniger ehrbar erscheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und die wenig ansehnlich sind, haben bei uns besonderes Ansehen; (24) denn was bei uns ansehnlich ist, bedarf dessen nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied die höhere Ehre gegeben, (25) auf dass im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen. (26) Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. (27) Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ein Glied. (28) Und Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann gab er die Kraft, Wunder zu tun, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede. (29) Sind sie denn alle Apostel? Sind sie alle Propheten? Sind sie alle Lehrer? Haben sie alle die Kraft, Wunder zu tun, (30) haben sie alle Gaben, gesund zu machen? Reden sie alle in Zungen? Können sie alle auslegen? (31) Strebt aber nach den größeren Gaben! Die Vorstellung des Leibes Christi, die Paulus in 1Kor 12 und Röm 12 entfaltet, wird z.B. von Tertullian in seiner Verteidigung des christlichen Glaubens aufgenommen, um die diakonische Dimension christlicher Gemeinschaft zu beschreiben (s. Text 34). Cyprian betont das Mitleiden (V. 26a) als Grundprinzip der Solidarität im Leib Christi, das es auch und gerade in ökumenischer Hinsicht im Sinne zwischenkirchlicher Hilfe zu bewähren gilt (s. Text 42). In Auseinandersetzung mit der reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung hebt das Konzil von Trient (s. Text 154) hervor, dass die Zugehörigkeit zum Leib Christi nicht nur durch den Glauben erfolgt, sondern auch durch die Liebe. Johannes Ferrarius greift schließlich das Bild vom Leib auf und entwickelt ein Verständnis des Gemeinwesens, in dem die Armen als Glieder integriert sind (s. Text 148).
22. 2. Korintherbrief 8,1–15: Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem Bei dem sog. Apostelkonvent in Jerusalem, einer Zusammenkunft der Jerusalemer Apostel mit Paulus und seinen Begleitern zwischen 44 und 49 n. Chr., wurde die für die weitere Entwicklung des Christentums zentrale Entscheidung zugunsten der Heidenmission getroffen. Dabei wurde Paulus eine Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem auferlegt. Paulus führte die Kollekte in den armen Gemeinden Mazedoniens durch und wirbt in 2Kor 8f. um eine Beteiligung der relativ reichen korinthischen Gemeinde an der Geldsammlung. Als Adressaten nennt er die „Armen der Heiligen in Jerusalem“ (Röm 15,26). Die Kollekte zielt darauf, einen Ausgleich zwischen Mangel und Fülle herzustellen, wobei Materielles und Spirituelles nebeneinander stehen. Paulus kennzeichnet die Geldsammlung als Diakonie. Der Dienst der Kollekte schließt zwar soziale Aspekte ein, geht aber darin nicht auf. Er gründet in der Gnade Gottes und der Inkarnation Christi, ist Ausweis der Liebe und Ausdruck umfassender Gemeinschaft zwischen den heidenchristlichen Gemeinden und der Jerusalemer Gemeinde. Die paulinische Kollekte stellt sich als zwischenkirchliche, ökumenische Solidarität dar, die materielle wie geistliche Aspekte umfasst. (1) Wir tun euch aber kund, Brüder und Schwestern, die Gnade Gottes, die in den Gemeinden Makedoniens gegeben ist. (2) Denn vielfach bewährt in Bedrängnis war ihre Freude doch überschwänglich, und obwohl sie sehr arm sind, haben sie doch reichlich gegeben in aller Lauterkeit. (3) Denn nach Kräften, das bezeuge ich, und sogar über ihre Kräfte haben sie willig gegeben (4) und haben uns mit vielem Zureden gebeten, dass sie mithelfen dürften an der Wohltat und der Gemeinschaft des Dienstes für die Heiligen; (5) und nicht nur das, wie wir hofften, sondern sie gaben sich selbst, zuerst dem Herrn und danach uns, durch den Willen Gottes. (6) So haben wir Titus zugeredet, dass er, wie er zuvor angefangen hatte, nun auch diese Wohltat unter euch vollende. (7) Wie ihr aber in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem Eifer und in der Liebe, die wir in euch erweckt haben, so gebt auch reichlich bei dieser Wohltat. (8) Nicht als Befehl sage ich das; sondern weil andere so eifrig sind, prüfe ich auch eure Liebe, ob sie echt sei. (9) Denn ihr kennt die Gnade
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Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem
unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet. (10) Und damit gebe ich einen Rat; denn das ist euch nützlich, die ihr seit vorigem Jahr angefangen habt nicht allein mit dem Tun, sondern auch mit dem Wollen. (11) Nun aber vollendet auch das Tun, damit, wie ihr geneigt seid zu wollen, ihr auch geneigt seid zu vollenden nach dem Maß dessen, was ihr habt. (12) Denn wenn der gute Wille da ist, so ist jeder willkommen nach dem, was er hat, nicht nach dem, was er nicht hat. (13) Nicht, dass die anderen Ruhe haben und ihr Not leidet, sondern dass es zu einem Ausgleich komme. (14) Jetzt helfe euer Überfluss ihrem Mangel ab, damit auch ihr Überfluss eurem Mangel abhelfe und so ein Ausgleich geschehe, (15) wie geschrieben steht (2. Mose 16,18): „Wer viel sammelte, hatte keinen Überfluss, und wer wenig sammelte, hatte keinen Mangel.“ In der Rezeption des paulinischen Kollektenberichts treten unterschiedliche Motive hervor: In seiner Verteidigung des Christentums hebt Aristides die Praxis hervor, dass die Besitzenden die Armen kontinuierlich unterstützen (s. Text 32). Johannes Chrysostomus entfaltet anhand der Kollekte – allerdings auf 1Kor 16,1–4 fußend – die für ihn zentrale Vorstellung der Elemosyne („Almosen“). Almosen umfassen Spenden und darüber hinaus verschiedene Akte der Barmherzigkeit. Bei Augustin steht die Begründung barmherzigen Handelns und der Unterstützung der Notleidenden im Vordergrund. Er denkt von der Inkarnation her: Wer durch die Armut Christi reich geworden ist, soll nun die materiell Armen unterstützen und damit himmlischen Reichtum erlangen (s. Text 60). In seiner Lebensbeschreibung der Melania ist für Gerontius der Bezug auf die Inkarnation zentral: Melania geht den Weg der freiwilligen Armut mit letzter Konsequenz, um dem Herrn gleich zu werden, der um unseretwillen arm geworden ist und Knechtsgestalt angenommen hat (s. Text 65). August Hermann Francke schärft schließlich mit Hinweis auf den Bericht über die Kollekte ein, dass die Unterstützung der Armen ein göttliches Gebot darstellt und deshalb eine unbedingte Pflicht jedes Christenmenschen (s. Text 176).
23. 2. Thessalonicherbrief 3,10–13: Arbeiten und Essen Der deuteropaulinische bzw. nachpaulinische zweite Thessalonicherbrief wurde von einem unbekannten Autor wahrscheinlich gegen Ende des ersten Jahrhunderts verfasst. Das Lehr- und Mahnschreiben wendet sich unter Rückgriff auf die Autorität des Apostels Paulus gegen die von urchristlichen Propheten vertretene Auffassung, die Wiederkunft Christi sei schon da. In diesem Zusammenhang wendet sich „Paulus“ gegen diejenigen, die in der apokalyptischen Naherfahrung die geordnete Arbeit aufgaben, welche am Ende der bisherigen und am Anfang der neuen Welt nicht mehr nötig und wichtig erschien. Möglicherweise richtet sich die Kritik in besonderer Weise an Leitungsverantwortliche in christlichen Gemeinden, die ihren Dienst vernachlässigten, aber gleichwohl entlohnt werden wollten. (10) Denn schon als wir bei euch waren, geboten wir euch: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. (11) Denn wir hören, dass einige unter euch unordentlich wandeln und arbeiten nichts, sondern treiben unnütze Dinge. (12) Solchen aber gebieten wir und ermahnen sie in dem Herrn Jesus Christus, dass sie still ihrer Arbeit nachgehen und ihr eigenes Brot essen. (13) Ihr aber lasst’s euch nicht verdrießen, Gutes zu tun. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ – diese Forderung zielt im 2. Thessalonicherbrief darauf, eine bedrohte Ordnung zu bewahren. In der Didache (s. Text 26) hat die ähnliche Wendung hingegen die Funktion, dem Missbrauch christlicher Gastfreundschaft vorzubeugen. Johannes Chrysostomus wendet die „paulinische“ Mahnung kritisch gegen die nicht arbeitenden Reichen, die sich anmaßen, über die Armen zu urteilen (s. Text 53). Im Zusammenhang der Neuordnung der Armenfürsorge zu Beginn des 16. Jahrhunderts rekurriert Martin Luther auf 2Thess 3,10 im Sinne eines Grundkriteriums der Unterscheidung würdiger und unwürdiger Armer (s. Text 130). Entsprechend schärft Juan Luis Vives ein, dass unter den Armen keiner müßig sein soll, der in der Lage ist zu arbeiten (s. Text 139). Ähnlich ist es bei Johannes Ferrarius: Gesunde sollen keine Almosen erhalten, sondern werden auf die Arbeit verwiesen, so dass die Ressourcen ausreichen, um Bedürftige versorgen zu können (s. Text 148). Schließlich greift Johannes Althusius die Sentenz in seiner calvinistisch inspirierten Theorie auf, um den Müßiggang vehement zu kritisieren. Der Kritik am Müßiggang als „Ursache aller Laster und Übel“ entspricht positiv die anthropologische These, dass der Mensch zur Arbeit geboren sei (s. Text 160).
24. 1. Timotheusbrief 3,1–13: Bischöfe und Diakone Der folgende Text steht exemplarisch für die sog. Pastoralbriefe, die während der zweiten und dritten nachpaulinischen Generation im paulinischen Missionsgebiet die Sicherung und Bewahrung der normativen apostolischen Überlieferung zum Grundsatz ihres Kirchenverständnisses machen. Im Zusammenhang fortschreitender Institutionalisierung der Kirche rücken Ämter in den Fokus, mit denen fest umrissene Dienste verknüpft sind. Dabei ist der Gedanke der familia Dei, des geordneten Hauswesens Gottes, leitend. Der paulinischen Tradition entsprechend kommt den Ämtern des Bischofs und der Diakon_innen besondere Bedeutung zu. Die Kriterien für die Besetzung der beiden Ämter orientieren sich einerseits an den antiken Maßgaben zur Ausübung öffentlicher Ämter. Dazu gehört die Forderung, verantwortlich mit dem Geld umzugehen, d.h. in diesem Fall wohl, das Gemeindevermögen und die Gaben für die Armen sorgsam zu verwalten. Die Kriterien beinhalten andererseits elementare christliche Erfordernisse: Lehrfähigkeit für den Episkopen (Bischof), feste Verwurzelung im christlichen Glauben für die Diakon_innen. Umstritten ist, wer mit den „Frauen“ gemeint ist. Während die ältere Auslegung darunter die Frauen der Diakone verstand, tendiert die neuere Forschung dazu, sie als Frauen im Diakonenamt, also als weibliche Diakone aufzufassen. Genaue Angaben über die Tätigkeiten der Diakon_innen finden sich in dem Text nicht. (1) Dass ist gewisslich wahr: Wenn jemand ein Bischofsamt erstrebt, begehrt er eine hohe Aufgabe. (2) Ein Bischof aber soll untadelig sein, Mann einer einzigen Frau, nüchtern, besonnen, würdig, gastfrei, geschickt im Lehren, (3) kein Säufer, nicht gewalttätig, sondern gütig, nicht streitsüchtig, nicht geldgierig, (4) einer, der seinem eigenen Haus gut vorsteht und gehorsame Kinder hat, in aller Ehrbarkeit. (5) Denn wenn jemand seinem eigenen Haus nicht vorzustehen weiß, wie soll er für die Gemeinde Gottes sorgen? (6) Er soll kein Neugetaufter sein, damit er sich nicht aufblase und dem Urteil des Teufels verfalle. (7) Er muss aber auch einen guten Ruf haben bei denen, die draußen sind, damit er nicht geschmäht werde und sich nicht fange in der Schlinge des Teufels. (8) Desgleichen sollen die Diakone ehrbar sein, nicht doppelzüngig, keine Säufer, nicht schändlichen Gewinn suchen; (9) sie sollen das Geheimnis des Glaubens mit reinem Gewissen bewahren. (10) Und
Bischöfe und Diakone
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man soll sie zuvor prüfen, und wenn sie untadelig sind, sollen sie den Dienst versehen. (11) Desgleichen sollen ihre [die] Frauen ehrbar sein, nicht verleumderisch, nüchtern, treu in allen Dingen. (12) Die Diakone sollen ein jeder der Mann einer einzigen Frau sein und ihren Kindern und ihrem eigenen Haus gut vorstehen. (13) Welche aber ihren Dienst gut versehen, die erwerben sich selbst ein gutes Ansehen und viel Freimut im Glauben an Christus Jesus. Bereits um 110 beruft sich Ignatius auf 1Tim 3, um das Kriterium der Integrität als Voraussetzung der Berufung in das Amt des Diakons herauszustellen (s. Text 29). Martin Bucer argumentiert mit 1Tim und Apg 6, um zu begründen, dass für die Kirche zwei Dienste konstitutiv sind – die Seelsorge und die Leibsorge (s. Text 152). Johann Gerhard setzt sich ausdrücklich mit der Frage auseinander, ob in V. 11 Diakoninnen oder die Frauen von Diakonen gemeint sind. Klar ist für ihn, dass es sich um Frauen von Diakonen handelt. Denn Frauen haben keinen Zugang zu einem öffentlichen kirchlichen Amt (162).
25. Jakobusbrief 2,1–9.14–17: Reiche und Arme in der Gemeinde – Glaube und Werke Der Jakobusbrief ist ein weisheitliches Mahnschreiben, das sich nach Art eines Rundbriefs an christliche Gemeinden wendet. Der unbekannte Autor des Briefs ist dem Judenchristentum zuzurechnen. Er knüpft an die Autorität des Herrenbruders Jakobus an, der insbesondere im Judenchristentum hohes Ansehen genoss. Die Datierungsversuche reichen von ca. 70 bis 100 n. Chr. Als Entstehungsort des Schreibens kommt Syrien, aber auch Alexandrien in Frage. In dem Brief werden soziale Unterschiede greifbar, die zu Konflikten in Gemeinden geführt haben. Der Verfasser thematisiert die Kluft zwischen Reichen und Armen als theologisches Problem der Gemeindepraxis. Er schärft in diesem Kontext den notwendigen Zusammenhang von Glauben und Werken ein. (1) Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unseren Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. (2) Denn wenn in eure Versammlung ein Mann kommt mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es kommt aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, (3) und ihr seht auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprecht zu ihm: Setz du dich hierher auf den guten Platz!, und sprecht zu dem Armen: Stell du dich dorthin!, oder: Setz dich unten zu meinen Füßen!, (4) und macht ihr dann nicht Unterschiede und urteilt mit bösen Gedanken? (5) Hört zu, meine Lieben! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben? (6) Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? (7) Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? (8) Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, so tut ihr recht; (9) wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter. [...] (14) Was hilft’s, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen? (15) Wenn ein Bruder oder eine Schwester nackt ist und Mangel hat an täglicher Nahrung (16) und jemand unter euch spricht zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch!, ihr gebt
Reiche und Arme, Glaube und Werke
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ihnen aber nicht, was der Leib nötig hat – was hilft ihnen das? (17) So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber. Impulse des Jakobusbriefs werden geschichtlich in unterschiedlichen Kontexten deutlich: Hildegard von Bingen z.B. beschreibt die Ambivalenz von Macht und Reichtum und konturiert die Nächstenliebe als gutes Werk gegenüber dem Armen, dem „Abbild“ Gottes (s. Text 95). Valdes beruft sich mit seiner Entscheidung für die vita apostolica ausdrücklich auf die Mahnung, dass Glaube ohne Werke tot ist. Für Valdes bedeutet dies die Aufgabe des Besitzes und ein Leben in freiwilliger Armut (s. Text 97). Unter Berufung auf Jakobus kritisiert Johann Geiler von Kaysersberg die Reichen, vor allem die reichen Wucherer, und betont die Würde der Armen (s. Text 125). Schließlich stellt das Konzil von Trient in Auseinandersetzung mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre heraus, dass der Glaube notwendigerweise in Werken Gestalt gewinnen muss (s. Text 154).
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II. Alte Kirche
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26. Didache – Lehre der zwölf Apostel (90–100) Die Didache – Lehre der zwölf Apostel oder die Lehre des Herrn durch die zwölf Apostel für die Heiden – wurde von dem Metropoliten Philotheos Bryennios (1833–1917) in Konstantinopel entdeckt und erstmals 1883 veröffentlicht. Ihrer Gattung nach ist die Didache eine Gemeindeordnung. In ihr hat ein unbekannter Autor ältere Traditionen unterschiedlicher Herkunft und Regelungen zur Gestaltung des Gemeindelebens zusammengefasst. Als Entstehungsort werden ländliche Gebiete in Syrien vermutet. Da die Didache die Schriften des Neuen Testaments nicht voraussetzt und Aktivitäten von Wanderpredigern stark hervorhebt, lässt sich als Abfassungszeit das letzte Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts annehmen. Im Folgenden werden Ausführungen der Didache zu drei Themenbereichen dokumentiert: Die Didache stellt – erstens – zwei alternative Lebenshaltungen einander gegenüber, den Weg des Lebens und den des Todes. In der Zwei-Wege-Lehre greift die Didache auf ein jüdisches Grundmotiv zurück, das christlich erweitert wird. In der vorliegenden Form diente die Lehre der ethischen Unterweisung von heidnischen Taufbewerber_innen. Die Zwölfapostellehre bietet – zweitens – Regelungen für den Umgang mit Problemen, die im Zusammenhang mit Wanderpredigern entstanden. Zur Zeit der Abfassung der Didache hatte die Zahl von umherziehenden Aposteln und Propheten, aber auch reisender Christen überhaupt offenkundig so stark zugenommen, dass es zum Missbrauch der Gastfreundschaft sesshafter Gemeinden kam. Vor diesem Hintergrund entwickelt die Didache elementare Kriterien für die Aufnahme von Wanderpredigern und anderen reisenden Christen. Schließlich markiert Kapitel 15 eine kennzeichnende Entwicklung: An die Stelle der umherziehenden Apostel und Propheten treten nach und nach Bischöfe (Episkopen) und Diakone. Rolle und Aufgaben der beiden Ämter sind nicht näher bestimmt. Die Bischöfe nehmen ihr Amt in der Gemeinde wohl im Rahmen eines Kollegiums wahr. 1,1. Zwei Wege gibt es, einen des Lebens und einen des Todes.1 Der Unterschied aber ist groß zwischen den beiden Wegen. 2. Der Weg nun des Lebens ist dieser: „Erstens sollst du Gott lieben, der dich geschaffen hat, zweitens deinen Nächsten wie dich selbst“; 1
Vgl. Jer 21,8; Mt 7,13f.
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alles aber, was du willst, dass es dir nicht geschehe, das tu auch du nicht einem anderen.2 3. Die Lehre aber dieser Worte ist dies: Segnet, die euch verfluchen, und betet für eure Feinde; fastet aber für die, die euch verfolgen. Denn welche Gunst (habt ihr), wenn ihr (nur) liebt, die euch lieben? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr aber: Liebt die, die euch hassen, und ihr werdet keinen Feind haben.3 4. Enthalte dich der fleischlichen [und körperlichen] Begierden. Wenn dir jemand einen Schlag auf die rechte Wange gibt, wende ihm auch die andere hin, und du wirst vollkommen sein. Wenn dich jemand zwingt zu einer Meile, geh mit ihm zwei. Wenn jemand deinen Mantel wegnimmt, gib ihm auch das Untergewand. Wenn jemand dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück; du kannst es nämlich ohnehin nicht. 5. Jedem, der dich bittet, gib, und fordere es nicht zurück;4 denn der Vater will, dass allen gegeben wird von seinen eigenen Gnadengaben. Selig, er gibt gemäß dem Gebot; denn untadelig ist er. Wehe dem, der nimmt. Denn zwar: wenn jemand aus Mangel nimmt, wird er untadelig sein; wer aber keinen Mangel hat, wird Rechenschaft ablegen müssen, weshalb er genommen hat und wofür. In den Kerker geworfen wird er verhört werden hinsichtlich dessen, was er getan hat, und er wird nicht hinauskommen von dort, bis er den letzten Pfennig zurückerstattet hat. 6. Aber auch darüber ist gesagt worden: „Es soll schwitzen dein Almosen in deinen Händen, bis zu weißt, wem du es gibst.“ […] 4,5. Sei nicht einer, der zum Nehmen die Hände ausstreckt, zum Geben aber einzieht.5 6. Wenn du (etwas) hast durch deine Hände, sollst du (es) geben als Lösegeld für deine Sünden. 7. Du sollst nicht zögern zu geben; und du sollst, wenn du gibst, nicht murren. Du wirst nämlich erfahren, wer des Lohnes gütiger Erstatter ist. 8. Du sollst dich nicht abwenden von dem Bedürftigen;6 du sollst vielmehr alles teilen mit deinem Bruder, und du sollst nicht sagen, etwas sei (dein) Eigentum. Denn wenn ihr Teilhaber seid in dem Unsterblichen, um wieviel mehr in den sterblichen Dingen? […] 5,1. Der Weg aber des Todes ist dieser: Vor allem ist er böse und voll des Fluchs: Morde, Ehebrüche, Begierden, Hurereien, Diebstähle, Götzendienste, Zaubereien, Giftmischereien, Räubereien, falsche Zeugnisse, Heucheleien, zweideutiges Verhalten, Hinterlist, Überheblich2
Mt 22,37–39; Mt 7,12; Mk 12,30f.; Sir 7,30. Mt 5,44.46f. 4 Mt 5,39–42. 5 Sir 4,36. 6 Vgl. Sir 4,4f. 3
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keit, Bosheit, Übermut, Habgier, zotige Reden, Eifersucht, Frechheit, Hochmut, Prahlerei, [Mangel an Ehrfurcht].7 2. (Die solches tun, sind) Verfolger des Guten, die Wahrheit hassend, die Lüge liebend,8 den Lohn der Gerechtigkeit nicht kennend, nicht dem Guten verbunden und nicht dem gerechten Gericht, nicht auf das Gute achtend, sondern auf das Böse; fern sind ihnen Sanftmut und Geduld, (sie sind) Nichtiges liebend, nach Belohnung jagend, des Armen sich nicht erbarmend, um den Mühseligen sich nicht mühend, den, der sie geschaffen hat, nicht erkennend, Mörder der Kinder,9 Verderber des Gottesgeschöpfes, sich abwendend von dem Bedürftigen, plagend den Bedrückten, Fürsprecher der Reichen, ungerechte Richter der Armen, durch und durch sündig. Mögt ihr doch, Kinder, vor diesem allem bewahrt werden! […] 11.1. Wer nun kommt und euch dies alles bisher Gesagte lehrt, den nehmt auf. […] 3. Aber hinsichtlich der Apostel und Propheten verfahrt nah der Weisung des Evangeliums so: 4. Jeder Apostel, der zu euch kommt, soll aufgenommen werden wie der Herr.10 5. Er soll aber nur einen Tag lang bleiben; wenn aber eine Notwendigkeit besteht, auch den zweiten. Wenn er aber drei bleibt, ist er ein Pseudoprophet. […] 12,1. Jeder aber, der kommt im Namen des Herrn, soll aufgenommen werden; dann aber werdet ihr (ihn) durch kritische Beurteilung erkennen; denn ihr habt Einsicht nach rechts und nach links. 2. Wenn der Ankömmling ein Durchreisender ist, helft ihm, so viel ihr könnt; er soll aber bei euch nur zwei oder drei Tage bleiben, wenn es nötig ist. 3. Wenn er sich aber bei euch niederlassen will, und er ist ein Handwerker, soll er arbeiten und soll er essen.11 4. Wenn er aber kein Handwerk versteht, dann trefft nach eurer Einsicht Vorsorge, damit er als Christ ganz gewiss nicht müßig bei euch lebe. 5. Wenn er aber nicht so handeln will, dann ist er einer, der mit Christus Schacher treibt; vor solchen hütet euch! […] 15,1. Wählt euch nun Episkopen und Diakone,12 würdig des Herrn, Männer, mild und ohne Geldgier und wahrhaftig und erprobt; denn sie leisten für euch ja auch den Dienst der Propheten und Lehrer. 2. Verachtet sie also nicht. Denn sie sind die ehrenvoll Ausgezeichneten 7
Vgl. Mt 15,19; Röm 1,29f. Vgl. Ps 4,3. 9 Vgl. Weish 12,5. 10 Vgl. Mt 10,40. 11 Vgl. 2Thess 3,10. 12 Vgl. Phil 1,1. 8
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unter euch, gemeinsam mit den Propheten und Lehrern. 3. Weist euch aber gegenseitig zurecht, nicht im Zorn, sondern in Frieden, wie ihr es habt im Evangelium. Und mit jedem, der sich vergeht gegen den anderen, soll niemand reden; und er soll auch nichts von euch hören, bis er Buße getan hat. 4. Eure Gebete aber und die Almosen und alle Taten verrichtet sie, wie ihr es habt im Evangelium unseres Herrn. Quelle: Didache, in: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker mit Übersetzungen von M. Dibelius und D.-A. Koch neu übersetzt und herausgegeben v. Andreas Lindemann/Henning Paulsen, Tübingen 1992, 4–21: 5–19. © Verlag Mohr Siebeck, Tübingen
27. Erster Clemensbrief (96) Bei dem Ersten Clemensbrief handelt es sich um ein im Jahr 96 verfasstes Schreiben der Kirche in Rom an die Gemeinde in Korinth. Als Autor gilt seit der Alten Kirche Clemens (ca. 50–97), der nach den römischen Bischofslisten der dritte Bischof in Rom gewesen sein soll. Anlass des Briefes war ein Konflikt in Korinth, in dessen Rahmen altbewährte Gemeindeleiter abgesetzt wurden. Möglicherweise stand dahinter ein Protest von Charismatikern gegen eine Verfestigung kirchlicher Ämterstrukturen. Clemens tritt in seinem ausführlichen Brief strikt für das Prinzip der Legitimität ein, d.h. Amtsträger, die ordnungsgemäß eingesetzt wurden und ihre Aufgaben untadelig versehen haben, dürfen nicht abgesetzt werden. Clemens kennzeichnete die Ämter der Kirche als Teil der göttlichen Ordnung, die die Schöpfung und die Heilgeschichte durchwaltet. Die Episkopen (Bischöfe) und Diakone repräsentieren die göttliche Harmonie. Ihre Autorität gründet in fundamentaler Weise darin, dass sie durch Christus und Gott eingesetzt sind. Clemens stellt bezeichnenderweise nur eine Funktion der Episkopen und Diakonen heraus – das Wirken im eucharistischen Gottesdienst. Mit der Fokussierung auf die kultischen Aufgaben verband sich die Gegenüberstellung von Amtsträgern und Laien, die Clemens in den kirchlichen Sprachgebrauch einführte. 42,1. Die Apostel sind für uns mit dem Evangelium beauftragt worden vom Herrn Jesus Christus; Jesus, der Christus, ist von Gott ausgesandt worden. 2. Christus also von Gott her, und die Apostel von Christus her.1 Es geschah also beides in guter Ordnung nach dem Willen Gottes. 3. Da sie also Aufträge empfangen hatten und mit Gewissheit erfüllt worden waren durch die Auferstehung unsres Herrn Jesus Christus und Vertrauen gefasst hatten durch das Wort Gottes, zogen sie mit der Fülle des Heiligen Geistes aus, verkündigend, dass das Reich Gottes kommen werde. 4. In Ländern und Städten also predigend setzten sie ihre Erstlinge ein, nachdem sie sie im Geist geprüft hatten, Episkopen und Diakonen derer, die künftig glauben würden. 5. Und dies war nichts Neues; denn es war ja seit langen Zeiten geschrieben über Episkopen und Diakonen. So nämlich sagt irgendwo die Schrift: „ich werde einsetzen ihre Episkopen in Gerechtigkeit und ihre Diakonen in Treue.“2
1 2
Vgl. Lk 4,18; Joh 3,16; 17,18. Vgl. 1Tim 3,1ff.
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Erster Clemensbrief
Quelle: Der erste Brief des Klemens an die Korinther, in: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker mit Übersetzungen von M. Dibelius und D.-A. Koch neu übersetzt und herausgegeben v. Andreas Lindemann/Henning Paulsen, Tübingen 1992, 80–151: 125–127. © Verlag Mohr Siebeck, Tübingen
28. Ignatius von Antiochien: An die Magnesier (ca. 110) Ignatius war Bischof von Antiochien in Syrien. Er fand wahrscheinlich in den letzten Regierungsjahren Kaiser Trajans (110–117) in Rom den Tod als Märtyrer. Möglicherweise hatten die weltlichen Behörden versucht, die Christen durch Einschüchterung zur Anpassung zu zwingen und deshalb ihren Bischof verhaftet. In der antiochenischen Gemeinde traten Gegner auf, die die Autorität des Ignatius in Frage stellten. Auf dem Transport nach Rom verfasste Ignatius sieben Briefe – vier von Smyrna aus an die christlichen Gemeinden in Ephesus, Magnesia, Tralles und Rom, drei von Troas aus an die Gemeinden in Philadelphia und Smyrna sowie an den Bischof Polykarp von Smyrna. In ihnen werden theologische Anschauungen deutlich, die den Übergang vom Urchristentum zur Alten Kirche markieren. Ignatius rekapitulierte frühe Traditionen und interpretierte sie zugleich neu. Er akzentuierte die Christologie, d.h. das Verständnis der Person und des Wirkens Jesu Christi, in spezifischer Weise: Im Blick auf sein bevorstehendes Martyriums betonte er die Realität des Leidens Jesu gegen doketistische Gegner, die die Menschwerdung Jesu Christi und die theologische Bedeutung seiner physischen Existenz bestritten. Angesichts von Häretikern (Irrlehrern), die Spaltungen in den Gemeinden hervorriefen, stellte Ignatius die Einheit der Gemeinde heraus. Diese Einheit sollte durch die kirchliche Verfassung und insbesondere durch das Bischofsamt garantiert werden. Ignatius prägte wesentlich die Idee des monarchischen Episkopats, des königlichen Bischofsamtes, und verband dies mit dem dreistufigen Ämtersystem: Dem Bischof unterstanden die Presbyter und Diakone. Die Presbyter leiteten zusammen mit dem Bischof die Gemeinde. In der Konzeption des Ignatius vertrat der Bischof die Stelle Gottes, während die Presbyter die Stelle der Versammlung der Apostel einnahmen. Die Diakone sah er mit dem „Dienst Christi“ betraut. In verschiedenen Briefen des Ignatius begegnen Diakone als Gesandte mit diplomatischen Funktionen. Die Hauptaufgaben der Diakone bestanden aber wahrscheinlich darin, „Speisen und Getränke“ an die Armen der Gemeinde auszugeben (An die Traller). Ihr Wirken wird damit in den Zusammenhang zwischen Herrenmahl, gemeinsamen Mahlzeiten und den verschiedenen Formen materieller Unterstützung bedürftiger Gemeindeglieder eingezeichnet. Auf diese Weise wird die Verbindung von spiritueller
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An die Magnesier
und sozialer Identität der Gemeinde sowie von leiblicher und geistlicher Speise sichtbar. 6,1. […] In der Eintracht Gottes bemüht euch, alles zu tun, wobei der Bischof den Vorsitz führt an Gottes Stelle und die Presbyter an Stelle der Versammlung der Apostel, und die mir besonders lieben Diakone mit dem Dienst Jesu Christi betraut sind, der vor aller Zeit beim Vater war und am Ende erschienen ist. 2. Alle nun, die ihr eine göttliche Übereinstimmung der Gesinnung empfangen habt, achtet einander; und niemand soll in fleischlicher Weise auf den Nächsten blicken, sondern in Jesus Christus liebt einander fort und fort. Nichts sei unter euch, was euch trennen könnte, vielmehr bildet eine Einheit mit dem Bischof und den Vorgesetzten zu Vorbild und Lehre der Unvergänglichkeit. 7,1. Wie nun der Herr nichts getan hat ohne den Vater,1 mit dem er eins ist, weder in eigener Person noch durch die Apostel, so sollt auch ihr ohne den Bischof und die Presbyter nichts tun; und versucht nicht, etwas als verständig anzusehen, was ihr im privaten Kreis tut. Vielmehr soll bei eurer Zusammenkunft ein Gebet, eine Bitte, ein Sinn, eine Hoffnung2 sein in Liebe und untadeliger Freude, das ist Jesus Christus, über den nichts geht. 2. Strömt alle zusammen wie zu einem Tempel Gottes, zu einem Altar, zu einem Jesus Christus, der von einem Vater ausging und bei dem Einen ist und zu ihm zurückkehrte.3 Quelle: Ignatius an die Magnesier, in: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker mit Übersetzungen von M. Dibelius und D.-A. Koch neu übersetzt und herausgegeben v. Andreas Lindemann/Henning Paulsen, Tübingen 1992, 191–199: 195. © Verlag Mohr Siebeck, Tübingen
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Vgl. Joh 5,19.30. Vgl. Eph 4,3–6. 3 Vgl. Joh 8,42; 13,3; 16,28. 2
29. Ignatius von Antiochien: An die Traller (ca. 110) In seinem Brief an die „geliebte, heilige Kirche zu Tralles in Asien“ deutet Ignatius Probleme im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Diakone an. Deren Hauptaufgabe bestand wahrscheinlich darin, „Speisen und Getränke“ an die Armen der Gemeinde auszugeben. Daraus ergaben sich offenkundig Konflikte, die vielleicht daher rührten, dass Diakone ihr Amt zum eigenen Vorteil nutzten oder nur wenigen halfen und die Gemeinde insgesamt aus dem Blick verloren. Ignatius erinnert die Diakone daran, dass sie Diener der „Geheimnisse“ Jesu Christi und der Kirche bzw. Gemeinde sind. 2,1. Denn wenn ihr euch dem Bischof unterordnet wie Jesus Christus, scheint ihr mir nicht nach Art der Menschen zu leben, sondern nach Jesus Christus, der um unseretwillen gestorben ist, damit ihr im Glauben an seinen Tod dem Sterben entrinnt. 2. Darum ist es nötig, dass ihr, wie ihr ja tut, ohne den Bischof nicht handelt. Ordnet euch vielmehr auch dem Presbyterium unter wie den Aposteln Jesu Christi, unserer Hoffnung, in dem wir bei unserem Leben erfunden werden sollen. 3. Es müssen aber auch die, welche die Diakone der Geheimnisse Jesu Christi sind,1 auf alle Weise allen gefallen. Denn nicht für Speisen und Getränke sind sie Diakone, sondern der Kirche Gottes Diener. Darum müssen sie sich vor den Anschuldigungen wie vor Feuer hüten. 3,1. Ganz ebenso sollen alle den Diakonen Ehrfurcht erzeigen wie Jesus Christus, wie auch dem Bischof als Abbild des Vaters und den Presbytern als Ratsversammlungen Gottes und als Bund der Apostel. Ohne diese verdient nichts den Namen Kirche. Quelle: Ignatius an die Traller, in: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker mit Übersetzungen von M. Dibelius und D.-A. Koch neu übersetzt und herausgegeben v. Andreas Lindemann/Henning Paulsen, Tübingen 1992, 199–207: 201. © Verlag Mohr Siebeck, Tübingen
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Vgl. 1Tim 3,9.
30. Plinius d. J. an Kaiser Trajan: Zur Rechtslage der Christen im Römischen Reich (ca. 110/111) Der römische Staatsmann Gaius Plinius Caecilius Secundus (62–113) wurde von Kaiser Trajan (53–117, Kaiser seit 97) 110/11 in die Provinz Pontus-Bithynien entsandt. Er sollte die Finanzen verschuldeter Städte überprüfen und darüber hinaus Aufgaben eines Provinzgouverneurs wahrnehmen. Im Rahmen dieser Funktion etablierte er ein Vorgehen gegen die Christen, für das er die Rückendeckung Kaiser Trajans suchte. Der im Folgenden abgedruckte Brief zielt darauf ab, Trajan von Plinius Strategie zur Eindämmung und Ausrottung des sich rasant ausbreitenden Christentums zu überzeugen: Statt nach einzelnen Christen als nach gefährlichen Straftätern zu forschen, sollten sie zur Abkehr von ihrem „Irrglauben“ bewogen und in die traditionellen Kulte zurückgeführt werden. Die von Plinius d. J. angewandte Praxis sah vor, dass diejenigen, die sich vom Christentum lossagten, gerichtlich nicht belangt wurden, sofern keine strafwürdigen Vergehen vorlagen. Diese, von Trajan bestätigte Rechtspraxis blieb bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts in Geltung. In seinem Brief berichtet der jüngere Plinius u.a., er habe zwei christliche Sklavinnen foltern lassen, um die Wahrheit ihrer Religion zu erforschen. Sie waren ministrae, Diakoninnen (diakonoi). Es bleibt unklar, was mit dieser Bezeichnung gemeint ist. „Ministrae“ bezeichneten im lateinischen Sprachgebrauch der Zeit Frauen, häufig Sklavinnen, die bei Kultvereinen beschäftigt waren und Hilfsdienste bei kultischen Mahlzeiten verrichteten. Damit war ein sozial niedriger Status verbunden. Demgegenüber scheint es sich bei den christlichen „Diakoninnen“ um prominente Gemeindeglieder zu handeln, die einen besonderen, hoch geachteten Status innehatten. Ob die „ministrae“ vornehmlich soziale Aufgaben hatten oder ob ihr Dienst Verkündigungsaufgaben einschloss – so wie der Apostel Paulus seine Verkündigungsarbeit als „Diakonie“ verstand –, muss offen bleiben. 96. C. Plinius an Kaiser Trajan Ich habe es mir zur Regel gemacht, Herr, alles, worüber ich im Zweifel bin, Dir vorzutragen. Wer könnte denn besser mein Zaudern lenken oder meine Unwissenheit belehren? Gerichtsverhandlungen gegen Christen habe ich noch nie beigewohnt; deshalb weiß ich nicht, was und wieweit man zu strafen oder zu
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untersuchen pflegt. Ich war auch ziemlich unsicher, ob das Lebensalter einen Unterschied bedingt, oder ob ganz junge Menschen genau so behandelt werden wie Erwachsene, ob der Reuige Verzeihung erfährt oder ob es dem, der überhaupt einmal Christ gewesen ist, nichts hilft, wenn er es nicht mehr ist, ob schon der Name „Christ“, auch wenn keine Verbrechen vorliegen, oder nur mit dem Namen verbundene Verbrechen bestraft werden. Vorerst habe ich bei denen, die bei mir als Christen angezeigt wurden, folgendes Verfahren angewandt. Ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. Wer gestand, den habe ich unter Androhung der Todesstrafe ein zweites und drittes Mal gefragt; blieb er dabei, ließ ich ihn abführen. Denn mochten sie vorbringen, was sie wollten – Eigensinn und unbeugsame Halsstarrigkeit glaubte ich auf jeden Fall bestrafen zu müssen. Andre in dem gleichen Wahn Befangene habe ich, weil sie römische Bürger waren, zur Überführung nach Rom vorgemerkt. Als dann im Laufe der Verhandlungen, wie es zu gehen pflegt, die Anschuldigung weitere Kreise zog, ergaben sich verschieden gelagerte Fälle. Mir wurde eine anonyme Klageschrift mit zahlreichen Namen eingereicht. Diejenigen, die leugneten, Christen zu sein oder gewesen zu sein, glaubte ich freilassen zu müssen, da sie nach einer von mir vorgesprochenen Formel unsre Götter anriefen und vor Deinem Bilde, das ich zu diesem Zweck zusammen mit den Statuen der Götter hatte bringen lassen, mit Weihrauch und Wein opferten, außerdem Christus fluchten, lauter Dinge, zu denen wirkliche Christen sich angeblich nicht zwingen lassen. Andre, die der Denunziant genannt hatte, gaben zunächst zu, Christen zu sein, widerriefen es dann aber; sie seien es zwar gewesen, hätten es dann aber aufgegeben, manche vor drei Jahren, manche vor noch längerer Zeit, hin und wieder sogar vor zwanzig Jahren. Auch diese alle bezeugten Deinem Bilde und den Götterstatuen ihre Verehrung und fluchten Christus. Sie versicherten jedoch, ihre ganze Schuld oder ihr ganzer Irrtum habe darin bestanden, dass sie sich an einem bestimmten Tage vor Sonnenaufgang zu versammeln pflegten, Christus als ihrem Gott einen Wechselgesang zu singen und sich durch Eid nicht etwa zu irgendwelchen Verbrechen zu verpflichten, sondern keinen Diebstahl, Raubüberfall oder Ehebruch zu begehen, ein gegebenes Wort nicht zu brechen, eine angemahnte Schuld nicht abzuleugnen. Hernach seien sie auseinandergegangen und dann wieder zusammengekommen, um Speise zu sich zu nehmen, jedoch gewöhnliche, harmlose Speise, aber das hätten sie nach meinem Edikt, durch das ich gemäß Deinen Instruktionen Hetärien verboten hatte, unterlassen. Für umso notwendiger hielt ich es, von zwei Mägden, so-
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Zur Rechtslage der Christen im Röm. Reich
genannten Diakonissen, unter der Folter ein Geständnis der Wahrheit zu erzwingen. Ich fand nichts andres als einen wüsten, maßlosen Aberglauben. Somit habe ich die weitere Untersuchung vertagt, um mir bei Dir Rat zu holen. Die Sache scheint mir nämlich der Beratung zu bedürfen, vor allem wegen der großen Zahl der Angeklagten. Denn viele jeden Alters, jeden Standes, auch beiderlei Geschlechts sind jetzt und in Zukunft gefährdet. Nicht nur über die Städte, auch über Dörfer und Felder hat sich die Seuche dieses Aberglaubens verbreitet, aber ich glaube, man kann ihr Einhalt gebieten und Abhilfe schaffen. Jedenfalls ist es ziemlich sicher, dass die beinahe schon verödeten Tempel allmählich wieder besucht, die lange ausgesetzten feierlichen Opfer wieder aufgenommen werden und das Opferfleisch, für das sich bisher nur ganz selten ein Käufer fand, überall wieder Absatz findet. Daraus gewinnt man leicht einen Begriff, welch eine Masse von Menschen gebessert werden kann, wenn man der Reue Raum gibt. Quelle: Gaius Plinius Caecilius Secundus, Briefe/Epistularum Libri Decem. Lateinisch-deutsch, hg. v. Helmut Kasten, 8. Auflage Düsseldorf/Zürich, Buch 10, Brief 96, 641–645. © Patmos, Regensburg
31. Hirt des Hermas (ca. 140) Der „Hirt“ des Hermas gehörte zu den populärsten Büchern in der Alten Kirche. Es handelt sich um ein Allegorienbuch, dessen zentrales Thema die Rettung der getauften Sünder durch Buße ist. Im „Hirten“ sind zwei ursprünglich selbstständige, von demselben Autor stammende Bücher – ein Visionenbuch und eine Schrift mit Geboten und Gleichnissen – um 140 zu einem Werk verbunden worden. Der Titel „Hirt“ spiegelt die bedeutsame Rolle wider, die ein in der Gestalt eines Hirten auftretender Engel als Vermittler von Offenbarungen in der Schrift spielt. Das Buch ist in Rom entstanden. Hermas war ein Sklave, der nach Rom verkauft und dort später freigelassen wurde. Der Verfasser spricht in seinem Buch kraft seiner Autorität als Visionär, der sich zugleich in die gottesdienstliche Gemeinschaft eingebunden und den traditionellen kirchlichen Autoritäten, vor allem den Presbytern, zugeordnet weiß. In den zwei wiedergegebenen Gleichnissen tritt der sozialethische Ansatz des „Hirten“ zutage. Im ersten Gleichnis werden die „Knechte Gottes“ als Bürger der „jenseitigen Stadt“ angesprochen. Als Fremdlinge in dieser Welt sollen sie sich mit dem „genügenden Auskommen“ bescheiden und irdischen Besitz dazu nutzen, den Bedürftigen zu helfen. Hervorgehoben wird dabei die Diakonie an Witwen und Waisen. Im zweiten Gleichnis greift Hermas mit dem Bild von der Ulme und dem Weinstock ein verbreitetes Motiv der römischen Literatur auf. Die Besonderheit des italischen Weinbaus, dass hochwachsende Reben an eigens dazu gepflanzten Ulmen angebunden wurden, ließ sich auf die menschlichen Beziehungen von Freundschaft und Ehe übertragen – mit der Pointe wechselseitiger Ergänzung. Originell war Hermas darin, dass er die geläufige Metapher auf das Verhältnis von Arm und Reich bezog. Angesichts sozialer Konflikte in der Kirche Roms zielten die Parabel und ihre Deutung auf eine Lösung im Sinne gegenseitiger Hilfestellung, des Ausgleichs und der Ergänzung. Dabei tritt eine eindeutige „Parteilichkeit zugunsten der Armen“ (Norbert Brox) hervor. Die Armen sind wesentlich reich bei dem, was vor Gott gilt. Die Reichen hingegen sind im Wesentlichen arm. Den Reichen kommt der spirituelle Reichtum der Armen zugute. Die Reichen tragen dagegen nicht zum Heil der Armen bei, sondern lediglich dazu, dass die Armen das Notwendige für das irdische Leben erhalten. Die Parabel wendet sich primär an die Reichen. Sie sollen „Diakonie“ leisten, von ihrem Vermögen abgeben und soziale Hilfe leisten. Der „Hirt“ des Hermas bietet ein Beispiel frühchristlicher Sozialkritik, die die Ethik reicher
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Hirt des Hermas
und armer Christen thematisiert, ohne allerdings die Abschaffung von Armut in den Blick zu nehmen. Erstes Gleichnis. Er sprach zu mir: „Ihr wisst, ihr Knechte Gottes, dass ihr in der Fremde wohnt. Denn eure Stadt ist fern von dieser Stadt. Wenn ihr nun eure Stadt kennt“, fuhr er fort, „in der ihr wohnen sollt, warum erwerbt ihr hier Äcker, kostbare Einrichtungen, Häuser und vergängliche Wohnungen? Wer sich dergleichen in dieser Stadt erwirbt, kann nicht erwarten, in seine Stadt heimzukehren. […] Willst du wegen deiner Äcker und deiner andern Habe deinem Gesetz überhaupt abschwören und dein Leben nach dem Gesetz dieser Stadt führen? Gib Acht, dass es dir nicht schadet, wenn du dein Gesetz verleugnest. Denn wenn du in deine Stadt heimkehren willst, so wirst du keine Aufnahme finden, weil du das Gesetz deiner Stadt verleugnet hast; und so wirst du von dort ausgeschlossen werden. Nimm dich also in Acht: Erwirb dir als einer, der im fremden Lande wohnt, nicht mehr, als was du brauchst und was dir ausreicht […]. Gebt also Acht ihr, die ihr dem Herrn dient und ihn im Herzen habt: Vollbringt die Werke Gottes im Gedanken an seine Gebote und die Verheißungen, die er gegeben hat, und glaubet ihm, dass er sie erfüllen wird, wenn seine Gebote beobachtet werden. Sucht also anstatt Äcker bedrängte Seelen zu gewinnen, ein jeder nach seinen Kräften, besucht Witwen und Waisen und vernachlässigt sie nicht,1 und verwendet euren Reichtum und all eure Habe, die ihr von Gott empfangen habt, auf Äcker und Häuser von solcher Art! Denn dazu hat euch der Herr reich gemacht, dass ihr ihm diesen Dienst [diakonia] ausrichtet. Viel besser ist es doch, solche Äcker, Güter und Häuser zu gewinnen, die du in deiner Stadt wiederfinden wirst, wenn du dahin zurückkehrst. Eine solche Verschwendung ist gut und heilig und hat weder Leid noch Furcht im Gefolge, sondern (nur) Freude. An der Verschwendung der Heiden aber beteiligt euch nicht; das schadet euch Knechten Gottes nur. Treibt Verschwendung auf eure Art, an der ihr Freude haben könnt! Und treibt nicht Falschmünzerei, rührt nicht an fremdes Gut oder begehrt es; denn böse ist es, nach Fremdem zu begehren. Tu dein eigenes Werk, so wirst du gerettet werden.“ Zweites Gleichnis. Ich wanderte draußen auf dem Lande und wurde auf eine Ulme und einen Weinstock aufmerksam. Als ich nun über sie und ihre Früchte nachdachte, da erschien mir der Hirt und sprach: „Was für Gedanken machst du dir über die Ulme und den Weinstock?“ „Ich bedenke, 1
Vgl. u.a. Ex 22,21.
Hirt des Hermas
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[Herr]“, gab ich zur Antwort, „wie vortrefflich sie zueinander passen.“ „Diese beiden Gewächse“, sprach er, „stellen für die Knechte Gottes ein Bild dar.“ „Ich möchte“, sagte ich, „das Bild dieser Gewächse kennen, von denen du sprichst.“ Darauf er: „Siehst du die Ulme und den Weinstock?“ „Jawohl, Herr“, sagte ich. „Dieser Weinstock“, sagte er, „bringt Frucht, die Ulme aber ist ein unfruchtbarer Baum. Aber wenn der Weinstock sich nicht an der Ulme emporrankt, kann er nicht viel Frucht bringen, da er dann am Boden hin kriecht, und die Frucht, die er dann bringt, ist faulig, weil sie nicht an der Ulme hängen kann. Wenn nun der Weinstock an der Ulme emporklettert, bringt er von sich aus und von der Ulme her Frucht. Du siehst also, dass auch die Ulme viel Frucht trägt, nicht etwa weniger als der Weinstock, sondern eher noch mehr.“ [„Inwiefern noch mehr, Herr“, fragte ich.] „Weil der Weinstock“, antwortete er, „viele gute Frucht bringt, nur wenn er an der Ulme hängt, wenn er aber am Boden kriecht, faulige und geringe Frucht gibt. – Dies Gleichnis zielt auf die Knechte Gottes ab, auf den Armen und Reichen.“ „Inwiefern, Herr?“, fragte ich, „erkläre es mir“. „Höre“, sprach er. „Der Reiche hat Güter, ist aber in den Augen des Herrn ein Armer, da er von den Sorgen des Reichtums abgelenkt wird. Und sehr selten nur übt er sich im Dankund Bittgebet zum Herrn, und wenn er es tut, so ist es kurz, schwach und hat auch keine andere Kraft. Wenn sich nun der Reiche auf den Armen verlässt und ihm das zum Leben Notwendige darbietet, so glaubt er seinen Lohn bei Gott zu finden, wenn er für den Armen tätig ist. Denn der Arme ist reich in seinem Bitt- und Dankgebet, und sein Gebet hat bei Gott große Kraft.2 So unterstützt der Reiche den Armen in allem, ohne zu zaudern; und der vom Reichen unterstützte Arme betet zu Gott, wenn er ihm dankt, zugleich für den, der ihn beschenkt. Und jener gibt sich außerdem noch besondere Mühe um den Armen, damit er ungestört bleibe bei seinem Gebet […]; denn er weiß, dass des Armen Gebet als angenehm und reich in den Augen Gottes gilt. Beide also vollbringen das Werk: Der Arme betätigt sich im Beten, worin er reich ist; das hat er vom Herrn empfangen, und das gibt er dem Herrn, der’s ihm verlieh, wieder. Und ebenso verschenkt der Reiche den Reichtum, den er vom Herrn empfangen hat, ohne Zaudern an den Armen. Auch dieses Werk ist groß und angenehm vor Gott, weil er bei seinem Reichtum einsichtig geworden ist, sich mit den Gaben des Herrn für den Armen betätigt und seinen Dienst [diakonia] recht ausgerichtet hat. In den Augen der Menschen scheint nun die Ulme unfruchtbar zu sein, denn sie wissen nicht und merken auch nicht, dass die Ulme ja, wenn Trockenheit eintritt, mit ihrem eigenen Saft den Weinstock nährt, und der Weinstock, der nun ohne Unterlass 2
Vgl. Sir 35,21.
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Hirt des Hermas
Feuchtigkeit hat, doppelt reiche Frucht trägt, für sich und die Ulme. So kommen auch die Armen, wenn sie für die Reichen zum Herrn beten, deren Reichtum zu Hilfe, und die Reichen wiederum, die den Armen das Nötige darbieten, kommen deren Seelen zu Hilfe. So haben beide Anteil am gerechten Werk. Wer solches tut, wird nicht von Gott verlassen werden, sondern wird in die Bücher der zum Leben Gelangten eingetragen werden.3 Selig sind, die Besitz haben, und die Einsicht gewinnen, dass ihr Reichtum vom Herrn stammt. Denn wer diese Einsicht gewinnt, ist imstande, einen guten Dienst zu leisten [diakonein].“ Quelle: „Hirt“ des Hermas, in: Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk/Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker mit Übersetzungen von M. Dibelius und D.-A. Koch neu übersetzt und herausgegeben v. Andreas Lindemann/Henning Paulsen, Tübingen 1992, 331–543: 425–429; 429–433. © Verlag Mohr Siebeck, Tübingen
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Vgl. Apk 20,12.
32. Aristides: Apologie (um 140) Aristides, ein christlicher Philosoph und Rhetor aus Athen, richtete um die Mitte des zweiten Jahrhunderts eine Schrift an den römischen Kaiser, die als eine der ältesten Apologien des Christentums gilt. Vermutlich war sie an Kaiser Antoninus Pius (136–161) adressiert und wurde noch vor 147 verfasst. Über den Kaiser hinaus waren als Leser philosophisch Gebildete und Menschen, die sich für den christlichen Glauben interessierten, im Blick. Die Schrift ist weniger eine Verteidigung des Christentums, sondern vielmehr eine elegante und pointierte Werbeschrift, die aus dem Vergleich zwischen den im römischen Reich wichtigen Religionen und dem Christentum diejenigen Aspekte zur Geltung bringt, die für einen heidnischen Philosophen und den Staat von spezifischer Bedeutung waren. Zentrales Thema des Traktats ist die Gottesverehrung. In der Entfaltung des Themas knüpft Aristides an Grundelemente hellenistischen Denkens an, um das Christentum als höchste aller Philosophien zu plausibilisieren. Zugleich durchzieht eine charakteristische Dichotomie zwischen den Irrtümern der paganen Völkerschaften und dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens die Ausführungen. Sie gipfelt in der kontrastierenden Darstellung der heidnischen und christlichen Moralvorstellungen und den entsprechenden sozialen Praxen. Indem Aristides die moralische Integrität der Christen und das hohe Niveau des christlichen Ethos hervorhebt, betont er die positive Funktion des Christentums für die Einheit der Menschheit und den Fortbestand der Welt bzw. des römischen Reiches. 15.1. Die Christen aber, o Kaiser, haben umhersuchend die Wahrheit gefunden und stehen, wie wir ihren Schriften entnommen haben, der Wahrheit und genauen Erkenntnis näher als die übrigen Völker. 2. Denn sie kennen Gott1 und glauben an ihn als den Schöpfer und Werkmeister des Alls, durch den alles und von dem alles ist,2 der keinen anderen Gott neben sich hat, 3. von dem sie die Gebote empfingen, die sie in ihren Sinn eingezeichnet haben3 und beobachten in der Hoffnung und Erwartung der künftigen Welt. 4. Deshalb treiben sie nicht Ehebruch und Unzucht, legen kein falsches Zeugnis ab, unterschlagen kein hinterlegtes Gut, begehren nicht, was nicht ihr
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Vgl. Gal 4,9; 1Joh 2,3. Vgl. Röm 11,36; Kol 1,16. 3 Vgl. Röm 2,15; Hebr 8,10. 2
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Apologie
eigen,4 ehren Vater und Mutter, erweisen ihrem Nächsten Gutes und richten, wenn Richter, nach Gerechtigkeit.5 5. Götzen in Menschengestalt beten sie nicht an, und was sie nicht wollen, dass ihnen andere tun, das tun sie auch niemand.6 Von der Götzenopferspeise7 essen sie nicht, denn sie sind rein. Denen, die sie kränken, reden sie zu und machen sie sich zu Freunden,8 den Feinden spenden sie eifrig Wohltaten.9 […] 7. Die fremden Götter beten sie nicht an. Sie wandeln in aller Demut und Freundlichkeit. Lüge wird bei ihnen nicht gefunden.10 Sie lieben einander.11 Die Witwen missachten sie nicht; die Waise befreien sie von dem, der sie misshandelt.12 Wer hat, gibt neidlos dem, der nicht hat.13 Wenn sie einen Fremdling sehen, führen sie ihn unter Dach14 und freuen sich über ihn, wie über einen wirklichen Bruder. Denn sie nennen sich nicht Brüder dem Leibe nach, sondern (Brüder) im Geiste und in Gott.15 8. Wenn aber einer von ihren Armen aus der Welt scheidet und ihn irgendeiner von ihnen sieht, so sorgt er nach Vermögen für sein Begräbnis. Und hören sie, dass einer von ihnen wegen des Namens16 ihres Christus gefangen oder bedrängt ist, so sorgen alle für seinen Bedarf und befreien ihn, wo [es] möglich ist. 9. Und ist unter ihnen irgendein Armer oder Dürftiger, und sie haben keinen überflüssigen Bedarf, so fasten sie zwei oder drei Tage, damit sie den Dürftigen ihren Bedarf an Nahrung decken. Die Gebote ihres Christus halten sie (gar) gewissenhaft, indem sie rechtschaffen und ehrbar leben,17 so wie der Herr, ihr Gott, ihnen befohlen. Quelle: Die Apologie des Philosophen Aristides von Athen, in: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten, Bd.1. Aus dem Griechischen und Lateinischen übersetzt von Dr. Kaspar Julius (Aristides) u.a., Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 12, Kempten/München 1913, 25–54: 48–51.
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Vgl. zum Ganzen Ex 20,12–17. Vgl. Joh 7,24. 6 Vgl. Mt 7,12. 7 Vgl. Apg 15,29; 1Kor 8,2f. 8 Vgl. Mt 5,24f. 9 Vgl. Lk 6,27; Röm 12,20. 10 Vgl. Eph 4,1ff.; Kol 3,9.12. 11 Vgl. Joh 13,34; 15,12.17; 1Joh 4,7.11. 12 Vgl. Ex 22,21; 1Tim 5,3; Jak 1,27. 13 Vgl. 2Kor 8,14; 9,12; Eph 4,28; 1Tim 6,18; 1Joh 3,17. 14 Vgl. Jes 58,7; Mt 25,35. 15 Vgl. Phil 1,14. 16 Vgl. Mt 10,22; Mk 13,13 u.ö. 17 Vgl. Tit 2,12; 1Thess 2,10. 5
33. Justin der Märtyrer: Erste Apologie (150–155) Der christliche Philosoph Justin wurde um 100 in Flavia Neapolis, dem heutigen Nablus, in Palästina geboren. Er erwarb eine philosophische Ausbildung im zeitgenössischen Mittleren Platonismus. Für seine Bekehrung zum Christentum dürfte vor allem die Bewunderung für die christlichen Märtyrer und deren Todesbereitschaft ausschlaggebend gewesen sein. Das Christentum überbietet und vollendet in der Sicht Justins die heidnischen Vernunftkonzeptionen und wird damit zur wahren Philosophie. Justin zog als christlicher Wanderprediger, der den Philosophenmantel trug, umher. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Justin in Rom. Im Jahr 165 wurde er als Christ hingerichtet. Zwischen 150 und 155 verfasste Justin seine Erste Apologie in Rom. Sie enthält im ersten Teil die Abwehr des Vorwurfs, die Christen seien Atheisten. Der zweite Teil soll zeigen, dass Jesus wirklich Gottes Sohn ist. Im Folgenden werden zwei Abschnitte aus der ersten Apologie Justins wiedergegeben, die den Zusammenhang von Eucharistie und Diakonie, von Herrenmahl und Sorge für die Bedürftigen zum Ausdruck bringen. Der substantielle Zusammenhang zwischen Lebensführung und Verantwortung für in Not Geratene ist Teil christlicher Überzeugung. Den Diakonen kommt die Aufgabe zu, die eucharistischen Gaben auszuteilen und denen zu überbringen, die am Gottesdienst nicht teilnehmen können. Im Rahmen des Gottesdienstes werden Gaben hinterlegt, die vom „Vorsteher“ zur Unterstützung derer eingesetzt werden, die „Mangel haben“ – insbesondere der Witwen und Waisen, der Kranken, Gefangenen und Fremden. 65. Der eucharistische Gottesdienst nach Empfang der Taufe. Wir aber führen nach diesem Bade den, der gläubig geworden und uns beigetreten ist, zu denen, die wir Brüder nennen, dorthin, wo sie versammelt sind, um gemeinschaftlich für uns, für den, der erleuchtet worden ist, und für alle andern auf der ganzen Welt inbrünstig zu beten, damit wir, nachdem wir die Wahrheit erkannt haben, gewürdigt werden, auch in Werken als tüchtige Mitglieder der Gemeinde und als Beobachter der Gebote erfunden zu werden, und so die ewige Seligkeit zu erlangen. Haben wir das Gebet beendigt, so begrüßen wir einander mit dem Kuss. Darauf werden dem Vorsteher der Brüder Brot und ein Becher mit Wasser und Wein gebracht; der nimmt es und sendet Lob und Preis dem Allvater durch den Namen des Sohnes und
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des Heiligen Geistes empor und spricht eine lange Danksagung dafür, dass wir dieser Gaben von ihm gewürdigt worden sind. Ist er mit den Gebeten und mit der Danksagung zu Ende, so gibt das ganze Volk seine Zustimmung mit dem Worte „Amen“. Dieses Amen bedeutet in der hebräischen Sprache so viel wie: Es geschehe! Nach der Danksagung des Vorstehers und der Zustimmung des ganzen Volkes teilen die, welche bei uns Diakone heißen, jedem der Anwesenden von dem verdankten Brot, Wein und Wasser mit und bringen davon auch den Abwesenden. [...] 67. Gemeindeleben der Christen, besonders ihr Sonntagsgottesdienst. Wir aber erinnern in der Folgezeit einander immer hieran, zu helfen, wenn wir können, allen, die Mangel haben, und halten einträchtig zusammen. Bei allem aber, was wir zu uns nehmen, preisen wir den Schöpfer des Alls durch seinen Sohn Jesus Christus und durch den Heiligen Geist. An dem Tage, den man Sonntag nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in Städten oder auf dem Lande wohnen; dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel1 oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht. Hat der Vorleser aufgehört, so gibt der Vorsteher in einer Ansprache eine Ermahnung und Aufforderung zur Nachahmung all dieses Guten. Darauf erheben wir uns alle zusammen und senden Gebete empor. Und wie schon erwähnt wurde, wenn wir mit dem Gebete zu Ende sind, werden Brot, Wein und Wasser herbeigeholt, der Vorsteher spricht Gebete und Danksagungen mit aller Kraft und das Volk stimmt ein, indem es das Amen sagt. Darauf findet die Ausspendung statt, jeder erhält seinen Teil von dem Konsekrierten; den Abwesenden aber wird er durch die Diakone gebracht. Wer aber die Mittel und guten Willen hat, gibt nach seinem Ermessen, was er will, und das, was da zusammenkommt, wird bei dem Vorsteher hinterlegt; dieser kommt damit Waisen und Witwen zu Hilfe, solchen, die wegen Krankheit oder aus sonst einem Grunde bedürftig sind, den Gefangenen und den Fremdlingen, die in der Gemeinde anwesend sind, kurz, er ist allen, die in der Stadt sind, ein Fürsorger. Am Sonntag aber halten wir alle gemeinsam die Zusammenkunft, weil er der erste Tag ist, an welchem Gott durch Umwandlung der Finsternis und des Urstoffes die Welt schuf und weil Jesus Christus, unser Erlöser, an diesem Tag von den Toten auferstanden ist, Denn am Tag vor dem Saturnustag kreuzigte man ihn, und am Tage nach dem Saturnustag, d. h. am Sonntag, erschien er seinen Aposteln und Jüngern und lehrte sie das, was wir zur Erwägung auch euch vorgelegt haben. 1
D.h. die Evangelien.
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Quelle: Justin der Märtyrer, Erste Apologie, in: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten, Bd.1. Aus dem Griechischen und Lateinischen übersetzt von Dr. Kaspar Julius (Aristides), Dr. Gerhard Rauschen (Justin, Diognet) u.a., Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 12, München 1913, 65–137: 134–137.
34. Tertullian: Verteidigung des christlichen Glaubens (198) Quintus Septimius Florens Tertullian wurde vermutlich kurz nach Mitte des zweiten Jahrhunderts als Sohn eines römischen Hauptmanns aus der Truppe des Prokonsuls für Afrika geboren. Nach seiner Bekehrung zum Christentum lebte und wirkte er von 197/8 bis 220 als freier christlicher Schriftsteller im nordafrikanischen Karthago. Das Griechische war bis dahin im Osten wie im Westen die Sprache der Christen, so wie es die Sprache der Gebildeten und die bevorzugte Sprache des Handelns und Verkehrs im römischen Reich war. Tertullian verfasste als erster christlicher Theologe seine Schriften in Latein. Damit begründete er die christlich-lateinische Schreib-, Lese- und Denkkultur. Er steht am Anfang der lateinischen Kirchengeschichte. Mit seinem Denken in juridischen Kategorien von Schuld und Sühne, Lohn und Strafe, Gesetzesbefolgung und Errettung auf Grund des Gesetzesgehorsams beeinflusste er nachhaltig die weitere Entwicklung der Theologie im Westen. Seine Theologie zeichnet sich durch die Betonung eines ernsthaften, bescheidenen Lebenswandels aus. Gegen Ende seines Lebens nahmen ethischer Rigorismus und – vor allem unter dem Einfluss des Montanismus – Asketismus breiteren Raum ein. Aus Anlass christentumsfeindlicher Unruhen im Jahr 198 verfasste Tertullian das Apologeticum. Die Schrift gilt als Meisterwerk der frühchristlichen Apologetik und will – ähnlich wie die Apologie des Sokrates – Vorurteile und Missverständnisse widerlegen. Sie ist an die höchsten Beamten und Richter der Provinzverwaltung adressiert. Tertullian wählt für seine Apologie (Verteidigung) die Form einer Gerichtsrede. Dabei entlarvt er die Absurdität der gegen die Christen gerichteten Anklagen und betont die wahre Moralität des Christentums sowie dessen Wert für die Gesellschaft. Er versucht den Vorwurf zu entkräften, die christliche Gemeinschaft befinde sich im Widerstreit mit den Göttern, der menschlichen Natur, dem Kaiser und den römischen Gesetzen. Hingegen ist die kaiserliche Macht nicht substantiell an die heidnische Religion gebunden. In Abschnitt 39 seiner Schutzrede reagiert Tertullian auf die Beurteilung der Gemeinschaft der Christen als einer unerlaubten Organisation, die das Gemeinwesen unterminiere. Tertullian entfaltet in diesem Zusammenhang Grund, Sinn und Zielsetzung der Zusammenkünfte, der Gottesdienste, Einrichtungen und Organisation der christlichen Genossenschaft. Dabei bringt er die diakonische Dimension des innergemeindlichen christlichen Lebens nachdrücklich zur Geltung.
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39.1. Ich will nun aber selbst die Aktivitäten der christlichen „(politischen) Organisation“ darlegen, so dass ich, nachdem ich widerlegt habe, dass sie schlecht sind, zeige, dass sie gut sind – auch wenn ich so die Wahrheit offenbaren sollte. Eine Körperschaft1 sind wir um des Einverständnisses im Glauben, der Einheit in der Lehre und des Einvernehmens in der Hoffnung willen. 2. Wir kommen zusammen zur Versammlung und widmen uns dem Beisammensein, um Gott wie in einem aufgestellten Trupp mit unseren Bitten anzugehen. Solch eine Gewaltanwendung ist Gott willkommen. Wir beten auch für die Herrscher, für ihre Amtsträger und die Mächtigen, für den Bestand der Welt, für den Frieden auf der Erde, für den Aufschub des Endes. 3. Wir kommen zusammen, um die göttlichen Schriften in Erinnerung zu rufen, wenn die Lage der gegenwärtigen Zeiten dazu nötigt, entweder vorher vor etwas zu warnen oder etwas rückblickend zu erkennen. Jedenfalls nähren wir unseren Glauben mit den heiligen Worten, richten unsere Hoffnung auf, festigen unsere Zuversicht und bündeln nichtsdestoweniger unsere Lehre durch Einschärfen der Gebote. 4. Ebenda finden auch Ermahnungen, Zurechtweisungen und Tadel im Namen Gottes statt. Denn es wird auch mit großer Gewichtung gerichtet, wie bei Menschen, die gewiss sind, im Angesicht Gottes zu stehen, und die größte Vorverurteilung für das zukünftige Gericht ist es, wenn jemand so gefehlt hat, dass er von der Teilnahme am Gebet und an der Zusammenkunft und an jeglichem heiligen Verkehr ausgeschlossen wird.2 5. Den Vorsitz haben jeweils bewährte Ältere3, die diese Ehre nicht durch Geldzahlung, sondern durch ihr gutes Zeugnis erlangt haben, denn keine Sache Gottes ist für Geld zu haben. Auch wenn es eine Art Kasse gibt, wird sie nicht durch ein Ehrengeld4 eingetrieben, so als wäre die Religion käuflich. Eine angemessene Gabe steuert ein 1
Im Hintergrund der Rede vom corpus dürfte zum einen – und in erster Linie – das paulinische Verständnis der Kirche als Leib Christi (vgl. 1Kor 12,12-31) stehen. Zum anderen mag sich Tertullian hier bewusst eines Terminus‘ der römischen Vereinssprache bedienen. […] 2 Vgl. 1Kor 5,1–13. 3 Tertullian dürfte hier als Gemeindevorsitzende die Presbyter im Blick haben […]. 4 Wer ein höheres Amt in einer Vereinigung – und auch im Staat – antrat, zahlte ein summa honoraria betiteltes, nicht unerhebliches Antrittsgeld. Mit diesem Hinweis hebt Tertullian die christliche Gemeinschaft von den römischen Vereinen ab, die ihrerseits in der arca communis ihr Vermögen sammelten.
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jeder an einem bestimmten Tag im Monat bei oder wenn er will, und wenn er überhaupt will und wenn er überhaupt kann. Denn niemand wird dazu getrieben, vielmehr leistet jeder aus eigenem Antrieb seinen Beitrag. 6. Dies sind gewissermaßen Hinterlegungen der Frömmigkeit. Natürlich wird Vermögen davon nicht für Schmausereien und Trinkgelage und nutzlose Fresswirtschaften ausgegeben, sondern für den Unterhalt und die Bestattung Bedürftiger und für Jungen und Mädchen, die ohne Habe und Eltern dastehen, und außerdem für bejahrte Hausbedienstete, ebenso für Schiffbrüchige und wenn Menschen in den Bergwerken, auf den Inseln oder in den Gefängnissen, und zwar allein um der Gemeinschaft Gottes willen, zu Schützlingen ihres Bekenntnisses werden. 7. Aber in den Augen etlicher brennt uns gar am meisten die so geartete Liebestätigkeit ein Mal ein. „Sieh“, sagen sie, „wie sie einander lieben“5 – sie selbst nämlich hassen einander – „und wie sie füreinander zu sterben bereit sind“ – sie selbst sind nämlich eher einander zu töten bereit. 8. Aber auch, dass wir mit dem Namen „Bruder“ bezeichnet werden,6 macht sie, denke ich, aus keinem anderen Grunde rasend als deshalb, weil bei ihnen selbst jeder Verwandschaftsname erheuchelter Zuneigung entstammt. Brüder sind wir aber auch von euch nach dem Recht der Natur, der einen gemeinsamen Mutter, wenn ihr auch kaum Menschen seid, weil ihr schlechte Brüder seid. 9. Wie viel berechtigter nun ist es, dass die Brüder genannt und als solche angesehen werden, welche Gott als den einen Vater erkannt7, welche den einen Geist der Heiligkeit eingesogen haben8, welche von dem einen Mutterleib derselben Unkenntnis zu dem einen Licht der Wahrheit emporgeschreckt sind? 10. Doch vielleicht werden wir daher als weniger legitime Brüder erachtet, weil keine Tragödie von unserer Brüderschaft kündet9 oder weil wir im Blick auf das Familieneigentum Brüder sind, bei dem die Brüderschaft unter euch gewöhnlich ein Ende hat. 5
Vgl. Joh 13,35; 15,13; 1Joh 3,16. Vgl. Apg 15,1.3.22f.; Röm 1,13; 1Kor 1,11; 5,11. 7 Vgl. Mt 23,8f. 8 Eine Anspielung auf die Taufe, vgl. 1Kor 12,13. 9 Anspielung auf Bruderdramen, wie sie in der Antike berühmt waren (z.B. Eteokles und Polyneikes sowie Romulus und Remus). 6
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11. Wir also, die wir uns mit Geist und Seele vereinigen, haben keine Bedenken, einander am Vermögen teilhaben zu lassen.10 Alles steht bei uns zur gemeinsamen Verfügung, außer den Ehefrauen. […] 14. Was also ist verwunderlich daran, wenn sich so große Liebe in gemeinsamen Mahlzeiten ausdrückt? Denn auch unsere bescheidenen Mahlzeiten verhöhnt ihr nicht nur als berüchtigt für Frevel, sondern auch als verschwenderisch […] 16. Unser Mahl zeigt sein Wesen am Namen: Es wird als das benannt, was bei den Griechen Liebe heißt.11 Wie großen Aufwand auch immer es kosten mag, ein Gewinn ist es, im Namen der Frömmigkeit diesen Aufwand zu machen, da wir ja jeweils Mittellose mit dieser Erquickung unterstützen – nicht in der Weise, wie bei euch Schmarotzer12 nach dem Ruhm streben, ihre Freiheit zu verknechten und damit ihren Bauch zu belohnen, der inmitten von Schimpf und Schande gemästet wird, sondern insofern als bei Gott den kleinen Leuten größere Beachtung zukommt. 17. Wenn der Anlass für das Gemeinschaftsmahl ehrbar ist, so beurteilt die übrige Abfolge der Mahlordnung nach dem Anlass. Da das Mahl einer Glaubensverpflichtung entstammt, duldet es nichts Gemeines und nichts Unanständiges. Man legt sich nicht eher zu Tisch, als man ein Gebet zu Gott verkostet hat; man isst so viel, wie Hungrige vertragen; man trinkt so viel, wie es Sittsamen gut tut. 18. So sättigt man sich wie jemand, der eingedenk ist, dass er Gott auch in der Nacht anbeten muss; so unterhält man sich wie jemand, der weiß, dass Gott zuhört. Nachdem das Wasser zum Händewaschen gereicht ist und die Lichter entzündet sind, wird ein jeder aufgefordert hervorzutreten, um so, wie er es den göttlichen Schriften oder der eigenen Begabung nach kann, Gott Lob zu singen: Damit wird geprüft, inwiefern er getrunken hat. Ebenso beendet ein Gebet das Gemeinschaftsmahl.
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Tertullian beruft sich hier auf das frühchristliche Ideal der Gütergemeinschaft, vgl. Apg 2,42–47; 4,32–37. 11 Tertullian spielt auf die griechische Benennung agape (dilectio) für christliche Mahlfeiern an. Aus dem Namen dilectio ist abgeleitet worden, Tertullian habe hier keine Eucharistiefeier […] im Blick, sondern eine von dieser getrennte „Agapefeier“ […]. Entgegen dieser These dürften Tertullians Ausführungen in apol. 39 als Zeugnis einer eucharistischen Mahlfeier zu interpretieren sein. 12 Der parasitus war eine bekannte Komödiengestalt, die sich, um ihren Hunger zu stillen, zur Erheiterung ihres Gastgebers lächerlich machte.
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19. Hierauf geht man auseinander, nicht zu Schlägertrupps oder Lustwandlerscharen oder ausschweifenden Unternehmungen, sondern zu eben der Sorge um Anstand und Sittsamkeit, wie Leute, die nicht so sehr ein Mahl verspeist haben als vielmehr eine Lebenslehre. 20. Diese Vereinigung der Christen ist gewiss mit Recht verboten, wenn sie den verbotenen gleichkommt, gewiss mit Recht zu verurteilen, wenn sie sich nicht von den zu verurteilenden unterscheidet, wenn sich jemand über sie mit dem Vorwurf beschwert, unter dem auch die Beschwerde über die (politischen) Organisationen steht. 21. Zu wessen Verderben sind wir je zusammengekommen? Wir sind versammelt das, was wir auch einzeln sind, alle zusammen das, was wir auch allein sind, wir schädigen niemand, wir betrüben niemand. Wenn brave, wenn gute Menschen zusammenkommen, wenn fromme, wenn züchtige Menschen sich versammeln, ist das nicht eine (politische) Organisation, sondern ein Senat.13 Quelle: Tertullian, Apologeticum/Verteidigung des christlichen Glaubens. Eingeleitet und übersetzt von Tobias Georges, Fontes Christiani 62, Freiburg i. Br. 2015, 235– 243. © 1991 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br.
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Mit curia kann sowohl der römische Senat […], als auch ein Gemeindesenat als auch ein Wahlkreis innerhalb einer Gemeinde […] bezeichnet werden. Tertullian dürfte hier auf das römische Verständnis des Senats als Versammlung edelster Männer anspielen, um gezielt die Vorstellungswelt seiner Zuhörer anzusprechen.
35. Tertullian: Über die Geduld (um 200) Tertullians Schrift Über die Geduld (De patientia) stammt aus seiner ersten Schaffensperiode als christlicher Literat (197/8–206). Er preist darin die Geduld, die ihm, der nach dem Urteil des Hieronymus immer in Glut war (vir ardens), gerade fehlte. Die am Beispiel Jesu zu lernende Geduld stellt für Tertullian die Grundlage der christlichen Tugenden dar. Ohne Geduld sind Frieden, Liebe zum Nächsten und wahre Buße ebenso wenig denkbar wie Enthaltsamkeit und Martyrium. Geduld wird von der Lethargie abgegrenzt. Ungeduld wiederum wurzelt in der Habsucht, d.h. in der Gier nach irdischen Gütern, die über das Heil und die himmlischen Güter gestellt werden. In der Bewertung des Reichtums nimmt Tertullian eine dezidiert rigorose Position ein. Er propagiert die Verachtung des Geldes und den Abscheu vor dem Reichtum. Christus habe – so der nordafrikanische Theologe – die Armen für gerecht erklärt und die Reichen von vornherein verdammt. 7. Wenn wir nun weiter die Veranlassung der Ungeduld durchgehen, so werden auch die übrigen Vorschriften betreffenden Ortes Antwort geben. Ist die Seele etwa durch den Verlust von Hab und Gut beunruhigt – fast auf jeder Seite der göttlichen Schriften wird zur Weltverachtung ermahnt, und eine dringendere Ermahnung zur Verachtung des Geldes gibt es nicht als die, dass der Herr selbst ohne Besitz irgendwelcher Reichtümer gefunden wird. Immerfort erklärt er die Armen für gerecht und verdammt die Reichen von vornherein.1 So hat er als Mittel, die Verluste erträglich zu machen, den Abscheu vor dem Reichtum im Voraus in Bereitschaft und zeigt durch seine Entäußerung von allen Reichtümern, dass auch Einbußen daran nicht in Anschlag zu bringen seien. Was wir, weil der Herr es nicht begehrte, also auch nicht begehren sollen, dessen Verkürzung oder gänzliche Entziehung müssen wir ohne Klage ertragen. Dass die Habsucht die Wurzel aller Übel sei, das hat der Hl. Geist durch den Apostel2 verkündet. Glauben wir nicht, dass diese Habsucht etwa bloß in der Begierde nach fremdem Eigentum bestehe! Nein; denn auch, was unser zu sein scheint, gehört uns nicht, weil Gott alles gehört, und wir selbst auch. Wenn wir daher bei einem erlittenen Verlust Ungeduld verspüren, so befinden wir uns in einer der Habsucht verwandten Schuld, indem wir uns über den Verlust von etwas, was nicht uns gehört, be1 2
Vgl. Lk 6,24. Vgl. 1Tim 6,10.
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trüben. Wir verlangen nach fremdem Gut, wenn wir den Verlust von fremdem Gut ungern ertragen. Wer von Ungeduld über einen Verlust ergriffen wird, der sündigt nahezu gegen Gott selbst, indem er das Irdische höher stellt als das Himmlische. Denn unsere Seele, die wir vom Herrn erhalten haben, hat sich dann von der Liebe zu zeitlichen Dingen verwirren lassen. Verlieren wir also bereitwillig das Irdische und bewahren wir uns das Himmlische! Mag die ganze Welt zugrunde gehen, wenn ich nur die Geduld als Gewinn davon trage! Wenn jemand sich nicht entschließen kann, einen kleinen, durch Diebstahl, Gewalt oder Nachlässigkeit entstandenen Schaden mannhaft zu ertragen, so wird er schwerlich schnell sein Hab und Gut angreifen, wenn es sich um ein Almosen handelt. Würde wohl jemand, der es gar nicht ertragen kann, sich von einem anderen operieren zu lassen, imstande sein, das Messer an sich selbst zu setzen? Gelassenheit bei Verlust ist eine gute Vorübung im Schenken und Mitteilen. Wer sich vor einem Verlust nicht fürchtet, der ist auch nicht verdrießlich beim Geben. Wird man, wenn man zwei Röcke hat, dem Nackten einen davon geben wollen, wenn man nicht imstande war, dem, der uns den Mantel nimmt, auch noch den Rock zu geben?3 Werden wir uns mit dem Mammon der Ungerechtigkeit Freunde machen,4 wenn wir ihn so lieben, dass wir seinen Verlust nicht ertragen können? Wir werden mit dem zugrunde Gegangenen auch zugrunde gehen. Was können wir hienieden finden, wo wir nur zu verlieren haben? Überlassen wir es den Heiden, bei jedem Verluste ungeduldig zu werden! Sie stellen das Geld womöglich höher als ihr Leben. Sie tun das, wenn sie aus Gewinnsucht vorteilhafte, aber gefährliche Handelsreisen zur See machen, wenn sie auf dem Markte um des Geldes willen vor keinem Unternehmen, wofür eine Verurteilung zu fürchten wäre, zurückschrecken, wenn sie sich zu den Spielen und zum Kriegsdienste anwerben lassen und wenn sie wie wilde Tiere gewaltsame Räubereien begehen. Bei der Verschiedenheit aber, die zwischen uns und ihnen obwaltet, geziemt es sich, das Geld um des Lebens willen, nicht aber das Leben um des Geldes willen einzusetzen, entweder freiwillig, indem wir es verschenken, oder mit Ergebung, wenn wir es verlieren. Quelle: Tertullian, Über die Geduld/De patentia, in: ders: Private und katechetische Schriften. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. K. A. Heinrich Kellner, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 7, München 1912, 10–59: 44–46.
3 4
Vgl. Mt 5,40. Vgl. Lk 16,9.11.
36. Klemens von Alexandrien: Welcher Reiche wird gerettet werden? (190–200) Titus Flavius Klemens wurde zwischen 140 und 150 geboren – wahrscheinlich in Athen. Er entstammte einer heidnischen Familie, genoss eine umfassende literarische und philosophische Bildung und bekehrte sich zum Christentum. Nach langer Wanderschaft kam er schließlich zwischen 180 und 190 nach Alexandrien und fand dort in Pantainos, einem zum Christentum übergetretenen stoischen Philosophen, seinen wichtigsten Lehrer. In Alexandrien, der zweitgrößten und zugleich reichsten Stadt des römischen Imperiums, wirkte er als Leiter der bischöflichen Katechetenschule oder als freier philosophischer Lehrer. Nachdem er im Zuge der Verfolgungen 202 aus Alexandria vertrieben worden war, fungierte er wohl als theologischer Berater des Bischofs von Jerusalem. Er starb zwischen 212 und 215. Klemens nutzte Elemente der platonischen und stoischen Philosophie, um das Christentum als wahre Philosophie und Lebensweise zu erweisen. Im Folgenden wird ein Auszug aus Klemens predigtartiger Schrift „Welcher Reiche wird gerettet werden?“ (Quis dives salvetur?) wiedergegeben. Sie ist an Reiche adressiert, die darum bangen, ob sie Anteil an Gottes Heil erhalten können. Das Christentum ist Ende des 2. Jahrhunderts bereits in reiche und gebildete Schichten eingedrungen. Klemens interpretiert die Geschichte vom „reichen Jüngling“ (Mk 10,17–31) in allegorischer Weise. Dabei fügt er jüdisch-weisheitliche Traditionen, stoische Anschauungen und Elemente neutestamentlicher Verkündigung zu einer neuen Synthese zusammen, die für die Folgezeit richtungsweisend wurde: Das theologische Grundproblem – so Klemens – besteht in der innerlichen Abhängigkeit des Menschen vom Reichtum, nicht im bloßen äußeren Besitz. Nicht der Reichtum an sich, sondern die Einstellung zu ihm und die Verwendung irdischer Güter – im besten Fall zum Nutzen des Nächsten – sind nach Klemens entscheidend für die christliche Lebensführung und die Frage, ob auch Reiche das Heil erlangen können. In einer Zeit zunehmender Öffnung und Attraktivität des Christentums für Begüterte leitet die kleine Schrift eine Neuorientierung im theologischen Reichtumsdiskurs ein. Die radikale Kritik des Reichtums in der kirchlichen Frühzeit (s. Tertullian, Text 35) wird von Klemens abgelehnt bzw. abgemildert.
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11,1. Was war es nun, was ihn [sc. den reichen Jüngling] veranlasste, fortzugehen, und bewirkte, dass er treulos alles im Stich ließ, den Meister, seine eigene Bitte, die Hoffnung, das Leben, alles das, war er vorher geleistet hatte? „Verkaufe alles, was du hast!“ 2. Was bedeutet das? Er [sc. Jesus] befiehlt ihm nicht, wie manche das Wort in oberflächlicher Weise auffassen, das Vermögen, das er besitzt, wegzuwerfen und auf seinen Besitz zu verzichten, sondern aus seiner Seele die Gedanken an den Besitz zu verbannen, die leidenschaftliche Liebe zu ihm, das gewaltige Verlangen darnach, die krankhafte Unruhe darum, die Sorgen, die Dornen des irdischen Lebens, die den Samen des ewigen Lebens ersticken.1 3. Denn es ist nichts Großes und Erstrebenswertes, überhaupt keinen Besitz zu haben, wenn es nicht um des ewigen Lebens willen geschieht. Denn sonst müssten diejenigen, die überhaupt nichts besitzen, sondern völlig mittellos sind und sich ihren täglichen Bedarf erbetteln, die Bettler, die am Wege liegen, aber von Gott und der Gerechtigkeit Gottes nichts wissen, allein deswegen, weil sie so ganz arm sind und nichts für die Fristung ihres Lebens besitzen und sogar des Allergeringsten entbehren, die glücklichsten sein, von Gott am meisten geliebt werden und allein das ewige Leben besitzen. 4. Andererseits ist es aber auch nichts Neues, dass jemand auf seinen Reichtum verzichtet und ihn den Armen oder seiner Heimatstadt schenkt; dies haben schon viele getan, bevor der Heiland auf die Erde herniederkam, die einen, um Zeit für die Philosophie zu haben und der toten Weisheit zuliebe, die anderen aus törichter Ruhmesliebe und aus Eitelkeit, Leute wie Anaxagoras, Demokritos, Krates. 12,1. Was ist es nun, was er als etwas Neues verkündigt, als etwas, das Gott allein zu eigen ist und allein Leben bewirkt, etwas, das den Früheren das Heil nicht gebracht hat? Wenn aber „die neue Schöpfung“2, der Sohn Gottes, etwas Einzigartiges verkündet und lehrt, so kann seine Mahnung nicht das enthalten, was vor Augen liegt und was andere getan haben, sondern muss etwas Neues, etwas Größeres und Göttlicheres und Vollkommeneres bedeuten, wofür jenes nur der sinnbildliche Ausdruck war, dass man nämlich seine Seele selbst und seine Gesinnung von den darin versteckten Leidenschaften reinigen und aus seinem Herzen alles, was darin keine Stätte haben darf, samt den Wurzeln ausrotten und entfernen soll. Das zu lernen ist die richtige Aufgabe für die Gläubigen, das zu lehren ist ein des Heilands würdiger Unterricht. 2. Denn jene Männer alter Zeiten verachteten zwar die äußeren Güter, verließen ihren Besitz und gaben ihn hin; die Leidenschaften ihrer Seele aber haben sie vielleicht noch gesteigert. 1 2
Vgl. Mt 13,22; Mk 4,19; Lk 8,14. Vgl. 2Kor 5,17; Gal 6,15; Kol 1,15.
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Denn sie gerieten in Übermut und Hoffart und Eitelkeit und verachteten die anderen Menschen im Wahn, dass sie selbst etwas getan hätten, was eigentlich über die Kraft eines Menschen geht. 3. Wie sollte also der Heiland denen, die ewiges Leben erlangen wollen, etwas empfehlen, was dem Leben, das er verheißt,3 Schaden und Verderben bringt? 4. Denn andererseits ist auch Folgendes möglich: Es kann sich einer seines Besitzes entäußern und trotzdem die Begierde und das Verlangen nach Reichtum festgewurzelt und wie einen Teil seines Lebens in sich tragen; und er kann auf die Möglichkeit verzichtet haben, seinen Reichtum zu verwenden, zugleich aber in seinem Mangel und in seinem Verlangen nach dem, was er verschleudert hat, doppelten Schmerz empfinden, einmal weil ihm das fehlt, was ihm helfen könnte, sodann weil die Reue da ist über das, was er getan hat. 5. Denn es ist unmöglich und undenkbar, dass einer, dem es an dem fürs Leben Nötigen fehlt, nicht in seinem Denken niedergebeugt und von dem Höheren abgehalten wird, da sein Sinn immer darauf gerichtet ist, sich jenes auf irgendeine Weise oder irgendwoher zu verschaffen. 13,1. Um wieviel nützlicher ist das Gegenteil, dass einer nämlich selbst genügend besitzt, um nicht in Sorge um das Lebensnotwendige sein zu müssen und auch anderen, bei denen es nötig ist, helfen zu können. Welche Möglichkeit zum Wohltun bliebe noch in der Welt übrig, wenn niemand etwas besäße? […] 4. Wie könnte jemand einen Hungrigen speisen, einen Dürstenden tränken, einen Nackten bekleiden, einen Obdachlosen aufnehmen (und er droht denen, die dies nicht tun, Feuer und die äußerste Finsternis),4 wenn zuvor jeder selbst nichts von all diesen Dingen besitzt? 5. Indessen ist der Herr selbst bei den reichen Zöllnern Zachäus5 und Levi6 und Matthäus zu Gaste und befiehlt ihnen nicht, ihren Reichtum aufzugeben, sondern fordert nur die gerechte Verwendung und verbietet die ungerechte und verkündet: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren.“7 6. In solcher Weise lobt er (mit diesem Wort) die richtige Verwendung, dass er auch mit diesem Zusatz zur Wohltätigkeit auffordert, die darin besteht, dass man dem Dürstenden Trank, dem Hungrigen Brot gibt, den Obdachlosen bei sich aufnimmt, den Nackten bekleidet.8 7. Wenn es aber nicht möglich ist, diese Bedürfnisse anders als auf Grund eigenen Besitzes zu befriedigen, und der Herr trotzdem befiehlt, auf den Besitz zu verzichten, was anderes würde er dann tun, als uns befehlen, die 3
Vgl. z.B. Joh 10,28. Vgl. Mt 25,35–46. 5 Vgl. Lk 19,5f. 6 Vgl. Mk 2,14f.; Lk 5,27–29. 7 Vgl. Lk 19,9. 8 Vgl. Mt 25,35–46; Jes 58,7. 4
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gleichen Dinge zu geben und nicht zu geben, zu speisen und nicht zu speisen, aufzunehmen und abzuweisen, mitzuteilen und nicht mitzuteilen, was doch ganz sinnlos wäre? 14,1. Man darf also das Vermögen, das auch unseren Nächsten nützen kann, nicht wegwerfen, denn es ist ein Besitz, weil es besitzenswert ist, und heißt Vermögen, weil es etwas vermag und nützt und zum Nutzen der Menschen von Gott geschaffen ist, da es ja wie ein Stoff und ein Werkzeug zu gutem Gebrauch denen vorgelegt und zur Verfügung gestellt ist, die es zu gebrauchen verstehen. 2. Wenn du das Werkzeug geschickt benützt, ist es geschickt; wenn du aber ungeschickt bist, nimmt es an deiner Ungeschicklichkeit teil, während es selbst nichts dafür kann. 3. Ein derartiges Werkzeug ist auch der Reichtum. Kannst du ihn recht gebrauchen, so dient er dir zur Gerechtigkeit; verwendet ihn aber jemand unrichtig, so wird er als Diener der Ungerechtigkeit erfunden. Denn seinem Wesen nach kann er nur dienen, nicht herrschen. 4. Man darf also dem, was von sich aus weder die Eigenschaft „gut“ noch die Eigenschaft „schlecht“ besitzt, keine Schuld geben, da es unschuldig ist, vielmehr nur dem, der es gut oder schlecht verwenden kann, je nachdem er wählt, und eben deshalb die Verantwortung trägt. Das ist aber der menschliche Verstand, der die Möglichkeit freier Wahl in sich trägt und bei sich selbst entscheiden kann, wie er die ihm verliehenen Gaben verwenden will. 5. Daher soll man nicht den Besitz zerstören, sondern die Leidenschaften der Seele, die den besseren Gebrauch des Vermögens nicht gestatten, damit der Mensch gut und wacker und dazu fähig werde, den Besitz gut anzuwenden. 6. Die Aufforderung, sich von allem, was man hat, loszusagen,9 und alles, was man hat, zu verkaufen, ist also in dem Sinn aufzufassen, dass sie von den Leidenschaften der Seele gesagt ist. 15,1. Nun möchte ich auch noch Folgendes sagen: Da die Leidenschaften in der Seele sind und der Reichtum außerhalb, dieser aber auch selbst als etwas Gutes anzusehen ist, wenn die Seele ihn gut anwendet, als etwas Schlechtes aber, wenn sie ihn missbraucht, wird dann der Herr, der das, was man hat, aufzugeben befiehlt, damit wohl das verbieten, nach dessen Beseitigung die Leidenschaften noch bleiben, oder nicht vielmehr das, durch dessen Beseitigung auch der Besitz nützlich wird? 2. Wer nun den weltlichen Reichtum von sich geworfen hat, kann an Leidenschaften noch reich sein, auch wenn der Stoff (um sie zu befriedigen) nicht mehr vorhanden ist; denn die Gesinnung tut ihr Werk und bedrängt und bedrückt den Verstand und 9
Vgl. Lk 14,33.
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entzündet ihn durch die in ihr vorhandenen Begierden. Es nützt ihm also nichts, dass er arm an Besitz ist, wenn er reich ist an Leidenschaften. 3. Denn er hat nicht das von sich geworfen, was verwerflich ist, sondern das, was an und für sich weder gut noch schlecht ist; und er hat sich dessen beraubt, was ihm dienen könnte, aber gerade durch den Mangel an äußeren Gütern den angeborenen Brandstoff der Bosheit in Flammen gesetzt. 4. Man muss also das Schädliche, das man hat, von sich tun, nicht das, was auch nützen kann, wenn man es richtig zu verwenden versteht. 5. Das, was mit Verstand und Besonnenheit und Frömmigkeit gebraucht wird, bringt Nutzen; dagegen muss das abgetan werden, was Schaden bringt; die äußeren Güter jedoch sind es nicht, die Schaden bringen. 16,1. So gestattet der Herr auch den Gebrauch der äußeren Güter, indem er nicht auf das zum Lebensunterhalt Nötige zu verzichten befiehlt, sondern auf das, was eine schlechte Verwendung davon verursacht. Damit meinte er aber die Krankheiten und Leidenschaften der Seele. Der Reichtum an ihnen bringt allen, bei denen er sich findet, den Tod; ihr Verlust aber bringt Heil. Von diesem Reichtum muss man die Seele rein, das heißt arm und frei machen und darnach das Wort des Herrn hören: „Komm und folge mir nach!“ 2. Denn nun wird er selbst der Weg für den, der reines Herzens ist; in ein unreines Herz dagegen zieht die Gnade Gottes nicht ein. Unrein ist aber ein Herz, das reich an Begierden ist und schwanger geht mit vielen irdischen Lüsten. 3. Denn wer Vermögen und Gold und Silber und Häuser aber als Gottes Gaben besitzt und Gott, der es gegeben hat, damit zum Wohl der Menschen dient und sich dessen bewusst ist, dass er all dies mehr seiner Brüder als seiner selbst wegen besitzt, und Herr seines Vermögens, nicht ein Sklave seines Besitzes ist und ihn nicht in seinem Herzen trägt und ihn nicht zum Ziel und Inhalt seines Lebens macht, sondern immer auch ein edles und göttliches Werk zu vollbringen sucht und fähig ist, wenn er einmal seiner Güter beraubt werden sollte, auch ihren Verlust mit Gemütsruhe zu ertragen ebenso wie den Überfluss an ihnen – wer alle diese Eigenschaften hat, der wird von dem Herrn selig gepriesen und arm im Geiste genannt, würdig ein Erbe des Himmelreiches zu werden,10 nicht ein Reicher, der das [ewige] Leben nicht gewinnen kann. Quelle: Klemens von Alexandrien, Welcher Reiche wird gerettet werden? Deutsche Übersetzung von Otto Stählin, bearbeitet von Manfred Wache, Schriften der Kirchenväter 1, München 1983, 23–30. © Kösel-Verlag München
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Vgl. Mt 5,3.
37. Traditio Apostolica – Apostolische Überlieferung (um 215) Die Traditio Apostolica ist eine um 215 in Rom entstandene Kirchenordnung. Verfasst wurde sie wahrscheinlich von Hippolyt, der seit etwa 192 in Rom als Presbyter wirkte und ab 217 als „konservativer“ Gegner des „liberalen“ Bischofs Calixt I. (ca. 160–222) auftrat. Er kritisierte u.a. die Praxis der Sündenvergebung Calixts als zu nachsichtig. Die ursprünglich griechische Fassung der Traditio Apostolica ist nicht erhalten, wurde aber mit Hilfe von Übersetzungen und Bearbeitungen rekonstruiert. Die Kirchenordnung Hippolyts markiert in der Geschichte der frühen Kirche einen Einschnitt. Sie zielt, anders als die Didache (s. Text 26), darauf, das Leben der Gemeinden und deren Strukturen relativ umfassend zu ordnen. Sie enthält zum einen Vorschriften zur kirchlichen Verfassung und den kirchlichen Ämtern. Die dazu gehörenden Weihegebete stellen die ältesten dar, die überliefert sind. Zum zweiten regelt die Ordnung ausführlich die Taufe und bietet Kriterien und liturgische Modelle für die Feier der Eucharistie. Weitere Bestimmungen betreffen z.B. gemeinsame Mahlzeiten und die Begräbnisstätten. Die Traditio Apostolica setzt die Trennung von geweihtem Klerus und Laien voraus. Zum Klerus gehören der Bischof, die Presbyter und die Diakone. Die Leitung der Gemeinde durch den monarchischen, d.h. autoritativ regierenden Bischof soll die unverfälschte Weitergabe der apostolischen Tradition gewährleisten. Das Kollegium der Presbyter berät den Bischof bei der Gemeindeleitung. Der Diakon wird zum Dienst für den Bischof geweiht. Er hat den Bischof kontinuierlich und systematisch über den Zustand der Gemeinde zu unterrichten und nimmt soziale Aufgaben wahr. Ihm kommt es zu, Spenden insbesondere an Witwen und Kranke in der Gemeinde zu verteilen und so den Lebensunterhalt der Armen zu sichern. Die Regelung über die Anstellung von Subdiakonen weist darauf hin, dass die Zahl der Unterstützungsempfänger beträchtlich gewesen sein muss. Die Unterstützung der Bedürftigen, die durch Diakone und Subdiakone in institutionalisierter Form erfolgt, wird zugleich als fundamentaler Maßstab christlichen Handelns zur Geltung gebracht: Zur Taufe wird nur zugelassen, wer Witwen unterstützt und Kranke besucht hat. Neben den sozialen Diensten kommen den Diakonen spezifische liturgische Aufgaben bei der Taufe, der Eucharistie, den Agapefeiern und der Krankensegnung zu.
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8. Die Diakone Wenn man aber einen Diakon weiht, wähle man ihn in gleicher, oben beschriebener Weise aus. Allein der Bischof lege ihm die Hände auf, so wie wir es angeordnet haben. Bei der Weihe des Diakons soll allein der Bischof die Hände auflegen, weil er nicht zum Presbyter geweiht wird, sondern zum Dienst für den Bischof, um das zu tun, was dieser ihm aufträgt. Er nimmt nämlich nicht am Rat des Klerus teil, sondern er übernimmt Aufgaben und macht den Bischof auf das aufmerksam, was ansteht. Er empfängt nicht den dem Presbyterium eigenen Geist, an dem die Presbyter teilhaben, sondern den, der ihm unter der Autorität des Bischofs anvertraut ist. Deswegen soll allein der Bischof den Diakon weihen. […] Über den Diakon soll er (sc. der Bischof) so sprechen: Gott, der du alles erschaffen und durch das Wort geordnet hast, um deinem Willen zu dienen1 und uns deine Absichten zu offenbaren, schenke diesem deinem Diener den heiligen Geist der Gnade, der Aufmerksamkeit und des Eifers. Du hast ihn erwählt, in deiner Kirche Diakon zu sein und in deinem Heiligtum darzubringen, was dir geopfert wird zur Herrlichkeit deines Namens von dem, der als dein Hohepriester eingesetzt wurde, damit er (sc. der Diakon) dir diene und durch ein untadeliges und reines Leben einen höheren Grad erlange.2 Er soll dich loben und verherrlichen durch deinen Sohn Jesus Christus, unseren Herrn, durch den dir Herrlichkeit, Macht und Lob zuteilwird, mit dem Heiligen Geist, jetzt und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. […] 13. Der Subdiakon Dem Subdiakon soll die Hand nicht aufgelegt werden; er wird vielmehr ernannt, damit er dem Diakon folge. […] 20. Die Täuflinge Bei der Auswahl der Täuflinge prüfe man zuerst ihren Lebenswandel: ob sie während des Katechumenats ehrbar gelebt, die Witwen unterstützt, Kranke besucht, ob sie alle Arten von guten Werken getan haben. Wenn diejenigen, die sie herbeigeführt haben, von ihnen bezeugen, dass dem so sei, dann sollen sie das Evangelium hören dürfen. […]
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Vgl. Jes 9,5 LXXC. Vgl. 1Tim 3,13.
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21. Die Spendung der heiligen Taufe Zur Zeit des Hahnenschreis soll man zunächst über das Wasser beten. […] Zum festgesetzten Zeitpunkt der Taufe soll der Bischof das Danksagungsgebet über das Öl sprechen und es in ein Gefäß gießen. Es ist dies das Öl der Danksagung. Er soll auch anderes Öl nehmen und darüber den Exorzismus sprechen. Ein Diakon nimmt das Öl des Exorzismus und stellt sich zur Linken, ein anderer nimmt das Öl der Danksagung und stellt sich zur Rechten des Presbyters. Der Presbyter nimmt jeden einzelnen Täufling in Empfang und fordert ihn auf, mit folgenden Worten zu widersagen: Ich widersage dir, Satan, mit all deinem Pomp und allen deinen Werken. Nachdem jeder widersagt hat, salbt ihn der Presbyter mit dem Öl des Exorzismus unter folgenden Worten: Jeder böse Geist weiche von dir. Daraufhin übergibt er ihn unbekleidet dem Bischof oder dem Presbyter, der in der Nähe des Taufwassers steht. Ein Diakon soll danach mit ihm hinabsteigen. […] Dann sollen sie in die Kirche hineingehen. […] Dann soll dem Bischof von den Diakonen die Opfergabe gereicht werden. […] 24. Die Gaben für die Kranken Der Diakon muss dann, wenn kein Presbyter anwesend ist, eifrig den Kranken das Zeichen geben. Wenn er das zum Mahl Notwendige verteilt hat, nach Maßgabe dessen, was er empfangen hat, soll er danksagen, und man soll es dort im Hause verzehren. Diejenigen, die Gaben empfangen haben, sollen mit Eifer dienen. Wenn einer Gaben empfangen hat und sie zu einer Witwe, zu einem Kranken oder zu einem, der kirchliche Aufgaben wahrnimmt, bringen soll, so bringe er sie noch an demselben Tag hin. Hat er dies nicht getan, soll er sie am folgenden Tag bringen, wobei er dann noch etwas von seinem Eigenen zur ursprünglichen Gabe hinzufügt. Denn das Brot der Armen ist bei ihm liegengeblieben. […] 34. Die Diakone sollen sich an den Bischof halten Jeder Diakon, zusammen mit den Subdiakonen, soll sich ständig an den Bischof halten. Er benachrichtige auch den Bischof, wenn irgendwelche Personen krank sind, damit der Bischof, wenn es ihm beliebt, die Kranken besuche. Denn der Kranke ist sehr erfreut, wenn der Hohepriester an ihn denkt. […]
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39. Die Diakone und die Presbyter Die Diakone und Presbyter sollen sich täglich an dem ihnen vom Bischof bezeichneten Ort versammeln. Die Diakone sollen nie versäumen, sich jederzeit einzufinden, außer sie seien durch Krankheit verhindert. Sobald alle eingetroffen sind, sollen sie die in der Kirche Versammelten unterweisen. Wenn sie dann gebetet haben, begebe sich jeder an die ihm zukommende Arbeit. Quelle: Didache. Zwölf-Apostel-Lehre, übersetzt u. eingeleitet v. Georg Schöllgen, Traditio Apostolica. Apostolische Überlieferung, übersetzt u. eingeleitet v. Wilhelm Geerlings, Fontes Christiani, 1. Serie, Bd. 1, Freiburg i.Br. u.a. 1991, 213–313: 233– 297.© 1991 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br.
38. Syrische Didaskalia (um 230) Die Didaskalia Apostolorum, die Lehre der Apostel, ist wahrscheinlich um 230 im nördlichen Syrien entstanden. Die nach dem Vorbild der Didache (vgl. Text 26) gestaltete pseudapostolische Schrift wird herkömmlich zu den Kirchen- bzw. Gemeindeordnungen gerechnet. Ihrem Charakter nach ist sie wesentlich ein bischöfliches Diensthandbuch, das Weisungen zur Ordnung der Gemeinde angesichts konkreter Probleme und Konflikte enthält. Die Themen, die ausführlich behandelt werden, reichen von der christlichen Lebensführung über die kirchlichen Ämter und die Wohltätigkeit bis hin zur Kindererziehung und den Umgang mit Häresie. Da dem Bischofsamt in der Schrift ein großes Gewicht beigemessen wird, ist vermutet worden, dass ihr Verfasser ein Bischof gewesen sein könnte. Die Gemeinde, die im Blick ist, umfasst schätzungsweise 1.000 Köpfe. Die Didaskalia zeichnet das Bild einer Gemeinde mit bischöflicher Verfassung. Dabei ist allerdings davon auszugehen, dass der monarchische Episkopat noch nicht einfach Realität war, sondern durch die Weisungen erst endgültig durchgesetzt werden sollte. Nach dem Vorbild der Konzeption des Ignatius (vgl. Texte 28, 29) begegnen die kirchlichen Ämter in der Stufenfolge Bischof – Presbyter – Diakon. Daneben spielt das Amt der Witwe, das Viduat, eine bezeichnende Rolle, und neben dem Diakon erscheint die Diakonin bzw. Diakonisse. Das im Neuen Testament (1Tim 5,1–13) wurzelnde Witwenamt verband das Recht auf Versorgung mit Anforderungen an eine asketische Lebensführung und quasi amtlichen liturgischen und diakonischen Pflichten sowie Aufgaben in Unterweisung und Lehre. In der Didaskalia werden die Witwen zwar mit einem ehrenden Ausdruck als Altar Gottes bezeichnet. Der Hinweis aber, dass der Altar nicht umherschweift, deutet auf Konflikte hin und auf markante Veränderungen, der die Gemeindeordnung den Weg bereiten will. Die Witwen, die grundlegende Gemeindeaufgaben wahrnahmen und dabei offensichtlich sehr selbstbewusst agierten, werden als Konkurrenz zum Bischofsamt verstanden und entsprechend kritisiert. Das Viduat wird als bescheidenstes Amt in die kirchliche Ämterstruktur eingefügt, dessen Zentrum der monarchische Bischof ist. Die Aufgaben des Witwenstands werden auf das Gebet reduziert. In der Didaskalia zeichnet sich damit das Ende des Witwenamts ab. Die Didaskalia ist zugleich die erste Schrift, die den weiblichen Diakonat erwähnt. Die sozialen Aufgaben der Witwen werden auf das Amt der Diakonin übertragen. Im Rahmen der bischöflichen Verfassung erfüllt das Amt den Dienst an Frauen. Parallel dazu ist das Amt des Diakons auf den Dienst an Männern konzentriert. Die Gemeinde, auf die die Didaskalia einen
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Blick gewährt, ist durch ein hohes Maß an innergemeindlicher Solidarität geprägt. Die Liebestätigkeit wird vom Bischof geleitet und mit Hilfe der Diakonen und Diakoninnen organisiert. Die Schrift dokumentiert den Facettenreichtum diakonischer Aktivitäten. Sie thematisiert schließlich ethische Fragen, die mit dem Almosengeben einerseits und der Annahme von Spenden solcher Personen verbunden sind, deren Lebenswandel als tadelnswert erscheint. Kapitel IX. Ermahnung an das Volk, den Bischof zu ehren. Höret dies also, auch ihr Laien, du auserwählte Kirche Gottes, zwar auch das frühere Volk ist Kirche genannt worden, ihr aber seid die katholische, heilige und vollkommene Kirche, „das königliche Priestertum“1, die heilige Versammlung, das Volk, „zu Erben bestimmt“2, die große Kirche, „die Braut geschmückt“3 für Gott, den Herrn. Was also vordem gesagt worden ist, höre du (Kirche) auch jetzt. Bringe Abgaben und Zehnten und Erstlinge4 dar für Christus, den wahren Hohepriester, und für seine Diener (als) Zeichen des Heils, denn der Anfang seines Namens ist die Zehnzahl. Höre, du katholische Kirche Gottes, die du den zehn Plagen entronnen bist,5 die zehn Gebote empfangen,6 das Gesetz gelernt und den Glauben festgehalten hast und das Jota im Anfang des Namens und an die Vollendung seiner beständigen Herrlichkeit geglaubt hast; statt Opfer von damals bringe jetzt Gebete, Bitten und Lobpreisungen dar. Damals gab es Erstlinge, Zehnten, Abgaben und Geschenke, heute aber sind es Darbringungen, die durch die Bischöfe Gott, dem Herrn dargebracht werden. Sie sind nämlich eure Hohepriester, die Priester und Leviten aber sind jetzt die Presbyter und Diakone, die Witwen und Waisen. Levit aber und Hohepriester ist der Bischof; dieser ist der Diener des Wortes und Mittler, für euch aber der Lehrer und nächst Gott euer Vater, der euch durch das Wasser gezeugt hat. Er ist euer Haupt und Führer und für euch der mächtige König, er regiert an Stelle des Allmächtigen, ja er sollte von euch wie Gott geehrt werden; denn der Bischof sitzt für euch an der Stelle Gottes. Der Diakon aber steht an der Stelle Christi, und ihr sollt ihn lieben; die Diakonissin aber soll nach dem Vorbild des heiligen Geistes von euch geehrt werden. Die Presbyter sollen euch gleich den Aposteln sein, und die Witwen und Waisen sollen bei euch dem Altar gleich geachtet werden.7 […] 1
Vgl. 1Petr 2,9. Vgl. Tit 3,7. 3 Apk 21,2. 4 Vgl. Dtn 14,22ff. 5 Vgl. Ex 7–11; Dtn 14,22ff. 6 Vgl. Ex 20,1–17. 7 Vgl. u.a. Ex 22,21. 2
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Kapitel XI. Ermahnung an die Bischöfe und Diakonen. Seid also eifrig, ihr Bischöfe und Diakonen, euch vor dem Herrn recht zu verhalten, denn der Herr hat gesagt: „Wenn ihr mir gegenüber euch recht verhaltet, so will ich auch euch gegenüber mich recht verhalten, und wenn ihr mir widerstrebt, so will ich euch auch widerstreben, spricht der Herr der Heerscharen.“8 Haltet euch also auf rechtem Wege, dass ihr würdig seid, Ehre vom Herrn zu empfangen, und nicht Vorwürfe, das Gegenteil davon. Seid also, ihr Bischöfe und Diakone, eines Sinnes und hütet das Volk sorgfältig in Einmütigkeit, denn ihr beide müsst ein Leib sein: Vater und Sohn, denn ihr seid das Bild der Herrschaft. Und der Diakon soll den Bischof alles wissen lassen, wie Christus seinen Vater, wo aber der Diakon (selbst anordnen) kann, da soll er seine Anordnung treffen, und den Rest der übrigen Angelegenheiten soll der Bischof entscheiden. Es soll jedoch der Diakon das Gehör des Bischofs sein, sein Mund, sein Herz und seine Seele, denn indem ihr beiden eines Sinnes seid, ist infolge eurer Übereinstimmung auch Frieden in der Kirche. […] Kapitel XV. Wie die Witwen sich würdig betragen sollen. Eine jede Witwe, die es gibt, muss sanftmütig, ruhig und still sein, auch soll sie ohne Bosheit und ohne Zorn sein, nicht schwatzhaft und nicht keifend, sie sei nicht zungenfertig und liebe nicht den Streit; und wenn sie sieht und hört, dass sich irgendetwas Verabscheuungswürdiges zuträgt, so sei sie wie eine, die nichts gesehen und gehört hat. Denn eine Witwe soll sich nicht um irgendetwas anderes kümmern, als dass sie für die Geber und für die ganze Kirche betet. […] Es ist also nicht nötig oder gar dringend erforderlich, dass Frauen Lehrerinnen sind, besonders in Betreff des Namens Christi und der Erlösung durch sein Leiden. Denn nicht um zu belehren seid ihr Frauen und besonders ihr Witwen angestellt, sondern um zu beten und Gott, den Herrn, zu bitten. […] Vielmehr soll eine Witwe wissen, dass sie der Altar Gottes ist, und sie soll beständig in ihrem Hause sitzen, soll nicht umherschweifen und sich (nicht) in den Häusern der Gläubigen herumtreiben, um etwas zu erhaschen; denn der Altar Gottes schweift niemals umher und bewegt sich von seinem Platze, sondern ist fest gegründet an einer Stelle. […] Wir sehen also, dass es Witwen gibt, von denen die (ganze) Sache wie ein Handelsgeschäft betrachtet wird: Sie nehmen mit Begierde und, anstatt Gutes zu tun und dem Bischof zu geben zur Aufnahme der Fremden und zur Erleichterung der Bedrängten, leihen sie aus zu drückendem Zins und kümmern sich nur um den Mammon […]. 8
Vgl. Sach 1,6.
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Es ist also Pflicht der Witwen, rein zu sein und den Bischöfen und Diakonen zu gehorchen, schamhaft und scheu zu sein und die Bischöfe wie Gott zu fürchten, sich nicht nach dem eignen Willen zu benehmen und nicht den Wunsch zu hegen, irgendetwas zu tun außer dem, was ihnen vom Bischof befohlen ist […] Kapitel XVI. Über die Anstellung der Diakone und Diakonissen. Darum, o Bischof, stelle dir Arbeiter bei der Almosenpflege an und Helfer, die mit dir zum Leben helfen; die, welche dir von dem ganzen Volke wohl gefallen, wähle aus und stelle (sie) als Diakone an, sowohl einen Mann zur Beschickung der vielen Dinge, die nötig sind, als eine Frau zum Dienst der Weiber. Es gibt nämlich Häuser, wohin du einen Diakon zu den Frauen nicht schicken kannst um der Heiden willen, eine Diakonisse aber wirst du schicken (können), zumal da auch (noch) in vielen andern Dingen die Stellung einer dienenden Frau nötig ist. Zunächst, wenn die Frauen in das Wasser hinabsteigen, ist es nötig, dass die, welche zum Wasser hinabsteigen, von einer Diakonisse mit dem Öle der Salbung gesalbt werden, und wo keine Frau zugegen ist und besonders (keine) Diakonisse, da muss der Täufer den (weiblichen) Täufling salben; wo aber eine Frau da ist und besonders eine Diakonisse, ist es nicht Sitte, dass die Frauen von Männern gesehen werden, sondern salbe nur das Haupt unter Handauflegung, wie früher Priester und Könige in Israel gesalbt worden sind. Auch du salbe auf jene Weise unter Handauflegung das Haupt derer, die die Taufe empfangen, seien es Männer oder Frauen. Und darnach, wenn du taufst oder den Diakonen und den Presbytern zu taufen befiehlst, soll eine dienende Frau, wie wir oben gesagt haben, die Frauen salben, ein Mann aber soll über ihnen die Namen der Anrufung der Gottheit im Wasser sprechen. Und wenn der (weibliche) Täufling aus dem Wasser herausgestiegen ist, soll ihn die Diakonisse in Empfang nehmen, belehren und erziehen, wie das Siegel der Taufe unzerstörbar ist, in Keuschheit und Heiligkeit. Darum sagen wir, dass besonders der Dienst einer dienenden Frau nötig und erforderlich ist, denn auch unser Herr und Heiland ist von dienenden Frauen bedient worden, nämlich von der Maria von Magdala und von Maria, der Tochter des Jakobus, und der Mutter des Jose und der Mutter der Söhne des Zebedäus mit noch anderen Frauen.9 Auch du bedarfst des Dienstes der Diakonisse zu vielen Dingen, denn in die Häuser der Heiden, wo gläubige (Frauen) sind, muss die Diakonisse gehen, die Kranken besuchen und sie bedienen mit dem, was sie brauchen; und die, welche anfangen, von ihrer Krankheit zu genesen, soll sie waschen. 9
Vgl. Mk 15,40f.; Lk 8,2f.
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Von den Diakonen. Die Diakone sollen in ihrer Führung dem Bischof gleichen, indessen sollen sie viel geschickter zur Arbeit sein als er und nicht unrechten Gewinn lieben, sondern eifrig sein im Dienst und (an Zahl) entsprechend der Größe der Volksmenge der Kirche, – so sollen die Diakone sein, dass sie einem jeden Bescheid geben und Erleichterung verschaffen können, dass sie den Greisinnen, die keine Kraft haben, und den Brüdern und Schwestern, die mit Krankheit behaftet sind, einem jeden von ihnen guten Dienst leisten, wie es ihm zukommt. Die Frau aber soll besonders eifrig sein im Dienste der Frauen, und ein dienender Mann im Dienste der Männer, und er soll bereit sein, dem Befehl des Bischofs zu gehorchen und sich zu fügen und, wohin er immer geschickt werden mag, zu dienen oder jemand etwas mitzuteilen. Er sei tätig und mühe sich ab, denn ein jeder soll seine Stellung kennen und sich beeifern, sie auszufüllen; und seid einig im Rat und eines Sinnes und einer Seele, wenn sie auch in zwei Leibern wohnt, und erkennet, was die Diakonie ist, wie unser Herr und Heiland im Evangelium gesagt hat: „Wer unter euch der erste sein will, der sei euer Knecht. Wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und seine Seele als Lösegeld für viele hinzugeben,“10 so sollt ihr auch tun, ihr Diakonen, wenn es an euch kommt, eure Seele für eure Brüder einzusetzen im Dienste, der euch obliegt. […] Dienet darum in Liebe und murret und zaudert nicht. Wenn aber nicht, (so ist es) als hättet ihr um der Menschen willen gedient und nicht um Gottes willen, und euren Lohn werdet ihr am Tage des Gerichts ja nach eurem Dienst empfangen. Ihr müsst also, ihr Diakone, alle die besuchen, die (dessen) bedürfen, und über die, welche in Not sind, dem Bischof Mitteilung machen, und ihr müsst seine Seele und sein Sinn sein und in allem euch mühen und ihm gehorchen. Kapitel XVII. Über die Erziehung der jugendlichen Waisen. Wenn aber jemand von den Christen eine Waise wird,11 sei es ein Knabe oder ein Mädchen, so ist es gut, wenn einer von den Brüdern, der keine Kinder hat, den Knaben an Kindes Statt annimmt, das Mädchen aber möge irgend einer annehmen, der einen Sohn hat, und wenn die Zeit gekommen ist, mag er sie ihm zur Frau geben, dass sein Werk vollendet werde im Dienste Gottes. […] Ihr also, ihr Bischöfe, nehmet ihre Last (auf euch), wie sie geleitet werden sollen, dass ihnen nichts fehle. Und wenn die Zeit der Jungfrau gekommen ist, gebt sie einem Manne von den Brüdern; der Knabe aber soll, wenn er erwachsen ist, ein Handwerk erlernen, und wenn er ein Mann 10 11
Mk 10,44f. Vgl. z.B. Ex 22,21.
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geworden ist, den Lohn erhalten, der seinem Handwerk gebührt, um sich Werkzeuge herzustellen, die zu seinem Handwerke nötig sind, und somit nicht der Liebe der Brüder, die zu ihm gehegt wurde ohne Hintergedanken und ohne Heuchelei, beschwerlich zu fallen. Und wahrhaft glücklich ist jeder, der sich selbst helfen kann und nicht die Stelle der Waisen, Witwen und Fremden drückt. Dass diejenigen verdammenswert sind, welche Almosen empfangen, ohne dessen zu bedürfen. Denn wehe denen, die besitzen und durch Betrug (Almosen) empfangen oder die sich selbst helfen können und Almosen empfangen. Ein jeder nämlich von denen, die empfangen, muss Gott dem Herrn am Tage des Gerichts Rechenschaft geben, wie er empfangen hat. Wenn (jemand) wegen seiner Jugend als Waise und wegen der Hinfälligkeit des Alters und wegen Schwachheit in Krankheit und wegen Erziehung der Kinder empfangen hat, ein solcher wird sogar gepriesen werden; denn er ist als ein Altar Gottes erachtet worden, darum wird er von Gott geehrt; denn er hat es nicht umsonst empfangen, weil er für die Geber eifrig gebetet hat ohne Unterlass die ganze Zeit. Sein Gebet nämlich, soweit dessen Kraft reicht, brachte er als seinen Lohn dar. Solche nun werden von Gott im ewigen Leben die Seligkeit empfangen. Jene aber, die besitzen und durch Betrug und Sophisterei empfangen oder andererseits träge sind und anstatt zu arbeiten und andern zu helfen, selbst nehmen, werden darum zur Rechenschaft gezogen werden über das, was sie empfingen, weil sie die Stelle der armen Gläubigen drückten. […] Kapitel XVIII. Dass es nicht recht ist, Almosen von solchen anzunehmen, die tadelnswert sind. Ihr Bischöfe also und Diakone, seid beständig im Dienste des Altars Christi, wir meinen nämlich die Witwen und Waisen, dass ihr mit aller Sorgfalt und allem Eifer euch (darum) kümmert und in betreff der Geschenke nachforscht, wie der Wandel des Gebers oder der Geberin ist, (die sie darbrachten) zum Unterhalt. […] Seid also besorgt und voll Eifer, aus einer Darreichung, (die) mit reinem Sinn (gegeben ist), den Witwen zu dienen, auf dass, was sie bitten und erflehen, ihnen schnell gegeben werde zusammen mit ihren Gebeten. Wenn es aber Bischöfe gibt, die (das) vernachlässigen und sich nicht um solche Dinge kümmern aus Heuchelei oder um unrechten Gewinnes willen oder weil sie lässig sind und nicht nachforschen, so sollen sie Rechenschaft geben, (aber) nicht leichthin. Sie nehmen nämlich zur Beschaffung des Unterhaltes der Waisen und Witwen von Reichen, die Leute im Gefängnis halten oder ihre Diener schlecht behandeln oder hart auftreten in ihren Städten oder die Armen drücken […] oder von ungerechten Zöllnern oder von denen, die Gesichte schauen, oder von denen, die das Gewicht ändern, oder von denen, die betrügerisch
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messen, oder von Schankwirten, die Wasser beimischen, oder von Soldaten, die sich frevelhaft benehmen, oder von Mördern oder von Henkern des Gerichts oder von jeder Obrigkeit des römischen Weltreichs, (bestehend aus solchen), die sich in Kriegen verunreinigten und unschuldiges Blut vergossen ohne Gericht, oder von denen, die Gerichte umstoßen, die um des Diebstahls willen voll Frevel und Hinterlist mit den Heiden verfahren und allen Armen, und von den Götzendienern oder den Unreinen oder von denen, die Zins nehmen und Wucher treiben. Diejenigen also, die mit Hilfe solcher die Witwen unterhalten, werden im Gericht des Herrn schuldig befunden werden […]. Also aus dem rechtschaffenen Erwerb der Gläubigen sollt ihr die Dürftigen nähren und kleiden und wiederum das, was von ihnen […] gegeben worden ist, verteilet zum Loskauf der Gläubigen und befreit die Sklaven, Gefangenen und Gefesselten, diejenigen, die mit Gewalt weggeführt worden sind, die von der Volksmenge Verurteilten und die zur Tierhetze oder zu den Bergwerken oder zum Exil Verdammten und die zu den Spielen Verurteilten und die Bedrängten. Die Diakone sollen zu ihnen gehen und einen jeden von ihnen besuchen und mit, was er bedarf, versehen. […] Kapitel XIX. Dass es unsere Pflicht ist, für die zu sorgen, welche um des Namens Christi willen als Märtyrer leiden müssen. Einen Christen aber, der um des göttlichen Namens und um seines Glaubens und seiner Liebe willen zu den Spielen oder den Tieren oder den Bergwerken verurteilt worden ist, sollen eure Augen nicht übersehen, sondern von eurer Arbeit und von dem Schweiße eures Angesichts sollt ihr ihm zum Unterhalt schicken und zum Lohn der Soldaten, die ihn bewachen, dass ihm Erleichterung und Fürsorge zuteilwerde, auf dass euer seliger Bruder nicht gänzlich niedergedrückt werde. […] So aber jemand da ist, der nichts hat, der möge fasten und das, was er an diesem Tage ausgegeben hätte, seinen Brüdern geben. Wenn du aber reich bist, so musst du ihnen nach deinem Vermögen helfen oder sogar alle deine Habe geben und sie von den Banden befreien; denn sie sind es, die Gottes würdig sind […]. Quelle: Die Syrische Didaskalia, übersetzt und erklärt von Hans Achelis und Johannes Flemming. Die ältesten Quellen des orientalischen Kirchenrechts zweites Buch, Leipzig 1904, 1–145: 44–92.
39. Origenes: Kommentar zum Evangelium nach Matthäus 20,25–28; 21,12f.; 24,45 (um 240) Origenes wurde 185 in Alexandria geboren. Er entstammte einer wohlhabenden christlichen Familie, wurde schon als Kind getauft und von seinem Vater sowohl zum Studium der antiken Wissenschaften wie der Bibel angehalten. Nachdem sein Vater 202 das Martyrium erlitten hatte, arbeitete Origenes zunächst als Grammatiklehrer, übernahm dann den Unterricht der Katechumenen (Taufbewerber) und wirkte schließlich als Theologe, der der Philosophie in der Systematisierung und Artikulation des Glaubens breiten Raum einräumte. Reisen führten ihn im Rahmen theologischer Studien und zu öffentlichen Disputationen u.a. nach Rom, Athen und Caesarea (Palästina). Da der alexandrinische Bischof Origenes’ Rechtgläubigkeit in Zweifel zog und ihm die Lehrerlaubnis entzogen wurde, floh Origenes 231 nach Caesarea. Dort verfasste er neben seinem apologetischen Meisterwerk gegen Celsus Kommentare zu fast allen biblischen Büchern. Origenes lehrte einen dreifachen Sinn der Heiligen Schrift: Wie der Mensch, so besteht auch die Schrift aus Leib, Seele und Geist. Ziel der Schriftauslegung ist es, über den wörtlichen bzw. historischen Sinn und die Schicht vernunftgemäßer Aussagen hinaus zum geistlichen Sinn durchzudringen. Origenes schuf eine theologische Fachsprache, legte einen umfassenden Weltentwurf vor und begründete einen Stil der Bibelauslegung, der das griechische Denken in der Folgezeit in hohem Maße prägte. Im Zuge der unter Kaiser Decius seit 250 erneut aufbrechenden Christenverfolgung wurde Origenes gefangen genommen. Er starb 254 an den Folgen der während der Gefangenschaft erlittenen Folter. Origenes hatte eine besondere Vorliebe für das Matthäusevangelium. Sein Kommentar zum Evangelium nach Matthäus, den Origenes in den 240er Jahren verfasste, bestand ursprünglich aus 25 Büchern, von denen die Bücher X bis XVII (Mt 13,36–22,33) in der griechischen Fassung erhalten sind. Zu Mt 22,34–27,66 ist keine griechische Fassung überliefert, sondern nur eine lateinische Übersetzung. Zum 28. Kapitel des Matthäusevangeliums existiert weder eine griechische noch eine lateinische Version. Das biblische Buch wird von Origenes fortlaufend erklärt und interpretiert – unter Gesichtspunkten des historischen, psychisch-vernünftigen und geistlichen Sinns des jeweiligen Textabschnitts. a) Die Ausführungen zu Mt 20,25–28 kritisieren indirekt die Willkürherrschaft weltlicher Potentaten und die Anpas-
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sung kirchlicher Praxis an sie. Demgegenüber muss das Dienen Prinzip und Leitkriterium kirchlicher Ämter sein. Insbesondere der Umgang mit den Armen gilt als Prüfstein für das Handeln kirchlicher Amtsträger. b) Die Auslegung der Geschichte von der Tempelreinigung gipfelt in der These, Jesus werde bei seiner Wiederkunft bzw. im letzten Gericht die Bischöfe, Presbyter und Diakone hinausjagen, die aus der Kirche eine Räuberhöhle gemacht haben. „Kauf und Verkauf“ sind in der Kirche zum Problem geworden. c) Die Interpretation von Mt 24,45 bezieht sich auf die Verwaltung der Kirchengüter. Hilfe für Bedürftige erfordert nicht nur ernsthaften Glauben, sondern ebenso vernünftige Reflexion, die den Lebensumständen und der jeweiligen Bedürfnislage Rechnung trägt. a) Mt 20,25–28 Was er [Jesus] sagte, war etwa Folgendes: Die Herrscher der Völker (oder die über sie zu herrschen scheinen1) sind nicht damit zufrieden, über ihre Untertanen Herr zu sein, sondern wollen sie noch mehr in der Gewalt haben und beherrschen sie. Ebenso bleiben auch diejenigen, die nach der in diesem Leben gültigen Einschätzung unter den Völkern groß sind, nicht dabei stehen, über ihre Untertanen Vollmacht zu haben, sondern treten gegen sie auf und gebrauchen ihre Vollmacht gegen sie. Unter euch aber, die ihr mit mir vertraut seid, soll das nicht vorkommen. Keiner von denen, denen Herrschaft über die, die an mich glauben, anvertraut ist, oder die in der Kirche meines Vaters und Gottes als Vollmachtsträger gelten, soll seine Brüder beherrschen oder seine Vollmacht gegen die verwenden, die sich zu meiner Religion flüchten. Aber wenn einer bei meinem Vater als groß beurteilt werden und im Vergleich mit seinen Brüdern einen Vorrang haben will, soll er all denen dienen, im Vergleich zu denen er größer sein will. Wenn aber einer auch bei mir den Vorrang anstrebt, soll er wissen, dass er vor keinem Erster sein wird, dem er nicht, als Gelegenheit zum Dienst war, in Bescheidenheit und lobenswerter Demut einen Dienst geleistet hat, der auch dem Dienenden helfen und denen, die er bedient, Nutzen oder Erquicken verschaffen kann. Lukas aber zieht die Könige und die Gewalthaber der Völker zum Vergleich heran; er möchte den, der unter den Brüdern größer sein will, davon abbringen, die Willkür des Königs und das Verlangen der Willkürherrschaft nach Schmeicheleien nachzuahmen, und belehrt uns, dass er, der wahrhaft unter uns größer ist, wie der jüngere (d.h. wie ein Kind) werden soll um der Einfalt und der Gleichheit willen, und dass der Führende (so, meine 1
Vgl. Mk 10,42.
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ich, nennt er den, der in den Kirchen Bischof heißt) wie derjenige werden soll, der denen, die bedient werden, Dienste leistet.2 Und das lehrt uns also das Wort Gottes. Wir aber führen uns, weil wir entweder die Absicht der Lehre Jesu in dieser Sache nicht verstehen oder weil wir diese nachdrücklichen Mahnungen des Heilands verachten, so auf, dass wir gelegentlich sogar noch die Aufgeblasenheit derer, die unter den Völkern schlecht herrschen, übertreffen und geradezu wie Könige eine Leibwache haben wollen und uns vor allem den Armen gegenüber Schrecken erregend und unzugänglich benehmen; ja wir gehen mit ihnen, wenn sie mit irgend einer Bitte an uns herantreten, um, wie nicht einmal die Tyrannen und die grausamsten Herrscher die Bittsteller behandeln. Man kann auch in vielen sogenannten Kirchen und zwar vor allem denen der größeren Städte sehen, wie die Führer des Volkes Gottes sich nicht ansprechen lassen, ja manchmal sogar den besten der Jünger Jesu (Lücke, wohl zu ergänzen: verbieten) zu ihnen zu kommen. Der Apostel gibt den Herren bezüglich der Knechte folgendes Gebot: „Ihr Herren, gebt den Sklaven was recht und billig ist! Ihr wisst ja, dass auch ihr einen Herrn im Himmel habt“3. Er lehrt auch, dass die Herrscher den Knechten „nicht drohend gegenübertreten“ sollen4. Man kann aber erleben, dass manche grobe Drohungen aussprechen, manchmal angeblich wegen der Sünde, manchmal aber auch, weil sie die Armen verachten, obwohl der Apostel gesagt hat; „Sie gaben mir und Barnabas die Hand zum Zeichen der Gemeinschaft, damit wir uns um die (Heiden)Völker, sie aber um die Juden kümmern sollten; nur sollten wir der Armen eingedenk bleiben“5. Wiederum haben sie weder die Gleichheit mit den Untergebenen im Sinn noch denken sie daran, dass es sich geziemt, vor allem Christen gegenüber ohne Überheblichkeit und auf gleichem Fuß aufzutreten und das vorzugsweise für die, die eine hervorragende kirchliche Amtsbezeichnung tragen. Die Herrscher der Völker mögen also über sie herrschen, die der Kirche aber sollen ihr dienen. Aber auch die Großen der Völker mögen ihre Macht gegen sie missbrauchen, die der Gläubigen aber sollen auf das Wort hören: „Lernt von mir, denn ich bin sanft und demütig von Herzen, und ihr werdet Erquickung finden für eure Seelen“6. Wir wollen uns auch dazu erziehen, keine Schmeichelreden anzunehmen und uns auch nicht gern von den Menschen Wohltäter nennen zu lassen, wenn wir vielleicht jemandem etwas Gutes getan haben. 2
Vgl. Lk 22,25–27. Kol 4,1. 4 Eph 6,9. 5 Gal 2,9. 6 Mt 11,29. 3
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Kommentar zum Evangelium nach Matthäus
Quelle: Origenes: Der Kommentar zum Evangelium nach Matthäus, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Hermann J. Vogt, 2. Teil, Bibliothek der Griechischen Literatur 30, Stuttgart 1990, 176–178 (XVI, 8). © Anton Hiersemann
b) Mt 21,12f. Und ich meine, dass die Rede von den Taubenverkäufern auf die Profitjäger passt, welche die Kirchen tyrannischen, unverständigen und ehrfurchtslosen Bischöfen oder Presbytern oder Diakonen übergeben. […] Wenn man aber, da man sich mit Eifer und Erklärung der Schrift widmet, die drei Arten von Leuten, die hier aufgezählt sind, noch eingehender auslegen soll, dann sind vielleicht diejenigen im Volke, die sich um nichts als die Welt kümmern und nur mit Kaufen und Verkaufen beschäftigt sind und die sich nur selten dem Gebet und den Werken widmen, die der göttliche Logos verlangt, die, welche im Heiligtum Gottes verkaufen und kaufen. Die Diakone aber, welche das Geld der Kirche nicht gut verwalten, es zwar immer betasten, es aber nicht richtig verwalten, sondern den scheinbaren Reichtum und das Geld aufhäufen, um so sich zu bereichern durch das, was für die Armen gespendet wurde, das sind die Wechsler, die Geldtische haben, welche Jesus umstieß. Die Bischöfe und Presbyter aber, denen der Vorsitz im Volke anvertraut ist und die gewissermaßen ganze Kirchen solchen Leuten übergeben, denen man sie nicht übergeben dürfte, und Fürsten aufstellen, die man nicht aufstellen sollte, das sind die Taubenverkäufer, deren Sitze Jesu umstürzte. Jeder also, von denen, die auf einem kirchlichen Sitz sitzen „und den Vorsitz in den Versammlungen“7 lieben, möge darauf achten, ob er vielleicht so auf seinem Sitz sitzt, dass Jesus kommt und den umstürzt, weil er Wert ist, umgestürzt zu werden. Aber auch jeder von denen, die durch ihren Dienst Geld sammeln, soll diese vorliegende Schrift bedenken und kein Geld mehr auf die Tische aufhäufen, damit Jesus sie nicht umstürzt. Aber auch diejenigen, die durch die Bedrängnisse und Sorgen des Lebens immer zum Kaufen und Verkaufen getrieben werden, sollen dafür sorgen, dass nicht Jesus kommt und sie aus dem Heiligtum hinaustreibt, nämlich dann, wenn der Hinausgetriebene nicht einmal mehr Hoffnung haben kann, dorthin zurückzukehren, von wo er hinausgetrieben wurde. Indem ich so die vorliegende Schrift durchforsche, gewinne ich den Eindruck, dass Jesus das wohl bei seiner zweiten Ankunft oder bei dem erwarteten göttlichen Gericht tun wird. Er wird nämlich in das ganze Heiligtum Gottes hineingehen, in die ganze Kirche, die (seit ihrem Beginn) bis zur Vollendung der Weltzeit im Namen Christi besteht, und alle, die er mit Kauf und Verkauf be7
Lk 11,43.
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schäftigt findet unter denen, die im Heiligtum zu sein scheinen, hinauswerfen. Und wen immer er antrifft, der einen Tisch aufgebaut hat und Wechsler geworden ist, dessen Tisch wird er umstürzen und wird ihn durch das Wort überführen und zeigen, was er mit dem Geld gesündigt hat. Dann wird er auch die Sitze der Taubenverkäufer (wie wir sie ausgelegt haben) umstürzen. Wenn einer aber nichts von diesen drei Arten an sich hat und im Tempel Gottes angetroffen wird, der sei zuversichtlich! Er wird nämlich weder von Jesus hinausgejagt noch wird etwas von seiner Habe umgestürzt noch wird er wie einer, der das Haus des Gebetes zu einer Räuberhöhle gemacht hätte, als Räuber beschimpft werden, wenn die bestraft werden, die durch ihre Räuberei und Ungerechtigkeit das Haus des Gebetes zur Räuberhöhle gemacht haben. Quelle: Origenes: Der Kommentar zum Evangelium nach Matthäus, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Hermann J. Vogt, 2. Teil, Bibliothek der Griechischen Literatur 30, Stuttgart 1990, 202–204 (XVI, 22). © Anton Hiersemann
c) Mt 24,45 Nun aber müssen wir in einem allgemeinen Sinn hören, was er [Jesus] sagt, nämlich: Wer ist der treue und kluge Knecht? Als ob manche im allgemeinen Sinn der Treue treu wären, aber weder klug noch durch Veranlagung behend; als ob wiederum andere zwar behend und entsprechend dem, was hier gemeint ist, klug wären, keineswegs aber auch treu. Wenn man aber die Menge derer betrachtet, die Christen sein wollen, wird man zwar viele finden, die treu sind und Glaubenseifer ausüben, die aber nicht auch klug sind, so dass „die Kinder dieser Weltzeit klüger sind als sie in ihrer Generation“8, wobei sie wissen, dass „Gott das Törichte der Welt erwählt hat, um die Weisen zu beschämen“9. Und wiederum wird man andere sehen, die als zum Glauben Gekommene gelten, die zwar behend sind und weise, aber nur einen bescheidenen Glauben haben und, wenn sie nicht ungläubig sind, doch weniger gläubig sind als „das Törichte der Welt“, das Gott auserwählte. Dass aber bei einem zusammenkommt, dass er treu und klug ist, so dass er in beiden Hinsichten seinen Mitknechten Speise gibt zur Zeit, ist äußerst selten. Um nämlich zur Zeit Speise zu geben, hat jemand Klugheit nötig; um aber die Speisen zur Zeit der Bedürftigkeit nicht wegzunehmen, ist Treue nötig. Es ist aber nicht unangebracht, wegen der Sünden, die bei den Menschen, die Christus zu glauben scheinen, und bei den Verwaltern der Kirchen meistens zu geschehen pflegen, daran zu erinnern, dass wir 8 9
Lk 16,8. 1Kor 1,27.
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vielen auch im einfachen Verständnis nötig haben, zugleich treu und klug zu sein, um die Einkünfte der Kirche zu verwalten: treu, damit wir nicht verzehren, was den Witwen gehört, und „damit wir an die Armen denken“10 und damit wir nicht unter Berufung auf das Wort: „Der Herr hat für die, die das Evangelium verkünden, festgesetzt, dass sie vom Evangelium leben“11 mehr verlangen als einfache Speise und die notwendigen Kleider, damit wir nicht für uns mehr behalten, als wir den Hungernden und Dürstenden und nackten Brüdern geben12 und denen, die in den Sorgen dieser Welt Not leiden; klug aber (müssen wir sein), damit wir einem jeden entsprechend seiner Würdigkeit Hilfe leisten […]. Man darf nämlich nicht einfach von den Kirchengütern geben und dabei nur dies eine beachten, dass wir nicht verzehren, was den Armen gehört, oder sie bestehlen, sondern man muss auch klug erkennen, aus welchen Gründen die Bedürftigen bedürftig sind, und die Würdigkeit eines jeden, wie er erzogen ist, wieviel er nötig hat oder aus welchem Grund er in Not ist. Man muss also nicht gleich verfahren bei denen, die von Kindheit an hart und streng erzogen wurden, und bei denen, die reich und verwöhnt aufgezogen wurden und nachher zu Fall kamen. Auch darf man nicht dasselbe Männern und Frauen darreichen oder den sehr Alten und den Jugendlichen oder den Jugendlichen und Schwachen (weil sie sich nicht selber Speise erwerben können) und denen, die sich wenigstens zum Teil selber helfen können. Man muss aber auch feststellen, ob sie viele Kinder haben, die nicht nachlässig sind, sondern alles (ihnen Mögliche) tun und doch nicht hinlänglich für sich selber sorgen können. Um nicht noch mehr zu sagen, es braucht viel Weisheit, wer die Kircheneinkünfte gut verwalten will, damit er auch in diesen Dingen als treuer und kluger Verwalter erfunden und selig wird. Quelle: Origenes: Der Kommentar zum Evangelium nach Matthäus, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Hermann J. Vogt, 3. Teil, Bibliothek der Griechischen Literatur 38, Stuttgart 1993, 169f. © Anton Hiersemann
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Mk 12,40. 1Kor 9,14. 12 Vgl. Mt 25,31–46. 11
40. Cyprian: An Donatus (ca. 248) Nach Tertullian brachte die afrikanische Kirche mit Caecilius Cyprianus erneut eine Persönlichkeit mit außerordentlicher Bedeutung hervor, deren Wirken weit über den afrikanischen Raum hinaus reichte. Cyprian wurde zwischen 200 und 210 wahrscheinlich in Karthago geboren. Er entstammte einer heidnischen, zur römischen Oberschicht gehörenden Familie. Nachdem er eine sehr gute Ausbildung genossen hatte, war er möglichweise als Lehrer der Rhetorik tätig oder strebte die Laufbahn eines höheren Verwaltungsbeamten an. Während einer persönlichen Krise bekehrte er sich zwischen 245 und 248 zum Christentum. Schon kurz nach seiner Taufe wurde er zum Presbyter geweiht und 248/49 zum Bischof von Karthago gewählt. Karthago war zur Zeit Cyprians der kirchliche Mittelpunkt für etwa 150 Bistümer, die sich auf das prokonsulische Afrika, auf Numidien und Mauretanien verteilten. Während der Christenverfolgung unter Kaiser Decius 250–251 zog sich Cyprian in ein Versteck in der Nähe Karthagos zurück und leitete von dort aus mit Hilfe loyaler Diakone seine Gemeinde weiter. Seine Flucht und die Frage des Umgangs mit denjenigen, die bei der Verfolgung den christlichen Glauben verleugnet hatten („lapsi“), führten zu heftigen innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Cyprian prägte die Lehre von der Einheit der Kirche als sichtbarer, hierarchisch geordneter Institution zur Erlangung des Heils richtungsweisend. Dabei vermochte er die Betonung bischöflicher Autorität mit einer aktiven Mitbestimmung des Volkes und hohen ethischen Ansprüchen zu verbinden. Als unter Kaiser Valerian die Verfolgung wieder aufflammte, wurde der nach Karthago zurückgekehrte Cyprian am 14. September 258 hingerichtet. Nach dem Bericht seines Biographen Pontius stellte Cyprian schon als Katechumene den Großteil seines Vermögens der Armenfürsorge zur Verfügung. Seine freigiebige Großherzigkeit spiegelt sich auch in seinem bischöflichen Wirken wieder. Der Kritik an den Reichen und am Reichtum entspricht ein vielfältiges Eintreten für die Armen und Hilfebedürftigen, das in unterschiedlichen theologischen Motiven seine Begründung findet. Als Neubekehrter schildert Cyprian in seiner Schrift Ad Donatum, die an einen nicht näher bekannten Freund Donatus gerichtet ist, die Erleuchtung, die ihm als erwachsenem Mann bei seiner Taufe widerfahren ist. Wahrscheinlich zielt die in blumigem Stil gehaltene Darlegung darauf, seinen Freunden aus der gebildeten Schicht Karthagos seine Lebenswende zu erklären. Bekehrung und Taufe markieren eine tiefgreifende Zäsur: Alt und neu, Finsternis und Licht treten in einen
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An Donatus
scharfen Gegensatz. Dies gilt biographisch und im Blick auf die Zeitverhältnisse. Der im Argen liegende Welt wird die in der Taufe begründete Tugend der Christen gegenübergestellt. Mit Mitteln der römischen Satire und im Gefolge seines Lehrers Tertullian unterzieht Cyprian die in ihrem Reichtum gefangenen, unersättlichen römischen Großgrundbesitzer einer ätzend scharfen Kritik. Kapitel 12. Wie armselig und qualvoll ist aller irdische Reichtum! 12. Aber auch die, welche du für reich hältst, welche Triften an Triften reihen und die armen Angrenzer aus ihrem Gebiet verdrängen, um so ihre unermesslichen und endlosen Ländereien immer weiter auszudehnen, welche Gold und Silber in Hülle und Fülle besitzen und gewaltige Summen in Haufen aufgeschichtet oder in Massen vergraben haben, auch sie zittern inmitten ihres Reichtums, und es quält sie der Gedanke der Unsicherheit und der Angst, es könnte ein Räuber sie berauben, ein Mörder sie überfallen oder der feindselige Neid irgendeines noch Reicheren durch ränkevolle Prozesse sie beunruhigen. Nicht einmal mit Ruhe essen oder schlafen kann ein solcher Mensch, seufzen muss er beim Mahle, mag er auch aus Gefäßen von Edelstein trinken, und wenn er seinen vom Schwelgen entnervten Körper tief in die Kissen des weichen Lagers vergraben hat, dann liegt der Bedauernswerte wach auf den Daunen, ohne jedoch einzusehen, dass alles nur glänzende Martern für ihn sind, dass ihn das Gold in Fesseln hält und dass der Reichtum mehr über ihn Herr ist als er über den Reichtum. Und – welch fluchwürdige Verblendung des Geistes, welch tiefe Nacht wahnwitziger Gier! – obwohl er sich von der schweren Last frei und lebendig machen könnte, fährt er fort, nur noch mehr die ihn quälenden Schätze zu hüten, fährt er fort, mit größter Hartnäckigkeit an den ihn peinigenden Haufen zu hängen. Da wird nichts davon den Klienten gespendet, nichts unter die Armen verteilt, und sie nennen es ihr Geld, was sie wie fremdes Eigentum zuhause verschlossen halten und mit ängstlicher Sorge bewachen und wovon sie weder ihren Freunden noch ihren Kindern oder auch nur sich selbst etwas gönnen. Sie besitzen alles nur zu dem Zwecke, damit es ja kein anderer besitzen kann, und – welch verkehrte Bezeichnungen! – „Güter“ heißen sie das, was ihnen nur zum Bösen dient. Quelle: Cyprian von Karthago, An Donatus (Ad Donatum), in: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtliche Schriften, Bd. 1: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Traktate. Des Diakons Pontius Leben des hl. Cyprianus. Aus dem Lateinischen übersetzt von Julius Baer, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 34, Kempten/München 1918, 38–55: 51f.
41. Cyprian: Brief an die Presbyter und Diakone Karthagos (250) Mit Beginn der von Kaiser Decius in Gang gesetzten Verfolgung der Christen zog sich Cyprian, der vor anderen bedroht war, in ein Versteck in der Nähe Karthagos zurück. Etwa 14 Monate lang leitete er von dort aus seine Gemeinde weiter. Boten gingen zwischen Karthago und Cyprians Versteck auf dem Land ständig hin und her. In Briefen nahm der Bischof intensiven Anteil an den Entwicklungen seiner Gemeinde. Ermutigung, Lob, Ermahnung und die Veranlassung notwendiger Maßnahmen zur Unterstützung derer, die auf Hilfe angewiesen waren, bestimmen die Schreiben des Bischofs. Cyprian hatte, bevor er Karthago verlies, aus seinem Privatvermögen Geldmittel bereitgestellt. Die staatlichen Behörden beschlagnahmten zwar seine Güter; Cyprian verfügte aber noch über Mittel, mit denen er der Armenkasse aushelfen konnte. Der folgende, in Auszügen wieder gegebene Brief wurde von Cyprian Anfang des Jahres 250 verfasst. Cyprianus entbietet seinen teuersten Brüdern, den Presbytern und Diakonen, seinen Gruß. Wohlbehalten dank der Gnade Gottes grüße ich euch, teuerste Brüder, mit dem Wunsche, bald wieder zu euch zu kommen, um meine sowie eure und aller Brüder Sehnsucht zu stillen. […] Für die Witwen und Kranken und Armen bitte ich euch gewissenhaft zu sorgen. Aber auch an die Fremden, die etwa bedürftig sind, verteilt Unterstützungen aus meinem persönlichen Vermögen, das ich bei unserem Mitpresbyter Rogatianus hinterlassen habe! Falls diese Summe etwa schon vollständig ausgegeben sein sollte, so habe ich an den gleichen [Rogatianus] durch den Akoluthen Naricus einen weiteren Betrag gesandt, damit für die Notleidenden umso ausgiebiger und rascher etwas geschehen kann. Ich wünsche euch, teuerste Brüder, stets Wohlergehen! Vergesst uns nicht! Grüßet eure Brüder in meinem Namen und ermahnt sie, unser zu gedenken! Quelle: Cyprian, 7. Brief, in: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Briefe. Aus dem Lateinischen übersetzt von Julius Baer, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 60, München 1928, 22f.
42. Cyprian: Brief an numidische Bischöfe (253) Im Jahr 253 erhielt Cyprian einen Brief von acht numidischen Bischöfen mit der Nachricht, dass räuberische Barbaren in Numidien eingefallen seien und eine Reihe junger und alter Christinnen und Christen verschleppt hätten. Cyprian veranstaltete daraufhin eine Sammlung in der Gemeinde von Karthago, die 100.000 Sesterzen für den Loskauf der Gefangenen erbrachte. Der die Übersendung dieser Mittel begleitende Brief Cyprians markiert in instruktiver Weise die theologischen Begründungszusammenhänge für das diakonische Handeln des karthagischen Bischofs. Cyprianus entbietet den Brüdern Januarius, Maximus, Proculus, Victor, Modianus, Nemesianus, Nampulus und Honoratus seinen Gruß. Mit tiefem Seufzen aus dem Grund unseres Herzens und nicht ohne Tränen haben wir, teuerste Brüder, euer Schreiben gelesen, das ihr in eurer besorgten Liebe über die Gefangennahme unserer Brüder und Schwestern an uns gerichtet habt. Denn wen sollten derartige Unglücksfälle nicht betrüben, oder wer sollte den Schmerz des Bruders nicht als seinen eigenen betrachten, da doch der Apostel Paulus spricht und sagt: „Wenn ein Glied leidet, leiden auch die übrigen Glieder mit, und wenn ein Glied sich freut, so freuen sich mit ihm auch die übrigen?“1 Und an einer anderen Stelle sagt er: „Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach?“2 Daher müssen auch wir jetzt die Gefangenschaft der Brüder als die unsrige ansehen und den Schmerz der Gefährdeten als unseren Schmerz betrachten; denn wir sind ja doch zu einem Leib vereinigt, und nicht nur die Liebe, sondern auch die Frömmigkeit muss uns dazu anspornen und stärken, die Glieder der Brüder loszukaufen. Denn da der Apostel Paulus abermals sagt: „Wisset ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und dass der Geist Gottes in euch wohnt?“,3 so müsste man, selbst wenn die Liebe noch nicht genügend zur Hilfeleistung für die Brüder antreibe, in diesem Falle bedenken, dass es Tempel Gottes sind, die man gefangen nahm und dass wir es nicht durch langes Zaudern und durch Mitleidlosigkeit zulassen dürfen, dass Gottes Tempel lange in Gefangenschaft schmachten, sondern dass wir mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften darauf hin1
1Kor 12,26. 2Kor 11,29. 3 1Kor 3,16. 2
Brief an numidische Bischöfe
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arbeiten und schleunigst dafür sorgen müssen, dass wir uns bei Christus, unserem Richter, Herrn und Gott, Verdienste erwerben. Denn da der Apostel Paulus sagt: „Ihr alle, die ihr in Christus getauft seid, habt Christus angezogen,“4 so müssen wir in unseren gefangenen Brüdern Christus erblicken5 und ihn, der uns aus der Gefahr des Todes erlöst hat, aus der Gefahr der Gefangenschaft befreien. Ihn also, der uns aus dem Rachen des Teufels herausgezogen hat, der jetzt selbst in uns bleibt und wohnt, ihn müssen wir den Händen der Barbaren entreißen und durch eine Geldsumme auslösen, wie er uns durch sein Blut am Kreuze erlöst hat. Denn dies lässt er einstweilen nur deshalb geschehen, um unseren Glauben zu prüfen und zu sehen, ob ein jeder für seinen Nächsten das tut, was er für sich getan wissen möchte,6 wenn er selbst bei den Barbaren gefangen gehalten würde. Muss denn nicht jeden das Gefühl der Menschlichkeit daran erinnern und die gegenseitige Liebe dazu ermahnen, jetzt in ihnen dort, wenn er Vater ist, seine Söhne zu erblicken, wenn er Gatte ist, sich voll Schmerz und voll ehelicher Liebe vorzustellen, die eigene Gattin schmachte dort in der Gefangenschaft? Mit welcher gemeinsamen Trauer und Qual muss uns alle gar erst die Gefahr der Jungfrauen erfüllen, die dort gefangen gehalten werden! Sie sind ja nicht nur wegen des Verlustes der Freiheit, sondern auch der Ehre zu beklagen und nicht so sehr deshalb zu beweinen, weil die Barbaren sie in Fesseln legen, als darum, weil sie der Unzucht von Kupplern und Buhlerinnen ausgesetzt sind und ihre Christus geweihten und durch die Tugend der Keuschheit zur ewigen Ehre der Enthaltsamkeit bestimmten Glieder durch die Berührung lüsterner Wüstlinge befleckt werden. Dies alles haben unsere Brüder hier auf Grund eures Schreibens bedacht und mit Schmerz erwogen, und so haben sie alle freudig, gern und reichlich Geldspenden für ihre Brüder zusammengebracht. Dank ihrer Glaubensstärke sind sie ja immer zu guten Werken zur Ehre Gottes bereit; jetzt aber hat sie der Anblick eines solchen Schmerzes noch mehr zu heilbringender Wohltätigkeit entflammt. Denn wenn der Herr in seinem Evangelium sagt: „Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht“7, wieviel reicheren Lohn wird er uns dann für unser Almosen verheißen mit den Worten: „Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich losgekauft.“ Und wenn er von neuem sagt: „Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich besucht“8, wieviel mehr bedeutet es dann, wenn er dereinst am Tage des Gerichtes 4
Gal 3,27. Vgl. Mt 25,36.43f. 6 Vgl. Mt 7,12. 7 Mt 25,36. 8 Ebd. 5
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Brief an numidische Bischöfe
sprechen wird: „Ich bin im Kerker der Gefangenschaft gewesen und lag eingeschlossen und gefesselt da, und ihr habt mich aus jenem Kerker der Knechtschaft befreit.“ Da wir also vom Herrn den Lohn empfangen werden, danken wir euch herzlich, dass ihr uns an eurer Sorge und an einem so guten und notwendigen Liebeswerk habt teilnehmen lassen und uns ein fruchtbares Ackerland dargeboten habt, auf das wir die Samenkörner unserer Hoffnung ausstreuen können in Erwartung der Ernte und der reichen Früchte, die aus diesem himmlischen und heilbringenden Werke hervorsprießen. Wir senden euch hunderttausend Sesterzen, die hier in der Kirche, die wir nach Gottes Gnade zu leiten haben, durch eine Sammlung unter unserem Klerus und unserer Gemeinde aufgebracht worden sind. Diese Summe mögt ihr dort mit der euch eigenen Gewissenhaftigkeit verteilen. […] Damit ihr aber unserer Brüder und Schwestern, die zu diesem so notwendigen Liebeswerk bereitwillig und gerne beigetragen haben, wie sie das stets tun werden, in euren Gebeten auch gedenken und ihnen bei den Opfern und gebeten euch dankbar erweisen könnt, füge ich unten ihre Namen einzeln bei. […] Wir wünschen euch, teuerste Brüder, stetes Wohlergehen in dem Herrn. Gedenket unser! Quelle: 62. Brief. Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Briefe. Aus dem Lateinischen übersetzt von Julius Baer, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 60, München 1928, 251–254.
43. Cyprian: Über gute Werke und Almosen (um 255) Cyprians zwischen 253 und 256 verfasste Schrift Über gute Werke und Almosen (De opere et eleemosynis) kann als westliches, lateinisches Gegenstück zum Traktat des Klemens von Alexandrien „Welcher Reiche wird gerettet werden?“ (s. Text 36) gelten. Dabei treten bei Cyprian die philosophischen Argumentationszüge, die für Clemens kennzeichnend sind, zugunsten biblischer Bezüge zurück. Zugleich wird bei Cyprian der Verdienstgedanke des Almosens sehr viel stärker zur Geltung gebracht. Der Traktat ruft die Gläubigen dazu auf, ihr durch die Taufe übertragenes neues Leben verantwortlich zu gestalten. Er ist insbesondere an die Reichen gerichtet, die in den Armen die bedürftigen Glieder Christi sehen und von der Gier nach Reichtum und der Sorge um den Verlust ihres Besitzes befreit werden sollen. 1. In der Wohltätigkeit hat uns der gütige Gott ein Mittel gegeben zur Sicherung unseres Heils. Zahlreich und groß, liebste Brüder, sind die göttlichen Wohltaten, in denen die reiche und überschwängliche Güte Gottes des Vaters und Christi sich zu unserem Heile wirksam erwiesen hat und noch stets erweist, indem zu unserer Erhaltung und Wiederbelebung der Vater seinen Sohn sandte, um uns erlösen zu können, und indem der Sohn sein und des Menschen Sohn heißen wollte, um uns zu Gottes Kindern zu machen. Er hat sich erniedrigt, um das Volk, das zuvor daniederlag, wieder emporzurichten, er ließ sich knechten, um die Geknechteten zur Freiheit zu führen, er erlitt den Tod, um den Sterblichen die Unsterblichkeit zu verleihen. Zahlreich und groß sind diese Gaben der göttlichen Barmherzigkeit. Aber was ist das erst für eine große Fürsorge und Güte, dass für uns in heilsamer Weise Sorge getragen und für die Bewahrung des Menschen, der erlöst worden ist, noch ganz besondere Vorkehrung getroffen wird! Denn nachdem der Herr bei seiner Ankunft jene Wunden, die Adam getragen hatte, geheilt und das alte Gift der Schlange unschädlich gemacht hatte, gab er dem Geheilten ein Gesetz und gebot ihm, fernerhin nicht mehr zu sündigen, damit ihm, dem Sünder, nicht etwas Schlimmeres widerfahre.1 Eingezwängt waren wir und in die Enge getrieben durch die Vorschrift der Unsträflichkeit. Und die Schwäche und Ohnmacht der menschlichen Gebrechlichkeit wüsste sich nicht zu helfen, wenn nicht abermals die göttliche Liebe zur Hilfe käme und durch den Hinweis 1
Joh 5,14.
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Über gute Werke und Almosen
auf die Werke der Gerechtigkeit2 und Barmherzigkeit uns gewissermaßen einen Weg zur Sicherung des Heils eröffnete, um nachträglich all den Schmutz, mit dem wir uns bedecken, durch Almosen abzuwaschen. 2. Wie die Taufe uns von den alten Sünden gereinigt hat, so vermögen wir nach Gottes Wort durch gute Werke die neu hinzukommenden Sünden abzuwaschen. In der Schrift spricht der Heilige Geist und sagt: „Durch Almosen und Treue werden die Vergehen gereinigt“3. Natürlich nicht jene Vergehen, die vorher schon begangen waren; denn diese werden durch Christi Blut und Heiligung gereinigt. Ebenso sagt er wiederum: „Wie Wasser das Feuer löscht, so wird Almosen die Sünden auslöschen“4. Auch hier wird gezeigt und bestätigt, dass ebenso, wie durch das Bad des heilbringenden Wassers das Feuer der Hölle gelöscht wird, durch Almosen und gerechte Werke auch die Flamme der Sünden sich ersticken lässt. Und weil schon einmal in der Taufe Vergebung der Sünden gewährt wird, so möge beständige und unablässige Mildtätigkeit geradeso wie die Taufe wiederum Gottes Gnade spenden. Dies lehrt auch der Herr im Evangelium. Denn als gegen seine Jünger der Vorwurf erhoben wurde, dass sie äßen, ohne vorher die Hände gewaschen zu haben,5 da antwortete er und sagt: „Wer geschaffen hat, was inwendig ist, hat auch geschaffen, was außen ist. Gebt vielmehr Almosen und seht, alles ist euch rein!“6 Damit wollte er natürlich lehren und zeigen, dass man nicht die Hände, sondern das Herz waschen und dass man viel mehr inwendig als äußerlich den Schmutz beseitigen müsse, dass aber derjenige, der gereinigt habe, was inwendig ist, auch sein Äußeres gesäubert hat und damit der Reinigung des Herzens auch an Haut und Körper rein geworden ist. Indem er aber des Weiteren mahnte und zeigte, wodurch wir lauter und rein werden können, fügte er noch hinzu, man müsse Almosen spenden. Er, der Barmherzige, mahnt, Barmherzigkeit zu üben, und weil er die zu bewahren sucht, die er teuer erkauft hat, so lehrt er, dass diejenigen, die sich nach dem Empfang der Taufgnade wieder beschmutzt haben, von neuem gereinigt werden können. […] 2
„Justitia“ [Gerechtigkeit], in Bibelstellen [z.B. 2Kor 9,10] vielfach im Sinne von Wohltätigkeit aufgefasst und mit diesem Worte auch übersetzt, wird von Cyprian doch mehr in wörtlicher Bedeutung genommen: Da alle irdischen Güter der ganzen Menschheit gemeinsam gehören, so ist es nur ein Akt der „Gerechtigkeit“, wenn der Reiche an seinen ärmeren Mitmenschen von seinem Überfluss abgibt. 3 Spr 16,6. 4 Sir 3,30 (33). 5 Mt 15,2; Mk 7,2; Lk 11,38. 6 Lk 11,40.
Über gute Werke und Almosen
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25. Wenn wir nach dem Vorgang der ersten Christen unablässig nach allen Seiten Gutes tun, erfüllen wir den Willen Gottes, der die gleichmäßige Verteilung der irdischen Güter wünscht. Bedenken wir nur, geliebteste Brüder, was zur Zeit der Apostel das Volk der Gläubigen geleistet hat, als gerade in den Anfängen das Herz noch in größeren Tugenden sich lebendig zeigte, als der Glaube der Frommen noch in frischer Glaubenswärme glühte! Sie verkauften damals Haus und Hof und gaben den Erlös gern und freigiebig zur Verteilung unter die Armen den Aposteln hin, indem sie nach dem Verkauf und der Veräußerung ihres irdischen Besitzers ihre Güter dorthin verlegten, wo sie Früchte ewigen Besitzes ernten, indem sie sich dort Häuser erwarben, wo sie für immer Wohnungen nehmen sollten. Ebenso groß wie die Eintracht in der Liebe war damals der Reichtum an guten Werken, wie wir in der Apostelgeschichte lesen: „Die Schar derer aber, die gläubig geworden waren, lebte eines Herzens und Sinnes, und es gab keinen Unterschied unter ihnen, und sie hielten nichts von den Gütern, die sie besaßen, für ihr Eigentum, sondern es war ihnen alles gemeinsam“7. Das heißt kraft der geistlichen Geburt in Wahrheit ein Kind Gottes werden, das heißt nach dem himmlischen Gesetze das gleichheitliche Verfahren Gottes des Vaters nachahmen. Denn alles, was von Gott kommt, dient uns allen gemeinsam zu Gebrauche, und niemand ist von seinen Wohltaten und Gaben ausgeschlossen, sondern das ganze Menschengeschlecht hat sich der göttlichen Güte und Freigebigkeit in gleicher Weise zu erfreuen. So leuchtet der Tag, so strahlt die Sonne, so strömt der Regen, so weht der Wind für alle ohne Unterschied, die Schlafenden haben einen und denselben Schlummer, und der Glanz der Sterne und des Mondes leuchtet allen gemeinsam. Der Besitzer also, der auf Erden nach diesem Vorbild der Gleichheitlichkeit seine Einkünfte und Erträgnisse mit seinen Brüdern teilt, ahmt Gott den Vater nach, indem er in seinen freiwilligen Spenden die Gleichheit wahrt und Gerechtigkeit übt. 26. Wie dem Christen in den Zeiten der Verfolgung die rote Märtyrerkrone winkt, so gilt es im Frieden, durch Almosen und gute Werke die weiße Siegeskrone zu gewinnen. Was wird das, liebste Brüder, für eine Herrlichkeit sein für die Wohltätigen, welch große und erhabene Freude, wenn der Herr damit beginnen wird, sein Volk zu mustern, unseren Verdiensten und guten Werken die verheißenen Belohnungen zuzuweisen und für das Irdische Himmlisches, für das Zeitliche Ewiges, für das Kleine Großes zu gewähren, wenn er beginnt, uns dem Vater darzustellen, dem er uns 7
Apg 4,32.
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Über gute Werke und Almosen
durch seine Heiligkeit wiedergegeben, die Ewigkeit und die Unsterblichkeit uns zu spenden, die er für uns durch sein Leben spendendes Blut wiedergewonnen hat, uns von neuem zum Paradies zurück zu führen und nach der Gewissheit und der Wahrheit seiner Verheißung uns das Himmelreich zu eröffnen. Dies lasst fest in unserem Sinne haften, dies lasst uns mit vollem Glauben erkennen, dies von ganzem Herzen lieben, dies durch hochherziges, unablässiges Wohltun erkaufen! Etwas Herrliches und Göttliches, liebste Brüder, ist heilbringende Wohltätigkeit, ein starker Trost der Gläubigen, ein heilsamer Hort unserer Sicherheit, ein Bollwerk der Hoffnung, ein Schutz des Glaubens, ein Heilmittel gegen die Sünde; eine Sache, die ganz in der Macht des Einzelnen steht, eine Sache, erhaben und doch leicht zugleich, frei von der Gefahr der Verfolgung, die Krone des Friedens, der wahre und größte Gottesdienst, notwendig für die Schwachen, ruhmvoll für die Starken, ein Gottesdienst, mit dessen Hilfe der Christ die geistliche Gnade erlangt, mit dem er Christus als huldvollen Richter gewinnt und Gott zu seinem Schuldner macht. Nach dieser Palme heilsamer Werke lasst uns gerne und willig streben, bei dem Wettkampf in der Gerechtigkeit unter den Augen Gottes und Christi wollen wir alle als Läufer teilnehmen und uns in unserem Lauf durch keine zeitliche und weltlich Begierde hemmen lassen, nachdem wir bereits angefangen haben, über Zeit und Welt erhaben zu sein! Wenn uns der Tag der Vergeltung oder der Verfolgung gerüstet, wenn er uns behend, wenn er uns als Läufer bei diesem Wettkampf in guten Werken findet, dann wird es der Herr auf keinen Fall unseren Verdiensten am Lohne fehlen lassen. Im Frieden wird er den Siegern für ihre guten Werke die weiße Krone verleihen, in der Verfolgung aber wird er ihnen für ihr Leiden die purpurne [Krone] noch dazu reichen. Quelle: Caecilius Cyprianus, Über gute Werke und Almosen (De opere et eleemosynis), in: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtliche Schriften, Bd. 1: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Traktate. Des Diakons Pontius Leben des hl. Cyprianus. Aus dem Lateinischen übersetzt von Julius Baer, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 34, Kempten/München 1918, 258–284: 258–261; 282–284.
44. Pontius: Das Verhalten Cyprians und seiner Gemeinde in den Zeiten der Pest (um 260) Die Vita et passio Cypriani ist die älteste christliche Biographie. Verfasst wurde sie vermutlich unmittelbar nach Cyprians Tod im Jahr 258 – mit großer Wahrscheinlichkeit von Pontius, einem Kleriker, der mit Cyprian das Schicksal der Verbannung teilte. Die Darstellung des Lebens und Sterbens Cyprians ist im Stil einer Lobrede gehalten und verfolgt das pädagogische Ziel, den künftigen Christen ein „unvergleichliches und großartiges Vorbild“ vor Augen zu stellen. Zugleich wird Cyprian in apologetischer Weise gegen die Vorwürfe verteidigt, die dem karthagischen Bischof wegen dessen Flucht in der Christenverfolgung unter Decius gemacht worden sind. Pontius berichtet auch über das eindrückliche soziale Engagement Cyprians während der Pest, die von 252 bis 254 in Karthago besonders stark wütete. Der Bischof floh in dieser Situation nicht wie viele andere, sondern organisierte die Pflege und Versorgung der Erkrankten ohne Rücksicht auf deren Religions- und Kirchenzugehörigkeit. 9. […] Später brach dann die schreckliche Pest aus, und die verheerende, grässliche Seuche raffte tagtäglich unzählige Menschen, jeden an seinem Ort, in plötzlichem Anfall hinweg und ergriff der Reihe nach die Häuser der zitternden Menge, eines nach dem anderen. Voll Angst flüchtete alles und suchte der Ansteckung zu entgehen; die eigenen Angehörigen setzte man lieblos aus, gleich als ob man mit dem todgeweihten Pestkranken auch den Tod selbst vertreiben könnte. Mittlerweile lagen in der ganzen Stadt schon Haufen von Menschen oder vielmehr schon Leichen auf der Straße und forderten das Mitleid der Vorübergehenden heraus durch die Betrachtung des gemeinsamen Loses. Niemand sah auf etwas anderes als auf grausamen Gewinn; niemand ließ sich durch den Gedanken beruhigen, dass ein ähnliches Geschick ihn treffen könne; niemand handelte an dem Nächsten so, wie er selbst gewünscht hätte, behandelt zu werden.1 Es wäre ein Verbrechen, davon zu schweigen, was unter solchen Umständen Christi und Gottes Hohepriester geleistet hat, der die Hohepriester dieser Welt ebenso weit durch seine Nächstenliebe wie durch seine wahre Religion übertraf. Zuerst versammelte er das Volk und hielt ihm den reichen Segen der Barmherzigkeit vor Augen. Er belehrte es an Beispielen aus der göttlichen 1
Vgl. Mt 7,12.
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Das Verhalten Cyprians und seiner Gemeinde
Schrift, wieviel die Übung der Nächstenliebe dazu beitrage, sich bei Gott Verdienste zu erwerben. Sodann fügte er noch hinzu, es sei nichts Wunderbares, wenn wir nur den Unsrigen die schuldigen Liebesdienste erwiesen; denn nur der könne vollkommen werden, der irgendwie mehr tue als der Zöllner und Heide, der Böses mit Gutem überwinde und nach dem Vorbilde der göttlichen Gnade auch seine Feinde liebe und der nach der Mahnung und Aufforderung des Herrn für das Wohl seiner Verfolger bete.2 […] 10. Noch vieles andere, und zwar Großes gäbe es zu berichten, aber die Rücksicht auf den Umfang der Schrift gestattet es nicht, näher darauf einzugehen. Die eine Bemerkung darüber mag genügen: Die Heiden wären vielleicht sofort gläubig geworden, wenn sie seine Worte von der Rednertribüne herab hätten hören können. Was hatte also die christliche Gemeinde zu tun, die ihren Namen nach ihrem Glauben hat? Nun, es wurde sofort jedem Einzelnen je nach den persönlichen Verhältnissen und nach dem Stande seine Dienstleistung zugewiesen. Viele, die wegen ihrer eigenen Armut kein Geld aufwenden konnten, leisteten mehr als Geldopfer, indem sie selbst Hand anlegten und so Dienste leisteten, wertvoller als aller Reichtum. Und wer hätte unter einem so tüchtigen Lehrer sich nicht beeilen sollen, irgendeine Stelle in einem solchen Kriegsdienst zu finden, um darin Gott, dem Vater, und Christus, dem Richter, und vorerst dem Priester zu gefallen? So tat man also in verschwenderischem Überfluss gute Werke an allen, nicht nur an den Glaubensgenossen.3 […] Quelle: Leben des Cäcilius Cyprianus von Pontius, in: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtliche Schriften, Bd. 1: Des heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus Traktate. Des Diakons Pontius Leben des hl. Cyprianus. Aus dem Lateinischen übersetzt von Julius Baer, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 34, Kempten/ München 1918, 1–32: 18–20.
2 3
Vgl. Mt 5,44–48. Vgl. Gal 6,10.
45. Apostolische Kirchenordnung (Ende 3. Jahrhundert) Die Apostolische Kirchenordnung, die auch unter den Titeln „Die kirchliche Konstitution der Apostel“ und „Apostolische Konstitutionen“ bekannt ist, ist wohl Ende des dritten Jahrhunderts entstanden. Als Entstehungsort wird zumeist Ägypten angenommen. Der Verfasser ist unbekannt. Die Ordnung gibt sich als Protokoll einer Zusammenkunft der Apostel. Die Anordnungen werden reihum den Aposteln zugeteilt. Inhaltlich knüpft die Kirchenordnung stark an die Didache (s. Text 26) an. Die Anpassung an die Verhältnisse um die Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert wird dadurch legitimiert, dass sie unter die apostolische Autorität gestellt wird. Mehr als die früheren Kirchenordnungen kann die Apostolische Kirchenordnung als Kirchenverfassung verstanden werden, insofern auf eine ausführliche Präambel allgemein gehaltene kirchenrechtliche Artikel folgen, die die Gemeindestrukturen in der „katholischen“, d.h. allgemeinen Kirche vereinheitlichen wollen. Auffällig ist schließlich, dass die kirchenrechtlichen Regelungen in detaillierter Weise biblisch begründet werden. Die Kirchenordnung umfasst zwei Teile: Die Einleitung enthält die Liste der Apostel, die bei der fiktiven Synode präsent sind, und eine Beschreibung des Weges zum Leben. Der zweite Teil, aus dem die folgenden Abschnitte stammen, beinhaltet kirchenrechtliche Bestimmungen, die sich insbesondere auf die hierarchische Stellung und die jeweiligen Aufgaben des Bischofs, der Presbyter, der Diakone und Diakoninnen sowie die Vergabe der Almosen beziehen. Überdies thematisiert die Apostolische Kirchenordnung die Praxis des Totengedenkens. Die Ordnung strukturiert das Totengedenken und schreibt vor, dass zur Erinnerung an den Verstorbenen aus dessen Vermögen die Armen beschenkt werden. Zugleich ruft die Kirchenordnung zur Mäßigkeit bei den Totenmählern auf. Die Beziehung von Memoria und Diakonia gewann vor allem im Mittelalter hohe soziale Bedeutung (s. Texte 86; 119; 123). Zweites Buch: Von dem Klerus. […] 26. Die geistliche Würde ist so erhaben, dass der Bischof, der Diakon und die Diakonissin mit den drei göttlichen Personen, die Priester mit den Aposteln verglichen werden können. Der Bischof ist des Wortes Diener, Wächter der Wissenschaft, Mittler zwischen Gott und euch in seinen gottesdienstlichen Verrichtungen,
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Apostolische Kirchenordnung
Lehrer der Frömmigkeit, nächst Gott euer Vater, der durch Wasser und Geist euch zur Kindschaft wiedergeboren hat. Dieser ist euer König und Herr. Dieser ist nächst Gott euer irdischer Gott, welchem ihr Ehre zu erweisen schuldig seid. Denn von diesem und ihm Gleichen spricht Gott: „Ich habe gesagt: Ihr seid Götter und Söhne des Allerhöchsten alle“1, und: „Die Götter sollst du nicht schmähen.“2 Denn der Bischof soll euch vorstehen gleichsam mit göttlicher Würde geschmückt; deshalb herrscht er über den Klerus und regiert alles Volk. Der Diakon aber steht diesem zur Seite, wie Christus dem Vater, und leistet ihm Dienste, in allem unbescholten wie Christus, der nichts aus sich selbst tat, der allezeit tat, was dem Vater wohlgefällig. Die Diakonissin werde von euch nach Art des Heiligen Geistes geehrt; sie tut und redet nichts ohne den Diakon, gleichwie auch der Paraklet von sich nichts redet oder tut, sondern Christus verherrlichend erwartet sie seinen Willen, und wie niemand an Christus glaubet ohne Eingebung des Heiligen Geistes, so soll kein Weib ohne die Diakonissin vor den Diakon oder den Bischof treten. Die Presbyter betrachtet als unsere (der Apostel) Stellvertreter; sie sind die Lehrer der Wissenschaft Gottes, wie auch der Herr bei unserer Sendung sprach: „Gehet hin, lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des hl. Geistes!“3 Die Witwen und Waisen4 sollen von euch nach Art des Opferaltares gehalten werden, die Jungfrauen sollen wie Rauchfass und Rauchwerk geehrt sein. […] Drittes Buch: Von den Witwen. […] 4. Der Bischof soll alle Hilfsbedürftigen unterstützen. Was dann, wenn Dürftige nicht im Witwenstande sind, aber der Not wegen oder wegen Krankheit oder wegen Kindererziehung der Hilfe bedürfen? Du musst auf alle Dürftigen Bedacht nehmen und für alle Sorge tragen. Denn die, welche Gaben spenden, geben sie nicht geradehin den Witwen, sondern sie legen dieselben in einen Behälter zusammen und nennen dies freiwillige Gaben, damit du, der du die Bedrängten kennst, genau wie ein guter Haushälter ihnen von den Gaben mitteilst; denn Gott kennt den Geber, wenn er auch selbst nicht anwesend ist, während du an den Armen austeilst, und der Arme wird den Vorteil deiner Mildtätigkeit genießen, du aber das Lob gewissenhafter Verwaltung. Sag‘ aber auch den Dürftigen, wer ihnen geholfen, 1
Ps 82,6. Ex 22,28. 3 Mt 28,19. 4 Vgl. u.a. Ex 22,21. 2
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damit sie auch namentlich für ihn beten. Allen Menschen muss man Gutes tun, ohne abzuwägen, wer dieser oder jener sei, denn der Herr sagt: „Jedem, der dich bittet, gib“,5 d.h. wenn er wahrhaft dürftig ist, sei er Freund oder Feind, Verwandter oder Fremdling, ledig oder verheiratet. Denn in der ganzen Schrift gibt der Herr Ermahnungen zu Gunsten der Armen und zwar durch Isaias: „Brich dem Hungrigen dein Brot, Arme und Herberglose führ‘ in dein Haus; wenn du einen Nackten siehst, so kleide ihn und verachte dein Fleisch nicht.“6 Und durch Daniel spricht er zum Fürsten: „Darum, o König, lass dir meinen Rat gefallen, mach‘ dich los von deinen Sünden durch Almosen, von deinen Missetaten durch Barmherzigkeit gegen die Armen, so wird er vielleicht deine Sünden verzeihen.“7 Und durch Salomon sagt er: „Durch Barmherzigkeit und Treue wird man gereinigt von Sünden,“8 und wieder durch David spricht er: „Selig ist, der des Armen und Dürftigen gedenkt; am Tage des Unglücks wird ihn erretten der Herr;“9 „er streuet aus, gibt den Armen, seine Gerechtigkeit bleibt ewig, sein Horn wird erhöhet in Ehren.“10 Auch Salomon sagt: „Wer sich des Armen erbarmet, der leihet aus Wucher dem Herrn, und er wird’s ihm hinwiederum vergelten,“11 und: „Wer sein Ohr verstopft vor dem Schreien des Armen, der wird auch rufen, aber nicht erhört werden.“12 […] Viertes Buch: Von den Waisen. […] 3. Von den hilfsbedürftigen Personen. Hat ja auch unser Herr den Geber glücklicher gepriesen als den Empfänger,13 und ein andersmal sprach er: Wehe denen, welche haben und in Verstellung empfangen, aber welche unterstützt werden wollen, obgleich sie selbst sich in günstigen Verhältnissen befinden; denn beide werden Gott dem Herrn Rechenschaft geben am Tage des Gerichtes. Wer aber als Waise oder wegen Altersschwäche oder wegen Krankheit oder wegen Nahrungssorgen bei vielen Kindern Gaben in Empfang nimmt, ein solcher wird nicht nur nicht getadelt, sondern auch gelobt werden; denn da er als Altar für Gott erachtet ist, so wird 5
Lk 6,30. Jes 58,7. 7 Dan 4,24. 8 Spr 15,27. 9 Ps 41,2. 10 Ps 112,9. 11 Spr 19,17. 12 Spr 21,13. 13 Apg 20,35. 6
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er auch von Gott geehrt werden; er wird anhaltend für seine Wohltäter beten, sich nicht dem Müßiggange ergeben, sondern, so viel an ihm ist, die Gabe durch Gebet vergelten. Ein solcher wird im ewigen Leben von Gott seliggepriesen werden; wer aber das Nötige besitzt und in Heuchelei Gaben annimmt, während er von dem Seinigen andern mitteilen könnte, der wird Strafe von Gott sich erwirken, weil er das Brot der Armen geraubt hat. […] Achtes Buch: Von den Gnadengaben; Liturgie des Opfers, der heiligen Weihen und des Stundengebetes; kirchliche Canonen 19. Weihe der Diakonissin; Konstitution des Bartholomäus. Bezüglich der Diakonissin verordne ich, Bartholomäus, dass ihr der Bischof im Beisein des Priestertums, der Diakonen und Diakonissinnen die Hände auflege und spreche: 20. Anrufung bei Weihe der Diakonissin. Ewiger Gott, Vater unsers Herrn Jesu Christi, Schöpfer des Mannes und Weibes! Der du Maria,14 Debora,15 Anna16 und Hulda17 mit dem hl. Geiste erfüllt hast, der du es nichtverschmähtest, deinen eingeborenen Sohn aus einem Weibe geboren werden zu lassen, der du im Zelte des Zeugnisses und am Tempel Frauen aufgestellt hast als Wächterinnen deiner hl. Tore: sieh auch jetzt auf diese zu deinem Dienste auserwählte Dienerin und verleihe ihr den hl. Geist; reinige sie von jeder Befleckung des Fleisches und Geistes, damit sie das ihr übertragene Amt würdig verwalte zu deiner Ehre und zum Lobe Christi, mit welchem dir und dem hl. Geiste Ehre und Anbetung sein in Ewigkeit. Amen. […] 42. Wie und wann das Gedächtnis der Verstorbenen zu feiern sei; und dass aus ihrer Hinterlassenschaft die Armen zu beschenken seien. Für die Verstorbenen soll der dritte Tag gefeiert werden, in Psalmen, Lesungen und Gebeten, mit Rücksicht auf den, welcher am dritten Tag auferstanden ist; desgleichen der neunte zur Erinnerung für die Lebenden und Verstorbenen; und auch der vierzigste Tag, gemäß des alten Vorbildes, denn in solcher Weise trauerte das Volk um Moses;18 endlich der Jahrestag zum Gedächtnis des Verstorbenen selbst. Aus seinem Vermögen aber sollen die Armen beschenkt werden. 14
Ex 15,20. Ri 4,4. 16 Lk 2,36. 17 2Kön 22,14. 18 Vgl. Dtn 34,8. 15
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43. Denen, welche als Gottlose aus dem Leben scheiden, nützt kein Gedächtnis oder Empfehlungsschreiben. Das Gesagte gilt nur bezüglich der Frommen; denn was die Gottlosen betrifft, magst du auch alle Güter der Welt den Armen gegeben haben, so wirst du den Gottlosen nicht die geringste Hilfe leisten. Denn wem im Leben die Gottheit feind war, dem ist sie es auch offenbar im Tode: Bei Gott ist keine Ungerechtigkeit,19 denn „gerecht ist der Herr und liebt Gerechtigkeit.“20 Und: „Siehe der Mensch und sein Werk.“21 44. Von der Unmäßigkeit bei Totenmahlen. Eingeladen sollt ihr bei den Gedächtnissen der Verstorbenen mit Mäßigkeit und Gottesfurcht essen, damit ihr auch für diejenigen beten könnt, welche aus dem Leben geschieden. Die ihr Priester und Diakone Christi seid, ihr sollt immer nüchtern sein, sowohl eurer als anderer wegen, damit ihr diejenigen, welche unmäßig leben, ermahnen könnt. Denn also spricht die Schrift: „Die Mächtigen sind zum Zorn geneigt! Wein sollen sie nicht trinken, damit sie nicht betrunken die Weisheit vergessen und nicht Recht schaffen können.“22 Und fürwahr die Priester und Diakone sind nach Gott dem Allmächtigen und seinem geliebten Sohne die Mächtigen und Machthaber der Kirche. Dieses aber sagen wir nicht, dass sie gar keinen Wein trinken sollen, denn sonst würden sie dem, was Gott geschaffen hat zur Freude, Unehre antun; aber betrinken sollen sie sich nicht. […] Quelle: Die sogenannten Apostolischen Constitutionen u[nd] Canonen, aus dem Urtext übersetzt von Ferdinand Boxler, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Serie, Bd. 19, Kempten 1874, 17–334: 68–291: 68f.; 113f.; 131f.; 291; 306–308.
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Vgl. Joh 7,18. Ps 11,7. 21 Jes 62,11. 22 Spr 31,4. 20
46. Eusebius von Caesarea: Kirchengeschichte (um 300) Eusebius wurde um 264 geboren. Er verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Caesarea (Palästina). Als Schüler seines Lehrmeisters Pamphilus war er an der Sicherung und Aufarbeitung des Nachlasses von Origenes beteiligt. Während der diokletianischen Verfolgung (303– 313) hielt sich Euseb in Tyrus und Ägypten auf. 313 wurde er zum Bischof von Caesarea geweiht. Umstritten war Eusebs Position im arianischen Streit, der 318 ausbrach und in dem es um die Frage der Zuordnung Jesu Christi zu Gott ging. Euseb wurde durch die Reichssynode von Nicäa (325) rehabilitiert. Er starb um 340. Euseb gilt als erster Historiker der Kirche. Sein wichtigstes Werk ist die 10 Bücher umfassende „Kirchengeschichte“. Er zeichnet die Geschichte der Kirche von den Anfängen bis zur sog. Konstantinischen Wende nach. Als chronologisches Strukturelement wählt er die Regierungszeit eines Kaisers oder Bischofs, um in diesem Rahmen jeweils geschichtliche Entwicklungen und Ereignisse sowie die Charakteristik christlicher Lehrer und Häretiker darzustellen. Eusebs Darstellung fußt auf Quellenmaterial, das ihm vor allem in den umfangreichen Bibliotheken Caesareas, aber auch Jerusalems, zur Verfügung stand. Seine Geschichtstheologie konzentriert sich auf die Gestaltwerdung der Kirche Christi in Geschichte und Gegenwart. Die geschichtlichen Entwicklungen laufen auf Kaiser Konstantin zu. In ihm sieht Euseb den idealen Herrscher, der als Werkzeug Gottes dazu berufen war, das Evangelium in aller Welt auszubreiten, die Kirche zur Entfaltung zu bringen und die Einheit des Reiches mit Hilfe der Kirche wiederherzustellen. Die abschließende Fassung der Kirchengeschichte ist das Ergebnis eines Prozesses stetiger Umarbeitung und Erweiterung. Vermutlich ist die erste Fassung der Bücher 1–7 vor 303 erschienen. Die Bücher 8–10 kamen wohl nach der ersten Phase der Verfolgung 311 (Buch 8) und später hinzu. Im Folgenden werden zwei Abschnitte dokumentiert, die diakonisch aufschlussreich sind. Beide stehen im Zusammenhang mit der Schilderung des Wirkens von Dionysius, der seit 247 Bischof von Alexandria war (ca. 190–264/5). Im Hintergrund des Abschnitts aus dem 6. Buch steht die Geschichte von Novatian, der eine rigoristische Linie gegenüber den in der Christenverfolgung unter Decius vom Glauben Abgefallenen einnahm: Er lehnte deren Wiederaufnahme in die Kirche kategorisch ab. Novatian trat in Rom 251 als Gegenbischof gegen Cornelius an und rief damit eine Spaltung der Gemeinde hervor. Die Kritik an Novatian (Novatus) verbindet sich mit Hinweisen auf die
Kirchengeschichte
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Verhältnisse der Gemeinde in Mitte des dritten Jahrhunderts. Danach war die Diakonie offenkundig gut organisiert: Sieben Diakone und sieben Subdiakone leiteten die Fürsorge für rund 1500 Witwen und Hilfsbedürftige. Der Abschnitt aus dem 7. Buch enthält Dyonisius‘ Beschreibung der Geschehnisse während der Pest in Alexandrien 251/2 und dokumentiert die durch Ansteckung bedingte lebensgefährliche Hilfe für Kranke; der Tod der Helfenden wird dem der Märtyrer gleichgestellt. Das Verhalten der Christen steht dabei in krassem Kontrast zu dem der Heiden. VI. Denn Novatus, ein Presbyter der römischen Kirche, hatte sich hochmütig gegen diese (Gefallenen) erhoben, gleich als bestünde für sie gar keine Hoffnung auf Rettung mehr, selbst dann nicht, wenn sie alles täten, was zu aufrichtiger Bekehrung und reinem Bekenntnis notwendig ist. Er wurde dadurch zum Führer jener neuen Häretiker, welche sich in geistigem Hochmut die Reinen nannten. Daher versammelte sich in Rom eine mächtige Synode von sechzig Bischöfen und einer noch größeren Zahl von Priestern und Diakonen, und berieten sich in den Provinzen die Bischöfe der verschiedenen Gegenden in besonderen Versammlungen vor, über das, was zu tun wäre. Sie fassten alle den Beschluss, Novatus mit denen, die sich mit ihm erhoben hatten, sowie die, welche seiner leiblosen und ganz unmenschlichen Anschauung beipflichten wollten, aus der Kirche auszuschließen, dagegen die Brüder, welche ins Unglück gefallen waren, mit den Arzneimitteln der Buße zu heilen und zu pflegen. […] Jener „Verteidiger des Evangeliums“ begriff also nicht, dass nur ein Bischof in einer katholischen Gemeinde sein dürfe, in der es, wie er wohl wusste – denn wie sollte er es nicht wissen? –, 46 Presbyter, sieben Diakonen, sieben Subdiakonen, 42 Akoluthen, 52 Exorzisten, Lektoren und Türwächter und über 1500 Witwen und Hilfsbedürftige gibt, welche alle die Gnade und Güte des Herrn ernährt. VII. […] Darauf fährt Dionysius also fort: „Da die meisten unserer Brüder in übermäßiger Liebe und Freundlichkeit sich selbst nicht schonten und aneinander hingen, furchtlos sich der Kranken annahmen, sie sorgfältig pflegten und ihnen in Christus dienten, starben sie gleich diesen freudig dahin, angesteckt vom Leide anderer, die Krankheit der Mitmenschen sich zuziehend, freiwillig ihre Schmerzen übernehmend. Viele mussten sogar, nachdem sie die Kranken gepflegt und wiederhergestellt hatten, selbst sterben, den Tod, der jenen bestimmt war, auf sich selber übertragend. Da handelten sie tatsächlich nach der beim Volke üblichen, stets nur als Höflichkeitsform angesehenen Redensart: ‚weggehend als ihr Auswurf‘. Auf solche Weise scheiden aus dem Leben die Tüchtigsten unserer Brüder, Presbyter,
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Diakonen und Laien. Sie genießen so hohe Ehre, dass ihr Sterben, das durch ihre große Frömmigkeit und ihren starken Glauben veranlasst ward, in keiner Weise hinter dem Tode der Märtyrer zurückzustehen scheint. Weil sie die Leiber der Heiligen auf ihre Arme und ihren Schoß nahmen, ihnen die Augen zudrückten und unter herzlichen Umarmungen nach Waschung und Bekleidung bestatteten, erfuhren sie kurz darauf dieselben Dienstleistungen, wobei die Überlebenden stets an Stelle derer traten, die vorausgegangen. Ganz anders war es bei den Heiden. Sie stießen die, welche anfingen krank zu werden, von sich, flohen vor ihren Teuersten, warfen sie halbtot auf die Straße und ließen die Toten unbeerdigt wie Schmutz liegen. So suchten sie der Verbreitung des Todes und der Gemeinschaft mit ihm zu entgehen, was jedoch trotz aller Bemühungen nicht leicht war.“ Quelle: Eusebius von Caesarea: Kirchengeschichte, hg. u. eingeleitet v. Heinrich Kraft, Kösel-Verlag, München; Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1967, VI, 43,1f.11; 312– 314. VII, 22, 7–19; 337f.
47. Brief Kaiser Julians an Arsakios, Oberpriester von Galatien (362) Flavius Claudius Julianus wurde wahrscheinlich 331 in Konstantinopel geboren, der Stadt, die Kaiser Konstantin der Große ein Jahr zuvor zur neuen Hauptstadt des Römischen Reiches gemacht hatte. Julian war ein Neffe Konstantins und ein Vetter Kaiser Constantius‘ II. Constantius II. erhob Julian am 6. November 355 zum Caesar, zum Mitregenten, und beauftragte ihn, Gallien gegen die Germanen zu verteidigen. 360 riefen ihn gallische Truppen – wohl mit seiner Zustimmung – zum Augustus aus. Nach dem Tod des Constantius II. übernahm Julian 361 die Alleinherrschaft. Er starb am 27. Juni 363 auf dem Rückzug seines Feldzugs gegen die Perser. Julian gehörte einer christlich gewordenen Familie an und war möglicherweise christlich getauft worden. Er wandte sich aber vom Christentum ab; das trug ihm von christlicher Seite den Namen Julian Apostata, d.h. der Abtrünnige, ein. Während seiner Studienaufenthalte in Pergamon, Ephesos und Athen wurde er zum dezidierten Heiden neuplatonischer Prägung und zum glühenden Feind des Christentums. Als Kaiser verfolgte er das Ziel, die von Konstantin dem Großen (270/288–337) in Gang gesetzte Begünstigung des Christentums rückgängig zu machen und erlaubte 361 wieder die Praktizierung heidnischer Bräuche und den Neubau von Tempeln. Die Christen nannte er verächtlich Galiläer. Anders als Konstantin wollte Julian das Reich mit Hilfe des alten, im Neuplatonismus restituierten Götterglaubens von innen her stabilisieren. Dabei zielte seine Religionspolitik darauf ab, die Elemente des Christentums, die zu dessen starker Ausbreitung wesentlich beigetragen hatten, weitgehend heidnisch zu kopieren. Entsprechend suchte er eine hierarchisch gegliederte heidnische „Reichskirche“ aufzubauen, der die staatlichen Subventionen, die zuvor den christlichen Kirchen zugeflossen waren – Bischöfe durften z.B. seit Konstantin die Gespanne der Staatspost benutzen –, zur Verfügung gestellt wurden. Julian verfasste das Schreiben an den Oberpriester Arsakios, den Metropoliten der heidnischen „Kirchen“-Provinz Galatien, während seines mehrmonatigen Aufenthalts in Antiochia 362/363. Der Brief dokumentiert die Maßnahmen und Reformerfordernisse, die der Kaiser als notwendig ansah, um die „hellenische Sache“, d.h. den Kult der Götter, wieder in der Gesellschaft zu verankern. Die heidnischen Priester sollten in ihrer Lebensführung auf die Würde und moralische Integrität ihres Standes achten. Sie sollten zudem der Fürsorge für Arme und Fremde besonders Rechnung tragen, denn dies hätte entschei-
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dend zur Ausbreitung des Christentums beigetragen. In Julians Fremdwahrnehmung der „gottlosen Galiläer“, der Christen, tritt die Bedeutung der „Diakonie“ für das antike Christentum deutlich hervor. Julians religionspolitisches Programm scheiterte. Sein Projekt einer heidnischen „Reichskirche“ fand kaum Resonanz und endete mit seinem Tod. Die hellenische Sache gedeiht noch nicht so, wie man es erwarten dürfte, – durch unser, ihrer Anhänger Verschulden. Denn das Walten der Götter ist glänzend und groß und gewaltiger als alles Wünschen, alles Hoffen – möge Adrasteia1 unseren Worten gnädig sein! – Bis vor kurzem wagte ja niemand, diese, in kurzer Zeit eingetretene, so bedeutende, so grundlegende Wendung auch nur sich auszumalen. Doch nun? Glauben wir denn, dass es damit genug sei, und beachten wir nicht, dass die Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die Vorsorge für die Bestattung der Toten und die vorgebliche Reinheit des Lebenswandels es waren, die im Verein miteinander die Gottlosigkeit am meisten gefördert haben? Jede dieser Tugenden, meine ich, muss von uns mit aufrichtigem Eifer geübt werden. Auch genügt es nicht, dass du allein dich so verhältst, sondern alle, die in Galatien Priester sind, müssen ohne Ausnahme ebenso handeln! Bewege sie durch Beschämung oder Überredung dazu, ihrer Pflicht mit Eifer zu genügen, oder enthebe sie ihrer priesterlichen Funktion, wenn sie nicht mit ihren Frauen, Kindern und Dienern vor die Götter hintreten, sondern es bei ihrem Hausgesinde, ihren Söhnen oder ihren galiläischen Gattinnen dulden, dass sie gegen die Götter sündigen und die Götterverachtung der Götterverehrung vorziehen. Weise denn auch mahnend darauf hin, dass ein Priester sich nicht ins Theater begeben, nicht in der Kneipe trinken und keine beschämende und verrufene Arbeit leisten soll. Die auf dich hören, zeichne aus, die nicht gehorchen wollen, stoße aus. Errichte in jeder Stadt zahlreiche Herbergen, damit die Fremden – nicht nur die zu den Unsrigen zählenden, sondern auch von den anderen jeder Bedürftige – in den Genuss der von uns geübten Menschenfreundlichkeit kommen. Maßnahmen, durch die du reichliche Mittel zur Verfügung haben wirst, sind von mir vorerst bedacht worden. Jedes Jahr, so habe ich verfügt, sollen für ganz Galatien 30.000 Scheffel Getreide und 60.000 Schoppen Wein bereitgestellt werden. Ein Fünftel davon, so ordne ich an, soll für die bei den Priestern bediensteten Armen verwendet, der Rest als unsere Gabe an die Fremden und die Bettler verteilt werden. Denn es ist eine Schmach, wenn von den Juden nicht ein einziger um Unterstützung nachsuchen muss, während 1
Göttin, die vermessenes Reden ahndet.
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die gottlosen Galiläer neben den Ihren auch noch die Unsrigen ernähren, die Unsrigen aber der Hilfe von unserer Seite offenbar entbehren müssen. Lehre die hellenisch Gesinnten auch, Beiträge zu diesen Aufgaben zu leisten, und die hellenischen Dörfer, die ersten Früchte den Göttern zu spenden, und gewöhne die hellenisch Glaubenden an derartige Werke der Wohltätigkeit, indem du sie darüber belehrst, dass dies von jeher unsere Praxis gewesen ist. Homer jedenfalls lässt den Eumaios sagen: „Fremder, nicht ist’s mein Brauch, auch wenn ein Geringerer käme, einen Gast zu verachten, von Zeus gesandt sind ja alle, Fremde und Bettler; Geringes nur biet ich, doch kommt es von Herzen“. Lassen wir es daher nicht geschehen, dass andere die uns zugehörenden guten Werke eifernd üben, während wir diese durch unsere Leichtfertigkeit selbst entwürdigen, ja die Ehrfurcht vor den Göttern von uns werfen. Sollte ich erfahren, dass du dementsprechend verfährst, so werde ich voll Freude sein. Quelle: Brief Kaiser Julians an Arsakios Oberpriester von Galatien, in: Julian. Briefe. Griechisch-deutsch, hg. Bertold K. Weis, München 1973, Nr. 39, 105–109. © Heimeran Verlag München
48. Basilius: Predigt, gehalten während Hunger und Dürre (368) Basilius von Caesarea (ca. 329/30–379), der schon zu Lebzeiten „der Große“ genannt wurde, zählt mit seinem Bruder Gregor von Nyssa (s. Text 51) und Gregor von Nazianz (s. Texte 50; 52) zu den sog. drei Kappadokiern. Den dreien waren die Herkunft aus Kappadokien (heute: Anatolien), die adlige Abstammung, der klassische Bildungsweg, die Beteiligung an den trinitarischen Streitigkeiten sowie das Drängen auf eine biblisch verantwortete Gestalt der Kirche und einer sozial ausgerichteten Lebensführung in der Nachfolge Jesu gemeinsam. Basilius entstammte einer wohlhabenden christlichen Adelsfamilie Caesareas. Er absolvierte eine Ausbildung in klassischer Bildung und Rhetorik in Caesarea, Konstantinopel und Athen. In Athen freundete er sich mit Gregor von Nazianz an und lernte den späteren Kaiser Julian (s. Text 47) kennen. Nach Abschluss seiner Studien wandte er sich – inspiriert durch Reisen nach Syrien, Mesopotamien, Palästina und Ägypten – der mönchisch-asketischen Lebensweise zu. 364 wurde er zum Presbyter in Caesarea geweiht und 370 zum Bischof von Caesarea und damit zum Metropoliten von Kappadokien gewählt. Er starb am 1. Januar 379. Vom Wirken Basilius‘ gingen vielfältige Reformimpulse aus, die sich auf die Ausgestaltung der mönchischen Bewegung, der Diakonie (s. Text 68) und der Liturgie bezogen. Sozialethisch ist für Basilius kennzeichnend, dass er das Recht auf Privateigentum grundsätzlich in Frage stellte und die Sozialbindung von Besitz und Vermögen einschärfte. Entsprechend brachte er sein privates Vermögen in die kirchliche Armenpflege ein. Er forderte schließlich ein Erbrecht mit sozialer Note, das darauf zielte, jeder Erblasser solle 50% seines Vermögens („Seelteil“) den Armen hinterlassen. Diese Impulse ergaben sich wesentlich aus seinem Konzept, das Askese und gemeinschaftliches Leben grundsätzlich verband. Koinobitisches Mönchtum und ein asketisch bescheidenes, spendenfreudiges Leben der Christen in der Kirche sollten sich ergänzen. Die Verwirklichung echten Christseins verstand Basilius als Prozess des Ähnlichwerdens (homoiosis) mit Gott. Er konturierte diesen Prozess im Kontext einer noch halb heidnischen Gesellschaft und einer schon halb verweltlichten Reichskirche. Im Jahr 368 brach in Kappadokien eine Hungersnot aus, die durch ausbleibende Niederschläge verursacht und durch das rigide Geschäftsgebaren der Grundbesitzer und Getreidespekulanten verschärft wurde. Basilius organisierte die Versorgung der Hungernden. Die Predigt, die er während der Hungersnot gehalten hat, schildert eindrück-
Predigt, gehalten während Hunger und Dürre
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lich das Leben hungernder, dahin vegetierender Menschen und kritisiert die Habgier der Reichen. Er versteht die Hungersnot als Prüfung Gottes und mahnt tiefgreifende Änderungen des Verhaltens an. Die „Verfassung der ersten Christen“ gibt dabei das Maß vor. Für Basilius entscheidet das Verhalten angesichts der Hungersnot im letzten Gericht über Heil oder Hölle. 1. Der Löwe wird brüllen, wer wird sich nicht fürchten! Der Herr, unser Gott, hat gesprochen und wer wird nicht prophezeien?1 Ein prophetisches Wort wollen wir an den Anfang der Rede stellen und den gotterfüllten Amos als Gehilfen zu der Aufgabe, die mit den anliegenden [Problemen gestellt ist,] hinzuziehen, der Leiden heilte, die den uns beunruhigenden Übeln ähnlich waren. Wir wollen unseren Rat über das, was nützlich ist, wie auch unsere Meinung darlegen. Denn selbst der Prophet wurde im Lauf der vergangenen Zeiten, als das Volk von der ererbten Gottesfurcht abfiel und die Strenge des Gesetzes mit Füßen trat, in den Dienst an den Götzenbildern abglitt, zu einem Prediger der Umkehr, ermunterte zur Bekehrung und trug die Androhung der Strafen vor. Mir möge es durch das Gebet gelingen, den Eifer der alten Geschichte zu Hilfe zu nehmen. Allerdings möchte ich keinesfalls den Ausgang erwägen, der den Ereignissen damals folgte. Das Volk war nämlich ungehorsam, gleich einem störrigen und ungehorsamen Fohlen verbiss es sich in seinem Zügel, wurde nicht zu seinem Vorteil hingezogen, wandte sich vom geraden Weg ab und lief solange ohne Zucht und bäumte sich gegen den Reiter auf, bis es, als es in Abgründe und Tiefen stürzte, den seinem Ungehorsam angemessenen Untergang erduldete. Das möge uns jetzt nicht geschehen, meine Kinder, die ich durch das Evangelium gezeugt habe2 und mit dem Segen meiner Hände in Windeln wickelte. Sondern meine Ermahnungen möge ein geneigtes Ohr, eine folgsame Seele aufnehmen, die dem Redenden nachgibt wie Wachs dem Siegelnden, damit aufgrund dieser einen Anstrengung auch ich eine erfreuliche Frucht meiner Mühen erlange und ihr im Augenblick der Erlösung von den Schrecken die erhaltene Ermahnung loben werdet. Was ist es nun, worauf diese Vorrede hinweist? Sie hält die Gemüter in der Schwebe mit der Hoffnung auf das [soeben] Gehörte, da sie zögert, das Erwartete öffentlich werden zu lassen. 2. Den Himmel sehen wir, Brüder, beständig, klar und wolkenlos; er verursacht diese verhasste Klarheit [der Luft], bedrückt durch seine Reinheit, die wir zuerst allzu sehr herbeisehnten, solange er mit Wol1 2
Am 3,8. 1Kor 4,15.
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ken bedeckt war, uns dunkel und sonnenlos machte. Die Erde ist ganz vertrocknet, trostlos anzusehen, unbestellbar für die Landwirtschaft und unfruchtbar. In Spalten zerrissen, nimmt sie bis in die Tiefe den hellen Sonnenstrahl auf. Wasserreiche, ganzjährige Quellen sind uns versiegt. Der Fluss großer Ströme erschöpfte sich. Kinder, selbst die Kleinsten, durchwaten sie und Frauen gehen mit Lasten an das andere Ufer. Den meisten von uns ist auch das Trinkwasser ausgegangen, und wir sind in einer für unser Leben ausweglosen Lage. Neue Israeliten [sind wir], die einen neuen Moses suchen, einen wundertätigen Stab, damit auf dessen Schlag die Felsen die Not des dürstenden Volkes heilen3 und unerwartete Wolken, die für uns Menschen ungewohnte Speise – das Manna – herabregnen.4 Hüten wir uns, dass wir den Spätergeborenen ein neues Beispiel für Hunger und Strafe werden. Ich sah die Felder und beweinte ihre Unfruchtbarkeit sehr, vergoss Tränen, da kein Regen auf uns gegossen wurde. Die einen Samen sind vor dem Aufschießen verdorrt und blieben auf diese Weise unter der Erde, wie sie der Pflug begraben hatte. Die anderen schossen ein wenig auf, grünten und als sie keimten, verdorrten sie kläglich unter der Hitze, so dass man dazu passend einen Satz des Evangeliums umkehren könnte: Der Arbeiter sind viele, die Ernte ist aber äußerst gering.5 Die Bauern, die auf den Feldern sitzen und ihre Hände um die Knie legen – dies ist bekanntlich die Haltung der Trauernden –, beweinen ihre vergebliche Mühe, betrachten ihre unmündigen Kinder und beklagen sie, blicken traurig auf ihre Frauen und brechen in Tränen aus, befühlen und betasten das vertrocknete Gras der Saaten und seufzen laut auf wie Väter, die ihre Söhne in der Blüte der Jahre verloren haben. […] Was ist nun die Ursache für diese Unordnung und Verwirrung? Was soll die Veränderung der Zeiten? Forschen wir wie Wesen, die Verstand besitzen. Den Lenker des Alls, gibt es ihn nicht? Hat der erste Baumeister6, Gott, seinen Heilsplan7 vergessen? Wurde er seiner Macht und Kraft beraubt? Oder besitzt er seine bisherige Fähigkeit und wurde nicht von der Herrschaft entbunden, aber irrte zur Härte 3
Vgl. Num 20,11. Vgl. Ex 16. 5 Vgl. Lk 10,2. 6 Vgl. Hebr 10,11, dort wohl allegorisch bezogen auf das himmlische Jerusalem. 7 Basilius verwendet an dieser Stelle den Begriff oikonomia, der genuin dem Zusammenhang der Verwaltung und Ordnung des oikos entstammt und so Verwaltung bedeutet. Im NT und in der Theologie der Alten Kirche nimmt er jedoch auch die hier verwendete Bedeutung Heilsplan, Heilsordnung an, die bei den Hörern im Zusammenhang der – rhetorischen – Frage nach der Macht Gottes mindestens mitgehört worden ist. 4
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hin ab und schlug seine große Güte wie auch seine Sorge um uns in Menschenhass um? So würde ein Besonnener wohl nicht reden, sondern offensichtlich und klar sind die Gründe, derenthalben wir nicht wie gewohnt regiert werden. Obwohl wir nehmen, gewähren wir anderen nicht Anteil. Die Wohltätigkeit loben wir, doch gerade sie rauben wir den Bedürftigen. Obwohl wir Knechte sind, sind wir befreit, doch haben wir kein Mitleid mit unseren Mitknechten.8 Wenn wir hungern, ernähren wir uns, doch an den Bedürftigen gehen wir vorbei. Ein großzügiger Förderer und Haushalter ist uns Gott9, doch wir wurden geizig und unmenschlich gegenüber den Armen. Unsere Schafe haben viele Junge, doch gibt es mehr Unbekleidete als Schafe. Die Scheunen sind zu klein für die Menge dessen, was beiseitegelegt ist, doch wir erbarmen uns der Bedrängten nicht. Deswegen droht er uns mit dem gerechten Gericht.10 Deswegen öffnet Gott seine Hand nicht, da wir uns der Bruderliebe verschlossen haben. Deswegen sind die Felder verdorrt, da unsere Liebe erkaltet ist. […] 5. Deshalb wollen wir nun im Öffentlichen und Privaten unseren Lebenswandel prüfen. Für eine Erzieherin wollen wir die Dürre halten, die jeden an die eigene Sünde erinnert. Auch wir wollen die Worte des edlen Hiob wahrnehmbar sprechen: Die Hand des Herrn ist es, die mich berührt.11 Zu allererst lasst uns das Unglück unseren Sünden zurechnen. Wenn es aber nötig ist, einen anderen [Grund] hinzuzunehmen, dann ist es der, dass zur Prüfung der Seelen solche Unglücksfälle des Lebens den Menschen zugeführt werden, damit durch die Schwierigkeit die Aufrichtigen herausgehoben werden, sowohl Arme wie Reiche, denn beide werden durch die Geduld sorgfältig geprüft. Auch zeigt sich in dieser Zeit am deutlichsten der eine zwar als freigiebig und voll der Bruderliebe, der andere aber dankbar und nicht im Gegenteil als Lästerer. Ich kenne viele – nicht vom Hörensagen, sondern durch Erfahrung habe ich die Menschen kennengelernt – die, solange wie das Leben ihnen Wohlstand zumisst und – sozusagen – ein günstiger Wind weht, doch einigermaßen, wenn auch nicht ganz, dem Wohltäter ihren Dank zugestehen, wenn aber irgendwie aufgrund widriger Umstände die Dinge sich wenden und der Reiche ein Armer wird, die Kraft des Leibes Krankheit, Ruhm und Ansehen Schande und Ehrlosigkeit, dann undankbar waren, Lästerungen ausstießen, das Gebet vernachlässigten. Wie vor einem säumigen Schuldner jammern sie Gott, nicht als ob sie einem verärgerten Herrscher 8
Vgl. Mt 18,21ff. Vgl. Ps 145,15f. 10 Vgl. Röm 2,5. 11 Vgl. Hi 19,21. 9
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gegenüberstünden. Aber fort mit den Überlegungen eines solchen Denkens. Wenn du erkennst, dass Gott nicht das Gewohnte schenkt, überlege bei dir: Ist Gott etwa ohnmächtig, die Nahrung zu gewähren? Wie sollte das möglich sein? Der Herr ist über den Himmel und jede Ordnung, der weise Verwalter der Jahreszeiten und Zeitumstände, der Steuermann des Alls, wie einen wohlgestalteten Reigen ordnet er, dass die Jahreszeiten und Sonnenwenden einander weichen, damit sie in ihrer Mannigfaltigkeit unseren verschiedenartigen Bedürfnissen abhelfen. So lässt er auch zum richtigen Zeitpunkt Feuchtigkeit zuteilwerden, ein andermal lässt er die Wärme eintreten, auch die Kälte mischt sich mit dem Jahr, wie auch die nötige Trockenheit ihren Anteil hat. Ist also Gott nicht mächtig? Wenn ihm aber anerkanntermaßen Macht zu eigen ist, mangelt es ihm dann an Güte? Auch diese Überlegung ist nicht zulässig. Denn welche Notwendigkeit hätte den, der nicht gut sein sollte, überzeugt, am Anfang den Menschen zu erschaffen? Wer drängte den Schöpfer, auch wenn er es nicht wollte, Staub zu nehmen und aus Erde so etwas Schönes zu gestalten?12 Wer überzeugte ihn von der Notwendigkeit, dem Menschen nach seinem Bild13 die Vernunft zu schenken, um auf sie gestützt, die Kenntnis der Künste aufzunehmen und zu erlernen, über die höchsten Dinge nachzudenken, die sinnlich nicht fassbar sind? Auch wenn du so überlegst, wirst du finden, dass Gott Güte innewohnt und bis jetzt auch nicht abnimmt. Was – sage mir – stünde dem im Wege, dass wir nicht eine Dürre sehen, sondern einen vollständigen Weltenbrand14, dass die Sonne ein wenig von ihrer gewohnten Bahn abweicht, sich dem Erdkörper nähert und binnen kurzem alles verbrennt? Oder dass es Feuer vom Himmel regnet in Übereinstimmung mit der schon einmal [auferlegten] Strafe für die Sünder?15 Komm zu dir, Mensch, und zu deinen Gedanken! Handle nicht wie die unverständigen Kinder, die, wenn sie vom Lehrer getadelt werden, seine Tafeln zerbrechen. Der Vater aber, wenn er zu ihrem Nutzen die Mahlzeit verschiebt – sein Kleid zerreißen sie, oder sie zerkratzen der Mutter mit ihren Fingern das Gesicht. Den Steuermann erprobt und prüft der Sturm, den Wettkämpfer die Rennbahn, den Feldherren die Schlacht, den Hochsinnigen das Unglück, den Christen aber die Versuchung. Schmerzen überführen die Seele wie Feuer das Gold.16 Bist du arm, so werde nicht mutlos, denn zu große Nie12
Vgl. Gen 2,7. Vgl. Gen 1,27 (LXX). 14 Vgl. als möglichen biblischen Anklang an die Vorstellung des Weltenbrandes 2Petr 3,6-13. Zudem gehört die Vorstellung vom Weltenbrand zur Vorstellungswelt verschiedener antiker religiöser Richtungen wie auch zum stoischen Weltbild. 15 Vgl. Gen 19,24. 16 Vgl. Sach 13,9. 13
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dergeschlagenheit wird zur Ursache der Sünde. Die Vernunft wird von Gram überschüttet und die Hilflosigkeit verursacht Schwindel, ein Mangel an Gedanken erzeugt Undankbarkeit. Doch halte deine Hoffnung auf Gott gerichtet. Sieht er denn nicht auf die Verhältnisse? Er hält die Nahrung in Händen und zögert mit dem Geben, um deine Standhaftigkeit zu prüfen, deinen Verstand kennenzulernen, ob er nicht den Zügellosen und Unverständigen gleich ist. Denn auch jene, solange Nahrungsmittel in ihren Mund gelangen, preisen, schmeicheln, staunen übermäßig. Wird aber die Mahlzeit ein wenig aufgeschoben, werfen sie wie mit Steinen ihre Verleumdungen nach denen, die sie eben noch einem Gott gleich wegen des Genusses verehrten.17 […] 7. Das Unheil des Hungrigen, der Hunger, ist ein Mitleid erweckendes Leiden. Hunger ist der Gipfel des menschlichen Unglücks, dieses Ende der elendigste aller Tode. In anderen Gefahren fügt das Ende rasch entweder die Schärfe des Schwertes zu, der Zorn des Feuers löscht in kurzer Zeit das Leben aus oder die Tiere zerreißen mit ihren Zähnen die lebenswichtigen Glieder, und es ist nicht möglich, durch Hinausziehen des Schmerzes bestraft zu werden. Aber der Hunger hat ein träges Übel an sich, einen Schmerz, der sich hinauszögert, die Krankheit ist hineingelegt und hat sich versteckt, der Tod ist immer gegenwärtig und zögert. [Der Hunger] verzehrt völlig die natürliche Feuchtigkeit des Körpers; er kühlt die Wärme [des Körpers] ab, er lässt das Gewicht zusammenschrumpfen und dörrt die Kraft nach und nach aus. Das Fleisch umgibt die Knochen wie ein Spinnengewebe. Die Haut besitzt keine Farbe. Denn die Röte entflieht, da das Blut dahinschwindet. Das Weiße ist nicht mehr, da sich die äußere Erscheinung aufgrund der Magerkeit dunkel färbt. Der Leib ist grau, da sich Blässe und Schwärze infolge des Leidens mischen. Die Knie tragen nicht mehr, sondern schleppen sich mit Gewalt [dahin]. Die Stimme ist dünn und schwach, die Augen liegen schwach in ihren Vertiefungen, vergebens bewahren die [Augenhöhlen] sie auf wie in ihren Schalen vertrocknete Früchte.18 Der Bauch ist leer, eingeschrumpft und formlos. Ohne Fülle besitzt er nicht [mehr] die natürliche Spannung der Eingeweide und ist an die Knochen des Rückens angefügt. Wer nun an einem solchen Körper vorbeigeht – welche Strafen verdient er? Welchem Übermaß an Grausamkeit gibt er ihn preis? Ist er es nicht wert, zu den wilden Tieren gezählt, als schuldbeladener Mörder angesehen zu werden? Denn in wessen Macht es steht, dem Übel abzuhelfen, es aber absichtlich und [um seines] Vorteils [willen] auf17 18
Vgl. Phil 3,19. Gemeint sind Früchte mit harten Schalen wie z.B. Eicheln usw.
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schiebt, der dürfte wohl begreiflicherweise nach dem gleichen Recht wie ein eigenhändiger Mörder verurteilt werden. […] 8. Hört ihr Völker, merkt auf ihr Christen! Dies spricht der Herr – nicht dass er selbst öffentlich redet, sondern durch den Mund seiner Knechte lässt er es erschallen wie durch Instrumente. Zeigen wir Vernünftigen uns nicht grausamer als die unvernünftigen [Tiere]. Denn jene nutzen das, was auf der Erde von Natur aus wächst, wie ein Gemeingut. Die Schafherden ernähren sich von ein und demselben Berg. Pferde weiden alle zusammen ein und dieselbe Ebene ab, und alle – jedes für sich – gestehen so einander den Genuss des nötigen Futters zu. Wir aber vergraben das Gemeingut und halten, was vielen [gehört]. […] Eifern wir der Verfassung der ersten Christen nach, wie ihnen alles gemeinsam war: das Leben, die Seele, der Einklang, der gemeinsame Tisch, unzertrennliche Bruderschaft, ungeheuchelte Liebe, die viele Leiber zu einem machte, die verschiedenartige Seelen zur Eintracht zusammenfügte.19 […] 9. Sorge dich mir vernünftigerweise um Gegenwart und Zukunft, gebe sie nicht wegen schändlichen Gewinnes preis. Der Körper wird dich verlassen, das Kennzeichen dieses Lebens. Beim Erscheinen des erwarteten Richters20 – und er wird zweifelsohne kommen – wirst du dir die Gabe der Ehrenbezeugungen und himmlischen Herrlichkeit verschließen und dafür das unauslöschliche Feuer aufschließen, die Hölle, Züchtigungen, eine bittere Ewigkeit in Schmerzen, anstelle eines langen und seligen Lebens. Glaube nicht, dass ich wie eine Mutter oder Amme dir mit Lügen und Schreckgespenstern drohe, wie jene es gewöhnlich bei den unverständigen Kindern tun. Wenn sie zuchtlos und endlos jammern, bringen sie sie durch weitschweifige Erzählungen zum Schweigen. Dies ist aber nichts Erdichtetes, sondern eine Lehre, die schon vorher durch eine truglose Stimme verkündet wurde. Und wisse genau, gemäß der Vorhersage des Evangeliums: Es wird kein Jota oder Häkchen vergehen.21 Sondern auch ein Leib, der in den Gräbern zugrunde gegangen ist, wird auferstehen und die Seele, dieselbe, die durch den Tod abgetrennt wurde, wird wiederum den Leib bewohnen. Und eine genaue Untersuchung unserer Lebenstage22 wird angesetzt werden, ohne dass andere Zeugnis ablegen
19
Vgl. Apg 2,44f. Vgl. Jak 5,9. 21 Mt 5,18. 22 Vgl. 2Kor 5,10. 20
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außer dem eigenen Gewissen.23 Jedem wird nach Gebühr von dem gerechten Richter24 vergolten werden. Ihm gebührt Ehre, Macht und Anbetung in alle Ewigkeit. Amen. Quelle: Basilius der Große: Predigt, gehalten während Hunger und Dürre, übersetzt von Heinrich Fucks, auf der Grundlage von: Basilius von Cäsarea, Mahnreden. Mahnwort an die Jugend und drei Predigten, deutsche Übersetzung von Anton Stegmann, bearbeitet von Thielko Wolbergs, Schriften der Kirchenväter 4, München 1984, 64– 81, in: Gerhard K. Schäfer (Hg.): Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, VDWI 4, Heidelberg 1991, 72–87.
23 24
Vgl. Röm 2,15f. Vgl. 2Tim 4,8.
49. Basilius: An Elias, Statthalter der Provinz Kappadokien (365–369) Basilius schuf vor den Toren Caesareas auf dem Grundbesitz seiner Familie einen Anstaltskomplex, eine neue Stadt, die nach ihrem Gründer „Basilias“ genannt wurde. Gregor von Nazianz rühmte in seiner Gedenkrede auf seinen Freund Basilius das Soziotop als „Weltwunder“ (s. Text 52). Die Besonderheit der „Basilias“ lag in der Verschränkung monastischer, diakonischer und wirtschaftlicher Aspekte. Basilius hat klösterliches Leben und mönchisch-asketischen Geist mit der Schaffung diakonischer Einrichtungen verbunden. Es entstanden Herbergen nach dem Modell des Xenodocheion, das Eustatius von Sebaste (gest. nach 377) zunächst für wandernde Mönche, dann aber auch für Pilger und Armen errichtet hatte. Hinzu kam ein Hospital, das auch eine Leprastation umfasste. Die Fürsorge für Arme, Kranke und Fremde war dadurch geprägt, dass in ihnen – so Basilius – Christus selbst begegnete. Die Diakoniestadt war ein Ort der Christusbegegnung und der Integration: Arme, Kranke und Fremde sollten als Menschen geachtet werden, um Christus durch ihre Ausgrenzung keine Schmach zuzufügen. Zugleich waren auf dem Gelände der „Basilias“ Einrichtungen für das tägliche Leben, Bäder und Werkstätten, untergebracht. Die „Mischanstalt“ lag in unmittelbarer Nähe zur Stadt Caesarea. In der Gründung des monastisch-sozialen Komplexes sah Basilius nicht zuletzt einen wirtschaftlichen Beitrag zu der unter materieller Not und mangelnder Besiedelung leidenden Region. Im folgenden Brief schildert und rechtfertigt Basilius sein Unternehmen. Basilius verfasste das Schreiben noch in seiner Zeit als Presbyter zwischen 364 und 369. Der Brief ist an den neu eingesetzten christlichen Statthalter der römischen Provinz Kappadokien namens Elias gerichtet. Basilius Großprojekt war auf Kritik gestoßen. Denkbar ist, dass Heiden aus Caesareas Oberschicht Basilius‘ Vorhaben als eine der Kirche nicht zukommende sozialpolitische Aktivität, die in staatliche Belange eingreife, kritisierten. Wahrscheinlicher erscheint es jedoch, dass der Widerstand von Christen der Oberschicht in Caesarea kam. Er wäre Ausdruck der Provokation, die mit Basilius‘ pointierten sozialen Vorstellungen einherging. Aus dem Brief geht hervor, dass zum Zeitpunkt seiner Abfassung die eigentliche Klosteranlage fertig gestellt war, während sich die Herberge, die Werkstätten und das Hospital noch im Bau befanden. Zwar hatte ich beabsichtigt, Deine Ehrwürden persönlich aufzusuchen, um nicht durch die Unterlassung einen Nachteil gegenüber mei-
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nen Verleumdern zu haben; aber da mich die Kränklichkeit des Leibes, die mir stärker als gewöhnlich zusetzte, daran hinderte, musste ich zum Brief greifen. Ich hatte also, Bewundernswerter, neulich bei dem Zusammentreffen mit Deiner Ehrwürden einerseits beabsichtigt, über alle meine weltlichen Unternehmungen Deiner Klugheit etwas mitzuteilen, andererseits beabsichtigt, wegen der Kirchen einiges vorzutragen, damit für die Verleumdungen danach kein Raum mehr bliebe. Doch ich hielt mich zurück in der Annahme, es sei völlig überflüssig und übermäßig ehrgeizig, einem mit solcher Fülle von Angelegenheiten beschäftigten Mann auch noch die außerhalb des Nötigen liegenden Sorgen aufzuladen. Und zugleich – die Wahrheit soll ja ausgesprochen werden – scheute ich mich außerdem noch davor, dass wir zwangsläufig in eine Auseinandersetzung miteinander gerieten und ich Deine Seele verletzen könnte, die verpflichtet ist, in der reinen Gottesverehrung den vollkommenen Lohn der Frömmigkeit zu ernten. Denn in der Tat, wenn wir Dich auf uns selber aufmerksam machen würden, dann würden wir Dir wenig Zeit für die Staatsgeschäfte übriglassen und so handeln wie jemand, der einen Steuermann, welcher ein soeben gerichtetes Schiff in schwerer See auf Kurs hält, durch Hinzufügung neuer Fracht in Schwierigkeiten bringt, wo er doch etwas von den Lasten wegnehmen und nach Möglichkeit Erleichterung verschaffen sollte. Deswegen scheint mir der erhabene Kaiser, der unsere Umtriebigkeit kennenlernte, uns selbständig die Kirchen verwalten zu lassen. Indes wünsche ich, dass diejenigen, die Deine arglosen Ohren belästigen, gefragt werden, welchen Nachteil der Staat von uns hat oder welcher kleine oder größere Teil des Gemeinwesens durch unsere auf die Kirchen bezogene Verwaltung beeinträchtigt wird. Jemand müsste schon behaupten, es bringe den Verhältnissen Schaden, ein prächtig ausgestaltetes Bethaus für unseren Gott zu errichten und um es herum eine Wohnstätte, die eine großzügig, reserviert für den Leiter, die anderen, niedriger gebaut, für die Diener der Gottheit, dem Rang nach angeordnet, deren Benutzung öffentlich ist, auch für Euch Statthalter und Euer Gefolge. Wem tun wir Unrecht, wenn wir Herbergen bauen für die Fremden, welche auf der Durchreise hier anwesend sind sowie für die, welche krankheitshalber irgendeiner Pflege bedürfen, wenn wir solchen Menschen die erforderliche Erquickung bereitstellen, Krankenpfleger, Ärzte, Lasttiere und Begleiter? Zwangsläufig folgen diesen auch Gewerbe, solche, die zum Leben nötig sind, und solche, die zu einer verfeinerten Lebensführung erfunden worden sind, ferner andere, für die Werkstätten erforderlichen Häuser. All das ist eine Zierde für den Ort, für unseren Statthalter aber ein Aushängeschild, da der gute Ruf auf ihn zurückfällt.
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Du bist doch wohl nicht deswegen zur Herrschaft über uns gezwungen worden, um einzeln, allein durch Deine Geistesgröße, das mit der Zeit Zerfallene aufzurichten, die unbewohnten Orte zu besiedeln und überhaupt die Einöde in Städte umzuwandeln. Wäre es nun passender, den zu diesem Zweck Mitwirkenden zu bedrängen und schlecht zu behandeln oder ihn zu ehren und wertzuschätzen? Und denke nur nicht, mein Bester, das von uns Vorgebrachte seien bloße Wunder; denn wir sind bereits am Werk und beschaffen bisher das Material. Soviel also zur Verteidigung vor dem Statthalter. Was aber auf die Vorwürfe der Ankläger Dir als einem Christen und Freund, der um unseren Ruf besorgt ist, zu antworten erforderlich ist, muss ich jetzt verschweigen, weil es zu umfangreich für das Maß des Briefes ist und überdies toten Buchstaben1 nur ungenau anvertraut werden kann. Damit Du aber nicht in der Zeit vor unserer Begegnung, irregeführt durch die Verleumdungen gewisser Leute, genötigt wirst, im Wohlwollen uns gegenüber etwas nachzulassen, handle so wie Alexander. Denn auch jener soll, als einer seiner Vertrauten verleumdet wurde, das eine Ohr dem Verleumder hingehalten, das andere aber sorgfältig mit der Hand verstopft haben, womit er anzeigte, dass der sachgemäße Richter sich nicht sofort von denen, die vorweg verurteilen, ganz fortreißen lassen dürfe, sondern die Hälfte des Gehörs unbelastet bewahren müsse für den Abwesenden zur Verteidigung. Quelle: Basilius, An Elias, Statthalter der Provinz, Nr. 94, in: Basilius von Caesarea, Briefe, Erster Teil, eingeleitet, übersetzt und erläutert v. Wolf-Dieter Hauschild, Bibliothek der Griechischen Literatur 32, Stuttgart 1990, 157–159. © Anton Hiersemann
1
Vgl. 2Kor 3,6.
50. Gregor von Nazianz: Über die Liebe zu den Armen (373) Gregor von Nazianz zählt wie Basilius (s. Texte 48; 49) und Gregor von Nyssa (s. Text 51) zu den drei Kappadokiern, denen bei der Ausformung des trinitarischen Dogmas besondere Bedeutung zukam. Gregors Geburtsjahr ist unklar: Manche setzen seine Geburt zwischen 325 und 329 an; nach einer alten Überlieferung ist er dagegen um 300 geboren. Er wuchs als Sohn einer wohlhabenden kappadokischen Familie in Nazianz oder im nahe gelegenen Arianz auf. Sein Bildungsweg führte ihn vom kappadokischen Caesarea über Caesarea in Palästina und Alexandrien nach Athen. Dort lernte er Basilius kennen. 356 kehrte er aus Athen zurück und führte ein asketisches, kontemplatives Leben, bis sein Vater, der Bischof von Nazianz war, ihn um Unterstützung ersuchte und 362 zum Priester weihte. 372 setzte ihn Basilius aus kirchenpolitischen Gründen als Bischof des neu geschaffenen Bistums Sasima ein. Gregor sah sich allerdings von Basilius missbraucht und entzog sich der Berufung. Ab 379 leitete er die kleine nicänische Gemeinde im arianisch dominierten Konstantinopel. Als brillanter Redner fand er große Aufmerksamkeit. Nachdem Kaiser Theodosius den Arianismus zurückgedrängt hatte, wurde Gregor 380 zum Bischof von Konstantinopel ernannt. Er leitete anfänglich das Konzil von Konstantinopel, trat dann aber bereits 381 aufgrund machtpolitischer Auseinandersetzungen als Bischof zurück. Er verwaltete zunächst den vakanten Bischofssitz seines Vaters in Nazianz. 383 zog er sich nach Arianz zurück und beteiligte sich literarisch an den christologischen und trinitarischen Debatten. Gregor starb 390. Die Predigt über die Armen, die in Auszügen wiedergegeben wird, dokumentiert die überragenden rhetorischen Fähigkeiten Gregors. Sie wurde 373 aus Anlass der Gründung eines Krankenhauses gehalten, das auf Anregung des Basilius bei Caesarea ins Leben gerufen worden war. Vor allem die Situation der Leprakranken steht im Zentrum der Predigt. Gregor beschreibt facettenreich die Herausforderung, sich verstümmelten, entstellten, Ekel erregenden und dahinsiechenden Menschen zuzuwenden. Seine Rede will die Isolation der Aussätzigen aufbrechen, ihr Leiden mindern und Vorurteile abbauen. Mit Hilfe seiner umfassenden biblischen, theologischen und literarischen Bildung entfaltet er seinen ethisch-theologischen Grundgedanken: Seesorglich orientierte praktische Hilfe für Arme ist der Kern des Liebesgebots. Angesichts der Fülle biblischer Bezüge und des erheblichen Umfangs der Rede ist davon auszugehen, dass Gregor die gehaltene Predigt nachträglich überarbeitet hat.
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Über die Liebe zu den Armen
1. Nehmt die Rede über die Liebe zu den Armen nicht engherzig entgegen, meine Brüder und meine Genossen in der Armut! Arm sind wir nämlich alle, und alle bedürfen wir der göttlichen Gnade, mag auch, wenn man einen kleinlichen Maßstab anlegt, der eine vor dem anderen etwas vorauszuhaben scheinen. Nehmt die Rede wohlwollend an, damit ihr die Schätze des Reichtums empfanget! Betet mit mir, damit wir euch reichlich das Wort spenden und eure Seele mit den Worten nähren1 und den Hungrigen das geistige Brot brechen2, indem wir gleich dem alten Moses Speisen regnen lassen3 und Engelsbrote verabreichen oder mit wenigen Broten Tausende in der Wüste sättigen4, wie es später Jesus, das wahre Brot5 und die Quelle des wahren Lebens6 getan hat. Unter den verschiedenen Tugenden die vorzüglichste herauszufinden und einer einzelnen den Vorzug und Sieg zuzuschreiben, ist ebenso schwierig, als auf einer blumenreichen, duftenden Wiese festzustellen, welches die schönste und wohlriechendste Blume ist; denn bald zieht diese, bald jene Blume den Geruchssinn und die Augen an sich, um zum Pflücken einzuladen. Nach meiner Meinung ist bei der Bewertung Folgendes zu beachten. 2. Etwas Schönes sind Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei.7 Zeuge des Glaubens8 war Abraham, der auf Grund des Glaubens gerechtfertigt worden war.9 Zeuge der Hoffnung waren Enos, welcher zuerst gehofft hatte, den Herrn für sich anzurufen,10 und alle Gerechten, welche um der Hoffnung willen Böses erduldet hatten. Zeuge der Liebe war der ehrwürdige Apostel, der um Israels willen sogar sich selbst verflucht hätte,11 und Gott selbst, der als Liebe bezeichnet wird.12 Etwas Schönes ist die Gastfreundschaft. Ein Beispiel hierfür ist der gerechte Loth, der Sodomite, aber nicht ein Sodomite im Benehmen,13 und unter den Sündern die Buhlerin Rahab, die aber nicht aus Schlechtigkeit Buhlerin war, da sie um der Gastfreundschaft willen gelobt und auch gerettet wurde.14 Schön ist die Bruderliebe, wie Jesus 1
Vgl. Jer 15,16. Vgl. Jes 58,7; Ez 18,7. 3 Vgl. Ex 16. 4 Vgl. Mk 6,30ff.; 8,1ff.par. 5 Vgl. Joh 6,35. 6 Vgl. Joh 14,6. 7 1Kor 13,13. 8 Vgl. Hebr 11,17. 9 Vgl. Gen 15,6; Röm 4. 10 Gen 4,26 (LXX). 11 Vgl. Röm 9,3. 12 Vgl. 1Joh 4,16. 13 Vgl. Gen 19. 14 Vgl. Jos 2; 6. 2
Über die Liebe zu den Armen
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selbst bezeugt, der nicht nur unser Bruder sein wollte, sondern zu unserer Rettung sein Leben für uns dahingab. Wie wiederum Jesus die Liebe zu den Menschen lehrt, da er nicht nur den Menschen zum Guten erschaffen und dem Staube15 das Ebenbild16 beigesellt hatte, damit es zum Besten führe und die himmlischen Güter vermittle, sondern da er auch für uns Mensch geworden ist. […] 5. Jede der genannten Tugenden bildet einen Weg zum Heil und in irgendeine der ewigen, seligen Wohnungen. Wie es verschiedene Lebensberufe gibt, so gibt es bei Gott viele Wohnungen17, welche je nach dem Verdienst des einzelnen verteilt und zugewiesen werden. Mag einer diese oder jene Tugend, mag einer mehrere oder – wenn es möglich sein sollte – alle Tugenden pflegen, auf jeden Fall bleibe er nicht stehen, strebe vorwärts und trete in die Fußstapfen des kundigen sicheren Führers, welcher auf engem Wege und durch schmale Pforte18 auf die breiten Gefilde der himmlischen Seligkeit geleitet. Wenn wir es Paulus und Christus selbst glauben müssen, dass die Liebe das erste und größte Gebot, der Hauptinhalt des Gesetzes und der Propheten ist,19 dann erkläre ich die Liebe zur Armut, das Mitempfinden und Mitleiden mit dem Nächsten als die größte Liebe. Durch gar nichts wird ja Gott so sehr geehrt wie durch Mitleid. Denn nichts ist Gott eigentümlicher als das Erbarmen, da vor ihm Mitleid und Wahrheit einherschreiten20 und ihm Erbarmen lieber ist als Verurteilung. Der, welcher gerecht vergilt und sich nach der Waage und nach den Gewichten erbarmt, schenkt seine Liebe keinem so sehr wie dem Barmherzigen.21 6. Unser Herz müssen wir allen Armen öffnen, gleichviel aus welchen Gründen sie in Not sind; denn das Gebot verlangt, sich zu freuen 22 mit den Fröhlichen und zu weinen mit den Weinenden. Als Menschen müssen wir in zuvorkommender Weise Liebesdienste den Mitmenschen tun, mögen sie derer bedürfen, weil sie verwitwet oder verwaist sind23 oder weil sie aus dem Vaterlande verbannt sind oder wegen der Grausamkeit der Herren, der Härte der Beamten, der Unbarmherzigkeit der Steuereinnehmer, der Blutgier der Räuber, der Habgier 15
Vgl. Gen 2,7; Pred 3,20. Vgl. Gen 1,27. 17 Vgl. Joh 14,2. 18 Vgl. Mt 7,13f; Lk 13,24. 19 Vgl. Mt 22,34–40; Röm 13,8ff; Gal 5,14. 20 Ps 89,15 (88,15: LXX) . 21 Vgl. Hos 12,7. 22 Vgl. Röm 12,15. 23 Vgl. Dtn 10,18. 16
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der Diebe oder wegen Konfiskation oder wegen Schiffbruch. Sie alle sind in gleicher Weise bemitleidenswert und blicken zu unseren Händen auf wie wir zu den Händen Gottes, sooft wir etwas brauchen. Von jenen Unglücklichen sind die, welche unverdienterweise zu leiden haben, noch mitleidenswerter als die, welche an das Unglück gewöhnt sind. Ganz besonders müssen wir unser Herz denen öffnen, welche von der heiligen Krankheit24 zugrunde gerichtet worden sind, selbst an Fleisch, Knochen und Mark – nach einer Drohung25 – zerfressen werden und von ihrem armseligen, schwachen, treulosen Körper verraten sind. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie ich mit diesem Fleische zusammengespannt worden war und wie ich, ein Ebenbild Gottes, mit dem Staube vermengt werde. Geht es dem Körper gut, dann führt er Krieg; wird er bekämpft, dann leidet er. Ich liebe ihn, weil er mein Mitsklave ist; ich wende mich von ihm ab, weil er mein Feind ist. Da er meine Fessel ist, fliehe ich ihn; da er mein Miterbe ist, verehre ich ihn. Wenn ich mich bemühe, ihn kaltzustellen, dann fehlt mir der Gehilfe, den ich brauche, um zum herrlichen Ziel zu gelangen; denn ich weiß, wozu ich erschaffen bin, und weiß, dass ich nur durch Betätigung zu Gott emporsteigen kann. […] 9. Manche verdienen unser Mitleid nur, weil sie arm sind; hier können vielleicht die Zeit, die Arbeit, ein Freund, ein Verwandter, veränderte Verhältnisse helfen. Andere sind ebenso, wenn nicht noch mehr mitleidswert, sofern sie infolge von Arbeitslosigkeit der notwendigen leiblichen Mittel beraubt sind und ihre Furcht vor dem Zusammenbruch immer noch größer ist als die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse, so dass ihnen die Hoffnung, das einzige Heilmittel für Unglückliche, wenig Hilfe bringen kann. Ein weiteres Übel, außer der Armut, ist die Krankheit; sie ist das gefürchtetste und schlimmste Übel, das von vielen auch bei Flüchen zunächst angewünscht wird. Ein drittes Übel besteht darin, dass man nicht besucht und nicht angeschaut werden darf, dass man geflohen und verabscheut wird und als Ekel gilt; noch schlimmer als die Krankheit selbst ist das Gefühl, wegen eines Unglücks auch noch gehasst zu werden. Ihr Leiden verursacht mir Tränen, und schon die Erinnerung daran erschüttert mich. Möchtet ihr von gleichen Stimmungen ergriffen sein, damit eure Tränen euch den Tränen entreißen! Ich weiß aber auch, dass von den Anwesenden alle jene meine Empfindungen teilen, welche Christum und die Armut lieben, weil ihr Gottes Barmherzigkeit von Gott habt. An bitteren eigenen Erfahrungen fehlt es euch ja nicht.
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Gemeint ist die Lepra. Jes 10,18 (LXX).
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10. Mit eigenen Augen schauen wir ein schreckliches, erbarmungswürdiges Schauspiel, das nur der glaubt, der es selbst gesehen hat. Sie sind tot und doch noch am Leben, an den meisten Gliedern in einer Weise verstümmelt, dass man kaum erkennt, wer sie einmal waren und woher sie stammen. Es sind eigentlich nur noch elende Überreste gewesener Menschen. Um erkannt zu werden, müssen wir Vater, Mutter, Geschwister, Heimat angeben und erklären: „So und so heißt mein Vater und meine Mutter, und dies ist mein eigener Name und du warst einst mein Freund und mein Bekannter.“ So sprechen sie, da sie ja nichts Charakteristisches mehr an sich haben. Sie sind verunstaltete Menschen, die ihres Vermögens, ihrer Verwandten, ihrer Freunde, selbst ihres Körpers beraubt sind. Es sind die einzigen Menschen, welche sich bemitleiden und zugleich hassen. Sie wissen nicht, sollen sie diejenigen Körperteile mehr beklagen, die sie nicht mehr haben, oder diejenigen, welche ihnen noch geblieben sind, diejenigen, welche die Krankheit bereits aufgezehrt hat, oder diejenigen, welche für die Krankheit noch übrig geblieben sind. Die einen Glieder sind unter großen Schmerzen verzehrt worden; die anderen bleiben noch größeren Martern erhalten. Die einen sind dahingeschwunden, ehe sie das Grab schauen; die anderen wird niemand bestatten. Mag einer noch so gut und barmherzig sein, für diese Krankheit hat er absolut kein Herz; ihnen gegenüber allein haben wir vergessen, dass wir Fleisch sind und dass wir von einem erbärmlichen Körper umgeben sind. Wir sind so weit entfernt, unsere [aussätzigen] Verwandten zu pflegen, dass wir vielmehr glauben, wir seien in Sicherheit, wenn wir vor ihnen fliehen. Während man zu einem schon älteren Leichnam, der vielleicht bereits riecht, hingeht und den stinkenden Kadaver vernunftloser Tiere erträgt und es sich gefallen lässt, ganz beschmutzt zu werden, fliehen wir schleunigst in aller Herzlosigkeit vor den Aussätzigen, fast unwillig darüber, dass wir die gleiche Luft wie sie einatmen. 11. Wer ist anhänglicher als ein Vater? Wer besorgter als eine Mutter? Aber auch ihr natürliches Empfinden hat Grenzen. Den Sohn, den der Vater gezeugt und erzogen hat, den er als Auge seines Lebens erklärt, für den er schon oft und viel zu Gott gebetet hat, beklagt er zwar [wenn er von Aussatz befallen wird], aber gleichzeitig jagt er ihn davon, teils freiwillig, teils gezwungen. Und eine Mutter gedenkt ihrer Schmerzen bei der Geburt [des nun an Aussatz erkrankten Kindes], ihr Herz zerreißt, erschütternd schreit sie zum Himmel und ihr noch lebendes Kind, das sie ausgesetzt hat, beweint sie, wie wenn es schon gestorben wäre. „Armes Kind einer unglücklichen Mutter“ – ruft sie – „die Krankheit war so grausam, mein Recht auf dich mit mir zu teilen! O bedauernswertes Kind, o Kind, nicht mehr bist du zu erkennen, o Kind, nur mehr für Schluchten, für Berge, für Wüsten habe
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ich dich erzogen! Bei den Tieren wirst du hausen, Felsen werden dein Schutz sein. Nur noch die heiligsten unter den Menschen werden dich sehen.“ Die Wehrufe Hiobs26 macht sie sich zu eigen: „Warum wurdest du im Mutterschoße gebildet? Warum hast du den Schoß verlassen? Warum bist du nicht sofort gestorben? Warum sind sich nicht Tod und Geburt begegnet? Warum bist du nicht vor der Zeit abgegangen, ehe du noch die Leiden des Lebens kosten konntest? Warum hat dich der Schoß aufgenommen? Wozu hast du an den Brüsten gesogen, da du doch in Elend leben und ein Leben, das schlimmer ist als der Tod, führen sollst?“ So klagt sie unter Strömen von Tränen. Auch umarmen möchte die Unglückliche ihr Kind, aber vor seinem Körper fürchtet sie sich, in ihm erblickt sie einen Feind. Nicht Verbrecher, sondern diese Aussätzigen werden vom ganzen Volk verflucht und verfolgt. Ist einer ein Mörder, dann wohnt man noch mit ihm zusammen und mit einem Ehebrecher teilt man Haus und Tisch, einen Kirchenräuber macht man zum Freund seines Lebens und mit denen, die einem Böses angetan haben, schließt man ein Bündnis; aber von dem Leiden eines Menschen, der einem kein Unrecht getan hat, wendet man sich ab, als wäre es ein Verbrechen. Besser ist ein Verbrecher daran als ein Kranker. Den Herzlosen umarmen wir wie einen Edelmann; den Barmherzigen aber verachten wir wie einen Schuldbeladenen. 12. Die Aussätzigen werden aus den Städten vertrieben, aus den Häusern, von den Marktplätzen, den Versammlungen, den Straßen, den Festlichkeiten und Gelagen und selbst – welch ein Jammer – vom Wasser werden sie weggejagt. Nicht haben sie mit den übrigen Menschen Anteil an den sprudelnden Quellen; auch die Flüsse sollen von ihnen angesteckt werden. Das Ungeheuerlichste ist, dass wir sie wie Schuldbeladene fortjagen, zwingen sie dann aber wieder wegen ihrer Schuldlosigkeit zurückzukommen, allerdings ohne ihnen Wohnung oder die nötigen Nahrungsmittel oder ihren Wunden Heilungsmittel anzubieten und ohne den Kranken nach Kräften schützende Kleidung zu gewähren. Tag und Nacht irren sie umher, arm und nackt und ohne Unterkunft. Ihre Krankheit tragen sie zur Schau, erzählen, wer sie einst waren, flehen zum Schöpfer. Mit ihren Gliedern helfen sie sich gegenseitig in ihrer Not aus. Sie ersinnen Lieder, um Mitleid zu wecken. Sie betteln um ein Stücklein Brot, um ein bisschen Fleisch und um einen zerlumpten Fetzen, damit sie ihre Blöße und ihre Geschwüre bedecken können. Als mitleidig gilt nicht der, welcher ihre Not lindert, sondern schon der, welcher sie nicht hart abweist. Die meisten der Kranken scheuen sich nicht einmal, die Festversammlun26
Vgl. Hi 3,11f.
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gen zu besuchen, ihre Not treibt sie im Gegenteil geradezu in dieselben hinein. Ich rede hier von jenen öffentlichen, heiligen Versammlungen, welche wir aus seelischen Bedürfnissen eingeführt haben zur Feier eines Geheimnisses oder wegen der Zeugen der Wahrheit, um durch Verehrung ihres Martyriums ihre Tugenden nachzuahmen. Da sie doch auch Menschen sind, schämen sich die Aussätzigen einerseits, in ihrem Elend vor Menschen zu erscheinen und möchten am liebsten im Gebirge, in Schluchten und Wäldern und schließlich in Nacht und Finsternis verschwinden; doch andererseits treibt es diese elenden Jammergestalten [immer wieder] unter die Menschen. Und das ist wohl recht so. Denn sie sollen uns an unsere Schwachheit erinnern und davor bewahren, dass wir uns an die Gegenwart und das Sinnliche halten, als wenn es immer Bestand hätte. Die einen treibt es zu uns, um eine menschliche Stimme zu hören, die anderen, um ein menschliches Angesicht zu sehen, andere, um von denen, die im Überfluss leben, eine kleine Gabe zur Fristung des Lebens zu erhalten; alle kommen sie, um durch Offenbarung ihres Leids Linderung zu finden. […] 14. Dies ist das Los der Aussätzigen. Ja, es ist noch schlimmer, als ich es geschildert habe. Sie aber sind – ob ihr es wollt oder nicht – unsere Brüder vor Gott. Sie haben die gleiche Natur wie wir empfangen; sie sind aus der gleichen Erde gebildet, aus der wir zu Beginn erschaffen worden waren. Gleich uns sind sie aus Muskeln und Knochen zusammengesetzt; wie alle sind sie mit Haut und Fleisch umkleidet, wie einmal der treffliche Hiob27 in seinen Betrachtungen über das Leiden erklärt, um unsere sinnliche Natur bloßzustellen. Sie haben – um noch mehr zu sagen – sogar wie wir das göttliche Ebenbild erhalten und bewahren es vielleicht besser als wir, trotzdem sie äußerlich zugrunde gehen. Sie haben innerlich denselben Christus angezogen28 und sind mit dem gleichen Unterpfand des Geistes betraut worden wie wir.29 Auch für sie ist Christus gestorben, der die Sünden der ganzen Welt hinweggenommen hat.30 Mit Christus sind sie Erben des himmlischen Lebens,31 mögen sie auch von diesem Leben gar nichts haben. Mit Christus werden sie begraben und mit ihm werden sie auferstehen,32 sofern sie nur mit ihm leiden, um auch mit ihm verherrlicht zu werden.33 27
Vgl. Hi 19,20. Vgl. Gal 3,27. 29 Vgl. 2Kor 1,22. 30 Vgl. Joh 1,29. 31 Vgl. Tit 3,7. 32 Vgl. Röm 6,8. 33 Röm 8,17. 28
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16. Sollen wir, während diese unter freiem Himmel dahinsiechen, in glänzendsten, mit verschiedenen Steinen geschmückten Häusern wohnen, welche in Gold und Silber, in Mosaik und bunten Gemälden leuchten und die Augen durch den Reiz täuschen? Sollen wir solche Häuser bewohnen? Sollen wir sie bauen? Doch für wen? Wir bauen sie vielleicht gar nicht für unsere Erben, sondern für Fremde und Ausländer, welche uns wohl nicht einmal lieben, sondern, was das Schlimmste ist, uns mit all ihrem Hass und Neid verfolgen. Während die Aussätzigen in abgenutzten, zerrissenen Lumpen frieren und vielleicht selbst daran Mangel leiden, sollen wir in weichen, wallenden Kleidern und in luftigen Geweben aus Leinen und Seide schwelgen, von welchen die einen nicht so sehr ein Schmuck als vielmehr eine Schande sind, als was ich alles Überflüssige und Unnütze bezeichne und von welchen die anderen in Kästen aufbewahrt werden, um uns unnütze, zwecklose Sorgen zu machen und von Motten und der alles tilgenden Zeit verschlungen zu werden? Selbst die notwendige Nahrung fehlt jenen. Hier Schwelgerei, dort Elend! Vor unseren Türen liegen sie, erschöpft und hungrig. Ihr Körper hat nicht die Kraft zu betteln. Es mangelt ihnen die Stimme, um zu klagen. Es fehlen ihnen die Hände, um zu flehen, die Füße, um da hinzugehen, wo man etwas hat, die Kraft der Lunge, um ihre Klagelieder ertönen zu lassen. Das schwerste Unglück nehmen sie am leichtesten: für ihre Blindheit sind sie dankbar, weil sie ihnen ihr Elend verhüllt. […] 27. Durch nichts hat der Mensch so sehr an Gott Anteil als durch das Wohltun, mag der eine auch mehr, der andere weniger Wohltaten spenden; jeder verfährt, wie ich glaube, nach seinen Kräften. Wenn Gott den Menschen erschaffen und nach seiner Verstoßung wieder aufgenommen hat, dann verachte auch du nicht den, der gefallen ist! Gott hat sich des gefallenen Menschen mit vollem Erbarmen angenommen, indem er ihm außer allem anderen das Gesetz [des Moses], die Propheten und zuvor schon als Richter das ungeschriebene Gesetz gegeben hat, um ihn zurechtzuweisen, zu mahnen, zu erziehen, und indem er schließlich sich selbst als Sühnopfer für das Leben der Welt hingegeben34 und Apostel, Evangelisten, Lehrer und Hirten, ferner Heilungen, Wunder, Rückkehr zum Leben, Befreiung vom Tode, Sieg über den Sieger, einen schattenhaften und einen wahren Bund, die Zuteilungen des Heiligen Geistes, die Geheimnisse des Neuen Bundes verliehen hat. Du aber, fähig, sogar seelische Wohltaten zu spenden, da Gott, wenn du nur guten Willen hast, dich auch hierin reich gemacht hat, unterlasse es nicht, dem Notleidenden auch seelisch zu helfen! Gib die notwendigsten Gaben vor allem dem, der 34
Vgl. Röm 3,25.
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dich darum bittet, erweise dich aber auch, ehe du gebeten wirst, den ganzen Tag barmherzig und leihe das Wort aus, um es eifrig mit Zins zurückzufordern, d.h. von dem Profit, welchen der Schuldner stets von dem Worte hat, etwas einzuverlangen, damit du allmählich die Samen des religiösen Lebens mehrest! Willst du nicht das Notwendigste spenden, dann gib das weniger Notwendige und Geringere, soweit du darüber verfügst! Bringe Hilfe, verabreiche Nahrungsmittel, schenke ein abgetragenes Kleid her, gib Arzneimittel, verbinde die Wunden, erkundige dich nach den Unglücklichen, ermuntere zur Geduld, fasse Mut, gehe selbst zu den Leuten! Du erniedrigst dich dadurch nicht, du wirst nicht angesteckt werden, wenn auch übertrieben ängstliche Menschen dies meinen, welche sich durch dummes Geschwätz betören lassen oder vielmehr, weil sie für ihren Kleinmut und ihre Gottlosigkeit eine Entschuldigung brauchen, zur Feigheit, als wäre sie etwas Großes und Weises, ihre Zuflucht nehmen. Lasse dich von der Vernunft und von den Kindern der Ärzte und von den Wärtern überzeugen, welche mit den Kranken zusammenwohnen; denn von diesen ist noch keiner trotz der Krankenpflege umgekommen. Mag auch der Krankendienst etwas Abstoßendes und Abschreckendes haben, aber du Diener Christi35, der du Gott und die Menschen liebst, darfst dir nichts Unwürdiges zuschulden kommen lassen. Fasse Mut im Glauben! Das Mitleid siege über die Feigheit, die Furcht Gottes über die Weichheit! Das religiöse Empfinden darf keine fleischlichen Einwände kennen. Den Bruder darfst du nicht verachten, an ihm nicht vorübergehen, nicht darfst du dich von ihm abwenden, als wäre er belastet, unrein oder sonst etwas, das man fliehen und verfluchen muss! Er ist ein Glied von dir, wenngleich er vom Unglück niedergebeugt ist. Der Arme ist dir als einem Gotte anvertraut, magst du auch hochmütig an ihm vorübereilen. Vielleicht vermag dieser Gedanke dich zu erweichen. Ein Vorbild der Nächstenliebe ist dir gegeben, mag auch der Fremde dich davon abhalten, das gute Vorbild nachzuleben. […] 40. Wenn ihr, Diener, Brüder und Erben Christi, nun auf mich hören wollt, dann wollen wir, solange es noch Zeit ist, Christus besuchen, Christus heilen, Christus ernähren, Christus bekleiden, Christus beherbergen,36 Christus ehren, aber nicht nur durch Bewirtung, wie es einige getan haben, und nicht gleich Maria mit Salben37 und nicht bloß durch ein Grab wie Joseph von Arimathea,38 auch nicht durch
35
Vgl. 1Kor 4,6. Vgl. Mt 25,31ff. 37 Vgl. Joh 12,3. 38 Vgl. Joh 19,38. 36
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Geschenke für die Beerdigung gleich Nikodemus,39 der erst ein halber Christ war, auch nicht mit Gold, Weihrauch und Myrrhe, wie es vor den Genannten die Magier getan hatten.40 Da der Herr der Welt Barmherzigkeit will und nicht Opfer41 und da Mitleid mehr Wert hat als Tausende von fetten Lämmern, so wollen wir ihm in den Notleidenden, die heute niedergestreckt sind, Barmherzigkeit zeigen, damit sie, wenn wir von hier scheiden müssen, uns in die ewigen Zelte aufnehmen in Christus, unserem Herrn, dem die Ehre sei in alle Ewigkeit. Amen! Quelle: Gregor von Nazianz, Reden. Über den Frieden, Über die Liebe zu den Armen. Deutsche Übersetzung von Philipp Haeuser bearbeitet von Manfred Kertsch, Schriften der Kirchenväter Bd. 5, München 1983, 33–68. © Kösel-Verlag
39
Vgl. Joh 19,39. Vgl. Mt 2,1ff. 41 Vgl. Hos 6,6; Mt 9,13. 40
51. Gregor von Nyssa: Von der Liebe zu den Armen (378) Gregor von Nyssa zählt mit seinem älteren Bruder Basilius (s. Texte 48; 49) und dessen Freund Gregor von Nazianz (s. Texte 50; 52) zu den kappadokischen Vätern. Geboren zwischen 335 und 340 wuchs Gregor in Casarea in Kappakokien auf. In seiner Erziehung übten seine Schwester Makrina und sein Bruder Basilius großen Einfluss aus. Anfang der 360er Jahre wurde Gregor kirchlicher Lektor, gab dieses Amt aber nach 364 auf, um als Rhetor tätig zu werden. 372 setzte ihn Basilius als Bischof in Nyssa am Halys ein. 375 wurde er von seinen arianischen Gegnern beschuldigt, Kirchengut verschwendet zu haben. Nach seiner Absetzung ging er ins Exil. 378 kehrte er als Bischof nach Nyssa zurück. Nach dem Tod seines Bruders Basilius führte er dessen christologische und trinitätstheologische Anliegen weiter. Auf dem Konzil von Konstantinopel (381) war Gregor wesentlich daran beteiligt, dass das Bekenntnis von Nicäa (325) bekräftigt, das Trinitätsdogma beschlossen und die Gottheit des Heiligen Geistes anerkannt wurde. Das Konzil ernannte Gregor zu einem der „Normbischöfe“, mit dem man übereinstimmen musste, um nicht als Häretiker (Irrlehrer) zu gelten. Gregor starb wahrscheinlich 394. Von Gregor von Nyssa sind zwei Predigten mit dem Titel „Über die Liebe zu den Armen“ überliefert. Die erste, 378 gehaltene Rede knüpft an zwei Predigten Gregors über das Fasten an. Bei der zweiten Rede aus dem Jahr 382 stehen die Armut und Ausgrenzung Leprakranker im Mittelpunkt. Im Folgenden wird die erste Predigt in Auszügen wiedergegeben. In ihr kommen unterschiedliche Facetten von Armut in den Blick. Mittel der antiken Rhetorik werden gezielt eingesetzt, um die Zuhörer zu erschüttern, deren Wahrnehmung für die Armen zu schärfen und ihr Mitgefühl zu wecken. Die Schilderungen beziehen sich auf reale Missstände, insbesondere auf die gotischen Überfälle, in deren Folge sich Kriegsgefangene und Vertriebene in Nyssa befanden. Die Situation der Armen wird mit der der Reichen kontrastiert. Argumentativ stellt Gregor insbesondere drei Motive heraus, die zur Liebe für die Armen bewegen sollen: Zum einen gelten ihm die in der Regel verachteten Armen als „Lieblinge Gottes“. Zum anderen soll die menschliche Wohltätigkeit Gottes wohltätigem Handeln entsprechen. Als Ebenbild Gottes strebt der Christ – so auch Basilius von Caesarea – durch sein moralisches Verhalten zu Gott als höchstem Ziel und wird in diesem unabschließbaren Prozess Gott ähnlich (homoiosis). Zudem macht Gregor deutlich, dass Christus selbst in den Armen präsent ist. Im Umgang mit ihnen und der irdischen Lebens-
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führung entscheidet sich die Frage nach dem ewigen Leben. Die Forderung der Liebe zu den völlig mittellosen und ausgegrenzten Armen richtet sich an die Reichen, aber auch an die relativ Armen, an die, die für ihren eigenen Lebensunterhalt hart arbeiten müssen. 1. […] Da wir nun in den zwei vorhergehenden Tagen die Lust des Gaumens und der Gurgel zurechtgewiesen haben,1 so glaubet nicht, dass ich auch heute mich in den gewohnten Ausdrücken ergehen werde, dass es sich nämlich gezieme, das Fleisch zu verschmähen, sich des Weines zu enthalten, der zum Lachen reizt und in Taumel versetzt, und auf die Köche und jede Bemühung des Weinschenks zu verzichten. Denn darüber habe ich mich hinlänglich ausgesprochen, und ihr habt in euerm Handeln die Wirksamkeit meines Rates gezeigt. Und da ihr im ersten Unterricht geübt seid, geziemt es sich auch nunmehr, euch allmählich die höheren und ernsteren Lehren mitzuteilen. Es gibt also auch außerhalb des Körpers ein Fasten und eine Mäßigkeit, die nicht mit dem Materiellen zusammenhängt, eine Enthaltsamkeit vom Bösen, die in der Seele sich zeigt, und wegen dieser ist uns auch diese Enthaltsamkeit im Genuss der Speisen vorgeschrieben. Fastet also in der Schlechtigkeit, mäßigt euch in der Begierde nach dem fremden Eigentum, enthaltet euch von ungerechtem Gewinn, hungert die Geldgier des Mammon aus. Kein Besitztum komme durch Gewalt oder Raub in dein Haus. Denn was nützt es, wenn dein Mund kein Fleisch berührt und du durch deine Schlechtigkeit gegen den Mitbruder dich bissig zeigst? Oder was ist es für ein Gewinn, wenn du dein Eigentum nicht verzehrst, aber das Eigentum des Armen in ungerechter Weise an dich ziehst? Oder was ist das für eine Frömmigkeit, wenn du, während du Wasser trinkst, eine Hinterlist aussinnest und aus Schlechtigkeit nach Blut dürstest? […] 3. Denn wenn wir diese Gesinnung haben, so wird Isaias zu uns sagen: „Warum fastet ihr zu Zank und Streit und schlaget den Armen mit Fäusten?“2 Vom nämlichen Propheten lass dich belehren über die Werke redlichen und reinen Fastens: „Löse jede Fessel der Ungerechtigkeit, löse die Schlingen gewaltsamer Verbindungen. Brich dem Hungrigen dein Brot und führe die Armen und Obdachlosen in dein Haus.“3 Eine große Zahl von Nackten und Obdachlosen hat uns aber die gegenwärtige Zeit gebracht. Denn viele Kriegsgefangene finden sich an jedermanns Türe. Auch an Fremden und Vertriebenen fehlt es nicht. Überall kann man die flehende Hand ausstrecken sehen. Diese 1
In der Rede beim Beginn der Fastenzeit. Jes 58,4. 3 Jes 58,6f. 2
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haben ihre Wohnung unter freiem Himmel, ihre Herberge in den Säulengängen, auf den Straßen und auf verödeten Marktplätzen. Und wie die Nachtraben und Eulen verkriechen sie sich in Löcher. Ihre Kleidung besteht in zerfetzten Lumpen, Feldbau ist ihnen der gute Wille der Barmherzigen, Nahrung, was ihnen der Zufall zuführt, Getränke wie den unvernünftigen Tieren die Quellen, Trinkgefäß die hohle Hand, Vorratskammer die Höhlung des Kleides und diese nur, wenn sie nicht zu weit ist, sondern das bewahrt, was hineingesteckt wird; Tisch die zusammengestemmten Knie, Bett der Fußboden, Bad ein Fluss oder See, was Gott allen als Gemeingut und ohne Zubereitung gegeben hat. Sie führen ein umherschweifendes und verwildertes Leben, das nicht schon ursprünglich so beschaffen war, sondern durch Unglück und Not so geworden ist. Diesen komme zu Hilfe, der du fastest, sei freigebig gegen die unglücklichen Brüder! Was du deinem Bauche entziehst, das lass dem Hungrigen zu kommen! Die Furcht Gottes zeige sich gerecht, indem sie gleichmäßig verteilt. Heile durch weise Enthaltsamkeit zwei einander entgegengesetzte Zustände, deine Übersättigung und den Hunger des Mitbruders. […] Möge meine Rede die Türen der Wohlhabenden öffnen. Es verschaffe mein Rat dem Armen Zutritt zum Besitzenden. Nicht ein bloßes Wort aber bereichere die Jammernden. Es verleihe ihnen Wohnung, Bett und Tisch das ewige Wort Gottes. Mit einem zutraulichen Worte liefere ihm das Nötige aus deinem Besitze. Außer diesen gibt es andere Arme, die krank darnieder liegen. Jeder sorge für seine Nachbarn. Überlass die Pflege dessen, der dir nahe steht, nicht einem andern. Nicht reiße ein anderer den dir bereit liegenden Schatz an sich. Umarme den Unglücklichen wie Gold. Umfange den Verunglückten wie deine Gesundheit, wie Rettung von Weib, Kindern, Dienern und dem ganzen Hause. Der kranke Arme ist ein doppelter Bettler. Denn die gesunden Armen gehen von Türe zu Türe und begeben sich zu den Besitzenden. Und indem sie an den Straßen sitzen, rufen sie alle Vorübergehenden an. Die aber von Krankheit bedrängt und in enge Herbergen und enge Winkel eingeschlossen sind, wie Daniel in der Löwengrube, warten auf dich als den Barmherzigen und den Freund der Armen, wie auf Habakuk.4 Werde ein Freund des Propheten durch Almosen. Als ein schneller Ernährer erscheine ohne Zaudern dem Dürftigen. Die Gabe bringt dir keinen Verlust. Sei ohne Furcht. Eine reichliche Frucht sprosst aus dem Almosen empor. Säe deine Gaben aus, und du wirst dein Haus mit einer guten Ernte füllen.
4
Dan 14,36.
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4. Aber du sagst vielleicht: Auch ich bin arm. Zugegeben. Gib, was du hast, denn Gott verlangt nichts Unmögliches. Du gib Brot, ein anderer gebe einen Becher Wein, ein anderer ein Kleid, und so wird das Unglück eines einzigen durch das Zusammenwirken mehrerer gehoben. Auch Moses nahm den Aufwand für das Zelt nicht von einem einzigen Steuerzahler, sondern vom ganzen Volke.5 Denn von den Reichen brachten ihm der eine Gold, der andere Silber, der Arme dagegen Felle, und wer noch ärmer als arm war, Haare. Du siehst, dass auch der Heller der Witwe mehr galt als die Opfergaben der Reichen. Denn diese gab alles hin, was sie besaß, die letzteren aber verminderten den Besitz um eine Kleinigkeit.6 Verachte die nicht, welche auf der Straße liegen, als ob sie keine Beachtung verdienten. Bedenke, wer sie sind, und du wirst ihren Wert erkennen; sie haben die Gestalt unsers Erlösers angenommen. Denn der Menschenfreund lieh ihnen seine Gestalt, damit sie dadurch die Unbarmherzigen und die Feinde der Bettler zur Milde bewegten, gerade so wie die, welche vor gewalttätigen Angriffen sich hinter die Bilder des Königs flüchten, um durch das Bildnis des Regenten den Übermütigen abzuschrecken. Das sind die Schatzmeister der erwarteten Güter, das die Pförtner des Himmelreiches, welche die Türen den Guten öffnen, den Unfreundlichen und Hartherzigen verschließen. Das sind sowohl heftige Ankläger als auch gute Verteidiger. Sie bringen aber ihre Verteidigung und Anklage nicht in Reden vor, sondern indem sie vom Richter gesehen werden. Denn was man ihnen getan hat, erhebt seine Stimme vor dem Kenner der Herzen lauter als irgendein Herold. Ihretwegen ist uns auch das furchtbare Gericht Gottes durch die Engel festgesetzt, von dem ihr oft gehört habt. Denn dort sah ich den Sohn des Menschen vom Himmel kommen und auf die Luft wie auf Land seinen Fuß setzen, in Begleitung vieler Tausende von Engeln, wie er hierauf auf den Thron der Herrlichkeit sich erhob, und das ganze Menschengeschlecht, das ins Dasein getreten war und von der Sonne beschienen wurde und diese Luft atmete, in zwei Teile geschieden und vor dem Richterstuhl aufgestellt war.7 Es wurden aber die zur Rechten Schafe genannt, und die auf der andern Seite hörte ich Böcke nennen, indem die Ähnlichkeit der Sitten ihnen diese Namen verschaffte. Und ich vernahm die Unterredung des Richters mit denen, die gerichtet wurden, und die Antworten der Gerichteten, die sie dem König gaben. Und allen wurde das verdiente Los zuerkannt, denen, die ein gutes Leben geführt hatten, der Genuss des Himmelreiches, den Hartherzigen und Bösen die Strafe des 5
Vgl. Gen 25;26. Mk 12,42–44. 7 Vgl. Mt 25,31–46. 6
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Feuers, die ewig dauert. Er beschreibt aber alles umständlich, und es hat uns das Wort ein genaues Gemälde vom Gerichte aus keinem anderen Grunde entworfen, als dass wir den Nutzen der Wohltätigkeit kennen lernen. Denn sie ist es, die das Leben zusammenhält, Mutter der Armen, Lehrerin der Reichen, eine gute Pflegemutter der Jünglinge, eine Stütze des Alters für die Bejahrten, eine Vorratskammer für die Notleidenden, ein gemeinsamer Hafen für die Unglücklichen, in dem sie auf alle Alter und Unglücksfälle ihre Vorsorge ausdehnt. Denn wie die, welche eitle Wettkämpfe anordnen, mit der Trompete ihr ehrgeiziges Streben ankündigen und allen auf dem Kampfplatze die Verteilung des Reichtums melden lassen, in gleicher Weise ruft die Wohltätigkeit alle zu sich, welche sich in Not und Unglück befinden, und teilt unter die, welche herzutreten, nicht Lohn für davon getragene Wunden, sondern Heilmittel für Missgeschick aus. Sie steht höher als jedes löbliche Werk, thront bei Gott als Freundin des Guten und ist in engster Freundschaft mit ihm verbunden. In dieser Weise erscheint uns Gott selbst vor allen als der Urheber der guten und milden Werke. […] 5. Willst du aber hören, wie er für die Unglücklichen sorgt, so vernimm es. Wer lehrte die Biene, das Wachs zu bereiten und mit diesem den Honig? Wer hat es veranstaltet, dass die Fichte, der Terpentinbaum und Mastixbaum jenen fetten Saft auströpfeln? Oder wer hat das Land der Inder zur Mutter von trockenen und wohlriechenden Früchten gemacht? Wer hat den Ölbaum gepflanzt zur Abhilfe in körperlichen Leiden und Schmerzen? Wer gab uns die Kenntnis der Wurzeln und Kräuter und unterrichtete uns über ihre Eigenschaften? Wer erfand die Arzneikunde, welche die Gesundheit herstellt? Wer ließ aus der Erde warme Quellen hervordringen, von denen die einen Kälte und Erweichung heilen, die andern Trockenheit und Verhärtung beseitigen? Man kann da mit Recht die Worte des Baruch anführen: „Dieser entdeckte jeden Weg der Wissenschaft und teilte ihn seinem Sohne Jakob mit und seinem geliebten Israel.“8 Deshalb gibt es Handwerke mit und ohne Gebrauch des Feuers und andere mit Anwendung des Wassers und unzählige Erfindungen von Künsten, damit zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nichts mangle. Und so ist Gott der erste Erfinder der Wohltätigkeit und ein zugleich reicher und mildtätiger Spender dessen, was wir brauchen. Wir aber, obschon uns jeder Buchstabe der Schrift lehrt, unsern Herrn und Schöpfer nachzuahmen, soweit dem Sterblichen die Nachahmung des Seligen und Unsterblichen möglich ist, scharren alles zu unserm eigenen Genuss zusammen, verwenden es teils für unser eigenes Le8
Bar 3,37.
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ben und sammeln es teils für unsere Erben. An die Unglücklichen aber denken wir nicht und kennen keine wohlangebrachte Sorge für die Armen. O unbarmherzige Gesinnung! Ein Mensch sieht seinen Mitmenschen an Brot Mangel leiden und die notwendigen Lebensmittel entbehren, und er springt ihm nicht bereitwillig bei und bringt ihm keine Rettung, sondern sieht zu, wenn er wie ein blühendes Gewächs durch Wassermangel jämmerlich austrocknet, obschon er reichlichen Überfluss besitzt und von seinem Reichtum vielen Trost spenden könnte. Wie nämlich der Abfluss einer einzigen Quelle viele ausgedehnte Flächen befruchtet, so vermag auch der Wohlstand eines einzigen Hauses Scharen von Armen zu retten, wenn nur nicht ein Filz und Geizhals wie ein Stein, der in den Abzugsgraben fällt, den Abfluss zurückdrängt. 6. Wollen wir nicht in allem dem Fleische,9 sondern in einigem auch Gott leben. […] Barmherzigkeit und Wohltätigkeit aber sind Gott angenehme Dinge, und den Menschen, in dem sie ihre Wohnung aufschlagen, machen sie zu einem Gotte und machen ihn zum Ebenbild des Guten, so dass er ein Gleichnis der ersten unvermischten und jeden Begriff übersteigenden Substanz ist. Aber welchen Ausgang unseres Strebens setzen sie in Aussicht? Jetzt eine herrliche Hoffnung und fröhliche Erwartung, später aber, wenn wir dieses hinfällige Fleisch ablegen und die Unsterblichkeit anziehen, ein seliges, unaufhörliches und unverwüstliches Leben, das mit außerordentlichen jetzt uns unbekannten Vergnügungen ausgestattet ist. Ihr also, die ihr mit Vernunft ausgerüstet seid und den Verstand als Dolmetscher und Lehrer der göttlichen Dinge besitzet, lasst euch nicht vom Zeitlichen berücken. Erwerbet, was dem Besitzer nie abhandenkommt, setzet euern Lebensbedürfnissen ein Ziel. Nicht alles sei für euch, sondern ein Teil auch für die Armen, die Lieblinge Gottes. Denn alles gehört Gott, dem gemeinsamen Vater. Wir aber sind Brüder eines Stammes. Für Brüder aber ist es am Geziemendsten und Gerechtesten, gleichheitlich sich in die Erbschaft zu teilen. In zweiter Reihe sollen, wenn einer oder zwei sich den größeren Teil angeeignet haben, die übrigen den Rest bekommen. Will aber einer geradezu des Ganzen sich bemächtigen und vom dritten oder fünften Teil seine Brüder verdrängen, so ist ein solcher ein harter Tyrann, ein unverbesserlicher Barbar, ein unersättliches Tier, das mit Lust allein den Fraß verschlingt oder vielmehr sogar wilder als selbst die wilden Tiere. Denn ein Wolf lässt einen andern Wolf am Fraß Teil nehmen, und viele Hunde zerfleischen gemeinsam einen einzigen Körper. Der Unersättliche aber zieht keinen Stammesgenossen bei, um ihn an seinem 9
Röm 8,13.
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Reichtum Teil nehmen zu lassen. Es genügt dir ein mäßiger Tisch. Lass dich nicht in das Meer maßloser Schmauserei stürzen. Denn schrecklich ist der drohende Schiffbruch, der nicht an unterseeische Felsen stößt, sondern in die tiefste Finsternis schleudert, von wo der, welcher hineinstürzte, nicht mehr herauskommen wird. Mache also Gebrauch, aber keinen Missbrauch. Denn das hat dich auch Paulus gelehrt.10 Überlass dich einem mäßigen Genuss. Gib dich nicht zügelloser Wollust hin. Bringe nicht geradezu allen Tieren den Untergang, den vierfüßigen, großen, kleinen, den Vögeln, Fischen, den gewöhnlichen, den seltenen, den wohlfeilen, den kostspieligen. Fülle nicht mit dem Schweiß vieler Jäger deinen einzigen Bauch gleich einem tiefen Brunnen, der sich, wenn ihn auch viele Hände zu verschütten suchen, nicht füllen lässt. […] Was führt aber die Schwelgerei in ihrem Gefolge mit sich? Denn es muss das Böse, wo nur immer die Krankheit ausbrechen mag, die verwandten Stoffe nach sich ziehen. Die, welche gleich den Sybariten11 einen üppigen Tisch halten, lassen sich notwendig zur Aufführung großartiger Gebäude hinreißen und verwenden ihren reichen Wohlstand auf große und übermäßig geschmückte Häuser. […] Denke dann ferner an die Mischkrüge, Dreifüße, Fässer, Gießkannen, Schüsseln, unzähligen Gattungen von Trinkgeschirren, Possenreißer, Komödianten, Zitherspieler, Sänger, Witzmacher, Tonkünstler, Tonkünstlerinnen, Tänzerinnen, an den ganzen Tross einer üppigen Lebensweise, Knaben mit weibischem Haarschmuck, schamlose Mädchen, an Zuchtlosigkeit Schwestern der Herodias, die den Johannes töten,12 nämlich den göttlichen und weisen Sinn eines jeden. 7. Während dies alles im Hause vor sich geht, lagern vor der Türe unzählige Lazarusse, die einen voll ekelhafter Geschwüre, die andern mit ausgestochenen Augen, während wieder andere über die Verstümmelung der Füße seufzen, und einige nach Verlust aller Glieder geradezu kriechen, und ihr Ruf wird nicht gehört. Denn er wird übertönt vom Laute der Flöten, von den Melodien der improvisierten Gesänge und dem lautschallenden Gelächter. Wenn sie aber an den Türen etwa zu lästig werden, so kommt der rohe Türhüter eines unbarmherzigen Herrn herbeigesprungen, schilt sie unverschämte Hunde, vertreibt sie mit dem Stocke und reißt mit Schlägen die Wunden von Neuem auf. Und es entfernen sich die Freunde Christi, an denen sich die Gesamtheit der Gebote erfüllen lässt, und haben kein Stücklein 10
1Tim 5,23. Das Luxusleben der Einwohner der griechischen Stadt Sybaris wurde im antiken Griechenland sprichwörtlich. 12 Vgl. Mt 14,1ff. 11
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Brot und keine Speise empfangen, sondern Misshandlung und Schläge davon getragen. Drinnen aber in der Werkstätte des Mammon speien die einen wie überladene Schiffe die Nahrung aus, andere aber schlafen am Tische ein, während noch die Becher vor ihnen stehen. Eine doppelte Sünde hat aber im schmachvollen Hause ihren Wohnsitz aufgeschlagen, die eine in der Unmäßigkeit der Betrunkenen, die andere im Hunger der vertriebenen Bettler. Wenn nun Gott dies schaut, wie er es wirklich sieht, ihr Feinde der Bettler, was für einen Ausgang glaubt ihr, dass es mit eurem Leben nehmen werde? Ist euch etwa unbekannt, dass das heilige Evangelium um dieser willen alle schrecklichen und furchtbaren Beispiele mit lautem Zeugnis verkündet? Es steht geschrieben von einem Manne, der sich in Purpur kleidete, wie er entsetzlich aufschrie und seufzte und in einem Abgrund von Qualen gepeinigt war.13 Und ein anderer von gleicher Lebensweise wurde zu einem unerwarteten Tode verurteilt, der am Abend noch an die Nahrung für den folgenden Morgen dachte und den Strahl der Morgenröte nicht mehr erlebte.14 Lasst uns nicht sterblich im Glauben und unsterblich im Genusse erscheinen. Denn eine solche Auffassung verraten wir, wenn wir in allem dem Fleische zu schmeicheln suchen, wie wenn wir als Familienhäupter keine Nachfolger hätten, wie wenn wir ewige Eigentümer des Irdischen wären, die in der Erntezeit die Aussaat besorgen wollen und schon in der Zeit der Aussaat den Wonnegenuss der Ernte zu finden hoffen, die eine Platane pflanzen und den Schatten eines hochgewachsenen Baumes hoffen, die den harten Kern der Palme in die Erde senken und süße Früchte erwarten. Und das tun sie oft mit grauem Haupte, da der Herbst des Lebens angebrochen, da der Winter des Todes nahe ist und zum Leben nicht mehr eine Reihe von Jahren, sondern drei bis vier Tage übrig sind. Erwägen wir also, da wir mit Vernunft begabt sind, dass unser Leben vergänglich, die Zeit flüchtig, unbeständig und unaufhaltsam ist, indem sie wie ein reißender Strom alles, was sie in ihrem Schoße umfängt, zuletzt dem Untergange zuführt. Und wäre sie doch, wie sie kurz und vergänglich ist, auch der Rechenschaft überhoben! Darin aber besteht unsere gefahrvolle Lage, dass wir für jede Stunde und sogar für die Worte, die wir reden, vor dem unbestechlichen Richterstuhle Rechenschaft geben müssen.15 Daher sehnt sich der selige Psalmist, indem er ähnliche Betrachtungen wie die eben von uns vorgetragenen anstellt, die festgesetzte Zeit seines Lebensendes zu erfahren, und er fleht zu Gott, ihm die Zahl der noch übrigen Tage wis13
Lk 16,19.23. Lk 12,18–20. 15 Vgl. Mt 12,36. 14
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sen zu lassen, um die Vorbereitungen zu seinem Hingang treffen zu können, damit er nicht plötzlich während der Reise wie ein unvorbereiteter Wanderer in Verlegenheit gerate, wenn er das nötige Reisegeld vermisst. Er sagt also: „Mach mir bekannt, o Herr, mein Ende und die Zahl meiner Tage, wie groß sie ist, damit ich erfahre, was mir mangelt. Sieh, als Handbreiten hast du meine Tage hingestellt, und mein Dasein ist wie nichts vor dir.“16 Sieh die lobenswerte Sorge einer verständigen Seele und zwar in einem Manne von königlicher Würde. Er schaut nämlich den König der Könige und den Richter der Richter, und er fleht, des vollkommenen Schmuckes der Gebote teilhaftig zu werden und als vollkommener Bürger des jenseitigen Lebens zu scheiden, an dem auch wir alle Teil nehmen mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem die Ehre sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Quelle: Greogor von Nyssa, Erste Rede von der Liebe zu den Armen, in: Ausgewählte Schriften des heiligen Gregorius, Bischofs von Nyssa, übersetzt von Joseph Fisch, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Serie, Bd. 70, Kempten 1880, 196–209.
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Ps 38,5f. [hebr. Ps 39,5f.].
52. Gregor von Nazianz: Trauerrede auf Basilius (381) Basilius der Große starb am 1. Januar 379 – durch lange Krankheit und kirchenpolitische Auseinandersetzungen aufgezehrt. Gregor von Nazianz (s. Text 50), der seit der gemeinsamen Studienzeit in Athen mit Basilius freundschaftlich verbunden war, setzte mit seiner Trauerrede auf Basilius, die er wahrscheinlich im August oder September 381 in Caesarea gehalten hat, dem herausragenden Theologen und Kirchenführer ein literarisches Denkmal. Die folgenden Ausschnitte machen deutlich, welche Bedeutung der Diakonie im Denken und Handeln des Bischofs im kappadokischen Caesarea zukam. Gregor erinnert in seiner Trauerrede insbesondere an Basilius‘ Einsatz während der Hungersnot (s. Text 48) und preist die von Basilius errichtete „neue Stadt“ vor den Toren Caesareas (s. Text 49) als Ort der Barmherzigkeit, der weitaus schöner und bedeutender ist als die klassischen Weltwunder. 34. Von seiner sorgenden und schützenden Tätigkeit für die Kirche liegen viele andere Beweise vor: der Freimut gegenüber den Gebietenden, sowohl den anderen als den Mächtigsten der Stadt; unbezweifelte und von ihm normierte Beilegung von Zwisten, wo seine Rechtlichkeit für Gesetz galt, wiederholte Unterstützung der Dürftigen, meistens geistliche, nicht selten aber auch leibliche (denn auch das frommt häufig der Seele, welche es durch Wohlwollen für sich gewinnt), Speisung der Armen, Bewirtung der Fremden, Fürsorge für die Jungfrauen, geschriebene und ungeschriebene Ordnung des Mönchwesens, Regelung des Gottesdienstes, Reform des Klerus und wodurch sonst noch der wahre Mann Gottes und in Verbindung mit Gott den Gläubigen nützt. Noch etwas, was das Größte und Herrlichste ist. Es war eine Hungersnot und zwar die drückendste seit Menschengedenken; die Stadt litt an Mangel und von nirgends her kam Unterstützung und nirgends fand sich ein Hilfsmittel gegen die Bedrängnis. Den Ländern am Meer fallen derartige Zeiten der Not nicht schwer, da sie ihre Erzeugnisse ausführen und die nötigen von dem Meere empfangen; wir Festländer aber haben selbst von dem Überfluss keinen Nutzen und das Notwendige können wir uns nicht verschaffen, da wir nicht im Stande sind, etwas, was wir hätten, auszuführen und das, was wir nicht haben, einzuführen; und das Schrecklichste in derartigen misslichen Lagen ist noch das Hinzukommen der Hartherzigkeit und Habsucht der Besitzenden. Sie spekulieren auf harte Zeiten und ziehen Gewinn aus der Not und bereichern sich durch das
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Unglück und weder hören sie, dass dem Herrn auf Zinsen leihet, wer sich der Armen erbarmt,1 auch nicht, dass verflucht ist unter dem Volke, wer Korn verbirgt,2 noch etwas anderes, was den Barmherzigen verheißen oder den Unbarmherzigen angedroht ist. Sie sind vielmehr habgierig über Gebühr und sorgen schlecht für sich; denn während sie diesen ihr Herz verschließen, verschließen sie sich das Herz Gottes und vergessen, dass sie dessen mehr bedürftig sind, als jene ihrer. So handeln die Getreidekäufer und Getreidehändler, die weder durch die Verwandtschaft sich rühren lassen noch gegen Gott dankbar sind, durch dessen Gnade sie Getreide haben, während andere darben müssen. 35. Basilius konnte nun zwar nicht auf sein Gebet Brot vom Himmel regnen lassen,3 nicht in der Wüste speisen das flüchtige Volk, auch nicht unerschöpfliche Nahrungsquellen lassen aus Krügen, die sich – o Wunder! – füllten, wenn sie leer waren, um zur Vergeltung der Gastfreundschaft sie zu nähren, welche Nahrung spendete,4 und auch nicht Tausende mit fünf Broten sättigen, wovon die Überbleibsel noch für viele Tische reichten. Das nämlich tat Moses und Elias und mein Gott, von dem auch jene diese Macht hatten. Es war auch vielleicht angemessen jenen Zeiten und der damaligen Ordnung der Dinge; denn die Wunderzeichen sind für die Ungläubigen, nicht für die Gläubigen.5 Aber was dem gleich und auf das Nämliche hinauskommt, das dachte er aus und vollbrachte er mit demselben Glauben. Mit seinem Wort und seinen Mahnreden öffnete er die Vorratskammern der Reichen und, wie es in der Schrift heißt: er bricht den Hungrigen Brot,6 sättiget die Armen mit Speise,7 ernährt sie in ihrem Hunger8 und erfüllt die Hungrigen mit Gütern.9 Und auf welche Art? Denn auch dieser Umstand trägt nicht wenig bei zu seinem Lob. Er bringt die an einen Ort zusammen, welche der Hunger quält, auch einige, die nur schwach mehr atmen, Männer und Weiber, Kinder und Greise, die Unglücklichen von jedem Alter, bettelt zusammen jegliche Art Nahrung, wodurch der Hunger gestillt wird, stellt Töpfe hin mit Hülsenfrüchten und mit dem bei uns üblichen eingepökelten Fleisch, der Nahrung der Armen. Nachahmend kann das Beispiel 1
Spr 19,17. Spr 11,26. 3 Ex 16,15; Ps 78,24. 4 1Kön 17,14. 5 1Kor 14,22. 6 Jes 58,7. 7 Ps 131,15. 8 Ps 33,19. 9 Lk 1,53. 2
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Christi, welcher, umgürtet mit einem leinenen Tuche, es nicht verschmähte, seinen Jüngern die Füße zu waschen10 und, die Hilfe seiner Söhne oder Mitarbeiter hierfür in Anspruch nehmend, trug er Sorge für den Leib, trug er Sorge für die Seele der Armen, der nötigen Nahrung beifügend, die Ehre und in beiden Beziehungen Erleichterungen verschaffend. […] 63. Was noch? Schön ist es, Barmherzigkeit zu üben, die Armen zu pflegen, der menschlichen Schwachheit Hilfe zu bringen. Geh‘ ein klein wenig hinaus vor die Stadt und schaue die neue Stadt, die Vorratskammer der Frömmigkeit, den gemeinsamen Schatz der Besitzenden, wo der Überfluss des Reichtums, ja sogar die notdürftige Habe auf seine Aufforderungen hin aufgehäuft wird, welche die Motten vertreibt und die Diebe nicht anlockt, welche der Anfeindung des Neides und der Vernichtung durch die Zeit entgeht; wo die Krankheit geduldig ertragen, das Unglück glücklich gepriesen und das Mitleid erprobt wird. Wie sollte ich mit diesem Werke vergleichen das siebentorige und das ägyptische Theben, die babylonischen Mauern, das Grabmal des Kariers Mausolus, die Pyramiden, die ungeheure Erzmasse des Kolosses, die Größe und Schönheit von Tempeln, die nicht mehr sind, und alle anderen Bauwerke, welche die Menschen bewundern und in den Geschichtsbüchern überliefern, wovon keines den Erbauern, abgesehen von einem eitlen und geringen Ruhme, einen Vorteil gebracht hat? In meinen Augen verdient die größte Bewunderung der kurze Weg zum Heile, der leichteste Pfad zum Himmel hinauf. Nicht mehr bietet sich uns dar der schreckliche und erbärmliche Anblick von Menschen tot vor dem Eingang, mit den meisten Gliedern des Leibes schon gestorben, ausgeschlossen aus den Städten, Häusern, von öffentlichen Plätzen, Brunnen, selbst von ihren besten Freunden ferngehalten, mehr durch ihren Namen kenntlich als durch ihren Leib; nicht mehr dürfen sie bei Zusammenkünften und Versammlungen erscheinen in Genossenschaft und Gemeinschaft, durch ihre Krankheit weniger Mitleid als Abscheu erregend, Mitleid weckende Lieder singend, wenn einigen noch die Stimme übrig geblieben ist. Was soll ich all‘ unsere Leiden in Jammerworten aufzählen, da die Rede dem Unglück doch nicht gewachsen ist? Aber er hat am besten unter allen uns gesagt, dass wir Menschen sind und deshalb Menschen nicht verachten und Christo nicht Schmach antun dürfen, ihm, dem einen Haupte aller, durch Unmenschlichkeit gegen jene, dass wir vielmehr bei fremdem Unglück für uns wohl sorgen und Gott Barmherzigkeit auf Zinsen leihen müssen, da wir selbst der Barmherzigkeit bedürftig sind. Der Edle und Sprössling eines edlen 10
Vgl. Joh 13,1ff.
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Geschlechtes und Hochberühmte verschmähte es darum nicht, selbst mit den Lippen die Kranken zu ehren, sondern er umarmte sie wie seine Brüder, nicht, wie man glauben möchte, aus Sucht nach eitlem Ruhm (denn wer war in solchem Grade frei von dieser Leidenschaft?), sondern um durch sein frommes Verhalten zu lehren, dass man sich den Kranken nähern müsse, um sie zu heilen – eine Mahnung erteilt durch Reden und Schweigen. Und nicht, dass die Stadt also es hielt, das Land aber und die Ferne anders; sondern allen Vorstehern der Gläubigen stellte er die Liebe zu den Armen und die Mildherzigkeit als Gegenstand gemeinsamen Wetteifers hin. Und mögen anderen Köche, glänzende Tische, ausgesuchte Delikatessen und Leckerbissen der Zuckerbäcker, prächtige Wagen und jedmögliche weiche und wallende Kleidung am Herzen liegen: dem Basilius lagen am Herzen die Kranken und die Heilung der Wunden und die Nachfolge Christi, indem er nicht mit dem Worte, aber mit der Tat den Aussatz reinigte. Quelle: Gregor von Nazianz, Trauerrede auf Basilius. Rede 43, in: Ausgewählte Schriften des hl. Gregor von Nazianz, Patriarchen v. Constantinopel u. Kirchenlehrers, nach dem Urtexte übersetzt und mit einer kurzen Lebensbeschreibung des Heiligen und Einleitung versehen von Johann Röhm, 1. Bd., Bibliothek der Kirchenväter, Kempten 1874, 213–290: 246–248; 271–272.
53. Johannes Chrysostomus: Predigt über das Almosen (um 390) Johannes wurde um 350 in der syrischen Metropole Antiochia als Sohn eines hohen Militärs geboren. 372 ließ er sich taufen und trat als Lektor in den Dienst der Kirche. 375 zog er sich zunächst in eine Mönchsgemeinschaft zurück und führte dann als Eremit ein Leben in strengster Askese. Aufgrund seiner schwachen Konstitution gab er 381 das Einsiedlerleben auf und stellte sich erneut der Kirche von Antiochien zur Verfügung. Johannes wurde 381 zum Diakon geweiht. Mit seiner Weihe zum Presbyter (386) übernahm er das Amt des Hauptpredigers von Antiochien. Aufgrund seiner außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten, die ihm den Beinamen Chrysostomus (Goldmund) eintrugen, wurde Johannes 398 zum Bischof von Konstantinopel berufen. Streitigkeiten mit dem Hof, insbesondere mit Kaiserin Eudoxia (um 380–404), führten bald zu seiner Absetzung und ersten Verbannung. Nach seiner Rückkehr wurde er endgültig abgesetzt und nach Armenien verbannt. Als sein Exilsort zunehmend zum Ziel von Wallfahrten wurde, sollte er in den Kaukasus deportiert werden. Auf dem strapaziösen Weg dahin starb er am 14. September 407. Johannes war der „letzte große Stadtrhetor der antiken Welt“ (Rudolf Brändle). Der soziale Charakter des Christentums und das Eintreten für die Armen stehen im Zentrum seiner Predigten. Dabei kommt die städtische Armut der Antike in den Blick. In der wohlhabenden Metropole Antiochia, die Ende des vierten Jahrhunderts zwischen 400.000 und 500.000 Einwohner zählte, waren einige tausend Menschen bettelarm, und ca. 50.000 lebten am Rand des Existenzminimums. Johannes Chrysostomus, der sich als Sachwalter der Armen verstand, kritisierte wie kein anderer Kirchenvater den Reichtum und die Unbarmherzigkeit der Reichen. Dem Anspruch auf Privateigentum gegenüber macht er die Gütergemeinschaft als naturgemäße, in der Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft gründende Wirtschaftsform geltend. Das Gleichnis vom großen Weltgericht (Mt 25,31–46) dient ihm als Magna Charta seines Verständnisses der Armut und des christlichen Hilfehandelns. Erzwungene materielle Armut widerspricht dem Willen Gottes und der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Da Christus selbst im Armen begegnet, so Chrysostomus, sei es besser, einmal einem „Unwürdigen“ ein Almosen zu geben, als Christus im Armen zu übersehen. Die Predigt, die hier in Auszügen wiedergegeben ist, hat Johannes Chrysostomus als Presbyter in Antiochien frei gehalten. Die von Schreibern festgehaltenen Ausführungen wurden dann von Johannes für den
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Druck bearbeitet. Der Predigt liegt 1Kor 16,1–4 zugrunde. Johannes Chrysostomus entfaltet die für ihn zentrale Vorstellung der eleemosyne („Almosen“). Almosen umfassen nicht nur Spenden, sondern darüber hinaus verschiedene Akte der Barmherzigkeit. Dabei reflektiert Chrysostomus Armut stets in Relation zum Reichtum und den damit verbundenen Lebensformen. Auf diese Weise lenkt er die Bedürftigkeitsprüfung und -kontrolle von Armen kritisch auf die Reichen zurück. 1. Als Gesandter einer ebenso gerechten wie nützlichen und geziemenden Sache bin ich aufgestanden, um sie heute vor euch zu vertreten. Niemand anderes hat mich dazu bevollmächtigt als unsere in der Stadt lebenden Bettler, weder durch Befehl oder Abstimmung noch durch einen gemeinsamen Beschluss der Ratsversammlung, sondern durch ihren bemitleidenswerten und höchst traurigen Anblick. Denn als ich über den Marktplatz und durch die engen Gassen ging, als ich zu eurer Zusammenkunft eilte, sah ich mitten auf den Straßen viele zugrunde gehen: Den einen sind die Hände zerstört, den anderen die Augen, einige sind voller Geschwüre und unheilbarer Wunden und besonders die [Körper]teile waren offen sichtbar, die wegen der an ihnen aufbewahrten Fäulnis zu verhüllen notwendig wäre. Da meinte ich, von äußerster Unmenschlichkeit zu sein, wenn ich nicht zu eurer Liebe über diese sprechen würde, besonders, da zu dem Gesagten auch die Jahreszeit hinzukommt. Es ist zwar immer nötig, über das Almosen Reden zu halten, da auch wir von unserem Herrn viele dieser Almosen erbitten, besonders aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei dieser großen Kälte. […] In der Zeit des Winters […] umgibt sie von allen Seiten heftiger Krieg; zweifach ist die Belagerung: von innen richtet der Hunger ihre Eingeweide zugrunde, von außen her lässt die Kälte den Körper erstarren und macht ihn zu einem Toten. Deshalb brauchen sie mehr Nahrung, festere Kleidung, eine Decke, ein Strohlager, Sandalen und vieles mehr. Was aber schlimmer als alles ist: Es gibt für sie keine Gelegenheit zur Arbeit, denn die Jahreszeit gestattet es nicht. Da aber nun auch der Mangel an dem Nötigsten größer und ihnen überdies das Arbeiten genommen ist – niemand diesen Elenden Arbeit gibt oder sie in seinen Dienst ruft –, wohlan, dann wollen wir, die Hände der Barmherzigen, an die Stelle der Arbeitgeber treten. Der wahre Beschützer und Fürsprecher derer, die in Armut leben, Paulus, ist ein Gehilfe bei meiner Gesandtschaft, die ich erfülle. Dieser hat viele seiner Taten der Fürsorge gewidmet so wie kein zweiter. Deshalb teilte er zwar die Jünger mit Petrus, nicht aber die Fürsorge der Armen, sondern sagte: Sie gaben mir und Barnabas den Handschlag der Gemeinschaft, damit wir uns an die Heiden, sie aber den Juden zuwenden, und er fügt
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hinzu, allein der Armen sollen wir eingedenk sein, was ich auch eifrig getan habe.1 Überall in den Briefen bringt er dann auch die Rede auf diese, und es findet sich nicht ein einziger Brief, der ohne diese Mahnung wäre. Denn er wusste, wie groß die Kraft dieses Handelns ist. Deswegen fügt er, gleichwie einem Haus das bewundernswerte Dach aufgesetzt wird, so den übrigen Mahnungen und Ratschlägen die Belehrungen über diese [Armen] hinzu. Das hat er auch an der Stelle über die Auferstehung gemacht, die ich erklären werde. Nachdem er über die Auferstehung gesprochen hat und nach all den anderen Anordnungen schließt er mit der Lehre über das Almosen: Was die Sammlung für die Heiligen betrifft, sagt er, wie ich es angeordnet habe in den Gemeinden Galatiens, so macht es auch hier. An jedem ersten Wochentag möge jeder von euch…2 Beachte den apostolischen Verstand, wie er gerade im richtigen Moment diese Mahnung anknüpft! Nachdem er des zukünftigen Gerichts und jenes fürchterlichen Richterstuhls gedachte, erinnerte er auch an die Herrlichkeit, mit der die Aufrichtigen bekleidet werden und an das ewige Leben. Dann jedoch bringt er die Rede auf diese, damit der Hörer aufgrund der glücklichen Erwartungen aufatmet und erleichtert ist, mehr noch den Trost aufnehmen wird, stark ist gegenüber der Angst vor dem Gericht und die Seele frohlockt in der Erwartung auf die für sie aufbewahrten Wohltaten. Wer aber über die Auferstehung nachzudenken vermag, der verändert sich auch völlig auf das Leben dort hin. Nichts, wird er meinen, ist das Gegenwärtige – nicht Geld oder Wohlstand, goldenes Geschirr, Silber, Anziehen von Kleidern, weder Überfluss noch üppige Speisen – diese Dinge hält er für Nichts. Wer diese Dinge auch für Nichts hält, der wird sich leichteren Herzens dem Beistand der Armen widmen. Deshalb hat Paulus, nachdem er das Denken durch seine Betrachtungen über die Auferstehung vorbereitet hat, dann seine Mahnung eingefügt. Aber er sagt nicht: „Was die Sammlung für die Bettler oder Armen betrifft“, sondern: für die Heiligen!3 Er will nämlich die Zuhörer belehren, auch die in Armut zu bewundern, wenn sie fromm sind, und die in Reichtum zu bespeien, wenn sie die Tugend missachten. Er weiß auch einen König unheilig zu nennen und unrechtmäßig, weil er ein Feind Gottes war, und die Bettler Heilige, wenn sie anständig waren und gerecht. Beispielsweise Nero bezeichnete er als Geheimnis des Frevels: Denn es regt sich bereits das Geheimnis des Frevels.4 Diese aber, die sich nicht einmal das Nötigste zu essen beschaffen 1
Gal 2,9f. Vgl. 1Kor 16,1f. 3 Vgl. 1Kor 16,1. 4 2Thess 2,7. 2
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können, sondern sich von Erbetteltem ernähren, nennt er Heilige. Zugleich belehrt er unbemerkt jene, nicht großspurig zu denken und überheblich zu werden aufgrund des Auftrages Gaben [zu entrichten], als ob es Unbedeutende und zu Verachtende wären, denen sie geben. Sie sollen vielmehr genau wissen und überzeugt sein, dass sie höchste Ehre zu verdanken haben, wenn sie für würdig befunden werden, an der Bedrängnis jener teilzuhaben. […] Dann erläutert er auch das Verfahren: Je am ersten Wochentage, sagt er, lege ein jeder von euch bei sich zurück, aufbewahrend, was ihm leicht fällt, damit nicht erst, wenn ich angekommen bin, Sammlungen veranstaltet werden.5 Er nennt den ersten Wochentag, den Sonntag. Und warum bestimmt er diesen Tag für ihren Beitrag? Warum sagt er nicht: am zweiten Wochentag, am dritten Wochentag oder an dem Wochentag [, der ihnen beliebt]. Nicht einfach so oder zufällig, sondern er will auch durch den Zeitpunkt einen Bundesgenossen gewinnen, damit sie eifriger ihre Beiträge leisten. Denn nicht zu unterschätzen ist die Eignung des Augenblicks für jedes Tun. Und was – fragt man – macht diesen Zeitpunkt so geeignet zu überzeugen, Almosen zu geben? Das Enthalten von jeder Arbeit an diesem Tag; das Heitererwerden der Seele aus der Ruhe; aber mehr als alles: dass uns selbst an diesem Tag zahllose Wohltaten zuteil geworden sind. Denn an diesem Tag wurde der Tod vernichtet, der Fluch ausgelöscht, die Sünde getilgt, die Pforten des Hades wurden zerschmettert, der Teufel wurde gefesselt, der langanhaltende Krieg wurde hinweggenommen und die Versöhnung Gottes mit den Menschen geschah. Und in den früheren, oder besser, in unseren um vieles höheren Adelsstand wurde die Menschheit erhoben. Die Sonne gewahrte jenen wunderbaren und unerwarteten Anblick: Der Mensch war unsterblich geworden. Weil [Paulus] uns an all dies und ähnliches erinnern will, führt er diesen Tag in die Mitte, beinahe als Anwalt nimmt er ihn hinzu und sagt über ihn: „Mensch, bedenke, was für große Wohltaten du diesem Tag zu verdanken hast! Und von wie großem Unglück du befreit wurdest. Wer warst du früher? Wer bist du nach diesen [Ereignissen]?“ Wenn wir unseren Geburtstag und viele Sklaven auch den Tag, an dem sie freigelassen wurden, in großer Herrlichkeit verbringen, die einen Festmähler halten, die Freien aber Geschenke verteilen und so dies Datum sehr schätzen, um wieviel mehr müssen wir den Tag ehren, den man ohne Zweifel als Geburtstag der ganzen menschlichen Gattung bezeichnen kann. Denn wir waren verloren und wurden wiedergefunden,6 Tote waren wir und wurden wieder lebendig, Feinde waren wir und wurden versöhnt. Deshalb ziemt es sich auch, ihn in geistvoller 5 6
1Kor 16,2. Vgl. Lk 15,24.
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Achtung zu ehren, nicht durch Halten eines Festmahls, weder durch Weingelage noch durch Trunkenheit und Tänze, sondern indem wir an die Ärmeren unter den Brüdern in großer Fülle austeilen. Ich sage dies nicht, damit ihr lobt, sondern damit ihr danach handelt. Meint nämlich nicht, dass diese Worte allein an die Korinther gerichtet sind, sondern auch an jeden von uns und alle, die nach uns kommen werden. Lasst uns genau das tun, was Paulus anordnete: An jedem Sonntag lege jeder zu Hause das Geld des Herrn zurück. Das sei Gesetz und feste Gewohnheit. Dann werden wir keiner weiteren Ermahnungen und Belehrungen mehr bedürfen. Keine Rede oder Belehrung bewirkt in einem solchen Maße Stärke wie eine durch Zeit gefestigte Gewohnheit. Wenn wir festsetzen, an jedem Sonntag etwas als Hilfe für die Armen zurückzulegen, werden wir, auch wenn zahlreiche Nöte auftreten, von diesem Gesetz nicht abweichen. Nachdem er sagt: Je am ersten Wochentag, fährt [Paulus] fort, jeder von euch.7 „Nicht allein die Reichen spreche ich an“, sagt er, „sondern auch die Armen, nicht nur Freie, sondern auch Knechte, nicht nur Männer, sondern auch Frauen.“ Niemand sei frei von diesem Dienst, ohne Anteile an diesem Gewinn, sondern jeder trage dazu bei. Denn Armut ist bei der Entrichtung kein Hindernis. Auch wenn du sehr arm wärest, dann bist du nicht ärmer als jene Witwe, die ihre ganze Habe weggab.8 Auch wenn du bettelarm wärest, bist du nicht ärmer als die sidonische Frau, die nur Mehl hatte, aber deshalb nicht in Not geriet bei der Begrüßung des Propheten. Obwohl sie die Schar ihrer Kinder umherstehen sah und wusste, dass der Hunger sie bedrängte und nichts beiseitegelegt war, hat sie den Propheten mit großer Bereitwilligkeit aufgenommen.9 Weshalb sagt Paulus: Jeder lege bei sich zurück, aufbewahrend10, weil der Geber sich vermutlich geschämt hätte und errötet wäre, über das wenige, was er gab. Deshalb sagt er: „Verwahre und behüte es und wenn die einzelnen Gaben, das Wenige, zu vielem geworden ist, dann tritt damit in die Mitte.“ Auch sagt er nicht: „Sammeln“, sondern: Aufbewahren, damit du lernst, dass diese Freigebigkeit ein Schatz ist, dass diese Ausgabe eine Einnahme wird. Ein Schatz, besser als jeder Schatz. Der Sichtbare kann nämlich bedroht und verkleinert werden und hat seine Besitzer schon oft zugrunde gerichtet. Der im Himmel – ganz und gar entgegengesetzt – bleibt unerobert, unbedroht und ist denen Rettung, die ihn erwerben und daran Anteil haben. Er erschöpft sich nicht mit der Zeit, er ist nicht dem Neid unter7
1Kor 16,2 a. Vgl. Mk 12,41–44. 9 Vgl. 1Kön 17,8–16. 10 1Kor 16,2. 8
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worfen, sondern er ist unbezwungen von all diesen Angriffen und bringt denen, die ihn sammeln, tausendfach Gutes. […] Nachdem er nun gesagt hat, wann, von wem und wie man dieses Geld sammeln muss, überlässt er das wieviel der Menge den Spendern selbst. Er sagt nicht: „trage soundsoviel bei“, damit die Anordnung keine Last wird – viele hätten ihm ihre Armut vorgehalten. Damit die Armen nicht sagen: „wir können aber nicht“, darum soll das Vermögen der Spender Maß ihrer Gaben bestimmen: Jeder von euch lege für sich zurück und bewahre auf, was ihm gelingen mag.11 Und er sagt nicht: „was du kannst“ oder „was du findest“, sondern: was dir gelingen mag12, um zu zeigen, dass von oben her Anstoß und Wohlwollen kommt, um ihm zu helfen. Paulus sah nämlich nicht allein darauf, wieviel Geld den Armen gegeben wurde, sondern auch, mit wieviel Bereitwilligkeit. Gott hat nämlich das Almosengeben nicht nur deshalb bestimmt, damit die Bedürftigen ernährt werden, sondern damit auch die Geldgeber Wohltaten empfangen, ja ihretwegen mehr als für jene. Denn hätte er nämlich nur auf jene gesehen, dann hätte er nur angeordnet, wieviel Geld zu geben ist, würde aber nicht auf die Bereitwilligkeit der Geber achten. Nun siehst du aber den Apostel überall vor allem darüber Anordnungen treffen, wie fröhlich, wie heiter die Spender [ihre Gabe] darbringen sollen. Auch sagt er einmal: Nicht aus Gram oder aus Zwang, denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.13 Nicht einfach einen Geber, sondern den, der es mit Lust tut! Und wieder anderswo: Wer teilt, der teile in Einfalt, wer vorsteht, stehe mit Eifer vor, wer barmherzig ist, tue es in Heiterkeit.14 Denn auch das gehört zum Almosen, freudig zu geben und dafür zu halten, dass man mehr nimmt, als man gibt.15 […] Viel gilt Gott die Lehre vom Erbarmen, nicht nur seines uns gegenüber, sondern auch unseres, die wir den Mitknechten zu tun schuldig sind. Sowohl im Alten als auch im Neuen [Testament] hat er darüber unzählige Gebote gegeben, worin er uns befiehlt, in jeder Weise Menschenfreundlichkeit zu üben, durch Worte, Geld und Taten. Auch Mose streute Worte darüber immer wieder in seiner gesamten Gesetzgebung ein. Die Propheten rufen es im Namen Gottes: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.16 Alle Apostel handeln und reden übereinstimmend auf diese Weise. Lasst uns diese Handlungsweise nun nicht vernachlässigen! Denn es sind nicht die Armen, sondern wir 11
Ebd. Ebd. 13 2Kor 9,7. 14 Röm 12,8. 15 Vgl. Apg 20,35. 16 Hos 6,6. 12
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selbst ziehen daraus den größten Nutzen und empfangen mehr, als wir geben. 6. Das sage ich gerade jetzt nicht ohne Grund, denn wir unterziehen die Bedürftigen oft einer genauen Prüfung und forschen nach ihrer Heimat, ihrem Leben und ihrem Charakter, ihrer Lebensweise, dem Befinden des Körpers, machen ihnen Vorwürfe und fordern unzählige Prüfungen ihrer Gesundheit. Wohl deshalb täuschen viele eine körperliche Schwäche vor, um mit der Darstellung ihres Unglücks unsere Gefühllosigkeit und Unmenschlichkeit umzubiegen. Wenn man ihnen nun im Sommer Vorwürfe macht, so ist es schrecklich, aber dann ist es nicht so hart. Jedoch wenn man im Winter und bei Kälte so grausam und unmenschlich Gericht hält und niemand bei den Untätigen Nachsicht übt, ist das nicht ein Übermaß an Hartherzigkeit? Was hat nun Paulus den Thessalonichern sozusagen angeordnet? Wenn einer nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen.17 Damit auch du darauf hörst, denn nicht nur zu jenen, sondern auch zu dir spricht Paulus diese Worte. Die Gesetze des Paulus sind nicht allein den Armen, sondern auch uns gegeben. Ich sage jetzt etwas Lästiges und Unangenehmes. Ich weiß, dass ihr zornig werdet. Trotzdem werde ich es sagen, nicht um [euch] zu verletzen, sondern ich sage es, um zurechtzurücken: Wir werfen denen Müßiggang vor, deren Tat oft der Verzeihung wert ist, wir aber beschäftigen uns oft mit Dingen, die viel schlimmer als Müßiggang sind. „Ich habe Vermögen von meinen Eltern“, sagt man. Der arm ist, von Armen abstammt und keine reichen Vorfahren hat, geht der gerechterweise zugrunde? Sage es mir! Deshalb möchte wohl dieser besonders der Barmherzigkeit und des Mitleides der Vermögenden würdig sein! Du verbringst nämlich oft den Tag in Theatern, in Gesellschaften und bei Versammlungen, die keinen Nutzen haben, redest mit vielen Schlechten und glaubst, nicht schlecht und müßig zu sein. Und diesen Unglücklichen und Geplagten, der den Tag in Flehen, Tränen und sehr großer Mühsal verbringt, den richtest du, ziehst ihn vor Gericht und forderst Rechenschaft? Sage mir, nennst du das menschliche Gesinnung? Wenn du sagst: „Was sollen wir Paulus erwidern?“ So wende dich nicht an die Armen, sondern besprich dies auch mit dir selbst. Ansonsten lese nicht nur die Drohung, sondern auch das über die Nachsicht. Derselbe, der sagte: Wenn einer nicht arbeitet, soll er auch nicht essen18, fügt hinzu: Ihr aber, Brüder, verliert nicht den Mut, das Gute zu tun.19 Aber wer von ihnen hat eine wohlklingende Entschuldigung? „Sie sind 17
2Thess 3,10. Ebd. 19 2Thess 3,13. 18
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irgendwelche Flüchtlinge“, sagt man, „Fremde und Taugenichtse, die ihre Heimat verlassen haben und sich in unserer Stadt sammeln.“ Weshalb, sage mir, regst du dich auf, zerrupfst den Ehrenkranz der Stadt, die alle als Zufluchtsstätte ansehen und, obwohl sie fremd ist, [der Stadt] vorziehen, die sie hervorbrachte. Deshalb solltet ihr stolz sein und euch freuen, dass alle zu euren Händen wie zu einem gemeinsamen Handelsplatz eilen und diese Stadt als eine gemeinsame Mutter ansehen. Zerstört doch nicht diesen Lobgesang, vernichtet nicht ihren von den Vorfahren herstammenden Ruhm. Denn als damals eine Hungersnot die ganze Erde bedrohte, haben die Bewohner dieser Stadt den in Jerusalem lebenden, von denen ich in der ganzen Predigt gesprochen habe, durch die Hände des Barnabas und Saulus nicht wenig Geld zukommen lassen.20 Wer von uns wäre wohl der Nachsicht wert, wie sieht unsere Entschuldigung aus, wenn unsere Vorfahren sogar die, die weitentfernt leben, mit ihrem Geld unterstützt haben und selbst zu ihnen geeilt sind, wir aber die, die von anderswoher zu uns geflohen sind, vertreiben und von ihnen genauste Rechenschaft fordern, obwohl wir doch wissen, dass wir an tausend Übeln schuldig sind! Wenn Gott uns so genau prüfen würde wie wir die Armen, dann würde uns keine Nachsicht und kein Erbarmen zuteilwerden. Mit welchem Maß ihr richtet, werdet auch ihr gerichtet werden.21 Sei nun freundlich und mild zu deinem Mitknecht und mache dich frei von vielen Sünden und sei barmherzig, damit auch du selbst gnädig gerichtet wirst. Warum verzettelst du dich in Händeln? Warum tust du Überflüssiges? Wenn Gott angeordnet hätte, die Lebensgeschichten zu untersuchen, Rechenschaft zu fordern und das Verhalten zu überprüfen, würden dann nicht viele zornig werden? Würden sie dann nicht zueinander sagen: „Was ist das? Gott hat uns eine unfreundliche Sache auferlegt. Können wir denn das Leben anderer erforschen? Kennen wir denn die Sünden von jenen?“ Würden nicht viele so reden? Jetzt aber, da er uns aber alle diese Betriebsamkeiten erspart und versprochen hat, uns den genau bemessenen Lohn zu geben, den wir uns durch Taten verschaffen, mögen die Empfänger Schlechte oder Gute sein, wollen wir die Dinge bei ihnen aufspüren. „Aber woher ist das denn so klar“, fragt man, „dass wir den Lohn empfangen, wenn wir den Guten und denen, die nicht so sind, geben?“ Es geht aus folgenden Worten des Herrn selbst hervor: Betet für die, die euch verfolgen und Gewalt antun, damit ihr eurem Vater im Himmel ähnlich werdet, der die Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte.22 20
Vgl. Apg 11,29f. Vgl. Mt 7,2; Lk 6,37f. 22 Mt 5,44f. 21
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Gleichwie nun dein Herr, obwohl unzählige gegen ihn lästern, unzählige Unzucht treiben, stehlen, plündern, Gräber öffnen und tausendfach Schlechtes tun, nicht von seinen Wohltaten an allen Menschen ablässt, sondern die Sonnenstrahlen, den Regen und die Früchte der Erde zum Gemeingut aller Menschen macht und so seine Menschenfreundlichkeit beweist, so sollst auch du handeln und wenn der rechte Moment für Erbarmen und Menschenfreundlichkeit da ist, dann beseitige die Armut, stille den Hunger, vertreibe die Angst, tue aber nichts Überflüssiges darüber hinaus. Wenn wir aber vorher die Lebensgeschichte herausfinden wollten, dann werden wir uns niemals eines Menschen erbarmen, sondern werden durch solche unangemessene Neugier gehindert, werden unfruchtbar und nicht zum Helfen kommen und wir unterziehen uns umsonst und vergebens großer Mühen: Deshalb fordere ich euch auf, von dieser unpassenden Kleinlichkeit abzulassen, allen Bedürftigen zu geben und dies mit großem Überfluss zu tun, damit auch wir selbst an jenem Tag viel Erbarmen und Menschenfreundlichkeit von Gott empfangen. Das möge uns allen zuteilwerden durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus. Ihm und zugleich dem Vater und dem Heiligen Geist ist Herrlichkeit, Macht und Ehre, jetzt und immerdar und in alle Ewigkeit. Amen. Quelle: Johannes Chrysostomus: Predigt über das Almosen, die er gehalten hat, als er zur Winterzeit im Vorübergehen Arme und Bettler unversorgt und ausgestoßen auf dem Marktplatz sah, Übersetzung von Heinrich Fucks/Almut Matting-Fucks (Migne PG 51, 262–272) unter Berücksichtigung von BdK (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Serie, Bd. 13) Ausgewählte Schriften des heiligen Chrysostomus, 3. Bd.: Des heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus ausgewählte Reden, aus dem Urtexte nach der Montfaucon’schen Ausgabe übersetzt von Matthias Schmitz, Kempten 1879, 239–261, in: Gerhard K. Schäfer (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, VDWI 4, Heidelberg 1991, 89–104.
54. Ambrosius von Mailand: Über die Pflichten der Kirchendiener (um 391) Ambrosius wurde wahrscheinlich 339 in Tier geboren. Er entstammte einer vornehmen Familie der römischen Senatsaristokratie. Nach einer Ausbildung, die rhetorische und juristische Studien und Kenntnisse der griechischen Sprache umfasste, trat er in den Staatsdienst ein und wurde 370 Konsular der Provinz Aemilia-Liguria mit Sitz in Mailand. Als er in dieser Funktion bei der anstehenden Bischofswahl 373 zwischen den zerstrittenen Parteien der Nicäner und Arianer zu vermitteln versuchte, wurde er selbst zum Bischof von Mailand gewählt. Er ließ sich taufen und empfing die Bischofsweihe. Ambrosius hat mit seinem Wirken entscheidende Weichen zur Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat gestellt. Er lehnte es entschieden ab, dem Kaiser die Oberhoheit in religiösen Fragen zuzugestehen, und wurde so zum „Wegbereiter der abendländischen Kirchenfreiheit“ (Ernst Dassmann). Umgekehrt wurde der Staat nicht in die weltanschauliche Neutralität entlassen. Der christlich gewordenen Staat war vielmehr dazu verpflichtet, die Verehrung des wahren Gottes zu fördern. Als Bischof war Ambrosius intensiv mit den vielfältigen sozialen Problemen seiner Gemeinde befasst, die sich rasch vergrößerte und sich mit der Einwohnerschaft der Stadt zu decken begann. Dabei leitete ihn der Grundsatz, der Besitz der Kirche diene dazu, die Armen zu unterstützen. Armenfürsorge sowie die Betreuung von Kranken und Gefangenen erforderten eine karitative Organisation mit entsprechender Verwaltung. Seit Konstantin dem Großen gehörte auch der Rechtsschutz für Hilflose und das Eintreten z.B. für Gefangene zu den bischöflichen Pflichten. Die folgenden Abschnitte markieren soziale Aufgaben und Problemstellungen, die Ambrosius in seinem moraltheologischen Handbuch Über die Pflichten der Kirchendiener (De officiis) dargestellt und erörtert hat. Der Mailänder Bischof war der erste westliche Theologe, der eine christliche Sittenlehre entwarf (um 391). Dabei diente ihm Ciceros De officiis als Vorlage. Ambrosius orientierte sich an der stoischen Morallehre, modifizierte sie aber und führte sie weiter, indem er ethische Bestimmungen im Willen Gottes fundierte und auf die Seligkeit des ewigen Lebens ausrichtete. Im Mittelpunkt der folgenden Textauszüge stehen das Maß der Wohltätigkeit, der Umgang mit dem Kirchengut und das Verhältnis des sittlich Guten zum Nützlichen: Angesichts der Gefahr, dass „starke“
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umherziehende Bettler kirchliche Güter missbräuchlich in Anspruch nehmen und damit die Mittel zur Armenunterstützung aufzehren, ruft Ambrosius dazu auf zu prüfen, ob Bittsteller tatsächlich bedürftig seien. Geben – so der Mailänder Bischof – soll Liebe und Gerechtigkeit verbinden. Die Sorge für die Notleidenden muss denen gelten, die krank und schwach sind, und insbesondere denen, die als verschämte Arme nicht in Erscheinung treten. Im Blick auf den Umgang mit den Schätzen der Kirche stellt Ambrosius das Beispiel des heiligen Laurentius vor Augen, der der Überlieferung zufolge als Archidiakon von Rom für die Verwaltung des Kirchenvermögens zuständig war. Nachdem Valerian (römischer Kaiser von 253–260) Papst Sixtus II. (Bischof von Rom von 257–258) hatte töten lassen, sollte Laurentius den Kirchenschatz herausgeben. Der Archidiakon verteilte diesen an die Mitglieder der Gemeinde und präsentierte dann eine Schar von Armen, Verkrüppelten, Leprösen, Witwen und Waisen als die wahren Schätze der Kirche. Laurentius soll danach auf einem glühenden Eisenrost hingerichtet worden sein. Schließlich betont Ambrosius, dass sich im Umgang mit Fremden in einer Zeit der Hungersnot Barmherzigkeit und Nutzenorientierung verschränken sollen. 2. Buch: Vom Nützlichen 69. Recht vielartig aber betätigt sich die Freigebigkeit: Sie reicht und teilt nicht bloß den des täglichen Bedarfes mangelnden Armen zum nötigen Lebensunterhalte Nahrung aus, sondern lässt auch den verschämten Armen ihre Sorge und Hilfe angedeihen, soweit nicht die allgemeinen Mittel zum Unterhalte der Armen dadurch erschöpft werden. Ich rede von dem Amtsvorsteher. Er soll, wenn er das Priester- oder Verwaltungsamt bekleidet, dem Bischof über solche Mitteilung machen und letztere nicht unterschlagen, wenn er von jemand weiß, dass er sich in dürftiger Lage befindet oder nach Einbuße des Vermögens in Not und Dürftigkeit geraten ist, zumal wenn er nicht durch Verschwendung in jungen Jahren, sondern durch Erpressung von irgendwelcher Seite und durch Vermögensverlust in diese missliche Lage gekommen ist, so dass er außerstande ist, den täglichen Aufwand zu bestreiten. […] 71. Eine besonders verdienstliche Freigebigkeit besteht sonach im Loskauf von Gefangenen, namentlich von einem barbarischen Feinde, der für Erbarmen nur soviel Menschlichkeit übrig hat, als die Habsucht sich im Fall des Loskaufes vorbehielt; ferner in der Übernahme fremder Schulden, wenn der Schuldner zahlungsunfähig ist und dennoch zu einer Zahlung gedrängt wird, die von Rechts wegen ge-
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schuldet und wegen Dürftigkeit nicht geleistet werden kann; in der Aufziehung von Kindern und der Beschützung der Waisen. 72. Auch gibt es Personen, die elternlosen Jungfrauen zum Schutz ihrer Keuschheit zur Ehe verhelfen und nicht bloß für ihre Unterstützung sich bemühen, sondern auch selbst sie durch Geldaufwand betätigen. Es gibt ferner jene Art Freigebigkeit, welche der Apostel lehrt: „Hat ein Gläubiger Witwen, soll er ihnen reichen, dass nicht ihre Ernährung der Kirche zur Last falle, damit diese denen, die wahrhaft Witwen sind, genügen könne“1. 73. Diese Art Freigebigkeit ist wohl nützlich, aber nicht jedermanns Sache. Denn es gibt gar manche, auch gute Menschen, die nur über geringes Vermögen verfügen: wohl zufrieden mit dem Wenigen für den eigenen Bedarf, aber außerstande, Hilfe zu leisten zur Linderung fremder Not. Doch da gibt es eine weitere Art von Wohltätigkeit, um einem Geringeren helfen zu können. Es gibt nämlich eine doppelte Freigebigkeit: eine, welche mit Sachunterstützung, d. h. mit Geldaufwand hilft; eine andere, oft viel glänzendere und viel rühmlichere, welche in werktätiger Hilfeleistung sich ergeht. […] 76. Es ist klar, dass es in der Freigebigkeit ein Maß geben muss. Das Geben darf nicht zwecklos sein, es muss vielmehr eine vernünftige Grenze dabei eingehalten werden, besonders von Seiten der Priester, dass sie sich beim Ausspenden nicht von Prahlsucht, sondern von Gerechtigkeit leiten lassen. Nirgend sonst gebärdet sich nämlich der Bettel zudringlicher. Da kommen kräftige Burschen, kommen Leute aus keinem anderen Grund als aus Stromerei und wollen die Armenunterstützungen aufzehren, deren Aufwand aufbrauchen. Mit Wenigem nicht zufrieden, verlangen sie größere Spenden, suchen mit der Kleidertracht ihrem Bettel nachzuhelfen und unter Vorspiegelung des Geburtstages doppelte Beträge zu ergattern. Wer solchen Leuten leicht Glauben schenkt, zehrt bald die Mittel auf, die dem Unterhalte der Armen dienen sollten. Ein Maß im Geben muss sein: die Armen sollen nicht leer ausgehen und ihr Lebensunterhalt nicht Gaunern als Beute überwiesen werden. Jenes Maß soll sein, dass einerseits der Menschenfreundlichkeit nicht Abbruch geschehe, andrerseits der Not die Hilfe nicht versagt bleibe. 77. Gar manche spiegeln Schulden vor. Man prüfe den wahren Sachverhalt! Sie klagen, sie seien durch Erpressungen ausgezogen worden. Das Unrecht, bzw. die Person, die einem etwa bekannt ist, müs1
1Tim 5,16.
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sen das beglaubigen, um dann desto bereitwilliger zu helfen. Den von der Kirche Ausgestoßenen soll eine Aufwendung zufließen, wenn es ihnen am nötigen Lebensunterhalt gebricht. Wer daher das rechte Maß einhält, ist gegen niemand knauserig, wohl aber gegen jedermann freigebig. Wir sollen ja nicht bloß ein Ohr für die Stimme der Bittenden, sondern auch ein Auge für die Nöten (der Nichtbittenden) haben. Einen lauteren Notschrei richtet der Anblick eines Bresthaften2 als die Stimme eines Armen an die Guttäter. Freilich es ist nicht anders denkbar: der laute, aufdringliche Bittruf von Flehenden erpresst mehr. Aber nicht immer soll frecher Zudringlichkeit stattgegeben werden. Nach jenem sollst du dich umsehen, der dir nicht unter die Augen tritt; nach jenem dich erkundigen, der als verschämter Arme sich nicht blicken lässt; jener Sträfling im Gefängnis ferner soll dir (im Geiste) begegnen; jener mit Krankheit Behaftete deinen Geist treffen, wenn er dein Ohr nicht treffen kann. 78. Je mehr das Volk dich wirken sieht, umso mehr wird es dich lieben. Ich weiß von so manchen Priestern: Je mehr sie gaben, umso mehr hatten sie. Denn jeder, der einen guten Arbeiter sieht, gibt ihm, dass er's kraft seines Amtes verteile, dessen gewiss, dass sein Mitleid den Weg zu einem Armen findet; denn nur einem Armen will jeder seine Gabe zugutekommen lassen. Sieht er von einem Almosenverteiler, dass er verschwenderisch oder aber zu knauserig ist, wird er beides verächtlich finden, sei es, dass derselbe durch überflüssige Aufwendungen die Früchte fremder Arbeit vergeudet, sei es, dass er sie im Säckel zurückbehält. Wie daher Maß in der Freigebigkeit zu halten ist, so scheint gar manchmal auch ein Ansporn hierzu am Platz zu sein: Maß deshalb, um täglich seinem Wohltun nachgehen zu können, um nicht die vergeudeten Summen der Not zu entziehen; Ansporn darum, weil das Geld in der Schüssel des Armen mehr bezweckt als im Säckel des Reichen. Hüte dich, das Wohl der Dürftigen in deinen Schrank zu sperren und das Leben der Armen sozusagen ins Grab zu betten! […] 136. Der stärkste Beweggrund zur Barmherzigkeit ist das Mitleid mit fremdem Elend und das Verlangen, nach Kräften, mitunter sogar über unsere Kräfte der Not der anderen zu steuern. Denn es ist besser, das Mitleid rechtfertigen zu müssen oder auch sich begeifern zu lassen, als Hartherzigkeit vorzuschützen. So haben auch wir uns einmal gehässige Vorwürfe zugezogen, weil wir die gottesdienstlichen Gefäße zerbrechen ließen, um damit Gefangene loszukaufen. Nur den 2
Bresthaft: gebrechlich.
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Arianern3 konnte das missfallen. Es handelte sich auch weniger um das Missfallen an dem Vorgang als darum, an uns etwas zu tadeln zu haben. Wer aber wäre so felsenhart, grausam, eisern, dass ihm der Loskauf eines Mannes vom Tode, einer Frau von den Schändlichkeiten der Barbaren, die noch härter denn der Tod sind, von Jünglingen und Knaben, ja Kindern von der ansteckenden Seuche des Götzendienstes, von der sie sich aus Angst vor dem Tode verunreinigen ließen, missfiele? 137. Obwohl wir diesen Schritt ohne irgendwelche Rechenschaft zu schulden tun konnten, haben wir uns gleichwohl auch beim Volke darüber in dem Sinn geäußert, dass wir offen darlegten, es sei viel zweckdienlicher gewesen, die Seelen als das Gold dem Herrn zu bewahren. Er, der die Apostel ohne Gold aussendete,4 hat auch die Kirche ohne Gold vereinigt. Die Kirche besitzt das Gold nicht, um es aufzubewahren, sondern um es aufzuwenden, um den Nöten abzuhelfen. 138. […] Der Loskauf der Gefangenen gereicht den Geheimnissen zur Zierde. Kostbare Gefäße fürwahr sind jene, welche die Seele vom Tode erkaufen. Das ist der wahre Schatz des Herrn, der bewirkt, was das Blut Christi bewirkt hat. Da erkennt man das Gefäß mit dem Blute des Herrn, wenn man in beiden Erlösung schaut: im Kelch die Erlösung derer vom Feinde, welche das Blut von der Sünde erlöste. Wie schön, wenn sich von den Scharen der Gefangenen, welche von der Kirche losgekauft wurden, sagen lässt: Diese hat Christus losgekauft! Sieh, ein Gold, das erprobt ist! Sieh, ein Gold, das frommt! Sieh, das Gold Christi, das vom Tode befreit! Sieh, das Gold, durch das die Keuschheit erkauft, die Reinheit bewahrt wird! […] 140. Solches Gold wahrte der heilige Märtyrer Laurentius dem Herrn auf. Als man nämlich von ihm die Kirchenschätze forderte, versprach er dieselben aufzuzeigen. Am folgenden Tage führte er die Armen vor. Auf die Frage, wo die Schätze wären, die er versprochen hatte, zeigte er auf die Armen und sprach: Das sind die Schätze der Kirche. Und fürwahr Schätze, die Christus in sich bergen, die Christi Glauben in sich bergen! So sprach auch der Apostel: „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen.“5 Welche besseren Schätze hätte Christus als 3
Strömung innerhalb des Frühchristentums, die auf Arius (ca. 260–327) zurückgeht. Arias leugnete die Wesensgleichheit Jesu Christi mit Gott, dem Vater, und sah in Jesus nur einen besonderen Menschen, das erste der Geschöpfe. 4 Vgl. Mt 10,9. 5 2Kor 4,7.
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jene, denen er selbst nach seiner Versicherung innewohnt? Denn so steht geschrieben: ,,Ich hungerte, und ihr gabt mir zu essen; ich dürstete, und ihr gabt mir zu trinken; ich war fremd, und ihr nahmt mich auf.“6 Und im Folgenden: „Denn was ihr einem von diesen getan habt, das habt ihr mir getan.“7. Welche besseren Schätze hat Jesus als die, worin er selbst geschaut zu werden wünscht? 141. Diese Schätze zeigte Laurentius vor, und er blieb Sieger, weil selbst der Verfolger sie nicht rauben konnte. […] Laurentius, der das Gold der Kirche lieber an die Armen verteilen, als für den Verfolger aufbewahren wollte, empfing für seine einzigartig geistreiche Deutung die heilige Martyrkrone. […] 3. Buch: Vom Verhältnis des Nützlichen zum sittlich Guten 45. Aber auch denen darf man keineswegs beipflichten, welche den Fremden den Aufenthalt in der Stadt verbieten wollen, sie in dem Augenblick, da sie ihnen helfen sollten, fortjagen, ihnen den Anteil an der gemeinsamen Mutter (Erde) versagen, deren Erzeugnisse, die für alle hervorgebracht sind, verweigern, die bereits eingegangene Lebensgemeinschaft mit ihnen abbrechen, in der Zeit der Not mit ihnen den Unterhalt nicht teilen wollen, nachdem sie im gemeinschaftlichen Rechtsverkehr mit ihnen gestanden. Die wilden Tiere stoßen ihresgleichen nicht aus; und der Mensch will den Menschen ausstoßen! Tiere und Bestien betrachten die Nahrung, welche die Erde darbietet, als allen gemeinsam; sie sind auch hilfreich gegen ihresgleichen. Der Mensch will feindselig sein, dem nichts Menschliches fremd sein sollte! 46. Wieviel richtiger handelte jener Stadtpräfekt! Da er schon bejahrt war und die Bürgerschaft Hungersnot litt und das Volk, wie es unter solchen Umständen zu gehen pflegt, verlangte, es sollten die Fremden aus der Stadt ausgewiesen werden, berief er, da die Stadtverwaltung vor allen anderen gerade seiner Obsorge anvertraut war, die angesehenen und wohlhabenderen Männer zusammen und forderte sie auf, zum allgemeinen Besten Rats zu pflegen. Dabei äußerte er, wie grausam es sei, die Fremden auszuweisen; wie unmenschlich, einem Sterbenden die Nahrung vorzuenthalten. Keinen Hund lassen wir ohne Futter vor unserem Tische, den Menschen stoßen wir hinaus. Wie zwecklos ferner gehen ganze Volksmassen als Opfer der unseligen Hungerpest der Welt verloren! Wie viele gehen der Stadt verloren, 6 7
Mt 25,35. Mt 25,40.
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die derselben, sei es für die Lebensmittelbeschaffung, sei es für den Handelsmarkt, ihre helfenden Dienste zu leihen pflegten! Niemand ist mit dem Hunger anderer geholfen. Er kann den Tag möglichst lange fristen, der Not nicht steuern. Im Gegenteil, wenn so viele Landbebauer mit Tod abgehen, so viele Ackersleute dahinsterben, werden auch die Getreidemittel für die Zukunft dahinschwinden. Wir weisen daher nur jene aus, die uns den Lebensunterhalt zu beschaffen pflegen. Jene wollen wir in der Stunde der Not nicht nähren, die uns jederzeit mit Nahrung versehen haben? Wieviel wird uns selbst noch in dieser Zeit von ihnen geboten! „Nicht vom Brote allein lebt der Mensch“8. Unsere eigenen Leute befinden sich daselbst, so manche sind sogar unsere Verwandten. Vergelten wir ihnen, was wir empfangen haben! 47. Doch wir fürchten hierdurch die Not zu vermehren. Vor allem findet Barmherzigkeit nimmer leere, sondern hilfreiche Hände. Sodann wollen wir die Getreidemittel, die für dieselben aufzuwenden sind, durch eine Sammlung aufbringen, mit Gold erstehen. Oder müssen wir nicht offenbar, wenn jene Landbebauer verschwinden, andere um Geld dingen? Wieviel billiger kommt es, einen Landbebauer zu ernähren als zu dingen! Wo dann Ersatz hernehmen? Wo den neuen Ackersmann auftreiben? Wenn du ihn auftreibst, nimm hinzu, dass du einen (des Feldbaues) Unkundigen, der eine andere Beschäftigung gewohnt war, wohl der Zahl, nicht der Arbeit nach als Ersatz rechnen kannst. 48. Wozu noch mehr? Man sammelte Gold und brachte Getreide zusammen. So griff er den Vorrat der Stadt nicht an und versorgte die Auswärtigen mit Nahrung. Wie sehr empfahl dies den so heiligmäßigen Greis bei Gott! Wieviel Ruhm trug es ihm bei den Menschen ein! Das war ein in Wahrheit bewährter Großer, der wirklich auf die Bevölkerung der ganzen Provinz zeigen und zum Kaiser sprechen konnte: Diese alle habe ich dir erhalten; sie verdanken ihr Leben deinen Ratsherren; deine Behörde hat sie dem Tode entrissen. 49. Wie unvergleichlich zweckmäßiger war dies gegenüber dem, was jüngst zu Rom geschah! Leute, die bereits den größten Teil ihres Lebens dortselbst zugebracht hatten, jagte man aus der so weitausgedehnten Stadt. Mit Tränen in den Augen zogen sie mit ihren Kindern fort, deren Verbannung man beweinte, weil sie als Bürger nicht davon hätten betroffen werden sollen. Zwischen so vielen wurden die Bande der Verwandtschaft zerschnitten, die Bande der Schwägerschaft 8
Dtn 8,3; vgl. Mt 4,4.
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zerrissen. Und doch hatte ein fruchtbares Jahr gelächelt. Die Stadt allein nur bedurfte der Getreideeinfuhr. Es hätte geholfen werden können, wenn man von den Bewohnern Italiens, deren Kinder man vertrieb, Getreide angefordert hätte. Eine größere Schmach kann es nicht geben: einen wie einen Landfremden forttreiben und gleichsam den eigenen Bruder hinausstoßen! Wie darfst du ihn fortjagen, der sich vom Seinigen nährt? Wie darfst du ihn fortjagen, der dich ernährt? Den Sklaven behältst du, den Bruder stößt du fort. Das Getreide nimmst du entgegen, Mitgefühl bringst du nicht entgegen. Den Lebensunterhalt erpresst du, Gnade lässt du nicht ergehen. 50. Wie abscheulich, wie nutzlos ist das! Wie könnte denn auch etwas von Nutzen sein, was sich nicht geziemt? Um wie viele Hilfsmittel ward Rom unlängst betrogen, die ihm von Seiten derer zuzufließen pflegten, die ihm einverleibt waren! Es stand ebenso in seiner Macht, dieselben nicht auszuweisen, wie günstige Winde und die erhoffte Schiffszufuhr abzuwarten und so der Hungersnot zu entgehen. 51. Wie gut und nützlich war hingegen das oben erwähnte Vorgehen! Was wäre denn auch so geziemend und gut, als dass den Dürftigen durch die Beiträge der Reichen geholfen, den Hungernden der Lebensbedarf gereicht werde und keinem es an Nahrung fehle? Was wäre so nützlich, als dass dem Felde der Bebauer erhalten bleibe und das Landvolk nicht aussterbe? 52. Das sittlich Gute ist sonach nützlich und das Nützliche sittlich gut; und umgekehrt das Schädliche ungeziemend, das Unziemliche aber zugleich schädlich. Quelle: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Pflichtenlehre und ausgewählte kleinere Schriften. Übersetzt und eingeleitet von Johannes Evangelist Niederhuber, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 32, Kempten/München 1917, 1–269: 165–170; 195–198; 226–229.
55. Sulpicius Severus: Das Leben des heiligen Martin (396) Sulpicius Severus, um 363 geboren und um 420 gestorben, verfasste neben einer Chronik für gebildete Laien die Vita Martini, in der er Martin von Tours als Prototyp eines Mönchs und Bischofs und als wirkkräftiges Ideal eines Heiligen zeichnete. Der aquitanische Schriftsteller und Freund des Paulinus von Nola (s. Text 56) suchte Martin auf, „beseelt“ von dem „glühenden Wunsch, sein Leben zu beschreiben“. 396 erschien Sulpicius‘ Meisterwerk, das einzige Heiligenleben, das noch zu Lebzeiten seines Heiligen verfasst wurde. Die Schrift beginnt mit einem chronologischen Teil, erzählt dann von zahlreichen Wundertaten Martins und schließt mit einem Bericht über den Besuch des Autors bei Martin und einer Charakterisierung dieses großen, gütigen und demütigen Mannes. Hagiographien waren in einer Zeit, in der nur wenige einen unmittelbaren Zugang zu biblischen Texten hatten, von großer Prägekraft für das christliche Selbstverständnis. Die von Sulpicius Severus verfasste Heiligenlegende erweiterte die Hagiographie der Märtyrerliteratur, in der die Verurteilung und der Tod christlicher Märtyrer im Mittelpunkt standen. Mit dem Leben des heiligen Martin gewann ein Ideal christlicher Vollkommenheit Kontur, in dem diakonische und asketisch-mönchische Dimensionen von zentraler Bedeutung waren. Martin wurde wahrscheinlich 316/317 als Sohn heidnischer Eltern in Pannonien im heutigen Ungarn geboren. Seine Jugend verbrachte er im oberitalienischen Pavia. Mit zehn Jahren forderte er seine Zulassung zum Katechumenat und träumte von einem Leben als Einsiedler. Als Sohn eines römischen Offiziers war er aber nach den Bestimmungen Kaiser Diokletians (236/245–312) gesetzlich verpflichtet, 25 Jahre im Militär zu dienen. Ab 334 war Martin als Soldat der Reiterei der Kaiserlichen Garde in Amiens stationiert. Am Stadttor von Amiens kam es dann nach Sulpicius Severus zu der Begegnung des römischen Soldaten Martin mit einem nackten Armen. In der Beschreibung der Szene treten insbesondere drei Aspekte hervor: Zum einen betont der Autor, dass Martin nur noch den einen Mantel besaß, alles andere hatte er bereits weggegeben. Martin gab mithin nicht aus seinem Überfluss, sondern die Hälfte des geringen Guts, das er besaß. Zum zweiten greift Sulpicius Severus auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37) zurück. Schließlich steht über der Szene die Christuspräsenz in den Armen nach Mt 25,31–46. Die Geschichte stellt eine diakonische Schlüsselerzählung mit kaum zu überschätzender nachhaltiger Wirkung dar. Martins Hinwendung zu den Armen
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findet in Anlehnung an Mt 8,3 und Mk 1,41f. ihren pointierten Ausdruck auch darin, dass er einen Aussätzigen küsst. 371 wurde Martin zum Bischof von Tours gewählt. Sulpicius Severus rundete seine Vita Martini nachträglich durch zwei Briefe ab, die den Tod Martins am 8. November 397 und seine Bestattung beschreiben sowie dessen neue Rolle als himmlischer Schutzheiliger. Die von dem Dominikanermönch Jacobus de Voragine verfasste Legenda Aurea (1263–1273) nahm die Vita Martini auf, ergänzte sie und schmückte sie aus. Als zentrale Sammlung von Lebensgeschichten Heiliger und Heiligenlegenden des Hochmittelalters trug sie maßgeblich zur Verbreitung der Martinslegenden bei. 2 (1) Martin wurde also in der pannonischen Stadt Sabaria1 geboren, wuchs aber in Italien, in Ticinum2, auf; seine Eltern waren, gemessen an der weltlichen Rangordnung, keine ganz Geringen, aber sie waren Heiden. (2) Sein Vater war zuerst [einfacher] Soldat, später Militärtribun3. Martin selbst trat in seiner Jugend ins Militär ein und diente in der kaiserlichen Gardeabteilung4 unter Kaiser Constantius5, dann unter dem Caesar Julian6 – jedoch nicht freiwillig, weil der bemerkenswerte Knabe, schon als kleines Kind ein Heiliger, fast von den frühesten Jahren an mehr vom Dienst an Gott beseelt war. (3) So suchte er denn als Zehnjähriger gegen den Willen seiner Eltern in einer Kirche Zuflucht und verlangte, als Katechumene aufgenommen zu werden. (4) Alsbald wandte er sich auf wunderbare Weise ganz dem Dienst an Gott zu: Im Alter von zwölf Jahren7 brannte er darauf, Einsiedler zu werden und hätte seinen Wunsch auch in die Tat umgesetzt, wenn nicht sein zartes Alter ihn daran gehindert hätte. Aber sein Sinn kreiste ständig um Eremitentum und Kirche, und er bereitete sich geistig schon im Knabenalter auf das vor, was er später gottergeben erfüllte. (5) Da aber laut kaiserlichem Erlass die Söhne 1
Heute Szombathely in Ungarn; Sabaria war im 4. Jh. Sitz des römischen Statthalters der Provinz Pannonia prima. 2 Heute Pavia in der Lombardei, am Fluss Ticino (=Tessin). 3 In der Spätantike werden mit tribunus militum unterschiedlich hohe Führungsfunktionen im Militär bezeichnet, so dass wir aus dieser Angabe keine präzise Auskunft über den Dienstgrad des Vaters erhalten. Jedenfalls war er kein ganz einfacher Soldat. 4 Seit Constantin I. […] berittene Eliteeinheit, die unmittelbar dem Kaiser diente. 5 Constantius II. (Augustus 337–361 […]). 6 Julianus ‚Apostata‘ (=der Abtrünnige), weil er sich trotz christlicher Erziehung zum Heidentum bekannte und sich während seiner Regierungszeit als Kaiser (Augustus 360–363 […]) zum Nachteil des Christentums um die Wiederherstellung der paganen Kulte bemühte. Martins Dienst unter Julian fällt in die Zeit von dessen Gallienfeldzug als Caesar unter Constantius II. (ab 355). 7 Die Altersangabe stellt Martin in die Nachfolge Christi, der ebenfalls als Zwölfjähriger die Reife eines Erwachsenen an den Tag legte […] (Lk 2,42–49) […].
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von Veteranen zum Kriegsdienst eingezogen werden sollten, meldete ihn, als er fünfzehn Jahre alt war, sein Vater, der sein segensreiches Tun missbilligte, [den Behörden] und Martin musste gefangen und in Ketten den militärischen Fahneneid8 leisten. Er begnügte sich mit einem einzigen Sklaven in seinem Gefolge, den aber er, der Herr, zu bedienen pflegte, [so] die Rolle mit ihm tauschend. [Das ging] so weit, dass er ihm meist selbst die Schuhe auszog und sie auch selbst putzte [und dass] sie gemeinsam das Essen einnahmen, wobei indes häufiger Martin auftrug. (6) Ungefähr drei Jahre lang stand er vor seiner Taufe unter Waffen, blieb aber unbefleckt von den schuldhaften Vergehen, in die diese Sorte Mensch sich zu verstricken pflegt.9 (7) Er brachte seinen Kameraden viel Güte entgegen und bewundernswerte Nächstenliebe, seine Duldsamkeit und Demut aber überstiegen das menschliche Maß. Ja, Enthaltsamkeit an ihm zu loben erübrigt sich von selbst: Er übte sie in einer Weise, dass man ihn schon zu jener Zeit nicht für einen Soldaten, sondern für einen Mönch hätte halten können. Aufgrund dieses Verhaltens waren ihm alle seine Kameraden so verbunden, dass sie ihn mit außergewöhnlicher Zuneigung verehrten. (8) Und obwohl er noch nicht in Christo wiedergeboren war,10 gab er mit seinen guten Werken einen [würdigen] Taufanwärter ab: Er stand nämlich den Notleidenden bei, half den Elenden, speiste die Bedürftigen, kleidete die Nackten und behielt von seinem Militärsold für sich nur so viel zurück, wie er zum täglichen Leben brauchte. Schon damals hatte er für die Lehre des Evangeliums ein offenes Ohr und dachte nicht an das Morgen.11 3 (1) Eines Tages also, als Martin schon nichts mehr besaß außer seinen Waffen und seinem einfachen Militärmantel, begegnete er mitten in einem Winter, der strenger war als gewöhnlich und so von Frost starrte, dass sehr viele [Menschen] an der gewaltigen Kälte starben, am Stadttor von Amiens12 einem nackten Bettler. Dieser flehte die Vorübergehenden an, sich seiner zu erbarmen, [aber] alle gingen an dem Elenden vorbei. Da erkannte der von Gott erfüllte Mann, dass jener ihm vorbehalten sei, da die anderen keine Barmherzigkeit übten. (2) Was aber sollte er tun? Er besaß nichts außer dem Soldaten8
In dem Wort sacramentum mit seiner paganen Bedeutung ‚Fahneneid‘ und seiner christlichen Bedeutung ‚Sakrament‘ […] spiegelt sich der Konflikt zwischen heidnischem und christlichem ‚Lager‘ […]. 9 Mir den vitia ist hier wohl mehr gemeint als alkoholische und andere Exzesse unter Kameraden, nämlich das blutige Kriegshandwerk als solches […]. 10 D.h. getauft. 11 Anspielung auf das Gleichnis von den „Vöglein unter dem Himmel“ (Mt 6,27–34). 12 Stadt in der römischen Provinz Belgica secunda am Knotenpunkt wichtiger Handelsstraßen. […]
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mantel, den er trug; das Übrige hatte er nämlich für ein ähnliches gutes Werk bereits aufgebraucht. Entschlossen zog er also das Schwert, mit dem er gegürtet war, teilte [den Mantel] mitten entzwei, gab einen Teil davon dem Armen und legte den anderen wieder an. Unterdessen lachten einige der Umstehenden, weil er mit seinem verstümmelten Gewand entstellt aussah. Viele aber, die bei besserem Verstand waren, seufzten tief, weil sie nichts dergleichen getan hatten, obwohl sie durchaus mehr besaßen und den Armen hätten bekleiden können, ohne sich selbst zu entblößen. (3) In der darauffolgenden Nacht nun sah Martin im Schlaf Christus mit dem Teil seines Mantels angetan, mit dem er den Armen bedeckt hatte. Ihm wurde befohlen, den Herrn ganz aufmerksam zu betrachten und das Gewand, das er hergegeben hatte, wiederzuerkennen. Alsbald hörte er Jesus laut und deutlich zu der Menge der umstehenden Engel sagen: „Martin, der noch Katechumene13 ist, hat mich mit diesem Gewand bedeckt.“ (4) Wahrhaft eingedenk seiner Worte, die er vormals gesprochen hatte: „Was immer ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“,14 gab der Herr offen zu erkennen, dass er [selbst] in dem Armen bekleidet worden war, und um seinem Zeugnis für die so gute Tat Nachdruck zu verleihen, geruhte er, sich in demselben Gewand zu zeigen, das der Arme empfangen hatte. (5) Durch diese Vision ließ sich der glückselige Mann nicht zur Begierde nach menschlichem Ruhm hinreißen, sondern erkannte in seinem Werk die Güte Gottes; so beeilte er sich, als er achtzehn Jahre alt war, die Taufe zu empfangen. Dennoch trat er nicht sofort aus dem Militärdienst aus, sondern ließ sich von den Bitten seines Tribunen erweichen, dem er in vertrauter Kameradschaft verbunden war: Der gelobte nämlich, nach Ablauf seines Tribunats der Welt zu entsagen. (6) In dieser gespannten Erwartung leistete Martin nach seiner Taufe noch etwa zwei Jahre lang Militärdienst, freilich nur dem Namen nach. […] 18 […] (3) Als [Martin] aber in Begleitung einer großen Menschenmenge in Paris15 durch ein Tor die Stadt betrat, küsste und segnete er zum Entsetzen aller einen Aussätzigen, der einen erbärmlichen Anblick bot. Und sogleich war er von allem Übel befreit.16 Am folgenden Tag kam er mit strahlender Haut in die Kirche und dankte für die wiedererlangte Gesundheit.17 Und es darf auch nicht unerwähnt blei13
Taufschüler. Vgl. Mt 25,40. 15 Über Anlass und nähere Umstände von Martins Aufenthalt in Paris ist nichts bekannt. 16 In Anlehnung an Mt 8,3 und Mk 1,41f., wo Christus Aussätzige heilt, indem er sie berührt (aber nicht küsst). […] 17 In Anlehnung an den dankbaren Samariter (Lk 17,15f.). 14
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ben, dass aus Martins Kleid und Bußgewand gezogene Fäden bei Kranken oft Wunder wirkten.18 (5) Denn um die Finger geschlungen oder um den Hals gelegt, vertrieben sie gar häufig die Krankheiten von den Leidenden. Quelle: Sulpicius Severus: Vita sancti Martini. Das Leben des heiligen Martin. Lateinisch/Deutsch, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Gerlinde Huber-Rebenich, Reclams Universal Bibliothek 18780, Stuttgart 2010, 13–17; 49–51. © 2019 Philipp Reclam jun.
18 Vgl. Mt 9,20f.: Die blutflüssige Frau gesundet, indem sie den Saum von Christi Gewand berührt.
56. Paulinus von Nola, Brief an Pammachius (396) Der zwischen 353 und 355 geborene Meropius Pontius Paulinus entstammte der reichsten und vornehmsten Senatorenfamilie Aquitaniens. Nach seiner schulischen Ausbildung in Bordeaux machte er rasch Karriere als Beamter. Religiöse und soziale Unruhen in Aquitanien beschleunigten und vertieften Paulinus Hinwendung zum Christentum. Um 386 traf er sich u.a. mit Martin von Tours (s. Text 55), der ihn tief beeindruckte. Paulinus ließ sich taufen und wandte sich während eines Spanienaufenthalts 389/390 immer mehr der asketisch-monastischen Lebensform zu. Am Weihnachtstag 394 wurde er auf Drängen der in der Kirche anwesenden Volksmenge in Barcelona zum Priester geweiht. Kurze Zeit später verkaufte er seine Güter in Gallien und zog nach Nola (bei Neapel) zur Grabstätte des Felix, eines als Heiligen verehrten Märtyrers, den Paulinus von früh an bewunderte. Paulinus war der erste Senator, der zugunsten der mönchisch-asketischen Lebensweise seine politische Laufbahn aufgab und ein riesiges Vermögen opferte. Er entwickelte das Pilgerheiligtum in Nola zu einem neuen religiös-kulturellen Zentrum für den gesamten Mittelmeerraum. Zwischen 404 und 415 wurde er zum Bischof von Nola gewählt. Paulinus verkörperte einen neuen Typus des von Menschenmassen verehrten Freundes der Armen. Er starb wahrscheinlich am 22. Juni 431. Im Zentrum der Soziallehre des Paulinus stehen die Idee des himmlischen Bankiers, der zugunsten der Armen auf seinem Wechslertisch das ewige Leben ausgibt, und die Vorstellung eines Kreislaufs der Ressourcen. Gott schuf die Reichen für die Armen und die Armen für die Reichen, damit der Überfluss des einen zum Unterhalt des anderen dient und der Arme das Werkzeug für die gute Tat des Reichen und dessen himmlischen Lohn wird. Die in der Gesellschaft verachteten Armen haben eine besondere Affinität zu Gott, weil sie zum Ausgleich für ihre materielle Bedürftigkeit im Besitz ewiger Güter sind. Das Grundkriterium für den Umgang mit Reichtum ist die caritas, die Unterstützung der Armen. Das Verhältnis von Besitzenden und Armen soll durch die Kategorie der caritas von innen her verändert werden. Ein Element des Netzwerkes, das Paulinus von Nola aus aufbaute, bildeten Briefe an Angehörige der christlichen Elite. Sie waren – auch da, wo sie sich an einzelne Personen richteten, – für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie stellten ein Mittel dar, um die öffentliche Meinung im Sinne der in Nola vertretenen Ideale zu beeinflussen. Dies
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gilt auch für Paulinus‘ Brief 13 an Pammachius aus dem Jahr 396. Pammachius (gest. um 409), römischer Senator und eine führende Persönlichkeit der christlichen Gemeinde in Rom, hatte aus Anlass des Todes seiner Frau eine Armenspeisung veranstaltet. Der folgende Auszug (Abschnitt 14) markiert Elemente, die für die Soziallehre des Paulinus von Nola charakteristisch sind. 14. Welch ein frommes Schauspiel hast du da also Gott, den Friedensengeln und allen Geistern der Heiligen dargeboten!1 Du hast den Glauben und das Andenken des Apostels Petrus durch so vielfache Hingabe deines Wohlstands gefeiert; zunächst hast du Gott aus Verehrung für den Apostel heilige Opfertiere und gottgeweihte Trankopfer2 durch dessen willkommenes Angedenken dargebracht und dich darauf mit der gleichen Großzügigkeit reinen Herzens und bescheidenen Geistes Christus als willkommenes Opfer angeboten, in dessen Zelten du Opfer wahren Jubels geweiht hast,3 indem du die gestärkt und genährt hast, die durch ihren zahlreichen Lobpreis Gott Opfer des Lobes darbrachten.4 Von welch gutem Getöse tönte damals unsere Stadt, als du dein Herz voll Barmherzigkeit für die Kräftigung und Bekleidung der Armen ausgeschüttet hast und die bleichen Körper der Hungernden hast wiederaufleben lassen, die trockenen Kehlen der Dürstenden getränkt, die zitternden und schmerzenden Glieder bekleidet und die Münder aller einstimmig zum Lobpreis Gottes geöffnet hast! Aber indem du dich um die bedürftigen Leiber gekümmert hast, verwandelten sich deine Werke durch Gottes Vergeltung zu deinem Nutzen, und du hast eher deinen Geist genährt und die Seele deiner gesegneten Gattin erfrischt, weil Christi Hand über jene ausgegossen hat, was die Armen aus deiner Hand erbeten haben, weil die fleischliche Speise in einem Augenblick verwandelt wurde und zu himmlischer Nahrung wurde. Und wieviel Geld du als freundlicher Geber und unermüdlicher Verteiler mit beladener Rechten in die geöffneten Hände der Empfänger hast fließen lassen, so viel wurde von den sofort dazwischen eilenden Engeln in den Schoß des freudigen Herrn gebracht und aufbewahrt, damit es dir mit dreißigfacher Frucht erstattet und ausgezahlt wird.5 Und nicht nur der Reichtum, sondern auch der dankbare Lobpreis wurde eurem Lohn hinzugefügt. Euch wurde nämlich jenes gemeinsame Rufen und Gebet der Armen zur Gerechtigkeit angerechnet, mit dem Gott für eure Gaben gepriesen 1
Vgl. 1Kor 4,9. Vgl. Lev 6,14. 3 Ps 27,6. 4 Ps 116,17. 5 Mt 13,8. 2
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wurde. Denn die Worte der Mittellosen richten sich auf leichtem Weg an das Ohr Gottes, weil „das Gebet der Armen“ wie geschrieben steht, „die Wolken durchringt“6. Quelle: Paulinus von Nola, Brief 13, in: ders., Epistulae/Briefe, Erster Teilband, übersetzt und eingeleitet von Matthias Skeb, Fontes Christiani 2. Folge, Bd. 25/1, Freiburg i. Br. u.a. 1998, 301–355: 327–331. © 1998 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br.
6
Sir 35,21.
57. Hieronymus: Auf den Tod Fabiolas (399/400) Der aus der Nähe von Ljubljana stammende Hieronymus (347–420) gehört neben Ambrosius, Augustinus und Gregor dem Großen zu den bedeutendsten Kirchenlehrern der lateinischen Kirche. Nach Aufenthalten in Rom, Antiochien und Alexandrien lebte er ab 386 als Asket und Mönch in Bethlehem. Er wirkte vielfältig als Seelsorger, übersetzte die Bibel ins Lateinische (Vulgata) und verfasste zahlreiche exegetischen Kommentare. Im folgenden Brief würdigt Hieronymus auf Bitten seines Freundes Oceanus die römische Christin Fabiola in einem Nachruf. Fabiola (gest. 399) gilt als die Gründerin des ersten Krankenhauses im Westen. Sie entstammte dem römischen Aristokratengeschlecht der Fabier und ließ sich von ihrem ersten Mann, der als „lasterhaft“ beschrieben wird, scheiden. Dies hatte den Ausschluss aus der christlichen Gemeinde in Rom zur Folge. Sie heiratete erneut. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes wurde Fabiola, nachdem sie öffentlich Buße für ihre Scheidung von ihrem ersten Mann geleistete hatte, wieder in die Kirche aufgenommen. 394 reiste sie in das Heilige Land und besuchte Hieronymus in Bethlehem. Nach dem Einfall von Hunnen kehrte sie 395 nach Rom zurück. Sie setzte ihr großes Vermögen für kirchliche Zwecke und vor allem für die Unterstützung Armer ein. Fabiola gründete in Rom ein Nosocomium, ein Krankenhaus, – eine Sonderform des Xenodocheion. Anders als die römischen Militärlazarette (Valetudinarien), in denen ausgebildete Ärzte fast ausschließlich Soldaten behandelten, öffnete Fabiola damit die Krankenversorgung breiteren Bevölkerungschichten. Das Xenodocheion (Xenia, Gastfreundschaft) entwickelte sich als neue christliche Einrichtung im Osten. Ursprünglich dazu gedacht, Pilger gastfreundlich aufzunehmen, wurde es bald zu einer gemischten Einrichtung für alle Arten von Hilfesuchenden. In der weiteren Entwicklung entstanden dann spezielle Häuser zur Unterstützung bestimmter Gruppen – Pilger, Kranker, Armer, Aussätziger, Waisen, Witwen etc. Fabiola trug wesentlich dazu bei, die Idee des Xenodocheion in den Westen zu tragen. Nach dem Bericht von Hieronymus stiftete sie nicht nur eine karitative Einrichtung, sondern legte selbst Hand bei der Versorgung und Pflege Kranker an. Das Krankenhaus hat die Plünderung Roms durch die Goten Alarichs im Jahr 410 wahrscheinlich nicht überstanden.
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Auf den Tod Fabiolas
6 […] Ihr ganzes Besitztum, über das sie zu verfügen hatte — es war ihrer Herkunft entsprechend sehr groß — bot sie um billiges Geld zum Verkauf aus. Nachdem sie es veräußert hatte, bestimmte sie den Erlös für die Armen. Zuerst errichtete sie ein Krankenhaus, in welches die Kranken von der Straße aufgenommen werden sollten. Dort wurden dann die von Schwäche und Hunger erschöpften Glieder der Unglücklichen wieder gestärkt. Soll ich nun das mannigfache Elend der Menschen aufzählen, die verstümmelten Nasen, die ausgestochenen Augen, die halbbrandigen Füße, die abgestorbenen Hände, die wassersüchtigen Leiber, die kraftlosen Hüften, die geschwollenen Beine und das Leid jener, deren angefressenes und faulendes Fleisch von Maden strotzte? Wie viele, die mit ekelerregendem Aussatze behaftet waren, trug sie selbst auf ihren Schultern? Wie oft hat sie nicht die eiternden Wunden, welche andere nicht einmal ansehen konnten, ausgewaschen? Mit eigener Hand reichte sie die Speisen dar und flößte den noch atmenden Leichnamen Suppe ein. Ich weiß wohl, dass viele reiche und gottesfürchtige Leute wegen der aus Magenschwäche entstehenden Übelkeit durch andere solche Dienstleistungen verrichten lassen und mildtätig sind mit ihrem Geld, ohne selbst Hand anzulegen. Quelle: Hieroymus, Auf den Tod Fabiolas; an Oceanus (Epistula 77,6), in: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte historische, homiletische u[nd] dogmatische Schriften, aus dem Lateinischen übersetzt v. Ludwig Schade, Bd. 1, Bibliothek der Kirchenväter 1. Reihe, Bd. 15, Kempten/München 1914, 165–180: 172.
58. Augustin: Predigt über Almosen, die allen zugutekommen (um 400) Augustin war der bedeutendste abendländische Kirchenvater, dessen Konzeption des Christentums kaum zu überschätzende Bedeutung gewann. Er wurde 354 in Thagaste im nordafrikanischen Numidien geboren. Von seiner Mutter Monnica christlich erzogen, blieb Augustin in allen Phasen seiner Entwicklung stets in Verbindung mit dem Christentum. Während seines Studiums der Rhetorik in Karthago löste die Auseinandersetzung mit Ciceros Schrift „Hortensius“ eine philosophische Konversion aus, die in der Suche nach der absoluten Wahrheit ihren Ausdruck fand. Im Verlangen nach höherer Erkenntnis schloss er sich neun Jahre dem Manichäismus an. 384 erhielt Augustin einen Ruf als Lehrer der Rhetorik nach Mailand. Durch die Predigten des Ambrosius (s. Text 54) und dessen allegorische Auslegung biblischer Texte erschloss sich ihm die Bibel als Wahrheitsquelle. Seine Zuwendung zum Neuplatonismus und dessen Betonung der intelligiblen Welt förderten seine Nähe zum Christentum. 386 fand seine Suche in seiner Bekehrung und der damit verbundenen vorbehaltlosen Zuwendung zur Kirche ihre Erfüllung. Nach seiner Taufe (387) kehrte Augustin nach Thagaste zurück, um mit Freunden in einer klösterlichen Gemeinschaft zu leben. 396 wurde er Bischof von Hippo Regius. Sein Tod am 28. August 430 symbolisiert zugleich den Untergang der alten Welt. Er starb, als Hippo von Vandalen belagert wurde. Augustin hat wie kein anderer die abendländisch-christliche Kultur geprägt – die Verbindung von Glaube und Erkennen, die sich auf „Gott und die Seele“ richten, die radikale Konzeption der Gnadenlehre, das Verständnis von Leiblichkeit und die Deutung der Weltgeschichte sowie seine Konzeption von der Einheit und Universalität der Kirche entfalten in der Theologie- und Kirchengeschichte bis heute nachhaltige Wirkungen. Bei dem folgenden Text handelt es sich um die deutsche Übersetzung einer von sechs Augustinus-Predigten, die in einer Handschrift in der Erfurter Dombibliothek vor einigen Jahren neu entdeckt worden sind. Drei dieser sechs Predigten thematisieren unterschiedliche Aspekte des Almosengebens. Die nicht genau zu datierenden Almosenpredigten haben wohl Modellcharakter. Augustin hat sie wahrscheinlich als Teil einer „Predigtkampagne“ (Peter Brown) für den Klerus seiner Diözese verfasst, der die Texte als Vorlage für einschlägige Predigten verwenden sollte. Dabei wandte sich Augustin gegen den sog. Euergetismus der antik-mediterranen Oberschicht. Das Herrschaftssystem des Euergetismus beruhte auf der Wohltätigkeit der Reichen gegen-
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Predigt über Almosen, die allen zugutekommen
über der jeweiligen Heimatstadt und ihren Bürgern und fand in der Finanzierung der Zirkusspiele ihren populärsten Ausdruck. Demgegenüber vertrat Augustin eine Perspektive, in der die Gesellschaft als Ganze – mitsamt der gesichtslosen Masse der Armen – in den Blick kommen sollte. Damit verband sich das Ziel, den euergetischen, bürgerschaftlichen Verhaltenskodex in Richtung einer Almosenpraxis zu verändern, die vornehmlich den Armen verpflichtet war. In diesem Zusammenhang behandelt die folgende Predigt die spezifische Frage nach den Adressaten des Almosengebens. Im Zentrum steht die kritische Auseinandersetzung mit der Behauptung, Almosen dürfe nur Gerechten gewährt werden. Diese These vertraten nach Augustin zum einen die Manichäer. Zum anderen verweigerten aber auch manche Christen Sündern Almosen, um nicht Gottes Plan, Sünder zu bestrafen, zuwiderzuhandeln. Sie beriefen sich dabei auf Jesus Sirach 12,4–7 (s. Text 9). Augustin setzt sich mit der auf der Sirach-Stelle beruhenden Argumentation kritisch auseinander und entfaltet die Unterscheidung zwischen dem Sünder, der Zurechtweisung verdient, und dem Menschen, der als Geschöpf Gottes der barmherzigen Unterstützung bedarf. 1. Es gibt Christen, die meinen, man dürfe Almosen nur Gerechten gewähren, Sündern dürfe aber nichts Derartiges gegeben werden. An diesem Irrtum eines frevelhaften Opfers halten in erster Linie die Manichäer fest, die glauben, dass in jeder Speise die Glieder Gottes vermischt und eingeschlossen erhalten sind, die man, wie sie meinen, schonen müsse, damit sie nicht von Sündern beschmutzt werden und in schlimmere Verwicklungen geraten. Dieser Wahn lässt sich vielleicht weniger angemessen zurückweisen als er die Sinne aller verständigen Menschen beleidigt, wenn man ihn nur vorträgt. Einige aber, die nichts Derartiges fühlen, glauben deshalb, dass Sünder nicht ernährt werden dürfen, damit wir nicht gegen Gott vorgehen, dessen Zorn über diese offenbart ist, als ob er uns auch deshalb zürnen könnte, dass wir denen zu Hilfe kommen wollen, die er selbst bestrafen will. Sie ziehen auch die Zeugnisse der heiligen Schriften heran, wo wir lesen: Übe Erbarmen, aber nimm dich des Sünders nicht an und gib den Gottlosen und Sündern ihre Strafe; tue einem Demütigen Gutes, aber gib dem Gottlosen nichts.1 Denn auch der Höchste ist den Sündern feind und wird die Gottlosen bestrafen.2 Wie diese Worte aufzufassen sind, darüber werden uneinsichtige Leute in abscheuliche Feindseligkeit geraten. Daher müssen wir, liebe Brüder, in dieser Frage in wenigen Worten eure Liebe ansprechen, damit ihr 1 2
Sir 12,4–5. Sir 12,6.
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nicht in verdrehtem Denken, wenn ihr den göttlichen Willen in den göttlichen Büchern nicht versteht, der menschlichen Schlechtigkeit zustimmt. 2. Man muss nämlich allen Menschen Erbarmen gewähren, lehrt der Apostel Paulus ganz klar, wenn er sagt: Lasst uns unermüdlich Gutes tun an allen, solange wir noch Zeit haben, besonders aber an den Genossen des Glaubens.3 Daher ist es tatsächlich offenkundig genug, dass bei derartigen Werken die Gerechten vorzuziehen sind. Denn welche anderen Menschen sollen wir als Glaubensgenossen erkennen, da doch an anderer Stelle offen dargestellt ist: Der Gerechte lebt aus seinem Glauben4? Dennoch darf man anderen Menschen, auch Sündern, das Innerste des Erbarmens nicht verschließen, auch dann nicht, wenn sie sogar gegen uns ihren feindlichen Sinn richten, weil unser Heiland selbst sagt und ermahnt: Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen5. Dieser Gedanke ist auch in den alten Büchern nicht verschwiegen; dort ist nämlich zu lesen: Wenn dein Feind hungert, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken;6 dieses Zeugnis hat auch der Apostel verwendet. Dennoch ist deshalb nicht falsch, was wir oben angeführt haben, weil auch das göttliche Gebote sind: Übe Erbarmen, aber nimm dich des Sünders nicht an. Denn das ist aus dem Grund gesagt, dass du keinem Sünder deshalb etwas Gutes tust, weil er ein Sünder ist, dass du aber dem Gutes tust, der dich hasst, nicht weil er ein Sünder, sondern weil er ein Mensch ist. So wirst du beide Gebote halten, weder nachlässig zum Strafen noch unmenschlich zum Helfen zu sein. Denn jeder, der zu Recht einen Sünder beschuldigt, was will er anderes, als dass dieser kein Sünder ist? Also hasst er an diesem, was auch Gott hasst, damit zerstört wird, was der Mensch getan hat, und frei gemacht wird, was Gott getan hat. Denn die Sünde hat der Mensch begangen, den Menschen selbst aber hat Gott geschaffen. Und wenn wir diese beiden Begriffe sagen: „Mensch“, „Sünder“, werden sie jedenfalls nicht umsonst gesagt. Weil er also ein Sünder ist, weise ihn zurecht, und weil er ein Mensch ist, erbarme dich seiner! Und du wirst überhaupt keinen Menschen befreien, es sei denn, du hast ihn als Sünder verfolgt. 3. Auf diese Aufgabe verwendet jede Leitung große Sorgfalt, wie es für den jeweiligen Leiter geeignet und angepasst ist, nicht nur für den 3
Vgl. Gal 6,9–10. Gal 3,11. 5 Lk 6,27; vgl. Mt 5,44. 6 Spr 25,21. 4
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Bischof, der sein Volk leitet, sondern auch für den Armen, der seinem Haus vorsteht, für den Reichen, der seinen Hausstand führt, für den Ehemann, der seine Gattin lenkt, für den Vater, der seine Nachkommenschaft leitet, für den Richter, der seine Provinz verwaltet, für den König, der sein Volk beherrscht. Alle diese Leiter wollen, wenn sie gut sind, auf jeden Fall diejenigen, die sie leiten, gut leiten, und sie geben sich gemäß der vom Herrn des Weltalls zugeteilten Macht, der auch die Herrschenden lenkt, Mühe, dass sie sich ebenso wie die, die sie leiten, als Menschen bewahren und dass die Sünder verschwinden. So erfüllen sie, was geschrieben steht: Übe Erbarmen, aber nimm dich des Sünders nicht an, damit sie nicht das, was in jenem erlöst ist, wollen, weil er ein Sünder ist, und gib den Gottlosen und Sündern ihre Strafe, damit gerade das, was Sünder und Gottlose sind, in ihnen zerstört wird. Tue einem Demütigen Gutes, deswegen, weil er demütig ist, aber gib dem Gottlosen nichts, deswegen, weil er gottlos ist, denn auch der Höchste ist den Sündern feind und wird die Gottlosen bestrafen. Da diese jedoch nicht nur Sünder und Gottlose, sondern auch Menschen sind, lässt er seine Sonne über Gute und Böse aufgehen und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.7 So darf keinem Menschen Erbarmen versagt und keiner Sünde Straflosigkeit gewährt werden. 4. Denn was tun wir durch Tadeln anderes als Sünden zu bestrafen, und wenn jeder sich reuig an Gott wendet, was tut er dann anderes, als sich selbst zu tadeln und zu bestrafen? Auf keine Weise kommst du also von dem Werk des Erbarmens ab, wenn du das in einem jeden verfolgst, was du auch selbst wünschst, dass er es in dir selbst barmherzig verfolgt. […] 5. Es kann aber denen, die wenig aufmerksam sind, seltsam und vielleicht unglaublich erscheinen, wie der Sünder aufgenommen und ernährt werden kann – gerade deswegen, weil er ein Sünder ist. Denn es ist das eine, wenn jeder deshalb einen Menschen ernährt, weil er entweder erkennt, dass dieser gerecht ist oder es glaubt, wenn er jenen Lohn betrachtet, von dem gesagt ist: Wer einen Gerechten aufnimmt, weil es ein Gerechter ist, wird den Lohn eines Gerechten empfangen;8 es ist aber etwas anderes, wenn einer einen beliebigen Menschen so ernährt, wie ein Mensch einen anderen Menschen, indem er jenem generellen Gebot dient, wo der Herr sagt: Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen Gutes tun, das tut auch ihr ihnen!9 Es gibt 7
Mt 5,45. Mt 10,41. 9 Mt 7,12. 8
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aber Menschen, die selbst die Sünden bei den Sündern lieben und deswegen ihnen gegenüber alles aufwenden, was sie schenken, sodass man überhaupt nicht das Gegenteil des Werkes zu jenem Werk sehen kann, das den Gerechten deswegen gewährt wird, weil sie gerecht sind. Denn wie die gerechten und mit lobenswerter Frömmigkeit begabten Menschen sich beeilen, die Hingabe an die Güte Gottes den Sklaven zu gewähren, von denen sie auch selbst in die ewigen Hütten aufgenommen werden,10 so suchen im Gegensatz dazu Tempelräuber und Gottlose Formen von Schandtaten bei den Menschen, mit deren Übernahme sie in gewisser Weise ihre zeitlichen Güter verschleudern und mit denen sie später in ewige Qualen kommen. Zwischen diesen beiden Verhaltensweisen hat die einen gewissen mittleren Platz inne, auf dem nicht wegen der Gerechtigkeit und nicht wegen der Sünde, sondern wegen der Gemeinschaft der Natur selbst dem Menschen vom Menschen Menschlichkeit erwiesen wird. Dieser mittleren Art des Verhaltens bedienen sich die Frommen bewusst, und selbst die Gottlosen werden manchmal davon berührt. 6. Weil es also eine Sache ist, dem Verwalter des himmlischen Königreichs die notwendigen Dienste zu leisten wie Onesiphorus dem Paulus,11 eine andere, einem Bettler eine besondere Gabe zu reichen, wie sie der empfing, der an der Schönen Pforte saß,12 und noch etwas anderes, Bösewichtern Belohnungen zu verteilen, wie von Narren Schauspieler, Wagenlenker und Jäger13 beschenkt werden: Jene erste und die mittlere Art der Zuteilung praktiziert die Kirche; diese aber verurteilt, tadelt und züchtigt sie als Gegenteil zu jenem ersten und besten Verhalten. Aber von diesem Gegenteil müssen unsere trägen Christen abgebracht werden, die dem hungrigen Christus [in den Armen] kaum Brot brechen, während jene, die Unsummen für das Theater ausgeben, ihren Kindern kaum einen Brotlaib übrig lassen. Wegen jener mittleren Art aber, mit der vom Menschen einem Mitmenschen Menschlichkeit geschuldet wird, kann es geschehen, dass sowohl der Sohn der Hölle, durch einiges Erbarmen bewegt, einen Verwalter Gottes ernährt und dass der Sohn der Kirche sogar einen Jäger ernährt, wenn er ihn von Hunger geschwächt gefunden hat. Aber weder hat jener die Gerechtigkeit geliebt, sondern er konnte die gemeinsame Bedingung der Sterblichkeit nicht in einem fort ver10
Vgl. Lk 16,9. Vgl. 2Tim 1,16. 12 Vgl. Apg 3,2. 13 Venatores (Jäger), häufig Sklaven oder Kriminelle, die – ähnlich den Gladiatoren – eine spezielle Kampfausbildung erhielten. Die „Jäger“ kämpften, mit einem Speer bewaffnet, in venationes (Tierhetzen) gegen wilde Tiere. 11
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achten, noch hat dieser den Sünder aufgenommen, aber er hat dem Menschen sein Mitleid nicht verweigert. 7. Über jene erste Art eines guten Werkes spricht der Herr so: Wer einen Gerechten aufnimmt, weil es ein Gerechter ist, wird den Lohn des Gerechten empfangen, und wer einen Propheten aufnimmt, weil es ein Prophet ist, wird den Lohn eines Propheten empfangen, und wer nur einen Becher kalten Wassers einem von diesen geringsten Brüdern gibt, weil es ein Jünger ist, wahrlich, ich sage euch, wird seinen Lohn nicht verfehlen;14 und es folgt jenes Wort, von dem ich kurz vorher ein Stück erwähnt habe: Macht euch Freunde mit dem Mammon der Ungerechtigkeit, damit sie euch auch selbst in die ewigen Hütten aufnehmen.15 Dazu gehört auch jenes Schriftwort: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, empfangt das Reich, das für euch vom Anfang der Welt an bereitet ist, denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben16 usw. Aber jene fragen: Wann haben wir dich hungern sehen?17. Jener antwortet ihnen: Wenn ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern etwas Gutes getan habt, habt ihr es für mich getan.18 Über jene Art des Erbarmens also, bei der das Elend keines Menschen verachtet werden darf, auch wenn einem Sünder dafür, dass er ein Sünder ist, kein Mitleid geschuldet wird, hat er uns so ermahnt, wenn er zu einem, von dem er zusammen mit anderen eingeladen worden war, sagt: Wenn du ein Mahl machst, lade deine Freunde nicht ein, von denen auch du eingeladen werden könntest, sondern lade Lahme, Blinde, Krüppel und Bettler ein, die nichts haben, um es dir zu vergelten. Es wird dir aber bei der Auferstehung der Gerechten vergolten werden.19 Daher können wir auch darauf achten, dass die Jünger wegen der Gewohnheit des Herrn selbst glaubten, dass er jenem Judas, seinem Verräter, befohlen habe, etwas vorzubereiten, was den Armen am Festtag gegeben werden sollte, weil dieser die Kasse verwaltete,20 als er zu ihm sagte: Was du tust, tue bald!21 Denn woher sollten sie das vermuten, wenn der Herr sie auch durch sein Handeln gelehrt hätte, keine solchen Almosen jemals zu verteilen? Denn aufgrund der ersten Art guter Werke, bei der sich jeder wegen des Verdienstes der Ge14
Mt 10,41–42. Lk 16,9. 16 Mt 25,34–35. 17 Mt 25,37. 18 Mt 25,40. 19 Lk 14,12–14. 20 Vgl. Joh 13,29. 21 Joh 13,27. 15
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rechtigkeit den Gerechten widmet, werden eben dafür eher von anderen solche Liebesdienste erwiesen. Denn woher sammelten auch jene Kassen Geld als aus den Schenkungen der Anhänger? Und ganz offensichtlich werden im Evangelium auch einige gottesfürchtige Frauen genannt, die seinen Umkreis mit dienender Aufopferung begleiteten und ihm mit ihrem Vermögen dienten.22 8. Nun muss man deshalb besonders darauf achten, wie sehr man die Almosen nicht verachten darf, die für beliebige Arme nach dem Recht der Menschlichkeit verwendet werden, da ja der Herr die Not der Armen aus dem „Kästchen“ zu erleichtern pflegte, das er aus den Mitteln anderer auffüllte. Wenn aber jemand zufällig behauptete, es würden weder die Krüppel und Bettler eingeladen, die der Herr einzuladen befohlen hat, noch seien jene, denen er aus dem „Kästchen“ auszuteilen pflegte, Sünder gewesen,23 und deshalb sei es nicht folgerichtig, dass wegen der Zeugnisse des Evangeliums auch Sünder von Mitleidigen aufgenommen oder ernährt werden sollten, dann soll er darauf achten, was ich schon weiter oben erwähnt habe, dass in jedem Fall Sünder und besonders verbrecherisch diejenigen sind, die die Kirche hassen und verfolgen, über die dennoch gesagt wird: Tut denen Gutes, die euch hassen24, und das wird dem Vorbild Gottes des Vaters hinzugefügt, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte.25 Lasst uns also die Sünder nicht deshalb aufnehmen, weil sie Sünder sind, sondern sie jedoch, weil sie auch Menschen sind, mit menschlicher Zuwendung behandeln. Lasst uns an ihnen unsere eigene Bosheit verfolgen und uns der gemeinsamen Bestimmung erbarmen und lasst uns so unermüdlich allen Gutes tun, solange wir noch Zeit haben, aber besonders den Genossen des Glaubens.26 Quelle: Sermo sancti Augustini de eleemosynis quae fiunt in omnes (Sermo Erfurt 4), in: Isabella Schiller u.a., Sechs neue Augustinuspredigten. Teil 2 mit Edition dreier Sermones zum Thema Almosen, Wiener Studien 122 (2009), 171–213: 207–213. Übersetzung: Albrecht und Erika von Blume.
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Vgl. Lk 8,3. Vgl. Kap. 7. 24 Mt 5,44. 25 Mt 5,45. 26 Gal 6,9–10. 23
59. Hieronymus gegen Vigilantius (406) Die folgenden Auszüge aus Hieronymus Schrift gegen Vigilantius (Contra Vigilantium) dokumentieren einen instruktiven Konflikt um Geld, Spenden und die wahren Armen in der westlichen Christenheit um die Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert. Der Konflikt wurde literarisch zwischen Hieronymus und Vigilantius ausgetragen. Der aus Südgallien stammende Vigilantius (geb. um 370), dessen Vater eine Schänke betrieb, wurde vermutlich von Sulpicius Severus (s. Text 55) getauft, hielt sich eine Zeitlang bei Paulinus von Nola (s. Text 56) auf und erhielt die Priesterweihe. Er besuchte Hieronymus in Bethlehem und warf diesem nach seiner Rückkehr nach Gallien vor, er sei Anhänger des umstrittenen Origines (s. Text 39). Hieronymus bestritt dies energisch. Um 403 veröffentlichte Vigilantius ein nicht mehr erhaltenes Buch, in dem er den zunehmenden Märtyrerkult und den Prunk an Heiligtümern scharf verurteilte und die Überbetonung asketischer Ideale der Jungfräulichkeit sowie der mönchischen Armut kritisierte. Zudem stellte er die Praxis in Frage, dass Spenden Reicher in großem Ausmaß an Asketen im Heiligen Land und an Klöster in Ägypten flossen. Diese Mittel würden – so der Einwand – der Unterstützung der Armen vor Ort entzogen. Hieronymus antwortete auf Vigilantius mit allen Mitteln antiker Rhetorik. Er beschimpft in seiner Schrift Vigilantius als „Ungeheuer“ und spielt polemisch darauf an, dass sein Vater eine Schänke geführt hatte. Nur kurz verteidigt er den Heiligenkult und kommt dann auf das Thema Geld, das für Arme zu spenden sei, zu sprechen. Er verteidigt die Unterstützung der Mönche der heiligen Städte mit Bezug auf die paulinische Kollekte für die Armen in Jerusalem (s. Text 22) und vergleicht die Asketen mit jüdischen Torastudenten, deren Studien im Heiligen Land durch Beiträge von Synagogen aus der ganzen Welt finanziert würden. Die Mönche sind für Hieronymus die „Armen im Geiste“, die „heiligen Armen“, im Unterschied zu den dreckigen Armen aus dem „gemeinen Volk“. Man könne zwar allen Armen spenden, wenn dies die Umstände erlauben. Vorrangig aber sollten Spenden den „heiligen Armen“ zugutekommen, denn nur sie verbürgen nach Auffassung des Hieronymus die Rettung der Spender im letzten Gericht. Hieronymus‘ Unterscheidung von heiligen und anderen Armen eröffnete Reichen die Möglichkeit, an einem „materiell-spirituellen Austausch“ zu partizipieren, der ihnen einen Schatz im Himmel garantierte. Durch die Heiligkeit der armen Mönche wurde irdischökonomisches in himmlisch-spirituelles Kapital transferiert.
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13. Es kommt mir vor, als ob dich noch etwas anderes schmerze, nämlich die Furcht, deine Kneipen möchten keinen Gewinn mehr abwerfen, wenn bei den Galliern Enthaltsamkeit, Mäßigkeit und Fasten sich eingebürgert haben, es möchte dann unmöglich sein, die ganze Nacht hindurch Teufelsvigilien und lärmende Gelage zu veranstalten. Außerdem ist mir im gleichen Briefe mitgeteilt worden, dass du gegen den ausgesprochenen Willen des Apostels Paulus, ja auch der Apostel Petrus, Jakobus und Johannes, die dem Paulus und Barnabas die Rechte reichten zum Zeichen der Zusammengehörigkeit und ihnen auftrugen, der Armen eingedenk zu sein, davor warnst, tröstliche Spenden zur Unterstützung der Mönche nach Jerusalem abzusenden. Natürlich wirst du, wenn ich mich hiergegen wehre, sofort bellen, ich verfolge egoistische Interessen, du, der du alle so freigebig beschenkt hast, dass wir insgesamt Hungers gestorben wären, wenn du dich nicht in Jerusalem gezeigt und deine und deiner Auftraggeber Gelder so reichlich gespendet hättest. Ich sage dasselbe, was der hl. Apostel Paulus in fast allen seinen Briefen sagt und den Kirchengemeinden unter den Heidenchristen vorschreibt, alle sollten am Tage nach dem Sabbat, also am Sonntage, zusammenlegen. Die so gesammelte Summe sollte dann nach Jerusalem gesandt werden zur tröstlichen Unterstützung der Christen, entweder durch Jünger oder durch andere als zuverlässig erprobte Leute, oder wenn es sich der Mühe lohne, werde er persönlich über den Ertrag bestimmen oder ihn abholen.1 In der Apostelgeschichte spricht Paulus zu dem Statthalter Felix: „Nach mehreren Jahren bin ich nach Jerusalem gekommen, um meinem Volke Almosen zu bringen, zu opfern und ein Gelübde zu erfüllen. Darüber fanden sie mich, nachdem ich gereinigt war, im Tempel“2. Konnte er nicht in einem anderen Erdteile und in den Kirchen, die er in ihrem Werden in seinem Glauben unterwiesen hatte, verteilen, was ihm andere spendeten? Aber er wünschte damit die Armen an den heiligen Stätten zu beschenken, die Christi wegen ihr eigenes geringes Vermögen verlassen hatten, um sich voll und ganz in den Dienst des Herrn zu stellen. Es würde zu weit führen, wollte ich aus seinen gesamten Briefen alle Stellen zusammensuchen, an welchen er, und zwar mit allem Nachdruck, darauf hinarbeitet, dass nach Jerusalem und an die heiligen Stätten für die Gläubigen Geld abgeführt werde nicht aus habsüchtigen Gründen, sondern zum Zwecke der Unterstützung, nicht um Reichtümer aufzuspeichern, sondern um den Bedürfnissen des Leibes zu genügen, um gegen Kälte und Hunger geschützt zu sein. Diese Gewohnheit hat sich im Judenlande bis heute erhalten, nicht nur bei uns, sondern auch bei den 1 2
Vgl. 1Kor 16,2–4. Apg 24,17f.
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Hebräern, damit diejenigen, die bei Tage und bei Nacht im Gesetze des Herrn forschen,3 die auf Erden außer Gott keinen Vater haben, durch das Almosen der Synagogen des ganzen Erdkreises unterstützt werden, natürlich entsprechend den Rücksichten, welche die Billigkeit fordert, nicht so, dass die einen Hilfe erhalten, die anderen dagegen in Not geraten, sondern so, dass der Überfluss der einen den Mangel der anderen abstellt.4 14. Du wirst zur Antwort geben, dies könne ein jeder in seinem Vaterlande tun. Es werde nie an Armen fehlen, die aus den Kirchengütern zu unterhalten seien. Ich leugne nicht, dass man, falls die Umstände es erlauben, allen Armen, selbst den Juden und Samaritanern Almosen spenden soll. Aber der Apostel lehrt, dass man zwar alle unterstützen soll, jedoch an erster Stelle die Glaubensgenossen.5 Über diesen Punkt lässt sich auch der Erlöser im Evangelium aus mit den Worten: „Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit sie euch in die ewigen Wohnungen aufnehmen!“6 Können denn jene Armen, in denen trotz Lumpen und schmutzigem Körper die Begierlichkeit ständig auflodert, ewige Wohnungen haben, sie, die weder in der Gegenwart noch in der Zukunft Wohnungen besitzen? Nicht die Armen schlechtweg, sondern die Armen im Geiste werden selig genannt.7 Von ihnen gilt das Sprichwort: „Selig, wer Einsicht übt gegenüber den Armen und Dürftigen. Am Unglückstage wird der Herr ihn erretten“8. Bei der Unterstützung der Armen aus dem gemeinen Volke bedarf es keineswegs der Einsicht, sondern des Almosens. Bei den heiligen Armen besteht die Seligkeit in der Erkenntnis, dass man einem Armen mitteilt, der nur errötend die Gabe annimmt und, nachdem er sie angenommen hat, schmerzlich davon berührt wird, dass er Fleischliches erntet, obwohl er Geistiges gesät hat. Aber auf des Vigilantius Behauptung, jene, welche die Nutznießung ihres Eigentums beibehalten und allmählich den Ertrag ihrer Besitztümer unter die Armen austeilen, handeln besser als die anderen, die das Ihrige verkaufen und alles auf einmal verschenken, gebe nicht ich die Antwort, sondern der Herr, der spricht: „Willst du vollkommen sein, dann gehe hin, verkaufe alles, was du hast, gib es den Armen, und dann komme, und folge mir nach!“9 Er wendet sich an den, der vollkommen sein will, der mit den Aposteln Vater, Schifflein und Netze 3
Vgl. Ps 1,2. Vgl. 2Kor 8,13f. 5 Vgl. Gal 6,10. 6 Lk 16,9. 7 Vgl. Mt 5,3. 8 Ps 41,2. 9 Mt 19,21. 4
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verlässt. Was du rühmend erwähnst, das ist erst der zweite oder dritte Grad, den auch ich gelten lasse, aber unter dem Vorbehalte, dass der erste vor dem zweiten oder dritten den Vorzug hat. Quelle: Hieronymus: Gegen Vigilantius, in: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften Bd. 1: Des heiligen Kirchenvaters Hieronymus ausgewählte historische, homiletische u. dogmatische Schriften. Aus dem Lateinischen übersetzt von Ludwig Schade, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 15, Kempten/München 1914, 303–323: 318–321.
60. Augustin: Die Not Christi und die Chance der Reichen (410) Die folgende Predigt hat Augustin am Osterdienstag 410 gehalten. Der Bischof von Hippo will darin auf der Basis von Markus 16,9–16 vor allem den Reichen die Augen öffnen für die Erkenntnis des Reichtums und der Armut Christi und damit für ein Leben in Erlösung und wahrem Reichtum. Augustins Ausführungen heben sich deutlich ab von der Auffassung des Reichtums, wie sie in der Generation vor Alarichs Plünderung Roms 410 unter radikalen Christen aufkam und Kreise zog. Diese Sichtweise fand in der pelagianischen Schrift „Über den Reichtum“ (s. Text 61) mit ihrer scharfen Kritik am Reichtum als solchem ihren pointierten Ausdruck. Augustin hingegen eröffnet den Reichen eine Perspektive, die es ermöglicht, ihre Macht und ihr Geld zum Ruhm Gottes in der Kirche und einem christlichen Gemeinwesen einzusetzen. Der Bischof von Hippo lehnt nicht den Reichtum an und für sich ab, sondern wendet sich gegen die Arroganz der Reichen, die zerstörerische Folgen hat. Die vorliegende Predigt kritisiert den Hochmut der Reichen, die sich auch noch darin zeigt, dass sie sich des Almosengebens rühmen und ihr Geben zur Selbstdarstellung nutzen. Dagegen macht Augustin die Empfänger von Almosen stark, die den Reichen die Chance bieten, ihren spezifischen Mangel an Gerechtigkeit auszugleichen. Charakteristisch ist zugleich die rhetorische Strategie, mit der Augustin an die Reichen appelliert: Er setzt bewusst ökonomische Metaphern und Begriffe ein. So knüpft er dezidiert an das Geschäftsgebaren und Gewinnstreben von wohlhabenden Grundbesitzern, Kaufleuten und Handwerkern an, um ihnen bei wenig Einsatz ungeheuren Gewinn vor Augen zu stellen. Die Wohlhabenden sollen die Not des auferstandenen und erhöhten Christus wahrnehmen, der „bis ans Ende der Zeit“ in „seinen Gliedern“ leidet. Irdische Investitionen in Form von Almosen für den in den Armen Not leidenden Christus versieht Gott – als gleichsam himmlischer Bankier – mit traumhaften Renditen. […] 2. Was hören wir von Markus? Dass der Herr zweien auf dem Weg erschienen ist, wie es auch Lukas gesagt hat, dessen Evangelium wir gestern hörten. Er erschien zweien unterwegs in fremder Gestalt.1 Auch Lukas hat dasselbe mit anderen Worten gesagt, aber er ist nicht abgewichen von eben dem Sinn. Was hat Lukas nämlich gesagt? Ihre
1
Mk 16,12.
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Augen wurden gehalten, so dass sie ihn nicht erkannten.2 Was hat hingegen Markus gesagt? Er erschien ihnen in anderer Gestalt. Wo jener sagte: Ihre Augen wurden gehalten, so dass sie ihn nicht erkannten, sagt dieser: in anderer Gestalt. Eine andere Gestalt nämlich wurde gesehen, solange ihre Augen gehalten und nicht geöffnet waren. Was also, Brüder, da doch Lukas, woran ihr, wie ich glaube, euch aus der gestrigen Lesung erinnert, gesagt hat, dass ihre Augen geöffnet wurden, als er das gesegnete Brot brach,3 – was meinen wir damit, wenn ihre Augen da geöffnet wurden? Gingen sie etwa mit geschlossenen Augen mit ihm auf den Weg und konnten sie wissen, wohin sie ihre Schritte setzen mussten, wenn sie geschlossene Augen hatten? Sie sind demnach geöffnet worden zur Erkenntnis, nicht zur Sicht. Deshalb spricht unser Herr Jesus Christus mit den Menschen unerkannt vor dem Brotbrechen. Beim Brotbrechen wird er erkannt, weil er dort wahrgenommen wird, wo das Ewige Leben empfangen wird. […] Ein Fremder wollte der Herr des Himmels auf Erden werden, ein Fremdling in der Welt, der, durch den die Welt gemacht wurde.4 Er hielt es für würdig, ein Fremder zu sein, damit du den Segen hast, wenn du ihn aufnimmst, nicht weil er einen Mangel hatte, als er als Fremder eintrat. 3. Der Herr nährte den hl. Elia zur Zeit der Hungersnot durch einen Raben. Den die Menschen verfolgten, dem dienten die Vögel. Ein Rabe brachte dem Gottesknecht morgens Brote und abends Fleisch.5 Keinen Mangel musste also der leiden, den Gott durch seine Diener, die Vögel, nährte. Und obwohl Elia keinen Mangel litt, wurde er zur Witwe in Sarepta [Zarpath] geschickt und ihm gesagt: Gehe zu jener Witwe, sie wird dich ernähren.6 Hatte Gott nun Mangel, dass er Elia zur Witwe schickte? Wenn aber Gott seinem Knecht ohne den Dienst eines Menschen immer das Brot böte, woher würde die Witwe ihren Lohn nehmen? Der keinen Mangel leidet, wird zu einer geschickt, die Mangel leidet, der nicht hungert, zu einer, die hungert. Und er sagte zu ihr: Gehe und bringe mir einen Bissen, damit ich esse. Jene hatte nur noch ein bisschen; das wollte sie essen und sterben. Sie antwortete, wieviel sie hatte, sie sagte es dem Propheten ganz klar, und der Prophet sagte ihr: Geh und bring es mir zuerst. Jene zögerte nicht und brachte es. Sie brachte das Essen und verdiente sich den Segen. Der hl. Elia segnete Mehltopf und Ölkrug. Jener war schon im Haus hin2
Vgl. Lk 24,16. Vgl. Lk 24,30f. 4 Vgl. Joh 1,10. 5 Vgl. 1Kön 17,6. 6 1Kön 17,9. 3
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gestellt, um verbraucht zu werden, und dieser hing schon am Pfahl, um ausgeleert zu werden. Es kam der Segen hinzu, und jene Gefäße sind Schätze geworden. Der Tropfen Öl ist zur Quelle des Öls geworden, und das bisschen Mehl übertraf die reichsten Saaten. 4. Wenn Elia keinen Mangel litt, hat Christus dann Mangel gelitten? Daher, meine Brüder, mahnt uns die Heilige Schrift, dass Gott oft seine Knechte, die er wohl nähren kann, Mangel leiden lässt, um Mitarbeiter zu finden. Niemand, der einem Armen gibt, überhebe sich! Christus war ein Armer. Niemand überhebe sich, der einen Fremden aufnimmt! Christus war ein Fremder. Besser ist der, der Aufnahme findet, als der, der aufnimmt. Reicher ist der, der das annimmt, als der, der gibt. Der annahm, besaß alles. Wer gab, hatte von dem, dem er gab, ja genommen, was er gab. Keiner, meine Brüder, überhebe sich also, wenn er einem Armen gibt! Er darf im Herzen nicht sagen: Ich gebe, er nimmt; ich nehme auf, er hat kein Dach. Gerade in dem, worin du Mangel leidest, ist er dir über; den du aufnimmst, das ist doch der Gerechte. Jener hatte Mangel an Brot, du an Wahrheit; jener entbehrt eines Daches, du des Himmels; jener ist arm an Geld, du an Gerechtigkeit. 5. Sei also ein Wucherer! Ruf ab, was du empfangen sollst! Sei ohne Furcht, dass Gott dich als Wucherer verurteilt! Vorwärts, sei ein Wucherer! Aber Gott sagt dir: Was willst du? Willst du wuchern? Was heißt wuchern? Weniges geben und mehr nehmen. Also gib mir, sagt dir Gott. Ich nehme weniger und gebe mehr. Was? Hundertfach und das ewige Leben. Wenn du, damit dein Geld wächst, einen Mann suchst, so freut er sich, wenn er es nimmt; wenn er zahlen soll, so weint er; er bittet, um zu nehmen; er schimpft, um es nicht zurückzuzahlen. So gib auch dem Menschen und wende dich nicht von dem ab, der von dir leihen will.7 Aber nimm nur so viel zurück, wie du gegeben hast. Es soll der nicht weinen, dem du gegeben hast, denn dann hast du deinen Gewinn verloren. Und wenn etwa das, was gegeben wurde oder was er empfangen hat, zurückgefordert wird und er es noch nicht bereit hat, [so warte!]. Du hast den Bittenden ertragen, warte auf den, der nichts hat. Wenn er es dann hat, so wird er es dir zurückgeben. Bedränge den nicht, den du von seiner Bedrängnis befreit hast. Siehe, du hast gegeben und forderst nun zurück. Er aber hat nicht, woher er es dir zurückzahlen kann. Schrei nicht und sag nicht: „Will ich etwa Zinsen? Ich will doch nur so viel, wie ich gegeben habe; was ich gab, will ich nehmen.“ Du handelst richtig, aber er hat es noch nicht. Du bist kein Wucherer, aber du willst, dass der, dem du 7
Mt 5,42; vgl. Dtn 15,7ff.
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zu Hilfe gekommen bist, zum Wucherer geht, um dir zurückzuzahlen. Wenn du deshalb keinen Wucher forderst, damit er dich nicht als Wucherer erfährt, warum willst du dann, dass er um deinetwillen einen anderen Wucherer erdulden muss? Du bedrückst ihn, nimmst ihm den Atem, auch wenn du nur forderst, was du gabst. Wenn du ihm den Atem raubst und ihn bedrängst, dann hast du ihm keine Wohltat erwiesen, sondern ihn vielmehr in größere Bedrängnis gebracht. Aber du sagst nur: „Er hat es doch, wovon er zurückzahlen kann. Er hat ein Haus. Soll er es doch verkaufen. Er hat Besitz, er soll verkaufen.“ Als er von dir etwas erbat, da hat er es doch deshalb erbeten, damit er nicht verkaufen musste. Um deinetwillen soll er es nun nicht tun, der du ihm doch zu Hilfe gekommen bist, damit es nicht geschähe. Dies soll so bei den Menschen sein, das befiehlt Gott, das will Gott. 6. Aber bist du habgierig? Gott sagt dir: Sei habgierig, sei so habgierig, wie du sein kannst, aber komme mit deiner Habgier zu mir. Gott sagt dir: Komm zu mir, ich habe meinen reichen Sohn für dich arm gemacht. Um unseretwillen nämlich ist Christus arm geworden, ob er gleich reich war.8 Willst du Gold? Er hat es gemacht. Willst du Silber? Er hat es gemacht. Willst du eine Familie [d.h. Sklaven]? Er hat sie gemacht. Was willst du nur das, was er gemacht hat? Nimm doch den, der es gemacht hat. Bedenke, wie sehr er dich geliebt hat. Alles ist durch ihn gemacht, und ohne ihn ist nichts gemacht,9 alles durch ihn und er selbst bei allem. Der alles geschaffen hat, ist bei allem. Der den Menschen schuf, wurde Mensch. Er wurde, was er machte, damit der, den er machte, nicht verloren ginge. Der alles geschaffen hat, ist bei allem. Schau den Reichtum an! Was könnte reicher sein als der, durch den alles geschaffen ist. Und obwohl er so reich war, nahm er im Schoß einer Jungfrau das sterbliche Fleisch an. Als Kind wurde er geboren,10 in Kinderwindeln gewickelt, in eine Krippe wurde er gelegt […]. Er nuckelte, er quiekte, er erschien als Kind. Aber er lag da und herrschte. Er lag in der Krippe und hielt die Welt zusammen; er wurde von der Mutter gestillt und von den Heiden angebetet; er wurde von der Mutter gestillt und von den Engeln verkündet; er wurde von der Mutter gestillt und vom leuchtenden Stern zum König ausgerufen. Solch Reichtum und solche Armut: Reichtum, dass du geschaffen wurdest, Armut, dass du erlöst würdest! Dass er also als Armer aufgenommen wurde in Gastfreundschaft wie ein Bettler, war die gnädige Herablassung dessen, der aufnimmt, nicht das Elend dessen, der Mangel leidet. 8
Vgl. 2Kor 8,9. Vgl. Joh 1,3. 10 Vgl. Lk 2,1ff und Mt 2,1ff. 9
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7. Vielleicht sagst du zu dir: „Glücklich die, die das Verdienst erworben haben, Christus aufzunehmen. O wenn ich doch damals dort gewesen wäre! O wenn ich doch einer von jenen beiden gewesen wäre, die Christus auf dem Weg trafen!“ Sei auf dem Weg, dann wird dir Christus als Fremder nicht fehlen! […] Hast du vergessen, dass er, wenn er das Reich geben wird, sagen wird: Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan?11 Dieser Reiche, er ist arm bis ans Ende der Zeit. Er hat weiterhin Not, nicht aber im Haupt, sondern in seinen Gliedern. Wo hat er Not? In denen, die ihm Leid machten, als er sagte: Saul, Saul, was verfolgst du mich?12 Lasst uns also Christus gehorchen. Er ist bei uns in den Seinen, er ist bei uns in uns. Er hat nicht vergeblich gesagt: Ich bin bei euch bis ans Ende der Zeit.13 Wenn wir so handeln, dann erkennen wir Christus in den guten Werken, nicht mit dem Körper, sondern im Herzen, nicht mit den Fleischesaugen, sondern mit den Glaubensaugen. Weil du gesehen hast, hast du geglaubt, so hat er zu einem gewissen ungläubigen Jünger gesprochen, der gesagt hat: Ich will nicht glauben, wenn ich dich nicht berühre. Und der Herr sagte dann: Komm, berühre mich, sei nicht ungläubig! Jener berührte und sagte: Mein Herr und mein Gott! Und der Herr: Weil du mich gesehen hast, bist du zum Glauben gekommen.14 Das ist dein ganzer Glaube, dass du glaubst, was du siehst; ich lobe die, welche nicht sehen und doch glauben, denn sie werden sich freuen, dann wenn sie gesehen haben. Quelle: Aurelius Augustinus, Markus 16, Sermo 239, PL 38, 1126–1130, übersetzt von Wolfgang Wischmeyer, in: Gerhard K. Schäfer (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, VDWI 4, 106–111. © Heidelberger Verlagsanstalt
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Mt 25,40. Apg 14,4. 13 Mt 28,20. 14 Joh 20,24–28. 12
61. Über den Reichtum (413/414) Über den Reichtum (De divitiis) ist eine radikale pelagianische Streitschrift. Sie wurde 413/414 von einem unbekannten Autor aus dem Umkreis nobler römischer Christen verfasst, die vor den Goten nach Sizilien geflohen waren. Die mit unerbittlicher Stringenz argumentierende, nach Art einer Gerichtsrede aufgebaute Schrift (Diatribe) entzieht dem persönlichen Reichtum jegliche Rechtfertigung. Das ist ein Novum in der westlichen, lateinischen Christenheit. Die an Schärfe nicht zu überbietende Kritik des Reichtums überhaupt wird vor allem durch wörtliche Auslegung einschlägiger biblischer Texte begründet und in Auseinandersetzung mit maßgeblichen Positionen entfaltet, für die Ambrosius (s. Text 54) einerseits und Augustinus (s. Texte 58; 60) andererseits stehen. Ambrosius steht exemplarisch für die weit verbreitete Auffassung, Reichtum sei grundsätzlich legitim, aber man müsse ihn gut gebrauchen. In der Tradition Augustins gelten nicht der Reichtum und der Reiche als schlecht, sondern die Gier nach Reichtum und das innerliche Gebundensein an irdische Güter. Der Autor von De divitiis zerschlägt solche Positionen und die damit verbundenen Argumentationen systematisch: Er betont die naturgemäße Gleichheit aller Menschen und die von Gott eingerichtete Gleichverteilung aller Güter im Sinne des für alle zugänglichen Lebensnotwendigen (sufficientia). Darüber hinaus erhebt der Verfasser die Armut Christi zum normativen Leitbild für alle Christen. Den einzig guten Gebrauch des Reichtums sieht er in dessen vollständiger Aufgabe. Nur einer, der allen Reichtum aufgibt, kann von Habsucht und Gier frei sein. Die Pointe der scharfen Argumentation liegt darin, dass die Beseitigung des Reichtums automatisch das Ende der Armut bedeutet. Wenn wenige Reiche die Ursache für viele Arme sind, dann gibt es keine Armen mehr, wenn es keine Reichen mehr gibt. Die Abhandlung Über den Reichtum ist Teil der asketischen Bewegung Ende des vierten, Anfang des fünften Jahrhunderts im Westen. Sie wendet sich an die Reichen und will sie für einen christlich motivierten Verzicht auf ihren Reichtum gewinnen, für den die Geschichte von Melania und Pinianus (s. Text 65) als Beispiel gelten kann. Die Christus-Nachfolge und die Aussicht auf himmlischen Lohn bzw. Strafe sind dabei die entscheidenden Motive. Der Traktat orientiert sich an grundsätzlichen Ideen des aus Britannien stammenden Pelagius‘ (um 350–420), der ab ca. 380 in Rom als christlicher Lehrer wirkte und zur zentralen Gestalt asketisch gesinnter Angehöriger der römischen Oberschicht wurde. Pelagius und pelagianische Autoren wie der Verfasser von De divitiis betonten die Willensfreiheit und gingen davon aus, dass dem Menschen als Ebenbild Gottes ein Leben
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ohne Sünde prinzipiell möglich ist. Sie erstrebten eine Reform des Christseins, das sich konsequent am Beispiel Christi ausrichten sollte. Zusammen mit Anhängern floh Pelagius 410 vor den Westgoten nach Karthago, wo er in Konflikt mit Augustinus geriet. Im Jahr 414 erhielt Augustin aus Syrakus (Sizilien) eine Art Zusammenfassung der Streitschrift Über den Reichtum und bezog Stellung gegen die radikale Kritik des Reichtums. Die provokanten Thesen in De Divitiis haben erheblich zu dem sog. Pelagianischen Streit beigetragen. 418 verurteilte die Synode von Karthago Pelagius Auffassung von der Sünde und die ihr anhängenden Bischöfe als häretisch. 1,1 Wundern würde ich mich darüber, dass die Gedanken gewisser Menschen derart von der Liebe irdischer Begierde gefangen und besessen sind, dass sie meinen, weltliche Güter schadeten niemandem, wenn ich mich nicht daran erinnerte, dass dies ein Laster des Menschengeschlechts ist […]. Die Macht des verkehrten und durch die Liebe zum Übel entstellten Verstandes ist nämlich so groß, dass er weder dem eigenen noch einem fremdem Urteil beipflichtet und lieber gegen das Gewissen aller wie sogar gegen sein eigenes auftritt, als das zu bekämpfen, was er mit übermäßiger Leidenschaft liebgewonnen hat. 1,2 Es gibt sodann drei Laster, die mit gewaltigem Ungestüm vordrängen und in einer Weise von den Flammen der Begierde entzündet werden, dass sie kaum gelöscht und beruhigt werden können: Völlerei nämlich sowie Habsucht und Geschlechtslust. Wer auch nur einem dieser Laster verfallen ist, stürzt gleichsam vom Berg des Lichts und des Lebens kopfüber in haltlosem Trudeln in Tod und Finsternis, so dass er kaum mehr durch irgendwelche Zügel der Bildung oder Haltetaue der Wissenschaften zurückgehalten werden kann. 2 Aber irgendeiner wird sagen: „Wenn du zu Beginn über den Reichtum zu sprechen begonnen hast, warum bist du zur Habsucht übergegangen?“ Als ob es etwas anderes sei, habsüchtig zu sein, etwas anderes, Reichtum haben zu wollen! So wie einer nämlich aus Habsucht nach Reichtum strebt, so besitzt er ebenso wegen dem Reichtum auch die Habsucht – wenn überhaupt ein Habsüchtiger besitzt und nicht vielmehr besessen wird –, und der Reichtum kann solange aufrechterhalten werden, wie er sozusagen von seiner Mutter, d.h. der Habsucht, beschützt wird. Der Habsüchtige ist nämlich nicht jener, welcher von dem, was er hat, recht freigiebig den Bedürftigen zukommen lässt. Und wer bereits begonnen hat, sein Hab und Gut freigiebig zu verteilen, wird allmählich nichts Überflüssiges besitzen, und wer nichts Überflüssiges besitzt, wird auch nicht mehr reich sein können,
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weil der für reich gilt, der über eine überflüssige Fülle an Besitz verfügt; weshalb, wie einer aufhört, habsüchtig zu sein, auch aufhört, reich zu sein. […] 5,1 „Also ist der Reichtum schlecht?“, wirst du fragen. Zuerst überlege, was Reichtum ist und erfasse dann als kluger Verwalter seine Eigenschaft. Das Menschengeschlecht wird nämlich in diese drei ökonomischen Klassen eingeteilt: in Reichtum, Armut und Suffizienz. Denn jeder Mensch ist entweder als Reicher oder Armer oder über das Lebensnotwendige Verfügender einzuschätzen. Reichtum ist – so viel die Schwachheit meines Verstandes zu erkennen vermag – mehr zu haben, als lebensnotwendig ist, Armut hingegen bedeutet, das Lebensnotwendige nicht zu haben, das Lebensnotwendige aber, das den mittleren Platz des Maßes zwischen den anderen beiden innehält, bedeutet, nicht mehr als nötig zu besitzen. 5,3 […] Allerdings ist bei einem Vergleich mit jenen, welche die Fülle des Reichtums lieben und sich nicht fürchten, Überflüssiges zu besitzen, obwohl sie viele ihrer Brüder bedürftig sehen, jener zu loben, der das Überflüssige den Bedürftigen gibt und gemäß der Lehre des Alten Testaments mit der Menge des Lebensnotwendigen zufrieden ist.1 Aber jener ist eines größeren Lobes würdig, der nicht nur die Gebote des Alten Testaments, sondern auch die des Neuen Testaments erfüllen will, zumal dies unser Herr und Erlöser sowohl mit seinem Wort als auch mit seinem Beispiel lehrte: mit seinem Wort, indem sagte er: „Jeder, der nicht auf alles verzichtet, was er besitzt, kann nicht mein Schüler sein“2, mit seinem Beispiel, indem er […] gemäß seiner angenommenen Menschennatur so arm gewesen ist, dass er nichts Eigenes besaß, wo er sein Haupt darauflegen konnte.3 Über ihn legt auch der selige Apostel Zeugnis ab, indem er sagt: „Er ist deshalb arm geboren worden, damit er reich sei, so dass ihr durch seine Armut bereichert werdet.“4 Womit er sagen wollte, dass wir dann am reichlichsten mit himmlischem Reichtum zu versehen sein werden, wenn wir gemäß dem Beispiel Christi irdischen Reichtum verschmäht haben, so dass in uns jenes Wort des seligen Johannes voll umfänglich in Erfüllung gehe: „Wer sagt, dass er in Christus seinen Halt habe, der muss auch so auftreten wie jener aufgetreten ist.“5
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Vgl. Spr 30,8. Lk 14,33. 3 Vgl. Mt 8,20. 4 2Kor 8,9. 5 Vgl. 1Joh 2,6. 2
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6,1 […] Ich bitte dich sorgfältig abzuwägen: wieviel Anmaßung und wieviel Stolz liegen denn vor, dass wir dort reich werden wollen, wo wir wissen, dass Christus arm gewesen ist, und für uns irgendeine Herrschaftsmacht beanspruchen, wo jener die Gestalt der Knechtschaft angenommen hat, wie geschrieben steht: „Erkennet denn in euch, was ihr auch in Christus erkennt, der obwohl in göttlicher Gestalt, es nicht als Raub betrachtete, Gott gleich zu sein, sondern sich vielmehr selbst verleugnet hat, indem er die Gestalt eines Sklaven annahm.“6 Gewiss ist es so, dass wer sich Christ nennt, behauptet, ein Schüler Christi zu sein. Wer ein Schüler Christi ist, muss aber den Beispielen des Lehrers in allem folgen, so dass die Gestalt wie auch die Lehre des Lehrers gleichviel in der äußeren Erscheinung wie in der Lebensweise des Schülers ihre Entsprechung finde. 6,2 Welche Gestalt Christi kann in einem solchen Reichen sein? Welche Ähnlichkeit mit Christus hat ein in dieser Weise Begüterter? Welcher Vergleich ist zwischen Bedürftigkeit und Überfluss möglich? Welche Übereinstimmung gibt es zwischen Stolz und Demut? Was ist ähnlich zwischen dem, der nichts hat, und dem, der Überflüssiges besitzt? Ich will nicht mehr über materiellen Besitz reden; wir wollen sehen, ob der Reiche in seinen Sitten irgendeine Ähnlichkeit mit Christus hat, ich sehe nämlich nichts Ähnliches. Jener geschwollen, dieser niedrig, jener stolz, dieser demütig, jener aufbrausend, dieser sanft, jener jähzornig, dieser geduldig, jener ruhmsüchtig, dieser verwehrt sich jeglichen Ruhm, jener verabscheut die Armen, dieser umarmt sie, jener tadelt sie, dieser lobt sie. Die Reichen pflegen manchmal aufgrund ihrer ehrgeizigen und stolzen Gesinnung, mit der sie für sich den ganzen Ruhm der Welt begehren, weltliche Machtpositionen anzustreben und in jenem Gericht zu sitzen, vor dem stehend Christus vernommen wurde. Oh, welch unerträgliche Vermessenheit menschlichen Stolzes! Sieh den Sklaven sitzen, wo der Herr gestanden hat, und wo jener verurteilt wird, urteilt dieser. Was ist, Christ? Was ist, Schüler Christi? Dies ist nicht die Gestalt deines Lehrers. Jener steht demütig vor dem Gericht, während du – getragen von stolzer Erhabenheit – zu Gericht hoch über den Stehenden sitzest, um womöglich über einen Armen zu richten. Du befragst, jener ist verhört worden. Du verurteilst, jener wurde dem Urteil des Richters unterworfen. Du maßt dir an, ein Urteil auszusprechen, und er, obwohl unschuldig, nimmt es wie ein Schuldiger an. Er hat gesagt, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei,7 dein gieriger Ruhm nach weltlicher Herrschaft ist aber dermaßen, dass du sie entweder mit un6 7
Phil 2,5–7. Vgl. Joh 18,36.
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geheuer viel Geld kaufst oder sie dir durch die unwürdige und mühsame Knechtschaft der Kriecherei verdienst. Und du glaubst, dass du von Gott erhalten hast, was du mit dem durch Ungerechtigkeit erworbenen Geld kaufst oder dir als unwürdiger Klient durch häufige Begrüßung verdienst, indem du den Kopf bis auf den Erdboden beugst und Herr zu dem sagst, den du verspottest, weil sich jener Ehrenhändler genauso über dich lächerlich macht. Und bisweilen rühmst du dich, ein Ehrenmann genannt zu werden, während jene wirkliche Ehre nicht durch Geld noch durch unwürdigen Dienst erworben, sondern durch sittlichen Lebenswandel erlangt wird. Unter deinen Augen wird der Körper eines Menschen, der dir von Natur aus gleich ist, mit der Bleipeitsche geschlagen, mit Stockschlägen gebrochen, mit Haken zerrissen oder mit Feuer zu Asche verwandelt. Und fromme Augen ertragen diesen Anblick und christliches Empfinden hält es aus, dabei zuzuschauen und nicht nur zuzuschauen, sondern, kraft seiner mächtigen Stellung, die Foltern des Scharfrichters zu verhängen. Vor einem Zuschauer bei einer Folterung graut es mir schon genug, was soll ich über den noch sagen, der solches befiehlt? Nun überlege mit mir, weltlicher Richter: Es ist mir unerklärlich, durch welche Seelenhärte du unberührt und frei von diesem Leiden bleibst, das ein dir von Natur aus Gleicher erduldet, oder wie der Schmerz eines menschlichen Körpers nicht das Empfinden menschlichen Geistes durchdringt. Bald darauf bleibt jedem Christen eine so große Sorge, dass er nicht einmal schlafen kann, solange er die religiöse Pflicht nicht an jenem vollzieht, der auf dein Geheiß durch die Grausamkeit unterschiedlicher Strafen und vielfältiger Folter zu Grunde gerichtet wurde. Und es überkommt ihn große Furcht vor dem letzten Gericht, wenn er ihm gegenüber keine Barmherzigkeit übt. Und du, auf dessen Befehl hin jener dies erlitten hat, fürchtest dich nicht? Manchmal befiehlst du, dass sogar Unschuldige ins Gefängnis geworfen werden, nur weil du von Gefühlen von Gunst oder Missgunst bewegt wirst, und du kommst dir groß vor, wenn dein eigener Schmerz gerächt wird. Die Christen andererseits überkommt große Sorge und große Furcht vor dem göttlichen Unwillen, wenn sie den im Gefängnis Hockenden nicht aufsuchen.8 Aber du, der diese Gefangennahme veranlasst hast, erfreust dich eines überaus ruhigen Gewissens. Es genügt nicht, das Grauen, die Schläge, die Verliese, die Dunkelheit des Kerkers und die engen Fesseln der Ketten aufzuzählen:9 Unter einem Richter treten notwendigerweise so viele Todesstrafen ein, wie es überhaupt Strafen gibt. Und da erwächst andererseits den Christen vielfache Angst, der religiösen Pflicht nachzukommen, weil sie sich selbst – gewissermaßen 8 9
Vgl. Mt 25,36.39. Vgl. Hebr 11,36.
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unter Vorenthaltung eines Begräbnisses – von Vögeln und wilden Tieren im ihnen verwandten Körper zerfleischt und zerrissen sehen. Und du, nachdem du dies als Verteidiger des Reichtums und Händler von Ehrenämtern zugelassen hast, liegst unbekümmert auf wertvolle Teppiche gelehnt zurück, so als würde eine triumphale Beute zu Füßen gelegt. Du nimmst die Gäste durch die Schilderung in Beschlag, wen du durch welche Grausamkeit zerstückeln oder durch welche Todesart töten ließest und in Anwesenheit des Volkes zu Boden warfst. Und falls einer deiner Gäste von dieser Erzählung erschreckt würde, sagst du, dass du den Gesetzen unterworfen seist, während du dich kurz vorher rühmtest, Hörer des Evangeliums zu sein und […] als dessen Verfechter gemäß dem Gesetz Christi zu leben. […] 8,1 Es scheint dir also gerecht, dass der eine vor Überfluss überquillt, der andere aber selbst an dem für den täglichen Gebrauch Nötigen Mangel leidet? Dass dieser aufgrund maßloser Fülle erleichtert wird, jener aber aus Mittellosigkeit dahinsiecht? Dass dieser mit wertvollen und großartigen und über die Notwendigkeit natürlichen Maßes hinausgehenden Speisen vollgestopft wird, während jener nicht einmal durch wertlose Nahrung gesättigt wird? Dass dieser – durch eitelste Hoffnung angetrieben – mit Marmor geschmückte Häuser besitzt, während jener nicht einmal durch den Besitz eines wenigstens kleinen Hüttchens weder die Kälte einzudämmen noch sich vor der Hitze zu schützen vermag? Dass dieser unzählige Güter und unermessliche Landstriche sein eigen nennt, während sich jener nicht einmal des eigenen Besitzes eines Stückchen Bodens zum Draufsitzen erfreut? Dass jener sich mit Gold, Silber, Edelsteinen und Überfluss an allen Dingen bereichert, jener von Hunger, Durst, Nacktheit und Mangel an allem aufgerieben wird? Dazu kommt noch, dass – woher könnte ein größerer Verdacht auf Ungerechtigkeit derartigen Reichtums bestehen? – wir die Schlechten am meisten an Reichtum überfließen, die Guten aber an der Mittellosigkeit der Armut leiden sehen? 8,2 „Was denn?“, sagst du, „ist der Reichtum nicht von Gott?“ Was auch immer eine gerechte Verteidigung wird erhalten können, ist von Gott. Zieht aber etwas die Ursache irgendeiner Ungerechtigkeit auf sich, ist es nicht von Gott, weil von jedem Verdacht auf Ungerechtigkeit frei sein muss, was auch immer auf Gott als Urheber bezogen wird. Zuerst muss also bewiesen werden, dass im Reichtum keine Ungerechtigkeit besteht, und erst dann darf man glauben, dass er von Gott stammt. Sicherlich bekennen wir Gott als gleichmäßig und gerecht, ja sogar als Quelle aller Gleichheit und Gerechtigkeit. Ich frage erstens: Welches Verständnis von Gerechtigkeit, welcher Fall von Gleichheit erlaubt es, dass der eine durch Überfluss erleichtert, der
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andere durch Mittellosigkeit erdrückt wird? Und wenn wir zu wissen meinen, dass aufgrund eines Gottesurteils die einen reich, die anderen aber arm sind, warum sehen wir manchmal, dass das Gegenteil eintrifft und dass sich die Zustände sehr oft in mannigfaltiger Verschiedenheit verändern? Wie viele kennen wir denn, die reich waren und nun arm sind, und wie viele sehen wir, die einst arm waren und reich geworden sind! Doch wenn sie dies von Anfang an aufgrund eines Gottesurteils so gewesen wären, hätten sie durch keine Gegenaktion ins Gegenteil verändert werden können. […] 8,3 Sicher, wenn Gott erlaubt hätte, dass in allem Ungleichheit sei, hätte er diese Verteilung gegenüber allen Wesen seiner Schöpfungen vorgenommen. Er hätte nicht erlaubt, dass im Großen gleich sind, die er im Kleinen verschieden gewollt hatte, und weder würden diejenigen die Schätze des Himmels, der Erde oder irgendeines Elementes in gleicher Weise genießen, die in allem ungleich sein sollten. Bedenke also, auf welche Weise dem Menschengeschlecht jene Elemente dienen, die nicht auf menschliches Geheiß, sondern durch Gottes Urteil verteilt werden, und beurteile entweder vom Vielen her das Wenige oder erkenne aus dem Größeren das Kleinere. Schau, ob vom Geschenk dieser Luft der Reiche reichlicheren Gebrauch macht als der Arme, ob er die Hitze der Sonne mehr oder weniger spürt, oder wenn Regen auf den Boden fällt, ob größere Tropfen über dem Acker des Reichen als über dem Acker des Armen herabfallen, ob die funkelnden Lichter des Mondes oder der Sterne den Reichen mehr als den Armen zur Seite stehen. Siehst du also nicht, dass wir all das, was nicht in unserer Macht ist, sondern wir vom verteilenden Gott erhalten, mit den übrigen Menschen in gleicher Weise haben, und nur das überaus ungerecht und ungleich besitzen, was kraft der verliehenen Urteilsfreiheit zur Prüfung der Gerechtigkeit in unsere Gewalt gegeben wurde? Reden wir nicht mehr davon, sondern gehen wir zu den Einrichtungen der Religion selbst über und überlegen, ob wohl dort hinsichtlich der Beschaffenheit der menschlichen Gattung irgendeine Ungleichheit entdeckt werden kann. Wir wollen sehen, ob ein anderes Gesetz den Reichen, ein anderes den Armen gegeben wurde, ob diese durch die eine und jene durch die andere Taufe wiedergeboren werden, ob sie nicht dieselbe Vergebung der Sünden und Heiligung der Gerechtigkeit erhalten, ob nicht alle mit dem einen Geist beschenkt werden, ob sie sich nicht von derselben Altargemeinschaft nähren und durch die Heiligung desselben Trankes gestillt werden. Wenn sich sowohl in den fleischlichen wie in den geistigen Dingen die genau gleiche Güte des Verteilergottes dem menschlichen Geschlecht gegenüber findet, beginnt bereits klarer zu werden, dass jene Ungleichheit, die hinsichtlich des Reichtums besteht, nicht der göttlichen
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Freigebigkeit, sondern der menschlichen Ungleichheit angerechnet werden muss. […] 10,1 Worin also müssen wir Christus nachahmen? In der Armut, wenn ich mich nicht irre, nicht im Reichtum, nicht in stolzer Selbstüberschätzung sondern in Demut, nicht im zu begehrenden Ruhm der Welt, sondern in dessen Verachtung. Und welche Vorschriften des Neuen Testamentes müssen befolgt werden? Zuerst jene, durch die mittels Verachtung des Reichtums die Gelegenheit zur Sünde entzogen wird. Deshalb wirst du auf die Tatsache stoßen, dass der Herr denen, die ihm zu folgen begehrten und sich ihm als seine Schülerschaft anboten, zuerst nichts als die Verachtung des Reichtums und der Welt vorschrieb, sowie er damals dem, der sich ihm zu folgen anbot, zeigte, wie er ihm folgen müsse, indem er sagte: „Die Wölfe haben Höhlen und die Vogel des Himmels Nester, der Menschensohn hat aber keinen Platz, worauf er sein Haupt legen kann.“10 Das heißt: Siehe, ob du solch ein Schüler sein kannst, sodass du einem solchen Lehrer zu folgen vermagst! Schneller folgt nämlich der Arme dem Armen, denn der Reiche, gefangen durch Widerwillen, weist diese Nachfolge ab. […] 12,1 Wir wollen denn zu jener äußerst berühmten Auffassung kommen, mit der die Liebhaber der Welt vernünftig zu argumentieren meinen, indem sie unter dem Vorwand der Frömmigkeit behaupten, die vollkommeneren evangelischen Vorschriften in keiner Weise beobachten zu müssen. Sie sagen nämlich: „Wenn alle ihren Besitz weggeben möchten und für sich ganz und gar nichts übrig lassen, aus welchen Mitteln sind danach die Werke der Nächstenliebe und Barmherzigkeit zu bestreiten, nachdem deren materielle Grundlage zunichte gemacht wurde? Oder wie sind die Armen zu unterhalten, wo denn sind die Gäste unterzubringen, woher das Essen für die Hungernden, die Kleider für die Nackten, die Getränke für die Dürstenden, wenn die materielle Grundlage fehlt?“ 12,2 Die sind wirklich von großer Leidenschaft für Barmherzigkeit und Nächstenliebe erfüllt, deren Sorge mehr den Armen als Gott gilt. Doch gälte ihre Sorge doch auch wirklich den Armen und nicht vielmehr dem Reichtum, den sie unter dem Deckmantel der Armenfürsorge und unter dem dringenden Vorwand der Nächstenliebe zu verteidigen suchen, wobei sie nicht einsehen, dass die einen deshalb bedürftig sind, weil die anderen Überflüssiges besitzen. Beseitige den Reichen und du wirst keinen Armen antreffen! Niemand soll mehr 10
Vgl. Mt 8,20.
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besitzen als zum Leben nötig ist und alle werden so viel haben, wieviel zum Leben nötig ist; denn wenige Reiche sind die Ursache für viele Arme. […] 13 Du sagst vielleicht: „Und woher soll ich meinen Lebensunterhalt bestreiten, wenn ich all mein Hab und Gut verachtet habe?“ Jetzt also sehe ich ganz klar den Grund, aus dem heraus der Reichtum wohl so stark verteidigt wird und dem die übrigen Argumente dienen: Der schwache Glaube ist es, den wir vergeblich unter dem Vorwand der Barmherzigkeit zu verschleiern suchen, während wir den Versprechen des Herrn weniger glauben, wenn er sagt: „Denkt nicht daran, was ihr esst oder was ihr trinkt: und nicht was ihr euch anzieht. Das nämlich kümmert die Heiden. Euer Vater weiß nämlich, warum ihr all dessen bedürft. Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und das alles wird euch hinzugegeben.“11 Er beschämt mit dem Gleichnis der Vögel des Himmels und der Lilien auf dem Feld die Kleinheit unseres Glaubens. […] Wer nämlich das, woran wir vorher erinnert haben, verheißen hat, hat ebenfalls versprochen, dass uns, ohne dass wir uns um etwas kümmern, alles im Überfluss zufällt. Wenn wir nicht glauben, was kleiner ist, weiß ich nicht, auf welche Weise wir beweisen können, daran zu glauben, was grösser ist. […] 17,1 Folgendes füge ich noch hinzu, so dass kein Weiser wird bestreiten können, dass Reichtum schwerlich ohne Arten irgendwelcher Ungerechtigkeiten erworben werden kann. Denn meistens wird der Reichtum mittels dem Eifer der Lüge, der Kunst des Diebstahls, der Treulosigkeit des Betrugs, der Gewalt des Raubs oder der Verwegenheit von Fälschungen erworben; manchmal wird er aber auch durch Plünderung von Witwen oder durch Übertölpelung von Waisenkindern oder durch ungerechte Schenkung oder, was bei weitem grausamer ist, durch das von Unschuldigen vergossene Blut erworben. […] Daher kann unter keinen Umständen die Aussage gelten, dass von Gott der Reichtum aufgebracht wird, der durch jene Handlungen verschafft wurde, die er verbietet. 18,1 Nicht vergebens also klagt der Herr den Reichtum fast überall an und verurteilt ihn, da er die Begierde nach ihm als Keim aller Verbrechen erkannt hatte. Und nicht zu Unrecht hat er den Reichen, die er in diese Ursache aller Übel verstrickt sah, den Zugang zum Himmelreich durch ein sehr schwierig erfüllbares Vergleichsbeispiel in gewisser Weise verschlossen: „Leichter“, sagte er, „wird ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgehen, als ein Reicher in das Himmel11
Mt 6,31–33.
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reich.“12 Warum ist es noch nötig, über eine so eindeutige Stelle zu streiten, wenn nicht darum, die Reichen zu ermahnen, damit sie wissen, dass sie erst dann Besitzer der himmlischen Herrlichkeit sein werden, wenn sie entweder eine so große Nadel fanden, durch deren Öhr hindurchzugehen es dem Kamel möglich wäre, oder ein so kleines Kamel, für das auch die kleinste Nadel eine Durchgangsmöglichkeit böte. Wenn dies also völlig unmöglich ist, wie wird das Wirklichkeit werden, was als noch unmöglicher bezeichnet wird, außer ein Reicher bemühe sich etwa, nach guter Verteilung seines Besitzes, als Armer oder das Lebensnotwendige Besitzender einzugehen, wo er als Begüterter nicht eintreten konnte? […] 20,3 Lasst uns rennen, solange Zeit ist, und lasst uns nach Ablegung jeglicher Rechtfertigung von Begierde so schnell wir können uns beeilen, damit uns jener Tag nicht leer und unfruchtbar vorfinde. Wenn wir tatsächlich daran glauben, dass wir mit himmlischem Reichtum zu entschädigen sind und durch die Erhabenheit ewigen Besitzes reich werden, soll uns die Erde im Vergleich zum Himmel widerwärtig sein, und jeder zeitliche und weltliche Besitz soll uns im Vergleich zu jener ewigen Seligkeit gleich einem unbrauchbaren Auswurf an Kot sein. […] 20,5 Lasst uns allerdings wohlhabend und reich sein, aber an guten Taten, an rechtschaffenem und gottesfürchtigem Lebenswandel! Erfüllen wir die Schatztruhe unseres Körpers mit dem Gold der Rechtschaffenheit und dem Silber der Gerechtigkeit! Wertvoller als aller Schmuck soll uns die Ehrlichkeit sein! Innerlich, nicht äußerlich wollen wir uns formen, das heißt wir wollen nicht nach dem Schmuck des Körpers, sondern des Geistes streben! Schmücken wir unsere Seele, damit sie auch Gott schön erscheint. Bemalen wir sie mit allen Arten der Gerechtigkeit! Sie wird denn auch genügend geschmückt und schön sein, wenn in ihr der erhabene Ernst der Sitten, die Reinheit des Gewissens, das feste Vertrauen des Glaubens, die Enthaltsamkeit der Mäßigung, die Sanftmut der Geduld, die Unversehrtheit der Scham, die Frömmigkeit der Barmherzigkeit, die Demut des Herzens, die Fürsorge der Liebe und die Bewahrerin und Mutter all dieser Arten von Gerechtigkeit, die reine und unversehrte Unschuld ist. Keine Seele ist nämlich für Gott so wunderbar und schön als die, deren Unschuld kräftiger leuchtet als eine Perle. Lasst uns mit größtmöglichem Scharfsinn nach dem Besitz und dem Schmuck dieses Reichtums suchen, wissend, dass die des Himmelreichs unwürdig 12
Mt 19,24.
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sein werden, die nicht ein Festzug dieses ganzen Reichtums begleitet hat. Quelle: Über den Reichtum, in: Andreas Kessler, Reichtumskritik und Pelagianismus. Die pelagianische Diatribe de divitiis: Situierung, Lesetext, Übersetzung, Kommentar, Freiburg/Schweiz 1999, 243–331: 243; 245; 251; 253; 255; 257; 263; 265; 275; 291; 293; 295; 297; 303; 307; 329; 331. © Universitätsverlag Freiburg, Schweiz
62. Salvian von Marseille: Des Timotheus vier Bücher an die Kirche (um 440) Salvian von Marseille zählt zu den bedeutenden christlichen Schriftstellern der spätantiken Völkerwanderungszeit. Er wurde kurz vor 400 – möglicherweise in Trier oder Köln – geboren. Er entstammte der gallo-romanischen Oberschicht und durchlief eine juristische und rhetorische Ausbildung. Im Zusammenhang der verheerenden kriegerischen Auseinandersetzungen der Völkerwandung und des Zerfalls des Römischen Reichs zog Salvian um 425 nach Südgallien, um sich einem asketischen und spirituellen Leben zuzuwenden. Ab 428 lebte er – mit Erlaubnis seiner Frau – als Mönch der Gemeinschaft von Lérins (eine Inselgruppe bei Cannes). Um 440 wurde er Presbyter der Gemeinde von Marseille. Die Erschütterung des kulturellen Selbstbewusstseins spätantiken Römertums begriff er als Krise und Chance zu einer radikalen Veränderung christlicher Lebenspraxis. Salvian starb um 480. Salvians Schrift „Des Timotheus vier Bücher an die Kirche“ entstand um 440. Das Pseudonym Timo-theus steht dabei als Chiffre für die Ehre Gottes, in deren Namen das Werk verfasst wurde. Dessen Ziel ist nichts Geringeres als die Erneuerung der gallischen Christenheit. Dabei stehen Fragen des Umgangs mit dem Besitz im Zentrum. Barmherzigkeit und Freigebigkeit sind die Schlüsselbegriffe der Schrift und gelten als Kennzeichen des Christseins. Vor dem Hintergrund der unsagbaren Not der von den Kriegswirren betroffenen Bevölkerung, des Niedergangs der Kirche und des staatlichen Zerfalls schärfte Salvian in unerbittlicher Weise die sozial-karitative Verwendung allen Besitzes für alle Christen ein. Rigoros brachte er zum Ausdruck, aller Besitz sei für die Armen da und nicht zum Eigennutz und auch nicht zur Vererbung. Der folgende Textauszug macht auf den theologischen Begründungszusammenhang von Salvians Verständnis von Reichtum und Armut, Sozialpflichtigkeit des Besitzes und Unterstützung der Armen aufmerksam: Gott bedarf der „Diakonie“, insofern Christus selbst Not in den vielen Menschen leidet. Das traditionelle Motiv nach Mt 25,31–46 (s. Text 12), dass Christus in den Armen begegnet, wird von Salvian aufgegriffen und in spezifischer Weise entfaltet: Die Passion Christi umgreift alles Leiden in der Welt, und „Christus ist die Summe aller Armen“ (Norbert Brox).
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4. Christus ist in den Armen arm und bedürftig und braucht insofern das Vermögen der Besitzenden Aber Gott, sagst du, bedarf ja keiner Vergeltung! Nichts weniger, als dass er ihrer nicht bedürfte! Denn er bedarf ihrer nicht auf Grund seiner Macht, sondern auf Grund seines Gebots; bedarf ihrer nicht gemäß seiner Hoheit, sondern gemäß seinem Gesetz; er bedarf ihrer zwar nicht in sich selbst, sondern in vielen anderen; er sucht die Wohltätigkeit nicht an sich, sondern an den Seinen, und daher bedarf er ihrer nicht nach seiner Allmacht, sondern nach seiner Barmherzigkeit; in seiner Göttlichkeit bedarf er nicht für sich selbst, sondern in seiner Gnade bedarf er für uns! Denn wie spricht Gott zu den mildtätigen und freigebigen Spendern? ,,Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters! Nehmet das Reich in Besitz, das euch von Anbeginn der Welt an bereitet ist, denn ich hungerte, und ihr gabt mir zu essen; ich dürstete, und ihr gabt mir zu trinken.“1 Und anderes in dieser Art. Und damit die Sache, von der wir reden, nicht als zu geringfügig erscheine, fügte er auch noch den Gegensatz hinzu, indem er zu den Geizigen und Ungetreuen sagt: ,,Weichet, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das mein Vater dem Teufel und seinen Engeln bereitet hat! Denn ich habe gehungert, und ihr gabt mir nichts zu essen; ich habe gedürstet, und ihr gabt mir nichts zu trinken.“2 Wo sind nun diejenigen, die behaupten, unser Herr Jesus Christus bedürfe nicht unseres Dienstes und unserer Gaben? Gleichzeitig sagte er ja, dass er hungere und dürste und friere. Es soll mir einer der Gegner erwidern, ob er nichts bedürfe, wenn er seinen Hunger klagt; ob er nichts bedürfe, wenn er seinen Durst bezeugt. Ich aber sage noch mehr: Christus bedarf nicht bloß so viel wie die anderen, nein, er bedarf sogar viel mehr als die anderen! Bei der ganzen großen Zahl der Armen gibt es doch nicht eine einzige allgemeine Armut. Den einen fehlt es zwar an Kleidung, aber doch nicht an Lebensmitteln; viele wieder sind obdachlos, brauchen aber doch keine Kleider; viele haben zwar kein Heim, aber doch ein Vermögen; kurz, manchen mag vieles fehlen, es fehlt ihnen aber doch nicht alles. Christus allein, er ganz allein, empfindet alle Mängel, an denen das gesamte Menschengeschlecht leidet. Keiner seiner Diener ist herausgestoßen, keiner ist von Kälte und Blöße gepeinigt, mit dem Christus nicht fröre; er allein hungert mit den Hungernden und dürstet mit den Durstigen. Und so bedarf er – wenn seine Gnade in Betracht gezogen wird, mehr als die anderen; denn jeder Bedürftige bedarf nur für sich und in sich, Christus aber ist es einzig und allein, der die ganze ungeheure Not der Armut tragen muss! Und wenn dem so ist, was sagst du, o Mensch, der du vorgibst, ein Christ zu 1 2
Mt 25,34f […]. Mt 25,41f […].
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sein? Willst du deine Habe, wenn du siehst, wie Christus ihrer bedarf, willst du sie irgendwem hinterlassen, der sie nicht braucht? Christus ist arm, und du häufest noch die Schätze der Reichen? Christus hungert, und du verschaffst denen, die schon Überfluss haben, noch ein üppiges Leben? Christus klagt, dass ihm sogar Wasser fehle – und du füllst die Keller der Trunkenen noch mit Wein? Christus erliegt unter dem Mangel an allem – und du sammelst noch Vorräte für die Verschwender? Christus verspricht dir für deine Gaben ewigen Lohn – und du schenkst alles solchen, die nichts leisten werden? Christus stellt dir für deine guten Taten ewige Güter und für deine Missetaten ewiges Unglück vor Augen – und du lässest dich weder durch himmlische Güter umstimmen noch durch ewige Qualen bewegen? Und dabei sagst du, du glaubst an Gott – und sehnst dich nicht nach seinem Lohn, noch zitterst du vor seinem Zorn? Quelle: Salvian von Marseille, Des Timotheus vier Bücher an die Kirche/Der Brief an den Bischof Salonius, deutsche Übersetzung von Anton Mayer, bearbeitet von Norbert Brox, Schriften der Kirchenväter, Bd. 3, München 1983, 11–124: 112–114. © Kösel-Verlag
63. Papst Leo I.: Kollektenpredigt (445) Leo I. war der erste Papst, den die Nachwelt mit dem Beinamen „der Große“ gewürdigt hat. Der um 400 entweder in Rom oder in der Toskana geborene Leo wirkte unter Cölestin I. (422–432) als einer der sieben Diakone in Rom, bevor er 440 zum Papst gewählt wurde. Sein Pontifikat (bis 461) fiel in die Zeit des Zusammenbruchs des weströmischen Reiches. In dieser Situation wurde der römische Bischof zur politischen Leitfigur Roms und Italiens. Als Rom 452 von Attila und seinen Hunnen bedroht wurde, trat Leo als Gesandter Valentinians III. (419–455), des letzten weströmischen Kaisers, dem Hunnenkönig bei Mantua entgegen. Die Legende hat den Abzug der Hunnen auf den Eindruck der Persönlichkeit des Papstes zurückgeführt. Bedeutung erlangte er darüber hinaus dadurch, dass er die christologischen Entscheidungen des Konzils von Chalcedon (451) verteidigte und die Lehre über den Primat des römischen Bischofs konzeptionell weiterentwickelte. Leo I. ist der erste Papst, von dem Predigten überliefert sind. 96 kurze Ansprachen sind erhalten, darunter 34 Fasten- und sechs Kollektenpredigten. Die im Folgenden wiedergegebene Predigt hat Leo wohl 445 gehalten. Von Cyprian (s. Text 43) beeinflusst, begründet er den Nutzen des Almosens und schärft aus Anlass einer Sammlung ein: Almosen sind „Heilmittel für den Sünder“. Angesichts des Jüngsten Gerichts und dem schroffen Kontrast zwischen Teilhabe an der himmlischen Herrschaft und dem Brennen mit dem Teufel liegt es ganz im eigenen Interesse des Christen, in rechter Gesinnung Almosen zu geben. Leo I. gestaltete Mt 25 unter Rückgriff auf das wirkungsgeschichtlich bedeutsame Bild der Waagschale aus. 1. Sowohl aus den göttlichen Geboten, Geliebteste, wie aus den apostolischen Anordnungen wissen wir, dass jeder Mensch, der in die Gefahren dieses Lebens gestellt ist, Gottes Barmherzigkeit durch barmherziges Handeln erwerben muss. Denn welche Hoffnung würde sonst die Gefallenen aufrichten, welche Medizin würde die Verwundeten heilen, wenn nicht die Almosen Schulden abtragen könnten und die Notlagen der Armen zu Heilmitteln für die Sünder würden? Weil nämlich der Herr sprach, selig sind die Barmherzigen, denn ihrer wird sich Gott erbarmen,1 erfolgt jener gesamte Urteilsspruch, womit er in seiner huldreichen Majestät die ganze Welt richten wird, durch den Ausschlag der Waagschalen – indem sie gegeneinander bewegt werden durch das Gewicht der Werke für die Armen, so dass einerseits 1
Mt 5,7.
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die Pflichtvergessenen mit dem Teufel brennen,2 andererseits den Wohltätern bereitet ist, mit Christus zu herrschen.3 Welche Taten werden dort nicht an die Öffentlichkeit kommen, welche Heimlichkeiten werden dort nicht aufgedeckt werden? Welche bösen Gedanken werden da nicht offenbar werden, wo niemand mit Recht prahlen kann, er habe ein keusches Herz und sei rein von der Sünde?4 Aber weil nun Barmherzigkeit über das Gericht triumphieren wird5 und die Gaben der Milde jede Wiederherstellung der Gerechtigkeit übersteigen werden, wird das ganze Leben der Sterblichen und jede einzelne Tat nach einem einzigen Maßstab beurteilt, dass dort keine Erwähnung einzelner Vergehen notwendig ist, wo nach Aussage des Schöpfers Werke der Frömmigkeit gefunden werden. Aber nicht allein das, was ihnen vorgeworfen werden wird, haben demnach die zur Linken getan – also nicht, weil sie als bar jeder Menschlichkeit gegenüber dem Fremden überführt werden, werden sie als fern von den anderen Sündern befunden –, sondern sie werden vor allem deshalb schärfstens verdammt, weil sie ihre Schulden nicht mit Almosen abgegolten haben.6 Denn wer ein völlig verhärtetes Herz hat, so dass er durch kein Elend der Geplagten angerührt wird, und wer, obwohl er die Mittel zum Helfen hat, sich ebenso ungerecht verhält, indem er einem Bedrängten nicht zu Hilfe gekommen ist, wie in dem Fall, wenn er einen Schwachen dem Untergang preisgegeben hat: Welche Hoffnung bleibt dann dem Sünder, der sich nicht einmal deshalb erbarmen würde, damit er Barmherzigkeit erlangte?7 Deshalb, Geliebteste, tut zuerst sich selbst Schlechtes an, wer sich dem Nächsten gegenüber nicht gut verhält, und es schadet seiner Seele, wer dem anderen nicht nach Kräften beigestanden hat. Dieselbe Natur haben die Reichen und die Armen und bei den Unwägbarkeiten der menschlichen Hinfälligkeit gibt es auch kein sicheres Glück der Gesundheit. Was irgendwelchen Leuten passieren kann, muss ein jeder fürchten. Die veränderliche und gefallene Sterblichkeit möge sich in jedem Menschen wiedererkennen und jeder möge seinem Geschlecht ein freundschaftliches Gefühl entgegenbringen wegen des gemeinsamen Loses; er möge weinen mit den Weinenden8 und mit dem Seufzen der Betrübten möge er seufzen; er möge seinen Wohlstand mit den Bedürftigen teilen; wer einen gesunden Körper hat, möge sich dienstfertig zu den darniederliegenden Kranken beugen; er möge bei seinen Mahlzeiten einen Anteil für die 2
Vgl. Mt 25,41. Vgl. Mt 25,34. 4 Spr 20,9; vgl. 1Joh 1,8. 5 Jak 2,13. 6 Dan 4,24. 7 Mt 5,7. 8 Röm 12,15. 3
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Hungernden bestimmen und meinen, dass er selbst in bleicher Nacktheit der Zitternden friert. Denn wer das vergängliche Elend des Geplagten erleichtert, entkommt der ewigwährenden Bestrafung des Sünders. 2. Vorsorglich und gottgefällig wurde deshalb, Geliebteste, von den heiligen Vätern angeordnet, dass es zu verschiedenen Zeiten gewisse Tage gibt, welche die Opferbereitschaft des gläubigen Volkes zu einer öffentlichen Sammlung auffordern sollten und weil der Hilfesuchende meistens bei der Kirche Zuflucht nimmt, sollte eine freiwillige und heilige Sammlung von dem Vermögen vieler stattfinden, deren Ertrag unter Aufsicht der Vorsteher für notwendige Ausgaben dient. Zu der von euch, wie wir glauben, ersehnten Frucht dieses Werkes lädt euch der bevorstehende Tag ein, wobei wir euch zusätzlich dazu ermahnen, dass ihr zu euren Regionalkirchen9 am nächsten Sonntag die Gaben der Barmherzigkeit bringt. Und weil Gott einen fröhlichen Geber liebt,10 lege sich niemand mehr auf, als sein Vermögen ihm gestattet. Zwischen sich und dem Armen sei jeder selbst ein gerechter Richter. Fröhliches und uneigennütziges Mitgefühl vertreibe das Misstrauen, und wer dem Bedürftigen beisteht, soll wissen, dass er für Gott aufwendet, was er spendet. Aus beliebig großen Aufwendungen, die keineswegs miteinander verglichen werden, kann gleicher Verdienst erwachsen, wenn bei den verschieden hohen Abgaben die Frömmigkeit nicht kleiner als das Vermögen ist. Denn Gott, bei dem kein Ansehen der Person gilt,11 nimmt die Gaben des Reichen gleichermaßen an wie die des Armen, weil er weiß, was er den Einzelnen gegeben hat und was er ihnen nicht gegeben hat, und am Tag der Vergeltung wird nicht nach der Höhe des Beitrags, sondern nach der Beschaffenheit des Willens gerichtet werden – durch Christus, unsern Herrn. Quelle: Gerhard K. Schäfer (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, VDWI 4, Heidelberg 1991, 113–117 (CChr.SL 138, bearb. von A. Chavasse, 1973, 45ff.), Übersetzung: Angelika Dörfler-Dierken.
9
Schon im 3. Jahrhundert war Rom in sieben Bezirke mit eigenständiger Diakonie aufgeteilt worden. Je einer der sieben Diakone hatte die Verwaltung des Gemeindebesitzes in seinem Bezirk inne. 10 2Kor 9,7b. 11 Eph 6,9; Kol 3,25.
64. Valerian von Cimiez: Predigt über die Barmherzigkeit (um 450) Valerian war seit kurz vor 439 bis zu seinem Tod 460/1 Bischof von Cimiez in Südgallien. Cimiez ist heute ein Stadtteil von Nizza. Beeinflusst war Valerian durch das Mönchtum der auf einer nahen Insel gelegenen Abtei Lérins. Von Valerian, dem Zeitgenosse Salvians von Marseille (s. Text 62), sind 20 Predigten überliefert. In seinen Predigten sucht der südgallische Bischof angesichts eines nur oberflächlichen Christentums monastische Tugenden im Alltag seiner Gemeinde zur Geltung zu bringen. Dabei verbinden sich Sorge für das eigene Heil, asketische Haltung und Fürsorge für Arme, Fremde und Gefangene auf das Engste. Vor allem der soziale Gegensatz zwischen arm und reich in der Gemeinde und das Problem der zahlreichen Gefangenen im Gefolge der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Westrom und den Hunnen stellen Herausforderungen für das karitative Handeln dar, die in den Predigten thematisiert werden. Valerians Predigt VII über die Barmherzigkeit ist dadurch geprägt, dass die Identifikation Christi mit den Geringsten nach Mt 25,31–46 (s. Text 12) in seinen facettenreichen Konsequenzen für das christliche Verhalten durchdacht wird. Dabei setzt Valerian voraus, dass für alle Tugenden, auch für die Barmherzigkeit, gilt, dass wir sie von Gott empfangen haben. Zugleich fragt er, was es heißt, sich unverderbliche Schätze im Himmel zu sammeln. Der rechte Umgang mit übermäßigem Reichtum – so der Prediger – liegt darin, ihn zu verausgaben und ihn dafür zu nutzen, Hunger und Durst zu stillen. Angesichts der in Aussicht gestellten Teilhabe am Himmelreich erscheint dieser Aufwand als gering und gilt als die allerbeste „Wohlstandsversicherung“. Es wäre dagegen töricht zu glauben, man könne seine irdischen Güter mitnehmen, wenn man aus dieser Welt scheidet. In den folgenden Textauszügen sind zwei Aspekte besonders bemerkenswert: Zum einen schärft Valerian in pointierter Weise ein, dass barmherziges Handeln bedingungslos und ohne Ansehen der Person zu erfolgen hat. Er vertritt damit ein universales Hilfeethos, denn die Menschen wissen nicht, „in welchem Erdteil Christus wohnt“. Zum anderen richtet sich die Forderung nach barmherzigen Handeln an jeden, auch an solche, die wenig oder nichts besitzen. Arme sind nicht nur Objekte von Unterstützung, sondern auch Subjekte, denen Hilfe für andere grundsätzlich zugetraut und abverlangt wird. 4. […] Du wendest aber ein: Ich bin arm. Meinst du, dich mit dieser Ausrede vor jenen entschuldigen zu können, denen du den Gegenwert
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für [wahrhafte] Schätze anstelle der Unfruchtbarkeit zeitlicher [Güte]) in Verwahrung gibst [den Bedürftigen nämlich]? Grundlos beklagst du die Dürftigkeit deiner Mittel: Du vermagst, etwas zu besitzen, was du verkaufst, aber nichts, was du verschenkst? Nicht ohne Grund ist gesagt: „Brich dem Hungrigen dein Brot“1. Ich denke, dieser Satz bezieht sich auf Unmenschen, deren versteckt und rein [aufbewahrtes] Brot nagende Fäulnis zu verzehren pflegt. Brich also dem Hungrigen dein Brot, damit es nicht verdirbt und dich von der Teilhabe am Himmelreich ausschließt. [Der Prophet Jesaja] fügt hinzu: „Und lasse die Angehörigen deines Samens [deiner Nachkommenschaft] nicht außer Acht!' ( ebenda). Wer sind unsre Angehörigen? Zwangsläufig alle, die nach dem Gesetz der Geburt mit uns verbunden sind. Was ist der Grund, weshalb beim Almosengeben niemand ausgenommen, [weshalb] nicht entschieden werden darf, wer auszuwählen sei? Weil die Sache selbst, die dem dringenden Bedürfnis dient, keiner Rangordnung bedarf, in der Hilfe zu leisten ist. Wieso musst du unbedingt herausfinden, ob einer, der da bittet, Christ ist oder Jude, Häretiker oder Heide, Römer oder Barbar, Freier oder Sklave? Wo [jemanden] eine Notlage mit voller Gewalt trifft, hast du nicht dessen Charakter [Stellung, Bedeutung] auseinanderzulegen, um zu vermeiden, dass du, indem du Unwürdige von der Barmherzigkeit ausschließt, im gleichen Zuge den Sohn Gottes verlierst.2 Woher aber können wir wissen, in welchem Erdteil Christus wohnt? Man muss glauben, dass er allgegenwärtig sei, er, von dem wir erkennen, dass er alles in seiner Hand hat.3 5. Noch Herrlicheres ist angekündigt: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dich umgeben. Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“4. Und das um einer solchen Kleinigkeit wie des Brotbrechens willen. […] Grausam ist in der Tat eine Frömmigkeit, die Elende zu bedauern, Zugrundegehenden aber nicht zu Hilfe zu kommen versteht. 6. ,,Was verlangt ihr mehr, Geliebteste, dafür, dass ihr euch erbitten lasst, das Brot zu teilen? Selbst wenn euch nicht die Teilhabe am Himmelreich verheißen wäre, müsste für Sünder jener Satz genügen, wel1
Jes 58,7a. Vgl. Mt 25,45b. 3 Vgl. Mt 28,18b. 4 Jes 58,8f. 2
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cher den Sterblichen die Hoffnung auf künftiges Heil und die Freude verschafft hat, sich in beständiger Sicherheit zu fühlen. Wenn ihr nämlich die Früchte eures Bemühens und [auf der anderen Seite] die gnädige Nachsicht des Himmels in Betracht zieht, so empfangt ihr viel mehr, als ihr gebt. Sieh doch, für die Speisung eines Armen wird dir in den Evangelien das Himmelreich verheißen; dafür, dass ihr euch erbitten lasst, das Brot zu teilen, Zuflucht bietet, indem ihr Gastfreundschaft erweist, einen entblößten Körper bekleidet, verspricht der Herr durch die Propheten5 euch, die ihr [ihn] anruft, seinen Beistand; in den Psalmen bleibt (seine) Gerechtigkeit für eure Barmherzigkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit6 bestehen. Vergleichen wir Himmlisches mit Irdischem, so ist eine solch wertvolle Sache um einen hinreichend niedrigen Preis zu erhandeln. Oder: wie gering ist der Anteil [in Gestalt] eures Almosens im Vergleich mit dem, was der Herr augenscheinlich gewährt hat? Sieh doch, wir geben Irdisches, er Himmlisches: von uns wird Vergängliches dargebracht, er schenkt, was ewig währt. Wollt ihr wissen, wie groß der Abstand sei zwischen den Gaben des Himmels und euren Reichtümern? Beim Vergleich zwischen den Wohltaten herrscht keine Symmetrie: Reichtümer empfangen, die ewig währen, und hingeben, was vergehen wird. […] Nicht würde es nämlich [an Gelegenheit] fehlen, bei der sich zu betätigen guter Wille nicht rastet. Denn wir sehen, was ein ziemlicher Übelstand ist, viele, die besorgt sind um ihren eigenen Freikauf und den ihrer Angehörigen; ihnen muss sich eine Hand entgegenstrecken! Aber du wendest ein: ich bin arm. Wir empfehlen niemandem zu geben, was er nicht besitzt; doch wessen Möglichkeit so beschränkt ist, dass er keinen Gefangenen freikaufen kann, der soll wenigstens einen minimalen Beitrag zu dem [Kauf-]Preis leisten, damit sichtbar wird, dass er, und sei es auch nur mit einer Münze von geringem Wert7, dem [göttlichen] Gebot8 Genüge getan hat. Quelle: Valerianus Cemeliensis, Homilia 7. De misericordia, Patrologia Latina 52, 713–716; Übersetzung: Adolf Martin Ritter/Hans Werner Schmidt.
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Jes 58,9. Ps 112, 9b. 7 Vgl. Mk 12,15; Lk 21,2. 8 Vgl. Mt 25,40b; Jes 61,1; Lk 4,18. 6
65. Gerontius: Das Leben der heiligen Melania (um 452/453) Die Geschichte Melanias (der Jüngeren), die zu Beginn des fünften Jahrhunderts ihren ungeheuren irdischen Reichtum aufgab, erregte großes öffentliches Aufsehen. Melania wurde 383 als Tochter einer reichen Senatorenfamilie in Rom geboren und starb 439 in Jerusalem. Gerontius hat ihr Leben in außergewöhnlich anschaulicher Weise beschrieben. Der Autor wurde wahrscheinlich in Jerusalem geboren und von Melania gefördert. Unter ihrem Einfluss wurde er Mönch und Priester. Melania soll Gerontius dazu bestimmt haben, nach ihrem Tod die Verwaltung der von ihr unterstützten Klöster in der heiligen Stadt zu übernehmen. Die Vita beruht auf Erinnerungen Melanias und wurde 452/53 in Jerusalem verfasst. Melania und ihr ebenfalls aus einem reichen Geschlecht stammender Mann Pinianus begannen, nachdem ihre beiden Kinder früh gestorben waren und Melanias sterbender Vater zugestimmt hatte, ein asketisches Leben zu führen sowie – wohl unter dem Einfluss Paulinus’ von Nola (s. Text 56) – ihre riesigen Besitzungen zu veräußern und die Erlöse an Arme zu verteilen. 408 fingen sie an, ihre Güter im Umland Roms zu verkaufen und schenkten 8.000 Sklaven die Freiheit. Probleme, die es in diesem Zusammenhang gab, führt Gerontius auf das Wirken des Teufels zurück. Tatsächlich hingen die Widerstände mit der tiefen Krise zusammen, die Alarich und seine Westgoten mit ihren Zügen durch Italien und der Belagerung Roms auslösten. Die Sklaven, die Melania und Pinianus freigelassen hatten, standen nun ohne jeglichen Schutz da. Und der römische Senat setzte alles daran, die Besitzungen von Pinianus und Melania zu konfiszieren, um Alarichs immensen Lösegeldforderungen entsprechen zu können. Nachdem der Plan des Senats gescheitert war, konnte das Paar frei über sein Geld verfügen. Melania und Pinianus flohen vor den Goten nach Sizilien und Nordafrika und gelangten schließlich 417 nach Jerusalem. Konsequent verwandelten sie ihren irdischen Schatz in einen Schatz im Himmel, indem sie zielgerichtet vor allem die „heiligen Armen“, die Mönche, unterstützten. Unterstützung wurde z.B. den Anhängern von Johannes Chrysostomus (s. Text 53) nach dessen Absetzung als Bischof von Konstantinopel zuteil, aber auch vielen Klöstern rund um das Mittelmeer. In Jerusalem ließen sich Melania und Pinianus in die Armenliste der Kirche eintragen, um sich damit der Armut der frühen Christen gleichzustellen und deren Gemeinschaft zu teilen.
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7. Nach einiger Zeit warf eine schwere Krankheit ihren [Melanias] Vater, der ein frommer Christ war, auf das Sterbelager. Da ließ er die Seligen [Melania und Pinianus] rufen und sagte: „Verzeiht mir, Kinder, dass ich, unsinnig verblendet, eine schwere Sünde begangen habe; denn aus Angst vor den Lästerreden böser Zungen widerstand ich eurem Wunsch, einen himmlischen Wandel zu führen, und tat euch wehe. Nun geh' ich zum Herrn, ihr aber sollt für alle Zukunft volle Freiheit haben, den frommen Entschluss auszuführen. Nur betet für mich, damit Gott, der Herr der ganzen Schöpfung, mir gnädig sei!“ Das hörten sie hocherfreut und gingen, nachdem er im Herrn entschlafen war, voll Zuversicht aus der großen Stadt Rom hinweg und übten sich auf ihren Landgütern eifrig in aller Tugend, denn sie wussten wohl, dass sie nicht imstande seien, dem Herrn ein reines Opfer darzubringen, es sei denn, sie gingen der Welt aus dem Wege, wie geschrieben steht: „Höre, Tochter, und sieh' und neige dein Ohr und vergiss dein Volk und das Haus deines Vaters, und der König wird Verlangen tragen nach deiner Schönheit“1. […] 9. Nachdem sie mit der Gnade Gottes in dieser Tugendübung vorangeschritten waren, sannen sie wieder auf eine neue, doch überlegten sie weise miteinander: „Wenn wir uns abtöten, so dass die Kräfte versagen, wird der weichlich erzogene Leib die Kasteiung nicht aushalten und wir fallen zurück in das üppige Leben von ehemals.“ Sie machten sich infolgedessen zur Aufgabe, ringsum alle Kranken zu besuchen, und pflegten einen jeden. Sie nahmen die Fremdlinge gastlich auf und beschenkten sie reich, wenn sie schieden. Allen Dürftigen und Armen teilten sie mit vollen Händen aus, gingen in alle Gefängnisse und überallhin, wo Verbannte waren, auch in die Bergwerke, und machten die Schuldgefangenen frei, indem sie diesen Geld gaben. Nach dem Beispiel des seligen Job, des Dieners des Herrn, stand ihre Türe jedem Armen offen.2 Dann fingen sie an, ihre Besitzungen zu verkaufen, eingedenk des Wortes, das der Herr zum Reichen sprach: „Willst du vollkommen sein, so verkauf' deine ganze Habe und gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben und nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach!“3 10. Während beide damit beschäftigt waren, schickte Satan, der Feind der Wahrheit, sich an, auf das härteste sie zu versuchen. Er sah voll Neid die glühende Gottesliebe des jungen Paares und gab Severus, dem Bruder des seligen Pinian, ein, ihre Sklaven aufzuhetzen, so dass 1
Ps 45,11f. Vgl. Hi 31,32. 3 Mt 19,21. 2
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sie erklärten: „Wir lassen uns überhaupt nicht verkaufen; zwingt man uns aber, dann soll Severus, dein Bruder, unser Gebieter sein und uns kaufen,“ Die beiden wurden sehr bestürzt, als sie sahen, dass sogar die Sklaven in der Umgebung Roms sich empörten […] 15. Was ich von ihrem beiderseitigen Vermögen aus dem Mund des Seligen hörte, will ich in Kürze beifügen. Er sagte nämlich, seine Jahreseinkünfte beliefen sich auf nahezu hundertundzwanzigtausend [Goldstücke], abgesehen von den Reichtümern seiner Gattin. Was ihnen eigen war an beweglicher Habe, könne man überhaupt nicht ermessen. Freudig begannen sie auszuteilen, indem sie heilige Männer mit der Almosenspende betrauten. In fremde Länder sandten sie durch einen vierzigtausend, durch einen andern dreißigtausend, durch einen andern zwanzigtausend, durch einen zehntausend und das übrige, wie der Herr es fügte. Denn die Heilige sagte zu ihrem seligen Gatten und Bruder: „Irdische Last ist unerträglich und wir können nicht mit ihr zugleich Christi leichtes Joch4 auf uns nehmen. Wir wollen in Eile den Reichtum ablegen, damit wir Christum gewinnen.“ Und er nahm die Mahnungen der Seligen auf, als kämen sie von Gott, und mit vollen Händen teilten sie das Vermögen aus.5 16. Inständig baten wir einst, sie möge doch erzählen, wie sie von solcher Höhe zu solcher Niedrigkeit herabsteigen konnten; da sagte sie: „Nicht wenig Mühen und Kämpfe mussten wir im Anfang bestehen von Seiten des Feindes, der alles Edle hasst, bevor uns gelang, die Bürde so großen Reichtums wegzuwerfen. In Angst und Drangsal schwebten wir, denn wir hatten nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, vielmehr, wie der Apostel sagt, gegen die Gewalten, gegen die Machthaber der Finsternis dieser Welt.6 In so trüber Zeit war uns beiden einst im Traum, als müssten wir uns durch eine furchtbar schmale Mauerspalte zwängen und zwar so mühsam, dass wir in Angst waren, das Leben zu verlieren. Als dann endlich alles Leid überwunden war, fanden wir viel Erquickung und unaussprechliche Freude. So hat uns Gott im Kleinmut getröstet, auf dass wir mutig seien im Ausblick auf die Ruhe, die nach großer Mühsal unser warten sollte.“ […]
4
[…]; vgl. Mt 11,30. Der lat. Text schildert den Verkauf als umständlich, denn bei der ungeheuren Menge der Besitzungen konnten die Käufer nicht alles sogleich bezahlen und die Seligen mussten sich zunächst teilweise mit Bürgschaften begnügen. An anderer Stelle […] findet sich die Bemerkung, es sei nicht möglich, die Zahl der Sklaven anzugeben, denen sie die Freiheit schenkten. 6 Eph 6,1. 5
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18. Zum Beweise, wie mannigfaltig die Schleichwege des Widersachers seien und wie notwendig ängstliche Wachsamkeit in jedem Augenblicke für solche Seelen ist, die Gott zu gefallen streben, erzählte sie, dass sie noch ein zweites Mal dasselbe zu leiden hatte: „Wir hatten nämlich,“ sagte sie, „ein prächtiges Besitztum mit einem Bade, das alle Schönheit der Welt weit übertraf; denn auf der einen Seite lag das Meer, auf der andern ein Wald mit allen Baumarten, worin Wildschweine, Hirsche, Gazellen und anderes Wild sich tummelte, so dass die Badegäste vom Strande seewärts die Segelschiffe sahen und landein das laute Jagdgetriebe.7 Das alles bot dem Teufel willkommenen Anlass; er stellte vor mein Auge die bunte Pracht der Marmorbauten und erinnerte mich an den unberechenbaren Ertrag des ganzen Gutes, denn ringsum gehörten noch zweiundsechzig Gehöfte dazu.“ Doch wieder hob die Selige den frommen Blick zu Gott empor und trieb den Feind von dannen. „Damit, o Teufel“, sagte sie, „sollst du meinen Lauf nicht hemmen.8 Was ist denn alles, das heute besteht und morgen den Barbarenhorden und dem Feuer, Zeit oder irgendeinem Unglück zur Beute fällt? Was ist alles im Vergleiche mit den ewigen Gütern, die immer und endlos unveränderlich bleiben, die man in Ewigkeit nie verliert, und die man erkaufen kann um diese vergänglichen Güter?“ Weil der Teufel einsah, dass er machtlos war und seine Niederlage stets der Seligen zu größerem Verdienste gereichte, ließ er endlich ab, sie zu quälen. 19. Nachdem sie […] den Rest der römischen Güter ungestört veräußert hatten, suchten sie gleichsam der ganzen Welt Gutes zu tun. Denn welche Stadt oder Gegend hatte keinen Teil an ihren überaus großen Wohltaten? Etwa Mesopotamien oder Syrien oder irgendein Winkel Palästinas oder Ägypten oder die Pentapolis? Kurz gesagt, Morgenland und Abendland, sie nahmen teil an den überreichen Gaben. Ich selbst vernahm auf der Fahrt nach Konstantinopel das dankbare Lob der beiden Heiligen aus dem Munde vieler Greise, vor allem des Herrn Priesters Tigrius von Konstantinopel. Sie kauften ganze Inseln und schenkten sie heiligen Männern: auch viele Männerund Jungfrauenklöster kauften sie und schenkten sie den Insassen und gaben Geld nach allen Seiten, soviel man bedurfte. Die vielen kostbaren Seidengewänder schenkten sie Kirchen und Klöstern als Schmuck der Altäre, sie ließen das unermessliche Silberzeug einschmelzen und daraus Altäre fertigen, Kirchengeräte und andere Weihegaben für den Gottesdienst. Nachdem sie die Besitztümer in Rom und Italien, in 7
Wahrscheinlich lag das prachtvolle Besitztum an der Straße von Messina, Reggio gegenüber […]. 8 Vgl. 2Tim 4,7.
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Spanien und Kampanien verkauft hatten, segelten sie nach Afrika. Sogleich stürzte sich Alarich […] auf die Güter, die die Seligen veräußert hatten, und alle priesen Gott und sagten „Selig, die noch ihren Reichtum hingeopfert haben, ehe die Barbaren einfielen!“ Da sie Rom verließen, stellte der Stadtpräfekt, der ein fanatischer Heide war, im Senat den öffentlichen Antrag, ihren ganzen Besitz solle man als Staatseigentum erklären. Als er tags darauf mit der eiligen Ausführung des Planes umging, empörte sich durch Gottes Zulassung das hungernde Volk, weshalb er mitten durch die Stadt geschleift und getötet wurde. Nun ließen auch die andern alle vor Angst von jener Absicht. Als jene von Sizilien zum hochheiligen Bischof Paulinus9 segelten, zu dem sie sich früher schon zurückgezogen hatten, hinderten durch Gottes Fügung widrige Winde die Fahrt, so dass sie sehr in Bedrängnis kamen. Weil sie zahlreich waren im Schiffe, ging das Trinkwasser aus und sie litten arge Not. Als die Matrosen die Vermutung aussprachen, es sei Gottes Zorn im Spiele, gab die Selige zur Antwort: „Es ist gar nicht Gottes Wille, dass wir an unser Ziel gelangen. Lasst ohne Widerstand das Schiff dem Winde.“ Sie taten gemäß dem Auftrag der Heiligen, hissten das Segel und landeten an einer Insel, die von Barbaren umzingelt war. Diese hatten die angesehensten Männer mit Frauen und Kindern aus der Stadt geschleppt und verlangten eine ungeheure Summe Geldes: Bringe man diese zur Stelle, sollten sie frei sein, wenn aber nicht, ermordet und die Stadt in Brand gesteckt werden. Da nun die Heiligen aus dem Schiffe traten, kam der Bischof mit anderen, bat sie fußfällig und sagte: „Von der Summe, die die Barbaren fordern, fehlen uns zweitausendfünfhundert Goldstücke.“ Das gaben sie gern und kauften alle Stadtbewohner los, schenkten ihnen zudem fünfhundert Goldstücke und halfen den armen Leuten Hunger und Angst vergessen durch den mitgeführten Vorrat an Brot und sonstiger Nahrung. Nicht nur das, sondern sie verschafften auch einer hochangesehenen Frau, die den Barbaren zur Beute gefallen war, um fünfhundert Goldstücke die Freiheit. 35. Sie […] reisten nach Jerusalem, dem Ziele der Sehnsucht. […] Dort nahmen sie Wohnung im Hospiz an der Kirche der Auferstehung. Was sie noch an Geld besaßen, wollten sie nicht eigenhändig verteilen, sondern übergaben es jenen, die mit der Armenfürsorge betraut waren; denn sie wollten nicht einmal gesehen werden, wenn sie Gutes taten. Nun waren sie so bettelarm, dass die Heilige selbst uns versicherte: „Zu Beginn des Aufenthaltes in Jerusalem fassten wir 9
Der hl. Paulinus, Bischof von Nola in Kampanien (+ 431), berühmt als Schriftsteller (sein Fest am 22. Juni durch Pius X. für die ganze Kirche vorgeschrieben), war mit der Heiligen verwandt.
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den Entschluss, unsere Namen auf die Armenliste setzen zu lassen und gleich den Bettlern von Almosen zu leben, das man um Gottes willen gibt.“ So waren sie wirklich arm geworden aus Liebe zum Herrn, der unsertwegen arm geworden ist und Knechtsgestalt angenommen hat.10 Als sie gleich anfangs in Jerusalem erkrankte, hatte sie nichts, um darauf zu schlafen, abgesehen von rauhen Bußsäcken; eine hoch edle Jungfrau gab ihr deshalb ein Kopfkissen zum Geschenk. Sobald sie genesen war, pflegte sie wieder Lesung und Gebet und diente Gott mit ganzem Herzen. Quelle: Das Leben der Heiligen Melania von Gerontius. Aus dem Griechischen übersetzt von Stephan Krottenthaler, in: Griechische Liturgien. Leben der der Hl. Väter von Palladius. Leben der Hl. Melania von Gerontius, Bibliothek der Kirchenväter, Kempten/München 1912, 445– 498: 450–452; 457–461; 469.
10
Vgl. 2Kor 8,9; Phil 2,7.
III. Mittelalter
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66. Papst Gelasius I: Verteilung des Kirchenguts (494) Der aus Afrika stammende Gelasius war von 492 bis 496 Bischof von Rom. Auf ihn geht maßgeblich die sog. Zwei-Schwerter-Theorie zurück, die konzeptionell zwischen der geweihten Autorität (auctoritas) der Bischöfe und der weltlichen Macht (potestas) unterscheidet. Dabei bleibt der Bischof der weltlichen Macht insofern vorgeordnet, als er deren Taten vor Gott zu verantworten hat. Dieser programmatische Anspruch war zur Zeit des Gelasius I. keineswegs verwirklicht. Er legte aber den Grund für die Entwicklung des Verhältnisses von Papsttum und Kaisertum im Mittelalter. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam war zudem die von ihm vertretene Aufteilung bei der Verwendung kirchlicher Einkünfte, die die Kirche des 4. und 5. Jahrhunderts Schritt für Schritt wohlhabender und reicher gemacht hatten. Augustinus hatte bereits programmatisch formuliert, dass das kirchliche Vermögen Eigentum der Armen (patrimonium pauperum) sei. Als zunehmend Debatten um den Missbrauch kirchlichen Vermögens aufkamen, ordnete Papst Simplicius (Papst von 468–483) 475 eine Vierteilung der Kircheneinkünfte an, die Papst Gelasius 494 aufnahm und bekräftigte. Danach gilt im Sinne eines allgemeinen Prinzips, dass von dem kirchlichen Vermögen jeweils ein Anteil für den Lebensunterhalt des Bischofs, für den Lebensunterhalt des Klerus, für die Armen und für die Baulasten der Kirche einzusetzen ist. Je nach Reichtum des bischöflichen Herrschaftsbereichs ergaben sich hier in der Praxis erhebliche Unterschiede. Das von Gelasius formulierte Prinzip wurde in mittelalterlichen Kirchenrechtssammlungen vielfach überliefert und in Konfliktfällen zur Geltung gebracht. Es wurde aber wohl erst im 12. Jahrhundert als strenge Zweckbindung gleichmäßig großer Vermögensanteile gedeutet. In jeder Kirche, der ein Bischof vorsteht, sollen ebenso sehr von den Einkünften wie von den Spenden der Gläubigen vier Teile gemacht werden: Einer soll für den Bischof, ein zweiter für die Kleriker, ein dritter für die Armen, ein vierter für die Kirchengebäude verwendet werden. Quelle: Gelasius, Epistola 14. Gelasii papae ad universos episcopos per Lucaniam, Brutios et Siciliam constitutos, in: Andreas Thiel/Pierre Coustant (Hg.), Epistolae Romanarum pontificum genuinae et quae ad eos scriptae sunt a. S. Hilario usque ad Pelagium II, Braunsberg 1868, 360–379: 361.
67. Konzil von Orléans: Asylrecht, Sklaven, Kirchengut (511) Kurz vor seinem Tod (27. November 511) berief der Merowingerkönig Chlodwig I. (466–511) mit hegemonialem Selbstbewusstsein nach dem Vorbild römischer Kaiser eine Bischofsversammlung nach Orléans ein. Das erste Konzil im fränkischen Reich sollte nach der Eroberung des südgallischen Gebiets integrierend wirken. Der König sicherte sich den Zugriff auf die Einsetzung in kirchliche Ämter. Insgesamt stellte das Konzil die Weichen für die Entwicklung der Kirche im Reich der Merowinger bzw. Franken. Die folgenden Auszüge aus dem Schreiben der in Orléans versammelten Bischöfe an König Chlodwig zu den Beschlüssen des Konzils beziehen sich auf unterschiedliche soziale Themen: In den ersten drei Kanones nimmt das Konzil eine ausführliche rechtliche Bestimmung und Ausformulierung des Kirchenasyls vor. Das Kirchenasyl war bis ins vierte Jahrhundert ein häufiger Konfliktpunkt, an dem sich der Streit um die Reichweite und Grenze weltlicher Macht gegenüber der Kirche entzündete. Im 5. Jahrhundert entstanden dann erste gesetzliche Regelungen. Die Väter des Konzils von Orléans beriefen sich einerseits auf frühere Bestimmungen des Kirchenrechts und auf das römische Recht andererseits. Sie entwickelten vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen beiden Rechtstraditionen zukunftsweisende Regelungen, die dem fränkischen Fehdewesen entgegentraten und darauf zielten, Flüchtlinge vor Schaden zu bewahren und Konflikte friedlich beizulegen. Asylsuchende flohen in den heiligen Ort der Kirche, der sie vor dem willkürlichen Zugriff ihrer Verfolger schützte. Das Asyl schob Sanktionen auf, und der Bischof konnte als eine Art Mediator zwischen den Konfliktparteien, zwischen Verfolgern und Verfolgten, vermitteln (intercessio). Unbotmäßige Strafen konnten so verhindert, falsche Anschuldigungen ausgeräumt und ggf. Straffreiheit erreicht werden. Kanon 3 des Konzils von Orléans setzt sich für Sklaven ein, wirbt um Straflosigkeit und versucht Sklaven – unter Rückgriff auf den Codex Theodosianus (IX, 45,5) – bei Rückkehr zu ihrem Herrn vor Willkür zu schützen. Aber auch Schwerverbrecher dürfen nicht aus dem Asyl entlassen werden. Sie sollen vor Tod und Verstümmelung sicher sein und sich mit dem Geschädigten über Entschädigungen verständigen. Die Ausgestaltung des Asylrechts durch das Konzil von Orléans wurde grundlegend für die mittelalterliche Asylrechtsentwicklung. Es dokumentiert einen nachhaltigen, diakonisch motivierten Beitrag zur Rechtskultur und zum friedlichen Zusammenleben.
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Kanon 5 legt die Zweckbindung königlicher Schenkungen an die Kirche fest. Diese sind für Kirchbauten, den Unterhalt der Kleriker, die Unterstützung der Armen und den Loskauf von Gefangenen bestimmt. Offenbar wird dabei auf die Vierteilung der Verwaltung kirchlicher Einkünfte rekurriert, die auf die Päpste Simplicius und Gelasius I. (s. Text 66) zurückgeht. Kanon 8 regelt die Frage der Entschädigung für den Fall, dass ein Sklave ohne Wissen seines Herrn zum Presbyter oder Diakon geweiht worden ist. Kanon 16 schärft ein, dass der Bischof, der über das Kirchengut verfügt, verpflichtet ist, die Armen zu unterstützen, die nicht mit ihren eigenen Händen arbeiten können. Ihrem Herrn, dem Sohn der katholischen Kirche, dem äußerst ruhmreichen König Chlodwig, alle Bischöfe, denen Ihr befohlen habt, zum Konzil zu kommen. Da eine so große Sorge für den ruhmvollen Glauben Euch zur Verehrung der katholischen Religion antreibt, dass Ihr aus Hochschätzung der Meinung der Bischöfe befohlen habt, dass sich die Bischöfe versammeln, um über notwendige Dinge zu verhandeln, antworten wir gemäß der Anfrage Eures Willens und der Artikel, die Ihr uns vorgelegt habt, das, was in unserer Entscheidung zu liegen scheint. So wird, wenn das, was wir festgesetzt haben, auch durch Euer Urteil als rechtens gebilligt ist, die Zustimmung eines so großen Königs und Herrn die zu wahrende Entscheidung so vieler Bischöfe durch noch größere Autorität bestätigen. Als mit Gottes Willen und auf Anweisung des äußerst ruhmreichen Königs Chlodwig in der Stadt Orléans ein Konzil der höchsten Bischöfe versammelt war, hat es ihnen allen nach gemeinsamer Verhandlung gefallen, das, was sie mündlich festgesetzt haben, auch durch das Zeugnis der Schrift zu bekräftigen. 1. Bezüglich der Totschläger, Ehebrecher und Diebe, wenn sie in die Kirche flüchten, bestimmen wir, dass beachtet werden soll, was die kirchlichen Bestimmungen [canones] festlegen und das römische Recht festsetzt: dass es keinesfalls erlaubt sei, sie aus den Vorhöfen der Kirche oder dem Haus des Bischofs wegzuführen; sondern sie sollen nur übergeben werden, wenn sie durch auf die Evangelien geleistete Eide vor dem Tode, der Verstümmelung und aller Art Strafen sicher sind, und zwar in der Weise, dass der Verbrecher sich mit demjenigen, gegen den er sich vergangen hat, über einen Schadensausgleich einigt. Wenn einer überführt wird, seine Eide gebrochen zu haben, dann soll er als Eidbrüchiger nicht nur aus der Gemeinschaft der Kirche und aller Kleriker, sondern auch aus der Mahlgemeinschaft mit den Katholiken ausgeschlossen werden. Wenn derjenige, dem gegenüber er schuldig ist, in voller Absicht den Ausgleich nicht anneh-
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men will und der Schuldige selbst, von Angst getrieben, aus der Kirche weicht, soll er von der Kirche und den Klerikern nicht nachgesucht werden. 2. In Bezug auf die Entführer glauben wir, dass dies beachtet werden muss, dass nämlich, wenn ein Entführer mit der entführten Frau zu einer Kirche flieht und die Frau unzweifelhaft Gewalt erleidet, sie sofort aus der Gewalt des Räubers befreit werden soll. Und nachdem ihm die Verschonung von der Todesstrafe und anderen Strafen zugesagt worden ist, hat der Entführer die freie Wahl, sich dem Los zu unterwerfen, als Sklave zu dienen oder sich frei zu kaufen. Wenn aber feststeht, dass das geraubte Mädchen einen Vater hat, und es dem Entführer zugestimmt hat, dass er sie entführen werde oder sie entführte, soll sie entschuldigt in die Gewalt des Vaters zurückgegeben werden, und der Entführer soll vom Vater als unschuldig betrachtet werden, wenn er gemäß der oben erwähnten Bedingungen Genugtuung leistest. 3. Ein Sklave, der wegen irgendeiner Schuld zur Kirche flieht, soll, wenn er von seinem Herrn einen Eid hinsichtlich der begangenen Tat empfangen hat, (dass er nicht bestraft wird,) gezwungen werden, sofort in die Knechtschaft seines Herrn zurückzukehren. Wenn der Herr aber, nachdem er sich durch die geleisteten Eide verbürgt hat, es billigt, dass der Sklave für dieselbe Schuld, von der er befreit wurde, irgendeine Strafe erlitten hat, soll er wegen der Verachtung der Kirche und der Verletzung der Treue von der Gemeinschaft und der Mahlgemeinschaft mit den Katholiken ausgeschlossen werden, so wie es oben bestimmt worden ist. Wenn aber ein Sklave, der wegen seiner Schuld von der Kirche verteidigt worden ist und auf die Forderung der Kleriker hin die Eide des Herrn bezüglich der Straflosigkeit erhalten hat, (die Kirche) nicht verlassen will, ist es erlaubt, dass er vom Herrn ergriffen wird. […] 5. Über die Abgaben und Äcker, die unser Herr König als sein Geschenk den Kirchen zu übertragen geruhte und die er bisher durch Gottes Walten denen, die nichts haben, gegeben hat, und nachdem die Abgabenfreiheit eben dieser Besitzungen und der Kleriker zugestanden worden ist, beschließen wir, dass Folgendes sehr gerecht sei: Dass zur Wiederherstellung der Kirchen, zur Ernährung der Priester und der Armen und zum Freikauf der Gefangenen das, was auch immer Gott an Früchten zu geben gewillt war, ausgegeben wird und dass die Kleriker zur Unterstützung des kirchlichen Werkes verpflichtet werden. Wenn sich nun einer der Bischöfe bei dieser Aufgabe weniger eifrig und ergeben zeigt, soll er öffentlich von den Mitbischöfen der
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Kirchenprovinz getadelt werden. Wenn er sich nun durch eine solche Beschämung nicht bessert, soll er der Gemeinschaft mit den Brüdern (den Bischöfen) für unwürdig erachtet werden, bis er seinen Irrtum bessert. […] 8. Wenn ein Sklave in Abwesenheit oder ohne Wissen seines Herrn und mit Wissen des Bischofs, dass er ein Sklave ist, entweder zum Diakon oder zum Presbyter geweiht worden ist, soll er im geistlichen Stand verbleiben und der Bischof soll ihn durch eine doppelte Entschädigung seinem Herrn ersetzen. Wenn aber der Bischof nicht wusste, dass er ein Sklave ist, sollen diejenigen, die für ihn Zeugnis abgelegt oder seine Weihe erbeten haben, einer gleichen Entschädigung für schuldig befunden werden. Quelle: Konzil von Orléans 511, in: Reinhold Kaiser/Sebastian Scholz, Quellen zur Geschichte der Franken und Merowinger. Vom 3. Jahrhundert bis 751, Stuttgart 2012, 112–120: 112–116. © Kohlhammer
68. Benedikt von Nursia: Regel (550) Benedikt wurde zwischen 480 und 490 geboren. Er entstammte einer angesehenen Familie in Nursia im Sabinerland. Nach einem kurzen und für ihn frustrierenden Studienaufenthalt in Rom folgte er einer Berufung zum geistlichen Leben. Er zog sich zunächst in die Einsamkeit der Sabiner Berge zurück und lebte dann in Mönchsgemeinschaften, bevor er um 530 ein autonomes Kloster auf dem Monte Cassino gründete. Benedikt starb zwischen 555 und 560. Für sein Kloster schrieb Benedikt um 550 seine Regel. Die Regel Benedikts setzt den Reichtum der monastischen Tradition voraus. Benedikt ist stark beeinflusst von Johannes Cassianus (um 360–435), Basilius von Caesarea und Augustin. Seine Regel knüpft unmittelbar an die Regula magistri an, die wahrscheinlich kurz nach 500 in Süditalien entstanden ist. Mit einer an einen Ort gebundenen klösterlichen Gemeinschaft (stabilitas loci) schuf Benedikt die abendländische Form des Koinobitentums und gab den Mönchen eine ausgewogene und anpassungsfähige Lebensordnung. Das Kloster gilt ihm als Kraftfeld Christi, als Schule zum Erlernen und zur Vervollkommnung des Dienstes Christi unter der Leitung des Abtes und als brüderliche Vereinigung in Liebe. Das dreifache Versprechen der Beständigkeit, des klösterlichen Lebenswandels und des Gehorsams setzt gegenüber dem damals existierenden Mönchtum spezifische Akzente. Charakteristisch ist auch, dass bei Benedikt die körperliche wie geistige Arbeit besonders betont wird. Die Regel ist klar aufgebaut: Auf den Prolog folgen zwei Kapitel zur äußeren Konstitution des Klosters. Die Kapitel 4–8 behandeln das innere Leben im Kloster und die Werkzeuge der geistlichen Kunst. Die Kapitel 8–20 enthalten die Gottesdienstordnung, die Kapitel 21–49 sind Ämtern und Diensten im Kloster gewidmet. Die Kapitel 50–66 thematisieren die Außenbeziehungen. Die Kapitel 67–73 sind lose zusammengefügte Nachträge. Die Werke der Barmherzigkeit nach Mt 25,31ff. bildeten einen integralen Bestandteil klösterlicher Praxis. Dies zeigt sich in den Werkzeugen der geistlichen Kunst (Kap. 4), in der Sorge für kranke Brüder (Kap. 36) und in der Aufnahme Fremder. Bei dem Gebot der Gastfreundschaft schärft die Regel die Sorge für die Armen in besonderer Weise ein (Kap. 53). Benedikt hat im Westen die diakonische Verantwortung unauslöschlich in die Mönchsregel eingezeichnet. Er hat damit den Grund dafür gelegt, dass das Mönchtum im Mittelalter zum wichtigsten Träger der Diakonie werden konnte. Papst Gregor der Große soll Benedikts Werk außerordentlich geschätzt und wesentlich zur Ausbreitung der Regel beigetragen haben. Im Zuge der cluniazensischen Reform (10. Jh., s. Text 83) wurde die
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von Benedikt begründete Integration der Diakonie in die mönchische Lebensform in intensiver Weise zur Geltung gebracht. Die Klöster waren Zufluchtsstätten in einer durch Gewalt gekennzeichneten Gesellschaft. 4. Die Werkzeuge der geistlichen Kunst Vor allem: Gott, den Herrn, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Ebenso: Den Nächsten wie sich selbst. Dann: Nicht töten. Nicht die Ehe brechen. Nicht stehlen. Nicht begehren. Nicht falsch aussagen. Alle Menschen ehren. Und keinem anderen antun, was man selbst nicht erleiden möchte. Sich selbst verleugnen, um Christus zu folgen. Den Leib in Zucht nehmen. Sich Genüssen nicht hingeben. Das Fasten lieben. Arme bewirten. Nackte bekleiden. Kranke besuchen. Tote begraben. Bedrängten zu Hilfe kommen. Trauernde trösten. Sich dem Treiben der Welt entziehen. Der Liebe zu Christus nichts vorziehen. […] Die Werkstatt aber, in der wir das alles sorgfältig verwirklichen sollen, ist der Bereich des Klosters und die Beständigkeit in der Gemeinschaft. […] 36. Die kranken Brüder Die Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen: Man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus; hat er doch gesagt: „Ich war krank und ihr habt mich besucht“, und: „Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Aber auch die Kranken mögen bedenken, dass man ihnen dient, um Gott zu ehren; sie sollen ihre Brüder, die ihnen dienen, nicht durch übertriebene Ansprüche traurig machen. Doch auch solche Kranke müssen in Geduld ertragen werden; denn durch sie erlangt man größeren Lohn.
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Daher sei es eine Hauptsorge des Abtes, dass sie unter keiner Vernachlässigung zu leiden haben. Die kranken Brüder sollen einen eigenen Raum haben und einen Pfleger, der Gott fürchtet und ihnen sorgfältig und eifrig dient. Man biete den Kranken, sooft es ihnen guttut, ein Bad an; den Gesunden jedoch und vor allem den Jüngeren erlaube man es nicht so schnell. Die ganz schwachen Kranken dürfen außerdem zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit Fleisch essen. Doch sobald es ihnen besser geht, sollen sie alle nach allgemeinem Brauch auf Fleisch verzichten. Der Abt sehe es als eine Hauptsorge an, dass die Kranken weder vom Cellerar noch von den Pflegern vernachlässigt werden. Auf ihn fällt zurück, was immer die Jünger verschulden. […] 53. Die Aufnahme der Gäste Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus; denn er wird sagen: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“ Allen erweise man die angemessene Ehre, besonders den Brüdern im Glauben und den Pilgern. Sobald ein Gast gemeldet wird, sollen ihm daher der Obere und die Brüder voll dienstbereiter Liebe entgegeneilen. Zuerst sollen sie miteinander beten und dann als Zeichen der Gemeinschaft den Friedenskuss austauschen. Diesen Friedenskuss darf man wegen der Täuschungen des Teufels erst nach dem Gebet geben. Allen Gästen begegne man bei der Begrüßung und beim Abschied in tiefer Demut: Man verneige sich, werfe sich ganz zu Boden und verehre so in ihnen Christus, der in Wahrheit aufgenommen wird. Hat man die Gäste aufgenommen, nehme man sie mit zum Gebet; dann setze sich der Obere zu ihnen oder ein Bruder, dem er es aufträgt. Man lese dem Gast die Weisung Gottes vor, um ihn im Glauben zu erbauen; dann nehme man sich mit aller Aufmerksamkeit gastfreundlich seiner an. Das Fasten breche der Obere dem Gast zuliebe, nur nicht an einem allgemein vorgeschriebenen Fasttag, der eingehalten werden muss. Die Brüder aber fasten wie gewohnt. Der Abt gieße den Gästen Wasser über die Hände; Abt und Brüder zusammen sollen allen Gästen die Füße waschen. Nach der Fußwaschung beten sie den Psalmvers: „Wir haben, o Gott, deine Barmherzigkeit aufgenommen inmitten deines Tempels.“1 1
Vgl. Ps 48,10.
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Vor allem bei der Aufnahme von Armen und Pilgern zeige man Eifer und Sorge, denn besonders in ihnen wird Christus aufgenommen. Das Auftreten der Reichen verschafft sich ja von selbst Beachtung. Abt und Gäste sollen eine eigene Küche haben; so stören Gäste, die unvorhergesehen kommen und dem Kloster nie fehlen, die Brüder nicht. Diese Küche übernehmen für je ein Jahr zwei Brüder, die für diesen Dienst gut geeignet sind. Sooft sie es brauchen, gebe man ihnen Hilfen, damit sie ohne Murren dienen; sind sie jedoch zu wenig beschäftigt, sollen sie zu der Arbeit gehen, die man ihnen aufträgt. Doch nicht nur hier, sondern für alle Aufgabenbereiche im Kloster gelte der Grundsatz: Wer Hilfe braucht, soll sie erhalten; wer jedoch frei ist, übernehme gehorsam jeden Auftrag. Die Unterkunft für die Gäste vertraue man einem Bruder an, der von Gottesfurcht ganz durchdrungen ist. Dort sollen genügend Betten bereitstehen. Das Haus Gottes soll von Weisen auch weise verwaltet werden. Mit den Gästen darf niemand ohne Auftrag zusammen sein oder sprechen. Wer ihnen begegnet oder sie sieht, grüße sie, wie schon gesagt, in Demut, bitte um den Segen und gehe weiter mit der Bemerkung, es sei ihm nicht gestattet, sich mit einem Gast zu unterhalten. Quelle: Die Benediktusregel – Regula Benedicti, Lateinisch/Deutsch. Herausgegeben im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz von Plazidus Hunger OSB (Muri-Gries), Michael Puzicha OSB (Varensell/Salzburg) und Athanasius Polag OSB (Huysburg), Beuron5 2011, 99–107, 193–195, 231–235. © Beuroner Kunstverlag, Beuron · www.klosterkunst.de
69. 2. Synode von Tours: Armenunterstützung als Aufgabe jeder Gemeinde (567) Die zweite Synode von Tours wurde am 18. November mit Zustimmung König Chariberts I. (um 520–567) eröffnet. Unter den nur neun Teilnehmern befanden sich u.a. Bischof Euphronius von Tours (um 503–573) und Bischof Germanus von Paris (496–576). Die Synode übte massive Kritik am Verhalten der merowingischen Könige. Ihnen wurde vorgeworfen, sie würden gegeneinander wüten und sich fremden Besitz aneignen. Die Stadt Tours war selbst Streitobjekt zwischen den drei fränkischen Teilreichen. U.a. beschloss das Konzil in Kanon 5, jede civitas solle ihre armen und bedürftigen Einwohner angemessen mit Nahrung versorgen. Dieser Grundsatz war durchaus nicht neu. Neu war aber, dass der Begriff civitas nun nicht mehr nur den Bischofssitz und den Bischofssprengel, sondern auch die Landgemeinden innerhalb einer Diözese bezeichnen konnte. Nachdem der Bischof bis dahin die zentrale Verantwortung für die Diakonie besaß, wird nun darüber hinaus eine Dezentralisierung der Diakonie zur Geltung gebracht: Nunmehr soll die Organisation der Armenfürsorge nicht mehr nur in der Hand des Bischofs liegen. Die Verantwortung für die Armenunterstützung wird auf die entstandenen ländlichen Pfarreien ausgedehnt. Sie gilt auch als integrale Aufgabe jeder Pfarrgemeinde bzw. jedes ländlichen Pfarrers (Presbyters). Ziel war eine flächendeckende Versorgung Bedürftiger. Damit sollte auch das Umherziehen der Armen verhindert werden. Damit eine jede Gemeinde die armen und bedürftigen Einwohner mit ausreichenden Lebensmitteln nach Kräften versorgt; damit einerseits die Presbyter auf dem Dorf und andererseits alle Bürger ihre Armen versorgen. Die Folge wird sein, dass die Armen selbst nicht durch fremde Gemeinden ziehen. Quelle: MGH LL. III Concilia I, ed. F. Maassen, Hannover 1913, ND 1954, 121ff.: 123; Übersetzung: Hans Werner Schmidt.
70. Gregor von Tours: Hungersnot (585) Gregor von Tours wurde 538 bei Clermont-Ferrand geboren. Von 573 bis zu seinem Tod 594 war er Bischof von Tours. Die Auseinandersetzung mit den fränkischen Königen und ihrer Bürgerkriege prägte seine Amtszeit in hohem Maße. Bedeutung gewann Gregor auch als Geschichtsschreiber und Hagiograph. Das Hauptwerk Gregors sind die Zehn Bücher Geschichten (Decem libri historiarum), eine christliche Universalgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zu den fränkischen Königen des 6. Jahrhunderts. Die Zehn Bücher, die Gregor während seiner Amtszeit als Bischof verfasste, gehören zu den wichtigsten Quellen für die Übergangszeit zwischen der Spätantike und dem frühen Mittelalter. Gregor berichtet immer wieder von Naturkatastrophen, die in verschiedenen Regionen des fränkischen Reichs wüteten. Hungersnöte und die erschwerte Versorgung entwickelten sich zu zentralen diakonischen Herausforderungen. In dem Bericht zur Misere von 585 wird die soziale Dimension der Hungersnot deutlich. Bei den hier erwähnten Armen handelte es sich um die Freien der unteren Mittelschicht, die zwar Besitz hatten, aber keineswegs reich waren. Sie konnten die enorm gestiegenen Lebensmittelpreise nicht bezahlen. Ihnen blieb als Alternative nur Hungertod oder Knechtschaft. Sie dienten dann einem Mächtigen, der dafür Nahrung und Schutz versprach. In diesem Jahr bedrängte eine große Hungersnot fast ganz Gallien. Denn viele bereiteten aus Traubenkernen und Haselblüten, einige aus getrockneten und zu Staub gemahlenen Wurzeln des Farnkrauts, denen sie etwas Mehl beimischten, das Brot. Viele schnitten die grüne Saat ab und taten damit dasselbe. Es gab auch viele, die überhaupt kein Mehl hatten, verschiedene Kräuter sammelten und aßen, davon anschwollen und umkamen. Sehr viele nämlich siechten damals aus Hunger dahin und starben. Gewaltig plünderten zu jener Zeit die Kaufleute die Bevölkerung, sodass sie kaum den Scheffel Getreide [=8,45 Liter] oder das Halbmaß Wein für ein Drittel Goldstück verkauften. Die Armen nahmen die Knechtschaft auf sich, damit sie auch ein wenig Nahrung erlangten. Quelle: Sebastian Scholz, Die Merowinger, Stuttgart 2015, 166f. © Kohlhammer
71. Synode von Mâcon: Beschlüsse (585) Nachdem Guntram (533–592), der seit 561 König von Burgund 584 war, 584 auch die Herrschaft über Austrasien, das Reich seines Halbbruders Chilperich, übernommen hatte, berief er für Oktober 585 eine Synode nach Mâcon ein. In einem sich christianisierenden Frankenreich verfolgte Guntram das Ziel einer Partnerschaft von König und einer von Rom relativ unabhängigen fränkischen Kirche. In dieser Perspektive sollte die Bestimmung der jeweiligen Zuständigkeiten erfolgen. Die Bischofsversammlung tagte unter Guntrams Vorsitz. Ihre Beschlüsse wurden durch ein königliches Edikt bestätigt. Im Folgenden werden Kanones dokumentiert, die diakonisch-sozial von Bedeutung sind: Kanon 4 erinnert im Blick auf die Eucharistie an den Zusammenhang von Geben und Empfangen und fordert von allen Gemeindegliedern die sündentilgende Darbringung von Opfergaben. Der 5. Kanon macht die Abgabe des Zehnten von allen Erträgen an die Kirche verpflichtend. Der Zehnte soll zum einen dazu dienen, dass sich Kleriker frei von existenzsichernder Arbeit ganz dem pastoralen Dienst widmen können. Zum anderen ist er für die Unterstützung der Armen und zum Freikauf Gefangener bestimmt. In seinen Ausführungen zum Zehnten bezieht sich der Kanon auf ältere kirchenrechtliche Bestimmungen. Neu ist freilich, dass die Abgabe des Zehnten als Pflicht festgeschrieben wird. Kanon 7 zielt auf den Schutz freigelassener Sklaven und steht exemplarisch für das Bemühen der Kirche, sich gesellschaftlich benachteiligter Gruppen anzunehmen. Um die Freigelassenen, die ihren Status durch einen in der Kirche vollzogenen Akt besaßen, vor der „Verschlagenheit aller Rechtsverdreher“ zu bewahren, sollten Rechtsforderungen gegen sie nur noch vor dem bischöflichen Gericht verhandelt werden können. Damit gingen die Patronatsgewalt über einen freigelassenen Sklaven und die Pflichten der Freigelassenen gegenüber dem Patron an die Kirche über. Diese Regelung stieß naturgemäß auf den Widerstand der Patrone und konnte sich in der von der Synode beschlossenen strikten Form nicht durchsetzen. Da, wo die Kirche selbst Sklaven auf ihren eigenen Gütern freiließ, blieben sie der Kirche als ihrem Patron als Diener im Gehorsam verpflichtet. Signifikante Probleme des Eintretens der Kirche für die Armen thematisiert der 13. Kanon. Harsch wird kritisiert, dass ausgerechnet Bischöfe, zu deren Amt der Schutz der Armen in integraler Weise gehört, Unglückliche durch Hunde von ihrem Haus vertreiben lassen. Kanon 14 befasst sich mit dem Umstand, dass arme Menschen (miseri) von Mächtigen von Land und Besitz vertrieben werden. Es handelt sich dabei um Freie, die der unteren Mittelschicht angehören. Sie verfügen zwar über eigenen Besitz, waren aber „arm
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an Rechten und politischer Macht“ (Sebastian Scholz). Die Synode drängte vor diesem Hintergrund auf die Einhaltung gerichtlicher Verfahren in den Fällen, bei denen entsprechende Forderungen geltend gemacht wurden. 4. Als wir in der heiligen Synode zusammensaßen, erkannten wir durch den Bericht der Brüder, dass einige Christen an irgendwelchen Orten vom Auftrag Gottes abweichen, so dass keiner von ihnen dem rechtmäßigen Dienst des Gehorsams gegenüber der Gottheit gehorchen will, weil sie keine Opfer zum Altar bringen. Deshalb beschließen wir, dass an allen Sonntagen von allen Männern und Frauen die Opfergabe zum Altar gebracht werden soll, sowohl Brot als auch Wein, damit sie durch diese Opfer sowohl von der Last ihrer Sünden frei werden als auch es verdienen, Teilhaber Abels und der übrigen gerecht Opfernden zu sein. Alle aber, die versuchen, unsere Beschlüsse durch Ungehorsam wertlos zu machen, soll das Anathem zu Boden werfen. 5. Es ist nötig, dass wir also alle übrigen Angelegenheiten des heiligen katholischen Glaubens, von denen wir erkannt haben, dass sie durch die lange Zeitdauer verschlechtert worden sind, zum alten Zustand zurückführen, damit wir nicht den neuen Dingen feindlich gegenüberstehen, während wir das, von dem wir erkannt haben, dass es die Eigenschaft unseres Standes betrifft, entweder nicht verbessern oder, was ein Frevel ist, mit Schweigen übergehen. Deshalb schaffen die göttlichen Gesetze den Bischöfen und den Dienern der Kirche Rat und befehlen dem ganzen Volk gemäß dem Erbteil, den Zehnten ihrer Erträge den heiligen Orten darzubringen, damit die Priester von keiner Arbeit behindert an den vorgeschriebenen Stunden für die geistlichen Mysterien frei sein können, und diese Gesetze hat die Masse der Christen über lange Zeit unversehrt bewahrt. Nun aber zeigen sich allmählich beinahe alle Christen als Gegner der Gesetze, indem sie das, was durch göttlichen Willen als unverletzlich festgelegt worden ist, zu erfüllen vernachlässigen. Deshalb bestimmen und beschließen wir, dass die alte Sitte von den Gläubigen erneuert wird und das ganze Volk den Zehnten den Dienern der heiligen kirchlichen Kulte darbringt, den die Priester, die durch ihre Gebete dem Volk Frieden und Heil vermitteln, entweder zum Nutzen der Armen oder zum Freikauf von Gefangenen nutzen. Wenn aber irgendjemand sich unseren sehr heilsamen Beschlüssen widersetzen wird, soll er für alle Zeit von den Gliedern der Kirche getrennt werden. […] 7. Damit später das Verlesene der ganzen Versammlung gemäß der Gewohnheit bekannt werde, sagten die überaus heiligen Männer Prae-
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textatus und Pappolus: Es soll die ausgezeichnete Kraft eurer Autorität auch über die unglücklichen Freigelassenen entscheiden, die deshalb mehr von den Richtern unterdrückt werden, weil sie den heiligen Kirchen anvertraut worden sind, damit, wer auch immer gegen diese irgendeine Klage hat, es nicht wagen soll, diese der weltlichen Obrigkeit zu übergeben, sondern nur im Gericht des Bischofs und in dessen Gegenwart den Prozess einzuleiten wagt, wie es der Gerechtigkeit und der Wahrheit entspricht. Unwürdig ist es nämlich, dass diejenigen, von denen man weiß, dass sie rechtmäßig in der heiligen Kirche freigelassen wurden oder durch einen Brief oder durch ein Testament oder durch die lange Dauer der Zeit das Recht der Freiheit genießen, von irgendjemanden ganz unrechtmäßig bedrückt werden. Die gesamte bischöfliche Versammlung sagte: Es ist richtig, dass diejenigen gegen die Verschlagenheit aller Rechtsverdreher verteidigt werden, die den unsterblichen Schutz der Kirche wünschen und, wer auch immer von uns die hinsichtlich der Freigelassenen gefassten Beschlüsse mit dem Trotz der Hochmut zu übertreten versucht, der soll durch das Urteil seiner unwiderruflichen Verdammung geschlagen werden. Aber wenn es einem Bischof gefällt, einen ordentlichen Richter oder irgendeinen anderen Laien zum Gerichttermin dieser dazu zu holen, soll es geschehen, wenn es beliebt, damit kein anderer es wagt, die Fälle der Freigelassenen zu behandeln außer dem Bischof, dessen Angelegenheit es ist, oder denen, denen er es übertragen hat, diese anzuhören. […] 13. Deshalb, weil alle Dinge behandelt worden sind, die das göttliche oder menschliche Recht betreffen, glaubten wir, um dieses zum Ende zu bringen, dass es passend sei, auch etwas über die Hunde und die Falken zu beschließen. Wir wollen deshalb, dass das Haus des Bischofs, das dazu durch Gottes Gunst eingerichtet worden ist, ohne Ansehen der Person alle in die Gastfreundschaft aufzunehmen, keine Hunde haben soll, damit nicht vielleicht diejenigen, die darauf vertrauen, dort eine Erleichterung ihres Unglücks zu finden, weil sie durch die Bisse der angreifenden Hunde verwundet werden, im Gegenteil sogar Schaden an ihrem Körper erleiden. Es soll also die Wohnstatt des Bischofs durch Hymnen, nicht durch Hunde, durch gute Taten, nicht durch Bisse verehrungswürdig erscheinen. Wo nämlich beständig der Gesang für Gott herrscht, ist es eine Untat und ein Zeichen der Schande, dass dort Hunde und Falken wohnen.1
1
Vgl. Synode von Epao (517), can. 4, wo es Bischöfen und Klerikern verboten wird, Hunde und Falken für die Jagd zu halten.
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14. Durch die Klage einiger haben wir erfahren, dass, indem die Kanones und weltlichen Gesetze mit Füßen getreten werden, diejenigen, die zum Gefolge des Königs gehören, und andere, die durch weltliche Macht aufgeblasen werden, nach fremdem Gut streben und ohne dass von ihnen eine Klage eingeleitet oder ihnen eine gerichtliche Belangung zugestanden wurde, die armen Menschen nicht allein von den Feldern, sondern auch aus ihren eigenen Häusern vertreiben. Deshalb entscheiden wir inmitten dieser beratenden Synode, dass fortan niemand die Erlaubnis zu einer solchen schlechten Tat haben soll, sondern dass gemäß der Kanones und Gesetze ein jeder das Klagebegehren seiner Streitsachen vorlege, damit keiner der armen Leute um seine Güter mit Macht oder durch Erschleichung nach Belieben betrogen wird. Jene aber, die nicht allein gegen unsere Anordnung, sondern auch gegen jene der alten Väter und Könige vorzugehen wagen, sollen durch die Strafe des wie ein Sturm hervorbrechenden Anathems geschlagen werden. Quelle: Synode von Mâcon (585), Corpus Christianorum, Series Latina, 148 A, 238– 247: 240–245, Übersetzung: Sebastian Scholz.
72. Venantius Fortunatus: Das Leben der heiligen Radegunde (um 590) Radegunde, die um 520 geborene Tochter König Berthachars von Thüringen (um 485–530), fiel nach dem Sieg der Franken über die Thüringer in der Schlacht an der Unstrut 531 als Beute an den Merowingerkönig Chlothar I. (um 495–561). Der merowingische König ließ sie christlich erziehen und zwang sie um 540 zur Heirat. Nachdem ihr Bruder um 550 ermordet worden war, verließ Radegunde Chlothar und floh nach Noyon und schließlich nach Poitiers. Trotz mehrfachen Bittens ihres Mannes kehrte sie nicht zu ihm zurück. 558 gründete sie in Poitiers mit Unterstützung des Königshauses eines der ersten Frauenklöster Westeuropas, die spätere Abtei vom heiligen Kreuz. Radegunde starb am 13. August 587. Venantius Fortunatus, geboren um 540 bei Treviso, gilt als der letzte römische Dichter der Spätantike (Friedrich Leo) und erste Dichter des Mittelalters (Franz Brunhölzl). Er brach 565 zu einer Wallfahrt nach Tours zum Grab des Heiligen Martin auf und kam ein Jahr später nach Poitiers. Dort ließ er sich auf Bitten Radegundes nieder und vertrat seither die Interessen des von ihr gegründeten Klosters nach außen. Venantius wurde wohl 576 zum Priester geweiht und 600 zum Bischof von Poitiers gewählt. Danach verliert sich seine Spur. Er verfasste ebenso wie Gregor der Große und Gregor von Tours wichtige Heiligenlegenden. Die Vita Radegundes schrieb er kurz nach deren Tod. Er zeichnet darin das Bild einer perfekten Heiligen, deren Frömmigkeit und karitative wie asketische Tugenden immer vollkommener hervortreten. Der Kontrast zwischen ihrer herrschaftlichen Herkunft und Stellung und ihrer Demut durchzieht als Leitmotiv die Lebensbeschreibung. Venantius Fortunatus stilisierte Radegunde zu einer Martin von Tours (s. Text 55) ebenbürtigen diakonischen Heiligen und legte mit seiner Vita das Fundament für die Verehrung Radegundes. Die im Folgenden wiedergegebenen Abschnitte dokumentieren das karitative Wirken Radegundes. Der Auszug aus Kap. 4 markiert einen Grundzug des diakonischen Handelns Radegundes nach Venantius: Sie wäscht, pflegt und bedient eigenhändig bedürftige Frauen und Männer. Die Herrin wird Magd. Kap. 12 schildert, wie Radegunde den Bischof von Noyon drängt, ihr das Gewand als Nonne anzulegen, und er sie schließlich zur Diakonin weiht. Dabei muss offen bleiben, welche Funktionen mit der Weihe zur Diakonin verbunden waren. Mögli-
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cherweise handelte es sich um eine Art Ehrentitel. Die Kap. 17–19 veranschaulichen das karitative Wirken Radegundes. Die Hilfe für unterstützungsberechtigte Arme (Matrikel), für Kranke, Behinderte und Aussätzige steht dabei im Vordergrund. Die Zuwendung und körperliche Nähe zu Aussätzigen gilt hagiographisch als besonderes Zeichen einer aufopfernden Diakonie. 4. Außerdem richtete sie, auf das Werk der Barmherzigkeit sinnend, in Athies ein Haus ein, in dem sie ordentlich Betten aufstellen ließ; dort versammelte sie bedürftige Frauen, wusch diese selbst in warmen Bädern und pflegte ihre schwärenden Wunden. Sie wusch auch die Köpfe der Männer und bediente diejenigen, die sie zuvor gewaschen hatte, indem sie ihnen mit eigener Hand ein Getränk mischte, auf dass dieser Trank die von der Anstrengung Ermüdeten erquicke. So diente die fromme Frau, von Geburt und durch Heirat Königin, Herrin des Hofes, den Armen als Magd. […] 12. Und da oft bei irgendeiner Gelegenheit durch göttliche Gunst ein Unglücksfall sich zum Heil wendet, wurde, damit diese [noch] religiöser lebe, ihr Bruder ohne [eigenes] Verschulden getötet. Vom König geschickt, kam sie nach Noyon zum heiligen Medardus und flehte inständig, dass er sie, nachdem sie die [weltliche gegen die geistliche] Tracht getauscht hatte, dem Herrn weihen möge. Aber eingedenk des Apostelwortes „Wenn eine einem Ehemann verbunden ist, so suche sie nicht, sich zu lösen“ hielt er die Königin hin, um ihr nicht das Nonnengewand anlegen zu müssen. Außerdem bedrohten die Vornehmen den heiligen Mann und zerrten ihn gewaltsam vom Altar weg durch die Basilika, damit er die Gattin des Königs nicht mit dem Schleier bedecke und es dem Priester nicht gut erscheine zu wagen, dem Herrscher die Königin zu entziehen – nicht eine öffentliche Dirne, sondern die offiziell anerkannte [Gattin]. Da die Hochheilige dies bemerkt hatte, betrat sie die Sakristei, zog die Nonnentracht an, trat zum Altar vor und redete den allheiligsten Medardus mit folgenden Worten an: „Wenn du es hinauszögern solltest, mich zu weihen und mehr einen Menschen als Gott fürchten solltest – dann wird aus deiner Hand, Hirte, die Seele eines Schafes gefordert werden.“ Erschüttert vom Donner dieser inständigen Bitte, weihte jener sie mit aufgelegter Hand zur Diakonin. […] 17. Wie viel der tägliche Einkauf beanspruchte, das wusste sie allein, die ihn für die Bittenden besorgte. Denn außer der täglichen Tafel, an der sie die Armen erquickte, bereitete sie immer an zwei Tagen der Woche im Wechsel, am Donnerstag und am Samstag, ein Bad und wusch selbst, in grobes Leinen gehüllt, die Köpfe der Bedürftigen.
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Sie schrubbte ab, was auch immer es war: Schorf, Krätze, Wurmbefall und ekelte sich auch nicht vor Vereiterungen. Zuweilen zog sie auch Würmer heraus, reinigte die verfaulte Haut und kämmte selbst jedem Einzelnen die Haare, die sie [zuvor] gewaschen hatte. Indem sie aber die schwärenden Narben, die die schlaffe Haut hatte aufbrechen lassen oder die die Nägel entzündet hatten, nach dem Vorbild des Evangeliums mit Öl begoss, linderte sie die Wirkung der Krankheit. Die Frauen aber legten sich in einen Bottich, und sie wusch ihre einzelnen Glieder selbst vom Kopf bis zur Fußsohle mit Seife ab. Wenn sie von dort wieder herausstiegen, nahm sie, falls sie an jemandem alte Kleider erblickte, die zerschlissenen weg und gab stattdessen neue; [so] ließ sie die vormals Zerlumpten gepflegt zur Mahlzeit kommen. Nachdem sie sich versammelt hatten und die Tafel bereitet war, reichte sie selbst jedem einzelnen Wasser und Mundtuch und wischte den Kranken selbst das Gesicht sowie die Hände ab. Nachdem darauf drei mit Köstlichkeiten angefüllte Platten hereingebracht worden waren, schnitt sie im Stehen, fastend vor den Essenden und den Gästen hilfreich zur Hand gehend, selbst das Brot, das Fleisch und was auch immer sie [sonst noch] auftischte. Den Schwachen und Blinden aber wurde sie nicht müde, die Speisen selbst mit dem Löffel darzureichen und das, obwohl zwei [Mädchen] anwesend waren; aber sie allein bediente, sodass sie sich wie eine neue Martha abmühte, bis sich die Brüder vom Trank angeheitert am Mahl ergötzten. Dann entfernte sie sich von dem Ort, um sich die Hände zu waschen und freute sich von Herzen über die nun gut versorgte Tischgesellschaft. Wenn sie etwa ein Murren vernahm, forderte sie [die Leute] gleichwohl auf, sitzen zu bleiben, bis sie sich [alle] erheben wollten. 18. An jedem verehrungswürdigen Sonntag aber hatte sie es sich sommers wie winters zur Regel gemacht, die Armen zu versammeln und dem ersten [von ihnen] mit eigener Hand unvermischten Wein als lieblichen Trank darzureichen; hernach überließ sie es einem Mädchen, allen [übrigen] zu trinken zu geben, weil sie selbst zum Gebet eilte, um so sowohl den Gottesdienst vollständig verrichten als auch den zu Tisch geladenen Priestern entgegentreten zu können, die sie noch immer nach königlichem Brauch, wenn sie heimkehrten, nicht ohne Geschenk ziehen ließ. 19. Mit welcher Liebenswürdigkeit vollbrachte sie auch die folgende Tat, die einen [geradezu] erschauern lässt? Als Aussätzige herankamen und mit ihren Zeichen auf sich aufmerksam machten, forderte sie eine Dienerin auf, sich mit frommer Sorgfalt zu erkundigen, woher und wie viele sie seien. Als diese ihr Meldung machte, ließ sie den Tisch bereiten – ein Serviertablett, Löffel, Messer, Kannen, Trank
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und Becher. Und während die Gruppe [der Leprakranken] gleich darauf folgte, stahl sie sich heimlich hinein, damit niemand sie bemerke. Sie selbst jedoch umarmte Frauen mit mannigfachen Lepraflecken und küsste ihnen auch das Gesicht, das ganze Herz von Liebe erfüllt. Nachdem sodann die Tafel aufgehoben worden war, brachte sie heißes Wasser, wusch die Gesichter und versorgte wieder die Hände, Nägel und Geschwüre, wobei sie sich selbst um alles im Einzelnen kümmerte. Den Scheidenden übergab sie so gut wie ohne Zeugin kleine Gold- und Kleidergeschenke. Eine Dienerin jedoch wagte es, und zwar mit Schmeicheleien, [sie] so anzusprechen: „Hochheilige Herrin, wer soll dich [noch] küssen, die du so die Leprakranken umarmst?“ Jene antwortete wohlwollend: „Wahrhaft, wenn du mich nicht küssen willst, so bereitet mir das gar keinen Kummer.“ Quelle: Venantius Fortunatus, Vita sanctae Radegundis. Das Leben der heiligen Radegunde. Lateinisch/Deutsch, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Gerlinde Huber-Rebenich, Reclams Universal-Bibliothek 18559, Stuttgart 2008, 11–13; 19; 23–27. © 2019 Philipp Reclam jun.
73. Gregor der Große: Buch der Pastoralregel (590) Gregor wurde um 540 in Rom geboren. Er entstammte einer einflussreichen Patrizierfamilie, in deren Tradition er zunächst eine Beamtenlaufbahn einschlug. Nach einer Amtszeit als Präfekt von Rom entschloss er sich 575, ein Leben als Mönch zu führen. Im Palast der Familie in Rom richtete er eine Klostergemeinschaft ein. 578 oder 579 rief ihn Papst Benedikt I. (gest. 579) oder Pelagius II. (gest. 590) in den Dienst der Kirche. Papst Pelagius II. entsandte Gregor als seinen Vertreter an den kaiserlichen Hof in Konstantinopel. 585/586 kehrte er nach Rom in sein Kloster zurück. 590 wurde er als erster Mönch im Westen zum Papst gewählt. Er starb am 6. März 604. Gregor betonte programmatisch die Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe und damit die Verklammerung von vita activa und vita contemplativa. Als Papst ließ Gregor die Ländereien der Kirche insbesondere in Süditalien und Sizilien neu organisieren und bewirtschaften. Durch Einnahmen aus dem kirchlichen Grundbesitz wurde ein Großteil der Armenfürsorge in Rom bestritten, deren Einwohnerschaft durch Geflüchtete aus den von den Langobarden eroberten Gebieten erheblich angestiegen war. Zu Anfang jeden Monats fand eine Verteilung von Getreide bzw. Lebensmitteln statt. Insgesamt übernahm die Kirche zunehmend öffentliche Aufgaben, da die überkommene Verwaltung nicht mehr funktionierte und zusammengebrochen war. Bedeutsam für Gregors Pontifikat war die Entsendung von Missionaren nach England. Seine Bemühungen, mit den Langobarden Frieden zu schließen, führten zu Konflikten mit dem oströmischen Kaiser Maurikios (539–602), unter dessen Herrschaft Rom nominell stand. Gregor hat die Regula pastoralis wenige Monate, nachdem er im Sommer 590 sein Amt als Bischof von Rom angetreten hatte, abgeschlossen. Die Hirtenregel, ein Predigthandbuch und eine Unterweisung zur moralischen Lebensführung der kirchlichen Amtsträger, sieht dem Bischof vornehmlich die Leitung der Seelen anvertraut. Mangelnde Wohltätigkeit, fehlende Sorge für Arme und Kranke, Pleonexie und plötzlicher Tod gefährden das Seelenheil. Deshalb ist der Bischof als Arzt des Volkes auch für die Diakonie sowie – in Notzeiten – für die Versorgung der gesamten Stadtbevölkerung verantwortlich. Gregor schärft die prinzipielle Sozialpflichtigkeit des Eigentums ein. In Bezug auf das Eigentum der Kirche, die seit Kaiser Konstantin sukzessive erfolgreicher und wohlhabender geworden war, gilt der Bischof – obwohl nominell Eigentümer – als „Verwalter“. Das kirchliche Eigentum wird dabei als Vermögen der Armen (patrimonium
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pauperum) verstanden. Auf diese Weise ließ sich der Widerspruch zwischen der betonten Besitzlosigkeit des Bischofs – insbesondere bei sog. Mönchspäpsten wie Gregor – und dem Reichtum der Kirche ausgleichen. Die im Folgenden wiedergegebenen Kapitel dokumentieren Gregors Verständnis des Almosengebens und des Eigentums. Dem Seelsorger wird eine vierfache Aufgabe zugewiesen: Er soll – erstens – diejenigen, die aus den ihnen anvertrauten Gütern Almosen geben, auffordern, dies demütig, reflektiert und verantwortlich zu tun. Zum zweiten hat er jene zurechtzuweisen, die fremde Güter rauben, und ihnen ihren verdammenswerten Geiz vor Augen zu stellen. Drittens sind die, die von ihrem Eigentum nichts hergeben, daran zu erinnern, dass sie das, was sie besitzen, empfangen haben. Almosen sind deshalb wesentlich eine Sache der Gerechtigkeit. Schließlich gilt die Kritik denen, die unter dem Schein des Guten Böses tun. Dritter Teil: Wie der Seelsorger, der ein gutes Leben führt, seine Untergebenen lehren und ermahnen muss XX. Kapitel: Wie man diejenigen behandeln soll, die das Ihrige verteilen, und wie diejenigen, die fremdes Gut an sich reißen Anders muss man diejenigen behandeln, die vom Ihrigen schon barmherzig mitteilen, anders diejenigen, welche noch fremdes Gut an sich zu reißen suchen. Diejenigen nämlich, welche vom Ihrigen barmherzig austeilen, muss man ermahnen, nicht stolz zu werden und sich über die zu erheben, denen sie irdische Gaben spenden; sie sollen sich auch nicht deshalb für etwas Besseres halten, weil sie sehen, dass andere von ihnen unterhalten werden. […] Darum muss man diejenigen, welche vom Ihrigen in Barmherzigkeit mitteilen, ermahnen, sich als Verwalter zu betrachten, die der himmlische Herr hier über irdische Mittel gesetzt hat; umso demütiger sollen sie dann sein, da das, was sie austeilen, eigentlich gar nicht einmal ihnen gehört. Wenn sie dann bedenken, dass sie zum Dienste derjenigen, denen sie Empfangenes weitergeben, bestellt sind, so soll nicht Stolz, sondern Furcht ihr Herz erfüllen. Sorgfältig müssen sie darauf achten, dass sie ihr Anvertrautes nicht schlecht verteilen, nicht denen etwas geben, denen sie nichts geben sollten, oder denen nichts, denen sie etwas, vieles, wo sie wenig, wenig, wo sie vieles geben sollten; nicht in Übereilung ihre Gaben nutzlos verschwenden, nicht durch Verzögerung die Bittenden quälen und peinigen, nicht das Verlangen nach Dank einschleichen lassen; nicht das Licht des Almosens durch das Verlangen nach vergänglichem Lob auslöschen; nicht traurig nochmal nach der Gabe schauen; nicht über Gebühr sich über ein gut gespendetes Almosen freuen; nichts, wenn alles recht geschehen ist, sich selbst zuschreiben, weil sonst alles wieder verloren wäre. […] Wer aber dem bedürftigen Sün-
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der sein Brot mitteilt, nicht weil er ein Sünder, sondern weil er ein Mensch ist, der ernährt nicht den Sünder, sondern den gerechten Armen; denn er liebt an ihm nicht die Sünde, sondern die Natur. Auch muss man diejenigen, welche das Ihrige mit Barmherzigkeit ausspenden, ermahnen, sich mit aller Sorgfalt vor neuen Sünden, die wiederum des Loskaufes bedürfen, zu hüten, während sie ihre begangenen Sünden mit Almosen gutzumachen suchen;1 denn man darf die Gerechtigkeit Gottes nicht für käuflich halten, so dass man glaubt, man dürfe ungestraft sündigen, wenn man nur dafür sorgt, dass für die Sünden Almosen gegeben wird. […] Wenn sie fremdes Gut an sich zu reißen suchen, so sollen sie hören, was geschrieben steht: „Wehe dem, der aufhäuft, was nicht sein ist; auf wie lange häuft er sich dichten Kot zusammen?“2 Das trifft beim Geizhals zu; er häuft sich dichten Kot zusammen, wenn er sündhaften irdischen Gewinn zusammenscharrt. Wenn sie ihre großen Wohnungen noch erweitern wollen, so sollen sie hören: „Wehe euch, die ihr Haus an Haus reihet und Acker mit Acker verbindet, bis kein Platz mehr übrig ist! Wollt ihr denn allein wohnen im Lande?“3 Der Prophet will damit sagen: Wohin wollt ihr euch denn noch ausbreiten, wenn ihr auf der Welt, die allen gehört, keine Nachbarn haben wollt? Eure Nachbarn dränget ihr weg, aber immer wieder findet ihr andere, deren Besitz ihr auch noch euer nennen könntet. Geht ihr Trachten auf Geldgewinn, so sollen sie hören, was dazu die Schrift sagt: „Der Geizige wird des Geldes nicht satt; und wer den Reichtum liebt, wird keinen Nutzen davon haben.“4 Ja, er hätte Nutzen von seinem Reichtum, wenn er sich nicht mit aller Liebe an ihn hängen, sondern ihn gut anwenden würde. Wenn er ihn aber liebt und deswegen zusammenhält, wird er ihn einst, ohne einen Nutzen davon zu haben, zurücklassen. Wenn sie alle Reichtümer, die es nur gibt, in sich vereinigen wollen, dann sollen sie hören, was die Schrift sagt: „Wer schnell reich werden will, bleibt nicht ohne Schuld.“5 Denn gewiss, wer nur die Vermehrung seines Reichtums im Auge hat, der denkt nicht daran, die Sünde zu meiden; wie ein Vogel wird er gefangen: er sieht ja nur auf zeitliche Güter wie auf eine Lockspeise, beachtet aber das Garn der Sünde nicht, das ihn erdrosseln soll. Wenn sie nach allem Gewinn dieser Welt verlangen und nichts von dem Verluste wissen wollen, den sie in der zukünftigen Welt erleiden werden, so sagt ihnen die Hl. Schrift: „Ein Erbe, nach dem man anfänglich hascht, wird zuletzt 1
Vgl. Sir 3,30 (33). Vgl. Hab 2,6. 3 Jes 5,8. 4 Pred 5,9. 5 Spr 28,20. 2
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ohne Segen sein.“6 Von diesem Leben nehmen wir den Anfang, um zuletzt des Segens teilhaftig zu werden; wer also schon zu Anfang nach dem Erbe hascht, der beraubt sich am Ende des Segens; denn indem er sich hier durch das Laster des Geizes zu bereichern sucht, wird er in jener Welt vom ewigen Erbteil ausgeschlossen sein. Wenn sie sehr viele Wünsche haben oder alles, was sie begehren, zu erlangen vermögen, so sagt ihnen die Hl. Schrift: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet?“7 Damit will die ewige Wahrheit sagen: Was nützt es dem Menschen, wenn er alles, was außer ihm liegt, zusammenrafft und dabei gerade das, was er selbst ist, verdammt? Häufig aber kommt man bei der Besserung des Geizes der Habsüchtigen schneller zum Ziel, wenn der Mahnende ihnen zeigt, wie flüchtig das gegenwärtige Leben ist; wenn sie an solche Männer erinnert werden, die sich lange bemühten, in dieser Welt reich zu werden, und doch nicht lange im Besitz des Reichtums bleiben konnten; wie ihnen der rasche Tod schnell und auf einmal genommen, was ihre Sünde weder schnell noch auf einmal angesammelt hatte; wie sie nicht nur das Zusammengeraffte auf Erden zurücklassen, sondern dafür die Anklage auf Raub mit sich zum Gerichte bringen mussten. Sie sollen solche Beispiele hören, die sie ohne Zweifel selbst mit eigenen Worten verurteilen müssen; wenn dann nachher ihre Worte ihnen zum Bewusstsein kommen, werden sie sich wenigstens schämen, jenen nachzufolgen, die sie verurteilt haben. XXI. Kapitel: Wie man diejenigen zu ermahnen hat, welche zwar fremdes Gut sich nicht aneignen wollen, aber ihr Eigentum festhalten, und wie diejenigen, welche von ihrem Eigentum mitteilen, dabei aber fremdes Gut an sich reißen Anders muss man diejenigen ermahnen, welche zwar nach fremdem Gute nicht verlangen, aber auch von dem Ihrigen nichts herschenken, und anders diejenigen, welche zwar von ihrem Eigentum etwas austeilen, dabei aber nicht unterlassen, ihre Hand nach fremdem Gute auszustrecken. Diejenigen, welche weder etwas wollen noch etwas hergeben, muss man eindringlich darauf aufmerksam machen, dass die Erde, von der sie genommen sind, allen zusammen gehört und deshalb auch für alle gemeinschaftlich ihre Erzeugnisse hervorbringt. Mit Unrecht halten sie sich also für schuldlos, wenn sie die gemeinschaftliche Gottesgabe sich persönlich aneignen. Sie teilen vom Empfangenen nichts aus und werden fett, während ihre Nebenmenschen zugrunde gehen; denn täglich töten sie so viele, als Arme dahin6 7
Spr 20,21. Mt 16,26.
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sterben, für die sie den Unterhalt in ihr Besitztum gesteckt haben. Denn wenn wir den Hilfsbedürftigen das Notwendige darreichen, geben wir ihnen damit doch nur eigentlich das Ihrige und spenden ihnen nicht das Unsrige; wir leisten damit eher eine Pflicht der Gerechtigkeit, als dass wir Werke der Liebe verrichten. Darum sprach auch die ewige Wahrheit selbst in Bezug auf die vorsichtige Übung der Barmherzigkeit: „Habet acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übet vor den Menschen!“8 Mit diesem Ausspruch stimmt auch der Psalmist überein, wenn er sagt: „Reichlich spendet er den Armen; seine Gerechtigkeit währt ewig.“9 Er spricht also zuerst von der Freigebigkeit gegen die Armen, heißt diese aber nicht Barmherzigkeit, sondern lieber Gerechtigkeit; denn es ist sicherlich gerecht, dass alle, die gemeinsam vom selben Herrn ihre Gaben empfangen, dieselben auch gemeinsam genießen. Darum sagt auch Salomon: „Wer gerecht ist, gibt ohne Unterlass.“10 […] Leute dieser Art sagen aber in der Regel: „Wir gebrauchen, was uns zusteht, wir wollen nichts von andern; und wenn wir auch nicht tun, was den Lohn der Barmherzigkeit verdient, so tun wir doch auch nichts Böses.“ Dies meinen sie, weil sie sich himmlischen Worten verschließen. Denn von jenem Reichen im Evangelium, der sich in Purpur und feine Leinwand kleidete und täglich glänzende Mahlzeit hielt, wird nicht gesagt, er habe fremdes Gut an sich gerissen, sondern dass er, ohne irgendwie Nutzen zu stiften, sein Eigentum verwendete; nicht weil er etwas Unerlaubtes verübt hat, verschlang ihn nach diesem Leben zur Strafe die Hölle, sondern weil er in erlaubten Dingen sich ganz dem schrankenlosen Genuss hingegeben hat. Den Geizigen muss man sagen, dass sie Gott, der ihnen alles gibt, vor allem dadurch eine Unbill zufügen, dass sie ihm kein Opfer der Barmherzigkeit entgegenbringen. Darum sagt der Psalmist: „Er wird Gott keine Sühnung bieten, noch den Lösepreis für seine Seele.“11 Den Lösepreis gibt man, wenn man die uns zuvorkommende Gnade mit einem guten Werke erwidert. Darum ruft Johannes aus: „Schon ist die Axt an die Wurzel des Baumes gesetzt. Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen werden.“12 Die sich also für schuldlos halten, weil sie kein fremdes Gut rauben, sollen achthaben, dass nicht die Axt sie treffe; sie sollen ihre Lauheit und sorglose Sicherheit ablegen; denn wenn sie nicht die Frucht guter
8
Mt 6,1. Ps 112,9. 10 Spr 21,26. 11 Ps 49,8. 12 Mt 3,10. 9
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Werke bringen wollen, werden sie aus diesem Leben wie von einer frischen Wurzel weg abgehauen werden. Dagegen muss man diejenigen, welche von ihrem Besitztum mitteilen und doch nicht ablassen, fremdes Gut an sich zu reißen, ermahnen, sie sollten nicht nach dem Schein der Freigebigkeit streben und nicht unter dem Schein des Guten noch böser werden. Denn diese unklugen Ausspender ihres Vermögens verfallen nicht nur, wie schon oben erwähnt, in ungeduldiges Murren, sondern sie werden durch Not sogar zum Geiz getrieben. Kann es etwas Unglücklicheres geben als solche Seelen, denen aus ihrer Freigebigkeit Geiz hervorgeht, bei denen die Sündensaat gleichsam von der Tugend bestellt wird? Man muss sie also vor allem ermahnen, das Ihrige in vernünftiger Weise zusammenzuhalten, dann erst, nicht nach fremdem Gut Verlangen zu tragen. Denn wenn nicht mit der Verschwendung die Wurzel der Sünde ausgerottet wird, vertrocknet an den Zweigen niemals der wuchernde Dorn des Geizes. Man entzieht aber die Gelegenheit zur ungerechten Aneignung, wenn man zuerst das Besitzrecht feststellt. Darauf sollen sie eine Ermahnung bekommen, wie sie von ihrem Besitztum mit Barmherzigkeit ausspenden können, wenn sie wirklich gelernt haben, Barmherzigkeit und Raub nicht miteinander zu vermengen. Denn so erpressen sie mit Gewalt, was sie dann in Barmherzigkeit spenden; aber es ist doch etwas Grundverschiedenes, für begangene Sünden Barmherzigkeit zu üben, und zu sündigen, um Barmherzigkeit üben zu können. Dies kann man nicht mehr Barmherzigkeit heißen; denn was durch eine giftige Wurzel bitter wird, kann nimmermehr zu einer süßen Frucht gedeihen. Daher kommt es, dass der Herr durch den Propheten sogar die Opfer verwirft, indem er sagt: „Ich, der Herr, liebe das Recht und hasse den Raub am Brandopfer.“13 Darum sagt er auch an einer andern Stelle: „Die Schlachtopfer der Gottlosen sind ein Greuel, weil sie aus sündhaft erworbenem Gute dargebracht werden.“14 Denn oft entzieht man auch den Armen, was man Gott schenkt. Aber wie sehr der Herr dies verabscheut und ablehnt, zeigt er uns durch den Weisen mit den Worten: „Wer ein Opfer von dem Gute eines Armen darbringt, gleicht dem, der den Sohn angesichts seines eigenen Vaters schlachtet.“15 Kann es etwas Härteres geben als den Tod eines Sohnes vor den Augen des Vaters? Der ganze Unwille, mit dem Gott auf ein solches Opfer herabsieht, tritt dadurch hervor, dass er mit dem Schmerz eines Vaters verglichen wird, der seinen Sohn verloren hat. Trotzdem wägen sie meist nur, was sie opfern; was sie aber nehmen, überlegen sie scheinbar nicht. Sie zählen gleichsam den 13
Jes 61,8. Spr 21,27. 15 Sir 34,24. 14
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Lohn, an ihre Sünden aber wollen sie nicht denken. Sie sollen darum hören, was geschrieben steht: „Wer Lohn sammelt, steckt ihn in einen durchlöcherten Beutel.“16 Hat der Beutel ein Loch, so sieht man zwar, wie man das Geld hineintut, aber man sieht nicht, wie es verlorengeht. Die also darauf sehen, wie viel sie hergeben, jedoch nicht bedenken, wie viel sie nehmen, legen ihren Lohn in einen durchlöcherten Beutel; sie legen ihn hinein, indem sie auf ihre Hoffnung vertrauensvoll hinblicken, schauen dann weg — und verlieren ihn. Quelle: Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen Buch der Pastoralregel; mit einem Anhang: Zwölf Briefe Gregors des Grossen/aus dem Lateinischen übers. von Joseph Funk, Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen ausgewählte Schriften, Bd. 1, Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Bd. 4, Kempten/ München 1933, 189–195; 195–199.
16
Apg 1,6.
74. Gregor der Große: Predigt zu Lukas 16,19–31 (591/592) Die Predigt zu Lukas 16,19–31 steht in der Reihe der Evangelienhomilien. Gregor hat diese Predigten zu Evangelientexten zwischen 590/91 und 593 angefertigt. Die meisten hat er selbst gehalten; in einigen Fällen wurden Predigten Gregors verlesen. In den Predigten stellt er jeweils den offenen und verborgenen Textsinn heraus. Der erstere meint den Wortsinn bzw. den historischen Sinn, der sich auf äußere Vorgänge und geschichtliche Fakten bezieht. Der tiefere oder innere Sinn erschließt sich zum einen in der allegorischen Auslegung, die Christus in der ganzen Bibel wiederfindet, und zum anderen in der moralischen Interpretation, die der Kirche und dem einzelnen Christen den Weg zu einem verantwortlichen Leben weist. Die Homilie 40 wurde von Gregor gehalten „vor dem Volk in der Basilika des heiligen Märtyrers Laurentius, am zweiten Sonntag nach Pfingsten“ – wahrscheinlich 591 oder 592. Die Predigt über den reichen Mann und den armen Lazarus zielt vornehmlich darauf, die Reichen zu ermahnen, die „Gebote der Güte“ zu erfüllen und ihnen vor Augen zu führen, dass die Armen ggf. im Jüngsten Gericht für sie als Fürsprecher auftreten werden. 3. […] „Es war ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und feines Leinen und hielt alle Tage glänzende Gelage. Und es war ein Armer namens Lazarus, der vor seiner Tür lag; er war mit Geschwüren bedeckt“1. Einige glauben, die Gebote des Alten Testamentes seien strenger gewesen als die des Neuen; doch täuschen sich diese offenkundig durch mangelnde Überlegung. Im Alten Testament wird nämlich nicht Geiz, sondern Raub bestraft.2 Dort wird eine unrechtmäßig entwendete Sache mit Erstattung des Vierfachen bestraft.3 Hier aber wird der Reiche nicht getadelt, weil er Fremdes entwendet, sondern Eigenes nicht gegeben hat. Auch heißt es nicht, dass er jemanden mit Gewalt unterdrückt habe, sondern dass er wegen der empfangenen Dinge überheblich wurde. Hieraus lässt sich deutlich schließen, welche Strafe über den zu verhängen ist, der Fremdes raubt, wenn die Verdammnis der Hölle den trifft, der Eigenes nicht teilt. Niemand wiege sich also in Sicherheit und sage: Siehe, ich raube nichts Fremdes, sondern genieße die erlaubterweise zugestandenen Dinge, da dieser Reiche nicht deshalb bestraft wurde, weil er Fremdes entwendet 1
Lk 16,19f. Vgl. 2Sam 12,6 3 Vgl. Ex 21,37. 2
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Predigt zu Lukas 16,19–31
hatte, sondern weil er sich in schlimmer Weise an die empfangen Dinge verloren hatte. Auch dies war ein Grund, der ihn der Hölle überlieferte, dass er in seinem Glück keine Furcht empfand, dass er die empfangenen Gaben zur Überheblichkeit missbrauchte, dass er keine herzliche Güte kannte, dass er sich von seinen Sünden nicht loskaufen wollte, obwohl er über die Summe in reichem Maße verfügte. Auch gibt es einige, die meinen, der Kult mit erlesener und kostbarer Kleidung sei keine Sünde. Wenn dies nicht offenkundig eine Schuld gewesen wäre, hätte das Wort Gottes keineswegs so sorgfältig zum Ausdruck gebracht, dass der Reiche, der im Totenreich die Qual erduldete, sich in Purpur und feines Leinen gekleidet hatte. Jeder sucht besondere Kleidung nur zu eitlem Ruhm, das heißt, um vornehmer als die übrigen zu erscheinen. […] Doch müssen wir genau beachten, welch bedeutende Reihenfolge der Erzählung aus dem Mund der Wahrheit hinsichtlich des hochmütigen Reichen und des demütigen Armen besteht. Seht, es heißt nämlich: „Es war ein reicher Mann“, und sogleich wird hinzugefügt: „und es war ein Armer namens Lazarus“4. Mit Sicherheit pflegt man im Volk mehr die Namen der Reichen als der Armen zu kennen. Weshalb nennt also der Herr, als er vom Armen und vom Reichen spricht, den Namen des Armen und nennt den Namen des Reichen nicht? Nur aus dem Grunde, weil Gott die Demütigen kennt und bejaht und die Hochmütigen nicht kennt. Daher wird er auch einigen, die wegen der Wunderkraft überheblich wurden, am Weltende sagen: „Ich weiß nicht, woher ihr seid; weichet alle von mir, ihr Übeltäter“.5 Hingegen wird zu Mose gesagt: „Ich kenne dich mit Namen“.6 Der Herr sagt also vom Reichen: „ein Mann“, er sagt vom Armen: „ein Armer namens Lazarus“. Als wollte er offen sagen: Den demütigen Armen kenne ich, den hochmütigen Reichen kenne ich nicht. Jener ist mir aufgrund der Anerkennung bekannt, diesen kenne ich nicht aufgrund des Urteils der Verwerfung. 4. Wir müssen auch bedenken, mit welch großer Überlegung unser Schöpfer alles anordnet. Mit einer einzelnen Sache wird nämlich nicht nur ein einziges Ziel verfolgt. Denn seht, der arme Lazarus liegt mit Geschwüren bedeckt vor der Tür des Reichen. Anhand dieses Sachverhaltes vollzog der Herr einen zweifachen Ratschluss. Vielleicht hätte der Reiche ja eine Entschuldigung gehabt, wenn der arme und mit Geschwüren bedeckte Lazarus nicht vor seiner Tür gelegen hätte, wenn er fern gewesen wäre und seine Not sich nicht den Augen aufgedrängt hätte. Wenn umgekehrt der Reiche den Augen des mit 4
Lk 16,19f. Vgl. Mt 7,23. 6 Ex 33,12. 5
Predigt zu Lukas 16,19–31
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Geschwüren bedeckten Lazarus fern gewesen wäre, hätte der Arme im Innern eine geringere Anfechtung erduldet. Doch indem Gott den Bedürftigen, mit Geschwüren Bedeckten vor die Tür des Reichen und in übermäßigem Luxus Lebenden legte, vergrößerte er mittels ein und desselben Ereignisses dem unbarmherzigen Reichen durch den Anblick des Armen das Maß der Verdammnis und prüfte durch den Anblick des Reichen täglich den angefochtenen Armen. Denn welch heftige Anfechtungen, glaubt ihr, hat dieser Bedürftige und mit Wunden Bedeckte in seinen Gedanken erduldet, als er selbst des Brotes entbehrte und nicht einmal Gesundheit besaß und er vor sich den Reichen sah, wie dieser gesund war und seinen Luxus genoss; als er ferner sah, wie er selbst von Schmerz und Kälte geplagt wurde, jener sich aber freute und in Purpur und feines Leinen kleidete; wie er von Wunden bedeckt war, jener im empfangenen Besitz schwelgte; wie er Mangel litt, jener nicht schenken wollte? Welch gewaltigen Sturm der Anfechtung, glauben wir, meine Brüder, gab es damals im Herzen des Armen, dem als Pein gewiss die Armut hätte genügen können, selbst wenn er gesund gewesen wäre, und dem umgekehrt die Krankheit genügt hätte, selbst wenn er einen Lebensunterhalt besessen hätte? Doch damit der Arme noch mehr geprüft würde, zermürbten ihn Armut und Krankheit zugleich. Und darüber hinaus sah er, wie der Reiche inmitten huldigender Scharen einher ging und er selbst in seiner Schwäche und Bedürftigkeit von niemandem besucht wurde. Denn dass niemand zur Stelle war, ihn zu besuchen, beweisen die Hunde, die ungehindert an seinen Wunden leckten. Anhand eines einzigen Geschehens hat also der allmächtige Gott zwei Ratschläge vollzogen: Indem er zuließ, dass der arme Lazarus vor der Tür des Reichen lag, sollte sowohl der gottlose Reiche sich die Strafe der Verdammnis mehren als auch der angefochtene Arme für die Belohnung reifen. Jener erblickte täglich den, dessen er sich nicht erbarmte; dieser sah den, durch den er erprobt werden sollte. Zwei Herzen gab es hier unten, doch einen Beobachter von oben, der diesen durch die Anfechtung für die Herrlichkeit bereitete und jenen durch Duldung zur Strafe erwartete. […] 5. „Da begab es sich, dass der Arme starb und von den Engeln in den Schoß Abrahams getragen wurde. Der Reiche aber starb ebenfalls und wurde im Totenreich begraben“.7 Offenkundig sucht der Reiche jetzt in seiner Pein den als Helfer, dessen er sich in diesem Leben nicht erbarmen wollte. Denn seht, es wird hinzugefügt: „Als er aber in den Qualen seine Augen erhob, sah er Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Da rief er laut: Vater Abraham, erbarme dich 7
Lk 16,22.
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meiner und sende Lazarus, dass er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche, um meine Zunge zu kühlen, da ich große Qual in dieser Feuersglut leide.“8 Wie genau sind die Entscheide Gottes! Wie streng erfolgt die Vergeltung der guten und bösen Taten! Vorher wurde ja gesagt, dass Lazarus in diesem Leben nach den vom Tisch des Reichen fallenden Stücken verlangte und niemand sie ihm gab; nun heißt es von der Pein des Reichen, dass er danach verlangte, von der Fingerspitze des Lazarus solle Wasser in seinen Mund geträufelt werden. Hieraus, Brüder, hieraus schließt also, wie unerbittlich die Strenge Gottes ist. Jener Reiche nämlich, der dem wundgeschlagenen Armen nicht einmal das Geringste von seinem Tisch geben wollte, kam im Totenreich so weit, dass er nur nach dem Geringsten verlangte. Denn er erbat einen Wassertropfen, der Brotstücke verweigerte. […] 10. Ihr aber, Brüder, die ihr die Ruhe des Lazarus und die Strafe des Reichen kennt, handelt mit Bedacht, sucht Fürsprecher hinsichtlich eurer zahlreichen Schuld und verschafft euch in den Armen Anwälte für den Tag des Gerichtes. Ihr habt ja jetzt viele, die ein Lazarus sind; vor euren Türen liegen sie und bedürfen dessen, was täglich von euren Tischen fällt, wenn ihr schon längst gesättigt seid. Die Worte der heiligen Lesung müssen uns unterweisen, dass wir die Gebote der Güte erfüllen. Wenn wir suchen, finden wir täglich einen Lazarus; auch wenn wir nicht suchen, sehen wir täglich einen Lazarus. Seht, die Armen bringen sich ungelegen in Erscheinung; es bitten uns die, die einst für uns als Fürsprecher auftreten werden. Ohne Zweifel sollten eigentlich wir bitten, aber dennoch werden wir gebeten. Seht, ob wir verweigern dürfen, worum man uns bittet, wenn es die Schutzherren sind, die da bitten. Versäumt also nicht die Zeit der Barmherzigkeit, vernachlässigt nicht die empfangenen Heilmittel. Denkt vor der Pein über die Pein nach. Wenn ihr in dieser Welt Ausgestoßene erblickt, verachtet sie nicht, auch wenn an ihnen etwas tadelnswert erscheint, da vielleicht die Arznei der Armut diejenigen heilt, die die sittliche Schwäche verwundet. Wenn es an ihnen etwas der Art gibt, das mit Recht getadelt werden muss, dann macht dies, wenn ihr wollt, eurem Lohn nutzbar, dass aus deren Lastern auch vermehrte Güte erwächst, insofern ihr gleichermaßen mit dem Brot auch ein Wort darreicht, das Brot der Stärkung mit einem Wort der Zurechtweisung. So empfangen von euch zweifache Nahrung, die nur eine erbaten, wenn sie äußerlich mit Speise, innerlich mit einer Weisung gesättigt werden. Wenn der Arme also tadelnswert erscheint, soll man ihn ermahnen, aber nicht verachten. Wenn er jedoch keinen Anlass zum Tadel bietet, soll man ihn als Fürsprecher hoch verehren. Doch seht, viele 8
Lk 16,23f.
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erblicken wir, bei denen wir nicht um Schuld und Verdienst wissen. Also müssen alle verehrt werden und man muss sich vor allen in dem Maße demütigen, als man nicht weiß, wer von ihnen Christus ist. […] 12. […] Lernt also, Brüder, alles Zeitliche zu verachten, lernt, vergängliche Ehre geringzuschätzen, ewige Herrlichkeit zu lieben. Ehrt die Armen, die ihr seht und die ihr äußerlich von der Welt verachtet erblickt, haltet im Innern für Freunde Gottes. Teilt mit ihnen, was ihr besitzt, damit sie einst bereit sind, mit euch das zu teilen, was sie besitzen. Erwägt das Wort aus dem Munde des Lehrers der Heiden: „In dieser Zeit soll unser Überfluss den Mangel jener ergänzen, damit auch ihr Überfluss eine Ergänzung unseres Mangels sei.“9 Erwägt, was die Wahrheit selbst sagt: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“10 Warum seid ihr träge im Austeilen, wenn ihr das, was ihr dem auf der Erde Liegenden reicht, dem im Himmel Thronenden gebt? Doch was der allmächtige Gott durch mich in euer Ohr spricht, möge er durch sich selbst in eurem Herzen sprechen, er, der lebt und herrscht mit dem Vater in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Quelle: Gregor der Große, Homilie 40, in: ders., Homiliae in Evangelia/Evangelienhomilien, Zweiter Teilband, übersetzt und eingeleitet v. Michael Fiedrowicz, Fontes Christiani 28/2, Freiburg u.a.1998, 834–871. © 1998 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br.
9
2Kor 8,14. Mt 25,40.
10
75. König Pippin: Kapitular von Ver (755) Auf Betreiben von Bischof Chrodegang von Metz (715–766) lud König Pippin der Jüngere (714–768), seit 751 König der Franken, 755 zu einer Synode nach Ver an der Oise ein. Fragen der Kirchenverfassung und der Moral des Klerus standen im Zentrum der Beratungen. Daneben wurden auch soziale Themen erörtert. Am 11. Juli 755 verkündete Pippin die Beschlüsse in einem königlichen Kapitular. Kapitel 22 bringt die Sorge um die Pilger zum Ausdruck und legt fest, dass ihnen keine Zölle auferlegt werden dürfen. Kapitel 23 befasst sich mit einem Thema, das in der Karolingerzeit immer wieder Anlass zu Klagen gab und Gegenstand einschlägiger Rechtsbestimmungen wurde: der besondere Schutz der Schwachen. Der Konzilsbeschluss will der Rechtsunsicherheit und Bedrückung insbesondere der Waisen und Witwen wehren. Im Hintergrund steht dabei der Gegensatz von Mächtigen (potentes) und solchen, die sich in einer Position der Abhängigkeit und Unterlegenheit befanden (pauperes). 22. Hinsichtlich der Gottespilger, dass sie ihnen Zölle nicht abnehmen […]. 23. Dass sich die Grafen oder Richter bei ihren Dingversammlungen zuerst die Angelegenheiten der Waisen oder Witwen1 oder der Kirchen anhören und festlegen sollen zum Seelenheil unseres Herrn Königs und später die anderen Rechtsangelegenheiten mit Gerechtigkeit verständig entscheiden. Quelle: Pippini Capitularia, in: Capitularia regum Francorum, Monumenta Germaniae Historica (MGH), Capit. 1, hg. V. Alfred Boretius Hannover 1883, 33–37: 37; Übersetzung: Hans Werner Schmidt.
1
Vgl. Ex 22,21.
76. Karl der Große: Allgemeine Ermahnung (789) Karl der Große, geboren 747 oder 748, war von 768 (zunächst bis 771 gemeinsam mit seinem Bruder Karlmann) bis zu seinem Tod 814 König des Fränkischen Reichs. Nach außen gelang es Karl, das Frankenreich erheblich auszudehnen und es zu einer neuen Großmacht neben dem byzantinischen Reich und dem Abbesidenkalifat zu machen. Seit 774 war er Herrscher über die Langobarden und wurde am Weihnachtsfest 800 vom Papst in Rom zum Kaiser gekrönt. Im Zuge dieser Entwicklung war Karl sowohl zum Herrscher über Italien als auch zum Schutzherrn der römischen Kirche und des Kirchenstaats geworden. Das römische Kaisertum ging damit auf den fränkischen Herrscher über. Obwohl die katholische Kirche durch die Krönung des Kaisers ihren kirchlichen und hegemonialen Führungsanspruch im gesamten Reich unterstrich, verstand sich Karl als die zentrale Figur von imperium und sacerdotium gleichermaßen. Er formte die kirchlichen Organisationsstrukturen und nutzte das kirchliche Personal zur Erfüllung wesentlicher Aufgaben. Insgesamt sollte die Kirche zur Integration seines Reiches beitragen. Im Inneren standen die Verbesserung der Verwaltung und die Reform der Bildung, insbesondere die Bildung der Kleriker, im Vordergrund. Nach krisenhaften Jahren – dem Krieg gegen die Sachsen, der vorläufig mit der Taufe Widukinds endete, der Verschwörung Hardrads in Thüringen (gest. n. 786) und der Absetzung Thassilos von Bayern (748–788) – erließ Karl 789 die Admonitio generalis, die Allgemeine Ermahnung. Sie wurde am 23. März in Aachen ausgefertigt und den führenden Amtsträgern des Reiches, vor allem den Bischöfen, durch Königsboten zum Osterfest übermittelt. In der von dem Angelsachsen Alkuin (um 735–804) mit erarbeiteten Ermahnung tritt Karls Herrschaftsverständnis deutlich hervor. Nach dem Vorbild des alttestamentlichen Königs Josia versteht sich Karl als von Gott eingesetzter uneingeschränkter Herrscher. Sein Regierungsprogramm zielt auf eine wahrhaft christliche Gesellschaft – durch Korrektur von Übelständen, die wesentlich durch fehlerhafte Überlieferung, fehlende Rechtsnormen und den Mangel an Bildung verursacht sind. Der erste Teil der Admonitio ist Themen der kirchlichen Ordnung gewidmet, während sich der zweite Teil auf den Zustand der Gesamtgesellschaft bezieht. Dazu gehört die auf die Regel Benedikts (Kap 53; s. Text 68) zurückgreifende Ermahnung, Gäste, Fremde und Arme zu beherbergen (Kap. 73). Besonders in den Predigten tritt die unzureichende Bildung der Priester hervor. Deshalb schärft das Kapitular wesent-
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Allgemeine Ermahnung
liche Inhalte ein: Die Aufgabe der Predigt besteht in der Förderung diakonisch relevanter Grundhaltungen (Kap. 80). Güte und Erbarmen sowie das Almosen sind integraler Bestandteil der Belehrung. Dahinter steht das Problem der unzureichenden Bildung der Priester. Das Problem mangelnder Bildung wurde durch die sog. Eigenkirchen verschärft. Vermögende Landbesitzer errichteten auf ihren Eigengütern Kirchen. Ein Eigenkirchenherr betraute oft einen seiner Knechte mit dem Pfarrdienst. Fragen der Ausbildung und Bildung traten dabei zumeist völlig hinter den Dienst für den Grundherrn zurück. Unter der Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus auf ewig. Ich, Karl, dank der Gnade und Barmherzigkeit Gottes König und Leiter des Frankenreichs, ergebener Verteidiger und demütiger Helfer der heiligen Kirche, entbiete sämtlichen Gliedern kirchlicher Huld und allen Würden weltlicher Macht in Christus, dem Herrn und ewigen Gott, den Gruß immerwährenden Friedens und Glücks. In der friedfertigen Absicht frommer Gesinnung haben wir zusammen mit unseren Sacerdotes und Ratgebern die überreiche Güte Christi, des Königs, gegen uns und unser Volk bedacht, und wie nötig es sei, nicht nur mit ganzem Herzen und Mund seiner Güte unablässig Dank zu sagen, sondern auch durch dauerhaftes Verrichten guter Werke sein Lob zu betreiben, damit er, der unserem Reich so viele Ehre zuteilwerden ließ, uns und unser Reich für immer unter seinen Schutz zu erhalten würdige. Deshalb haben wir beschlossen, eure Fähigkeit anzuhalten, ihr Hirten der Kirchen Christi, Leiter seiner Herde und glänzendste Leuchten der Welt, dass ihr mit wacher Sorge und emsigem Lehren danach strebt, das Gottesvolk über die Weiden ewigen Lebens zu führen, und euch bemüht, irrende Schafe auf den Schultern guter Vorbilder und Mahnungen in die Mauern kirchlicher Sicherheit zurückzutragen […] Niemand halte, so bitte ich, diese fromme Ermahnung für vermessen, mit der wir Fehler berichtigen, Überflüssiges wegschneiden und Rechtes durchsetzen wollen, sondern nehme sie vielmehr mit Wohlwollen und Liebe entgegen. […] 73. Allen. Auch dies dünkt uns angemessen und ehrenwert, dass Gäste, Fremde und Arme regelgemäße und kanonische Herberge finden an den verschiedenen Orten, weil der Herr selbst bei der Vergeltung des großen Tages sagen wird: „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen“1. Und der Apostel sagte, als er die Gastfreundschaft lobte: „Dadurch gefielen einige Gott, da sie Engel beherbergten“2. [...] 1 2
Vgl. Mt 25,35. Vgl. Hebr 13,2.
Allgemeine Ermahnung
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80. Allen. Es ist aber auch eure Aufgabe, teuerste und ehrwürdige Hirten und Leiter der Kirchen Gottes, dafür Sorge zu tragen, dass die Priester (Presbyter) recht und würdig predigen, die ihr in euren Sprengeln einsetzt zur Leitung und Predigt an den Kirchen für das Volk, das Gott dient. […] Indes belehrt sie mit aller Beharrlichkeit über die Liebe zu Gott und zum Nächsten, über Glaube und Hoffnung in Gott, über Demut und Geduld, über Keuschheit und Maßhalten, über Güte und Erbarmen, über Almosen und das Bekenntnis ihrer Sünden und dass sie ihren Schuldnern dem Gebet des Herrn gemäß ihre Schulden vergeben, da ihr ganz sicher wisst, dass, die solches tun, das Reich Gottes besitzen werden. Quelle: Die Admonitio generalis Karls des Großen, hg. v. Hubert Mordek u.a., Monumenta Germaniae Historica, Fontes Iuris Germanici Antiqui 16, Wiesbaden 2013, 181–183; 227; 237–239. © Harrassowitz Verlag
77. Frankfurter Kapitular (794) Nachdem 792 erneut Aufstände in Sachsen ausgebrochen waren und Pippin der Bucklige (um 770–811) gegen seinen Vater Karl rebelliert hatte, suchte Karl auf der Frankfurter Synode seine Gestaltungskraft unter Beweis zu stellen. Die Synode positionierte sich programmatisch gegen die Bilderverehrung des Konzils von Nicäa 787. Zudem wurden Maßnahmen der Preis- und Währungspolitik und sozialpolitische Maßgaben beschlossen. Vor dem Hintergrund der Hungersnot 792 und den angestiegenen Getreidepreisen verfügte die Synode eine Festsetzung der Preise für Getreide und Brot. Die billigeren Preise für die königliche Getreideernte subventionierten in der Krisensituation den Getreidekauf. Darüber hinaus dokumentiert das im Folgenden wiedergegebene Kap. 4 eine „Wende in der karolingischen Fürsorgepolitik“ (Karl Otto Scherner), insofern nicht nur – wie in anderen Zusammenhängen üblich – an die Nächstenliebe des einzelnen Christen appelliert wird oder die Lehre und die Verantwortung der Kirche namhaft gemacht werden, sondern das zwischen König und Lehensherr bestehende Rechtsverhältnis als Basis der Armenfürsorge zur Geltung gebracht wird. Die Verpflichtung des Lehnsherrn, für seine Armen zu sorgen, wird damit eingeschärft. Die rechtlich Unfreien (Manzipien) sollen nicht umkommen, weil sie zu dem Leihegut (beneficium) gehören, das der Angesprochene vom König erhalten hat. Karl fordert also die Verantwortlichkeit des potens (Mächtigen, Herrschenden) gegenüber seinem pauper (Armen) ein. Die Fürsorgeverpflichtung ist Verantwortung aus Herrschaft, die vom König zugewiesen ist. [...], dass nämlich niemand, ob Kleriker oder Laie, jemals das Getreide teurer verkaufen darf, sei es im Überfluss, sei es in Zeiten der Teuerung, als nach dem jüngst festgesetzten öffentlichen Scheffelmaß, nämlich für einen Scheffel Hafer ein Denar, für Gerste zwei, für Roggen drei und für Weizen vier. Wer es aber in Gestalt von Brot verkaufen will, muss für den Denar 12 Weizenbrote, die jedes zwei Pfund wiegen, geben; 15 Roggenbrote von gleichem Gewicht für einen Denar, 20 für Gerstenbrote und 24 Haferbrote bei gleichem Gewicht. Aus der öffentlichen Getreideernte des Herrn Königs, sofern sie verkauft wird, sollen zwei Scheffel Hafer für einen Denar, ein Scheffel Gerste für einen Denar, ein Scheffel Roggen für zwei Denare, ein Scheffel Weizen für drei Denare gegeben werden. Wer aber von uns ein Leihegut (beneficium) in Gestalt eines Wirtschaftshofes hat, sorge peinlichst dafür, dass keiner von den Hörigen, die zu diesem Landgut
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gehören, Hungers sterbe; und was den Bedarf seines Gesindes übersteigt, das möge er frei nach der vorstehenden Regel verkaufen. Quelle: Monumenta Germaniae historica, Capitularia regum Francorum I, ed. Alfredus Boretius, Hannover 1883, ND Hannover 1960, Nr. 28, 74.
78. Aachener Kapitular (802) Das Aachener Kapitular ist der programmatische Ausdruck von Karls Bestreben, nach seiner Krönung zum Kaiser seine Herrschaft religiös zu vertiefen. Angelehnt an das Modell des Gottesstaats Augustins, drang Karl auf eine Verchristlichung aller Lebensbereiche auf der Grundlage des Friedens, der gottgewollten Ordnung und der Gerechtigkeit. Der Schutz der Schwachen gehört in fundamentaler Weise zur Regierungsverantwortung. Entsprechend bilden das Gebot der Nächstenliebe und die Werke der Barmherzigkeit nach Mt 25,31ff. (s. Text 12) den verbindlichen Orientierungsrahmen für die Gesamtgesellschaft und das Ethos des Einzelnen. [...] Liebet eure Nächsten wie euch selbst1 und gebt Almosen nach euren Kräften. Nehmt die Fremden in eure Häuser auf, besucht die Kranken und beweist gegen die, die in Kerkern sind, Mitleid […]. Kauft die Gefangenen los, steht den ungerecht Unterdrückten bei und verteidigt die Witwen und Waisen2. Die Frauen sollen ihre Söhne in Gottesfurcht aufziehen und Almosen geben und zwar in einem Maße, wie sie [dabei] heiteren Sinn und guten Willen haben. Quelle: Monumenta Germaniae historica, Capitularia regum Francorum I, ed. Alfredus Boretius, Hannover 1883, ND Hannover 1960, Nr. 121, 239.
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Lev 19,18; Lk 10,27. Vgl. Ex 22,21.
79. Nimwegener Kapitular (806) Ende 805 begann die zweite allgemeine Hungersnot während der Regierungszeit Karls des Großen. Vor diesem Hintergrund markiert Kap. 9 des Kapitulars den Ansatz eines flächendeckenden Versorgungssystems, bei dem Karl die Verantwortlichkeit des Mächtigen, des potens, gegenüber seinem Abhängigen, seinem pauper einfordert. Als Grundsatz wird formuliert, dass jeder Getreue (fidelis) seine Armen selbst ernähren muss. Dies gilt sowohl für die Armen, die aus dem Leihegut (beneficium) zu versorgen sind, wie für die, die der auf dem Eigengut befindlichen familia zugehören und daraus ernährt werden müssen. Während mit dem Lehen ein besonderes Rechtsverhältnis zwischen König und Lehnsmann gegeben war, genügte für die Bindung an den König im Fall des Eigenguts der bloße Treueid. Ordnungspolitisch sollen die Unterstützungsverpflichtungen verhindern, dass Menschen umherziehen und betteln. Unterstützung ist an die Bereitschaft zu arbeiten geknüpft. Herumziehende Bettler galten offensichtlich als Bedrohung der Gesellschaft. Wie bereits im Frankfurter Kapitular 794 (s. Text 77) verkündet Kap. 18 eine bindende Preisstaffelung für den Fall, dass über die Versorgung der Eigenen hinaus zusätzliche Erntevorräte vorhanden sind und verkauft werden. Zu den in Frankfurt genannten Getreidesorten tritt der Spelz hinzu. Neu ist auch, dass dieser wie auch der „gereinigte“ Weizen einen höheren Preis erzielen darf. Dies ist ein Hinweis auf die Effizienz der sich ausbreitenden Betriebsgrundherrschaft und deren Bestreben, Überschüsse zu vermarkten. Dass Karl sich schließlich genötigt sieht, erneut die Verbindlichkeit des neuen Scheffelmaßes zu betonen, weist auf die Schwierigkeit hin, einheitliche Maßeinheiten im fränkischen Reich durchzusetzen. Kap. 9: Im Hinblick auf die Bettler, die durch das Land ziehen, wollen wir, dass jeder unserer Getreuen seinen Armen (pauper) aus dem Leihegut oder innerhalb seiner familia unterhält und er nicht zulässt, dass dieser andernorts hingeht, um zu betteln. Wo solche [Bettler] angetroffen werden, soll keiner von ihnen, wenn er nicht mit den Händen arbeitet, erwarten, dass man ihn unterstützt. […] Kap. 18: Wir haben deshalb überlegt, wie im gegenwärtigen Jahr, weil in sehr vielen Gegenden der Hunger offensichtlich sehr stark ist, Bischöfe, Äbte, Äbtissinnen, Grafen, Gefolgsleute, seien es Hausgenossen und alle Getreuen, die offensichtlich königliche Lehen entweder aus Kirchengut oder andersweit erhalten haben, ein jeglicher
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Nimwegener Kapitular
von seinem Lehen seine Familie ernähren lässt und aus seinem Eigengut seine eigene Familie ernährt. Und wenn er mit Gottes Hilfe für sich und seine Familie, sei es im Lehen, sei es im Eigengut Lebensmittel hat und verkaufen will, soll er nicht teurer verkaufen als den Scheffel vom Hafer für zwei Denare, einen Scheffel von der Gerste gegen drei Denare, einen Scheffel von der Spelze gegen drei Denare, wenn sie getrennt ist, einen Scheffel vom Roggen gegen vier Denare, einen Scheffel vom fertigen Weizen gegen sechs Denare. Und ein Scheffel selbst sei, was als Inhalt für alle festgesetzt ist, und ein jeder habe gleiche Größe und gleiche Maße. Quelle: Monumenta Germaniae historica, Capitularia regum Francorum I, ed. Alfredus Boretius, Hannover 1883, ND Hannover 1960, Nr. 46, 132.
80. Einhard: Das Leben Karls des Großen (ca. 825) Einhard (Eginhard), aus einem mainfränkischem Geschlecht stammend, wurde um 770 geboren und erhielt seine erste Erziehung im Kloster Fulda. Um 794 kam er an den Hof Karls in Aachen, wo er sich zum universal gebildeten Gelehrten weiter entwickelte. Durch seine wissenschaftlichen und künstlerischen Fähigkeiten erwarb sich Einhard eine starke Vertrauensstellung am Hof. Nach dem Tod Karls (814), seines „Herrn und Ernährers“, wurde Einhard Privatsekretär Ludwigs des Frommen (778–840). Als Ausdruck seiner Gunst überantwortete ihm der Kaiser die Leitung zahlreicher Klöster und vertraute ihm die Erziehung seines Sohnes Lothar I. (795–855) an. Ende der zwanziger Jahre zog sich Einhard vom Hof zurück. Er verstarb 840. Einhard verfasste seine Vita Karoli Magni um die Mitte oder gegen Ende der zwanziger Jahre des 9. Jahrhunderts. Von Verehrung und Dankbarkeit geleitet, wollte er dem Kaiser ein Denkmal setzen. In Form und Anordnung des Stoffes folgt Einhard dem Vorbild des römischen Kaiserbiographen Sueton (um 70–122). Eine an den heidnischen Caesaren orientierte Lebensbeschreibung eines christlichen Herrschers und eines Erneuerers des 476 erloschenen weströmischen Kaisertums war ein „unerhörtes intellektuelles Wagnis“ (Dieter Hägmann). Im Unterschied zu maßgeblichen Heiligenbiographien und den damit akzentuierten nachahmenswerten Tugenden – Demut, Entsagung, Leidensfähigkeit etc. – sowie einer auf das Jenseits gerichteten Lebenshaltung wollte Einhard ein Gedenken für die irdisch-geschichtlichen Leistungen eines Staatsmanns stiften. Karl wird als Nachfolger der antiken Caesaren geschildert, geprägt allerdings durch das christliche Herrscherethos. Dazu gehört konstitutiv der Schutz der Armen und Schwachen. Wenn Einhard die großzügige Armenfürsorge Karls des Großen rühmt, verbindet das von ihm gezeichnete Bild die Freigebigkeit (liberalitas) antiker Herrscher mit der Barmherzigkeit christlichen Almosengebens. 27. Ganz besonders lag Karl die Unterstützung der Armen am Herzen und jene uneigennützige Freigebigkeit, die von den Griechen mit dem Wort „Almosen“ bezeichnet wird. Er übte diese Tugend aber nicht nur in seinem eigenen Vaterland und Reich, denn sobald er sicher wusste, dass die Christen in Syrien, Ägypten und Afrika, in Jerusalem, Alexandrien und Karthago in Armut lebten, schickte er ihnen aus Mitleid mit ihrer Lage regelmäßig Geld über das Meer. Vornehmlich aus diesem Grunde warb er um die Freundschaft der
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Das Leben Karls des Großen
Fürsten jenseits des Meeres, damit er den unter ihrer Herrschaft lebenden Christen Erleichterung und Hilfe zukommen lassen könnte. Quelle: Einhard: Vita Karoli Magni/Das Leben Karls des Großen. Lateinisch/ Deutsch, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Evelyn Scherabon Firchow, Reclams Universal-Bibliothek 1996, Stuttgart 2014, 51. © 2019 Philipp Reclam jun.
81. Fuldaer Annalen: Hungersnot (850) Die Fuldaer Annalen, die Jahrbücher von Fulda, stellen eine wichtige erzählende Quelle für die Geschichte des Ostfränkischen Reichs im 9. Jahrhundert dar. Sie entstanden sehr wahrscheinlich nicht in Fulda, sondern in Mainz. Der folgende Auszug aus dem Jahresbericht zum Jahr 850 schildert eine Hungersnot, die vor allem in rheinischen Gebieten, aber auch in Thüringen herrschte. Erzählt wird zum einen, wie Erzbischof Hrabanus Maurus tägliche Speisungen für die von der Hungersnot akut Betroffenen organisierte. Dabei wird die Hilfe in der akuten Notsituation unterschieden von der Matrikel, also von den Armen, die kontinuierlich Unterstützung fanden. Hrabanus Maurus, geboren um 780, war 822–841/842 Abt von Fulda und von 847–856 Erzbischof von Mainz. Zum anderen berichtet das Jahrbuch, wozu existentielle Not Menschen treiben konnte und wie sie durch Gottes Güte bewahrt wurden. In diesem Jahre drückte schwere Hungersnot die Völker Germaniens, vornehmlich die um den Rhein wohnenden, denn ein Scheffel Getreide wurde in Mainz für 10 Sekel Silber verkauft. Es hielt sich aber zu der Zeit der Erzbischof Hraban auf einem Hof seines Sprengels namens Winkel auf, wo er Arme, die von verschiedenen Orten kamen, aufnahm und täglich mehr als 300 speiste, die abgerechnet, welche beständig bei ihm aßen. Es kam auch eine fast verhungerte Frau mit einem kleinen Kind zu ihm und wollte von ihm wiederbelebt werden, doch ehe sie die Türschwelle überschritt, stürzte sie vor allzu großer Schwäche zusammen und hauchte den Geist aus. Und als der Knabe die Brust der toten Mutter, als wenn sie noch lebte, aus dem Kleid zog und zu saugen versuchte, brachte er viele, die es mit ansahen, dahin, zu seufzen und zu weinen. In diesen Tagen zog auch einer vom Grabfeld mit seinem Weibe und einem kleinen Sohn nach Thüringen, um das Elend seiner Not zu lindern und unterwegs im Wald sagte er zu seinem Weib: „Wäre es nicht besser, diesen Knaben zu töten und sein Fleisch zu essen, als dass wir alle vor Hunger umkommen?“ Als sie aber widersprach, er solle kein solches Verbrechen begehen, riss er endlich, weil der Hunger drängte, gewaltsam den Sohn aus den Armen der Mutter, und er hätte seinen Willen in die Tat umgesetzt, wäre ihm nicht Gott in seiner Erbarmnis zuvorgekommen. Denn wie derselbe Mann nachher, als er in Thüringen war, sehr vielen erzählte, hatte er schon sein Schwert aus der Scheide gezogen, um den Sohn zu schlachten, zögerte aber noch, schwankend geworden, mit dem Mord, da sah er in der Ferne zwei Wölfe über einer Hirschkuh stehen und ihr Fleisch zerreißen; und sogleich lief er, vom Sohn ablassend, zu
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Hungersnot
der toten Hirschkuh, trieb die Wölfe weg, nahm von dem angefressenen Fleisch und kehrte mit dem unversehrten Sohn zu der Frau zurück. Er war nämlich vorher, als er den Sohn aus den Händen der Mutter genommen hatte, etwas beiseite gegangen, damit sie das Sterben des Knaben nicht sehe und höre. Wie sie nun aber den Mann kommen sah mit dem frischen blutigen Fleisch, glaubte sie, ihr Sohn sei getötet und viel rücklings fast leblos nieder. Er aber trat zu ihr, tröstete sie, richtete sie auf und zeigte ihr das Kind lebend. Da dankte sie nun, als sie wieder zu sich kam, Gott, dass sie für wert geachtet sei, ihren Sohn gesund wieder zu bekommen; ebenso der Mann, dass ihn Gott rein vom Mord des Kindes zu erhalten gewürdigt habe. Beide jedoch stärkten sich notgedrungen an dem vom Gesetz verbotenen Fleische. Quelle: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 1: Frühes und hohes Mittelalter 750–1250, hg. von Wilfried Hartmann, Reclams Universal-Bibliothek 17001, Stuttgart 1995, 101–103 (Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis. MGH SS rer. Germ. 7, hg. v. Friedrich Kurze, Hannover 1891, Neudruck Hannover 1978, 40f.). © 2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
82. Regino von Prüm: Das Sendhandbuch (um 908) Regino, dessen Geburtsdatum und Herkommen unbekannt sind, wurde 892 Abt des Klosters Prüm in der Eifel. 899 wurde er aus Prüm vertrieben. Erzbischof Ratbod (gest. 915) nahm Regino in Trier auf und übertrug ihm den Wiederaufbau der von den Normannen zerstörten Abtei St. Martin. Regino starb 915 in Trier. Auf Anregung Erzbischofs Ratbods erstellte Regino um 908 ein Handbuch zur kirchenrechtlich begründeten Sendgerichtsbarkeit. Bischöfe oder von ihnen als Richter autorisierte Personen urteilten über kirchliche Disziplin und unterschiedliche Verstöße und Streitfälle. Sie hielten Gericht an den Mutterkirchen der Sprengel. Regino widmete das Buch Erzbischof Hatto von Mainz (um 850–913). Es diente dazu, Hatto und anderen Bischöfen die Ausübung der Amtspflichten bei der Visitation ihrer Diözese und der Sendgerichtsbarkeit zu erleichtern. Dazu erarbeitete Regino Fragenkataloge und stellte einschlägige normative Rechtssätze aus Konzilien, Papstbriefen und Schriften der Kirchenväter sowie Texte aus Synoden und Kapitularien der Karolingerzeit zusammen. Das Sendhandbuch bietet einen luziden Überblick über das kirchliche und gesellschaftliche Normengefüge, aber auch über mannigfaltige Abweichungen von der Norm um das Jahr 900. Dabei werden Defizite in der Amtsführung von Pfarrern ebenso thematisiert wie Fragen der Lebensführung von Laien. Dies schließt Aspekte des Eherechts, der Sexualmoral und der Essenvorschriften ebenso ein wie kriminelle Delikte und Fälle von Zauberei. Das Handbuch gliedert sich in zwei Bücher. Das erste Buch bezieht sich auf die Kleriker, das zweite auf die Laien. Jedes der beiden Bücher beginnt mit einem ausführlichen Fragenkatalog. Den aufgeworfenen Fragen sind dann einschlägige normative Texte zugeordnet. Regino formuliert auch diakonisch relevante Fragen wie zum Umgang mit Kirchengut, Armen und Fremden. Kleriker und Laien werden im Rahmen einer bischöflichen Visitation in je spezifischer Weise mit ihrer sozialen Verantwortung konfrontiert, indem auf entsprechende autoritative Rechtssätze und ethische Maximen verwiesen wird. Im Folgen werden einschlägige Fragen aus den Katalogen dokumentiert. 1. Buch Verzeichnis dessen, was der Bischof oder seine Mitarbeiter auf seiner Synode sorgfältig untersuchen sollen in den Pfarrdörfern oder Ortschaften und Pfarreien seiner Diözese. […]
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Das Sendhandbuch
Über Leben und Lebenswandel des Priesters 19. Ob er die Kranken besucht, ob er ihnen die Absolution erteilt, ob er sie mit geweihtem Öl salbt gemäß dem Apostel, ob er ihnen mit eigener Hand das Abendmahl spendet und nicht durch einen beliebigen Laien oder ob er die Kommunion einem Laien oder einer Frau übergibt, um sie einem Kranken zu bringen, was nicht erlaubt ist? […] 35. Ob er Sorge trägt für Arme, Fremde und Waisen1 und sie, wenn es ihm möglich ist, zu seiner Mahlzeit einlädt? […] 69. Ob der Zehnte in vier Teile aufgeteilt wird? 70. Ob er sich herausnimmt, ein Gut der Kirche, ein Grundstück oder einen Unfreien zu verkaufen, zu tauschen oder unter irgendeinem Vorwand wegzugeben? 2. Buch […] Nun wollen wir behandeln, welches Verfahren mit Laien und Weltlichen notwendig oder angebracht ist, so wie es der Herr vorgesehen hat. […] 68. Es muss nach Bettlern geforscht werden, die im Land umherziehen, und ob jeder einen Armen aus seiner Grundherrschaft ernährt? [...] 72. Ob es jemanden gibt, der einem Fremden oder Wanderer die Gastfreundschaft verwehrt? […] 77. Es muss nachgeforscht werden, ob jemand einen Fremden, der wegen eines Einfalls der Heiden oder wegen einer Verfolgung aus seiner Heimat geflohen ist, aus dem Grund, weil er in seinem Haus gewohnt und ihm Jahr und Tag als Taglöhner gedient hat, für seinen Knecht halten will und es wagt, ihn irgendjemandem zu verkaufen oder zu übergeben. 78. Ob es jemanden gibt, der sein Getreide oder seinen Wein mit falschem Maß verkauft, obwohl der Herr sagt: Du sollst einen gerechten Scheffel und ein gerechtes Maß benutzen? 79. Es muss auch bekannt gegeben werden, was für eine große Sünde es ist, Zinsen zu verlangen und durch einen von anderen Menschen 1
Vgl. z.B. Ex 22,20.21; 23,6.9.
Das Sendhandbuch
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erhobenen Zins reich werden zu wollen, und dass die heiligen Kanones vorschreiben, dass Leute, die so etwas tun, aus der Kirche ausgestoßen werden. […] 86. Hinsichtlich der Bruderschaften und brüderlichen Verbindungen muss gefragt werden, wie sie sich in der Pfarrgemeinde verhalten. Quelle: Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, hg. u. übers. v. Wilfried Hartmann, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 42. Freiherr-vom Stein-Gedächtnisausgabe, Darmstadt 2004, 25; 27; 29; 35; 235; 249; 251. © wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
83. Wilhelm III. von Aquitanien: Gründungsurkunde Clunys (910) Der Verfall des karolingischen Reiches, die Bedrängungen durch Normannen, Sarazenen und Ungarn sowie die Entwicklung adliger und bischöflicher Eigenklosterherrschaft begründeten und begünstigten den Niedergang mönchischen Lebens in Westeuropa, der um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert seinen Tiefpunkt erreichte. Zum Zentrum der Erneuerung des Mönchtums – und damit auch der klösterlichen Diakonie – wurde das von Herzog Wilhelm III. von Aquitanien (um 900–963) gestiftete Kloster Cluny. Die Gründungsurkunde vom 11. September 910 dokumentiert die Freiheit Clunys von jeglicher geistlichen und weltlichen Herrschaft und mithin die mönchische Selbstbestimmung. Zugleich markiert die Verantwortung für die gesamte Christenheit den weiten Horizont, in den die Klostergründung gestellt war. Der Gründer ließ – herkömmlichen Anschauungen entsprechend – in der Urkunde formulieren, er könne sein ewiges Heil dadurch sichern, dass er sich die Armen Christi, d.h. die um Christi willen in freiwilliger Armut lebenden Mönche, zu Freunden mache. Außergewöhnlich für den Beginn des 10. Jahrhunderts ist die urkundliche Bestimmung, die das Kloster auch und gerade als Ort der Diakonie beschreibt, als Stätte, an der „Armen, Bedürftigen, Zugereisten und Pilgern barmherzige Hilfe gewährt wird“. Dabei wird dezidiert an das 53. Kapitel der Benediktsregel erinnert, die die Aufnahme von Armen und Pilgern vorschreibt (s. Text 68). Liturgie und Diakonie bildeten die beiden Pole des klösterlichen Lebens. Von Beginn an wurden in Cluny zwölf, später 18 Wohnplätze für Arme eingerichtet. Die Verantwortung für die Armen, die „des Weges daher kämen“, trug der Elemosinar (Almosenpfleger), der zugleich einmal in der Woche zusammen mit Gehilfen die im Dorf Cluny lebenden Kranken und Bedürftigen Armen besuchte und sie unterstützte. An Festtagen erhielten die Armen mehr als die Essensration, die einem Mönch zustand. Symbolischer Höhepunkt der Armenfürsorge war die rituelle Fußwaschung der Armen am Gründonnerstag. Besondere Bedeutung gewann die Verknüpfung von Totengedenken und Armenspeisung. Wenn ein Mönch gestorben war, wurde die für ihn vorgesehene Essensration 30 Tage lang und bei jeder Wiederkehr des Todestages – auf unbegrenzte Zeit – an Arme verteilt. Vor Mitte des 12. Jahrhunderts führte dies dazu, dass mit den etwa 300 Mönchen in Cluny während eines Jahres 10.000 Arme für die 10.000 toten Cluniazenser aßen (Totenbuch von Marcigny). Die Regelungen zum Totengedenken führten zu immer höheren Sozialleistungen, deren
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Finanzierung zunehmend schwieriger wurde. Abt Petrus Venerabilis (1122–1156) ließ die Memoria zwar auf höchstens 50 pro Tag begrenzen. Das waren aber immer noch 18.000 Armenspeisungen jährlich. Die Toten begannen, „in Gestalt der Armen die Lebenden aufzuzehren“ (Joachim Wollasch). Jedem, der darüber nachdenkt, ist es klar, dass alle Reichen nach Gottes Heilsplan mit den Dingen, die sie vorübergehend besitzen, bei rechtem Gebrauch ewigen Lohn verdienen können […]. Indem ich, Wilhelm, durch Gottes Gabe Graf und Herzog, dies sorgfältig erwogen und die Absicht verfolgte, soweit möglich für das eigene Heil zu sorgen, hielt ich es für angebracht, ja notwendig, von den Dingen, die mir zeitlich überlassen sind, ein wenig zur Förderung meiner Seele aufzuwenden […]. Ein solches Ziel kann nun offenbar auf keine Weise angemessener erreicht werden, als wenn ich – dem Gebot Christi „Ich mache mir seine Armen zu Freunden“1 folgend – diesen Auftrag nicht nur zeitweilig, sondern dauernd ausführe und mit meinen eigenen Mitteln zur Bildung einer Gemeinschaft von Mönchen beitrage […]. Deshalb sei allen, die in der Einheit des Glaubens leben und Christi Erbarmen erwarten, allen Generationen bis zum Ende der Welt, kund, dass ich aus Liebe zu Gott und unserem Herrn Jesus Christus aus eigenem rechtmäßigen Besitz Folgendes den heiligen Aposteln Petrus und Paulus übergebe: Das Dorf Cluny mit der Landwirtschaft und dem nicht zu Lehen gegebenen Gut und der Kapelle, die der heiligen Gottesmutter Maria und dem heiligen Apostelfürsten Petrus geweiht ist, mit allem, was dazu gehört, Häusern, Kapellen, Leibeigenen beiderlei Geschlechts, Weinbergen, Feldern, Wiesen, Wäldern sowie Gewässern mit Flussbetten, Mühlen, Quellen und Mündungen, Kultiviertes und Unkultiviertes, ohne jede Einschränkung. Diese Dinge liegen in der Grafschaft Mâcon und Umgebung und sind jeweils von eigenen Grenzen umschlossen. Ich gebe aber dies alles den erwähnten Aposteln, ich, Wilhelm, zusammen mit meiner Frau Ingeborg, und zwar zunächst aus Liebe zu Gott, sodann für die Seele meines Lehnsherrn König Odo und meiner Eltern, für mich und meine Frau, d.h. für das Heil unserer Seelen und Leiber, desgleichen für das der Avana, die mir eben diesen Besitz testamentarisch vermacht hat, sowie für die Seelen unserer Brüder, Schwestern, Vettern und aller Verwandten beiderlei Geschlechts, für unsere treuen Diener und schließlich für den unversehrten Bestand der katholischen Kirche. Und weil wir Christen alle durch das Band einer Liebe und eines Glaubens verbunden sind, soll diese Stiftung 1
Anspielung auf Lk 16,24.
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Gründungsurkunde Clunys
außerdem für alle Rechtgläubigen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfolgen. Der Zweck der Stiftung ist, dass in Cluny zu Ehren der heiligen Apostel Petrus und Paulus ein ordentliches Kloster errichtet wird und dass dort Benediktinermönche zusammen gezogen werden, die den Besitz für alle Zeiten innehaben, genießen und bearbeiten. […] Die Mönche sollen mit allem genannten Besitz unter der Herrschaft des Abtes Berno stehen, der sie nach seinem Wissen und Vermögen ordentlich leiten soll, solange er lebt. Nach seinem Ableben aber sollen die Mönche das Recht haben, nach dem Willen Gottes und der Regel des heiligen Benedikt aus ihrem Orden einen beliebigen Abt und Leiter zu wählen, so dass weder ich noch irgendein anderer Herrscher gegen ihre Wahl – jedenfalls soweit sie fromm erfolgt – Einspruch erheben darf. Alle fünf Jahre aber sollen die Mönche in Rom bei den Häusern der Apostel zehn Goldstücke für deren Kerzen abliefern. Sie sollen den Beistand dieser Apostel und den Schutz des Papstes genießen. Selbst sollen sie mit ganzem Herzen und Gemüte die besagte Stätte erbauen, wie sie es können und verstehen. Wir wollen auch, dass zu unseren und unserer Nachfolger Zeiten, soweit es die Stätte erlaubt und ermöglicht, täglich mit größtem Eifer dort Armen, Bedürftigen, Zugereisten und Pilgern barmherzige Hilfe gewährt wird. Ebenfalls schien es uns gut, in dieses Testament die Verfügung aufzunehmen, dass vom heutigen Tag an die dort versammelten Mönche weder unserer Herrschaft oder der unserer Eltern noch der des erhabenen Königs oder irgendeiner anderen irdischen Gewalt unterstehen sollen. Quelle: Aus der Gründungsurkunde Clunys, in: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 2: Mittelalter, ausgewählt und kommentiert v. Reinhold Mokrosch/ Herbert Walz, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn1986, 49f. (Ergänzung der Übersetzung durch die Herausgeber). © Neukirchener Verlag
84. Vita des heiligen Fridolin: Mehrfache Heilung an einem Mann (970–975) Der heilige Fridolin von Säckingen gilt als Missionar der Alemannen. Er hat vermutlich von 480 bis 550 gelebt. Der Legende nach stammte er aus Irland. Wahrscheinlicher ist aber eine Herkunft aus der Gegend um Poitiers. Fridolin kam im Zuge der Alemannenmission, die der Merowingerkönig Chlodwig I. (466–511) in die Wege leitete, nach Säckingen, wo er das erste Kloster in Südwestdeutschland gründete. Die Vita Fridolins wurde von Balther von Säckingen (geb. um 930), der von 970 bis zu seinem Tod 987 Tod Bischof von Speyer war, verfasst – wohl zwischen 970 und 975. Balther wollte zeigen, wie sich durch das Wirken Fridolins Gottes Heil für die Alemannen verwirklicht. Balthers Werk enthält neben der Vita Fridolins Wundergeschehnisse am Festtag des Heiligen (6. März). Im Folgenden wird der Bericht über das Wunder der Heilung eines mehrfach behinderten Mannes (Kap. 30) dokumentiert. Balther greift dabei auf ein Motiv aus der von Venantius Fortunatus verfassten Vita des Hilarius von Poitiers zurück und bezieht es auf Fridolins Wirkmächtigkeit. Ein taubstummer erwachsener Mann, der seit seiner Kindheit an Armen und Beinen gelähmt war, wurde von seinen Eltern am Fest des Fridolin zu der Kirche des Heiligen, der Säckinger Klosterkirche, gebracht. Mit der Wallfahrt eröffneten die Eltern, die zuhause das Überleben des Behinderten sicherten, die Möglichkeit, in das Kraftfeld des Heiligen zu kommen. Die Reise erfolgte in der Hoffnung auf Heilung. Zugleich diente sie der Förderung und symbolischen Darstellung von sozialer Teilhabe und Zusammengehörigkeit. Die Zugehörigkeit eines beeinträchtigten Menschen zu einer sozialen Gruppe wurde öffentlich zum Ausdruck gebracht. Die Anerkennung eines Behinderten wurde in Szene gesetzt – vor Gott, vor Geistlichen und der kirchlichen Gemeinde. In der wundersamen Heilung zeigte sich schließlich die Kraft (virtus) des Heiligen. Heilige wie Fridolin galten als Vermittler göttlichen Heils und als heilige Ärzte. 30. Ein Mann war seit den ersten Jahren seiner Kindheit durch eine unheilbare Lähmung in einem Zustand mitleiderregender Schwäche und fristete viele Jahre lang ein Dasein ohne die Funktionen des Lebens. Im Grabe seines ausgelöschten Körpers war nur die Seele noch lebendig und hatte, kaum aufflackernd, Lebenskraft – in diesem unförmigen Leib, der schon vor dem Tod ein Leichnam war, erkannte
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Vita des heiligen Fridolin
man allein in den Augen Leben und als wären sie Totenwächter, erwiesen sie sich als die Beschützer der Glieder. Denn erstens vermochte die Zunge, die nie durch eine Regung in ihrer Lage verändert wurde, auch nicht einen Laut durch einen Zungenschlag in der Luft hervorzubringen. Die Stimme nämlich versagte, wenn sie Worte bilden sollte, da sie ihren Klang von ganz unten aus der Bruströhre zum Gaumen hätte bringen müssen. Die Finger an den Händen leisteten dem Leib nicht den schuldigen Dienst, da sie aufgrund der Fehlbildung der Natur kraftlos und schwach waren, noch konnten die Füße den siechen Gliederbau tragen, da sie nicht gehen konnten. Während also dieses ganze Gebilde so gelähmt war, dass sich in ihm fast keine Bewegung zeigte, der Arme in der Zwischenzeit aber über die Maßen geschwächt war, kam das Fest des heiligen Fridolin. Da strömte aus allen Himmelsrichtungen eine unübersehbare Schar von Leuten nach Säckingen zu seiner Kirche, um seine Hilfe zu erflehen. Auch dieser Lahme wurde von seinen Eltern in die Kirche gebracht. Während dort nun alle der heiligen Messe beiwohnten, lag dieser Mann der Länge nach auf dem Grab des Heiligen. Durch Gottes Gnade und durch die Verdienste des heiligen Fridolin gewann er die lang ersehnte Gesundheit wieder, sodass er in derselben Stunde über den Dienst der Zunge, das Fühlen der Hände, den Schritt der Füße und die aufrechte Haltung des ganzen Leibes verfügte. Welch ein Lob sich dort aus den Stimmen der Geistlichkeit und des ganzen Volkes erhob, als dieses großartige und vielfache Wunder, wie beschrieben, geschehen war, bedarf keines Berichtes. Quelle: Mechthild Pörnbacher, Vita Sancti Fridolini. Leben und Wunder des heiligen Fridolin von Säckingen. Beschrieben von Balther von Säckingen, Bischof von Speyer. Texte – Übersetzung – Kommentar, Sigmaringen 1997, 256–259. © Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen
85. Gerhard von Augsburg: Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich (982–993) Der heilig gesprochene Bischof Ulrich von Augsburg wurde wohl 890 in Wittislingen oder Augsburg geboren. Er entstammte einer schwäbischen Adelsfamilie und erhielt 900–908 in der Abtei St. Gallen eine Ausbildung, die ihn auf eine kirchliche Laufbahn vorbereitete. 923 wurde er im Auftrag König Heinrichs I. (um 876–936) zum Bischof von Augsburg geweiht. Historische Bedeutung gewann Ulrich durch sein Handeln während der Ungarneinfälle. Der Fürstbischof ließ Augsburg befestigen, verteidigte die Stadt gegen die Ungarn und trug zum Sieg Ottos I. (912–973) über die Ungarn am Lechfeld bei (955). Er gilt als Vertrauter und Weggefährte König Ottos des I. Ab 960 suchte er seine weltlichen Aufgaben abzugeben und konzentrierte sich auf seine geistliche Verantwortung. Dabei galt sein Augenmerk insbesondere der Armenfürsorge und den liturgischen Ordnungen. Ulrich starb am 4. Juli 973 in Augsburg. Die Verehrung Ulrichs wurde durch die zwischen 982 und 993 entstandene Vita Sancti Uodalrici des Dompropstes Gerhard von Augsburg verstärkt. Das erste Buch enthält die Lebensgeschichte Ulrichs, das zweite schildert 30 Wunder am Grab des Bischofs. Die folgenden Auszüge aus dem ersten Teil der Vita dokumentieren den Zusammenhang von Gottesdienst und Diakonie, die in spezifischen Ritualen ihren Ausdruck fand. Von Ulrich wird berichtet, dass er nach der Messfeier jeweils zum Armenhospiz ging, um zwölf Armen die Füße zu waschen und ihnen etwas aus seinem Geldvorrat zukommen zu lassen. Über die traditionelle Fußwaschung hinaus kam bei Ulrich als öffentliche Zeichenhandlung der Würdigung die Einkleidung von zwölf Armen mit neuen Kleidern am Gründonnerstag hinzu. Die Wunderberichte aus dem zweiten Buch lassen vor allem die Sorge von Angehörigen für Kranke und Behinderte hervortreten sowie die Hoffnung auf Heilung durch die Kraft (virtus) des Heiligen, die Gottes Gnade wirksam werden lässt. 1. Buch, IV Meine Sprache reicht nun nicht hin zu erzählen, mit welch großer Frömmigkeit er die Fastenzeit feierte; aber das jedenfalls, was wir gesehen haben, dürfen wir nicht völlig übergehen. […] Wenn aber die Messfeier zu Ende und die Vesper gesungen war, ging er zum Armenhospiz und wusch zwölf Armen die Füße und gab einem jeden
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von ihnen etwas aus dem Geldvorrat im Wert eines Denars. Dann kehrte er zurück und setzte sich zum Essen an den Tisch; dort fehlte es nicht an Lesung und auch nicht an der zahlreichen Menge der genannten Armen. Was aufgetragen wurde, nahm er mit Freude entgegen und teilte es mit größter Fröhlichkeit an die aus, die bei ihm waren in Erinnerung an das Apostelwort, nämlich: „Einen freudigen Geber liebt Gott“. Jedem nämlich gab er das, von dem er glaubte, dass er es am liebsten nahm. […] An diesem Tag [Gründonnerstag] aber kamen zur dritten Stunde alle Kleriker in die feierlichsten Gewänder gekleidet zur Kirche, und er selbst, nach seiner Sitte glorreich zum Dienst Gottes gerüstet, begann mit ihnen in aller Frömmigkeit die Mysterienfeier zu vollziehen. […] Wenn er die Weihe vollzogen und das Volk mit der heiligen Wegzehrung erquickt hatte und die Vesper beendet war, kam er in die Sakristei, um an die Kleriker Chrisam und Öl auszuteilen. Wenn es ausgeteilt war, begab er sich zum Hospiz der Armen und diente ihnen in gewohnter Weise. Von dort aber ging er in die [Dom-]Kirche, trat vor die Sakristei, kleidete dort zwölf Arme mit neuen Kleidern, die der Kämmerer herbeibrachte und verteilte ein Häuflein aus dem Geldvorrat an die anderen und ließ an diesem Tag keinen bei sich leer ausgehen, auch wenn eine große Menge da war. Dann ging er zum Essen. Wenn alle, die bei ihm waren, gespeist waren, begann er nach dem Beispiel des Herrn, die Füße seiner Schüler zu waschen und wenn die Waschung mit passenden Antiphonen, Versen und Lesungen auf das ziemlichste vollendet war, bot er den besten Wein, der in seinen Kellern lagerte, mit großer Liebe und Demut genugsam dar. […] 2. Buch, VIII Die Tochter einer Frau im Gau Geltenstein war am Arm ganz gelähmt. [Der Frau] wurde eines Nachts im Schlaf gesagt: „Warum führst du deine Tochter nicht um ihrer Gesundung willen mit einer Leuchte zum Grab des heiligen Ulrich?“ Sie wachte auf, vermeldete den Traum ihrer Tochter und führte sie, so schnell sie konnte, mit einer Kerze dorthin. Nach ihrer vollkommenen Gesundung brachte sie sie von dort fröhlich zu ihrem Eigentum zurück. [...] XV Ein Armer namens Hiltepald, gebürtig aus dem Mössingen genannten Flecken, erblindete und verbrachte schon zwei Jahre in dieser Blindheit. Im dritten Jahr aber beschlossen Leute aus demselben Gau, zur Stadt Augsburg zu ziehen, um zu beten. Unterwegs trafen sie ihn mit seinem Führer, wie er in den Flecken seinen Lebensunterhalt erbettelte. Sie sagten zu ihm: „Zieh mit uns zur Stadt Augsburg und zum Grab des heiligen Ulrich; dort kannst du vielleicht Barmherzig-
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keit erlangen.“ Er antwortete ihnen: „Ich habe nicht das Nötigste für mich und meinen Führer und auch keine Gabe, die ich zu diesen heiligen Stätten bringen könnte.“ Sie antworteten so: „Wenn du mit uns gehst, wollen wir dir nach Kräften helfen.“ Er folgte ihren Vorschlägen, zog mit ihnen nach Augsburg und erwartete in der Nacht nahe beim heiligen Grab außerhalb der Kirche den folgenden Tag. Als es tagte, wurde er in die Kirche hinein an das Grab geführt, betete fromm und erhielt durch Gottes Gnade das zuvor verlorene Augenlicht wieder. Er nahm ein Kreuz auf und kam begleitet von einer großen Volksmenge zum St. Marien [-Dom) und berichtete, wie er wieder sehen konnte. Seine Mitbürger gaben ihm Zeugnis. Quelle: Gerhard von Augsburg, Vita sancti Uodalrici. Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich. Lateinisch/Deutsch, Einleitung, kritische Edition und Übersetzung besorgt von Walter Berschin/Angelika Häse, Editiones Heidelbergenses 24, Heidelberg 1993, 121–131; 351; 365–367. © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
86. Theophanu: Testament (um 1050) Unter der aus dem Königsgeschlecht der Ottonen stammenden Theophanu (um 950–1058) wurden im adeligen Damenstift Essen, dem sie als Äbtissin vorstand, große Baumaßnahmen verwirklicht. Sie selbst stiftete bedeutende Kunstwerke und hinterließ eine bemerkenswerte testamentarische Verfügung, das sog. Testament der Theophanu. Das Testament erlaubt einen zeitlich frühen und facettenreichen Einblick in die enge Verbindung der Sorge um das eigene Seelenheil, die Gewährleistung einer standesgemäßen und dauerhaften Memoria sowie die Verfügung von karitativen Hilfeleistungen für Arme. Das vorliegende Dokument ist ein frühes Zeugnis umfänglicher geistlicher und diakonischer Regelungen nach dem Tod: Konkrete Geldsummen, genaue Verwendungszwecke, Termine, die Anzahl der beteiligten Personen und Adressaten werden exakt festgelegt und dokumentieren die kompakte Komplementarität von ritualisiertem Gedächtnis, karitativen Leistungen und daraus erwachsender Fürsorge für das eigene Seelenheil. Die Zahlen in dem Testament haben symbolisch-allegorischen Charakter. Dies gilt für die Anzahl der Almosenempfänger und den Rhythmus der Vergabe von Geldsummen. Die Systematik des Totengedenkens ist geprägt durch die Zahl 30, die sog. Zahl Christi. Die Zahl 30 spielte im mittelalterlichen Denken eine bedeutende Rolle, weil nach der Überlieferung Christus im Alter von 30 Jahren getauft wurde. 1.) Weil es jedermann unbekannt und fremd ist, was zukünftig sein wird oder wann der (zukünftige) Tag herannaht, sollten wir in Gottes Namen wachsam sein und die Frucht der uns anvertrauten Gaben mehren, damit wir nicht, bis er selbst oder sein Tag kommen werden, wegen der Sünde des Müßiggangs oder des Ungehorsams verdammt werden. 2.) Geschrieben steht nämlich: der Tag des Herrn kommt so wie der Dieb in der Nacht.1 3.) Auch einen solchen so unbemerkt und heimlich heranrückenden Tag habe ich, Äbtissin Theophanu, wenn auch unwürdig und sündig, mit Schmerzen angenommen, weil ich schon Arme und Reiche so sehr im Geiste verwirrt gesehen habe, dass sie weder über ihr Seelenheil noch von ihren Besitzungen irgendeine Erwähnung gemacht haben. 1
1Thess 5,2.
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4.) Aus diesem Grunde habe ich den obengenannten Tag mit Hilfe Gottes mit großer Sorge ins Auge gefasst und habe sorgfältig festgesetzt, wieviel an meinem Todestag für meine Seele gestiftet werden sollte, und habe es geordnet an einer Stelle zurechtgelegt. 5.) Am ersten Tag meines Todes sollen 30 Solidi an 12 Priester verteilt werden, damit sie bis zum dreißigsten Tag die Messe feiern. 6.) Die Armen erhalten 5 Solidi als Almosen. 7.) Am nächsten Tag erhalten die Armen 2 Solidi. 8.) Am dritten Tag, oder wann auch immer der Tag meines Begräbnisses sein wird, werden den Armen 5 Solidi gegeben, am vierten 2 Solidi, am fünften 2 Solidi, am sechsten 2 Solidi, am siebten 2 Solidi, am achten 30 Denare. 9.) Danach aber erhalten sie an jedem siebten Tag 30 Denare. 10.) Zwischen diesen Tagen erhalten sie täglich drei Denare bis zum dreißigsten Tag und dies alle für die Armen. 11.) Am dreißigsten Tag erhalten die Armen 5 Solidi als Almosen. 12.) Fremde/Pilger und andere Notleidende erhalten außerdem Solidi aus unbeschädigten Pfennigen. 13.) Am dreißigsten Tag werden an dreißig Priester ebenso viele Denare gezahlt, damit sie an diesem Tag auch zur Anempfehlung meiner Seele die Messe feiern. 14.) Wenn jedoch so viele nicht zusammenkommen, soll das Geld an meine Brüder von St. Liudger [in Werden] geschickt werden, damit die Zahl der Messen vervollständigt wird. 15.) In den obersten Fächern des Schreins wird gefunden, was zu teilen wir vorgeschrieben haben. 16.) Wenn aber zum zweiten Mal der dreißigste Tag wiederkehrt und überhaupt an jedem weiteren dreißigsten Tag, sollen bis zum Jahrgedächtnis 12 Denare für ebenso viele Messen ausgegeben werden und als Almosen aber 18 Denare, innerhalb der einzelnen Abfolgen von dreißig Tagen werden pro Tag 3 Denare für Almosen und 3 für Messen gezahlt.
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17.) Auf diese Weise stehen in jedem Monat, außer dem ersten Monat, 17 Solidi zur Verfügung, die in den vorgenannten Fächern des Schreins gefunden werden. 18.) Beim Jahrgedächtnis sind es 30 Denare für ebenso viele Messen. 19.) Hundert Armen werden je 5 Denare gezahlt, die auch im letzten Fach aufgeteilt gefunden werden, wo auch 30 Denare entdeckt werden, die für die fünf restlichen Tage ausreichen. 20.) Drei Frauen werden 3 Solidi gezahlt, damit sie an jedem dreißigsten Tag einzeln über meinem Grab den Psalter singen. 21.) Daher ermahne ich euch, Brüder und Schwestern, ich nenne euch Söhne und Töchter, denen ich meine Seele und meine Güter anvertraue, in freundschaftlicher Weise, dass ihr euch erinnert, für wie treu und wie liebenswürdig ich euch, denen ich meinen Besitz und mein Leben ausdrücklich anvertraut haben möchte, gehalten habe: Suanaburg decana, Adelheid, Suanehild, Hatheuuig, Emma, Mazaka, Mazaka, Hizela, Sigeza, Vuendela, Gepa preposita, Heinrik presbiter, Brun presbiter, Heriman presbiter, Eilbraht diaconus, Everuuin pbr., Popo pbr., Guntram pbr., Wezel, Altúom, Okger, Geverard, Heriman, Fricoz, Berhta, Uoda, Riklend, Wazala. 22.) Wachet bitte, Brüder und Schwestern, und euer Gebet soll mir, die ich nicht tot, sondern schlafende bin, helfen. 23.) Bedenkt gewissenhaft, wie willkommen und wie teuer es für euch ist, wenn irgendjemand für euch beten wird, wenn dasselbe Schicksal euch ereilen wird. 24.) Betet bitte, indem ihr bedenkt, dass wenn einst euer Gebet mich aus dem Schlaf aufwecken wird, ich nicht ablassen werde, für euch zu beten, so dass durch gemeinsames Gebet die Worte der heiligen Schrift erfüllt werden: 25.) Betet füreinander, damit ihr erlöst seid. 26.) Mich selbst aber und alle meine obengenannten Güter empfehle ich euch und eurer Treue unter der Zeugenschaft Christi. 1.) Auch das Folgende habe ich, Theophanu, für die Memoria meiner Seele übergeben:
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2.) Am ersten dreißigsten Tag erhält diese Kongregation 46 Denare. 3.) Gleichermaßen am zweiten, am dritten, am vierten, am fünften, am sechsten, am siebten, am achten, am neunten, am zehnten, am elften, am zwölften dreißigsten Tag. 4.) In Rellinghausen aber 29 Denare an jedem einzelnen Dreißigsten. 5.) In Gerresheim jedoch 34 Denare. 6.) Auch beim Jahrgedächtnis 34 Denare an den gleichen Platz in Gerresheim. 7.) Zur Beleuchtung 6 Solidi und ein Denar. 8.) Am ersten siebten Tag werden 5 Denare gezahlt. 9.) Ebenso viel am zweiten siebten Tag, gleichermaßen am dritten und auf die gleiche Weise an jedem dreißigsten Tag im Jahr. 10.) Am ersten siebten Tag werden aus 5 Denaren 10 Nachtlichter gezahlt, eines im Kloster, ein anderes in der Krypta, das dritte in der Kapelle der Äbtissin, das vierte bei St. Pantaleon, das fünfte bei St. Maria, das sechste bei St. Johannes, das siebte bei St. Quintin, das achte bei St. Gertrud, das neunte bei Rellinghausen, das zehnte bei Gerresheim. Quelle: Testament der Theophanu, in: Torsten Fremer, Äbtissin Theophanu und das Stift Essen. Gedächtnis und Individualität in ottonisch-salischer Zeit, Bottrop 2002, 115–120.
87. Bertha: Das Leben der heiligen Adelheid von Vilich (1057) Das Leben Adelheids von Vilich (Bonn) kann als markantes Beispiel einer Äbtissin gelten, die sich in besonderer Weise den Armen zuwandte. Als Wohltäterin der Notleidenden wurde ihr schon früh große liturgische Verehrung zuteil. Papst Paul VI. (1897–1978) bestätigte 1966 Adelheid als Heilige. Die Vita Adelheidis wurde 1057 von Bertha verfasst, die Schülerin in der Klosterschule in Vilich war. Sie stützte sich bei der Abfassung der Schrift auf Erinnerungen von Menschen, die Adelheid noch selbst gekannt hatten. Die Darstellung des vorbildhaften Lebens zielt „auf die Erbauung der gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen“. Die Verehrung Adelheids soll legitimiert und die von der Äbtissin ins Leben gerufene, aus dem Klostervermögen gespeiste Stiftung für Bedürftige für alle Zeiten unanfechtbar und gegen jeden Missbrauch geschützt und begründet werden. Adelheid stammte aus einer adligen Familie. Sie wurde um 970 auf der Burg Geldern am Niederrhein geboren. Ihre schulische Ausbildung erhielt sie in einem Kölner Kloster. 978 gründeten ihre Eltern in Vilich ein Stift für junge adlige Frauen, das später in ein Kloster nach der Regel Benedikts umgewandelt wurde. Adelheid wurde die erste Äbtissin des Stifts bzw. Klosters. Nach dem Tod ihrer Schwester Bertrada wurde Adelheid etwa 1002 zudem Äbtissin des Klosters St. Maria im Kapitol in Köln. Sie starb um 1015/1018 in Köln. Die folgenden Auszüge aus dem Leben der heiligen Adelheid erzählen zum einen von Adelheids Stiftung für Arme und zum anderen, wie das Kloster in einer Hungersnot um die Jahrtausendwende zu einem Ort der Zuflucht wurde. Dabei wird Adelheid als Mutter der Armen charakterisiert. Der alte Ehrentitel des Bischofs wird gleichsam auf die Äbtissin übertragen. Die Vita hebt vor allem die Sorgfalt heraus, mit der Adelheid Nahrung verteilte. Deutlich kommt das „medizinische Erfahrungswissen“ (Bernhard Schneider) in den Blick, das in Klöstern ausgebildet und tradiert wurde. Der Bericht von der Heilung eines Blinden soll bezeugen, welche wundersame Kraft von Adelheid auch noch nach ihrem Tod von ihrem Grab ausging. Solche Wunderbezeugungen galten für eine Heiligenbiographie als unverzichtbar (s. Texte 84; 85). 5. Stiftungen aus dem Klostervermögen für die Armen Nachdem Adelheid so aber mit der Hilfe des Herrn die inneren Angelegenheiten gut geregelt hatte, lenkte sie ihren Sinn notwendigerweise auf äußere Dinge und eingedenk der Mahnung des Herrn: Suchet zu-
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erst das Reich Gottes, und dies alles wird euch dazugegeben werden,1 suchte sie das Reich Gottes selbst in den äußeren Dingen in der festen Hoffnung, Größeres zu erhalten. Denn aus dem Besitz des Klosters bestimmte sie ein Gehöft ausschließlich für den Herrn und setzte fest, dass aus dessen jährlichen Erträgen und Einkünften für alle Zeiten fünfzehn Arme gekleidet und beköstigt würden. Diesen sollten, so hatte sie angeordnet, jedes Jahr zum Fest der Geburt des Herrn fünfzehn Solidi gegeben werden. Für weitere fünfzehn Arme verfügte sie Unterhalt auf Kosten des Klosters. Ihnen sollte auch alljährlich in der Fastenzeit eine bestimmte Summe ausgezahlt werden und jedes Jahr an den Festtagen der Apostel zwölf Solidi und an den einzelnen Tagen des Quatemberfastens nur zwei kleinere Geldstücke, zusammen mit dem vollen Anteil an den übrigen notwendigen Dingen. Diese Regelung ließ sie mehrfach durch ihre Mitschwestern einmütig bestätigen, damit sie nicht später unter ihren Nachfolgerinnen aufgehoben werde. Dabei sagte sie ihnen die sicher eintretende Folge voraus, dass, wenn einmal an dieser Regelung gerüttelt würde, ohne Zweifel ihr Glück in dieser und in der anderen Welt gemindert werde. Dieses lege ich daher jetzt schriftlich nieder, damit es zu keiner Zeit in Vergessenheit gerät. 6. Hilfe bei einer Hungersnot. Einführung des Schulunterrichts. Adelheid als Äbtissin von Maria im Kapitol zu Köln. Sorge für die Schwestern in Vilich Als einmal fast die ganze Welt von einer schlimmen Hungersnot gequält wurde, strömten von überall her Hungrige, die von ihrer großen Mildtätigkeit erfahren hatten, zu ihr, wie zu der Brust einer Mutter. Halbtot lagen viele auf den Plätzen und den Einmündungen der Straßen und warteten auf die gewohnte Austeilung ihrer barmherzigen Gabe. Von Mitleid über ihre Nöte erfüllt, bemühte sich Adelheid voller Hingabe, jedem Einzelnen zu helfen. An die Gesunden nämlich und die Kräftigen verteilte sie feste Speise, das heißt Brot und Speck, den Schwächeren gab sie Kräuter und Gemüse, das sorgfältig zusammen mit Fisch gekocht war. Deren Leib aber schon aufgetrieben war und diejenigen, an deren Weiterleben man schon fast zweifelte, stärkte sie mit einer Brühe, die mit Wasser, auch mit etwas Mehl und Fett vermengt war. Dabei achtete sie sehr sorgfältig darauf, dass die Kranken die Speisen nicht allzu gierig einnahmen und dadurch die Körper, die lange Zeit keine Nahrung mehr bekommen hatten, gefährdet wurden. Und dieses Licht der Güte ließ sie zum Ruhme des himmlischen Vaters vor den Menschen leuchten.2 Aber im Verborgenen 1 2
Mt 6,33. Vgl. Mt 5,16.
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streckte sie ohne Wissen der linken Hand ihre Rechte so sehr zum Austeilen von Wohltaten3 aus, dass, wenn sie angesichts des Rufens der Armen kein Geld zur Hand hatte, sie oft heimlich ihre Schuhe auszog und sie den Armen in den Schoß legte. Doch dabei und bei anderem, das sie im Verborgenen tat und was nur der himmlische Vater sah, achtete sie mit höchster Sorgfalt darauf, dass keine der anderen sie beobachtete. Wenn ich in meinem Bericht versuchen würde, all das im Einzelnen zu berühren, würde mein Bericht unendlich weit ausgedehnt werden. So machte der Herr an ihr den Satz wahr: Jedem, der hat, wird gegeben werden, und er wird im Überfluss haben.4 Denn da sie Gott und den Nächsten liebte, hatte sie die Gnade, in ihrem äußeren wie in ihrem inneren Leben so glücklich zu sein, dass sie nach außen hin in den Gütern des irdischen Reichtums, innerlich aber in den geistigen Tugendgaben blühte. […] 8. Heilung eines Blinden Lasst uns nach diesem Bericht auf die Wunderzeichen eingehen, die der Herr durch Adelheid der ganzen Welt deutlich und kraftvoll kundtat. Denn wir wollen der Pflicht nachkommen, jenen zu loben, durch dessen Gnade sie es verdient hatte, für ihn etwas ihm Würdiges zu vollbringen. Dreißig Tage nach ihrem Tod, als am Abend davor im Kreuzgang des Klosters Arme für ein Almosen zusammenströmten, war mit ihnen auch ein Blinder gekommen, um die Herrlichkeit der Kraft Gottes deutlich zu machen. Durch eine Nachlässigkeit dessen, der ihn führte, stieß er unvorsichtigerweise gegen den Stein, der das Grab bedeckte. Er stürzte mit seinem ganzen Körper zu Boden, erhob sich aber bald wieder, durch Adelheids Verdienste mit der Sehkraft beschenkt. Dadurch war die lähmende Trauer der eben noch herrschenden Verzweiflung verjagt und Freude erklang in all unseren Räumen. Denn dieser Freude folgte bald eine noch größere Freude, die jeglichen Zweifel beseitigte, der bei diesem ersten Wunder noch die Herzen einiger befiel. Quelle: Vita Adelheidis. Das Leben der hl. Adelheid von Vilich, lateinisch und deutsch, eingeleitet und übersetzt von Heinz Piesik, 2. unwesentlich veränderte u. ergänzte Auflage, Bonn 2016, 36–38; 48f. © Stadt Bonn – Stadtarchiv
3 4
Vgl. Mt 6,3f. Mt 13,12.
88. Robert von Arbrissel: Brief an Ermengarde (1110) Robert, 1045 als Sohn eines verheirateten Priesters in Arbrissel (Bretagne) geboren, war einer der wirkmächtigsten und zugleich umstrittensten Vertreter der Armutsbewegung um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Als Eremit und Wanderprediger wollte er als „Nackter dem nackten Christus folgen“ und rief zu einem Leben in Armut nach dem Vorbild der „vita apostolica“ auf. Ab 1098 sammelte er tausende von Anhängern um sich, darunter besitzlos gewordene Bauern und Frauen, die in einer gewalttätigen Zeit neue Gemeinschaftsformen suchten. Programmatische Intentionen der Armutsbewegung – Überwindung der Ständegrenzen und Einebnung der ständischen Unterschiede – und eine entsprechende Kritik an den weltlichen wie kirchlichen Verhältnissen brachte Robert in provozierend-radikaler Weise zur Geltung. Er steht exemplarisch für eine Bewegung, die die Würde der Armen betonte und von der Hilfe für Arme zum Leben unter und mit den Armen überging. Nachdem Robert von Arbrissel 1100 durch das Konzil von Poitiers gezwungen worden war, sich mit seinen Gefolgsleuten fest niederzulassen, gründete er das Kloster Fontevraud, ein Doppelkloster für Männer und Frauen jedweden Standes. Frauen des Hochadels traten ebenso wie ehemalige Prostituierte in das Kloster ein, an dessen Spitze eine Frau stand. Leprakranke wurden in einem eigenen Gebäudetrakt untergebracht. 1103 nahm Robert erneut ein Leben als Wanderprediger auf. Er starb 1116. Der 1110 verfasste Brief an seine Anhängerin Ermengarde (1069– 1147) ist der einzige Text Roberts, der sich erhalten hat. Ermengarde, Tochter von Herzog Fulco von Anjou, wurde durch Heirat mit Alanus IV. (1060–1119) Gräfin der Bretagne. 1106 floh Ermengarde nach Fontevraude und stellte einen Scheidungsantrag, musste aber wieder an den Hof in Rennes zurückkehren. Robert tröstete sie in seinem Schreiben damit, dass sie auch in ihrer Stellung am Hof mit derselben religiösen Haltung wie im Kloster leben könne. Die folgenden Auszüge dokumentieren die Kritik Roberts an weltlichen Machthabern und kirchlichen Würdenträgern: Simonie und Raffgier haben zu einem dramatischen, allumfassenden Niedergang der Moral geführt. Dem stellt Robert ein an biblischen Grundsätzen orientiertes Leben in freiwillig geführter Armut gegenüber. 8. Du weilst unter ungebildeten und unzivilisierten Menschen und kannst – wie du meinst – dort nichts Gutes wirken. Die Gelehrten, Bischöfe, Äbte und Priester, alle haben ihr Amt gekauft. Die weltli-
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Brief an Ermengarde
chen Fürsten sind ungerecht, raffgierig, ehebrecherisch und inzestuös, das Volk kennt nicht das Gesetz Gottes. Keiner tut etwas Gutes, keiner sagt etwas Gutes, alle sprechen wider besseres Wissen. Es gibt keine Wahrheit, keine Barmherzigkeit, keine Wissenschaft in dieser Gegend. Lüge, Ehebruch, Mord und Meineid haben überhandgenommen und Blut wurde mit Blut bedeckt. Das Land wurde in Blut getränkt und durch deren Taten zugrunde gerichtet; in ihrem Lügenwerk sind sie vom rechten Glauben abgefallen. Und der Herr ist zornentbrannt gegen sein Volk, hat das Erbe aberkannt und die Menschen in die Hände der Heiden fallen lassen, d.h. in die Hände derer, die unreinen Geistes sind, und sie werden von denen beherrscht, die sie hassen. […] 18. Liebe die freiwillig gelebte Armut. Wenn du dich unter Würden und Ehrbezeugungen, die dir zuteilwerden, im Reichtum und in seidenen Gewändern, bei deinem Mann und den geliebten Kindern und den reichen Eltern aufhältst, dann sprich mit dem Propheten: Ich aber bin eine Bettlerin und arm, der Herr kümmert sich um mich.1 […] 21. Habe Mitleid mit allen Armen, besonders mit den Ärmsten und am meisten mit den Glaubensgenossen, die die Welt verlassen haben, um Gott zu suchen. Höre den Herrn, der sagt: Selig sind, die ein mitleidiges Herz haben, da sie Mitleid empfangen werden.2 Und wiederum: Habt Erbarmen, wie auch euer Vater sich erbarmt, der seine Sonne aufgehen lässt über Guten und Schlechten und es regnen lässt über Gerechten und Ungerechten.3 22. Und an anderer Stelle sagt die Schrift: Er hat es verteilt, gab es den Armen, seine Gerechtigkeit bleibt von Ewigkeit zu Ewigkeit.4 Er sagte nicht, er gab es den Reichen, sondern er gab es den Armen. Das Geben von Almosen befreit vom ewigen Tod und lässt nicht zu, dass der Mensch in Finsternis sinkt, wenn es aus guter Erwerbung stammt. Wenn es aber unrecht erworben wurde, dann hilft es nicht, sondern schadet, da die Schrift sagt: Wer ein Opfer gibt aus dem Raub an den Armen, der ist wie einer, der den Sohn vor den Augen des Vaters opfert. Halte in allem Maß, in der Enthaltsamkeit, beim Fasten, bei den Nachtwachen, bei den Gebeten.
1
Vgl. Ps 40,18. Vgl. Mt 5,7. 3 Vgl. Lk 6,36; Mt 5,45. 4 Ps 112,9. 2
Brief an Ermengarde
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Quelle: Robert von Arbrissel. Brief an Ermengarde, Gräfin der Bretagne. Lateinischer Text mit deutscher Übersetzung und Einleitung von Monika Prams-Rauner, Augsburg 2015, 25; 43; 45. © Dr. Erwin Rauner Verlag
89. Erstes Laterankonzil (1123) Das Erste Laterankonzil war das erste im Abendland abgehaltene „ökumenische“ Konzil. Nach der römischen Überlieferung wird es als neuntes „ökumenisches“ Konzil der Christenheit gezählt. Die Synode fand im März 1123 unter Vorsitz Papst Kalixts II. (1119–1124) im Lateranpalast in Rom statt. Das Konzil bestätigte das zwischen Papst und Kaiser geschlossene „Wormser Konkordat“ (1122), das den jahrhundertelangen Investiturstreit zwischen geistlicher und weltlicher Macht beendete. Die Lateransynode unterstrich den in Worms festgelegten Kompetenzrahmen und Anspruch der Kirche auf Unabhängigkeit von weltlicher Einflussnahme. Dies betraf auch die Verfügungsgewalt des Bischofs über das Kirchengut. Der im Folgenden dokumentierte Kanon 8 lehnt eine Verfügungsmacht von Fürsten und anderen Laien über das Kirchengut, das immer auch Armengut ist, strikt ab und brandmarkt solches Begehren als „Sakrileg“. Die bischöfliche Vollmacht bezieht sich auf alle kirchlichen Angelegenheiten, also auch auf die Verfügung über das Kirchengut. 8. [Eingeschränkte Rechte der Laien] Außerdem bestimmen wir gemäß der Anordnung des seligen Papstes Stephan: Auch noch so fromme Laien haben keinerlei Verfügungsvollmacht über das Kirchengut. Nach den apostolischen Kanones hat vielmehr der Bischof die Sorge für alle kirchlichen Angelegenheiten und verwaltet sie gleichsam unter den Augen Gottes. Wenn sich also ein Fürst oder ein anderer Laie das Verfügungs- oder Übertragungsrecht von Kirchengütern oder -besitzungen anmaßt, macht er sich eines Sakrilegs schuldig. Quelle: Conciliorum Oecumenicorum Decreta/Dekrete der Ökumenischen Konzilien, besorgt v. Guiseppe Alberigo u.a., Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Lateralkonzil (1123) bis zum fünften Lateralkonzil (1512–1517), im Auftrag der Görres-Gesellschaft hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u.a. 2000, 191. © Ferdinand Schöningh
90. Gerhoh von Reichersberg: Über das Haus Gottes (1128) Nach dem Studium in Hildesheim und einer kurzen Leitung der Stiftsschule in Augsburg war Gerhoh (1091/92–1169) ab 1120 Regularkanoniker des reformorientierten Chorherrenstifts Rottenbuch (Bayern). Gerhoh strebte im Geist des Stiftes radikale Reformen an, die die Aachener Regel (Institutiones Aquigranenses) für Kanoniker von 816 mit strikteren Regeln, insbesondere den Verzicht auf persönliche Armut, ergänzten. Besonders in der frühen Phase seines Wirkens kritisierte er das Eindringen der Geldwirtschaft in Bistümer und Pfarreien und forderte die vita apostolica für den gesamten Klerus. Ab 1132 war er Propst des Stifts Reichersberg/Inn. Der vorliegende Textauschnitt stammt aus der Schrift De aedificio Dei (Vom Haus Gottes), die Gerhoh während seiner Zeit in Regensburg 1128–1132, vermutlich 1128, verfasste. Unter den Bedingungen der entstehenden Armutsbewegung des 12. Jahrhunderts verlieh seine Unterscheidung zwischen den pauperes cum Lazaro und pauperes cum Petro – d.h. den unfreiwillig Armen und den freiwillig auf Besitz verzichtenden Klerikern – der altkirchlichen Auffassung über die Verwendung des Kirchenguts zugunsten der Armen besondere Aktualität und Brisanz. Der erste Textauszug schärft unter Rekurs auf den Mailänder Bischof Ambrosius (s. Text 54) den alten Grundsatz ein, dass Kirchengut Armengut ist. Der zweite Abschnitt bezieht sich auf den römischen Archidiakon Laurentius, der sich der Legende nach weigerte, das Kirchenvermögen an den Kaiser und seine Soldaten herauszugeben und es stattdessen an die Gemeindemitglieder und die Armen verteilte (s. Text 54). Vor diesem Hintergrund steht für Gerhoh die Frage nach einem legitimen Kirchengutanteil für Soldaten als „Staatsdiener“ zur Diskussion. Für Gerhoh gehören sie weder zu den unfreiwilligen Armen (pauperes cum Lazaro) noch zu den freiwilligen Armen (pauperes cum Petro). Daher stehen ihnen keine Mittel aus dem Vermögen der Kirche zu. Es würde zu weit führen, hier alle die Martins, Augustins und die übrigen heiligen Väter anzuführen, die die Königreiche nicht durch kirchliches Vermögen bereichert, sondern durch den Glauben besiegt haben. Die auch das Gebiet der Löwen, nämlich der mächtigen Könige, nicht mit den Abgaben der Armen angefüllt, sondern durch das Wort der Wahrheit ausgeharrt haben. Es macht daher Freude, jenes sowohl vor die Augen Einzelner und aller Bischöfe zu stellen als auch ihren
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Ohren einzuschärfen, dass der selige Ambrosius beim Kaiser selbst, dem er das kirchliche Vermögen völlig verboten hat, den er auch wegen seines Vergehens so freimütig gescholten hat, dass er jenem den Zutritt zur Kirche so lange verweigerte, bis er ihn durch öffentliche Reue wiedergewann, dass er selbst bei dem, so sage ich, dem gegenüber er mit der Wahrheit nicht sparsam umgegangen ist, ein so großes Ansehen und Liebe besaß, dass es klar ist, dass der Schrecken vor jenem den Kaiser bedrückt hat, der im heiligen Priester das Bild Jakobs betrachtete, das er hoch geachtet hat. Man liest, dass Jakob, der vor Laban floh, jenen nicht über die Töchter und das Übrige, das zu ihm gehörte, um Rat gefragt habe;1 so trug dieser [Ambrosius] nicht Sorge dafür, den [Willen des] Kaisers hinsichtlich der zu betreuenden Seelen und dem zu verteilenden Kirchenvermögen zu berücksichtigen, so sehr, dass er für die Morde, die ohne gerichtliche Anordnung durch Befehl des Kaisers selbst durchgeführt worden waren, jenem öffentliche Reue auferlegte und, wenn er etwas von dem Vermögen der Kirche verlangte, ihm es unverzüglich verweigerte, indem er sicherstellte, dass alles, was sowohl er selbst als auch die Kirche besaß, den Armen gehöre, und deshalb sagte: Nicht schickt es sich für mich zu geben, und nicht für dich, Kaiser, zu nehmen.2 Wer hat also diese Erlaubnis, die dieser nicht gehabt hat, den modernen Bischöfen gegeben? […] Dort [in der Laurentiuslegende], glaube ich, wird für die Entlohnung der Soldaten kein Anteil an den Mitteln der Kirche festgesetzt; ihnen wird dennoch von den Bischöfen ein größerer Anteil der von den Gott dargebotenen Dingen gewährt als den Verwitweten und den übrigen Bedürftigen, die einen Trost in dieser Welt entweder mit Lazarus3 nicht haben oder mit Petrus nicht haben wollen. Diesen zwei Arten der Armen wird das gesamte kirchliche Vermögen außer dem vierten Teil, der den Gebäuden der Kirchen zuzuwenden ist, geschuldet. Wenn also die Unterstützungen der Kirche allein geschuldet wird entweder den mit Lazarus nichts Habenden oder den mit Petrus nichts haben Wollenden, zu welcher Art dieser [beiden] Armen müssen wir die Diener, die Soldaten und die Kleriker zählen, die ein Eigentum haben? Mit Lazarus passen sie nicht zusammen, da sie ja ihren Trost haben; von Petrus weichen sie sehr ab, da sie ja, was sie haben, beharrlich bewahren. Und was sie nicht haben, verschaffen sie sich raubgierig. Da aber weder die Soldaten oder jene Halbkleriker irgendetwas von dem Ihrigen den bedrängten Armen so freigebig und gerne 1
Vgl. Gen 31,17f. Ambrosius, Epist. 30, ad Marcellinam. 3 Vgl. Lk 16,19f., bes. Lk 16,25. 2
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verteilen, wenden sie nicht mehr auf als die bedrängten Armen selbst. Und das ist nicht verwunderlich, da sie selbst Bedränger der Armen, und was sie selbst betrifft, die Kreuziger von Christus selbst sind. Quelle: Gerhoh von Reichersberg, Ex libro de edificio Dei, in: Monumenta Germaniae Historica, Bd. 3, hg. v. Societas Aperiendis Fontibus Rerum Germanicarum Medii Aevi, Hannover 1897, 136–202: 144, 157. Übersetzung: Udo Jeck.
91. Guigo I.: Brief an Kardinal Haimerich (1132) Guigo, 1083 geboren, trat 1106 in die Gemeinschaft der Kartäuser ein. Der Kartäuser-Orden geht auf Bruno von Köln zurück, der sich 1084 mit einigen Gefährten in die Chartreuse, eine einsame Gebirgsgegend nahe Grenoble, zurückzog. Guigo wurde 1109 zum Prior gewählt und leitete die Gemeinschaft bis zu seinem Tod 1136. Er verfasste die Regel der Kartäuser. Die Suche nach Gott „im Schweigen und in der Einsamkeit“ (Statuten 12,1) zeichnet die Kartäuser aus. Von der kontemplativen Gemeinschaft gingen keine spezifisch diakonischen Impulse aus. Instruktiv ist aber die ätzend scharfe Kritik an den kirchlichen Verhältnissen der Zeit, die sich aus den Idealen der Chartreuse speiste. Der hier wieder gegebene Brief Guigos an Kardinal Haimerich, von 1126 bis 1141 Kanzler der Römischen Kirche, wurde zwischen 1132 und 1134 verfasst. Der Brief nimmt Bezug auf Haimerichs Besuch in der Chartreuse und kritisiert das durch die Wahl zweier Päpste entstandene Schisma (1130–1138) und die durch Gier motivierte Zwietracht. Die Kirche ist von weltlichen Machtvorstellungen korrumpiert und hat sich an die luxuriösen Lebensformen und den Reichtum weltlicher Herrschaft angepasst. Kurz zuvor hatte die Kirche im Wormser Konkordat 1122 die bischöfliche Verfügungsgewalt über das Kirchengut erreicht und im 1. Laterankonzil 1132 (s. Text 89) selbstbewusst unterstrichen. 1. Dem hochehrwürdigen Herrn und Freund in Christus, Haimerich, dem Kanzler des Apostolischen Stuhles, wünschen die Kartäuser, seine Freunde (wenn wir dieses Namens würdig sind) und Brüder die Gnade, das Irdische zu verachten und das Himmlische zu lieben. […] 5. […] Wenn wir uns nicht weiterhin mit kostbaren Gewändern bekleiden, warm in hermelin- und zobelgefütterte Pelze gehüllt, wenn wir es uns häufig bei auserlesenen Festmählern gut sein lassen, wenn wir uns in Betten, die so weich sind, wie die von Sardanapallus1, eher räkeln als auf ihnen ruhen, dürfen wir dann glauben, das Missfallen Gottes durch unsere Gebete besänftigen zu können? Haben wir nicht eher zu fürchten, dass sich die Drohrede des Propheten gegen uns richtet: „Wehe euch, die ihr im Überfluss auf dem Sion lebt und wehe euch Selbstsicheren auf dem Berg von Samaria! Wehe euch, ihr 1
Dieser war der letzte König von Assyrien, der in äußerstem Luxus lebte.
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Adeligen und Führer der Völker, die ihr mit großer Pracht in das Haus Israel einzieht! Wehe euch, die ihr euch zum Essen ein Lamm von der Herde holt und Mastkälber aus dem Stall, die ihr auf Betten aus Elfenbein schlaft und auf euren Polstern faulenzt!“2 Und dann wird noch hinzugefügt: „Aber die Bedrängnis Josefs war ihnen gleichgültig“.3 6. Schämen wir uns all dessen, bester Freund, den ich so spät kennengelernt habe, den ich viel zu kurz sah und zu schnell wieder lassen musste, den ich vielleicht mit leiblichen Augen niemals wiedersehen kann und den doch kein Umstand und keine zeitliche Distanz unserer Zuneigung entreißen kann. Schämen wir uns also dessentwegen und weinen wir über uns selbst, wenn es möglich ist. Denn offenbar haben wir die Verstocktheit der Juden und Heiden noch übertroffen. Während diese aber durch Fasten und Anlegen bescheidener Bußgewänder den göttlichen Zorn besänftigen, setzen wir in unseren Sünden und Anfechtungen der eitlen Ehre und Genusssucht keine Grenzen. Denn wir verzehren nicht nur ein einzelnes Lamm aus der Herde oder einige Mastkälber aus dem Stall, sondern ganze Schafherden und alles Großvieh. Wie Amalech4 dringen wir mit einer unübersehbaren Horde von Menschen und Tieren in die Kirchen ein, nehmen darin alles in Besitz und zerstören, was uns in die Hände fällt. Damit nicht zufrieden, plündern wir Bilder, Kreuze, Kelche und Statuen der Heiligen. Und warum das alles? Etwa um Arme zu unterhalten, Klöster zu bauen, Gefangene loszukaufen? Oh nein! Vielmehr um Bogenschützen, Wurfmaschinenschleuderer, Reiter und Lanzenträger anzuwerben, auf dass sie Christen töten und ihnen Eigentum und Leben nehmen, für die sie doch umgekehrt Eigentum und Leben einsetzen müssten. Welche Schande! Heutzutage wird von den Päpsten und – nach dem Beispiel des Apostolischen Stuhles – von fast aller Welt mit Geld, das für heilige Zwecke bestimmt ist, ein Bruder gegen den Bruder, das heißt ein Christ gegen einen anderen Christen angeworben und mit Waffen ausgerüstet. Und die Mutter Kirche beglückwünscht sich zu solchen triumphalen Vorgängen und wendet sich nach alldem mit einem von blutgetränkten Händen besudelten Gewissen dem heiligen Opfer zu. Wenn man dies auf sich beruhen lässt, wogegen kann man dann überhaupt noch Einspruch erheben? 7. Aber das sind doch – sagt man – Maßnahmen nach der Weise weltlicher Fürsten, (seitens der Kirche) übernommen von den Palästen der 2
Am 6,1–4. Am 6,6. 4 Vgl. Dtn 25,17f. 3
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Brief an Kardinal Haimerich
Herrscher. Wir bestreiten das nicht. Doch hätten sie besser für immer ihren Ort in den Palästen und nicht im Heiligtum behalten, nein, weit besser noch: Hätten sie niemals existiert, weder in den Palästen noch in den Kirchen! Viel vortrefflicher wäre es, wenn die Kirchen ihre Gesetze den Palästen, anstatt umgekehrt die Paläste ihre Normen den Kirchen geben würden. Müssen sich etwa die Kirchen durch die Paläste belehren lassen, sind erstere nicht vielmehr beauftragt, letztere zu belehren? Haben etwa die Paläste den Kirchen und nicht umgekehrt die Kirchen den Palästen Christus gegeben? Weit richtiger wäre es also, wenn die Herrscher von uns das Bußkleid empfingen, als dass wir ihren Purpur entgegennähmen! Weit nützlicher wäre es, wenn sie unsere Armut, unser Fasten, unsere Demut auf sich nähmen, anstatt wir ihr Besitzstreben, ihre Genusssucht und ihre Überheblichkeit! Quelle: Guigo: Brief an Kardinal Haimerich, in: Bruno – Guigo – Antelm. Epistulae Cartusianae. Frühe Kartäuserbriefe. Übersetzt und eingeleitet von Gisbert Greshake, Fontes Christiani 10, Freiburg u.a. 1992, 130– 143: 131–139. © 1992 Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Br.
92. Dekret Gratians: Der Bischof als Vater der Armen (um 1140) Das Decretum Gratiani ist die wichtigste Sammlung des mittelalterlichen Kirchenrechts und wurde im Laufe der Jahrhunderte zur Grundlage des kanonischen Rechts. Der Mönch Gratian, gest. um 1150, verfasste sein umfangreiches Werk zwischen 1125 und 1140 in Bologna, dem Zentrum der damaligen Rechtswissenschaft. Gratians Quellen waren vor allem biblische Stellen, Texte der Kirchenväter, Konzilskanones, Synodenakten und Dekretalen (päpstliche Entscheidungen). Das Decretum Gratiani ist gleichermaßen Quellensammlung und Lehrbuch, das eine Vereinheitlichung des kirchlichen Rechts anstrebt. Es bildete später den ersten Teil des Corpus Iuris Canonici und war damit bis 1918 geltendes katholisches Kirchenrecht. Der erste Teil des Werks behandelt allgemeine Rechtsfragen und ist in sog. Distinktionen (D) gegliedert. Der zweite Teil bietet fiktive Rechtsfälle (Causae, C), mit denen spezifische Rechtsfragen (Quaestiones, q) thematisiert werden. Im Rahmen des ersten Teils behandelt Gratian u.a. die diakonische Verantwortung des Bischofs. Seine Systematisierungen wollen (alt-) kirchliche Traditionen sichern, bündeln und rechtlich normative Konsense rekonstruieren. Für die Diakonie ist besonders das Amtsverständnis des Bischofs als pater pauperum, als Vater der Armen, bedeutsam. Die rechtliche Bekräftigung des Eintretens für Hilfsbedürftige als konstitutiver Bestandteil der bischöflichen Aufgaben schließt die Gewährung von Asyl für unrecht Verfolgte ein. Im Rahmen des zweiten Teils erörtert Gratian u.a. Fragen der Verwendung kirchlicher Güter und Einkünfte sowie bestimmte Aspekte des Almosens. Er schärft grundsätzlich die Identität von Kirchengut und Armengut (patrimonium pauperum) ein und entwickelt differenzierte Rechtsvorschriften zur Verteilung kirchlicher Güter. Gratian verpflichtet den Bischof zudem, gegen jede Art des Wuchers vorzugehen, und erörtert die Frage, unter welchen Bedingungen die Gabe von Almosen unrecht ist. Um als gutes Werk gelten zu können, darf Almosen nicht aus Wucher stammen und keiner unsittlichen Haltung entspringen. Allgemein muss der Bischof die Armen und jene, die nicht arbeiten können, mit dem Notwendigen zum Leben versorgen. (D 82, 1. Pars) […]
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Der Bischof als Vater der Armen
Der Bischof hat auch rührig und wachsam zu sein, wenn es um die Verteidigung der Armen, die Unterstützung der Bedrückten und den Schutz der Klöster geht. Tut er das nicht, ist er hart zu bestrafen. (D 84, 1. Pars) […] Wenn Witwen und Waisen die Kirche um Schutz anflehen, müssen die Bischöfe helfen, und den Schutz gegen ungerechte Gewalt dürfen sie nicht versagen. (D 87, 1. Pars) […] Mit höchster Ehrfurcht und Furcht Gottes soll der Bischof die kirchlichen Güter zum Wohle aller Bedürftigen verwalten. (C 12, q 1, c. 23) […] Gold besitzt die Kirche nicht, um es zu bewahren, sondern in Notlagen herauszugeben, um zu helfen. (C 12, q 2, c. 70) Dem Bischof gereicht es zur Ehre, nicht für die Dekoration der Kirche, sondern für die Armen zu sorgen. (C 12, q 2, c 71) [...] Den Ertrag von Wucher und Zinsen oder einer anderen unrechtmäßigen Aneignung darf man nicht als Almosen geben. (C 14, q 5, 1. Pars) […] Wer zurückgibt, was er unerlaubt weggenommen hat, wandelt das Böse zum Guten. […] Böses zum Guten wandelt auch jener, der den Armen von dem abgibt, was er durch Arbeit und Mühe erworben hat, gemäß dem Schriftwort: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.“1 […] Was aber aus einer unsittlichen Haltung entspringt, kann nie durch gute Werke an Armen gerechtfertigt werden. (C 14, q 5, c 14) Quelle: Decretum Magistri Gratiani, Corpus Iuris Canonici, Teil 1, hg. Emil Friedberg, Leipzig 1879, Nachdruck Graz 1959, 289, 294, 304, 684f.; 710, 738, 741.
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Lk 16,9.
93. Anfänge des Zisterzienserordens: Statuten der Mönche (1147) Der Zisterzienserorden wurde ab 1098 im Zusammenhang der zeitgenössischen Armutsbewegung als Reformorden gegründet. Der Benediktinermönch Robert von Molesme (1028–1111) gelangte zu der Auffassung, es sei unmöglich, die Regel Benedikts in Molesme, das sich zu einem einflussreichen und reichen Zentrum eines Klosterverbandes entwickelte hatte, zu befolgen. Robert und andere reformwillige Mönche ließen sich daraufhin in Cîteaux in einer „Einöde“ südlich von Dijon nieder. Wesentliches Anliegen des „Neuklosters“ war die strenge Befolgung der Benediktregel, die sämtliche Bereiche des klösterlichen Lebens prägen sollte. Abt Stephan Harding (1059–1134) schuf mit der Carta Caritatis eine Grundverfassung, die 1119 von Papst Calixtus II. (um 1060–1184) approbiert wurde. Damit waren die Zisterzienser endgültig von den Benediktinern losgelöst und als selbständiger Orden etabliert. Die Wahrung der Selbständigkeit jedes Klosters und zugleich die Sorge für die Einheit und den Liebesbund aller Klöster zeichnete die Verfassung aus. Das radikale Armutsgebot, das nicht nur für die einzelnen Mönche, sondern für jedes Kloster und den Orden selbst galt, kommt in den „Statuten der Mönche von Cîteaux, die aus Molesme kamen“, deutlich zum Ausdruck. Die Statuten sind Teil einer Einführung zur Carta Caritatis, die verschiedene Dokumente zu den Anfängen von Cîteaux und der Entstehung des Ordens enthält (Exordium Parvum = Kleine Einführung). Das Exordium wurde nach dem Tod Stephan Hardings spätestens 1147 fertig gestellt. „Arm mit dem armen Christus zu sein“ – diese Lebensform zeigt sich in der Einfachheit des Lebensstils und in der Schlichtheit der Klostergebäude. Klöster sollen an abgelegenen Orten, „abseits des Verkehrs“, liegen. Kategorisch wird eine Entwicklung der Klöster abgelehnt, in der Grundbesitz, Handwerk und Landwirtschaft nicht zum eigenen Lebensunterhalt und zur Selbstversorgung betrieben werden, sondern wie große Grundbesitzer beträchtliche feudale Einkünfte aus Dörfern und Hörigen beziehen. Die Zisterzienser betonten demgegenüber mit Benedikt den Wert der Arbeit mit den eigenen Händen. Der Besitz von Grundstücken, Landwirtschaft und Handwerk dürfen nur dem eigenen Gebrauch dienen. Um dies verwirklichen zu können, sehen die Statuten vor, dass Laien als Konversbrüder aufgenommen werden, die sich durch das Tragen eines Bartes äußerlich von den Mönchen unterscheiden und außerhalb des Klosters leben und arbeiten. Die für die Selbstversorgung gedachten Handwerksbetriebe und agrarwirtschaftlichen Aktivitäten – z.B. die
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Statuten der Mönche
Fischzucht sowie die Erschließung von Ödland – förderten auf lange Sicht den Wohlstand der Klöster. Kap. 15: Statuten der Mönche von Cîteaux, die aus Molesme kamen. 2
Hierauf beschlossen jener Abt und seine Brüder gemeinsam, in Treue zu ihrem Gelöbnis die Regel des heiligen Benedikt in jenem Kloster zu verwirklichen und einmütig zu halten. 3 Sie verwarfen alles, was der Regel widersprach: gefältelte Kukullen, Pelze und Unterhemden, Kapuzenumhänge und Beinkleider, Kämme und Überdecken, weiche Bettunterlagen, verschiedene Gänge von Speisen im Refektorium sowie Fett und alles übrige, was gegen die Reinheit der Regel verstößt. 4 So machten sie die Regeltreue zur Richtschnur ihres ganzen Lebens, folgten ihren Vorschriften sowohl in liturgischen als auch in allen übrigen Belangen und richteten sich ganz nach ihr aus. 5 Sie hatten also den alten Menschen abgelegt und in Freude den neuen angezogen. 6 Und da sie weder in der Regel noch in der Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt lasen, dass dieser ihr Lehrmeister Kirchen, Altäre, Opferspenden, Begräbnisse, Zehnten fremder Menschen, Backhäuser, Mühlen, Dörfer oder Hörige besessen habe, da sie lasen, dass Frauen sein Kloster nicht betreten durften, noch Verstorbene – mit Ausnahme seiner Schwester – dort begraben wurden, verzichteten sie auf all dies und sagten: 7 Wenn der heilige Benedikt lehrt, dass sich der Mönch vom Treiben der Welt fernhalten solle, so bezeugt er damit deutlich, dass es auch in den Taten und Herzen der Mönche keinen Platz haben darf. Diese müssen ja der Bedeutung ihres Namens entsprechen, indem sie dies fliehen. 8 Weiterhin sagten sie, dass die heiligen Väter, die vom Heiligen Geist inspiriert waren und deren Anordnungen zu übertreten eine schwere Verfehlung bedeutet, den Zehnten für vier Bestimmungen aufgeteilt haben: ein Teil war für den Bischof vorgesehen, ein zweiter für die Priester, ein dritter für die Gäste, die in jenem Kloster einkehren sowie für Witwen und Arme, die sonst ohne Lebensunterhalt waren, und ein vierter für die Erhaltung der Kirche. 9 Da aber bei dieser Aufzählung nicht die Rede war vom Mönch, der seinen Landbesitz hat, von dem er durch eigene Arbeit und die seiner Tiere leben kann, lehnten sie es ab, gleichsam ein fremdes Recht für sich zu Unrecht in Anspruch zu nehmen. 10 So verachteten sie, arm mit dem armen Christus, die Reichtümer dieser Welt. Als neue Streiter Christi begannen sie, gemeinsam
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zu erwägen, mit welchem Plan, welchem Gewerbe oder welcher Tätigkeit sie bei dieser Lebensform sich und die vorbeikommenden Gäste erhalten könnten, die die Regel, ob arm oder reich, wie Christus aufzunehmen vorschreibt. Damals beschlossen sie, mit Erlaubnis des Bischofs Laien als Konversbrüder aufzunehmen, die einen Bart trugen und sie in Leben und Tod wie ihresgleichen zu behandeln, ohne dass sie dem Mönchsstand angehörten; außerdem auch noch Tagelöhner. Sie sahen nämlich, dass sie ohne deren Hilfe die Vorschriften der Regel bei Tag und Nacht nicht voll und ganz erfüllen konnten. Auch wollten sie Grundstücke, die abseits von den Wohnungen der Menschen liegen, Weinberge, Wiesen und Wälder annehmen sowie Gewässer, um Mühlen zu bauen – allerdings nur zum eigenen Gebrauch – und um Fischerei zu betreiben, ebenso Pferde und andere für die Bedürfnisse der Menschen nützliche Haustiere. Falls sie irgendwo Höfe für die Landwirtschaft errichten würden, so beschlossen sie, diese von Konversen bewirtschaften zu lassen, nicht von Mönchen, weil deren Wohnung gemäß der Regel das Kloster sein muss. Da jene heiligen Männer außerdem wussten, dass der heilige Benedikt seine Klöster nicht in Städten, nicht in befestigten Orten oder Dörfern gründete, sondern abseits vom Verkehr, gelobten sie, dies nachzuahmen.
Quelle: Statuten der Mönche von Citeaux, die aus Molesme kamen, Exordium Parvum, cap. 15, in: Einmütig in der Liebe. Die frühesten Quellentexte von Citeaux. Antiquissimi Textus Cistercienses, lateinisch-deutsch, hg. v. Hildegard Brehm/Alberich Marin Altermatt, Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 1, Langwaden ²1998, 87–91. © Bernardus-Verlag Langwaden
94. Herbord von Michelsberg: Leben und Werke des seligen Bamberger Bischofs Otto (1159) Der um 1160 geborene Otto war eine der führenden Gestalten im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts. 1102 übertrug ihm der Kaiser das Bistum Bamberg. Otto baute die bischöfliche Landesherrschaft systematisch aus. Im Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst bemühte er sich um Vermittlung und wirkte maßgeblich 1121/22 am dem Ausgleich mit, der im Wormser Konkordat seinen Niederschlag fand. Durch seine zwei Missionsreisen, 1124/25 und 1128, hatte er hohen Anteil an der Christianisierung Pommerns. Otto starb am 30. Juni 1139. Sein Grab befindet sich in der Benediktinerkirche Michelsberg bei Bamberg. 1189 wurde Otto von Bamberg heiliggesprochen. Früh schon erschienen drei Viten. Die folgenden Abschnitte stammen aus der 1159 auf dem Michelsberg entstandenen, in raffinierter Dialogform verfassten Biographie Herbords. Herbord zeichnet das Bild eines Bischofs, dessen Frömmigkeit, Empathie, Urteilsvermögen und organisatorisches Geschick sich wesentlich in der Zuwendung zu den Armen zeigt. Otto lebte asketisch und ließ das, was er etwa beim Essen einsparte, seinem Christus, d.h. nach Mt 25,31ff. (s. Text 12) Kranken und Notleiden, zukommen. Auffällig erscheint die persönliche Beziehung des Bischofs zu Gruppen von Armen. Zugleich zeichnete ihn eine reflektierte, differenzierte Wohltätigkeit aus, in die Arme (pauper) und Bettler (mendicus) einbezogen waren. Unterschiedliche Gruppen von Unterstützungsbedürftigen wurden in Listen erfasst und erhielten gut organisierte Hilfe. Während der extremen Hungersnot im Jahr 1125 bewährte sich die bischöfliche Vorratshaltung. Otto erwies sich dabei als vorausschauender und weitsichtiger Helfer, der Unterstützung in akuter Not mit Maßnahmen verband, welche die ein Stück Land besitzenden Armen in die Lage versetzen sollten, sich selbst zu helfen. 27. Zu einer Zeit trug er im Bischofshaus häuslich einen zufällig kurz zuvor gekauften Pelzmantel; er schaute und probierte, ob der zu seinem Körper passe. Und siehe, da kommt Bruno, seinerzeit Bischof von Straßburg, ein in Redegabe und Wesen recht heiterer Mann: ,,Gut“, sagt er, ,,das ist gut. Unser alter Herr hat einen guten Pelz.“ Er war am Rand der Kapuze und an den Ärmeln etwas mit Fuchspelz verbrämt; denn das Übrige bestand aus Hasenfell. Und der Bischof meinte: ,,So ist es; doch ich Elender, mein Fleisch kostet mich zwei-
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mal zwei Unzen.“ Siehst du, wie der, der so gütig zu anderen war, sparsam gegen sich selbst war? Weder in der Kleidung noch beim Essen wollte er den Besitz des Bistums je großzügig nutzen und kümmerte sich nicht um Vergnügen, nur um das Notwendige. Ja, es hieß, er hätte aus Demut meist seine abgetragenen Beinkleider und Haussocken zum Schneider geschickt. Als einige darüber murrten, sagte er: ,,Lasst mich, Brüder, lasst mich; die Sachen des Bistums sind die Almosen der Gläubigen; wir dürfen sie nicht für eitlen Aufwand verschwenden.“ 28. Dies war seine Sparsamkeit in der Kleidung; doch beim Essen hielt er sich so zurück, dass es kaum glaublich schien. Wir haben als sicher erfahren, dass er sich im Bischofsamt nie am Brot satt gegessen hat. Stets stand er nüchtern und fast noch hungrig vom Abendbrot und vom Frühstück auf und teilte alles, was angerichtet war, an Kranke, Arme und Bettler aus. Einmal herrschte zur Fastenzeit großer Mangel an Fischen, doch einer seiner Verwalter brachte ein kleines Stück Hecht, gekauft für zwei Schillinge, fein zubereitet, und bat bescheiden, er möge sich umso besser an dem Essen stärken, das so viel gekostet hätte. Da fragt ihn der Bischof: ,,Wie teuer?“ Der Verwalter: ,,Zwei Schillinge.“ Und der Bischof: ,,Das sei ferne, dass der armselige Otto heute allein so viele Pfennige verbraucht!“ Er stand vom Tisch auf und sagte: ,,Bring diese kostbare Speise meinem Christus,1 der mir noch kostbarer sein muss. Bring es“, sag ich, ,,einem Kranken, der im Bett liegt, oder einem Gelähmten. Denn ich bin kräftig und stärke mich an diesem Brot.“ So hatte er in seiner Pracht Überfluss an Kostbarkeiten. 29. Auch war es seine Gewohnheit, in der Klausur aus den Händen der Priester Geißelhiebe zu empfangen, ja, recht harte, so dass das Blut mitunter seine Lenden netzte. Auch der Vater im Himmel, der sagt: Wen ich liebe, weise ich zurecht und züchtige ihn,2 schlug ihn mitunter zur Erziehung mit seiner Rute. 30. Ich will über eine Geißelung berichten und den Grund und den Verlauf aufzeigen und was Gutes daraus entstand. Als er einmal zufällig im Dorf namens Büchenbach, begierig auf geistliche Dinge, die Liste der Schutzheiligen durchlas und bemerkte, dass im Altar des Kirchleins die Reliquien von vielen recht bedeutenden Heiligen geborgen waren, dachte er, sie an edlere Orte zu übertragen, wo sie von den Frommen beim Gottesdienst mit größerer Ehre verehrt würden. 1 2
Vgl. Mt 25,31ff. Apk 3,19.
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Deshalb nahm er einige Kleriker, denen er befahl, nach voraufgegangenem Fasten und Beten in frommer Absicht das Siegel des Altars zu lösen. Als alle zögerten und unschlüssig waren, ergriff er das eiserne Werkzeug und sagte: ,,Es sei ferne, dass ein solcher Schatz in so dürftiger Aufmachung bleibt.“ Als er zwei- oder dreimal mit dem Hammer auf das Siegel schlug, lief Blut aus dem Bleikästchen wie aus einem lebendigen Körper. Was tun? Der Bischof ist verwirrt, er wirft das Eisen weg, alle stutzen, man lässt das Unternehmen, er und alle Anwesenden fallen nieder zum Gebet; sie erbitten Verzeihung für die Tat. Doch der allmächtige Vater, weise und gütig, der sich anschickt, seinen Sohn zur Ordnung zu erziehen, berührt sofort seinen Otto mit so schwerem Siechtum, dass er sein Lebensende nahe wähnte. Als seine Krankheit immer heftiger wurde und er nicht mehr hoffte davonzukommen, rief er Wolfram, den Abt von St. Michael, den er für den treuesten und vertrautesten hielt, um, ob sich nun die Dinge zum Leben oder zum Tod entwickeln würden, die Treue und Gefolgschaft des treuen Mannes zu nutzen. Als der an seinem Bette stand und sich bemühte, seine Schmerzen auf alle mögliche Weise zu lindern, forderte der selige Otto als besonderer Freund monastischen Lebens leidenschaftlich den Mönchshabit; er sagte, er habe vor Jahren die Absicht gehabt, die Bischofsgewänder abzulegen und in der Armut des Geistes und Zerknirschtheit des Herzens Gott zu dienen unter dem Gehorsam des Meisters. Doch der Abt, ein verständiger und kluger Mann und wohl beraten, nahm die Gehorsamsleistung des Kranken an und lobte sein Verlangen und seine Bitte; aber das mit dem Habit verschob er geschickt. Nach einigen Tagen geht es dem Kranken besser. Eingedenk seines Gelübdes erbittet er den Mönchshabit, verfügt über seinen eigenen Besitz und fordert, man möge ihn ins Kloster tragen. Der Abt, froh über das Feuer seines Gelübdes, zieht einige Männer, die einen ehrenwerten Namen hatten, hinzu und verhandelt mit ihnen um dieses Wort. Allerdings meinten diese nach Kenntnisnahme der Umstände, es sei nicht von Nutzen, eine solche Persönlichkeit, die für die Kirche und die Armen Christi so notwendig sei, in das Schweigen eines Klosters zu überführen. Deshalb fragt er höflich den Bischof, ob er den ihm versprochenen Gehorsam erfüllen wolle. Jener antwortet darauf: ,,Im Namen dessen, der für uns Gottvater bis zum Tode gedient hat: Dir zu dienen, bin ich bereit.“ Der sagt ihm: ,,Und ich befehle dir in dessen Namen, heiliger Vater, unter der Last der übernommenen Leitung bis zum Tag deiner Abberufung zu verharren, zu Ehre und Nutzen der Kirche, zum Trost der Bedürftigen und Armen Christi, zur Unterstützung der Witwen und Waisen zu tun, was du jetzt tust, deine begonnenen Taten zu vollenden in guten Werken; um es kurz zu sagen: Tu, was du jetzt tust, wirke, was du jetzt wirkst für das ewige Leben und den hundertfachen Gewinn! Wer
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von den Mönchen ist von solcher Vollkommenheit, dass wir seine Verdienste und Armut mit deinem Reichtum vergleichen können?“ Daher hat nach dieser Zeit das Bistum Bamberg sich ganz den Almosen, ganz der gastlichen Aufnahme der Armen und Pilger zugewandt. Alles, was an Korn oder Lebensmitteln, was an Gold und Silber irgendwo und irgendwann zu finden war, wurde durch die Hände der Bedürftigen zu den Schatztruhen des Himmels überwiesen. 31. Zu dieser Zeit litt Ostfranken wegen der Missernten dieser Jahre unter großem Brotmangel. Selbst die Wohlhabenden wurden vom Hunger und der außerordentlichen Not gequält, die Armen und die Bettler lagen allenthalben tot auf Straßen und Äckern, so dass man sie wegen der Menge nicht auf den Friedhöfen bestatten konnte. Aber der Gottesmann, voll der Barmherzigkeit Gottes, eingedenk des Tobit,3 erfüllte selbst oder durch andere das Amt der Beerdigung. Sobald aber die Menge der Leichen keine ordentliche Beerdigung zuließ, hob er Massengräber aus und übergab mitunter Hunderte und Tausende gleichzeitig der Erde; er bezahlte Leute, die ihm bei dieser Arbeit ständig dienten. Er selbst aber suchte alles ab, Dörfer, Plätze und Häuser der Waisen; abends, morgens und mittags sowie auch zur Nachtzeit besuchte er die Kranken, stärkte die Hungernden und suchte mit aller Kraft nach Wegen, um gut zu handeln. 32. Eines Tages geschah es in der Mittagshitze, als die Menschen im Schatten und an kühlen Orten schliefen, dass der Bischof wie gewohnt seinen Kammerdiener herbeirief und zum Armenspital ging. Während er da ging, drang der Gestank eines unbestatteten Leichnams nicht weit vom Weg unter Brennnesseln in seine Nase. Er blieb stehen und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle: ,,Ich spüre“, sagte er, ,,dort liegt wohl ein menschlicher Körper.“ Der Diener geht vor und der Bischof folgt ihm, sorgfältig suchen sie, und endlich finden sie zwischen Unkraut und Gestrüpp in die Brennnesseln eingehüllt die Leiche einer Frau mit zerfleischtem und von Vögeln angenagtem Gesicht. Der Bischof sieht das Elend und schlägt sich an die Brust, er beweint das menschliche Geschick und erkennt die Geißel des göttlichen Gerichts. Zuletzt klagt er sich an; er nennt sich schuldbeladen, weil er an dem Tag, an dem sie vor Hunger starb, reichlich Brot besaß. Dann, nach einem kurzen Gebet für die Seele der Daliegenden, berührt er mit der Hand den Körper und ermuntert den Kammerdiener, mit ihm anzufassen. Doch der sagt: ,,Nein, Herr, schände nicht deine heiligen Hände! Ich laufe und hole andere, und wir werden sie begraben.“ Da sagt der Bischof: ,,Das sei ferne, dass ich mich ekele, 3
Vgl. Tob 1,20; 2,3ff.
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meine Schwester, die Tochter Adams, ja die Tochter der Kirche, anzufassen! Ich werde sie als Tote tragen, die ich als Lebende hätte nähren müssen. Doch du, hilf mir bitte in der Gewissheit, dass du von Gott und auch von mir Lohn empfangen wirst!“ Obgleich jenen Schauder und Gestank vertreiben konnten – wie er den Bischof sich plagen und abmühen und die Last auf seine Schultern laden sieht, besiegt er sich selbst, und mit geschlossener Nase und abgewandtem Gesicht lädt er das ungeliebte Gepäck auf den Rücken; in gemeinsamer Anstrengung mit dem Bischof tragen sie den stinkenden Leichnam auf den Friedhof; dabei singt und weint der Bischof: ,,Weh mir, Herr, ich habe schwer gesündigt in meinem Leben. Was soll ich Armer tun, wohin soll ich fliehen, wenn nicht zu dir, mein Gott? Erbarm dich meiner, wenn du kommst am Jüngsten Tag.“4 33. Wie er also sieht, dass die Zeit ihn drängt, öffnet er alle seine Vorratshäuser, lässt Brot backen, nährt die Bedürftigen. Und siehe, wie zu einem allgemeinen Jahrmarkt strömen aus dem ganzen Land die Scharen der Hungernden zusammen, die Pröpste und Almosenverteiler aus den Männer- und Frauenklöstern und alle, die der Mangel dieser Jahre bedrängte, sie strömen zu den Speichern des Bischofs und finden dort ohne Verzug die erhoffte Hilfe. Als dann die Ernte nahte und die zeitige Saat überall nach der Erntesichel verlangte, ließ er Tausende von bereitgehaltenen Sicheln an die Armen verteilen, die er das Jahr über ernährt hatte. Als alles am Festtag des hl. Jakobus geschafft war, sagte er: ,,Seht euren guten Vater, meine lieben Kinder; vor euch liegt das Land, beendet sind die Tage des Unheils.“ Und er nahm die Sicheln und gab je einen Pfennig dazu, jedem einen Pfennig und eine Sichel, Werkzeug und Wegzehrung. So verabschiedete er sie und entließ sie in Güte und Freude. Dies war seine Tätigkeit, seine Aufgabe in allen Jahren des Mangels und der Dürre. 34. Der Herzog von Polen, Boleslaw, und alle Edlen jenes Landes waren ihm in tiefster Freundschaft verbunden. Oft schickten sie ihm Grußbriefe, besuchten ihn in prächtigem Rahmen mit ihren Geschenken und vertrauten fest darauf, durch seine Verdienste und Gebete Hilfe erlangen zu können. Auch andere Fürsten und Wohlhabende aus allen Ländern, die die Kunde seiner Werke hörten, die von seinen Almosen und freigebigen Spenden an die Bedürftigen hörten, schickten ihm viele und oftmals ungeheuer große Geschenke; sie ersuchten ihn ergeben, Genossen und Teilnehmer an seinen Bemühungen zu werden. Einmal wurde ihm unter anderen Geschenken eine Bettdecke 4
Breviarium Romanum, Officium Defunctorum, zur Matutin, 2. Nocturn, 5. Responsorium.
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von unvergleichlichem Wert überreicht, gefertigt aus Brokat mit Hermelinpelz. Der Urheber des Geschenks hob hervor, dies sei ein Zeichen besonderer Freundschaft, und bat inständig, er möge es in Benutzung nehmen in Erinnerung an ihn, und er möge nicht über die Verschwendung klagen; bescheiden verspricht er, sobald es abgenutzt und ein wenig verbraucht sei, werde er eine andere Decke schicken. Doch der Bischof nimmt das Stück in Empfang, faltet es zusammen und wieder auseinander, schaut es sorgfältig an und übergibt es seinem Kleidermeister. Dann verneigt er sich würdevoll vor den Überbringern und Abgesandten als Vertretern des Stifters und sagt dankend: ,,Ich werde es im Gedenken an den Spender stets bewahren, so jedoch, dass es nicht Diebe stehlen noch Motten oder Rost es zerstören können.“ Ihm waren aber bekannt und namentlich eigens aufgezeichnet alle Gelähmten, Siechen, Krebskranken und Aussätzigen seiner Stadt, er erforschte selbst Art, Zeit und Beschaffenheit ihrer Krankheit und besorgte allen angemessene Hilfe und Pfleger. Er rief also seinen Kleidermeister und sagte: ,,Nimm dies gute und teure Stück für mich und bring es dem Gelähmten soundso“, und nannte dabei einen mit Namen, von dem er wusste, dass er, von anhaltenden Schmerzen gequält, von Geschwüren und Würmern starrte und vor dessen Gestank sich die ganze Nachbarschaft fürchtete. Jener ging hin und erfüllte den Auftrag des Bischofs, er bettete den Ärmsten mit dem erlesenen Stück, dass sich alle, die es sehen konnten, wunderten und verblüfft waren. Quelle: Herbord von Michelsberg, Leben und Werke des seligen Barmberger Bischofs Otto, in: Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte. Adalbert von Prag und Otto von Bamberg, hg. v. Lorenz Weinrich. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 23, Darmstadt 2005, 272–493: 289–293; 311–317. © wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
95. Hildegard von Bingen: Brief (1170) Hildegard von Bingen wurde 1089 in Bermersheim bei Alzey (Pfalz) als Tochter des Edelmanns Hildebert geboren. Im Alter von neun Jahren kam Hildegard auf den Disibodenberg bei Kreuznach zu Jutta von Sponheim. 1136 wurde Hildegard Juttas Nachfolgerin als Vorsteherin des Frauenklosters, das mit einem Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg verbunden war. 1141 erlebte Hildegard ihre erste große Vision, die in ihr Erstlingswerk Scivias (Wisse die Wege) mündete. 1147/48 erkannte Papst Eugen III. (gest. 1153) die prophetische Gabe der großen Seherin, der prophetissima teutonica, an. Dies eröffnete Hildegard die Möglichkeit, öffentlich als Predigerin, Mahnerin und Kritikerin von Kirche und Gesellschaft zu wirken. 1147/50 gründete Hildegard auf dem Rupertsberg bei Bingen ein Kloster, wohin sie mit ihrem Schwesternkonvent umzog. Sie starb am 17. September 1179. Wie der gesamte Kosmos sind auch Kirche und Gesellschaft für Hildegard hierarchisch gegliedert. Die Unterscheidung von Höherstehenden und Niedrigen, von Herrschenden und Beherrschten, Freien und Abhängigen ist konstitutiv für ihre sozialen Ordnungsvorstellungen. Dies trug ihr zum Teil harsche Kritik von Vertreterinnen und Vertretern der Armutsbewegung ein, für die sich in der Nachfolge des armen Christus soziale Unterschiede zumindest relativierten. Es scheint, dass die adlige Visionärin die Zuordnung von Adel, Besitz und Macht sowie von Machtlosigkeit und Armut spät als Problem erkannte. Darauf deutet der folgende Auszug aus einem Brief hin, den Hildegard wahrscheinlich nach 1170 verfasst hat. Die oder der Empfänger sind nicht bekannt. Deutlich ist aber, dass das Schreiben an Reiche adressiert ist. Hildegard setzt sich mit der Mahnung des Jakobusbriefs auseinander, die Reichen in der Gemeinde nicht zu bevorzugen (Jak 2,1– 13; s. Text 25). Unterschiede zwischen Reichen und Armen werden markiert. Dabei betont Hildegard – im Unterschied zu ihrem frühen Werk – die Ambivalenz von Reichtum und Macht. Zugleich findet das Gebot der Nächstenliebe seine Zuspitzung darin, dass es in spezifischer Weise auf den Armen als Ebenbild Gottes bezogen wird. Auch das ist zu beachten, was Jakobus vom Reichen und Armen sagt; [er spricht] nämlich über den Reichen, der reich mit Gold geschmückt und prächtig gekleidet ist. Denn der Reiche will um seines Geldes willen gewürdigt werden und wird in doppelter Absicht gut aufgenommen und geehrt, d.h. wegen Hilfe in der Not und aus Furcht vor der Macht, mit der er die Menschen häufig verletzt.
Brief
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Der Arme aber soll um der Liebe Christi willen aufgenommen werden und weil er jedes Menschen Bruder ist. Und diese [beiden] sollen nicht gleich behandelt werden, weil das ohne Unterscheidung geschähe. Denn wenn man den Reichen und den Armen auf demselben Platz sitzen lassen würde, würde es der Reiche verschmähen, das zu tun und der Arme davon abgeschreckt werden. Der Arme ist nämlich aus Liebe zu Gott aufzunehmen und [gut] zu behandeln, weil er der Bruder des [reichen] Mannes ist. Und obgleich Gott den Reichen gestattet, Reichtum zu besitzen und ihn dem Armen vorenthält, liebt Er dennoch die Person des Armen, die sein Abbild ist. Denn der Reiche beherrscht durch den Stolz auf seinen Reichtum die Menschen, denen er schaden kann, und er behandelt sie, als seien sie in ihrer Gestalt keine Menschen; und so wird der gute Ruf des Menschen, nämlich dass er ein Bild und Gleichnis Gottes ist, gelästert. Daher gebot Gott: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“1, d.h. richte die Aufmerksamkeit auf deine Erscheinung in ihm, bemitleide ihn bei allen Anlässen und bedauere alles Böse, das er getan hat, weil deine Person durch seine Übeltaten von ihm geschmäht wird. Wenn ein Mensch das tut, wirkt er nach dem Ausspruch des Gottessohnes, der sich mit Fleisch bekleidete, um sich des Menschen zu erbarmen, ein gutes Werk. Wer jedoch einen Armen geringschätzt, sündigt nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen den allmächtigen Gott, der eine menschliche Persönlichkeit ergriff, durch die Er das Gesetz übergab, von dem die Gesetzesübertreter angeklagt werden. Quelle: Hildegard von Bingen: Brief 378, in: Hildegard von Bingen: Im Feuer der Taube. Die Briefe. Erste vollständige Ausgabe, übersetzt u. herausgegeben von Walburga Storch OSB, Augsburg 1997, 563–565: 564. © Pattloch Verlag/Weltbild-Verlag
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Lev 19,18; Jak 2,8.
96. Drittes Laterankonzil: Kirchen für Aussätzige (1179) Das Dritte Laterankonzil fand im März 1179 im römischen Lateran unter Vorsitz von Papst Alexander III. (1100/1105–1181) statt. Die Einberufung des Konzils zielte insbesondere darauf, die innerkirchliche Spaltung zu heilen, die durch die Existenz von Gegenpäpsten entstanden war. Kanon 23 geht auf die Situation der Leprosen vor allem unter seelsorgerlichen Gesichtspunkten ein. Unter der Voraussetzung, dass die an Lepra Erkrankten abgesondert von den Gesunden lebten, erlaubte ihnen das Konzil die Einrichtung von eigenen Kirchen und Friedhöfen sowie die Betreuung durch einen Priester. Der Konzilsbeschluss befreite Leprosenanstalten zugleich von einzelnen Zehntabgaben. Mit diesen Entscheidungen legte das Konzil wesentliche Grundlagen für den institutionellen Ausbau einer spezifischen Hilfe für Leprosen, die von normalen Unterstützungseinrichtungen weitgehend ausgeschlossen waren. Ende des 12. und insbesondere im 13. Jahrhundert kam es vermehrt zur Gründung von Leprosorien. 23. Obwohl der Apostel sagt, den schwächeren Gliedern sei umso größere Ehre zu erweisen,1 gibt es Leute in der Kirche, die das Ihre suchen und nicht, was Jesu Christi ist. Sie erlauben den Aussätzigen, die nicht mit Gesunden zusammenleben und nicht mit anderen zur Kirchen kommen können, weder Kirchen und Friedhöfe zu haben, noch durch den Dienst eines eigenen Priesters Hilfe zu erfahren. Dies hat offensichtlich mit christlicher Frömmigkeit nichts mehr zu tun. Deshalb bestimmen wir, getragen vom apostolischen Geist der Güte: Wo so viele Menschen in Gemeinschaft zusammenleben, dass sie imstande sind, sich eine Kirche mit Friedhof einzurichten und einen eigenen Presbyter zu haben, wird ihnen dies ohne irgendeinen Widerspruch erlaubt. Sie mögen jedoch darauf achten, das Pfarrrecht alter Kirchen nicht anzutasten. Was ihnen aus Güte zugestanden wird, darf nach unserem Wunsch nicht auf eine Schädigung der Rechte anderer hinauslaufen. Außerdem ordnen wir an, dass sie vom Ertrag ihrer Gärten und von ihrem Jungvieh keinen Zehnten abgeben müssen. Quelle: Conciliorum Oecumenicorum Decreta/Dekrete der Ökumenischen Konzilien, besorgt v. Guiseppe Alberigo u.a., Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517), im Auftrag der Gör1
Vgl. 1Kor 12,23f.
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res-Gesellschaft hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u.a. 2000, 222f. © Ferdinand Schöningh
97. Petrus Valdes: Glaubensbekenntnis (1180/1181) Valdes (Valdesius) – der Name Petrus wurde später beigefügt – war ein wohlhabender Kaufmann in Lyon. Ein einschneidendes Bekehrungserlebnis vermutlich während einer Hungersnot 1176/77 führte dazu, dass Valdes begann, ein Leben in freiwilliger Armut zu führen und öffentlich zu predigen. Valdes und seine Anhänger – die „Armen von Lyon“ oder Waldenser – predigten das Armutsideal der Urkirche (vita apostolica). Als innerkirchliche Armutsbewegung strebten sie besonders in den Anfängen keine Ordensstrukturen und eigene Hierarchien an. Zudem suchten sie keinen prinzipiellen Dissens mit der kirchlichen Lehre und Ordnung. Auf dem Dritten Laterankonzil 1179 erhielten sie eine Bestätigung ihrer Lebensform der freiwilligen Armut und die Erlaubnis, nach Zustimmung des örtlichen Bischofs zu predigen. 1180 forderte Erzbischof Guichard (Erzbischof von Lyon: 1165–1180) die Unterzeichnung eines Bekenntnisses, das Lehrsätze der Katharer verwarf. Zudem nahmen Valdes und seine Anhänger eine Lebensordnung (propositum vitae) an, in der sie sich zur Einhaltung nach den evangelischen Räten (Armut, Keuschheit, Gehorsam) verpflichteten. Der Passus, der das Leben in Armut betrifft, ist im Folgenden wiedergegeben. Konflikte über die Predigttätigkeit führten dazu, dass Valdes und seine Anhänger aus Lyon vertrieben und mit der Entscheidung des Konzils von Verona 1184 als Ketzer bezeichnet und mit den Katharern (s. Text 106) gleichgestellt wurden. Über die letzten Lebensjahre von Valdes ist nichts bekannt. Mit Sicherheit ist sein Tod vor 1218 anzusetzen. Auch glauben wir fest und bestätigen, dass ein künftiges Gericht sei, an dem jeder einzelne für das, was er hier im Fleische getan hat, Lohn oder Strafe empfangen wird. Dass Almosen und Opfer und die übrigen guten Taten den gläubigen Toten nützen können, bezweifeln wir nicht. Und weil der Glaube nach dem Apostel Jakobus „ohne Werke tot“ ist (Jak 2,26), haben wir der Welt abgesagt und haben unseren Besitz, wie es der Herr geraten hat, den Armen gegeben und beschlossen, arm zu sein, so wie wir uns nicht sorgen um den morgigen Tag noch darum, Gold oder Silber oder etwas derartiges von jemand entgegenzunehmen außer der täglichen Nahrung und Kleidung. Auch haben wir den Vorsatz gefasst, die evangelischen Räte wie Gebote zu halten. Wir bejahen aber voll und ganz und glauben, dass [auch] diejenigen, die in der Welt bleiben, ihren Besitz behalten und damit
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Almosen spenden und andere gute Taten tun, die Gebote des Herrn befolgen und selig werden. Quelle: Gustav Adolf Benrath (Hg.), Wegbereiter der Reformation, Wuppertal 1988, 2–4: 3f. © R. Brockhaus Verlag
98. Johanniterorden: Hospitalordnung (1181) Der Johanniterorden wurde im Zusammenhang der Eroberung Jerusalems durch das Heer des Ersten Kreuzzuges 1099 gegründet. Er entstand aus einem Hospital, das Kaufleute aus der süditalienischen Stadt Amalfi Mitte des 11. Jahrhunderts für Pilger ganz in der Nähe der Grabeskirche errichtet hatten. Getragen wurde das Hospital, das Johannes dem Täufer geweiht war, von einer Bruderschaft christlicher Krankenpfleger einfachen Standes, denen ein gewisser Gerhard als erster Meister vorstand. In diese Bruderschaft traten nach der Eroberung Jerusalems Ritter, Edelleute und Priester aus Westeuropa als Brüder ein, die sich der Pflege Kranker und Verwundeter sowie der Unterstützung Hilfebedürftiger verschrieben. Die Mitglieder der Gemeinschaft wurden aufgrund ihres Dienstes Hospitaliter oder nach dem Namenspatron der Einrichtung Johanniter genannt. Ab Mitte des 12. Jahrhunderts bildete sich innerhalb der Johanniter ein militärischer Zweig, d.h. ein sog. Ritterorden, aus, um sich vor Heiden zu schützen bzw. sie zu bekämpfen. Papst Paschalis II. (gest. 1118) erkannte die Gemeinschaft der Johanniter 1113 an. 1154 erfolgte die Anerkennung als eigener Orden. Das im Herzen Jerusalems gelegene Hospital wurde Mitte des 12. Jahrhunderts großzügig ausgebaut und verfügte schnell über weitere abhängige Hospitäler an europäischen Wallfahrtsorten. Das Jerusalemer Hospital genoss aufgrund seines geschulten Personals und seines hohen Niveaus der medizinischen und pflegerischen Versorgung einen ausgezeichneten Ruf. Impulse arabischer Medizin und griechisch-byzantinischer Heilkunst wurden aufgenommen und weiter entwickelt. In dem Hospital fanden bis zu 2000 Kranke Platz, die von 140 Ärzten, Pflegern und Pflegerinnen rund um die Uhr betreut wurden. Geistliches Leben, religiöse Begleitung, medizinische Behandlung und Pflege waren miteinander verbunden. Besonderer Wert wurde auf Hygiene und gesunde Ernährung gelegt. Zur Sorge für Kranke traten andere diakonische Aufgaben und Einrichtungen: u.a. ein Findelhaus für von ihren Müttern ausgesetzte Babys, Unterstützung armer Mütter und ihrer Kinder, materielle Hilfe bei der Eheschließung armer Männer und Frauen, Freikauf von Christen aus der Sklaverei. Behandlung, Unterbringung, Versorgung und Unterstützung waren kostenlos und wurden ohne Ansehen der Person jedem Kranken und Hilfebedürftigen gewährt. Die über rund einhundert Jahre gemachten Erfahrungen der Hospitaliter bündelte der adlige, achte Ordensmeister Roger des Moulins
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(gest. 1187) – er gehörte dem militärischen Zweig der Johanniter an – in einer Hospital-Regel. Zu den Grundsätzen der Hospitalordnung vom 14. März 1181 (oder 1182) gehört, dass die Kranken als „die Herren“ wahrgenommen und die Ritter als deren „Diener“ verstanden werden – eine „kulturelle Revolution“ (Ernst Staehle). Die Kranken und Armen sind die „Armen Christi“. Außer im Jerusalemer Hospital galt die Regel des Meisters Roger des Moulins auch in anderen Häusern, die der Orden im Heiligen Land wie in Europa unterhielt. Erster Teil Eingangsprotokoll Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Im Monat März am Sonntag Mittfasten des Jahres 1181 nach Christi Geburt. Ich, Roger, ein demütiger Diener der armen Kranken, saß im Generalkapitel in Gegenwart der Kleriker und Laien und Konversenbrüder, die um mich saßen. Zur Ehre Gottes, zur Verherrlichung der Heiligen, zur Förderung geistlichen Lebens und zum Nutzen der Kranken haben wir diese Gesetze erlassen, um sie mit Eifer ohne allen Unterschied einzuhalten. Wir gebieten denen, die jetzt leben, und denen, die später kommen, sie gehorsam zu befolgen. I. Kapitel Vor allem gebieten wir, dass unsere Kirchen, wo wir sie auch haben, gemäß den Vorstellungen des Priors mit schönem Ornat geschmückt sind. Selbstverständlich soll der Prior die Anordnungen über die Bücher, Messgewänder, Kelche, Räucherpfannen, Priester und Kleriker sowie das ewige Licht und den Kirchenschmuck treffen. II. Kapitel Danach bestimmen wir mit Zustimmung aller Brüder, dass vier gelehrte und weise Ärzte zum Dienst für die Armen des Hospitals in Jerusalem angestellt werden, die Kenntnisse von der Beschaffenheit des Urins und vielerlei Krankheiten haben, sodass sie darüber beraten und entsprechend der Krankheit Medizin verabreichen können. III. Kapitel Wir setzen fest, dass die Betten der Kranken eine solche Länge und Breite haben sollen, dass sie darin ruhen können, und jedes Bett mit einem eigenen Tuch, welches dazu gehört, ausgestattet sei. IV. Kapitel Es wird bestimmt, dass jeder Kranke im Spital einen Pelz zum Anziehen hat und zwei Filzschuhe, um zur Verrichtung seiner Notdurft
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in eine abgesonderte Kammer hin- und zurückzugehen und eine kleine wollene Mütze. V. Kapitel Weiterhin wird bestimmt, dass man Kinderwiegen bereitstellt für die Kinder von Pilgerfrauen, die im Hause geboren werden, damit sie allein und getrennt liegen und nicht durch ihre Mütter irgendwelchen Schaden erleiden. VI. Kapitel Außerdem gebieten wir, dass die Toten auf eine Bahre gebettet werden, wie die Brüder, und mit einem roten Tuch, das ein weißes Kreuz schmückt, zugedeckt werden. VII. Kapitel Ferner bestimmen wir, dass die Pfleger überall, wo wir in der Christenheit ein Spital für die Kranken haben, gerne dienen und deren Bedürfnisse ohne Klagen und Widerreden voll und ganz befriedigen und für ihre Wohltaten eines Platzes im Himmel teilhaftig werden. Wenn aber jemand diese Bestimmung des Meisters des Hospitals missachtet, so sollen die übrigen Brüder die Kranken behüten und ihn dem Meister melden, der ihn nach dem Recht des Hauses bestrafen wird. VIII. Kapitel Auch bestimmt der Meister des Hospitals mit dem Rat der Brüder, dass der Prior von Frankreich dem Spital zu Jerusalem jährlich hundert Leintücher gibt, um die Bettlaken der armen Kranken zu erneuern und auch jene, welche in seinem Priorat um Gottes Liebe für die Armen des Hospitals gespendet worden sind. […] XVIII. Kapitel Und die Brüder sollen Tag und Nacht gerne den Kranken wie ihren Herren dienen. Darüber hinaus ist im Generalkapitel hinzugefügt worden, dass auf jeder Station des Hauses neun Servienten zu deren Diensten bereitgehalten werden, die auf Anordnung der Brüder demütig den Kranken die Füße und die Köpfe waschen, sie mit Tüchern trocknen, die Betten machen, die verordneten Speisen bereiten, jenen ihr Getränk darreichen und in allen Dingen zum Nutzen der Kranken gehorchen.
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Zweiter Teil Die Bestätigung Meister Rogers, was das Haus tun soll. Einleitung Die gesamten und einzelnen Brüder vom heiligen Haus des Hospitals St. Johannis zu Jerusalem, und zwar die gegenwärtigen wie die zukünftigen, sollen wissen, dass die guten Gebräuche dieses Hospitals folgende sind: I. Kapitel Als erstes soll das heilige Haus des Hospitals kranke Männer und Frauen gütig aufnehmen und Ärzte haben, denen die Sorge für die Kranken am Herzen liegt und die den für die Kranken notwendigen Sirup herstellen. Nach den guten Gepflogenheiten des heiligen Hauses sollen die Kranken an drei Tagen in der Woche frisches Fleisch vom Schwein oder Hammel bekommen; jene aber, welche dieses Fleisch nicht essen können, sollen Hühnerfleisch erhalten. II. Kapitel Zwischen zwei Kranken liegt ein Schafspelz, den sie tragen sollen, wenn sie zur Toilette gehen, und ein Paar Stiefel. Das heilige Haus des Hospitals soll jedes Jahr eintausend dicke Schafsfelle an die Armen verteilen. III. Kapitel Auch nimmt das heilige Haus selbst von den Eltern ausgesetzte Kinder auf und ernährt sie. Wenn aber von den Armen Männer und Frauen heiraten wollen, die nichts haben, womit sie ihre Hochzeit feiern können, so werden ihnen zwei Schüsseln oder die Portionen von zwei Brüdern gegeben. IV. Kapitel Und das Haus selbst soll einen Bruder Schuster halten, der drei dienende Brüder hat, welche die alten Schuhe reparieren, die ihnen um der Liebe Gottes willen für die Armen gegeben wurden. Und der Almosenier soll zwei dienende Brüder halten, welche alte Kleider reparieren, die den Armen Jesu Christi um der Liebe Gottes willen gegeben werden. V. Kapitel Auch soll der Almosenier jedem Gefangenen, gleich nachdem er aus dem Gefängnis entlassen ist, zwölf Denare geben.
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VI. Kapitel Auch sollen fünf Kleriker jede Nacht für die Wohltäter des Hauses den Psalter lesen. VII. Kapitel Und jeden Tag sollen dreißig arme Menschen, unter denen die fünf Kleriker sind, einmal am Tage an der Tafel für Gottes Lohn essen. Aber die fünfundzwanzig essen in Gegenwart des Konvents. VIII. Kapitel Und an drei Tagen in der Woche sollen sie ein Almosen an alle Armen, ein Brot und Gekochtes an alle Armen geben. IX. Kapitel Während der Fastenzeit sollen sie jeden Samstag dreizehn Arme dorthin kommen lassen, ihnen die Füße waschen und jedem ein Hemd, Hose und Schuhe geben. Und drei Priestern oder drei von ihnen sollen sie drei Denare und an jeden anderen zwei Denare geben. X. Kapitel Das ist das eigene im heiligen Haus des Hospitals festgelegte Almosen ohne Berücksichtigung der bewaffnete Brüder, welche das heilige Haus ehrenvoll unterhalten soll, und mehrere andere Almosen desselben Hauses, die man nicht alle gesondert aufzählen kann. Und die Wahrheit und das Zeugnis dieser vorgenannten Sache bezeugen im Angesicht der Brüder der Meister des Hospitals, Roger des Moulins, der Prior Bernhard und das ganze Generalkapitel. Quelle: Hospitalordnung von Roger des Moulins, abgedruckt in: Ernst Staehle, Geschichte der Johanniter und Malteser, Bd. 1: Die Hospitaliter im Königreich Jerusalem. Die kulturelle Revolution und Verteidigung des Erbes im Königreich Jerusalem, Gnas 2002, 111–116. © Herbert Weishaupt Verlag, A 8342 Gnas
99. Radulfus Ardens: Typologie von Almosen (um 1200) Der Frühscholastiker Radulfus Ardens, über den wenig bekannt ist und der aus dem Umfeld von Gilbert von Poitiers (um 1080–1155) stammt, veröffentlichte im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts das Speculum Universale, eine theologische Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens. Das aus 14 Büchern bestehende Gesamtwerk rezipiert den facettenreichen antiken Begriff der Tugend und entwirft eine allgemeine (Bücher I–V) sowie spezielle (Bücher VII–XIV) Tugendlehre. Der durchgehende Bezug auf Tugenden hält die Handlungs- und Praxisrelevanz der theologischen Reflexionen stets im Blick. Radulfus entwickelte eine differenzierte Tugendtypologie, die er mit Dimensionen der Seele verbindet. Seine Unterscheidungen in Verstandestugenden, affektive sowie äußere Tugenden dokumentieren, dass die Reflexion auf das ethische Selbstverständnis und die menschliche Handlungspraxis in dem durch wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt geprägten 12. Jahrhundert komplexer wurde. Die Intention (vgl. c. 86) des Handelnden zieht – ähnlich wie bei Abelaerd (s. Text 104) – die theologische Aufmerksamkeit auf sich und drängt die Bedeutung religiöser Selbstkasteiungen zurück (vgl. c. 96). Das Buch XI. bietet eine Typologie von Almosen. Sie geht mit ihren Unterscheidungen in Bereiche auf die Differenzierungen menschlicher Handlungspraxis ein und dokumentiert, dass sich die Handlungsmöglichkeiten erweitert haben. Radulf vertritt die Auffassung, dass die Gabe selbst im Gericht nach den Werken für den Geber „betet“ (c. 92). Kap. 48: Über das Almosen Das Almosen übertrifft also die übrigen Werke der Liebe. Darüber heißt es bei Jesus Sirach: Lass das Almosen im Gewand des Armen verschwinden, und deine Gabe selbst wird für dich bei Gott bitten.1 Denn so wie das Wasser das Feuer auslöscht, so löscht das Almosen die Sünde aus.2 Und der Herr sagt im Lukas-Evangelium: Doch was übrig ist, gebt als Almosen, und alle Dinge sind für euch rein.3 Und ebenso: Macht euch Freunde mit dem Mammon der Ungerechtigkeit, damit ihr nach dem Tod in die ewigen Wohnungen aufgenommen werdet.4 Und David sagt: Er verteilte und gab den Armen, und seine Ge1
Vgl. Sir 29,15. Vgl. Sir 3,30 (33). 3 Lk 11,41. 4 Lk 16,9. 2
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rechtigkeit bleibt für immer.5 Und Laurentius: „Die Reichtümer der Kirche, die du suchst, haben die Hände der Armen in die himmlischen Schatzkammern davongetragen.“6 Und Johannes der Täufer: Bringt Früchte hervor, die der Buße angemessen sind;7 wer zwei Gewänder hat, der gebe dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso.8 Beda: „Über das Verteilen der zwei Gewänder und der Speisen ist eine Vorschrift erteilt worden. Zu einer Frucht, die der Buße angemessen ist, gehört nämlich, dass wir nicht nur die äußerlichen und weniger notwendigen Dinge mit den Nächsten teilen, sondern auch die lebensnotwendigen selbst wie das Essen, wodurch wir leben, und das Gewand, mit dem wir bekleidet sind. Daraus ersieht man, welchen großen Wert das Almosen hat, das im Blick auf die verdienstvolle Früchte vor allen anderen Dingen geboten wird.“9 Daher wird auch beim Gericht allein dies, wenn es getan wurde, zur Verherrlichung, wenn es nicht getan wurde, dagegen zur Verdammnis angerechnet, während alle anderen guten Werke nicht erwähnt werden. […] Kap. 49: Wie viele Arten von Almosen es gibt Das Almosen aber ist entweder geistig, körperlich oder geschäftlich [negotialis]. Das geistige aber ist das, was der Seele zuträglich ist, das körperliche das, was dem Körper nützt, das geschäftlich das, was bei einer geschäftlichen Angelegenheit hilfreich ist. Das erste Almosen ist das größte, das zweite ist groß, das dritte gering. Es gibt aber zwölf Arten des geistigen Almosens, nämlich: dem, der uns Unrecht tut, vergeben; den Irrenden verbessern, den Ungebildeten belehren, den Traurigen trösten, den Kraftlosen stärken, den Schwachen unterstützen, fremde Verfehlungen zudecken, den Guten ermuntern, Ratlose beraten, Streitende versöhnen, für Bedürftige beten, für sie Messen feiern. […] Kap. 63: Wieviele Arten des körperlichen Almosen es gibt Ferner gibt es zehn Arten des körperlichen Almosens, nämlich: den Hungernden speisen, den Durstigen tränken, den Nackten bekleiden, den Wanderer beherbergen, den Kranken besuchen, den Gefangenen trösten, die, die zum Tod geschleppt werden, befreien, Sklaven freilassen, Müde auf dem Weg tragen, Tote begraben. […] 5
Ps 112,9. Vgl. Petrus Cantor, Verbum abbreviatum 2, 13 (CCCM 196, 655). 7 Lk 3,8. 8 Lk 3,11. 9 Petrus Cantor, Verbum abbreviatum 2, 7 (CCCM 196, 640), hier unter dem Namen Gregors d. Gr. überliefert; vgl. Gregorius Magnus, Hom. in Evangelia 2, 11 (CCSL 141, 162). 6
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Kap. 71: Über die achte Art Die achte Art des körperlichen Almosens besteht darin, Sklaven freizulassen. Allerdings scheint dieses Almosen weniger ein Almosen als vielmehr Gerechtigkeit zu sein. Weil nämlich alle Menschen von Natur aus gleich sind, scheint es hochmütig und ungerecht zu sein, wenn ein Mensch seinen – d.h. ihm gleichen – Mitmenschen als Sklaven hält. […] Kap. 74: Über das geschäftliche Almosen. Über seine erste Art Das geschäftliche [negotialis] Almosen besteht darin, einem bedürftigen Bruder bei äußeren Angelegenheiten zu helfen. Die erste Art dieser Almosen ist es, einem Bedürftigen Geld zu leihen. […] Kap. 75: Die zweite Art besteht darin, dass du deinem mittellosen Schuldner gegenüber nicht unzugänglich bist, sondern ihm vielmehr barmherzig Zeit lässt oder ihm, wenn er nicht zahlen kann, die Schulden vollständig erlässt. […] Kap. 76: Die dritte Art ist die, von unsrem Besitz wegen Gott etwas unentgeltlich zu verschenken, um diejenigen zu unterstützen, die durch Schulden, durch das Joch der Mächtigen, durch das Unglück eines Schiffbruchs oder eines anderen Schadens oder durch irgendwelche drückenden Lasten bei Handelsgeschäften bedrängt werden, oder als Mitgift für Mädchen und Waisenmädchen oder – was noch wertvoller ist – für die Verleihung des Schleiers, für die Ausbildung von Waisen und Kindern der Armen in irgendeinem Handwerk, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten oder – was noch besser ist – das Schreiben erlernen und Mönch werden oder in einen heiligen Orden eintreten können und derartige Dinge, die bei Gott kein geringes Verdienst haben. Diese drei bisher genannten Arten des Almosens aber werden mit dem Talent des eigenen Besitzes vollbracht. Kap. 77: Die vierte Art besteht darin, mit dem Talent des Wissens und der Urteilsfähigkeit die in weltlichen Geschäften Unerfahrenen gut zu beraten. […]
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Typologie von Almosen
Kap. 78: Die fünfte Art besteht darin, mit dem Talent der Beredsamkeit Waisen, Witwen und Armen unentgeltlich wegen Gott in der Gerichtsverhandlung beizustehen. […] Kap. 79: Die sechste Art besteht darin, mit dem Talent des ehrenvollen Standes und der Unterscheidungsfähigkeit sich für Waisen, Witwen und Arme in der Gerichtsverhandlung einzusetzen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. […] Kap. 80: Die siebte Art ist die, mit dem Talent der Vertrautheit mit den Mächtigen sich für Waisen, Witwen, Notleidende und Elende zu verwenden. […] Kap. 81: Die achte Art besteht darin, mit dem Talent der eigenen Macht Waise, Witwen und Elende aus der Hand ihrer Unterdrücker zu befreien. […] Kap. 82: Die neunte Art ist die, mit dem Talent der eigenen handwerklichen Fertigkeit oder des eigenen Wissens anderen zu helfen, andere darin zu unterrichten oder mit ihrer Hilfe Bedürftigen unentgeltlich zu dienen. […] Kap. 83: Die zehnte Art besteht darin, mit dem Talent deiner Unterscheidungsfähigkeit Waisen, Witwen und Elenden zu helfen und wegen Gott ihren Besitz unter deine Aufsicht und Fürsorge zu stellen, zu bewachen, zu schützen und zu mehren. […] Kap. 84: Die elfte Art ist die, mit dem Talent der umsichtigen Leitung für den von Verlust oder Zerstörung bedrohten Besitz deines Nächsten Sorge zu tragen und das Vieh, das das Saatgut frisst, zu vertreiben. […] Kap. 85: Die zwölfte Art besteht darin, mit dem Talent deiner eigenen Stärke deinem Nächsten bei Hinfälligkeit und Unzulänglichkeit zu helfen. […] Kap. 86: Aus welchem Grund man eine Wohltat erweisen oder ein Almosen geben soll Man muss sich klar machen, aus welchem Grund man Wohltaten erweisen oder Almosen geben soll. Denn es gibt nur wenige, die Wohl-
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taten in derjenigen Absicht erweisen, mit der sie erwiesen werden sollen, und deswegen den Dank der Belohnung verlieren. Die einen nämlich geben, um zu bestechen, wie jene, die Richtern oder Frauen Geschenke machen, was aber nicht Wohltat, sondern eher Übeltat genannt werden muss. Andere geben, um mehr zurückzuerhalten, was man eher als Jagd denn als Wohltat bezeichnen muss. […] Andere geben, um gelobt zu werden […]. Andere geben, um zu Ehrentiteln zu gelangen, was nicht Freigiebigkeit, sondern Ehrgeiz oder Simonie zu nennen ist. Andere geben, um einen weltlichen Nachteil abzuwenden, die ganz sicher nicht schenken, sondern eher versuchen, sich selbst freizukaufen. Andere geben, um den Ekel vor dem Bettelnden loszuwerden […]. Andere schenken, weil sie nicht in der Lage sind, etwas zurückzubehalten. Sie schenken nicht, sondern verschwenden. […] Andere geben, um gute Werke zu unterdrücken. […] Daher haben all die Genannten nicht die rechte Absicht beim Schenken, es sei denn, dass sie zufällig ihre irdischen Absichten auf Gott ausrichten […]. Und wer daher seine Absicht beim Schenken auf das Ansehen bei seinem Mitmenschen ausrichtet, verliert gewöhnlich sowohl den Lohn als auch den Dank. Aber auch wenn sie den Lohn oder den Dank nur manchmal und nur in geringem Maß erstreben, so bleibt, weil doch die Absicht vergänglich und nichtig war, auch der Lohn oder der Dank vergänglich und nichtig. Deshalb muss der Christ in allen Wohltaten seine Absicht auf Gott ausrichten […]. Alles also, was wir geben oder tun, sollen wir zur Ehre Gottes tun […]. Kap. 87: Wem man geben soll Wem man aber schenken soll, zeigt der Herr, wenn er im Evangelium sagt: Gib jedem, der bittet.10 Er, der „jedem“ gesagt hat, hat niemanden ausgenommen. Gib daher jedem, der bittet, dem Guten ebenso wie dem Schlechten, dem Reichen wie dem Armen, dem Unbekannten wie dem Bekannten, dem Feind wie dem Freund, dem Fremden wie dem, der zum eigenen Haus gehört. Daher sagt der Herr: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist,11 der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Schlechte.12 Das Werk der Barmherzigkeit aber besteht darin, Gott nachzuahmen und jedem, der bittet, zu geben. Wenn du Gott nachahmst, gib auch den Schlechten, gib den Undankbaren. Denn Gott lässt es auch für die Schlechten regnen, gewährt auch den Verbrechern die Sonne, den Piraten das Schiff, er ret10
Lk 6,30. Lk 6,36. 12 Mt 5,45. 11
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tet Menschen und versorgt die Lasttiere ihrer Feinde mit dem Lebensnotwendigen, immer in der einen Absicht, zu nützen. […] Kap. 88: Was man wem geben soll Was soll man wem geben? Das, was er braucht, und das, was du geben kannst. Wenn nämlich der Herr sagt: Wer dich bittet, dem gib,13 sagt er nicht: „was er erbittet“ oder „wie viel er erbittet“, sondern „was du kannst“. Wer nämlich tut, was er kann, hat das Gebot erfüllt. Wenn du ihm kein Silber geben kannst, gib ihm Brot. Wenn du ihm kein ganzes Brot geben kannst, gib entweder ein halbes oder einen Teil. Wenn du ihm keinen Becher Wein geben kannst, gib einen Becher frisches Wasser und du wirst deinen Lohn nicht verlieren. Wenn du weder dies noch jenes geben kannst, gib einen Segen, gib Zurechtweisung, gib ein Gebet und du wirst ihm viel mehr geben, als wenn du ihm etwas Vergängliches, um das er bat, geben würdest. Niemand ist dazu zu arm. Diese Wohltätigkeit ist, wenn äußere Güter fehlen, allein mit dem Wohlwollen des Herzens zufrieden. […] Deshalb gib dem einen Rat, der einen Rat sucht, leiste – soweit du kannst – dem Hilfe, der Hilfe braucht, gib dem Materielles, der eine materielle Wohltat nötig hat. Gib dem Schlechten Zurechtweisung, dem Guten Ermunterung, gib dem Reichen, dass er nicht auf seinen Reichtum vertraut, gib dem Armen, dass er seine Notlage erträgt, gib deinem Freund Gemeinschaft, gib dem Feind Geduld und Frieden. Wenn er das Doppelte braucht, gib ihm das Doppelte; wenn er sowohl schlecht als auch arm ist, erweise ihm eine körperliche und eine geistige Wohltat. Und gib einem jeden, was er am meisten braucht. Keinem aber gib, woran er offensichtlich keinen Mangel hat. […] Kap. 89: Wieviel wir geben sollen Wieviel sollen wir geben? Im Maß der Notwendigkeit für den Bedürftigen und im Maß deiner Möglichkeit? Wenn du nicht seiner Bedürftigkeit entsprechend geben kannst, gib entsprechend deiner Möglichkeit; behalte nur das Lebensnotwendige für dich und deine Familie zurück, was darüber hinausgeht, gib den Armen. Aber auch von den lebensnotwendigen Dingen selbst schenke manchmal etwas her nach Maß und Zeit. […] Nicht alles soll man daher geben, sondern das Überschüssige, es sei denn, dass du vollkommen und stark genug bist, jede Not geduldig zu ertragen. Auch sollst du nicht alles, was du verschenkst, nur einem zukommen lassen, sondern an viele verteilen, gemäß dem Wort: Er verteilte und gab den Armen.14 Du kannst nämlich nicht nur den einen 13 14
Lk 6,30. 2Kor 9,9.
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über die Notwendigkeit hinaus gerecht beschenken, solange du siehst, dass ein anderer Not leidet. Wer also den einen über die Notwendigkeit hinaus beschenkt, sündigt in dreifacher Weise, weil er das Anvertraute nicht recht verteilt, weil er über die Notwendigkeit hinaus dem einen bis zum Hochmut und zur Verschwendung aufdrängt und weil er zulässt, dass viele Bedürftige zugrunde gehen; man muss sich deshalb sehr davor hüten, dass wir nicht alles nur einem geben, womit mehreren geholfen werden könnte. Auch sollen wir unsere Gabe entsprechend dem Maß der empfangenden Person bemessen […]. Kap. 90: Was für eine Gabe man geben soll Was für eine Gabe soll man geben? Keine schädliche, keine bloßstellende, keine hochmütig machende, keine verdächtige und keine überflüssige, sondern eine angemessene, willkommene und nützliche. Eine schädliche Gabe schenkt aber, wer dem Wahnsinnigen ein Schwert, dem Wütenden einen Stock, dem Unerfahrenen die Verantwortung und Unwissenden die Seelsorge gibt. Eine bloßstellende Gabe schenkt der, der jemandem eine Gabe gibt, die auf sein Laster oder seine Krankheit hinweist, wie der, der dem Trinker Wein oder dem Aussätzigen eine Salbe gibt. Eine hochmütig machende Gabe schenkt der, der jemandem eine Gabe gibt, die ihn zum Hochmut bewegt, wie der, der dem Unverständigen Ehre, dem Armen ein teures Gewand schenkt […]. Eine verdächtige Gabe gibt der, der einer fremden Ehefrau kostbare Geschenke schickt, um ihr zu gefallen. Eine überflüssige Gabe gibt der, der jemandem etwas schenkt, was er im Überfluss hat, wie dem Reichen Geld oder dem Gelehrten Bildung. Eine angemessene Gabe gibt der, der jemandem eine seiner Lebensweise, seinem Geschlecht, seinem Stand und seinem Beruf angemessene Gabe gibt, wie dem Studenten ein Buch oder dem Soldaten ein Schild. Wer aber dem Analphabeten ein Buch oder einer Frau ein Schild gibt, gibt eine unangemessene Gabe. Eine willkommene Gabe gibt der, der ein Geschenk zuteilt, das dem, dem es zugeteilt wird, gefallen wird. Eine nützliche Gabe gibt der, der eine Gabe schickt, von dem er glaubt, dass sie dem Empfänger gut tut. Daher sagt der Philosoph: „Viel willkommener ist es, wenn wir das geben, was jemandem fehlt, als das, woran er Überfluss hat, und das, was jemand sucht und nicht findet, als das, was er überall sehen kann.“15 Die Gaben sollen weniger großartig als vielmehr annehmbar und geeignet sein, weniger wertvoll als vielmehr ausgesucht und erlesen […].
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Seneca, De beneficiis I,12,3.
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Kap. 91: Wann man geben soll Wann soll man geben? Was den Gebenden anbetrifft, sollen wir geben, solange wir leben, solange die Zeit zum Säen ist […]. Das Erste und Beste ist, dem Wunsch des Bedürftigen zuvorzukommen, weil geschrieben steht: Glücklich ist, wer für den Bedürftigen und Armen Verständnis hat, der Herr wird ihn am Tag des Unheils befreien.16 Das zweite aber ist, dem Bittenden sofort zu geben. […] Unwillkommen ist eine Wohltat, die lange in den Händen des Gebers hängen bleibt, die ungern zum Geben verwendet wird und so das Geben wie ein Sich-entreißen erscheinen lässt; aber auch wenn eine Verzögerung eintritt, müssen wir insgesamt aufpassen, dass es nicht so scheint, als würden wir erst hin und her überlegen. Am willkommensten sind die bereitwilligen, ganz selbstverständlichen und entgegenkommenden Wohltaten, wo es keine Verzögerung gibt, außer beim Empfangenden. […] Kap. 92: An welchem Ort man geben soll An welchem Ort soll man geben? An einem abgesonderten und verborgenen Ort, sowohl wegen dem Geber als auch wegen dem Empfänger. Dem Gebenden nämlich ist geboten: Achtet darauf, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen erweist, so dass ihr von ihnen gesehen werdet,17 sondern lasst das Almosen im Gewand des Armen verschwinden, und es selbst wird für euch beten.18 […] Kap. 93: Wovon ein Almosen gegeben oder eine Wohltat erwiesen werden soll Wovon soll ein Almosen oder eine Wohltat gegeben werden? Vom eigenen, nicht vom fremden Besitz. Daher: Brich mit dem Hungernden dein eigenes Brot,19 nicht fremdes. […] Kap. 94: In welcher Reihenfolge man ein Almosen geben oder eine Wohltat erweisen soll In welcher Reihenfolge soll man ein Almosen oder eine Wohltat erweisen? Die Reihenfolge, die man in der Liebe einhalten soll, soll man auch beim Geben von Almosen und beim Erweisen von Wohltaten einhalten. Denn bei uns müssen wir mit dem Almosen beginnen. Was nützt es nämlich, wenn du anderen gegenüber barmherzig bist, dir selbst gegenüber aber unbarmherzig? Daher sagt der Prophet:
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Ps 41,2. Mt 6,1. 18 Vgl. Sir 29,15. 19 Vgl. Jes 58,7. 17
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Tröste dein Herz, damit du Gott gefällst.20 Danach soll man den Übrigen ein Almosen geben, je nachdem, wie ein jeder uns im Glauben, im Fleisch, durch Familienbande, durch Bruderschaft oder durch ein anderes Band verbunden ist. […] Kap. 95: Auf welche Weise man ein Almosen geben oder eine Wohltat erweisen soll Auf welche Weise soll man ein Almosen oder eine Wohltat geben, damit wir nicht böswillig verweigern oder gewaltsam aufdrängen? […] Wir sollen unsere Gabe also nicht gewaltsam aufdrängen; denn was jemand nicht mehr bei sich haben will, zeigt an, dass es eher Last als Gabe ist. Wenn wir aber dennoch einen sehr armen Menschen sehen, der aber unsere Gabe aus Scham nicht annehmen will oder weil er glaubt, dass die Sache, die wir ihm geben wollen, für uns selbst lebensnotwendig ist, ist es ein Zeichen der Liebe, ihn zum Annehmen zu nötigen. Auch soll man mit bereitem Willen, mit Heiterkeit und mit Demut geben und freundliche Worte hinzufügen. […] Kap. 96: In welchem Maß das Almosen reichlich Frucht bringt Das Almosen bringt aber reichlich Frucht nicht nur im Blick auf den geistigen und ewigen, sondern auch im Blick auf den zeitlichen Reichtum. Von daher heißt es im 2. Brief an die Korinther: Der dem Sämann den Samen gibt und Brot zur Nahrung, wird auch euch Samen geben und ihn vervielfältigen und das Wachstum der Früchte eurer Gerechtigkeit vermehren, so dass ihr in allen Dingen reich sein werdet.21 Ebenso heißt es im 1. Brief an Timoteus: Denn die körperliche Übung nützt nur wenig, die Frömmigkeit dagegen für alles und enthält die Verheißung des jetzigen und des zukünftigen Lebens.22 Nicht so viel nämlich vermögen die Kasteiung, die Verachtung des Fleisches, die Erziehung zu häufigem Wachsein, Fasten, die Härte der Lebensführung und die bleiche Farbe des Gesichts. Dies sind gewiss Zeichen eines christlichen Philosophen. Wertvoller aber ist es, wenn du in deinem Innersten der Barmherzigkeit anhängst, wenn du nichts begehrst, wenn du nichts fürchtest, im Wissen, dass die Frömmigkeit zusammen mit Genügsamkeit ein großer Gewinn ist. Die Frömmigkeit aber beinhaltet die Verheißung des jetzigen und des zukünftigen Lebens. Daher heißt es: Sucht zuerst das Reich Gottes, und dies alles wird euch hinzugegeben.23 Ebenso heißt es: Noch nie habe ich einen
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Sir 30,24. 2Kor 9,10f. 22 1Tim 4,8. 23 Mt 6,33. 21
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Gerechten verlassen gesehen und seine Kinder um Brot betteln.24 Ebenso: Die alles wegen Gott verschenken, werden in dieser Welt hundertfach empfangen,25 d.h. eine Vervielfachung aller Reichtümer, die es in dieser Welt gibt. […] Quelle: Radulfus Ardens, Speculum universale, Buch XI, cap. 48–96. Der lateinische Text, der der hier abgedruckten Übersetzung zu Grunde liegt, ist nur in mittelalterlichen Handschriften zugänglich. Als Druckfassung liegt vom Speculum universale bisher lediglich die kritische Edition der Bücher I–V vor: Radulfi Ardenti Speculum universale, Ed.: Claudia Heimann/Stephan Ernst (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 241), Turnhout 2011. Die kritische Edition der Bücher VII– XIV wird derzeit am Lehrstuhl „Theologische Ethik – Moraltheologie“ in Würzburg erstellt. Das Kapitelverzeichnis des Speculum universale ist abgedruckt bei: Johannes Gründel, Das „Speculum universale“ des Radulfus Ardens (MGI 5), München 1961. Der hier zugrunde liegende lateinische Text des Almosentraktats basiert nicht auf allen das Buch XI enthaltenden Handschriften (zur Beschreibung der Hss vgl. die Einleitung zur Edition von Buch I–V, Seite XXXVIII–CVIII), sondern nur auf der Leithandschrift P (Codex Paris Nat. lat. 3240; der Almosentraktat umfasst fol. 76ra– 87vb). Diese Handschrift ist nach den Erfahrungen mit der Edition von Buch I–V durchaus verlässlich. Erstellung der lateinischen Textgrundlage und Übersetzung: Stephan Ernst/Tobias Janotta.
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Ps 37,25. Vgl. Mt 19,29.
100. Jakob von Vitry: Das Leben der Maria von Oignies (1215) Maria von Oignies (1177–1213) gilt als die erste große Begine der Geschichte. Die Vita des Jakob von Vitry stellt das früheste Zeugnis der Beginenbewegung dar. Sie wurde zum Modell der Darstellung von weiblichen Heiligen und hatte einen prägenden Einfluss auf die mittelalterliche Mystik. Maria wurde um 1177 in Nivelles (Frankreich) geboren. Sie stammte aus einer wohlhabenden Brabanter Familie und wurde mit 14 Jahren verheiratet. Sie bewog ihren Mann zu einem enthaltsamen Eheleben. Die beiden verkauften ihren Besitz zugunsten der Armen und pflegten in einem Spital in Willambroc 15 Jahre lang Leprakranke. Nach dem Tod ihres Mannes bezog Maria 1207 in Oignies bei Charleroi (im heutigen Belgien) eine Eremitenzelle und wurde zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft von Frauen, die ein apostolisches Leben führen wollten, ohne in ein Kloster einzutreten. Jakob von Vitry, geb. zwischen 1160 und 1170, einer der bedeutendsten Prediger seiner Zeit, seit 1216 Bischof von Akko und ab 1229 bis zum seinem Tod 1240 Kardinalbischof von Tuskulum nahe Rom, trat um 1211 in das Augustinerchorherrenstift in Oignies ein. Er wurde von Maria stark beeinflusst und verfasste zwei Jahre nach deren Tod die Vita Mariae Oigniacencis. Die Entwicklung der Städte und des prosperierenden Handels sowie der sog. Frauenüberschuss begünstigten die Bewegung von Frauen, die ein Leben der konsequenten Nachfolge Christi leben wollten. Die Bewegung von Beginen, d.h. von Frauen, die mit ihrer spezifischen Spiritualität und kommunitären Lebensform zwischen Welt und Kloster („Semireligiöse“) Mystik und Diakonie, Kontemplation und Arbeit miteinander verbanden, breitete sich von den südlichen Niederlanden und dem Rheinland aus (s. Text 111). Karitativ waren sie vor allem in den Bereichen der Erziehung und der Krankenpflege tätig. Zunächst lebten die Frauen frei, ohne offizielle Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, später schlossen sie sich in Vereinigungen mit gemeinsamer Ordnung zusammen. Jakob von Vitry stellt das Leben und Wirken Marias von Oignies ausdrücklich in den Zusammenhang der religiösen Bewegung von Frauen, die „aus Liebe zum himmlischen Reich“ ein Leben in Keuschheit und Armut in bewusstem Kontrast zum zunehmenden Reichtum führten und durch Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. Die Beschreibung des heiligen Lebens Marias dient als Beispiel der Erbauung und Ermahnung. Darüber hinaus sucht Jakob ge-
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gen die Auffassung zeitgenössischer „Ketzer“ (Katharer) zu zeigen, dass radikales Christsein in der Kirche möglich ist. Der Bischof von Toulouse will Marias Geschichte aufgeschrieben haben, um sie im Kampf gegen die Ketzer zu verwenden. Zugleich hat die Vita die Funktion, die Beginen mit ihrem neuen Konzept von Heiligkeit vor innerkirchlicher Kritik in Schutz zu nehmen. Wie sehr Jakob von Vitry die neue Bewegung der religiösen Frauen am Herzen lag, zeigt sich darin, dass er beim Papst für die Beginen die Erlaubnis erwirkte, „in einem Haus zusammenzuleben und einander wechselseitig zum Guten zu ermuntern“. Prolog Der Herr hieß seine Jünger die Brotbrocken aufsammeln,1 um sie nicht verderben zu lassen. Was heißt Brotbrocken nach dem Mahl aufsammeln anderes als sich das Beispiel der Heiligen nach ihrem Tod ins Gedächtnis rufen, damit die Körbe gefüllt werden, das heißt, damit die Armen und Geringen2 durch das Beispiel der Väter erquickt werden? […] Als daher der heilige und verehrungswürdige Vater, der Bischof der Kirche von Toulouse, von Häretikern aus seiner Stadt vertrieben, auf der Suche nach Hilfe gegen die Feinde des Glaubens in die Gebiete Galliens gelangt war, und schließlich, gleichsam angezogen vom Duft und vom Ruf gewisser Leute, die in wahrer Demut für Gott kämpften, bis in das Bistum Lüttich hinabgekommen war, hörte er nicht auf, den Glauben und die Frömmigkeit besonders der heiligen Frauen zu bewundern, die mit höchster Hingabe und Hochschätzung die Kirche Christi und die Sakramente der heiligen Kirche verehrten. Diese Frauen werden in ihrem Land von fast allen entweder vollständig verachtet oder aber gering geachtet. Und er wünschte sehr, dass einiges, was er sah und hörte, nicht verloren ginge, sondern wie die Brotbrocken gesammelt würde. Du (Bischof von Toulouse) hast nämlich gesehen, und du hast dich darüber gefreut, wie in den Liliengärten des Herrn an verschiedenen Orten eine Vielzahl von Scharen heiliger Jungfrauen für Christus die Lockungen des Fleisches verschmähten, und wie sie sogar aus Liebe zum himmlischen Reich die Reichtümer dieses Welt verachteten, in Armut und Demut ihrem himmlischen Bräutigam anhingen und durch ihrer Hände Arbeit einen kargen Lebensunterhalt verdienten: Selbst wenn ihre Eltern Reichtümer in Fülle besaßen, vergaßen sie doch selbst ihr Volk und ihr Elternhaus und wollten lieber Enge und Armut aushalten als Reichtümer, die auf unrechte Art erworben waren, im 1 2
Vgl. Joh 6,12f. Vgl. Mt 15,27.
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Überfluss besitzen oder sich der Gefahr aussetzen, unter protzigen Weltlichen zu leben. Du hast gesehen, und du hast dich darüber gefreut, mit welchem Eifer heilige und Gott dienende ältere Frauen die Keuschheit der jungen Mädchen bewahrten und wie sie sie in dem reinen Vorhaben, allein den himmlischen Bräutigam zu ersehnen, durch heilvolle Ermahnungen unterwiesen. [… ] und du hast gesehen und dich gefreut, dass heilige Witwen, die Anteil nehmen an den Bedürfnissen der Heiligen, die die Füße der Armen waschen, die Gastfreundschaft üben,3 die sich eifrig der Werke der Barmherzigkeit widmen, die sechzigfache Frucht verdienen.4 […] Buch I 1. Ihre Kindheit Es lebte im Bistum Lüttich in einer Stadt namens Nivelles ein Mädchen, das sowohl durch sein Leben als auch durch seinen Namen gnadenreich war, Maria, die von einfachen Eltern abstammte, obwohl sie Reichtümer und viele vergängliche Güter in Fülle hatten; dennoch zogen die weltlichen Güter sie von klein auf nicht an. […] 3. Der Gesinnungswandel ihres Ehemanns, und dass sie unter Verzicht auf alles keusch lebten Als sie aber nicht lange mit ihrem Ehemann Johannes so in der Ehe gelebt hatte, sah der Herr die Niedrigkeit seiner Magd an5 und erhörte das tränenreiche Flehen der Bittenden. Denn Johannes wurde eingegeben, dass er Maria, die er zunächst als Ehefrau hatte, nun als eine ihm Anvertraute haben sollte: Dem Reinen vertraute er die reine Magd an, damit sie einen tröstenden Hüter habe und überließ ihr einen treuen Fürsorger, damit sie umso freier dem Herrn dienen könnte […] Je mehr er sich aber in Bezug auf die fleischliche Liebe von ihr trennte, desto mehr wurde er mit ihr durch Zuneigung in einer Ehe mit geistlicher Bindung verbunden. […] Diesen gab der Herr in seinem Haus und innerhalb seiner Mauern einen Ort und einen besseren Namen als den von Söhnen und Töchtern,6 weil sie nach der seligen Art des Martyriums im Feuer nicht brannten, angesichts der Menge an Verlockungen den eigenen Willen opferten, neben einem Fluss dürsteten, angesichts eines Mahles hungerten und dadurch ihre fleischlichen Lüste mit dem Pflock der Furcht des Herrn bannten, ja sogar sich für den Herrn vollkommen erniedrigten, und bei Nivelles, in einem Ort, der
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Vgl. Röm 12,13. Vgl. Mt 13,8;23. 5 Vgl. Lk 1,48. 6 Vgl. Jes 56,5. 4
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Willambroc heißt, für den Herrn eine Zeitlang einer Gruppe von Leprakranken dienten. […] 12. Ihre Handarbeit Die verständige Frau wusste, dass der Herr den ersten Eltern nach dem Sündenfall, und ihretwegen auch ihren Kindern, Buße auferlegt hat, das heißt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (Gen 3,19). Sie arbeitete deshalb mit ihren Händen, so lange sie konnte, um ihren Körper durch Buße zu quälen, um den Bedürftigen das Lebensnotwendige zu beschaffen und um für sich selbst Essen und Kleidung zu erwerben,7 was sie ja alles für Christus aufgegeben hatte. […] Buch II 2. Der Geist der Furcht Zuerst wollen wir den Geist der Furcht betrachten: die Furcht Gottes ist ja nicht nur der Anfang der Weisheit,8 sondern die Hüterin alles Guten. […] Sie (Maria) hatte aber aus dem Geist der Furcht solch große Liebe zur Armut gewonnen, dass sie sogar kaum das Lebensnotwendige behalten wollte. Daher nahm sie sich eines Tages vor zu fliehen, um unter Fremden unbekannt und verachtet an den Türen zu betteln, um nackt dem nackten Christus zu folgen, indem sie mit Josef den Mantel9 alles Zeitlichen, mit der Samariterin den Krug,10 mit Johannes das feine Gewand11 zurückließ. Denn sie dachte oft an die Armut Christi und erinnerte sich daran. Für ihn gab es bei seiner Geburt keinen Raum in der Herberge,12 er hatte keinen Ort, sein Haupt niederzulegen,13 er hatte auch kein Geld, um seine Steuern zu bezahlen,14 er wollte sich von Almosen ernähren und in fremden Häusern als Gast aufgenommen werden. Sie entbrannte bisweilen in solchem Verlangen nach Armut, dass sie, in alte Tücher gekleidet, schließlich von den vielen Tränen ihrer Freunde kaum zurückgehalten werden konnte, wenn sie einen Beutel mit sich genommen hatte, um Almosen aufzubewahren, und einen kleinen Becher, um daraus Wasser zu trinken oder in ihm vielleicht eine Speise entgegenzunehmen, wenn sie ihr beim Betteln gegeben würde. Denn als die Arme Christi den Ihrigen Lebewohl gesagt hatte und sich in diesem Aufzug mit ihrem Beutel und ihrem Becher auf den Weg machen wollte, da entstand bei ih7
Vgl. Dtn 10,18. Vgl. Spr 1,7. 9 Vgl. Gen 39,12–18. 10 Vgl. Joh 4,28. 11 Vgl. Mk 14,51f. 12 Vgl. Lk 12,7. 13 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58. 14 Vgl. Mk 12,15. 8
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ren Freunden, die sie in Christus liebten, so großer Schmerz und so großes Weinen, dass sie, von Gefühlen des Mitleids erfüllt, wie sie war, es nicht ertragen konnte. Sie wurde also von zwei Motiven hinund hergerissen und zog es vor, obwohl sie den Wunsch hatte zu fliehen und mit Christus zu betteln, wegen ihrer Brüder und Schwestern zu bleiben, denen ihre Abwesenheit unerträglich schien. Sie tat also, was sie konnte, denn sie verblieb nachher in solch großer Liebe zur Armut, dass sie einmal das Tischtuch, auf dem sie ihr Brot aß, oder andere Tücher aus Leinen zerschnitt, den einen Teil davon für sich behielt, den anderen an die Armen verschenkte. Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht und Acker mit Acker verbindet bis zur Ortsgrenze,15 die ihr vom Geld nicht genug bekommen und doch keinen Gewinn daraus ziehen könnt,16 die ihr für euch Schätze sammelt in der Erde, wo Grünspan und Motte zerstörerisch wirken, wo Räuber ausgraben und stehlen,17 immer sammelnd und durch Not immer weniger werdend: Was fehlte jemals dieser Armen Christi, die immer den Reichtum mied, und die sogar trotzdem immer noch etwas hatte, womit sie andere beschenken konnte? Immer liebte sie die Armut und immer verschaffte ihr der Herr umso reichlicher das Notwendige. […] 3. Der Geist ihrer Frömmigkeit Nicht nur durch den Geist der Gottesfurcht hütete sie sich vor dem Bösen in jeder Gestalt,18 sondern war durch den Geist der Frömmigkeit allem Guten zugeneigt.19 […] Vielen Kranken brachte der Herr durch ihre Gegenwart nicht nur Trost und Geduld,20 sondern oft auch auf Grund ihrer Verdienste die körperliche Gesundheit. Einmal nämlich wurden zu ihr verletzte Jungen gebracht und geheilt, indem sie ihnen die Hände auflegte. Ein Junge aus Oignies litt an einer gefährlichen Krankheit, denn durch sein Ohr floss beständig Blut aus seinem Kopf, und als er durch keine ärztliche Kunst geheilt werden konnte, ist er durch die Medizin ihrer Gebete und Handauflegung für die Gesundheit vollständig wiedergewonnen worden. Ihn brachte seine Mutter zur Kirche und sagte Gott und der Magd Christi Dank für ihren Sohn.
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Vgl. Jes 5,8. Vgl. Sir 5,9. 17 Vgl. Mt 6,19. 18 Vgl. 1Thess 5,22. 19 Vgl. 2Tim 2,21; 3,17. 20 Vgl. Röm 15,4. 16
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Quelle: Jakob von Vitry, Das Leben der Maria von Oignies. Thomas von Cantimpré. Supplementum, Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Iris Geyer, Turnhout 2014, 65–68, 77–81, 102f., 110–113, 121. © Brepolis
101. Caesarius von Heisterbach: Dialog über die Wunder (1220) Caesarius wurde um 1180 in oder bei Köln geboren. Er wuchs in Köln auf und absolvierte in der damals größten deutschen Stadt ein theologisches Studium. Er entschloss sich, Mönch zu werden und trat 1199 in das Zisterzienserkloster Heisterbach bei Königswinter ein, wurde dort Novizenmeister und später vermutlich Prior. Er verstarb wahrscheinlich um 1240 in Heisterbach. Der Dialogus Miraculorum (Dialog über die Wunder) ist Caesarius Hauptwerk. Es entstand zwischen 1219 und 1223. Die als Dialog zwischen einem Novizenmeister und einem Novizen konzipierte Schrift zielt darauf, dem Novizen die Grundlagen der monastischen Lebensform nahe zu bringen und ihn zur Abkehr von der Welt und zum Eintritt ins Kloster zu bewegen. In über 800 nach Themenkreisen geordneten Erfahrungsbeispielen und moralisierenden Wundergeschichten (Exempla) fängt Caesarius von Heisterbach die facettenreiche Welt zu Beginn des 13. Jahrhunderts ein. Der folgende Auszug aus der wahrscheinlich 1220 verfassten sog. 4. Distinktion (Themenkreis) stellt heraus, dass das 1192 gegründete Kloster Heisterbach schon früh hohe Bedeutung für die Umgebung gewann. Als 1197 eine große Hungersnot herrschte, führte das Kloster tägliche Armenspeisungen durch. Ähnliches berichtet Caesarius von anderen Klöstern – verbunden mit der wunderbaren Erfahrung, dass hohe Ausgaben für Arme nicht zur Verarmung eines Klosters führen, sondern im Gegenteil dazu, dass die Mönchsgemeinschaft reich beschenkt wird. Die Geschichten verdeutlichen in exemplarischer Weise die Rolle, die Klöster im Hochmittelalter bei der Unterstützung Armer spielten. Kapitel 65 Über die Freigebigkeit des Klosters im Peterstal zur Zeit einer Hungersnot. Im Jahre 1197 der Menschwerdung des Herrn herrschte eine sehr große Hungersnot, die sehr viele Menschen auslöschte. Unser Kloster kam vielen zur Hilfe, obwohl es damals selber arm und jung war. So haben diejenigen gesagt, welche die Zahl der Armen vor der Klosterpforte sahen, dass einmal an einem Tag 1500 Almosen (sc. Speisungen) ausgeteilt wurden. Der Herr Gevard, der damals Abt war, ließ an den Tagen vor der Ernte, an denen es jeweils erlaubt war, Fleisch zu essen,1 in drei Öfen 1
Das heißt, außer freitags.
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Dialog über die Wunder
einen Ochsen mit Gemüse kochen, das überall gesammelt worden war, und mit Brot an die einzelnen Armen austeilen, ebenso Eier und andere Beilagen. So wurden mit Gottes Hilfe alle Armen, die kamen, bis zur Ernte am Leben erhalten. Wie ich aus dem Munde des schon genannten Abtes Gevard gehört habe, fürchtete er, dass das Getreide für die Armen vorzeitig [sc. vor der Ernte] ausgehen könne. Deshalb tadelte er den Bäcker, dass dieser die Brote allzu groß mache. Der aber erwiderte: „Glaubt mir, Herr, im Teig sind die Brote sehr klein, aber im Backofen wachsen sie. Sie werden klein hineingeschoben und kommen groß heraus.“ Derselbe Bäcker, nämlich Bruder Konrad der Rote, der noch lebt, hat mir erzählt, dass nicht nur die Brote im Ofen wuchsen, sondern auch das Mehl in den Säcken und Krügen. Darüber wunderten sich nicht nur alle Bäcker, sondern auch die Armen, die dort gespeist wurden. Sie sagten: „Gott und Herr, woher kommt dieses ganze Korn?“ Im selben Jahr hat der reiche Gott die Nächstenliebe seiner Diener auch in diesem Leben hundertfach2 vergolten: Denn Magister Anderas von Speyer hat mit dem Geld, das er am Hofe des Kaisers Friedrich, aber auch in Griechenland gesammelt hatte, ein großes Gut in Plittersdorf3 gekauft und es uns als Almosen gegeben. Woher kommt solch ein Willensentschluss, wenn nicht von Gott? Kapitel 66 Von der Menschlichkeit, die das Kloster Himmerod im gleichen Jahr den Armen erwies und wie es viel mehr von Gott zurückerhielt. Zur gleichen Zeit [sc. 1197] hat unser Mutterkloster Himmerod eine nicht geringere Nächstenliebe den Armen erwiesen, ja eine um so viel größere Liebe, wie es reicher war [sc. als Heisterbach]. So sehr bedrückte der Hunger die Armen, dass schwangere Mütter im Gebüsch vor der Klosterpforte niederkamen. Christus aber, eingedenk seiner Verheißung: „Gebt, und es wird Euch gegeben“4, schickte denen, die groß im Geben waren, ein großes Almosen: Gerhard, der Probst des Klosters des heiligen Simeon in Trier5, vermachte ihnen nämlich sterbend circa 600 Pfund Silber, wovon er 100 zum Wohl der Armen an der Pforte bestimmte. Als der Pförtner diese für ihn bestimmten6 100 Pfund empfing, kaufte er dafür nicht Weinberge und Äcker, sondern ebenso viele Malter Weizen in Koblenz, womit er die Armen völlig ausreichend bis zur Ernte ernähren konnte. 2
Vgl. Mk 10,29; Mt 19,29. Dorf am Rhein, südlich von Bonn. 4 Lk 6,38. […] 5 An der Porta Nigra. 6 „Seine“ (suas) bedeutet nur, dass der Zuständige sie erhielt, mit der Auflage, sie für die Armen zu verwenden. 3
Dialog über die Wunder
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Kapitel 67 Von einem Kloster in Westfalen, dem Gott die Ausgaben für die Armen doppelt erstattet hat. Bruder Gottschalk von Volmarstein7, einer unserer Mönche, hat mir erzählt, er sei nach jenen Zeiten, als das Leben teuer war [sc. von 1197], dem cellerarius eines unserer Klöster in Westfalen begegnet. Auf die Frage, wohin er eile, erwiderte dieser: „Zum Tauschen. Vor der Ernte haben wir nämlich wegen der Not der Armen unser Vieh geschlachtet, unsere Kelche und Bücher als Pfand gegeben. Jetzt aber hat uns der Herr einen Menschen geschickt, der uns so viel Gold geschenkt hat, dass es dem doppelten Wert der Verausgabten entspricht. Und jetzt gehe ich hin, um es gegen Silber einzutauschen. Damit will ich unsere Pfänder zurückkaufen und unseren Viehbestand wiederherstellen.“ Diese drei Beispiele seien erzählt gegen diejenigen, welche die Ordensleute wegen Habgier verurteilen. NOVIZE: Jetzt verstehe ich erstmals, was das bedeutet: „Gebt, und es wird Euch gegeben“8. MÖNCH: Du wirst es vollkommen erst im künftigen Leben verstehen, wenn Du für den irdischen Besitz, den Du um Christi Willen verlassen oder den Armen in seinem Namen gegeben hast, das Himmelreich erhältst, das den Auserwählten seit der Erschaffung der Welt bereitet ist. An diesem Tag wird der Menschensohn Dir und den übrigen Auserwählten aufzählen, was Du gegeben hast, und Du wirst das von ihm Versprochene erhalten. Was wird er nämlich sagen? „Ich war hungrig und ihr gabt mir zu essen“, und was diesen Worten noch folgt.9 Die Vollkommenen aber werden zusammen mit dem Herrn Gericht halten. NOVIZE: Wenn so viel Gutes dem Almosengeben folgt, dann wehe denen, die in dieser kurzen Lebenszeit der Habsucht nachjagen. Quelle: Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum/Dialog über die Wunder, 2. Teilband, eingeleitet v. Horst Schneider, übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, Fontes Christiani 86/2, Turnhout 2009, 837–843. © Brepols Publishers, Turnhout
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Burg an der Ruhr. Lk 6,38. 9 Vgl. Mt 25,35–37. 8
102. Franziskus von Assisi: Nicht-bullierte Regel (1221) Giovanni Bernardone, mit dem Beinamen Franziskus, wurde 1181/82 als Sohn eines reichen Tuchhändlers in Assisi geboren. Er erhielt eine gute Ausbildung, um als Kaufmann in das väterliche Geschäft eintreten zu können. Während kriegerischer Auseinandersetzungen, an denen sich Franziskus beteiligte, hatte er eine Traumerscheinung, mit der ein Bekehrungsprozess einsetzte, der schließlich 1206 zum Bruch mit dem Vater, zur freiwilligen Enterbung und zur Loslösung von weltlichen Bindungen führte. Franziskus beschloss, als „Nackter dem nackten Gekreuzigten“ nachzufolgen und der „Herrin Armut“ zu dienen. Nach und nach schlossen sich andere seiner Lebensweise an. Papst Innozenz III. (1160/61–1216) erkannte die Bewegung an und erteilte ihr die Erlaubnis, in gemeinschaftlicher Armut zu leben und als Wanderprediger zur Buße zu rufen. Zugleich verpflichtete er die Gemeinschaft zum Gehorsam gegenüber dem Papst und band so laikale Teile der Armutsbewegung des 13. Jahrhunderts in die Kirche ein. Ende 1209 entstand die ursprüngliche Regel der Bruderschaft (Protoregula), die verlorengegangen ist. Die Einführung des Generalkapitels, an dem ursprünglich alle Brüder vertreten waren, stellte ein wichtiger Schritt der Institutionalisierung dar. Diesem Gremium kam auch die Aufgabe zu, die Regel kontinuierlich weiterzuentwickeln. Unter Mitwirkung von Franziskus, der sich seit 1220 aus der Leitung des Ordens zurückgezogen hatte, wurde 1221 die sog. Nicht-bullierte Regel verabschiedet. Eine überarbeitete Fassung wurde schließlich 1223 vom Papst approbiert (Bullierte Regel). Franz zog sich immer mehr zu Gebet und Meditation in die Einsamkeit zurück. Körperlich geschwächt und krank kehrte er nach Assisi zurück. Er starb am 3. Oktober 1226 in Portiuncula bei Assisi, in der Kapelle, die Ausgangspunkt der Bewegung des Franziskus war. Die im Folgenden abgedruckten Abschnitte aus der Regula non bullata (1221) belegen, wie sehr die leitenden Vorstellungen des Franziskus eine dezidierte Absage an die aufkommende Geldwirtschaft und eine radikal-kritische Reaktion auf die sich verschärfenden sozialen Gegensätze bedeuteten. Das Armutsgebot ist durch ein absolutes Geldverbot konkretisiert. Jede Stellung, die Machtausübung in sich schließt, wird abgelehnt. Bettel, Seelsorge, Mission und Studium wurden zu zentralen franziskanischen Aufgaben in den Städten, in denen sie sich niederließen. Als „Mindere“ sind die Brüder zu einem Leben mit den Ärmsten und Aussätzigen verpflichtet. Für Franziskus war bezeichnend, dass der Arme nicht lediglich in seiner Funktion für das Seelen-
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heil der Reichen, sondern in seiner besonderen Bedürftigkeit wahrgenommen wurde. Besitzverzicht war für ihn Ausdruck von Freiheit. Armut war nun nicht mehr nur ein individuelles Ideal wie bei traditionellen Orden, sondern Kennzeichen einer gemeinsamen Lebensform und -organisation. Vor allem die Forderung nach kollektiver Armut war es dann auch, die den Gegenstand des franziskanischen Armutsstreits bildete, der nach dem Tod Franziskus' einsetzte. Bereits 1230 gestattete Gregor IX. (um 1160/1170–1241) die Nutzung von gespendeten Gegenständen und die Annahme von Geldalmosen, sofern Geld von Beauftragten verwaltet wurde. Ab 1245 wurden geschenkte Immobilien eigentumsrechtlich dem Heiligen Stuhl zugerechnet. Der rund 100 Jahre währende und erbittert geführte Streit trug mit dazu bei, die franziskanischen Ideale und die neue Achtung der Armen insgesamt zu unterminieren. Kap. 1: Dass die Brüder leben sollen ohne Eigentum, in Keuschheit und in Gehorsam Regel und Leben dieser Brüder ist dieses, nämlich zu leben in Gehorsam, in Keuschheit und ohne Eigentum und unseres Herrn Jesu Christi Lehre und Fußspuren zu folgen, der sagt: „Wenn du vollkommen sein willst, geh und verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und dann komm und folge mir nach“1. Und: „Wenn jemand mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir“2. […] Kap. 2: Von der Aufnahme und der Kleidung der Brüder Wenn jemand auf Gottes Eingebung hin dieses Leben annehmen will und zu unseren Brüdern kommt, werde er liebevoll von ihnen aufgenommen. Wenn er nun entschlossen ist, unser Leben anzunehmen, sollen sich die Brüder sehr hüten, sich in seine zeitlichen Angelegenheiten einzumischen; vielmehr sollen sie ihn bei ihrem Minister vorstellen, so schnell sie können. Der Minister aber nehme ihn liebevoll auf und bestärke ihn und erkläre ihm sorgfältig die Eigenart unseres Lebens. Ist das geschehen, dann soll der Genannte, wenn er will und vom Geist erfüllt es ungehindert kann, all seine Habe verkaufen und das alles unter die Armen zu verteilen suchen. Hüten sollen sich [aber] die Brüder und Minister der Brüder, dass sie sich in keiner Weise in seine Angelegenheiten einmischen; und sie
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Mt 19,21; Lk 18,22. Mt 16,24.
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sollen keinerlei Geld annehmen, weder er allein noch durch eine Mittelsperson. […] Kap. 8: Dass die Brüder kein Geld annehmen sollen Der Herr befiehlt im Evangelium: „Gebt acht und hütet euch vor jeglicher Bosheit und Habsucht“3; und „Seid auf der Hut vor dem geschäftigen Treiben dieser Welt und vor den Sorgen dieses Lebens“4. Darum soll keiner der Brüder, wo er auch geht und steht, auf irgendeine Weise Geld oder Münzen bei sich haben oder annehmen oder annehmen lassen, weder für Kleider noch für Bücher noch als Lohn für eine Arbeit; nein, unter keinem Vorwand, es sei denn wegen der offenkundigen Notlage kranker Brüder; denn Geld oder Münzen dürfen für uns keinen größeren Nutzen haben, und wir dürfen sie nicht höher schätzen als Steine. […] Kap. 9: Vom Betteln um Almosen Alle Brüder sollen bestrebt sein, der Demut und Armut unseres Herrn Jesus Christus nachzufolgen. Und sie sollen beherzigen, dass wir von der ganzen Welt nichts anderes nötig haben als, wie der Apostel sagt, Nahrung und Kleidung; [das soll uns genügen]5. Und sie müssen sich freuen, wenn sie sich unter unbedeutenden und verachteten Leuten aufhalten, unter Armen und Schwachen, Kranken und Aussätzigen und Bettlern am Wege. Und wenn es notwendig werden sollte, mögen sie um Almosen bitten gehen. Und sie sollen sich nicht schämen, vielmehr daran denken, dass unser Herr Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes6, des Allmächtigen, sein Antlitz wie den härtesten Felsen gemacht hat7 und sich nicht geschämt hat. Und er ist arm gewesen und Gast und hat von Almosen gelebt, er selbst und die selige Jungfrau und seine Jünger. Und wenn ihnen die Menschen Schmach antun würden und ihnen kein Almosen geben wollten, dann sollen sie Gott dafür danken; denn für solche Schmach werden sie große Ehre vor dem Richterstuhl unseres Herrn Jesus Christus erhalten. Und sie sollen wissen, dass die Schmach nicht denen angerechnet wird, die sie erleiden, sondern denen, die sie zufügen. Und das Almosen ist das Erbe und die Gerech3
Vgl. Lk 12,15. Vgl. Lk 21,34. 5 Vgl. 1Tim 6,8. 6 Joh 11,27. 7 Jes 50,7. 4
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tigkeit, die den Armen zusteht und die uns unser Herr Jesus Christus erworben hat. Und die Brüder, die sich abmühen, es zu sammeln, werden großen Lohn erhalten, und sie bewirken, dass auch die Spender ihn gewinnen und erwerben, denn alles, was die Menschen in der Welt zurücklassen, wird vergehen, aber von der Wohltätigkeit und den Almosen, die sie gegeben haben, werden sie ihren Lohn haben vom Herrn. Und vertrauensvoll soll einer dem anderen seine Not offenbaren, damit er ihm das Notwendige ausfindig mache und verschaffe. Und jeder liebe und nähre seinen Bruder, wie eine Mutter ihren Sohn liebt und nährt; dabei wird Gott ihm Gnade schenken. Und wer isst, verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, verurteile den nicht, der isst.8 Und wenn einmal Not über sie kommt, soll es allen Brüdern, wo sie auch sein mögen, erlaubt sein, sich aller Speisen zu bedienen, die Menschen essen können, wie der Herr von David sagt, der die Schaubrote aß, welche nur die Priester essen durften.9 […]. Ähnlich dürfen auch alle Brüder mit dem für sie Notwendigen zur Zeit offenkundiger Not verfahren, wie ihnen der Herr die Gnade schenkt; denn Not hat kein Gebot. Quelle: Franziskus von Assisi, regula non bullata – Nicht bullierte Regel, in: Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden im Auftrag der deutschsprachigen Franziskaner, Kapuziner und Minoriten, hg. v. Dieter Berg/Leonhard Lehmann, 2., verb. Aufl., Kevelaer 2014, 69–93: 70; 76–78. © Edition Coelde in der Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, www.bube.de
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Röm 14,3b. Vgl. Mt 12,4; Mk 2,26.
103. Franziskus von Assisi: Vermächtnis für Klara und ihre Schwestern (1226) Franziskus hatte durch seine Lebensweise und seine Predigten starken Eindruck auf Clara Offreduccio (geb. 1193 oder 1194 in Assisi) gemacht. Sie verließ im März 1211 ihr wohlhabendes, adliges Elternhaus und floh zu Franziskus, der ihr die Haare abschnitt und sie mit einem „ärmlichen Gewand“ bekleidete. Klara widmete sich fortan – wie Franziskus – einem Leben in radikaler Armut. Nachdem sich andere Frauen Klara angeschlossen hatten, kam es im April 1211 in San Damiano zur Gründung einer ersten eigenen Gemeinschaft. Da die Lebensform von Wanderpredigern Frauen nicht möglich war, mussten sie das Ideal freiwilliger Armut unter den Bedingungen klösterlichen Lebens verwirklichen. Wurde den Klarissinnen zunächst die Benediktusregel vorgeschrieben, so erreichte Klara kurz vor ihrem Tod (11. August 1253) die Anerkennung einer eigenen Regel. Darin verband sich das „Privileg der Armut“ mit den Notwendigkeiten des Klosterlebens. Das „Vermächtnis für Klara und ihre Schwestern“ hat Franziskus kurz vor seinem Tod, also wahrscheinlich Ende September, Anfang Oktober 1226 abgefasst. Franziskus betont darin sein Hauptanliegen, die Nachfolge Christi in Armut. Damit ist die Mahnung verbunden, nicht dem Druck von außen nachzugeben und von der evangelischen Lebensform abzuweichen. Ich, der ganz kleine Bruder Franziskus, will dem Leben und der Armut unseres höchsten Herrn Jesus Christus und seiner heiligsten Mutter nachfolgen und darin bis zum Ende verharren. Und ich bitte euch, meine Herrinnen, und gebe euch den Rat, ihr möchtet doch allezeit in diesem heiligsten Leben und in der Armut leben. Und hütet euch sehr, jemals in irgendeiner Form davon abzuweichen, weder auf die Lehre noch auf den Rat von irgendjemand hin. Quelle: Franziskus von Assisi, Ultima voluntas s. Clarae scripta – Vermächtnis für Klara und ihre Schwestern, in: Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden im Auftrag der deutschsprachigen Franziskaner, Kapuziner und Minoriten, hg. v. Dieter Berg/Leonhard Lehmann, 2., verb. Aufl., Kevelaer 2014, 63. © Edition Coelde in der Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, www.bube.de
104. Petrus Abaelard: Über das Almosen (um 1235) Die Auffassungen und Schriften des 1079 in Le Pallet bei Nantes geborenen frühscholastischen Philosophen, Theologen und Mönchs (St. Denis) Abaelardus (gest. 1142) wurden mehrfach verurteilt (1121, 1140). Obwohl er als theologischer Lehrer erfolgreich wirkte – mehrere spätere Päpste gehörten zu seinen Schülern –, wurde er selbst teilweise zu Klosterhaft und lebenslangem Schweigen verurteilt. Abaelard drängte auf die Artikulation von Widersprüchen, die sich in der Tradition verbargen, und verfolgte ihre vernünftige Bearbeitung. Damit verlieh er dem Ausleger eine eigenständigere Bedeutung. Erkenntnistheoretisch bezweifelte er in philosophischer Perspektive den selbständigen Realitätsstatus von Allgemeinbegriffen. Den Sinn der Inkarnation sah er nicht in der Satisfaktion, sondern im Sichtbarwerden der Gottesliebe im Leben und Leiden Jesu Christi. Seine Vorbildfunktion sollte im Zusammenspiel mit der Nächstenliebe die Kirche von innen her reformieren. Die moralische Intention des Einzelnen gewann zentrale Bedeutung. Die Bedeutung des Wissens um das moralisch Gute und ein Moralkriterium („Nächstenliebe“) drängten die durch die Erbsündenlehre prinzipiell verursachte Schuldhaftigkeit des Menschen zurück. Der Einzelne als Person ist in gewisser Weise in seiner Verantwortung gefragt und kann sich nicht auf objektiv werthafte, wenn auch zunehmend komplexere Tugendmuster (vgl. Radulfus Ardens, Text 99) zurückziehen. Ein von Abaelard 1121 erbautes Bethaus in Quincey in der Nähe von Nogent-sur-Seine entwickelte sich ab 1128 zum Kloster des Paraklet (Abbaye du Paraclet), das zunächst von aus Argenteuil vertriebenen Benediktinerinnen, dann auch von Mönchen bewohnt wurde. Abaelard war ihr geistlicher Mentor und verfasste thematische Predigten zu deren Belehrung und Erbauung. Derartige Sermones wurden vornehmlich im Kapitalsaal verlesen. Die vorliegende 30. Predigt dokumentiert am Beispiel des ungerechten Haushalters (Lk 16,3–13) dessen innere Auseinandersetzung mit Absichten und Folgen seiner Handlung. Ein gottgewollter Innenraum moralischer Reflexion und bewussten Abwägens zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Nach Abaelards Verständnis entzündet die in Jesus sichtbar gewordene Liebe Gottes die Nächstenliebe, die sich in der Zuwendung zu den Armen zeigt. Unter Rückgriff auf die Idee der Haushalterschaft radikalisiert er – stark durch Gregor d. Große inspiriert (s. Text Nr. 73 Regula pastoralis, III, c. XXI) – in bemerkenswerter Weise die Sozialbindung des Eigentums und versteht die Verteilung von Gütern als Teil
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der Gerechtigkeit: „wir geben ihnen das Ihre zurück.“ Er kritisiert zudem den Reichtum, der in Teilen der Kirche vorhanden ist. Aber auch die prosperierende Bürgerschaft der entstehenden städtischen Zivilisation soll sich von dieser theologischen Ethik in ihrer Spendenbereitschaft und Stifterrolle angesprochen fühlen. Unter allen Gleichnissen des Herrn, Brüder, lädt uns besonders jenes vom „Ungerechten Verwalter“ zur Frucht der Barmherzigkeit ein. Als der seinem Herrn nicht hinreichend Rechenschaft für seine Verwaltung geben konnte, hatte er zuletzt diesen Plan, dass er von dem Geld seines Herrn und den Rückflüssen für das Haus, das er verwaltete, die er selbst zuvor verschwenderisch für sich selbst verbraucht hatte, sich Freunde verschaffe, die ihn, wenn er von seinem Herrn vertrieben würde, aufnehmen würden in Erinnerung an seine Wohltaten. Und so geschah es, dass er, als er die Einkünfte für das Haus einsammeln wollte, mit den Dingen seines Herrn in solchem Maße für andere großzügig war, dass er dem, der ihm 100 Fässer Öl schuldete, 50 schenkte, d.h. die Hälfte, und dem, der ihm 100 Sack Weizen (schuldete), 20 erließ, weil er nur 80 erhielt. Und so ging bei ihm das Sprichwort in Erfüllung: „Aus dem Fell eines anderen ließen sich reichlich Riemen schneiden“. Auf das Gehörte hin lobte sein Herr, der sich entschlossen, ihn von der Verwaltung, d.h. von dem Amt des Aufsehers über das Haus, zu entbinden, den ungerechten Verwalter, der ihn offensichtlich ungerecht um sein Geld betrogen hatte, weil er klug gehandelt habe, indem er sich so mit dem fremden Geld Freunde geschaffen habe. Dieses sein Gleichnis schloss der Herr Jesus mit den Worten: „Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit sie euch, wenn ihr in Not geratet, in ‚ewige Hütten‘ aufnehmen“1. So nennt der Herr den Verwalter ungerecht, der seinen Herrn ganz offensichtlich ungerecht um sein Geld betrogen hatte, und auch den Mammon, d.h. das ungerechte Geld, bezeichnet er so, gleichsam dem Herrn mit Betrug geraubt. Und dennoch entschuldigt er diese Ungerechtigkeit des Verwalters oder des Mammons mit der Voraussicht des Verwalters, die bei den Freunden gelobt wird, die er offensichtlich für sich gewonnen hat. So dass man sicher erkennen kann, welch große Tugend die Barmherzigkeit ist, die uns sogar aus schlecht Beschafftem und ungerecht einem Herrn Geraubtem ewige Wohnungen der himmlischen Bleibe erwirbt. Denn wer in diesem Leben etwas besitzt, der ist gleichsam Hausverwalter des höchsten Gottes und dem ist nicht zu eigen, was er hat, sondern es ist ihm von seinem Herrn anvertraut wie einem Verwalter und Diener. Diese Dinge seines 1
Lk 16,9.
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Herrn muss er so verwalten, dass er damit das Lebensnotwendige hat und das, was darüber hinausgeht, dem Herrn zurückgibt. Wahrhaft ungerecht handelt er und betrügerisch, wenn er etwas über das für ihn Notwendige hinaus zurückbehält und nicht von den Resten den Herrn selbst in den Armen weidet und kleidet, wie er selbst sagt: „Amen, ich sage euch: Was ihr einem von meinen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“2 Wenn aber göttliche Gnade ihn antreibt, dann erkennt der Hausverwalter, dass er bei seinem Herrn in Verruf gerät, weil er offensichtlich nicht ein treuer Aufseher und Wirtschafter seines Herrn ist, wenn er bedenkt, dass er aufgrund der Sünden des Starrsinns und der Habgier und durch das Geschrei der Armen, denen er nicht helfen und das ihnen Zustehende geben wollte, bei Gott schwer angeklagt wird, und dass er sich die zu Feinden gemacht hat, die er als Freunde hätte haben müssen. Er merkt auch, dass er von der Verwaltung entbunden werden muss, weil er es nicht schafft, seinem Herrn dafür Rechenschaft zu leisten. Denn das heißt, die Verwaltung zu verlieren: bei Gott keine Frucht von der Verwaltung irdischer Güter zu besitzen. Den muss jeder umso viel mehr fürchten und wegen der Rechenschaftsleistung noch mehr beunruhigt sein, je mehr ihm von Gott, wie er erkennt, anvertraut ist; wenn nämlich die Güter wachsen, wächst desto mehr die Verantwortung dafür. Weil aber der vorsichtige und kluge Verwalter darauf achtet, den sein Herr mit vielem betraut hat, schafft er sich Freunde, die ihn aufnehmen, wenn er vom Herrn ausgesperrt ist. Er urteilt, dass er von seinem Herrn ausgesperrt werden müsse, wenn er bei sich keinen Grund findet, weshalb er Gott gefallen sollte. Er bemerkt nämlich, wie schrecklich das ist, was der Herr an anderer Stelle über den Reichen sagt: „Leichter kann ein Kamel durch ein Nadelöhr kommen als ein Reicher in das Himmelreich“3. Damit er also dorthin durch andere Einlass findet, schafft er sich Freunde, denen das Reich gehört; denen kommt die „Wahrheit“ so zu Hilfe: „Selig sind die geistlich Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich“4. Mit denen teilt er also seine irdischen Güter, damit jene ihre himmlischen Güter mit ihm teilen. Höre Salomon und höre mehr als Salomon, denn „Lösegeld für die Seele eines Mannes ist sein Reichtum“5. Und der Herr Jesus Christus sagt: „Gebt, und es wird euch gegeben.“6 Gebt Barmherzigkeit, und siehe, alles ist für euch schön, denn: Wie Wasser Feuer löscht, so tilgt Barmherzigkeit Sünde.7 2
Mt 25,40. Mt 19,27. 4 Mt 5,3. 5 Spr 13,8. 6 Lk 6,38. 7 Vgl. Sir 3,33. 3
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Sehr gegensätzlich, Brüder, sind Feuer und Wasser, mit denen der Herr Barmherzigkeit vergleicht und Sünde. Jenes ist unter den Elementen das wärmste, dieses das kälteste. Und wisst, Brüder, dass Liebe [caritas], die uns, nach dem Apostel(spruch), zu geistig Glühenden macht, zurecht mit dem Feuer verglichen wird. Über dieses Feuer aber sagt die „Wahrheit“: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu schicken, und was will ich, außer dass es brennt?“8 Und wenn er deutlich sagt: „Was anderes zu suchen, bin ich in die Welt gekommen, außer selbst die Flamme der Liebe [dilectio] zu entzünden?“ Die Sünde aber, die durch die Feindschaft dessen auf den Erdkreis gekommen ist, der die kalten Sinne der Menschen bewohnt, wie geschrieben steht: „Ich werde meinen Sitz in den Nordwind stellen“, was heißt: „Ich werde mir ein Reich schaffen in den Herzen der Menschen, die ohne Feuer der Liebe [caritas] sind,“ [die Sünde] wird zurecht durch das Wasser als kältestes Element bezeichnet. Weil aber die Liebe zu Gott immer erwärmt, wird jene als ganz besonders wärmend erkannt, die durch brüderliches Mitfühlen bei den Werken der Barmherzigkeit [eleemoysinis] realisiert wird. Daher pflegte man auch aufgrund der besonderen Vortrefflichkeit speziell die Großzügigkeit der Barmherzigkeit mit dem nun eigenem oder speziellen Wort „caritas“ zu nennen. So beweist andererseits die Verstocktheit der Gesinnung gegenüber den Armen, dass die Gesinnung besonders kalt ist und jeder Liebe beraubt, wie geschrieben steht: „Wer nämlich seinen Nächsten nicht liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, den er nicht sieht.“9 Gut hat er deshalb diese Verstocktheit des Geistes mit dem kältesten Element verglichen wie jene Güte mit dem wärmsten. Deshalb, wenn wir diese Güte für die Armen wirksam werden lassen, dann verlassen wir das Reich des Teufels und begeben uns in das Reich Christi. Wie sich vom kalten Nordwind das Böse auftun wird, so wird Gott aus dem warmen Südwind kommen. Von daher hat jeder die Wahl, wo er sich niederlässt. Der Teufel, der Täter des Bösen ist, wohnt in kalten Sinnen, die man durch den Aquilo, den kältesten Wind, erkennt, Gott aber bei denen, die vom Feuer der Liebe entflammt sind, die der Auster charakterisiert, der am wärmsten ist. Um sich diese Sinne zu schaffen, sagt im Hohenlied der Bräutigam: „Erhebe dich Aquilo [Nordwind], und komm Auster [Südwind] und durchwehe meinen Garten, und es sollen seine Düfte strömen!“10 Der Garten des Herrn ist die heilige Kirche, die er pflegt und wässert mit heiligen Lehren und Mahnungen. Dieser Garten hat zwei Düfte, d.h. die kostbaren Salben des Heiligen Geistes, mit deren einer er, wie 8
Lk 12,49. Vgl. 1Joh 4,20. 10 Hhld 4,16. 9
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man sagt, Gott, mit der anderen den Nächsten gleichsam salbt: Gottesliebe und Nächstenliebe, weil er durch jene Gott eigens in sich selbst berührt und sich mit ganzem Verlangen heiligt und durch die [andere] sich hinwendet und herablässt zur Versorgung der Bedürfnisse des Nächsten. Aus diesem Garten erhebt sich, um zu weichen, der Aquilo [Nordwind], und kommt der Auster [Südwind], wenn die zuvor kalten Herzen der Menschen mit der Flamme der Liebe [caritas] entzündet werden. Beim Durchwehen spürt man den Auster, und Liebe wird durch Barmherzigkeit vernommen. Es gibt den Auster, aber noch weht er nicht, Liebe, im Sinn empfunden, noch nicht im Werk erkennbar. Dann aber wird sie durch sein Wehen herausgeführt und gespürt, wenn sie im Werk für die Nöte der Nächsten verwendet wird. Dann strömen Düfte, die zuvor im Sinn gleichsam geborgen versteckt waren, wenn so die Liebe zu Gott wie die Liebe zum Nächsten sichtbar wirksam wird. Dann verbreiten die strömenden Düfte in gleicher Weise ihren Wohlgeruch, wenn der gute Geruch der angewendeten Liebe, weil er von vielen wahrgenommen wurde, viele aufgrund des Vorbilds der anderen zur Nachahmung der guten Handlung veranlasst. Seht, Brüder, die ihr hier versammelt seid, wir müssen der Garten Gottes sein. Lasst uns den Herrn des Gartens bitten, dass sich der Aquilo in sein Reich erhebe, wie wir es erläutert haben, und der Auster mit Wehen in ihn kommt, damit die Düfte strömen; damit eure Liebe für die Armen aufgewendet, damit der Herr nicht nur euch gewinnt, sondern durch euer Beispiel andere erwirbt. Macht entsprechend seiner Ermahnung euch mit dem ungerechten Mammon Freunde, damit sie euch aufnehmen, wenn ihr in Not seid. Es gibt nämlich ungerechten Mammon, und es gibt gerechtes Vermögen. Es ist ungerechter [Mammon], der, ungerecht dem Herrn gestohlen, weil er für die Armen hätte verwendet werden müssen, so viele Arme wie ein Mörder umgebracht hat, die er hätte retten können. Daher [schreibt] Hieronymus in Epistola Pauli ad Romanos: „Denn wenn [einer] jenen in Hungersnot sieht, tötet er jenen nicht selbst, wenn er ihm keine Nahrung gibt, obwohl sie vorhanden ist?“ Wer immer nämlich Menschen, die zu sterben drohen, in einer Notlage helfen kann, der tötet, wenn er es nicht tut. Augustinus [schreibt] in Contra Faustum: „Deshalb, wenn du diesem Hungrigen begegnest, der sterben könnte, wenn du ihm nicht hilfst, indem du ihm zu essen gibst, dann wirst du nach dem Gesetz Gottes als Mörder verhaftet, wenn du ihm nicht zu essen gibst.“ Papst Leo [schreibt] im Sermo secundus dominicae Quadragesimae: „Wenn du nämlich durch Speisung einen Menschen retten kannst, hast du ihn getötet, wenn du ihm nicht zu essen gibst“. Auch der edle Heide Seneca hatte, gestützt auf das Naturgesetz, genau das in seinen Sprüchen verankert, wenn er sagt: „Wer einem, der zu ster-
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ben droht, helfen kann, tötet, wenn er nicht hilft“. Welch große Gefahr, Brüder zeigt sich uns hier, wenn unsere Habgier so die armen Glieder Christi tötet, ja sogar Christus selbst in seinen Gliedern abermals ermordet? Denn er selbst sagt von all diesem, was diesen Armen geschieht, dass es an ihm selbst [geschieht]: „Was ihr einem von meinen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“11 Auch als er im Himmel seinen Platz hatte, rief er seinem Verfolger zu: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“12 Er selbst ist einmal ermordet worden, wir [aber] töten ihn bis heute täglich in den Armen. Zuerst war jener Mord an ihm, durch den wir gerettet wurden, nützlich für uns, dieser aber [an den Armen] ist für uns nur schädlich. Judas erhielt den ungerechten Mammon, damit er Christus verrate.13 Wir aber, wenn wir den ungerechten Mammon behalten, hören nicht auf, ihn zu töten. Wir klagen Judas an, weil er ihn wegen des Geldes einmal auslieferte. Uns klagen wir nicht an, dass wir ihn aus Geldgier täglich töten, indem wir ihn gleichsam abermals kreuzigen. Lasst uns, Brüder diesen Mammon der Ungerechtigkeit in Mammon der Billigkeit und Gerechtigkeit verwandeln, von dem geschrieben steht: „Er streute aus, er gab den Armen; seine Gerechtigkeit bleibt in alle Ewigkeit“14. Das ist der Mammon der Billigkeit, das ist das Geld der Gerechtigkeit, das die Tugend der Gerechtigkeit treu austeilt, so wie jenes das [Geld] der Ungerechtigkeit, das die Ungerechtigkeit der Habgier durch Betrug schafft. Glaubt nicht, Brüder, wenn ihr dies für die Armen aufwendet, dass ihr ihnen gebt, was eures ist, sondern dass ihr zurückgebt, was ihnen gehört. Denn, was ihr über das Lebensnotwendige zurückhaltet, gehört ihnen, und ihr habt das Ihre durch Raub gewaltsam genommen, durch dessen Wegnahme ihr sie tötet. Deshalb sagte Gregor im Pastorale: „Diese Erde, von der sie (die Menschen) genommen sind, gehört allen Menschen gemeinsam, und deshalb bringt sie auch die Nahrungsmittel für alle gemeinsam hervor.“15 Vergeblich halten sich also für unschuldig, die das gemeinsame Geschenk Gottes für sich persönlich beanspruchen; wenn sie, was sie empfangen haben, nicht verteilen, begehen sie Mord an ihren Nächsten. Denn wenn wir [den Menschen], die sich entrüsten, das verschaffen, was irgendwie notwendig ist, dann geben wir jenen das Ihre zurück, aber wir schenken ihnen nicht das Unsere. Wir lösen eher ein, was wir der Gerechtigkeit schulden, als dass wir Werke der Barmherzigkeit erfüllen. Deshalb sagte 11
Mt 25,40. Apg 9,4. 13 Vgl. Mt 26,15. 14 Ps 112,9. 15 S. Tex 73. 12
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auch die „Wahrheit“, als sie davon sprach, man müsse die Barmherzigkeit vorsichtig erfüllen: „Habt acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt“16. Und der Psalmist: „Er streute aus, er gab den Armen; seine Gerechtigkeit bleibt in alle Ewigkeit“17. Es ist nämlich Gerechtigkeit, die einem jeden gibt, was sein ist. Wenn wir aber den Armen das Ihre geben, muss man sehr große Sorgfalt walten lassen, damit wir nicht dem einen geben, was dem anderen zusteht oder wir einem weniger geben, dem wir mehr schulden. Es ist nämlich Sorgfalt die Mutter aller Tugenden. Auch wenn du richtig anbietest, aber nicht richtig zuteilst, hast du einen Fehler gemacht. Auch alle Lebewesen bewertet ein Gesetz als unrein, die nicht wiederkäuen und die Klaue nicht spalten. Den Ungläubigen darf man die Barmherzigkeit nicht verweigern, aber besonders den Gläubigen muss man sie gewähren. Dazu steht geschrieben: „Allermeist aber an des Glaubens Genossen“18, wenn das reiche Maß der zu gewährenden Spende so groß ist. Doch der Apostel lehrt, dass Barmherzigkeit freilich allen zu erweisen ist, aber besonders den Glaubensgenossen. Von denen sprach auch der Heiland: „die sie in die ewigen Hütten aufnehmen“19. Aber auch unter den armen Gläubigen selbst gibt es einen großen Unterschied, weil die einen Armen notgedrungen unrein sind, die anderen Armen aber durch Gottes eigenen Willen. Über die wird gesagt: „Selig sind die geistlich Armen, denn ihrer ist das Himmelreich“20. Weil ein vorher genannter Lehrer das sorgsam beobachtet hat, fügte er folgerichtig hinzu: „Können etwa auch die Armen, unter deren Lumpen und Lappen die flammende Begierde ihres Körpers herrscht, ewige Hütten haben, die weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges besitzen? Denn nicht einfache Arme, sondern geistliche Arme werden selig genannt, d.h. dass er dem zuteilen soll, der sich anzunehmen scheut und, wenn er empfangen hat, leidet, weil er Fleischliches erntet und Geistiges säte.“ Aber unter denen wiederum, die eher Gottes als unreine Arme sind, ist einiger Unterschied, da die einen mehr nötig haben, die anderen weniger. Die freilich, die dem Zeitlichen gänzlich entsagen und dem Leben eines Apostels nachfolgen, sind die wahreren Armen und Gott näheren. Doch gehören zu diesem Stand nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Da sie zu einem zerbrechlicheren Geschlecht gehören und zu einer schwächeren Natur, ist ihre Tugend umso mehr Gott gefällig und vollkommener, je schwächer ihre Natur ist; dazu
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Mt 6,1. Ps 111,9. 18 Gal 6,10. 19 Lk 16,9. 20 Mt 5,3. 17
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sagt der Apostel: „Denn ihre Tugend wird durch ihre Schwäche vollkommen“21. Wenn die unter Verzicht auf irdische Ehepartner und Verlockungen fleischlicher Gelüste sich mit dem unsterblichen Bräutigam vereinen, dann werden sie, weil sie Bräute des höchsten Königs sind, Herrinnen über alle seine Diener. Das hat der selige Hieronymus bei seiner sorgfältigen Beobachtung gesagt, als er an Eustochium, eine dieser Bräute, schrieb: „Dies deswegen, meine Herrin Eustochium, denn Herrin muss ich die Braut meines Herrn nennen“. Wenn ein so großer Lehrer der Kirche sich nicht scheut, das wahrheitsgemäß zu gestehen, dürft auch ihr, wenn ihr eure Herrinnen an ihren Taten noch mehr als an ihren Worten erkennt, nicht zögern, ihnen zu Hilfe zu kommen, und müsst anerkennen, dass ihr weit mehr den Bräuten eures Herrn schuldet als den Dienern und dass sie bei ihrem eigenen Bräutigam mehr vermögen als die Diener. Auch bei den heiligen Frauen muss dieser Unterschied bei den Almosen gemacht werden, dass sie, da sie von großer Armut bedrängt sind, auch mit größerer Hilfe gestützt werden. Denn es gibt Klöster von Frauen wie auch von Mönchen, die vor Zeiten von den Mächtigen der Welt gegründet und mit reichen Besitztümern ausgestattet sind. Aber dieses neu errichtete Kloster ist nicht von einem Reichen gegründet und auch nicht mit Besitzungen ausgestattet. Wir wissen, dass es dennoch mit Gottes Gnade bei seinen göttlichen Aufgaben und bei der Pflicht des Ordens mit nicht geringerem Eifer beharrt als andere. Aber seine noch junge und zarte Pflanzung muss mit euren Almosen gepflegt werden, damit es wächst. Ihr müsst Arme auswählen, und das Almosen, mit dem ihr das Himmelreich erwerben wollt, darf nicht planlos einem Beliebigen dargeboten werden. Sondern es möge das Almosen in deiner Hand schwitzen, bis du den findest, der würdig ist; bis dir begegnet, wo du es gut anlegen kannst; dem du den Preis einer so wichtigen Sache beimessen willst. Bedenkenswert sind Arme, die dich mit ihren Verdiensten und Reden dorthin einführen können; denn es ist töricht, von denen ewige Hütten zu erhoffen, die, um diese zu bekommen, kaum oder zu wenig arbeiten, die mehr aus Zwang als aus eigenem Willen Arme sind, eher materiell als geistlich, eher wider Willen als freiwillig. „Ich war im Gefängnis“, sagte der Herr, „und ihr seid zu mir gekommen“22. Einiges Erbarmen ist es, denen auch zu helfen, die ohne ihr Wollen in den Gefängnissen der Menschen sitzen. Aber das größte [Erbarmen] ist es, [Frauen] zu helfen, die sich aus eigenem Entschluss den Gefängnissen des Herrn auf Dauer übergeben haben, bis sie, ihrem Bräutigam entgegenlaufend, mit ihm zur Hochzeit eintreten, wie der Bräuti21 22
2Kor 12,9. Mt 25,36.
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gam sich selbst äußert: „Und die bereit waren, traten mit ihm ein zur Hochzeit“23, damit sie dort durch ständiges Wohnen mit ihm gleichsam Ehefrauen würden, die sie hier gleichsam wie Bräute gelebt haben. Zu dieser Gemeinschaft himmlischer Bräute und zu den ewigen Hütten mögen die Bräute selbst euch aufgrund ihrer eigenen Verdienste und Vermittlungen gemeinsam mit sich einführen, damit ihr dort durch sie als Ewiges erlangt, was sie hier von euch als Zeitliches bekommen, wofür sich ihr Bräutigam Jesus Christus verbürgt, dem Ehre und Ruhm gebührt, auf ewige Zeiten. Amen. Quelle: Petrus Abaelardus, De Eleemosyna, Sermo III., in: ders., Opera t. I, hg. v. Victor Cousin, Paris 1849, 547–552. Übersetzung: Hans Werner Schmidt.
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Mt 25,10.
105. Thomas von Celano: Zweite Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus (1247) Thomas von Celano, der erste offizielle Biograph des Franziskus von Assisi, wurde zwischen 1185 und 1190 in dem Abbruzzenort Celano geboren. Sein hoher Bildungsstand lässt auf eine adlige Abstammung schließen. 1215 wurde er von Franziskus in dessen Orden aufgenommen. 1221 sandte ihn Franziskus zusammen mit anderen gebildeten Brüdern nach Deutschland. 1223 wurde er zum verantwortlichen Oberen (Kustos) der neu gegründeten franziskanischen Niederlassungen am Rhein in Speyer, Mainz, Worms und Köln ernannt. Wahrscheinlich kehrte er bereits 1224 wieder nach Italien zurück. Im Zusammenhang der Heiligsprechung Franziskus‘ (16. Juli 1228) erhielt Thomas von Celano von Papst Gregor IX. (um 1160–1241) den Auftrag, eine Franziskusvita zu verfassen. Bereits am 25. Februar 1229 wurde die erste Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus vom Papst offiziell anerkannt. Auf dem Generalkapitel, das 1244 in Genua tagte, bat der Generalminister Crescentius von Jesi (gest. 1263) alle Brüder, alles zu sammeln, was sie „über Leben, Zeichen und Wunder des seligen Franziskus der Wahrheit entsprechend wüssten“. Das gesammelte Material wurde Thomas von Celano zur Verfügung gestellt – mit dem Auftrag, auf dieser Grundlage eine zweite Lebensbeschreibung zu schreiben. Die zweite Vita ergänzte, erweiterte und modifizierte die erste. Richtete sich die erste Vita im Auftrag des Papstes an alle Gläubigen, so zielte die zweite vor allem auf den Orden selbst. Viele Brüder waren dem Orden beigetreten, die Franziskus nicht mehr persönlich gekannt hatten. Der Orden hatte sich über weite Teile Europas ausgebreitet. Eine Diskussion um die Gültigkeit des Willens des Franziskus für die Zukunft des expandierenden Ordens war unterschwellig im Gang. Die Generation der Augenzeugen des Weges Franziskus‘ und der Anfänge seiner Bewegung war am Aussterben. Vor diesem Hintergrund übernahm Thomas den Auftrag, „die Taten und auch die Worte unseres ruhmwürdigen Vaters Franziskus der Mitwelt zum Troste und der Nachwelt zum Gedächtnis niederzuschreiben“. Thomas von Celano verfasste die zweite Lebensbeschreibung 1246–1247 in Assisi. Thomas verstarb am 4. April 1260 in seinem Geburtsort Celano. Die folgenden Auszüge beziehen sich auf wesentliche Motive des Lebens und Denkens Franziskus‘, wie sie sich Thomas von Celano darstellten: die Begegnung mit einem Aussätzigen, der im Zusammenhang der Bekehrung des Franziskus eine große Bedeutung zukommt, die
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Vermählung mit der Armut, die dramatische Ablehnung des Geldes, das Almosensammeln und das Mitleid mit den Armen. 9. […] Unter allen unglücklichen Wesen auf der Welt hatte Franziskus vor den Aussätzigen einen natürlichen Abscheu. Eines Tages nun, als er bei Assisi umherritt, traf er einen Aussätzigen am Wege. Obwohl er ihm mächtigen Ekel und Abscheu einflößte, glitt er dennoch, um nicht wie ein Gesetzesübertreter den gegebenen Treueid zu brechen, vom Pferd herab und eilte auf ihn zu, ihn zu küssen. Als ihm der Aussätzige die Hand entgegenstreckte, um ein Almosen zu empfangen, legte er ihm Geld hinein und küsste ihn. Und obwohl Franziskus sogleich sein Pferd wieder bestieg und sich nach allen Seiten umwandte, konnte er – die Gegend lag nach allen Seiten offen und keine Hindernisse standen im Weg – von dem Aussätzigen nicht mehr die geringste Spur entdecken. Voll freudiger Verwunderung will er wenige Tage später jene Geste wiederholen: Er geht zu den Behausungen der Aussätzigen, gibt jedem Kranken Geld und küsst ihnen Hände und Mund. Auf diese Weise zog er das Bittere dem Süßen vor1 und bereitete sich mannhaft, alle anderen Vorsätze zu halten. […] 55. Solange der selige Vater im Tränental weilte, verachtete er alle Schätze der Menschenkinder als Tand; denn sein Streben war auf ein erhabeneres Ziel gerichtet und deshalb verlangte er aus ganzem Herzen nach der Armut. Da er gewahrte, wie sie dem Sohne Gottes vertraut war, richtete er sein Denken und Streben darauf, der immer mehr von der ganzen Welt verstoßenen Armut in ewiger Liebe sich zu vermählen. Zum Liebhaber ihrer Schönheit geworden, verließ er nicht nur Vater und Mutter, nein, alles tat er von sich, um seiner Gemahlin noch treuer anzuhangen und mit ihr zwei in einem Geiste zu sein.2 Deshalb umfing er sie mit keuschen Umarmungen und duldete niemals, sich anders denn als ihr Bräutigam zu benehmen. Sie nannte er seinen Söhnen den Weg zur Vollkommenheit, sie die Bürgschaft und das Brautpfand der ewigen Reichtümer. Niemand kann so gierig nach Gold sein, wie er nach der Armut, noch kann einer sorgsamer seinen Schatz hüten als er diese Perle des Evangeliums.3 Das vor allem beleidigte sein Auge, wenn er innerhalb oder außerhalb des Hauses an den Brüdern etwas bemerkte, was wider die Armut war. In der Tat waren vom Anfang des Ordens bis zu seinem Tode ein einziges Kleid, ein Strick und eine Hose sein ganzer Reichtum, sonst hatte er nichts.4 1
Vgl. Spr 27,7. Vgl. Gen 2,24; Mt 19,5; Mk 10,7; Eph 2,18. 3 Vgl. Mt 13,45–46. 4 Vgl. Test 16–17. 2
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Sein ärmlicher Habit zeigte an, wo er seine Reichtümer anhäufte. Deswegen war er fröhlich, sorglos, ungehindert für seinen Lauf; denn er freute sich, für vergängliche Schätze Hundertfältiges eingetauscht zu haben. […] 56. Er lehrte die Seinen, ärmliche Unterkünfte zu bauen. Aus Holz, nicht aus Steinen sollten sie sich Hütten und zwar in einfacher Bauart errichten. Oftmals, wenn er über die Armut sprach, hielt er den Brüdern die Stelle des Evangeliums vor: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel des Himmels ihre Nester, der Sohn Gottes aber hatte nichts, wohin er sein Haupt lege5. […] 65. Wenn auch der Freund Gottes alles Weltliche aufs Tiefste verachtete, so verfluchte er doch mehr als alles andere das Geld. Deshalb hatte er von Beginn seiner Bekehrung an eine besondere Geringschätzung gegen das Geld und er schärfte denen, die ihm nachfolgen wollten, immer wieder ein, sie sollten es fliehen wie den leibhaftigen Teufel. Er gab den Seinen den klugen Rat, Kot und Geld den gleichen Wert beizumessen. Eines Tages betrat ein Mann aus der Welt die Kirche S. Maria von Portiunkula, um zu beten. Er legte ein Geldopfer neben dem Kreuz nieder. Als er fortgegangen war, nahm es ein Bruder einfach in die Hand und warf es in eine Fensternische. Was der Bruder getan, kam dem Heiligen zu Ohren. Wie jener sich ertappt sah, eilte er, um Verzeihung zu erbitten und bot sich, auf den Boden hingestreckt, der Züchtigung dar. Der Heilige wies ihn zurecht und fuhr ihn hart an, weil er das Geld berührt hatte. Er gebot ihm, mit seinem eigenen Munde das Geldstück vom Fenstersims aufzuheben und es außerhalb der Einfriedung der Niederlassung mit seinem Mund auf Eselsmist niederzulegen. Während jener Bruder willig den Befehl ausführte, ergriff Furcht alle, die es hörten. Alle verachteten in Zukunft das Geld noch mehr, das so dem Mist gleichgesetzt wurde, und von Tag zu Tag wurden sie durch neue Beispiele zu dessen Verachtung angeregt. […] 72. Um auch nicht ein einziges Mal seine vielgeliebte, heilige Braut zu beleidigen, hatte der Diener Gottes des Allerhöchsten die Gewohnheit, Folgendes zu tun: War er gelegentlich bei Herrschaften eingeladen und sollte durch eine reichlicher besetzte Tafel geehrt werden, dann erbettelte er sich zuvor in den benachbarten Häusern Brotreste. Und so mit Dürftigkeit bereichert, eilte er hin, sich zu Tisch zu setzen. Fragte man ihn, warum er dies tue, erwiderte er, für das ihm nur für eine Stunde zugestandene Leben wolle er nicht sein festes Erbe verlassen. 5
Mt 8,20.
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„Die Armut ist es“, sprach er, „die zu Erben und Königen des Himmelreiches einsetzt, nicht eure falschen Reichtümer.“ […] 74. Anfangs ging der Heilige bisweilen allein zum Almosensammeln aus, um sich selbst zu üben und den Brüdern die Beschämung zu ersparen. Als er jedoch merkte, dass manche ihre Berufung nicht gebührend achteten, sprach er einmal: „Liebste Brüder! Der Sohn Gottes war vornehmer als wir, er, der sich um unsertwillen in dieser Welt arm gemacht hat. Um seiner Liebe willen haben wir den Weg der Armut erwählt; wir dürfen uns darum nicht schämen, um Almosen zu gehen. Es schickt sich keineswegs für die Erben des Reiches6, dass sie sich des Brautpfandes für das himmlische Erbe schämen. Ich sage euch, viele Adelige und Weise werden sich unserer Gemeinschaft anschließen und es sich zur Ehre anrechnen, Almosen zu betteln. Ihr also, die ihr die Erstlinge von jenen seid, freut euch und frohlockt und weigert euch nicht, das zu tun, was ihr jenen Heiligen zu tun überliefern sollt.“ […] 83. Welche Zunge könnte es erzählen, wie groß das Mitleid dieses Mannes gegen die Armen war!2 Wohl war ihm die Güte angeboren, doch die von oben eingegossene Liebe verdoppelte sie. Deshalb zerfloss Franziskus‘ Herz gegen die Armen, und denen er nicht eine offene Hand bieten konnte, brachte er innige Teilnahme entgegen. Was immer er an Mangel, was immer er an Not bei einem Menschen erblickte, bezog er mit wendigem Geist und in rascher Übertragung auf Christus. So sah er in jedem Armen einen Sohn der armen Herrin und nackt trug er den im Herzen, den jene entblößt auf den Armen getragen hat. Obschon er allen Neid aus sich verbannt hatte, konnte er doch dem einen nicht entsagen, dem Neid um die Armut. Wenn er je einen sah, der ärmer war als er selbst, beneidete er ihn sofort und voll Sorge, er sei ihm unterlegen, nahm er den Wettstreit auf mit dieser Armut, die ihm den Rang streitig machte. […] 84. So begegnete ihm eines Tages, als er zum Predigen umherzog, ein ganz Armer. Als Franziskus seine Blöße sah, wandte er sich erschüttert zu seinem Gefährten und sagte: „Große Schande bereitet uns die Not dieses Mannes und sie tadelt aufs Schwerste unsere Armut.“ Der Gefährte fragte ihn: „Wieso, Bruder?“ Da antwortete der Heilige mit wehklagender Stimme: „Zu meinem ganzen Reichtum, ja zu meiner Herrin habe ich die Armut erwählt, und siehe, an dem da erstrahlt sie heller. Oder weißt du nicht, dass man in der ganzen Welt laut davon 6
Vgl. Jak 2,5.
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spricht, wir seien um Christi willen die Ärmsten der Armen? Aber in Wirklichkeit ist es ganz anders; dieser Arme da beweist es.“ Beneidenswerter Neid! Eifersucht, um die die Söhne eifern sollten! Das ist nicht jenes Laster, das über fremde Güter sich grämt, das durch die Strahlen der Sonne verdunkelt wird, das der Liebe zuwider ist, das durch Scheelsucht gequält wird. Glaubst du etwa, dass die evangelische Armut nichts Beneidenswertes an sich hat? Christum besitzt sie, und durch ihn alles in allem. Was gierst du nach Einkünften, Kleriker von heute? Morgen wirst du erkennen müssen, dass Franziskus reich gewesen ist, wenn du in deinen Händen als Einkünfte Höllenqualen finden wirst. Quelle: Thomas von Celano, Die zweite Lebensbeschreibung oder das Memoriale, in: Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, im Auftrag der Provinziale der deutschsprachigen Franziskaner, Kaupuziner und Minoriten hg. v. Dieter Berg/ Leonhard Lehmann, 2., verbesserte Auflage Kevelaer 2014, 289–421; 304–347. © 2009 Edition Coelde in der Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, www.bube.de
106. Das Rituale von Lyon (nach 1250) Die ab dem 20. Jahrhundert von der Forschung „Katharer“ genannten Gruppen von alternativen Christen waren für die Kirche des Mittelalters die „Erzketzer“. Sie traten zwischen der Mitte des 12. und dem Ende des 14. Jahrhunderts in West-Europa auf, in den Kernregionen Rheinland, Nord-Italien und Südfrankreich. Sie selbst nannten sich selbst gute Christen und gute Christinnen, ihre Kirche nur Kirche oder präziser Kirche Gottes (ecclesia Dei). Damit wird ihr Anspruch untermauert, die einzig wahre Kirche Christi zu sein. Zentral für ihre Glaubensvorstellungen war der Ritus der Geisttaufe, das Consolamentum. Dadurch wurde den Menschen der Heilige Geist verliehen, so dass nun aus dem Menschen der gute Christ, die gute Christin wurde. Für die liturgische Ausgestaltung wurden Formulare benutzt, die minutiös die einzelnen Schritte beschreiben und die entscheidenden Glaubensvorstellungen präzisieren. Die guten Christen betonten in ihrem Consolamentum im Gegensatz zur Sakramenten-Entwicklung des Mittelalters die älteren Aspekte, dass Taufe mit der Vergebung der Sünden verbunden ist, den Täufling dem weltlichen Kontext entzieht und der Machtsphäre Christi unterstellt. Der Aufbau der Kirche war zweigeteilt: Der Menge der Menschen, die an die katharische Lehre glaubten, und die deren Vertreter, die guten Christen und Christinnen, für legitime Heilsbringer hielten, stand der kleine Kreis von Erwählten gegenüber, die ihre Erwählung dem Consolamentum verdankten. Der Geisttaufe voraus ging die Übergabe des Vaterunsers. Erst nachdem er das Recht empfangen hatte, Gott Vater zu nennen, durfte der Gläubige am einzigen Gebet, das die Katharer sprachen, teilnehmen. Neben dem Consolamentum kannten die Katharer eine Reihe kultischer Handlungen: So drückte der Gläubige dem guten Christen durch das melioramentum, durch Kniebeugen und Verneigungen, seine Hinwendung zum Katharismus aus, indem er den Hl. Geist in dem konkreten Katharer verehrte. Der Tagesablauf der guten Christen wurde durch feste Gebetszeiten strukturiert. Als Konsequenz aus dem Consolamentum ergab sich für die guten Christen, dass sie bestimmte Fastenzeiten einhielten. Immerwährende Askese zeigten sie durch die Entsagung jeglicher Speise aus tierischer Fortpflanzung und jeglichen sexuellen Umgangs. In ihrer Lebensführung lässt sich die unbedingte Askese, der sie folgten, erkennen. Sie logen, schwörten und töteten nicht; in Friedenszeiten lebten sie in Häusern, nach Geschlechtern getrennt. Die guten Christinnen waren durch den Verfolgungsdruck früh zum Aussterben verurteilt. Umherziehende Frauen fielen als erste der Inquisition in die Hände.
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Das Rituale von Lyon
Bei dem folgenden Text handelt es sich um das nach dem Fundort des Manuskripts genannte Rituale von Lyon. Es ist in okzitanischer Sprache verfasst. Das Formular ist wohl im späten 13. Jahrhundert in Norditalien entstanden. Zur Entstehungszeit befanden sich die Amtsträger der südfranzösischen Gemeinden im Exil in Italien. Unter ihnen höchstwahrscheinlich auch der Mann, der die späte Blüte des südfranzösischen Katharismus entfachen sollte, Peire Autier. Das Rituale zeigt die verschiedenen Etappen bei der Spendung des Consolamentum: den Ritus des melioramentum; die Übergabe des Vaterunsers; die Spendung des Consolamentum im eigentlichen Sinn sowie die Spendung des Consolamentum an Sterbende. Der Spender wird durchgängig mit dem altchristlichen Begriff des „Ancien“, des Ältesten, bezeichnet. Deutlich wird, dass die gesamte Gemeinde versammelt ist, zu der auch die Gläubigen (credentes) zählen. Diese hatten die Geisttaufe noch nicht empfangen; sie befanden sich im Anwärterstadium. Die Geisttaufe wird durch Bibelzitate als die wahre, von Christus gestiftete Taufe nachgewiesen. Die Folgen der wahren Taufe sind spezifische, auch und gerade diakonische Werke, etwa Kranke zu heilen. Der letzte Teil ist der Spendung des Consolamentum an einen Kranken vorbehalten. Auffällig ist, wie sorgfältig sich die guten Christen zuvor ein Bild von dem Adepten machen, ob er die Voraussetzungen einer Aufnahme mitbringt: Etwa, ob er sich innerlich in der Lage fühlt, die strengen Moralverpflichtungen zu befolgen – sollte er überleben. Stirbt der Aufgenommene nach der Zeremonie, ist darauf zu achten, dass seine eventuellen Schenkungen an die Kirche, den „Orden“, weitergegeben werden. Überlebt er, muss er sich der Zeremonie erneut unterziehen. 1. Lateinische Formeln Segne und erlöse uns, Amen. Es geschehe nach Deinem Wort. Der Vater und der Sohn und der Hl. Geist erlöse euch von all euren Sünden. Lasst uns den Vater und den Sohn und den Hl. Geist anbeten. III Verbeugungen. Vater Unser, der Du bist im Himmel, […]1 Lasst uns den Vater und den Sohn und den Hl. Geist anbeten. III Verbeugungen. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit uns allen. Es geschehe nach Deinem Wort. Der Vater und der Sohn und der Hl. Geist erlöse euch von all euren Sünden. […].
1
Mt 6,9–13.
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2. Der Dienst an Gott [servici] Wir sind vor Gott und vor euch und vor den Orden der Heiligen Kirche gekommen, um Gottesdienst, Vergebung und Buße zu erlangen für all unsere Sünden, die wir durch Taten, Worte, Gedanken oder Gewohnheiten begangen haben, seit unserer Geburt bis zum heutigen Tag. Und wir bitten Gott und euch um Erbarmen, so dass ihr und der Hl. Vater für uns um Barmherzigkeit bitten möget, dass er uns vergebe. […] O Herr, richte und urteile über die Schwächen des Fleisches, habe kein Mitleid mit dem aus der Verderbnis geborenen Fleisch, aber habe Mitleid mit dem darin eingekerkerten Geist, und geleite uns mit den täglichen und stündlichen Übungen und Kniebeugen, mit Fasten und Gebeten und Predigten, gemäß der christlichen Gewohnheit, auf dass wir nicht gerichtet oder verurteilt werden mögen wie die Treulosen am Tag des Urteils. 3. Die Übergabe des hl. Gebets Wenn ein Gläubiger im Zustand der Enthaltsamkeit ist, und wenn die Christen bereit sind, ihm das Gebet zu übergeben, sollen sie sich die Hände waschen. Und wenn Gläubige [credentes] anwesend sind, sollen sie dies ebenso tun. Danach soll einer der guten Männer [bons hommes], nämlich derjenige, der im Rang nach dem Ältesten kommt, drei Kniebeugen vor dem Ältesten machen und anschließend ein Tischchen bereit machen. Und danach soll er wieder drei Kniebeugen machen. Danach soll er ein Tuch auf das Tischchen legen und wieder drei Verbeugungen machen. Dann soll er das Buch [das Evangelium] auf das Tischtuch legen und sagen: Segnet und erlöset uns. Danach soll der Gläubige sein melioramentum ausführen und das Buch aus den Händen des Ältesten nehmen. Dabei soll dieser ihn ernst ermahnen und mit passenden Bibelzitaten zu ihm predigen. Wenn der Gläubige Petrus [Peire] heißt, soll der Älteste zu ihm wie folgt sprechen: Petrus, du musst begreifen, dass du vor dem Vater und dem Sohn und dem Hl. Geist stehst, wenn du hier vor der Kirche Gottes bist. Denn die Kirche bedeutet eine Versammlung der wahren Christen, und dort sind auch der Vater, der Sohn und der Hl. Geist, wie die Hl. Schriften dies zeigen. […] Und danach soll der Älteste das Gebet sagen und der Gläubige soll es nachsagen. Danach soll der Älteste sagen: Wir übergeben dir dieses hl. Gebet, auf dass du es von Gott, von uns und von der Kirche erhältst und auf dass du die Befugnis haben sollst, es zu beten, in jedem Moment deines Lebens, Tag und Nacht, allein und in Gesellschaft, und auf dass du niemals essen oder trinken sollst, ohne zuerst dieses Gebet gesprochen zu haben. Und solltest du dies vergessen, musst du hierfür Busse tun.
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Und der Gläubige muss erwidern: Ich empfange es von Gott, von euch und von der Kirche. Danach soll er sein melioramentum verrichten und seine Danksagung. 4. Der Empfang des Consolamentum Und wenn er auf der Stelle konsoliert werden soll, muss er erst sein melioramentum erweisen und das Buch [das Evangelium] aus den Händen des Ältesten nehmen. Der Älteste muss ihn dabei ernst ermahnen und zu ihm predigen, mit den passenden Bibelzitaten und den Worten, die zu einem consolamentum passen. Dafür möge er so sprechen: Petrus, willst Du die hl. Taufe empfangen, durch die der Hl. Geist der Kirche Gottes gegeben wird, zusammen mit dem hl. Gebet, durch die Handauflegung der guten Menschen [bons hommes]. Über diese Taufe sagt Unser Herr Jesus Christus zu seinen Schülern im Evangelium des hl. Matthäus: „Geht hin und unterweist alle Menschen, tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes. Lehrt sie, alle Dinge zu halten, die ich ihnen befohlen habe. Und sehet, dass ich alle Tage bei euch sein werde bis zur Vollendung der Welt.“2 […] Zu Nikodemus sagt er im Evangelium des hl. Johannes: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Niemand wird ins Königreich Gottes eingehen, wenn er nicht durch Wasser und den Hl. Geist wiedergeboren wird.“3 […] Diese hl. Taufe, durch die der Hl. Geist übergegeben wird, hat die Kirche Gottes seit den Aposteln bis heute bewahrt, und sie wird somit durchgegeben von den guten Menschen zu den guten Menschen, und das wird so sein bis ans Ende der Welt. Und du sollst begreifen, dass der Kirche Gottes die Macht gegeben ist zu binden und zu lösen, um die Sünden sowohl zu vergeben wie nicht zu vergeben, so wie es Christus im Evangelium des hl. Johannes sagt: „So wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Nachdem er dies gesagt hatte, blies er über sie und sagte: „Empfangt den Hl. Geist. Denen ihr die Sünden vergebt, sollen sie vergeben sein, und denen ihr sie nicht vergebt, denen werden sie nicht vergeben.“4 [...] Und an einer anderen Stelle sagt er: „Heilt die Kranken, erweckt Tote, macht Aussätzige rein, vertreibt die Dämonen.“5 Und im Evangelium von Johannes sagt er: „Wer an mich glaubt, wird die Werke tun, wie ich sie tue“.6 Und im Evangelium des hl. Markus sagt er: „Aber die, 2
Mt 28,19f. Joh 3,5. 4 Joh 20,21–23. 5 Mt 10,8. 6 Joh 14,12. 3
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die glauben, folgen den Zeichen. In meinem Namen werden sie Dämonen vertreiben, und sie werden in neuen Sprachen reden und die Schlangen vertreiben, und wenn sie tödliche Flüssigkeit trinken, wird ihnen nichts Böses geschehen. Sie werden den Kranken die Hände auflegen, und diese werden geheilt sein.“7 […] Aufgrund dieser Zeugnisse und noch vieler anderer musst Du den Geboten Gottes nachleben und diese Welt hassen. Und wenn Du dies bis zum Ende gut tust, dann hoffen wir, dass Deine Seele das ewige Leben haben wird. Dann sagt der Gläubige: Dieses will ich; bittet Gott für mich, dass er mir hierfür seine Macht geben möge. Darauf führt der Höchste der guten Menschen zusammen mit dem Gläubigen vor dem Ältesten das melioramentum aus und sagt: Erlöst uns. Gute Christen, wir bitten euch, unserem hier anwesenden Freund die Liebe Gottes zuzuteilen, aus dem Guten heraus, das Gott euch gegeben hat. Danach muss der Gläubige sein melioramentum ausführen und sagen: Erlöst uns. Für all die Sünden, die ich getan, gesagt, gedacht oder vollbracht habe, bitte ich Gott, die Kirche und euch alle um Vergebung. Die Christen sagen dann: Durch Gott und durch uns und durch die Kirche sollen sie vergeben sein und wir bitten Gott, dass er sie Dir vergeben möge. Wenn sie ihn konsolieren, nimmt der Älteste das Buch [=das Evangelium] und legt es ihm auf den Kopf, und die anderen guten Menschen [legen ihm] jeder die rechte Hand [auf]. […] Und danach: Hl. Vater, empfange Deinen Diener in Deiner Gerechtigkeit und sende Deine Gnade und Deinen hl. Geist auf ihn. […] Danach geben sie sich den Friedenskuss, untereinander und mit dem Buch. […] 6. Das Consolamentum eines kranken Gläubigen Wenn die Christen, denen der Dienst der Kirche anvertraut ist, Nachricht erhalten von der Erkrankung eines Gläubigen, müssen sie dorthin gehen. Und sie müssen ihn im Geheimen fragen, wie er sich gegenüber der Kirche verhalten hat, seit er den Glauben empfangen hat, also, ob er sich nicht der Kirche gegenüber etwas zu Schulden kommen hat lassen oder ein anderes Vergehen [begangen hat], dessen sie ihn beschuldigen könnten. Und wenn er ihr [der Kirche Gottes] etwas schuldet und es bezahlen kann, dann muss er es tun. Wenn er das nicht tun will, dürfen sie ihn nicht aufnehmen. Denn wenn man zu Gott für einen falschen und treulosen Menschen betet, kann dieses Gebet keinen Gewinn bringen. 7
Mk 16,17f.
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Wenn er jedoch nicht bezahlen kann, dann darf er nicht zurückgewiesen werden. Und die Christen müssen ihn über die Enthaltsamkeit und über die Gebräuche der Kirche unterweisen. Danach müssen sie ihn fragen, wenn er aufgenommen werden soll, ob er die Absicht hat, diese [Enthaltsamkeit und Gebräuche] in seinem Herzen zu befolgen. Und er darf dies nicht geloben, wenn er sich nicht fest entschlossen fühlt. Wenn er sagt, dass er sich sicher genug fühlt, um dies alles zu tun, und wenn die Christen einverstanden sind, ihn aufzunehmen, dann müssen sie ihm die Enthaltsamkeit auf die folgende Weise auferlegen: Sie müssen ihn fragen, ob er aus tiefstem Herzensgrund bereit ist, nicht zu lügen oder zu schwören; ob er sich im klaren darüber ist, die andern Gebote Gottes nicht zu brechen, und ob er sich für fähig hält, die Gebräuche der Kirche und die Gebote Gottes zu halten, und sein Herz und seine Güter zu behalten, so wie er sie hat oder in der Zukunft haben wird, nach dem Willen Gottes und der Kirche, und im Dienst der (guten) Christen und der (guten) Christinnen, von nun an und für alle Zeit, und soweit er es kann. Wenn er „ja“ sagt, sollen sie antworten: Wir erlegen dir diese Enthaltsamkeit auf, auf dass du sie von Gott und von uns und von der Kirche empfangen mögest, und dass du sie beachten mögest, solange du lebst. Wenn du sie gut beachtest, zusammen mit den anderen Vorschriften, denen du folgen musst, haben wir die Hoffnung, dass deine Seele ewig leben wird. Danach sollen sie ihn fragen, ob er das Gebet empfangen will. Wenn er „ja“ sagt, sollen sie ihn in ein Hemd und eine Hose kleiden – zumindest, wenn das möglich ist – und sie sollen ihn aufrecht hinsetzen, wenn er kann, und seine Hände waschen. Und dass sie dann ein Laken oder ein Tuch vor ihm auf das Bett legen, und auf das Laken das Buch [das Evangelium]. […] Der Kranke muss das Buch aus den Händen des Ältesten nehmen. Wenn er [noch] warten kann, muss der Spender ihn ermahnen und zu ihm mit den passenden Bibelzitaten predigen. Danach muss er ihn in Zusammenhang mit den Gelübden, die er früher abgelegt hat, fragen, ob er fest entschlossen sei, diesen nach zu leben und diese zu halten, so wie man es festgelegt hat. Wenn er „ja“ sagt, dann müssen sie es ihn noch einmal bekräftigen lassen. Und danach sollen sie ihm das Gebet übertragen, und er muss es wiederholen. [… ] Daraufhin soll er das Buch aus den Händen des Ältesten nehmen, und der Älteste ermahnt ihn mit den Zeugnissen aus der Schrift und mit Worten, die denen des consolament entsprechen. Der Älteste muss ihn fragen, ob er in seinem Herzen die Absicht hat, sein Gelübde zu
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halten und zu beachten, sowie er das versprochen hat, und er muss ihn dies bestätigen lassen. Danach muss der Älteste das Buch zurücknehmen, der Kranke muss sich verbeugen und sagen: Erlöst uns. Für alle Sünden, die ich begangen, gesagt oder gedacht habe, bitte ich Gott, die Kirche und euch alle um Vergebung. Dann müssen sie ihn konsolieren, indem sie ihm die Hände und das Buch auf den Kopf legen und sprechen: Segnet und vergebt uns, amen. Es geschehe uns nach deinem Wort. Der Vater und der Sohn und der hl. Geist vergebe euch eure Sünden. Wir beten an den Vater und den Sohn und den hl. Geist. Das letzte dreimal. Und danach: Hl. Vater, nimm deinen Diener auf in deine Gerechtigkeit und sende deine Gnade und deinen hl. Geist auf ihn aus. […] Und dass sie ihn oder sie dann grüßen wie einen [guten] Menschen. Danach sollen sie den Friedengruß untereinander und mit dem Buch tauschen. Und wenn männliche oder weibliche Gläubige anwesend sind, sollen sie den Friedensgruß tauschen, und sie müssen die [guten] Christinnen um den Gruß bitten und sie müssen ihn erweisen. Wenn der Kranke stirbt und ihnen etwas hinterlässt oder gibt, dann dürfen sie nichts für sich behalten oder sich dessen entledigen, sondern müssen es dem Orden zur Verfügung stellen. Wenn der Kranke am Leben bleibt, müssen die Christen ihn dem Orden vorstellen und bitten, dass er sich erneut konsolieren lässt, und zwar so schnell, wie er kann. Er soll aber in diesem Punkt seinem freien Willen folgen. Quelle: Leon Clédat, Le Nouveau testament traduit au XIIIe siècle en langue provencale, suivi d'un rituel cathare, Paris 1887, neu hg. Genf 1968, 470a– 482b. Ebenso: Rituel Cathare, Manuscrit de Lyon, traduction par Anne Brenon, in: Rene Nelli (Hg.), Ecritures Cathares, neu ediert von Anne Brenon 1995, 231–244. Einleitung und Übersetzung: Daniela Müller.
107. Ordnung des Heilig-Geist-Hospitals zu Lübeck (1263) Nach dem Vorbild des römischen Spitals Santo Spirito gründete der Rat der Stadt Lübeck wohl 1227 ein Spital, das dem heiligen Geist als Tröster gewidmet und bruderschaftlich verfasst war. Rund fünfzig Jahre später wurde ein Neubau vollendet (1286), der zu den bedeutendsten Monumentalbauten des Mittelalters zählt und in seiner Grundsubstanz bis heute erhalten ist. 1263 trat die neue Ordnung des Lübecker Bischofs Johannes III. (gest. 1276) in Kraft. Sie stellt eine der frühesten Hospitalverfassungen in Deutschland dar. Prägend für Geist und Organisation ist die Spitalgemeinschaft nach klösterlichem Muster, die als eine nicht-monastische Kommunität organisiert war. Der Aufnahme ging eine Probezeit von einem Jahr und einem Tag voraus. Leben im Hospital bedeutete Verzicht auf Eigentum, Keuschheit und Gehorsam gegenüber dem Vorsteher, dem „Meister“. Das Hospital sorgte für Wohnung, Kleidung, Kost und Pflege der Mitglieder. Die Bewohner_innen trugen eine einheitliche schlichte Kleidung. Strukturiert wurde das bruderschaftliche Zusammenleben vor allem durch die Stundengebete, das Totengedenken für Wohltäter und Mitglieder der Gemeinschaft sowie durch Fastenzeiten. Verstöße gegen die Hospitalordnung wurden streng sanktioniert. „Gott und seinen Armen mit großer brennender Liebe und Demut dienen“ – das ist laut Verfassung der Sinn des Hospitals. Der Sorge um das Seelenheil – das eigene und das der anderen – entsprach die Leibsorge. Die Ordnung dokumentiert den multifunktionalen Charakter des Spitals. Der Dienst gilt insbesondere Kranken, Pilgern und Heimatlosen. Aber auch andere konnten ihr Vermögen einbringen, sich der Lebensform anschließen und im Alter ihre Versorgung sichern. Die Regel schreibt fest, dass die Wahl eines neuen Meisters in einem Verfahren erfolgen soll, das eine Balance zwischen Gemeinschaft, Bürgerschaft und Bischof gewährleistet. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Dies ist die Ordnung und das Leben der Brüder und Schwestern, die sie in dem Haus des Heiligen Geistes zu Lübeck einhalten sollen, wie sie von erfahrenen Geistlichen und Laien auf Verlangen und Bitte ihrer eigenen Gemeinschaft gegeben worden ist. Wer sich mit all seinem Besitz in das Haus begibt, so dass er kein Eigentum draußen behält, dem soll das Haus Nahrung und Kleidung (und) Schuhe nach seinen Bedürfnissen zur Verfügung stellen.
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Ferner sollen jeder Bruder und jede Schwester täglich zu den sieben Stunden, die man in der heiligen Christenheit begeht, zu jeder Stunde sieben Vaterunser für diejenigen sprechen, die dem Gotteshaus Gutes tun. Das sollen sie niemals aus irgendeinem Grunde versäumen, außer wegen einer Krankheit. Die Kranken jedoch, falls sie die Zunge bewegen können, sollen dreißig Vaterunser sprechen. Auch essen sie in der Adventszeit am Sonntag und am Dienstag und am Donnerstag [nur] einmal Milchspeise, damit sie Gott im Gebet und in guten Werken umso besser dienen. Am Montag und Mittwoch und Freitag und Sonnabend sollen sie mit Fastenspeise zur Ehre unseres Herrn Jesus Christus fasten. Auch sollen sie das Fastengebot in den vierzig Tagen einhalten und an den vier Terminen im Jahr, den Quatembern, und an den heiligen Abenden, die die heilige Christenheit zum Fasten eingesetzt hat. Sie sollen jeden Freitag im Jahr mit Fastenspeise fasten. Sollte jemandem große Buße in früherer Zeit für ein Vergehen auferlegt worden sein, soll er, nachdem er Bruder des Hauses geworden ist, keine andere Buße tun, als sie die Brüder einhalten. Wenn einer wegen Krankheit, Alter oder des Umfangs seiner Arbeit diese Fastengebote nicht einhalten kann oder sie ihm angesichts der Größe seines Vergehens nicht ausreichend scheinen, so soll er das dem Geistlichen des Hauses gestehen. Und er soll sich nach dem Rat des Geistlichen und dem Befehl des Meisters verhalten. Jeder Bruder und jede Schwester soll drei Psalter lesen, falls sie das können, für einen Bruder oder eine Schwester, wenn diese sterben. Wer den Psalter nicht kann, soll dreihundert Vaterunser für die Seele sprechen. Auch soll weder ein Bruder noch eine Schwester anderes Bier als der Meister trinken, es sei denn, dass man es allen zuteilen könne. Gibt man ihnen Wein und kann man ihn nicht allen zuteilen, so gebe man ihn denjenigen, die seiner am meisten bedürfen. Von Weihnachten bis Fastenabend essen sie am Sonntag, Dienstag und Donnerstag Fleisch, ebenso von Ostern das Jahr hindurch bis zum Advent. Wenn jemand in Geschäften des Hauses auswärts ist, kann er dort, wo er beherbergt wird, essen, was man ihm vorsetzt. Beim Sitzen an der Tafel und beim Essen soll man still sein, abgesehen vom Meister. Die servieren, können unter sich oder zu dem Meister leise über die Dinge sprechen, die man braucht. Wer an der Tafel sprechen will, soll den Meister und die Brüder um Erlaubnis bitten. Mehr als drei Gänge sollen sie nicht haben, es sei denn an einem Heiligentage oder falls ihnen ein Almosen von barmherzigen Leuten zuteilwerde. Weil ferner Gehorsam besser als Buße ist, sollen sie alle dem Meister gehorsam sein. Wenn ein Bruder oder eine Schwester gegen das Verbot des Meisters oder von jemand, dem er seine Aufgabe anvertraut hat, um zu pilgern oder auf andere Weise seinem eigenen Willen nachzugehen, das erwähnte Haus verlassen hat, soll er künftig keinen Zu-
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gang zu diesem Haus haben, wenn er nicht angemessen bereut und gute Fürsprecher hat. Wer sich erstmals in die Bruderschaft dieses Hauses begibt, soll ein Jahr und einen Tag lang auf Probe leben. Wenn die Zeit vorbei ist und er weiterhin in der Bruderschaft des Hauses bleiben will, so leiste er Gehorsam. Danach darf er nicht fortgehen. Will er nicht bleiben, nachdem er Gehorsam geleistet hat, so erhält er das Gut, das er eingebracht hat, nicht zurück. Will er aber nicht weiterhin bleiben, wenn er noch vor der Gehorsamsleistung in der Probezeit ist, soll er sein ganzes Gut wiederhaben, er muss jedoch den Unterhalt bezahlen. Falls dem Meister des Hauses und dessen Rat sein Verhalten nicht gefällt, bleibt er nicht in dem Haus, auch wenn er gern bleiben würde. Es folgt die zweite Lesung. Wenn ein Pilger oder ein Heimatloser von Not gezwungen um Herberge in diesem Haus bittet, soll man ihn freundlich für eine Nacht aufnehmen. Wenn er aufgenommen ist und nichts zu essen hat, soll man ihm mit Rücksicht auf die Barmherzigkeit des Gotteshauses zu essen geben. Die kranken Leute, die dort in den Betten liegen und keine offensichtliche und benennbare ansteckende Krankheit haben, essen die Speise der Brüder. Diejenigen, die so krank sind, dass sie einer besonderen Nahrung bedürfen, die soll man, wenn immer man es haben kann, mit dem versorgen, was sie notwendig brauchen und fordern. Wenn jemand aber nicht krank ist und von dem Anblick oder Geruch [der Krankenspeise], ohne ihrer zu bedürfen, verlockt wird und sie ohne Not und ohne Krankheit unbillig fordert und davon redet, den soll man mit zwei Tagen Fasten bei Wasser und Brot bestrafen. Ebenso soll man diejenigen bestrafen, welche die Speise, die ihnen selbst oder anderen Leuten zu essen oder zu trinken gegeben wird, in diebischer Weise gesammelt und verkauft haben, und ebenso denjenigen, der die Speise seinen Verwandten diebisch gibt, wenn er dessen überführt wird. […] Wenn ein Bruder oder eine Schwester einen anderen mit beleidigenden Schimpfworten behandelt oder einem Kranken etwas Böses tut, soll er folgende Besserung leisten: Wo die Brüder sitzen und essen, soll er mitten unter ihnen auf dem Saum seines Gewandes sitzend ohne Tischtuch essen. Man lege ihm einen Laib Brot ohne Messer vor und einen Napf Wasser und nichts anderes. So soll er vier Tage Fasten halten, zwei in einer Woche, zwei in der anderen, den Mittwoch und den Freitag. Diese Besserung soll er einhalten. Wenn in diesem Haus jemand einen schlägt, soll man ihn, wenn es ein Mann ist, vor den Männern, wenn es eine Frau ist, vor den Frauen schwer züchtigen. Wie vorher gesagt, sitze er und esse dieselbe Speise und denselben Trank. Kommt es dazu, dass ein Bruder oder eine Schwester sich mit Unkeuschheit befleckt, soll er, wenn er dessen
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überführt wird, sieben Wochen lang, in jeder Woche drei Tage: montags, mittwochs und freitags, falls es ein Mann ist, vor den Meistern und den Brüdern entkleidet werden und knien und man soll ihn schlagen. Bei den Frauen geschieht das gleiche vor den Schwestern. Wenn ein Mann und seine Frau, die Eheleute sind, sich in die Bruderschaft dieses Hauses begeben und nach der Sitte der anderen Brüder in diesem Hause wohnen und Gott dienen wollen, und wenn sie in ein Alter gekommen sind, dass sie von Natur aus keine Kinder haben können, und vor den Brüdern und Schwester das geloben, dass sie niemals mehr zusammen schlafen wollen, kann man sie, wenn das als dem Hause nützlich erwiesen wird, nach der Art geschiedener Leute aufnehmen, jedoch so, dass sie danach keusch sein wollen und geloben, falls einer stirbt, dass der andere keusch bleiben will. Anders können sie in dem Haus nicht wohnen. Die Brüder und Schwestern sollen ihre festgelegte Kleidung tragen, weiß und grau, ohne jede Farbe, so wie man sie vom Schaf nimmt, dazu tragen sie Schuhe aus Rindsleder. Dritte Lesung. Kein Bruder oder keine Schwester soll außerhalb des Hauses in der Stadt Lübeck essen, auch wenn ihn ein Verwandter bittet, wie nah der ihm stehe, es sei denn, es handle sich um ein Almosen oder es geschehe in Geschäften des Hauses oder mit Erlaubnis des Meisters. Wenn sich ein reicher Mann oder eine reiche Frau in die Gemeinschaft der Bruderschaft des Hauses nach deren Lebensweise begeben will, geschieht es so, dass er seine Versorgung wie die anderen Brüder empfange. Er soll seine Wohnung neben dem gemeinsamen Wohnhaus haben. Dort soll er für sich allein sein oder mit seiner Ehefrau, falls sie dieselbe Lebensweise annehmen will. Einen Teil ihres Besitzes wenden sie an das Haus, einen Teil behalten sie. Weiterhin leben sie nach ihrem Willen als Ehepaar, doch unter der erwähnten Bedingung. Wenn sie die Erlaubnis dazu haben und einer unter den beiden Eheleuten stirbt, muss der andere fortan keusch bleiben. Dem Meister des Hauses soll man von Seiten der Brüder und Schwestern Pflicht, Ehre und Gehorsam erweisen. Ist ein Bruder oder eine Schwester ungehorsam, was nicht eintreten möge, so soll er einen Tag bei Wasser und Brot fasten. Handelt es sich um jemanden, der dort Dienst leistet, so soll man ihn aus dem Haus weisen. Die Knechte dieses Hauses sollen kein langes Haar und keine geschlitzten Röcke haben. Unnützen Gesang und unhöfliche Worte sollen sie vermeiden. Sie sollen keusch leben. Wenn einer eine Unkeuschheit innerhalb der Grenzen des Hauses begeht, soll man ihn, falls er dessen überführt wird, wegen des Vergehens nicht nur ausweisen, sondern er soll auch den Lohn verlieren, den man ihm schuldig ist.
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Wenn ein Kranker zu dem Haus kommt, soll man ihn barmherzig empfangen und ihm die notwendige Pflege, wie es die Sitte ist, zuteilwerden lassen. Zuerst soll er Gott Genugtuung leisten und dem Geistlichen des Hauses beichten und nach dessen Urteil Buße oder Reue leisten. Seinen Besitz soll er der Entscheidung des Meisters unterstellen. Wird er gesund, so soll er ihn an sich nehmen. Geschieht das nicht, soll der Besitz für sein Seelenheil zum Nutzen der Armen dem Hause verbleiben. Die Aufzeichnung dieser Lebensweise soll man einmal im Monat den Brüdern und Schwestern vorlesen, bevor sie zu Tisch gehen. Jeweils vor der Segnung soll man ihnen ein Vaterunser und ein Ave Maria sprechen, ebenso nach Tisch. Wenn der Meister des Hauses stirbt, sollen [die Brüder] mit [Rat] der Pfarrer Unserer Frau und Sankt Peters und zweier Ratsleute, die dazu bestimmt sind, einen neuen wählen, den der Bischof bestätigt [und] der dem Bischof Gehorsam leistet, und so leisten die Brüder und die Schwestern dem Meister wiederum Gehorsam. […] Dass die Brüder und Schwestern dieses Hauses in zukünftiger Zeit mit größeren und strengeren Regeln ihres Lebens beschwert werden, wollen wir nicht. Es folgt die vierte Lesung. Johannes, von Gottes Gnaden Bischof zu Lübeck, entbietet allen, die diese vorliegende Urkunde ansehen, Heil im Namen unseres Herrn Gottes. Da viele Vorschriften viele Vergehen hervorrufen, wollen wir einer Lehre des heiligen Jakobus (Jakobus 1,26) folgen, wo es heißt: Ein reines und unbeflecktes religiöses Leben bei Gott unserem Vater ist den Waisen und Witwen Trost in ihrer Not. So bewahren sie sich unbefleckt in dieser Welt. Für das wichtigste im religiösen Leben halten wir das Aufnehmen und Fördern armer Leute, die ohne Hilfe sind, die unser Herrgott durch das Feuer der Armut und durch das Übel ihrer Leibeskrankheit erprobt. Und da wir festgestellt haben, dass in der Herberge des Heiligen Geistes zu Lübeck arme Leute, Männer und Frauen, Gott und seinen Armen mit großer brennender Liebe und Demut dienen, so nehmen wir sie in unseren Schutz auf und legen ihnen keine Beschwerung auf, außer dass sie Keuschheit halten und kein Eigentum haben und geistliche Kleider tragen und ihrem geistlichen Meister des Hauses allen Gehorsam leisten. […] Geschehen und bestätigt zu Lübeck, nach unseres Herrn Geburt im Jahre 1363. Quelle: Hartmut Bookmann, Das Mittelalter. Ein Lesebuch aus Texten und Zeugnissen des 6. bis 16. Jahrhunderts, München 1988, 149–154 (Urkundenbuch der Stadt Lübeck I., 1843, Nr. 275B.). © Verlag C.H. Beck
108. Berthold von Regensburg: Von den fünf Pfunden (1264) Berthold wurde um 1210 in Regensburg geboren und starb dort 1272. Etwa 1226 trat er in den Franziskanerorden ein. Gegen 1240 nahm er seine Predigttätigkeit auf, die ihn in ausgedehnten Reisen durch weite Teile des Reichs führte. Berthold soll bei seinen oft im Freien gehaltenen Predigten bald 12.000, bald 40.000 und mehr Zuhörer_innen gehabt haben. Die Predigten Bertholds stehen im Zusammenhang der volkssprachlichen Predigt des 13. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund „häretischer“ Gruppen, die seit dem 12. Jahrhundert den Herrschaftsanspruch der Kirche durch freie Wanderpredigt und radikale Armutsforderungen in Frage stellten, kam vor allem der franziskanischen Volkspredigt die doppelte Funktion zu, den „Ketzern“ in theologischer und sozialer Hinsicht entgegenzutreten und gleichzeitig die Reformbemühungen der Kirche unter Beweis zu stellen. Die in Auszügen wiedergegebene Predigt entstammt der literarisch bedeutendsten Sammlung deutscher Predigten, die noch zu Bertholds Lebzeiten 1264 im Minoritenkreis zu Augsburg entstanden ist. Dabei wurden Predigten Bertholds nicht nur gesammelt, sondern auch bearbeitet. So entstand eine „literarisch höchst artifizielle Buchpredigt“ (Werner Röcke), die als „einer der Gipfel mittelalterlicher deutscher Prosa“ (Dieter Richter) gilt. Berthold sieht in seinen Predigten den Gesamtbestand der Gesellschaft in Gefahr. Die Gemeinschaft aller Menschen in der von Gott gesetzten Ordnung droht zu zerbrechen. Wirtschaftliche und soziale Wandlungen im Zuge der Ausbreitung der Geldwirtschaft und des beginnenden „Zeitalters der Kaufleute“ bilden den Hintergrund für die von Berthold beklagten Erscheinungen. Der Predigt von den fünf Pfunden liegt das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14–30) zugrunde. Berthold schildert fünf Pfunde, Talente, die Gott den Menschen geschenkt und anvertraut hat. Entsprechend muss jeder Rechenschaft ablegen über (1) sich selbst, sein Herz, (2) den Beruf, (3) seine Zeit, (4) seinen Besitz und (5) die Liebe zum Nächsten. Die folgenden Auszüge beziehen sich auf den Besitz. Franziskanische Spiritualität soll sich unter den Bedingungen der alltäglichen Lebenswelt im verantwortlichen Umgang mit dem Besitz niederschlagen. Dazu gehört die Verpflichtung, Arme zu unterstützen. Aber auch Kirchen und Spitäler sollen mit Schenkungen bedacht werden. Die Haltung den Armen gegenüber ist dabei von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet: Zu der Verpflichtung, Arme zu unterstützen, gesellt sich der Vorbehalt gegenüber den Armen, denen es – so Berthold – an Anstand mangelt.
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Das vierte Pfund, das euch Gott der Allmächtige anvertraut hat, ist dein Besitz: Es ist dein Besitz hier auf Erden, den Gott euch anvertraut hat; an eurem jeweils vierten [Finger, Zeh oder Sinn] sollt ihr es erkennen. Auch bei diesem Pfund wird Gott nicht darauf verzichten, dass ihm jeder Mensch darüber doppelt Rechenschaft ablegt. Denn Gott hat dir deinen Besitz unter zwei Bedingungen anvertraut. Ebenso also wie er dir diese fünf Pfund insgesamt unter jeweils zwei Bedingungen anvertraut hat, hat er dir auch deinen irdischen Besitz unter zwei Bedingungen anvertraut. Die eine Bedingung besteht darin, ihn nur für deinen Lebensunterhalt zu verwenden, also für all das, was du, deine Frau, deine Kinder und deine sonstigen Hausgenossen wirklich zum Leben brauchen. Es stimmt schon: Dem einen hat er viel mehr Besitz anvertraut als dem anderen, doch muss ihm der dafür auch über viel mehr Besitz Rechenschaft ablegen. […] Ob dir Gott nun viel oder wenig anvertraut hat: in jedem Fall musst du unserem Herrn darüber Rechenschaft ablegen, wie du es verwendet hast. Wenn du es nur für dich und deine Hausgenossen zur angemessenen Verpflegung und Bekleidung verbrauchst und für all das, was du sonst noch zum Leben tatsächlich benötigst, dann wirst du deswegen nicht dem ewigen Verderben überantwortet. Wenn du es aber den Gauklern und Possenreißern schenkst, um dafür Anerkennung und Ansehen zu gewinnen, dann musst du dich vor Gott dafür verantworten. […] Etwas Zweites aber müsst ihr für die Abrechnung über euren Besitz noch berücksichtigen: dass ihr ihn auch zum Lobe Gottes gebrauchen sollt! Denn Gott hat dir ja diese fünf Pfund mit der Auflage anvertraut, ihm über sie doppelt Rechenschaft abzulegen: einerseits mit Rücksicht auf dich selbst, andererseits mit Rücksicht auf unseren Herrn. Denn alle diese fünf Pfund musst du mit ihm teilen; ein jedes kommt zur Hälfte dir und zur Hälfte unserem Herrn zu, hat er sie dir doch zu deinem Nutzen anvertraut, damit er schließlich sagen kann: „Freue dich, du rechtschaffener Knecht und tritt ein zum Freudenfest deines Herrn.“ – Ebenso sollst du nun auch über das vierte Pfund vor Gott Rechenschaft ablegen: also über dein irdisches Gut. Er hat es dir dazu anvertraut, dass du ihn damit – in Erfüllung der zweiten Bedingung – lobst und preist. Um Gottes willen sollst du borgen, Almosen austeilen, die Hungrigen speisen, den Durstigen zu trinken geben, die Nackten bekleiden und denen, die keine Bleiben haben, zu einem Dach über dem Kopf verhelfen.1 Am Jüngsten Tag wird er dich bei der Abrechnung dieses Pfunds danach fragen. Schließlich sollt ihr auch Kirchen und Spitäler beschenken und Messen stiften. „Was aber nun, Bruder Berthold: so mancher würde ja liebend gern Gaben aus1
Vgl. Mt 25,31ff.
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teilen, doch besitzt er sie einfach nicht.“ Schau, wenn du sie nicht besitzt, dann bist du vor Gott von dieser Verpflichtung entlastet. Dennoch, wenn du auf mich hören willst, so lautet mein Rat: Gib auch du reiche Almosen mit dem Gut, das du nie erworben hast und auch niemals mehr erwerben kannst, bzw. mit dem Gut, das du erworben, dann aber verloren hast und niemals mehr zurückbekommst. Denn auch wenn du niemals Gut erworben hast und auch niemals mehr erwerben kannst, sollst du dennoch insofern Almosen ausgeben, als du dich ganz bereitwillig in deine Armut fügst. Deshalb sage aufrichtig und festen Herzens: „Herr, schenke mir deine Gnade! Sollten diese Burg und dieses Land auch mir gehören, so würde ich dennoch beides, einzig um dich zu preisen, bereitwilligst aufgeben: Um deines Ruhms willen würde ich darauf verzichten und wäre lieber so arm, wie ich es ja schließlich auch bin, um dann allerdings den ewigen Reichtum zu erlangen.“ Dafür wird dich Gott gerade so belohnen, als ob du es ihm tatsächlich hingegeben hättest. Deshalb sagt auch der heilige Petrus: „Herr, wir haben alles, was wir besitzen, um deinetwillen aufgegeben; was werden wir dafür zum Lohn erhalten?“2 Was war es denn schon Großartiges, was er um Gottes willen aufgegeben hat? Ein Fischnetz und einen Fischerkahn! Doch war das noch nicht alles: So sehr hat er Gott geliebt, dass er, wenn er auch alle Königreiche besessen hätte, auf sie alle aus seiner Liebe zu Gott verzichtet hätte. Ebenso wird Gott der Allmächtige heutzutage mit dem verfahren, der ihn von ganzem Herzen liebt und sich ihm völlig überantwortet: Er nimmt den Willen für die Tat. Denn wie dem heiligen Petrus sieht er auch heute noch allen Menschen ins Herz. – Von dem Besitz, den du verloren hast und niemals mehr zurückbekommen kannst, sprich wie Hiob: „Herr Gott, du hast ihn mir gegeben, du nimmst ihn mir auch wieder.“3 Wenn dir aber jemand anders als Gott deinen Besitz weggenommen hat, so verzichte ehrlichen Herzens darauf, ihn zu verfolgen! Falls du ihn allerdings zurückerhalten kannst, so hast du dazu Gottes Einverständnis. Auch sollt ihr armen Menschen borgen: Aufgrund eures Besitzes seid ihr dazu vor Gott verpflichtet, und schließlich werdet ihr dadurch auch überhaupt nicht ärmer. Denn ebenso wie die Sonne der ganzen Welt ihr helles Licht hingibt, dadurch aber nicht abnimmt, sollt auch ihr das verborgen, was Gott euch anvertraut hat, können doch schon sechs geliehene Pfennige einem Armen bisweilen ebenso nutzen, als ob er sie geschenkt bekommen hätte. Dafür sollt ihr aber auch gar nichts als Gegenleistung annehmen, auch nicht das Geringste, wäre das doch bereits richtiger Wucher. „Bruder Berthold, nun wollte aber einer durchaus nicht darauf verzichten!“ Dann schick 2 3
Vgl. Mt 19,27. Vgl. Hi 1,21b.
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du ihm denselben oder einen noch höheren Betrag zurück oder aber Gott versagt dir deinen Lohn für dein Borgen; es führt dann vielmehr zu deiner Verdammnis. Weder Dienstleistungen noch Geschenke dürft ihr dafür annehmen! Wenn dir jemand über den geborgten Beitrag hinaus geringe oder gar erhebliche Zuwendungen machen oder dir sonst irgendwie zu Diensten stehen sollte, dann erstatte ihm das zurück oder du hast mit deiner Art zu borgen dein Seelenheil verspielt. Ob es euch nun passt oder nicht: Ihr seid dazu verpflichtet, die Armen zu unterstützen, wie auch der heilige Johannes sagt: „Gib dem Hungrigen zu essen!“4 Gibst du ihm aber nichts und er stirbt deswegen, dann hast du dich an ihm versündigt. Allerdings dürft ihr sehr wohl ein angemessenes Unterpfand verlangen, fehlt doch gerade den Armen leider nur zu oft jeglicher Anstand. Deshalb gestattet es euch Gott durchaus, ein angemessenes Unterpfand zu verlangen. Denn all das, anstelle dessen man bei Juden Wucherzinsen zahlen müsste, erstattet dir Gott so zurück, als ob du es ihm eigenhändig übergeben hättest. Quelle: Berthold von Regensburg, Die ander. Von den funf phunden. D[n]e quinque talenta/Von den fünf Pfunden, in: ders., Vier Predigten. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt und herausgegeben von Werner Röcke, Universal-Bibliothek 7974, Stuttgart 1983, 4–55: 41–51. © 2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
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Die Stelle ist im Johannes-Evangelium nicht belegt. Denkbar wäre ein Hinweis auf die Bildrede vom Brot des Lebens: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nicht hungern [...].“ (Joh 6,35), wahrscheinlicher aber auf die Speisung der Fünftausend, allerdings nach der Matthäus-Überlieferung [...] (Mt 14,16).
109. Thomas von Aquin: Über das Almosen (um 1270) Der in der Nähe von Aquino (Latium) geborene Dominikaner Thomas (1224–1274) ist der wirkungsgeschichtlich bedeutendste Theologe des Mittelalters, dem durch eine päpstliche Enzyklika (1879) und seiner Anerkennung als maßgebendem Lehrer der Kirche weit über das 19. Jahrhundert hinaus Bedeutung zukommt. Nach Studium und Lehrtätigkeiten in Köln, Paris, an der päpstlichen Kurie und Ordenshochschulen verfasste er in den letzten Jahren seines Lebens (1267–1273) seine (unvollendete) Summa Theologica, die Anfänger in die Theologie einführen sollte. In dem in zwei Teile gegliederten zweiten Teil entwickelt er eine theologisch-philosophische Ethik. Anders als die verästelte Tugendtypologie und die Aufmerksamkeit für die Intention des Gebers, wie sie Radulfus Ardens (s. Text 99) herausgearbeitet hatte, entwickelt Thomas unter Rückgriff auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) eine an der Seinsordnung ausgerichtete Tugendethik: Durch die Einübung von vier natürlichen Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Maßhalten, Tapferkeit, Klugheit), die durch das sakramentale Wirken der Kirche aufgenommen und durch drei theologische Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) ergänzt und vollendet werden, verstetigen Menschen idealerweise die von Gott der Schöpfung bzw. dem natürlichen Sein eingestifteten normativen Vorgaben, die als Naturrecht vernünftig erkennbar sind. Die philosophische Einsicht in das Natürliche und die offenbarungstheologische Grundlage des Glaubens und der Kirche stellen insofern keinen Gegensatz dar. Vielmehr vollendet die Gnade die Natur (vgl. STh I, q. 1. 8 ad 2). Der Umfang der Almosenlehre und ihre systematische Komplexität – Thomas behandelt 303 Themen bzw. Themenaspekte in scholastischer Form ausgehend von Fragen – dokumentieren, wie ausführlich sich Thomas auf das geschöpfliche Sein in einer sich immer komplexer entwickelnden Welt (vermehrte Stadtgründungen, längerfristiger Wirtschaftsaufschwung, moderater technologischer Fortschritt) und deren Herausforderungen einlässt. Der vorliegende Textausschnitt skizziert die Liebe als „Beweggrund“ (forma virtutum, vgl. II–II, q. 23) der thomanischen Almosenlehre und verortet sie zwischen legitimer Selbsterhaltung sowie ständisch orientierter, jedoch sozialer Eigentumsbindung. Dem Almosengeben kommt insofern heilsrelevante Bedeutung zu, als der Almosenempfänger für das verdienstvolle Wirken des Almosengebers und dessen ewiges Leben betet. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam entzündete sich hieran und an den exzessiven „Fehlformen“ die reformatorische Kritik Martin Luthers.
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Über das Almosen
32. Frage Über das Almosen Darauf müssen wir das Almosen betrachten. Dazu ergeben sich zehn Einzelfragen: l. Ist Almosengeben ein Akt der Gottesliebe? 2. Die Verschiedenheit der Almosen. 3. Welches sind die wertvolleren Almosen, die geistigen oder die leiblichen? 4. Haben die leiblichen Almosen eine geistige Wirkung? 5. Fällt Almosengeben unter das Gebot? 6. Muss das leibliche Almosen notwendig gegeben werden? 7. Muss man es auch von dem zu Unrecht Erworbenen geben? 8. Wer muss Almosen geben? 9. Wem muss man Almosen geben? 10. Die Art und Weise, Almosen zu geben. 1. ARTIKEL Ist Almosengeben ein Akt der Gottesliebe? […] ANTWORT: Die äußeren Akte werden auf jene Tugend bezogen, zu welcher der Beweggrund zur Ausführung dieses bestimmten Aktes gehört [87]. Beweggrund zum Almosengeben aber ist, dem Notleidenden zu helfen; deshalb sagen einige, wo sie das Almosen begrifflich bestimmen: Almosen ist „ein Werk, das wir aus Mitleid den Bedürftigen leisten um Gottes willen“. Dieser Beweggrund gehört zur Barmherzigkeit (30, 4). Deshalb ist Almosengeben offenbar im eigentlichen Sinne ein Akt der Barmherzigkeit. Das ergibt sich schon aus dem Namen, denn im Griechischen wird es von „Barmherzigkeit“ abgeleitet, wie im Lateinischen „Erbarmen“ [88]. Weil nun die Barmherzigkeit eine Wirkung der Gottesliebe ist (30, 2; 3 E. 3), so ist folgerichtig Almosengeben ein Akt der Gottesliebe durch Vermittlung der Barmherzigkeit. […] 2. ARTIKEL Werden die Arten der Almosen sinnvoll unterschieden? Es werden sieben leibliche Almosen angenommen, nämlich: den Hungrigen speisen, den Durstigen tränken, den Nackten bekleiden, den Gast beherbergen, den Kranken besuchen, den Gefangenen erlösen und den Toten begraben, die in folgendem Vers zusammengefasst sind: ,,Besuche, tränke, speise, löse, kleide, gib Obdach, begrabe!“ Außerdem werden noch sieben geistige Almosen aufgezählt, nämlich: den Unwissenden belehren, dem Zweifelnden raten, den Trauernden trösten, den Fehlenden zurechtweisen, dem Beleidiger verzeihen, die Lästigen und Schwierigen ertragen und für alle beten, die wiederum in
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folgendem Vers aufgezählt sind, doch so, dass Rat und Lehre in eins zusammengefasst sind: ,,Rate, rüge, tröste, verzeih, ertrage, bete!“ Nun scheint es, dass es nicht sinnvoll ist, diese Arten von Almosen zu unterscheiden. Denn das Almosen ist ausgerichtet auf die Hilfe des Nächsten. Dadurch aber, dass der Nächste begraben wird, ist ihm nicht geholfen, sonst wäre es nicht wahr, was der Herr sagt: ,,Fürchtet nicht die, die den Leib töten und danach nichts weiter tun können“ (Mt 10,28; vgl. Lk 12,4). Deshalb tut auch der Herr, wo er Mt 25,35f. und 42f. die Werke der Barmherzigkeit aufzählt, des Begräbnisses der Toten keine Erwähnung. Also scheint es nicht sinnvoll, dass die Almosen so wie hier unterschieden werden. […] ANTWORT: Die genannte Unterscheidung der Almosen wird sinnvoll angenommen nach den verschiedenen Mängeln, die beim Nächsten auftreten können. Deren einige kommen von Seiten der Seele, worauf die geistigen Almosen ausgerichtet sind; einige aber von Seiten des Leibes, worauf die leiblichen Almosen ausgerichtet sind. Der leibliche Mangel tritt entweder während des Lebens auf oder nach dem Leben. Wenn während des Lebens, dann ist es entweder ein allgemeiner Mangel in Bezug auf das, was alle nötig haben; oder es ist ein besonderer Mangel, der noch dazukommt. Wenn in der ersten Weise, so haben wir entweder einen inneren oder einen äußeren Mangel. Der innere ist doppelt: einer, dem wir durch trockene Nahrung abhelfen, nämlich der Hunger, und dementsprechend heißt es: den Hungrigen speisen; ein anderer aber, dem wir durch flüssige Nahrung abhelfen, nämlich der Durst, und dementsprechend heißt es: den Dürstenden trinken. – Der allgemeine Mangel in Bezug auf die äußere Hilfe ist wiederum doppelt: einer in Bezug auf die Kleidung, und dementsprechend heißt es: den Nackten bekleiden; der andere in Bezug auf die Wohnung, und dafür heißt es: den Gast beherbergen. – Ebenso wenn es sich um einen besonderen Mangel handelt, so kommt dieser entweder aus einer inneren Ursache, wie die Krankheit, und so heißt es: den Kranken besuchen; oder aus einer äußeren Ursache, und so heißt es: den Gefangenen loskaufen. – Nach dem Leben aber wird den Toten das Almosen des [würdigen] Begräbnisses zuteil. Ebenso wird den geistigen Mängeln durch geistige Akte in doppelter Weise begegnet. Einmal, indem wir Hilfe von Gott erbitten, und dafür wird das Gebet eingesetzt, in welchem einer für den anderen betet [31, 2 Zu l]. – In anderer Weise, indem wir eine menschliche Hilfe schenken, und das in dreifacher Weise. Einmal (l.) gegen den Mangel des Verstandes; und wenn es ein Mangel des schauenden Verstandes ist, so wird ihm das Heilmittel gereicht durch die Lehre: wenn aber des auf die Tat gerichteten Verstandes, so wird ihm das Heilmittel durch den Rat [...]. – In anderer Weise (2.) haben wir den Mangel aus der Leidenschaft der Strebekraft, und da liegt der größte in der Trau-
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rigkeit [I–II 37, 2–4: Bd. 10], der wir abzuhelfen suchen durch die Tröstung. – Drittens 3.) [haben wir den Mangel] von Seiten des ungeordneten Aktes, der wiederum dreifach gesehen werden kann. Einmal (a) von Seiten des Fehlenden selbst; soweit er aus dessen ungeordnetem Willen hervorgeht, und dem wird das Heilmittel gereicht in der Form der Zurechtweisung. In anderer Weise (b) von Seiten dessen, gegen den gesündigt wird; und so, wenn es eine Sünde gegen uns selbst ist, reichen wir das Heilmittel dadurch, dass wir die Beleidigung verzeihen; wenn aber gegen Gott oder gegen den Nächsten, so steht es „nicht in unserer Freiheit zu verzeihen“, wie Hieronymus sagt. Drittens (c) von Seiten der Folgen des ungeordneten Aktes, durch welche, auch gegen die Absicht des Fehlenden, die belastet werden, die mit ihm [dem Sünder] zusammenleben müssen, und so wird das Heilmittel dadurch gereicht, dass man ihn erträgt, vor allem bei jenen, die aus Schwachheit sündigen; nach Röm 15,1: ,,Wir, die Starken, müssen die Schwächen der anderen tragen.“ Und nicht nur, insofern die Schwachen schwierig sind aus ihrem eigenen ungeordneten Akte, sondern auch alle ihre anderen Lasten sind zu tragen nach Gal 6,2: ,,Einer trage des anderen Last.“ […] 3. ARTIKEL Sind die leiblichen Almosen besser als die geistigen? […] ANTWORT: Der Vergleich der beiden Arten von Almosen kann doppelt gesehen werden. Einmal, wenn wir schlechthin sprechen, und danach haben die geistigen Almosen den Vorrang, aus einem dreifachen Grunde. Erstens, weil das, was gereicht wird, vornehmer ist, nämlich eine geistige Gabe, die den Vorrang hat vor der leiblichen; nach Spr 4,2: ,,Eine gute Gabe gebe Ich euch: verlasst Meine Unterweisung nicht.“ – Zweitens wegen dessen, dem damit geholfen wird, denn der Geist ist vornehmer als der Leib. Deshalb, wie der Mensch für sich selbst mehr sorgen muss in Bezug auf den Geist als in Bezug auf den Leib, so auch für den Nächsten, den er lieben soll wie sich selbst. – Drittens auf Grund der Akte selbst, mit denen wir dem Nächsten helfen; denn die geistigen Akte sind vornehmer als die leiblichen, die in gewissem Sinne die eines Knechtes sind. In anderer Weise können [die beiden Arten von Almosen] verglichen werden für einen besonderen Fall, wo ein leibliches Almosen einem geistigen vorgezogen wird. Z. B. wäre ein vor Hunger Sterbender eher zu speisen als zu belehren; wie es auch nach dem Philosophen besser ist, ,,den Notleidenden zu beschenken als mit ihm zu philosophieren“, mag auch dies schlechthin besser sein. […] 4. ARTIKEL Haben die leiblichen Almosen eine geistige Wirkung? […]
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ANTWORT: Das leibliche Almosen kann dreifach betrachtet werden. Einmal nach seinem Wesen. Und danach hat es nur eine leibliche Wirkung, sofern es nämlich die leiblichen Mängel des Nächsten aufhebt. – In anderer Weise kann es betrachtet werden von Seiten seiner Ursache, sofern einer das leibliche Almosen gibt um der Liebe Gottes und des Nächsten willen. Und insofern bringt es eine geistige Frucht; nach Sir 29,l3f. ,,Verliere lieber dein Geld um deines Bruders willen [...]. Sammle dir einen Schatz nach den Geboten des Allerhöchsten. Das wird dir mehr nützen als Gold.“ Drittens von Seiten der Wirkung. Und auch so hat es eine geistige Frucht, sofern der Nächste, dem das leibliche Almosen eine Hilfe bedeutet, angeregt wird, für den Wohltäter zu beten. Deshalb wird dort (V. 15) hinzugefügt: ,,Hinterlege dein Almosen im Herzen des Armen, es wird für dich erflehen, dass dir nichts Böses widerfährt“ [...]. […] 5. ARTIKEL Fällt das Almosengeben unter das Gebot? […] ANTWORT: Da die Nächstenliebe unter das Gebot fällt, fällt notwendig all das unter das Gebot, ohne das die Nächstenliebe nicht gewahrt bleibt. Zur Nächstenliebe aber gehört, dass wir dem Nächsten nicht nur Gutes wünschen, sondern auch tun; nach lJoh 3,18: ,,Lasst uns nicht lieben in Worten und mit der Zunge allein, sondern mit Werk und Wahrheit.“ Dazu aber, dass wir das Gut des anderen wünschen und wirken, ist erforderlich, dass wir ihm in der Not zu Hilfe kommen; das geschieht durch die Darreichung von Almosen. Also fällt die Darreichung von Almosen unter das Gebot. Weil aber die Gebote für die Akte der Tugenden gegeben werden, fällt das Almosengeben nur in der Weise unter das Gebot, wie auch der Akt notwendig zur Tugend gehört, nämlich: soweit es die rechte Vernunft erfordert [vgl. 31,3 Zu 1 u. 3]. Danach ist etwas zu bedenken von Seiten des Gebenden und etwas von Seiten dessen, dem das Almosen zu geben ist. Von Seiten des Gebenden ist zu beachten, dass das, was als Almosen aufgewandt wird, zu seinem Überfluss gehört; nach Lk 11,41: ,,Von dem, was euch übrig ist, gebt Almosen.“ Ich spreche von ,,Überfluss“ nicht nur in Bezug auf ihn selbst, was über dem liegt, was der Einzelne für sich notwendig hat, sondern auch mit Rücksicht auf die anderen, für die er zu sorgen hat; denn zuerst muss ein jeder für sich selbst sorgen und für die, die seiner Sorge anvertraut sind (in Bezug darauf spricht man von dem ,,Notwendigen der Person“, sofern ,,Person“ Würde besagt), und nachher soll er mit dem, was noch übrig ist, den Nöten des anderen aufhelfen. So nimmt auch die Natur mit Hilfe der Ernährungskraft zunächst für sich zur Erhaltung des eigenen Leibes, was sie notwendig hat; den Überfluss aber wendet sie durch die Zeugungskraft auf die Erzeugung des anderen.
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Von Seiten des Empfangenden aber ist erfordert, dass er [das Almosen] nötig hat; sonst wäre kein Grund da, ihm ein Almosen zu geben. Weil es aber nicht möglich ist, dass ein einziger allen Notleidenden hilft, so verpflichtet auch nicht jede Not im Sinne des Gebotes, sondern nur jene, ohne deren Behebung der Notleidende nicht erhalten werden kann. In diesem Falle nämlich gilt, was Ambrosius sagt: ,,Speise den, der vor Hunger stirbt. Tust du es nicht, so hast du ihn getötet.“ Demnach fällt also Almosengeben vom Überfluss unter das Gebot; ebenso Almosengeben dem, der in äußerster Not ist. Sonst aber fällt Almosengeben unter den Rat, wie es über jedes höhere Gut einen Rat gibt. […] Die zeitlichen Güter, die dem Menschen von Gott gegeben werden, gehören ihm zwar, was das Eigentumsrecht angeht; was aber den Gebrauch angeht, so dürfen sie nicht ihm allein gehören, sondern auch den anderen, die aus ihrem Überfluss unterstützt werden können. Deshalb sagt Basilius: „Wenn du bekennst, dass sie (nämlich die zeitlichen Güter) dir von Gott kommen – ist Gott vielleicht ungerecht, dass Er die Lebensgüter an uns so ungleich verteilt? Jedenfalls nur deshalb, damit du für deine gute und treue Verwaltung einen Lohn erhältst, jener aber mit den herrlichen Siegespreisen der Geduld geschmückt werde! Dem Hungrigen gehört das Brot, das du zurückhältst; dem Nackten das Kleid, das du im Schranke verwahrst; dem Barfüßigen der Schuh, der bei dir verfault; dem Bedürftigen das Silber, das du vergraben hast. Du tust also ebenso vielen Unrecht, als du hättest geben können.“ Dasselbe sagt Ambrosius. […] 6. ARTIKEL Muss man Almosen geben vom Notwendigen? […] ANTWORT: „Notwendig“ heißt etwas in doppelter Hinsicht. Einmal, ohne das etwas nicht sein kann. Und von diesem Notwendigen darf man unter keinen Umständen Almosen gehen; z. B. wenn einer sich in augenblicklicher Not befinden würde und nur noch das hätte, was er für sich und seine Kinder und andere, die zu ihm gehören, braucht, um über Wasser zu bleiben; von diesem Notwendigen noch Almosen geben heißt soviel, wie sich und den Seinen das Leben nehmen. – Das sage ich aber mit Vorbehalt: den Fall nämlich ausgenommen, wo jemand mit eigenem schwerem Schaden einer hohen Persönlichkeit geben würde, durch welche Kirche oder Staat in ihrem Bestande erhalten würden; denn für die Befreiung einer solchen Persönlichkeit wäre es sogar lobenswert, wenn er sich und die Seinen der Gefahr des Todes aussetzen würde, da das Gemeinwohl den Vorrang hat vor dem eigenen. In anderer Weise heißt etwas „notwendig“ , ohne das das Leben nicht entsprechend der Verfassung oder dem Stande der eigenen und der
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anderen Personen, deren Sorge ihm obliegt, geführt worden kann. Die Grenze dieses Notwendigen lässt sich nicht genau festlegen; sondern wenn auch viel hinzugefügt wird, lässt es sich nicht [mit Sicherheit] entscheiden, dass es das Notwendige überschreitet und soviel auch weggenommen wird, es bleibt immer noch so viel, dass der Einzelne sein Leben seinem Stande entsprechend führen kann. Von diesem [Notwendigen] Almosen geben ist gut, fällt aber nicht unter das Gebot, sondern unter den Rat. Es wäre aber Unordnung, wenn einer so viel von den eigenen Gütern wegnehmen wollte, um es anderen zu geben, dass er von dem Rest nicht mehr das seinem Stande und seinen Aufgaben entsprechende Leben führen könnte; denn keiner ist gehalten, unter seinem Stande zu leben. Doch gibt es da drei Ausnahmen. Die erste ist dann gegeben, wenn einer seinen Stand ändert, indem er in einen Orden eintritt. In diesem Falle nämlich gibt er alles hin um Christi willen und tut damit ein vollkommenes Werk, indem er einen anderen Stand wählt. – Die zweite Ausnahme ist dann gegeben, wenn einer sich zwar das zum standesmäßigen Leben Notwendige entzieht, es aber leicht wieder ersetzen kann, so dass ein größerer Nachteil vermieden wird. – Die dritte Ausnahme ist dann gegeben, wenn eine Einzelperson oder auch der Staat in äußerste Not geraten würde. In diesem Falle würde einer lobenswert handeln, wenn er auf das verzichtet, was zur Würde seines Standes zu gehören scheint, um der größeren Not abzuhelfen. […] 7. ARTIKEL Kann man Almosen geben von dem, was man unrechtmäßig erworben hat? […] ANTWORT: In dreifacher Weise kann etwas unrechtmäßig erworben sein. Einmal ist das, was unerlaubterweise von jemandem erworben wird, dem geschuldet, von dem es erworben wurde: noch kann es von dem, der es erworben hat, zurückbehalten werden; wie das der Fall ist bei Raub, Diebstahl und Wucher. Von diesen Dingen kann man kein Almosen geben, da der Mensch zur Zurückerstattung verpflichtet ist. In anderer Weise ist etwas unrechtmäßig erworben, weil der, der es erworben hat, es nicht behalten kann, und doch gehört es auch dem nicht, von dem es erworben wurde, weil dieser es zu Unrecht empfangen, der andere es zu Unrecht gegeben hat. Das ist der Fall beim Pfründenkauf, bei dem sowohl der Geber wie der Empfänger gegen die Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes handeln. Deshalb darf die Zurückerstattung nicht an den erfolgen, der es gegeben hat, sondern es muss in Almosen verwandelt werden. Dasselbe gilt in ähnlichen Fällen, bei denen Geben und Empfangen gleicherweise gegen das Gesetz ist.
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In einer dritten Weise ist etwas unrechtmäßig erworben, nicht weil die Erwerbung selbst unerlaubt wäre, sondern weil das, woraus es erworben wird, unerlaubt ist, wie das offenbar ist bei dem, was ein Weib durch Buhlerei erwirbt. Und das wird im eigentlichen Sinne als „schimpflicher Erwerb“ bezeichnet. Wenn nämlich ein Weib Buhlerei treibt, so handelt es schimpflich und gegen Gottes Gesetz; dass sie aber etwas dafür nimmt, darin handelt sie nicht unrechtmäßig und nicht gegen das Gesetz. Was demnach auf diese Weise unrechtmäßig erworben wurde, kann sie behalten und davon Almosen geben. […] Im Falle äußerster Not sind alle Dinge gemeinsam. Deshalb darf der, der solche Not leidet, von fremdem Gut zu seinem Unterhalt nehmen, wenn er keinen findet, der ihm freiwillig gibt. Aus demselben Grunde ist es erlaubt, etwas vom fremden Gut zu nehmen und davon Almosen zu geben, natürlich auch anzunehmen, wenn dem Notleidenden anders nicht geholfen werden kann. […] 8. ARTIKEL Kann der, der unter der Gewalt eines anderen steht, Almosen geben? […] ANTWORT: Wer unter der Gewalt eines anderen steht, muss als solcher durch die Gewalt des Oberen das Richtmaß für sein Verhalten empfangen; denn das ist die natürliche Ordnung, dass die Untergebenen von den Höheren gelenkt werden. Es ist also notwendig, dass der Untergebene das, worin er den Oberen unterworfen ist, nicht anders verwendet, als wie ihm von seinen Oberen aufgetragen wurde. Demnach darf der, der unter der Gewalt eines anderen steht, von dem, worin er dem Oberen unterworfen ist, nur insoweit Almosen geben, als es ihm von seinem Oberen erlaubt wurde. Wenn aber einer etwas besitzt, worin er der Gewalt des Oberen nicht untersteht, so ist er in Bezug darauf seiner Gewalt nicht unterworfen, da er in Bezug darauf eigenen Rechtes ist. Und davon kann er dann Almosen geben. […] 9. ARTIKEL Muss man dem näher Verwandten mehr Almosen geben? […] ANTWORT: Wie Augustinus sagt, sind uns jene, die uns näher stehen, gleichsam vom Schicksal zugeführt, so dass wir mehr für sie sorgen müssen. Doch muss hier eine gewisse Zurückhaltung beobachtet werden nach der Verschiedenheit der Verbindung, der Heiligkeit und des Nutzens. Denn dem Heiligeren, der zugleich Not leidet und dem Gemeinwohl nützlicher ist, muss man eher Almosen geben als dem Näherstehenden, besonders wenn er nicht allzu stark mit uns verbunden ist, so dass wir besonders für ihn sorgen müssten, zumal wenn er nicht allzu große Not leidet. […] Almosengeben hat für den Lohn der ewigen Vergeltung einen doppelten Wert. Einmal aus der Wurzel der Gottesliebe. Und insofern ist das
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Almosen verdienstlich, soweit bei ihm die Ordnung der Gottesliebe gewahrt bleibt, nach der wir, unter sonst gleichen Umständen, für die enger Verwandten sonst mehr sorgen müssten. Deshalb sagt Ambrosius: „Jene Freigebigkeit ist zu billigen, dass man nicht von seinen Blutsverwandten, wenn man von deren Not erfährt, den Blick verächtlich wegwendet. Besser ist es jedenfalls, dass du selbst den Deinigen zu Hilfe kommst, für den Fall, dass sie sich schämen, von anderen ihren Unterhalt zu erbitten.“ – In anderer Weise hat das Almosen seinen Wert für die Vergeltung des ewigen Lebens, aus dem Verdienst dessen, dem es dargereicht wird, weil er für den Geber betet. […] 10. ARTIKEL Muss man reichlich Almosen geben? […] ANTWORT: Die Fülle der Almosen kann betrachtet werden von Seiten des Gebenden und von Seiten des Empfangenden. Von Seiten des Gebenden [sprechen wir dann von Fülle], wenn einer viel gibt im Verhältnis zum eigenen Vermögen. Und so ist es lobenswert, reichliche Almosen zu geben – deshalb hat auch der Herr Lk 21,3f. die Witwe gelobt, ,,weil sie von ihrer Armut alles, was sie zum Unterhalt besaß, geopfert hat“ –, unter Berücksichtigung dessen allerdings, was oben (Art. 6) über das Almosen gesagt wurde, das vom Notwendigen genommen wird. Von Seiten dessen aber, dem es gegeben wird, kann man in doppelter Weise von „reichlichem“ Almosen sprechen. Einmal insofern es seiner Bedürftigkeit genügend Abhilfe schafft, und so ist es lobenswert, ein reichliches Almosen zu geben. – In anderer Weise so, dass es reichlich ist bis zum Überfluss, und das ist nicht lobenswert, denn es wäre besser, es mehreren Bedürftigen zukommen zu lassen. Deshalb sagt der Apostel 1Kor 13,3: ,,Wenn ich [meine ganze Habe] zur Speisung der Armen austeile ...“, wozu die Glosse bemerkt: ,,Damit wird uns Vorsicht im Almosengeben gelehrt, damit wir nicht einem, sondern vielen geben und es vielen zugutekomme.“ Quelle: Thomas von Aquin, Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica, Bd. 17 A. Die Liebe, 1. Teil, kommentiert v. Heinrich Maria Christmann OP. Heidelberg u.a. 1959, 253–293 (STh q. 32, a.1–10).
110. Statuten des Leprosenhauses zur Marbecke/Soest (1277) Bis ins 12. Jahrhundert waren Leprosorien weitgehend auf Bischofsstädte beschränkt. Den Bischöfen oblag im frühen Mittelalter in besonderer Weise die Fürsorge der Leprosen. Zugleich waren die an Aussatz Erkrankten als „Toten gleich“ aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen. Erst im hohen Mittelalter kam es zu einem Wandel der Lebensumstände von Leprakranken. Die Beschlüsse des dritten Laterankonzils von 1179 (s. Text 89), die Leprosorien eigene Kirchen, Friedhöfe und Seelsorger ermöglichten, förderten die Institutionalisierung des Leprosenwesens in eminenter Weise. In der Folgezeit kam es zu einem regelrechten Boom der Gründung von Leprosenhäusern. Viele Städte errichteten Leprosorien vor ihren Mauern. Im Folgenden werden die Statuten des 1251 zum ersten Mal erwähnten Leprosoriums „auf der Marbeke“ dokumentiert. Bei diesen Statuten handelt es sich um die älteste für das Rheinland überlieferte Ordnung. Das Johannes dem Täufer geweihte Haus lag ca. zwei km südwestlich der Stadt Soest (Westfalen). Auf dem Gelände der Einrichtung befanden sich neben dem eigentlichen Haus für die Leprakranken eine Kapelle mit Friedhof und ein landwirtschaftlicher Hof. Die in Latein verfassten Statuten wurden vom Kölner Erzbischof Siegfried (1275–1297 Erzbischof des Erzbistums Köln) ausgestellt, in dessen Diözese die Einrichtung lag und der Stadtherr von Soest war. Die kurzen Statuten konzentrieren sich auf das Problem, das offenkundig für die junge Einrichtung drängend war – das der Aufnahme in das Leprosorium. Der Bischof verfügte, jeder, der in die Gemeinschaft (societas) der Bewohner aufgenommen werden sollte, müsse eine seinem Besitz entsprechende Aufnahmegebühr einbringen. Deren Höhe wurde von der bruderschaftlich organisierten Gemeinschaft unter Aufsicht des Rats der Stadt festgelegt. Da nun die Gefahr bestand, dass die Bewohner_innen der Einrichtung vornehmlich vermögende Leute aufnahmen, bestimmte der Bischof, arme Kranke nicht zurückzuweisen. Schließlich ordnete der Kölner Erzbischof an, die beiden Bürgermeister sollten in Abstimmung mit vier weisen Ratsherren (consules) bei Konflikten einschreiten und Lösungen finden. Der Kölner Erzbischof Siegfried gibt den Leprosen im Spital des heiligen Johannes des Täufers zu Marbeke bei Soest ein Statut und sagt dazu:
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Weil ihr von einigen von eurer Krankheit Betroffenen durch unverschämte Bitten und allzu heftiges Drängen, in eure Gesellschaft und Wohngemeinschaft aufgenommen zu werden, meistens über die Maßen belästigt seid, weshalb wir, um euch vor derartigen Belästigungen in Zukunft zu schützen, zu eurem Trost mit sofortiger Wirkung kraft unseres Amtes [Folgendes] beschlossen haben und wollen, dass strikt eingehalten wird: 1) Dass ihr, wer immer euch bedrängt, sei es für die eigene Aufnahme oder für die seines Blutsverwandten oder Familienangehörigen in eure Gemeinschaft, nicht gehalten seid, den bei euch aufzunehmen, wenn er nicht für das, was ihn betrifft, sei es in Form von Geld oder an Besitztümern, so viel mit sich bringt, wovon er bei euch, solange er lebt, hinreichend ausgehalten werden kann. Es ist nämlich durchaus gerecht, so sagt die Vernunft, und billig, dass, wer nicht nur am gemeinsamen Wohnen mit euch, sondern auch an dem, was die Ernährung betrifft, solange er lebt, mit euch teilhaben will, an eurer Barmherzigkeit, mit der ihr ihn in eure Gemeinschaft aufnehmt, dass der sich auch bemüht, einen Ausgleich zu schaffen, der der christlichen Liebe [caritas] entspricht, die ihr aufwenden müsst. 2) Aber dennoch wollen wir mit dieser unserer Anordnung euch nicht von der Frömmigkeit abhalten, damit ihr nicht, wenn ein Armer, der von einer ähnlichen Krankheit geschlagen ist, nachdrücklich bei euch um seine Aufnahme bittet, ihm wegen seiner Bedürftigkeit eure Barmherzigkeit verweigert, sondern eher um Gottes Gebot willen, das bei der Gewährung der brüderlichen Liebe zu erfüllen ist, sowohl für die Vergebung eurer Sünden als besonders zur Mehrung des himmlischen Lohnes, einem solchen Armen, der sich euch samt den Dingen, die er haben kann, anbietet, fromm das Empfinden von Mitleid und die Wohltat einer tröstenden Aufnahme gewährt. 3) Wenn aber jemand versucht, euch gegen die Geltung unserer Satzung zu belästigen, dann verpflichten wir die Bürgermeister von Soest – sowohl die gegenwärtigen als auch die zukünftigen – und ordnen kraft des Amtes der gegenwärtigen an, gemäß dem Rat von vier Soester Ratsherren, die die Bürgermeister selbst als honorig ausgewählt haben, sich intensiv zu bemühen, euch vor solcher Belästigung zu bewahren. Quelle: Leprosenhaus zur Marbecke, in: Urkunden-Regesten der Soester Wohlfahrtsanstalten, Bd. 3: Urkunden der kleineren Hospitäler, Pilgrimshäuser, Beginenhäuser und Armeneinrichtungen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 25), Bearb. Friederich von Klocke, Münster/Soest 1953–1964, Nr. 416.
111. Statuten des Beginenkonvents „Auf dem Sande“ in Wesel (1309) Seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts schlossen sich Frauen zu Gemeinschaften zusammen, um ein Leben in der Nachfolge Jesu zu führen (s. Text 100), ohne in einen Orden einzutreten oder als Tertiarerinnen zu leben. Sie wurden Beginen (auch Beguinen) genannt. Ihre Blütezeit erlebte die Bewegung von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts in Westeuropa. Die Beginen wollten keinen geistlichen Orden bilden, sondern fromme Gemeinschaften, ohne in Klausur zu leben. Sie legten ein Gelübde auf Zeit ab und konnten aus der Gemeinschaft auch wieder ausscheiden. Keuschheit und freiwillige Armut kennzeichneten die Lebensweise der Beginen. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie sich vor allem durch Handarbeit. In diakonischer Hinsicht standen zwei Aufgabengebiete im Vordergrund: Die Beginen waren zum einen in der Krankenpflege tätig. Zum anderen widmeten sie sich der Erziehung und Ausbildung armer junger Mädchen. Im 14. Jahrhundert existierten in der niederrheinischen Stadt Wesel vier Beginenkonvente. Der Beginenhof „Auf dem Sande“ verdankt sein Entstehen einer gewissen Floria. Laut Stiftungsurkunde vom 11. Juli 1309 vermachte sie „zur Ehre Christi, der heiligen Jungfrau Maria und aller Heiligen“ ihr Haus samt Hofstätte „zur ewigen Wohnstätte für Beguinen“. Dafür setzte sie die im Folgenden wiedergegebenen Statuten fest. Im Sinne einer schlichten Hausordnung werden Regelungen getroffen, die sich auf die Aufnahme in den Konvent, das Leben im Beginenhof und das Ausscheiden aus dem Konvent beziehen: Die Aufnahme setzt einen ehrbaren Lebenswandel und – bei jungen Frauen – die elterliche Zustimmung voraus. Der Kontakt mit der potenziell gefährlichen und verführerischen Außenwelt wird reglementiert. Elementare Mechanismen der Konfliktregelung werden verbindlich gemacht. Im Falle des Ausscheidens verlieren die ehemaligen Konventsmitglieder jedes Anrecht an das Beginenhaus und dessen Vermögen und jeden Anspruch auf Unterstützung im Falle der Krankheit und Arbeitsunfähigkeit. 1. Es sollen nur brave und ehrsame Personen mit Genehmigung ihrer Eltern aufgenommen werden, keine natürlichen Schwestern außer zweien, keine persönlich Unfreie. 2. Jede aufgenommene Schwester soll zum Lebensunterhalt Renten oder Vermögen besitzen oder eine Kunst verstehen, um sich die Existenzmittel zu erwerben.
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3. Entsteht Zwistigkeit unter Schwestern des Hauses, so muss dieselbe vor Schlafengehen von der Vorsteherin in Friede und Liebe beigelegt werden. 4. Keine Schwester des Hauses soll ohne Erlaubnis der Vorsteherin ausgehen und nie allein, sondern stets zu zweien, nicht vor Sonnenaufgang und nicht nach Sonnenuntergang, es sei denn, dass einer redlichen Ursache willen die Vorsteherin dasselbe gestattet hat. 5. Vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang soll das Haus allen Mannspersonen verschlossen sein. 6. Alle Schwestern sollen ein gemeinsames Schlafzimmer und ein gemeinsames Wohnzimmer haben, ausgenommen die Kranken und die alten Glatzköpfe. 7. Täglich sollen sie für ihre Wohltäter Vigilien1 lesen und zwar 9 Lektionen. 8. Diejenige Schwester, welche sich unmanierlich und ungeistlich beträgt und, dieserhalb zweimal zur Rede gestellt, sich nicht bessert, soll aus dem Hause entfernt werden und alle Ansprüche an dasselbe verlieren. 9. Geld und Gut, das der Gesamtheit gehört, soll nicht unter die Einzelnen verteilt werden, sondern dem gemeinen Nutzen des Hauses verbleiben. 10. Schwestern, die freiwillig oder gezwungen das Haus verlassen, verlieren ihre Ansprüche und müssen von ihrem Vermögen dem Hause eine Brabanter Mark zedieren (vermachen); ebenso hat jede Schwester bei ihrem Tode dem Hause wenigstens zwei Brabanter Mark zu hinterlassen, sofern sie so viel besitzt. Quelle: Statuten, in: Julius Heidemann, Die Beguinenhäuser Wesels, Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 4 (1867), 85–114: 94.
1 Vigil/Vigilien: Teile des Stundengebets, die in der Nacht bzw. den führen Morgenstunden gebetet werden.
112. Konzil von Vienne: Beschlüsse zur Leitung diakonischer Einrichtungen (1311/1312) Das Konzil von Vienne (Dauphiné) wurde von Papst Clemens V. (1250/1265–1314) einberufen und tagte von Oktober 1311 bis Mai 1312. Zentrales Thema des Konzils war die Aufhebung des Templerordens. In diakonisch-sozialer Hinsicht sind vier Konzilsentscheidungen von Bedeutung: Das Konzil befasste sich mit den tiefgreifenden Auseinandersetzungen um das Armutsgelübde der Franziskaner. Dabei stand Petrus Johannis Olivis (1247/48–1296/98) Auffassung im Hintergrund, die Mitglieder des Ordens seien nicht nur an den Verzicht auf Eigentum, sondern auch an den besonders restriktiven Gebrauch von Eigentum (usus pauper) gebunden. Das Konzil entschied, die Franziskaner seien verpflichtet, den in den Regeln festgelegten Evangelischen Räten zu folgen, hätten aber darüber hinaus Spielräume bei der Gestaltung der Lebenspraxis. Das Konzil drang zudem auf eine Regulierung der Beginen. Das fahrende Beginentum wurde generell verboten. Den übrigen Beginen und den Begarden wurden Privilegien und Aufgaben wie das Predigtrecht und die Frauenseelsorge entzogen. Überdies erklärte das Konzil, dass bereits diejenigen, die behaupteten, Zinsen zu nehmen, wäre nicht verboten, als Häretiker anzusehen seien. Damit war die Grundlage dafür gelegt, dass das kirchliche Zinsverbot Eingang in das weltliche Recht fand. Im Kontext zeitgenössischer Debatten um Reformen karitativer Einrichtungen und der Kommunalisierung des Armenwesens übte das Konzil deutliche Kritik an Fehlentwicklungen und drang auf Verbesserungen. Missbrauch von anvertrauten Mitteln und von Exemtionsprivilegien, Zweckentfremdung von Stiftungsmitteln und Schenkungen sowie Missmanagement insgesamt erfahren Kritik. In zentraler Weise stellt das Konzil die Notwendigkeit einer sachkundigen Leitung heraus. Die Führung diakonischer Einrichtungen sollte nicht einfach an Kleriker als Pfründe vergeben, sondern „kompetenten“ Männern anvertraut werden. In dieser bewusst offenen Formulierung spiegeln sich vor allem die realen, komplexen Verhältnisse der Trägerschaft, Leitung und Verwaltung vor allem der Hospitäler. 17. Es kommt immer wieder vor, dass die Leiter von Fremdenherbergen, Aussätzigenheimen, Armenhäusern oder Hospitälern die Sorge um diese Einrichtungen hintansetzen. Sie vernachlässigen es, deren
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Güter, Sachen und Rechte von Zeit zu Zeit den Händen derer zu entreißen, die sie an sich gerissen und für sich beansprucht haben, ja sie lassen alles verkommen und kaputtgehen und Häuser und Gebäude zu Ruinen verfallen. Sie nehmen keine Rücksicht darauf, dass diese Häuser dazu gegründet und mit den Aufwendungen der Gläubigen ausgestattet wurden, um Arme und Leprakranke dort aufzunehmen und aus ihren Einkünften zu unterhalten. In unmenschlicher Weise weigern sich aber die Leiter, dies zu tun und verwenden diese Einkünfte in verurteilenswerter Weise für ihre eigenen Zwecke. Dabei darf doch das, was durch Schenkung der Gläubigen für einen festgelegten Zweck bestimmt ist, nur dafür und zu keinem anderen Zweck – unbeschadet freilich der Autorität des Apostolischen Stuhls – verwendet werden. Wir, die wir diese Nachlässigkeit und diesen Missbrauch verabscheuen, entscheiden deshalb mit Billigung dieses heiligen Konzils: Alle, denen es von Rechts wegen oder durch entsprechende Anordnung in der Stiftungsurkunde dieser Einrichtungen, aus rechtmäßig geltender Gewohnheit oder aufgrund eines Privilegs des Apostolischen Stuhls zusteht, müssen diese Einrichtungen in allen genannten Punkten zum Wohl der Insassen erneuern. Sie lassen das auf ungehörige Weise in Besitz Genommene, Verlorengegangene und Veräußerte wieder in den entsprechenden Zustand bringen und nötigen die Leiter mit Nachdruck zur Aufnahme und zum gebührenden Unterhalt dieser bedauernswerten Menschen, wie es die Mittel und Einkünfte dieser Einrichtungen erlauben. Handeln sie diesbezüglich nachlässig und fehlerhaft, verpflichten wir die Ortsordinarien dazu, auch wenn ein Exemtionsprivileg dieser Stätten der Nächstenliebe besteht, alle genannten Punkte bis ins einzelne in eigener Person oder durch andere in die Tat umzusetzen. Sie nötigen dazu auch die Leiter, und zwar die nicht-exemten kraft bischöflicher, die exemten und andere mit Privilegien ausgestatteten kraft apostolischer Vollmacht. Wiedersprechende – unabhängig von Stand oder Stellung – und alle, die ihnen diesbezüglich Rat, Hilfe oder Unterstützung gewähren, werden durch kirchliche Zensur und andere rechtliche Mittel bestraft, wobei für die Exemtionen oder Privilegien selbst jedoch im Hinblick auf andere Punkte kein Präjudiz entsteht. Zur bereitwilligeren Einhaltung des Gesagten wird keine dieser Einrichtungen als Benefizium an Weltkleriker verliehen, auch nicht aus Gewohnheit, die wir grundsätzlich widerrufen, es sei denn, die Stiftungsurkunde lege etwas anderes fest oder über den Leiter dieser Einrichtungen müsse durch Wahl entschieden werden. Jedenfalls soll ihre Führung umsichtigen, kompetenten und gut beleumdeten Männern anvertraut werden, die das Wissen und den Willen haben und in der Lage sind, diese Einrichtungen, ihre Güter und Rechte vorteilhaft zu verwalten sowie ihre Einkünfte und Erträge gewissenhaft zur Verwendung für die bedau-
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ernswerten Leute zu verteilen. Bei diesen Männern darf kein begründeter Verdacht bestehen, sie würden die genannten Güter für andere Zwecke verwenden. Wir schärfen den Zuständigen unter Anrufung des göttlichen Gerichts ein, die personelle Besetzung dieser Einrichtungen als Gewissenssache zu betrachten. Wir verpflichten alle, denen die Leitung oder Verwaltung dieser Häuser anvertraut wird, zur Ablegung eines Eides nach Art der Vormünder und Pfleger. Sie müssen die Güter dieser Einrichtungen inventarisieren und über ihre Verwaltung jedes Jahr gegenüber den Ordinarien oder anderen, denen solche Einrichtungen unterstehen, oder den von ihnen bestellten Personen Rechenschaft geben. Bei Zuwiderhandeln verliert nach unserer Entscheidung diese Verleihung, Besetzung und Bestellung alle Gültigkeit. Wir wollen aber das Gesagte keineswegs auf die Hospitäler der Ritterorden oder auch der anderen Orden ausdehnen. Dennoch tragen wir den Leitern ihrer Hospitäler im heiligen Gehorsam auf, sie mögen in ihren Häusern mit Bedacht nach den Anordnungen und alten Observanzen ihrer Orden für die Armen sorgen und in ihnen die gehörige Gastfreundlichkeit wahren. Dazu werden sie von ihren Oberen mit eiserner Strenge gezwungen, und zwar ungeachtet aller anderslautenden Bestimmungen oder Gewohnheiten in dieser Angelegenheit. Falls Hospitäler seit alters einen oder mehrere Altäre und einen Friedhof haben und es dort Presbyter gibt, die zelebrieren und den Armen die kirchlichen Sakramente darreichen, oder auch wenn Pfarrrektoren diesen Dienst dort schon immer ausüben, dann bleibt nach unserer Absicht die alte Gewohnheit bezüglich der Ausübung des geistlichen Dienstes erhalten. Quelle: Conciliorum Oecumenicorum Decreta/Dekrete der Ökumenischen Konzilien, besorgt v. Guiseppe Alberigo u.a., Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Lateralkonzil (1123) bis zum fünften Lateralkonzil (1512–1517), im Auftrag der GörresGesellschaft hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u.a. 2000, 374–376. © Ferdinand Schöningh
113. Meister Eckhart: Maria und Martha (um 1314) Meister Eckhart oder Eckehart, der wohl tiefsinnigste Denker und kühnste Sprachschöpfer der deutschen Mystik, wurde um 1260 in Thüringen geboren. Er lebte und wirkte in einer Zeit, die vor allem durch eine Schwächung des Kaisertums (1256–1273 „kaiserlose Zeit“) und des Papsttums („Babylonische Gefangenschaft“ in Avignon 1309– 1377), das Aufblühen der Städte und soziale Umschichtungen sowie die Ausbreitung der Bettelorden geprägt war. Vermutlich trat Eckhart 1275 in das Erfurter Dominikanerkloster ein. Er nahm seit 1294 wichtige Ämter seines Ordens in Erfurt, Straßburg und Köln wahr und lehrte an der Pariser Universität, dem damaligen Zentrum der europäischen Wissenschaft (1302/03 und 1311–1313). 1326 beschuldigte ihn der Erzbischof von Köln der Häresie. Eckhart starb vor Ende des Inquisitionsprozesses wahrscheinlich Ende 1327 oder Anfang 1328. 1329 wurden Teile seines Werks als „häretisch“ verurteilt. Trotz der päpstlichen Verurteilung gingen von Eckharts Denken prägende Impulse aus. Die deutsche und niederländische Mystik, aber auch z.B. Nikolaus von Kues (S. Nr. 119) sind in hohem Maße durch Gedanken Meister Eckharts beeinflusst. Zentrales Thema des theologischen und philosophischen Denkens Meister Eckharts ist die Beziehung von Gott und Seele. Der „Seelengrund“ als Teil der Seele ist substantiell mit Gott verbunden. In der Hinwendung zu Gott entdeckt die Seele ihre ureigene Bestimmung. Abgeschiedenheit und Gelassenheit sind die Voraussetzungen, um die sog. Gottesgeburt: in der Seele zu erfahren. Die hier auszugsweise wiedergegebene, vermutlich um 1314 in Straßburg gehaltene Predigt über Maria und Martha (Lk 10,38–42) zeigt, dass Eckhart unter der „Gottesgeburt“ weniger mystisch-asketische Kontemplation versteht, da sie „keinen Bestand hat“. Seine eigenwillige biblische Auslegung stellt mit kritischem Unterton mehrfach heraus, dass Maria – traditionell Vorbild empfänglicher Kontemplation – im religiösen „Wohlgefühl schwelgt“, während Martha ihr den Weg zur Vollkommenheit weist. Die von Gott in ihrem Sein durchdrungene Martha hat in ihrem diakonischen Engagement ihre sorgenvolle Abhängigkeit von weltlichen Dingen bereits hinter sich gelassen. Wille und Können sind bei ihr eins geworden. Vor diesem Hintergrund wird diakonisches „Wirken in der Zeit ebenso adlig wie irgendwelches Sich-Gott-Verbinden“.
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Sankt Lukas schreibt im Evangelium: „Unser Herr ging in ein Städtlein; dort nahm ihn eine Frau auf, die hieß Martha; die hatte eine Schwester, die hieß Maria. Die saß nieder zu Füßen unseres Herrn und hörte auf sein Wort. Martha aber ging umher und diente unserem Herrn.“1 Drei Dinge ließen Maria zu Füßen unseres Herrn sitzen. Das eine war dies: Die Güte Gottes hatte ihre Seele umfangen. Das zweite war ein großes, unaussprechliches Verlangen: Sie sehnte sich, ohne zu wissen, wonach, und sie wünschte, ohne zu wissen, was! Das dritte war der süße Trost und die Wonne, die sie aus den ewigen Worten schöpfte, die da aus Christi Mund flossen. Auch Martha trieben drei Dinge, die sie umhergehen und dem lieben Christus dienen ließen. Das eine war ein gereiftes Alter und ein bis ins Alleräußerste durchgeübter [Seins-]Grund. Deshalb glaubte sie, dass niemandem das Tätigsein so gut anstünde wie ihr. Das zweite war eine weise Besonnenheit, die das äußere Wirken recht auszurichten wusste auf das Höchste, das die Liebe gebietet. Das dritte war die hohe Würde des lieben Gastes. […] Nun sagt Martha: „Herr, heiß sie, dass sie mir helfe.“ Dies sprach Martha nicht aus Unwillen; sie sprach es vielmehr aus liebendem Wohlwollen, durch das sie gedrängt wurde. Wir müssen’s nun wohl liebendes Wohlwollen oder eine liebenswürdige Neckerei nennen. Wieso? Gebt Acht! Sie sah, dass Maria in Wohlgefühl schwelgte zu ihrer Seele vollem Genügen. Martha kannte Maria besser als Maria Martha, denn sie hatte [schon] lange und recht gelebt; das Leben [nämlich] schenkt die edelste Erkenntnis. Das Leben lässt Lust und Licht besser erkennen als alles, was man in diesem Leben unterhalb Gottes erlangen kann, und in gewisser Weise reiner, als es das Licht der Ewigkeit zu verleihen vermag. Das Licht der Ewigkeit [nämlich] lässt uns immer [nur] uns selbst und Gott erkennen, nicht aber uns selbst ohne Gott. Wo man aber nur sich selbst im Blick hat, nimmt man den Unterschied von Gleich und Ungleich schärfer wahr. Das bezeugen Sankt Paulus [einerseits] und andererseits die heidnischen Meister: Sankt Paulus schaute in seiner Verzückung Gott und sich selbst in geistiger Weise in Gott; und doch erkannte er in ihm nicht anschaulich eine jegliche Tugend aufs Genaueste; und das kam daher, dass er sie nicht in Werken geübt hatte. Die heidnischen Meister hingegen gelangten durch Übung der Tugenden zu so hoher Erkenntnis, dass sie eine jegliche Tugend anschaulich genauer erkannten als Paulus oder irgendein Heiliger in seiner ersten Verzückung. Ganz so stand es mit Martha. Deshalb sprach sie: „Herr heiß, dass sie mir helfe“, als hätte sie sagen wollen: Meiner Schwester dünkt’s, sie 1
Lk 10,38–40.
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könne [auch schon], was sie [nur] wolle, solange sie [nur] bei dir unter deinem Troste sitze. Lass sie nun erkennen, ob dem so sei, und heiß sie aufstehen und von dir gehen! Zum anderen war’s zärtliche Liebe, wenngleich sie’s wohl überlegt sagte. Maria war so erfüllt von Verlangen, dass sie sich sehnte, ohne zu wissen wonach, und wünschte, ohne zu wissen, was! Wir hegen den Verdacht, dass sie, die liebe Maria, irgendwie mehr um des wohligen Gefühls als um des geistigen Gewinns willen dagesessen habe. Deshalb sprach Martha: „Herr, heiße sie aufstehen“, denn sie fürchtete, dass sie [Maria] in diesem Wohlgefühl stecken bliebe und nicht weiter käme. Da antwortete ihr Christus und sprach: „Martha, Martha, du bist besorgt, du bist bekümmert um vieles. Eines ist not! Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nimmermehr genommen werden kann.“ Dieses Wort sprach Christus nicht in tadelnder Weise; vielmehr gab er ihr [lediglich] einen Bescheid und gab ihr die Vertröstung, dass Maria [noch] werden würde, wie sie’s wünschte. […] Warum aber sprach Christus „Martha, Martha“ und nannte sie zweimal beim Namen? […] Als das Beim-Namen-Nennen Christi [nun] bezeichne ich sein ewiges Wissen: das unwandelbar vor der Schöpfung aller Kreaturen von Ewigkeit her im lebendigen Buche „VaterSohn-und-Heiliger-Geist“ [Verzeichnet-]Stehen. Was darin mit Namen benannt war und wenn Christus einen solchen Namen wörtlich ausgesprochen hat, so ist von solchen Menschen keiner je verlorengegangen. [...] Warum aber nannte er Martha zweimal mit Namen? Er deutete damit an, dass Martha alles, was es an zeitlichem und ewigem Gut gäbe und eine Kreatur besitzen sollte, vollends besaß. Mit dem ersten „Martha“, das er sprach, bedeutete er ihre Vollkommenheit in zeitlichem Wirken. Als er zum zweiten Male „Martha“ sagte, bedeutete er damit, dass ihr [auch] nichts von alledem, was zur ewigen Seligkeit nötig ist, mangelte. Darum sprach er: „Du bist besorgt“ und meinte damit: Du stehst bei den Dingen, nicht aber stehen die Dinge in dir. Die stehen aber sorgenvoll, die in allem ihrem „Gewerbe“ behindert sind. Hingegen stehen die ohne Behinderung, die alle ihre Werke nach dem Vorbild des ewigen Lichtes ordnungsgemäß ausrichten. Ein „Werk“ verrichtet man von außen, ein „Gewerbe“ hingegen ist es, wenn man sich mit verständnisvoller Umsicht von innen her befleißigt. Und solche Leute stehen bei den Dingen und nicht in den Dingen. Sie stehen ganz nahe und haben [doch] nicht weniger, als wenn sie dort oben am Umkreis der Ewigkeit stünden. „Ganz nahe“, sage ich, denn alle Kreaturen „mitteln“. Es gibt zweierlei „Mittel“. Das eine ist jenes, ohne das ich nicht in Gott zu gelangen vermag: Das ist Wirken und „Gewerbe“ in der Zeit, und das mindert die Seligkeit nicht. Das andere „Mittel“ ist dies: eben jenes aufgeben. Denn dazu sind wir in die Zeit gestellt,
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dass wir durch vernunfterhelltes „Gewerbe“ in der Zeit Gott näher und ähnlicher werden. […] Das meinet auch Christus, als er sprach: „gehet [voran], solange ihr das Licht habt“.2 Denn wer da wirkt im Licht, der steigt hinauf zu Gott, frei und ledig alles Vermittelnden: Sein Licht ist sein „Gewerbe“, und sein „Gewerbe“ ist sein Licht. Ganz so stand es mit der lieben Martha. Daher sprach er zu ihr: „Eines ist not“, nicht zwei. Ich und du, einmal umfangen vom ewigen Lichte – das ist Eines. Das „Zwei-Eine“ aber ist ein brennender Geist, der da über allen Dingen und [doch nur] unter Gott steht am Umkreis der Ewigkeit. Der ist Zwei, weil er Gott nicht unmittelbar sieht. Sein Erkennen und sein Sein oder: sein Erkennen und das Erkenntnisbild, die werden [bei ihm] niemals zur Eins. Nur da sieht man Gott, wo Gott geistig gesehen wird, gänzlich bildlos. Da wird Eins Zwei, zwei ist Eins, Licht und Geist, die zwei sind Eins im Umfangensein vom ewigen Licht. Nun gebt acht, was der „Umkreis der Ewigkeit“ sei. Die Seele hat drei Wege zu Gott. Der eine ist dies: mit mannigfachem „Gewerbe“ mit brennender Liebe in allen Kreaturen Gott suchen. […] Der zweite Weg ist ein wegloser Weg, frei und doch gebunden, wo man willen- und bildlos über sich und alle Dinge weithin erhaben und entrückt ist, wiewohl er doch keinen wesenhaften Bestand hat. […] Der dritte Weg heißt zwar „Weg“ und ist doch ein „Zuhause“-Sein, er ist: Gott schauen unmittelbar in seinem eigenen Sein. Nun sagt der liebe Christus: „ich bin [der] Weg, [die] Wahrheit und [das] Leben“3: ein Christus in der Person, ein Christus im Vater, ein Christus im Geist als Drei: Weg, Wahrheit, Leben, Eins als der liebe Jesus, in dem dies alles ist. Außerhalb dieses Weges bilden alle Kreaturen Umringung und [trennendes] „Mittel“. Auf diesem Wege [aber] in Gott [Vater] hineingeleitet vom Lichte seines „Wortes“ und umfangen von der Liebe des [Heiligen] „Geistes“ ihrer beider: das geht über alles, was man in Worte fassen kann. Lausche [denn] auf das Wunder! Wie wunderbar: draußen stehen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und (zugleich) das Geschaute selbst sein, halten und gehalten werden – das ist das Ziel, wo der Geist in Ruhe verharrt, der lieben Ewigkeit vereint. Nun wollen wir zurückkehren zu unserer Ausführung, wie die liebe Martha und mit ihr alle Gottesfreunde „bei der Sorge“, nicht aber „in der Sorge“ stehen. Und dabei ist Wirken in der Zeit ebenso adlig wie irgendwelches Sich-Gott-Verbinden; denn es bringt uns ebenso nahe heran wie das Höchste, das uns zuteilwerden kann – ausgenommen einzig das Schauen Gottes in [seiner] reinen Natur. Daher sagt er 2 3
Joh 12,35. Joh 14,6.
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[Christus]: „Du stehst bei den Dingen und bei der Sorge“, und meint damit, dass sie mit den niederen Kräften wohl der Trübsal und der Kümmernis ausgesetzt war, denn sie war nicht wie verzärtelt durch Schmecklertum des Geistes. […] Martha fürchtete, dass ihre Schwester im Wohlgefühl und in der Süße stecken bliebe und wünschte, dass sie würde wie sie [selbst]. Deshalb sprach Christus und meint: Sei beruhigt, Martha, [auch] sie hat den besten Teil erwählt. Dies [hier] wird sich bei ihr verlieren. Das Höchste, das einer Kreatur zuteilwerden kann, das wird ihr zuteilwerden: Sie wird selig werden wie du! Nun lasst euch belehren über die Tugenden! Tugendhaftes Leben hängt an drei Punkten, die den Willen betreffen. Das eine ist dies: Den Willen aufzugeben in Gott, denn es ist unerlässlich, dass man voll und ganz ausführe, was man dann erkennt, sei’s im Ablegen oder im Aufnehmen. Es gibt nun dreierlei Willen. Der eine ist ein „sinnlicher“ Wille, der zweite ein „vernunfterhellter“ Wille, der dritte ein „ewiger“ Wille. Der sinnliche Wille verlangt nach Belehrung, [will], dass man auf wahrhafte Lehrer höre. Der vernunfterhellte Wille besteht darin, dass man die Füße setze in alle Werke Jesu Christi und der Heiligen, das heißt: dass man Wort, Wandel und „Gewerbe“ gleichmäßig ausrichte, hin geordnet auf das Höchste. Wenn dies alles erfüllt ist, dann senkt Gott ein weiteres in der Seele Grund: Das ist ein ewiger Wille mit dem liebenden Gebot des Heiligen Geistes. Dann spricht die Seele: „Herr, gib mir ein, was dein ewiger Wille sei!“ Wenn sie auf solche Weise dem, was wir vorhin dargelegt haben, genügt und es Gott dann wohlgefällt, dann spricht der liebe Vater sein ewiges Wort in die Seele. […] Nun spricht Christus: „Um viele Sorge bekümmerst du dich.“ Martha war so wesenhaft, dass ihr „Gewerbe“ sie nicht behinderte. Ihr Wirken und „Gewerbe“ führte sie zur ewigen Seligkeit hin. Die [ewige Seligkeit] ward wohl [dabei] etwas mittelbar, aber eine adlige Natur und steter Fleiß und die Tugend im vorgenommenen Sinn hilft [doch] sehr. [Auch] Maria ist erst [eine solche] Martha gewesen, ehe sie [die reife] Maria werden sollte; denn als sie [noch] zu Füßen unseres Herrn saß, da war sie [noch] nicht [die wahre] Maria. Wohl war sie’s dem Namen nach, sie war’s aber [noch] nicht in ihrem Sein; denn sie saß [noch] im Wohlgefühl und süßer Empfindung und war in die Schule genommen und lernte [erst] leben. Martha aber stand ganz wesenhaft da. Daher sprach sie: „Herr, heiß sie aufstehen“, als hätte sie sagen wollen: „Herr, ich möchte, dass sie nicht da säße im Wohlgefühl; ich wünschte [vielmehr], dass sie leben lernte, auf dass sie [das Leben] wesenhaft zu eigen hätte; heiß sie aufstehen, auf dass sie vollkommen
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werde.“ Sie hieß nicht Maria, als sie zu Füßen Christi saß. Dies vielmehr [erst] nenne ich Maria: einen wohlgeübten Leib, gehorsam weiser Lehre. Gehorsam wiederum nenne ich dies: wenn der Wille dem genügt, was die Einsicht gebietet. […] Nun [aber] wollen gewisse Leute es gar so weit bringen, dass sie der Werke ledig werden. Ich [aber] sage: Das kann nicht sein! Nach dem Zeitpunkt, da die Jünger den Heiligen Geist empfingen, da erst fingen sie an, Tugenden zu wirken. Daher: als Maria zu Füßen unseres Herrn saß, da lernte sie [noch], denn noch erst war sie in die Schule genommen und lernte leben. Aber späterhin, als Christus gen Himmel gefahren war und sie den Heiligen Geist empfangen hatte, da erst fing sie an zu dienen und fuhr übers Meer und predigte und lehrte und ward eine Dienerin der Jünger. Wenn die Heiligen zu Heiligen werden, dann erst fangen sie an, Tugenden zu wirken; denn dann erst sammeln sie einen Hort für die ewige Seligkeit. Alles, was vorher gewirkt wird, das büßt nur Schuld und wendet Strafe ab. Dafür finden wir ein Zeugnis an Christo: von Anbeginn, da Gott Mensch und der Mensch Gott ward, fing er an, für unsere Seligkeit zu wirken bis an das Ende, da er starb am Kreuze. Kein Glied war an seinem Leibe, das nicht besondere Tugend geübt hätte. Dass wir ihm wahrhaft nachfolgen in der Übung wahrer Tugenden, dazu helfe uns Gott. Amen. Quelle: Meister Eckehart, Predigt 28, in: ders., Deutsche Predigten und Traktate, hg. u. übersetzt von Josef Quint, detebe Klassiker 20642, Zürich 1979, 280–289. © Diogenes Taschenbuch, Rechte bei Carl Hanser Verlag, München
114. Herrmann von Fritslar: Zum Namenstag der heiligen Elisabeth (1343–1349) Elisabeth von Thüringen wurde 1207 als Tochter des ungarischen Königs Andreas II. und der Gertrud von Andechs-Meranien geboren. Mit vier Jahren kam sie auf die Wartburg in Eisenach, an den Hof des Landgrafen Herrmann von Thüringen, mit dessen Sohn und Nachfolger Ludwig IV. sie 1221 verheiratet wurde. Ihr Beichtvater Konrad von Marburg und die Eisenacher Franziskaner bestärkten sie in ihrem Wunsch nach freiwilliger Armut und Zuwendung zu den Armen. Elisabeth wurde neben Maria von Oignies (s. Text 100) und Klara von Asissi (s. Text 103) eine der wichtigsten Vertreterinnen der religiösen Frauenbewegung im Mittelalter. Als ihr Mann 1227 während eines Kreuzzuges starb, musste die Mutter von drei Kindern die Wartburg verlassen. 1228 wurde sie Tertiarin des Franziskanerordens, dem sog. Dritten Orden der Franziskaner. Dieser Gemeinschaft traten Menschen bei, die die franziskanische Spiritualität jenseits des klassischen Ordenslebens praktizieren wollten. In Marburg stiftete Elisabeth ein Hospital, in dem sie selbst Krankendienst verrichtete. Die personale Hilfe war ein charakteristischer Grundzug des karitativen Handelns Elisabeths, der für ihre Umgebung in hohem Maße provozierend gewirkt hat. Elisabeth starb am 17.11.1231. Das Marburger Spital wurde an den Deutschen Orden übertragen. Elisabeth wurde bereits 1235 insbesondere auf Betreiben des Deutschen Ordens heilig gesprochen. Das Leben und Wirken Elisabeths wird in vielen Legenden, Volksliedern und Dramen dargestellt. Die hier wiedergegebene Heiligenlegende zum Namenstag (19. November) entstammt dem „Buch von der Heiligen Leben“ von Hermann von Fritslar (gest. um 1349). Herrmann war ein Mystiker, wahrscheinlich kein Geistlicher, sondern ein gebildeter Laie. Bei dem „Buch von der Heiligen Leben“ handelt es sich um eine Sammlung legendarischer Erzählungen und geistlicher Betrachtungen, die im Auftrag Herrmanns wahrscheinlich von dem Dominikaner Giselher von Slatheim zwischen 1343 und 1349 zusammengestellt wurde. Unter dem Eindruck der mit den Auseinandersetzungen zwischen Papsttum und Kaisertum einhergehenden politischen und religiösen Wirren zielt die Sammlung wesentlich darauf, diakonische Orientierungen wachzuhalten und zu fördern. Die Sprache besteht aus einem Gemisch von Hoch- und Niederdeutsch, wie es zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert in Hessen, der Heimat Herrmanns, aber auch in Thüringen und Franken üblich war.
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Geboren wurde sie nicht hierzulande, vielmehr war sie die Tochter des Königs von Ungarn und wurde hierher zu ihrem Bräutigam, dem Landgrafen Ludwig, in einer silbernen Wiege mit einer Amme und dreizehn Jungfrauen geschickt, die der Landgraf in dem Lande Thüringen mit allen Ehren einsetzte, und er ließ seine eigene Mutter hierher auf die Wartburg kommen, bis Elisabeth vierzehn Jahre alt war. In ihrer Kindheit, als sie in dem Hause umhergehen konnte, da stahl sie alles, das ihr an Ess- und Trinkbarem in die Hände kam, um es den Armen zu geben. Als dies die Köche und Diener meldeten, da lauerte ihr der Herr selbst auf; und als sie mit einem voll beladenen Kleid aus der Küche kam, da trat er ihr in den Weg und sprach: „Mein liebes Mädchen, was trägst du denn da?“ Da antwortete sie und sprach: ,,Ich trage Rosen, um einen Blumenkranz aus ihnen zu binden.“ Da sagte er: „Zeige mir doch einmal die Rosen“, denn er wusste ganz genau, dass sie Brot und Fleisch bei sich trug. Da schlug sie das Kleid auf und siehe da: Es war nichts zu sehen außer roten und weißen Rosen, aber in der Hand der armen Leute verwandelten sie sich wieder in Fleisch und Brot. Da sprach der Herr zu den Köchen und zu den Mägden: „Ich gebiete euch bei eurem Leben, ihr all das nicht zu verwehren, was auch immer sie nehmen möchte.“ Immer wenn es Zeit war, zur Kirche zu gehen, dann trug sie eine teure Krone auf ihrem Kopf; wenn sie dann vor dem Kreuz unseres Herrn niederkniete, nahm sie die Krone und legte diese neben sich. Weil sie dies tat, schimpfte ihr Schwiegervater sehr mit ihr und fragte sie, was sie damit beabsichtige. Sie antwortete: „Christus, mein Herr, wurde mit einer Dornenkrone gekrönt, wie könnte ich da mit einer goldenen Krone vor sein Bildnis treten! Dies gehört sich nicht!“ Daraufhin hörte er auf, sie zu tadeln. Als es an der Zeit war zu heiraten, wurde sie dem Landgrafen Ludwig zugeführt. Große Ehrfurcht strahlte sie auf ihn aus, und in vollkommener natürlicher und göttlicher Liebe waren sie einander verbunden. Kranke Menschen pflegte sie eigenhändig mit Essen und Getränken zu versorgen, Aussätzige zu baden, zu waschen, in ihr Gewand zu stecken und in ihr Bett zu tragen, in dem sie mit ihrem Ehemann schlief. Diese Gepflogenheit verriet seine Mutter dem Landgrafen Ludwig. Als sie einen Aussätzigen gebadet und in das Bett gelegt hatte, da ging er selber zu dem Bett, um die Wahrheit herauszufinden, und warf die Decke von dem Aussätzigen. Da hatte dieser die Gestalt Christi angenommen, wie er am Kreuz hing, und er erschrak und sprach zu seiner Mutter: „Lasst sie tun, was sie möchte, und sprecht mir nicht mehr davon.“ Eines Tages hatte er ihr schöne Kleider gekauft. Als sie zum Speisesaal gehen sollte, da stand ein Obdachloser auf der Treppe und bat sie um der Qualen unseres Herrn willen, dass sie ihm etwas gebe. Da gab
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sie ihm den Mantel. Danach kam wiederum ein Armer, dem gab sie ihren Rock. Nun kamen ein König und viele Herren in die Burg des Landgrafen Ludwig, um mit ihm zu speisen. Nach Beendigung ihrer Geschäfte baten sie ihn, dass er ihnen seine Frau vorstellen möge. Da ging er zu ihr und sprach: „Ich gebiete und bitte euch, dass ihr euch so zurechtmacht, wie es sich für mich und euch schickt.“ Weil er aber genau wusste, was sie getan hatte, waren beide betrübt und traurig. In göttlichem Vertrauen ging sie zu der Stange, auf der ihre Kleider hingen, und fand die besten und schönsten Kleider, die jemals gesehen worden; in solcher Aufmachung stellte sie sich den Herren vor. Sie wunderten sich über die Heiligkeit der Frau und die Schönheit ihrer Kleider; er erkannte genau, dass dies ein Zeichen war, denn sie hatten eine himmlische Farbe. Als er einmal einen Kriegszug unternahm und lange weg blieb, wohnte sie auf dem Schloss Mumberg in Thüringen; da brach eine große Teuerung über das Land Thüringen und darüber hinaus herein. Daraufhin verschenkte sie alles, was sie aus ihren Besitztümern zusammenbringen konnte. Als er wieder nach Hause kam, freute er sich über ihr Verhalten. Eines Tages hatten sie sich beide auf der Wartburg zu einem Festmahl niedergelassen und wollten fröhlich sein. Da gingen sie nach Eisenach in die St. Georg Kirche, um die Messe zu hören. Als er so neben ihr stand, da war sie in Gedanken völlig bei ihm, denn er war herrlich anzusehen. Als man nun das Abendmahl feierte, da erschien es ihr, dass die Hostie so voller Blut sei, dass es dem Priester über die Hände lief, und sie meinte, dass dies von ihrem sündhaften Denken herrühre. Sie fiel auf den Stuhl nieder und fing sehr zu weinen an. Da befahl er den Rittern, zu ihr zu gehen, um mit ihr heimzugehen; sie kümmerte sich jedoch in keiner Weise um ihre Anweisungen. Da ging er selbst zu ihr hin, und sie sagte ihm, wie es um sie stand. Da sprach er: „Lasst uns in Gott fröhlich sein, ich will dir helfen, Buße zu tun und Besserung zu verschaffen.“ Sie aß gerne mit ihm oben am Tisch, damit die Herrschaft und die Dienerschaft ihre schalkhaften Reden unterließen. Wann immer er weg ging, war sie in ihrer natürlichen Liebe, mit der sie sich zu ihm hingezogen fühlte, betrübt; auch war sie froh, während dieser Zeit Demut ausstrahlen zu können, denn sie zog oft einen grauen Mantel und einen Rock an und ging zu ihren Mägden, um Brot zu erbitten und oft anzuweisen, ihr kaum gares und ungewürztes Kraut zuzubereiten; und dies alles tat sie in göttlicher Freude. Als sie drei Kinder miteinander hatten, da verlieh ihm Gott die Gnade, dass er über das Meer auf Kreuzzug fahren wollte. Als er unterwegs war, starb er am Meer in einer Stadt, die Brandlis heißt. Seine Gebeine überführte man hierher nach Hause, wo sie im St. Georgental begraben liegen. Lange
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verbarg man dies vor ihr, und niemand wagte es, ihr davon zu erzählen. Da sagte sie zu den Herren: „Ist er tot, so sagt es mir.“ Sie sprachen: „]a, er ist tot, tragt es mit Fassung.“ Da sagte sie: „Von nun an soll mir diese ganze Welt und aller Reichtum und alles Ansehen tot sein“, und gab alles hinweg, das sie besaß. Da verstießen sie sie von der Wartburg und entbanden sie von all ihrer Machtbefugnis. Da sie in Eisenach niemand beherbergen wollte, mietete sie mit ihren drei Mägden ein völlig wertloses Häuschen. Einmal sponnen sie Wolle in einer kleinen Kammer aus Lehm. Da kamen hohe Herren aus Ungarn um zu fragen, wie es ihr erginge. Die sprachen: „Darf die Tochter eines Königs Wolle spinnen?“, und redeten ihr ins Gewissen und halfen ihr aus ihrer gegenwärtigen Lage. Eines Tages wollte sie zur Messe gehen; da begegnete ihr eine Frau, der sie mit Almosen und mit anderen Gaben viel Gutes getan hatte, und diese stieß sie in die Gosse. Die heilige Elisabeth lobte Gott, dass sie dies erleiden musste. Sie sprach einmal: „Herr, ich danke dir, dass du mir die Gabe verliehen hast, meine eigenen Kinder nicht mehr zu lieben als die Kinder anderer Leute, und dass ich dir alle Dinge gegeben habe, außer meiner Ehre als Frau, die ich gerne behalten haben mochte; nun aber trage ich dir auch diese an“, denn die Leute sprachen, sie sei schwanger von Bruder Konrad, ihrem Beichtvater. Dies stellte sich schnell als Lüge heraus, denn sie konnte ihren guten Freunden beweisen, dass er sie oft so sehr schlug, dass ihr davon der Rücken blutete. Eines Tages lag sie im Schoß ihrer Magd, und einmal lachte sie, und einmal weinte sie und sprach: „Herr, und ich mit dir.“ Als sie sich aufrichtete, wollte die Magd gerne wissen, was es damit auf sich habe. Da sagte sie: „Unser Herr Jesus Christus selbst erschien mir, und wann immer er sich von mir wendete, dann weinte ich, und wenn er sich zu mir kehrte, dann lachte ich und wurde rot, wohingegen ich zuvor blass wurde. Er sprach: ‚Elisabeth, willst du mit mir sein, so will ich mit dir sein.‘ Da sagte ich: ‚Herr, und ich mit dir für alle Zeiten.‘“ Da sie so arm war, erbarmten sich die Herren ihrer und vertraglich wurde ihr eine Leibrente in Höhe von 500 Lot Mark zugesichert, denn sie wollte nichts anderes als bares Geld haben. Von diesem Geld wollten ihr die Herren Gold kaufen. Da sprach sie: „Nein, auf keinen Fall!“ Und nun ließ sie eine Spende über das ganze Land ausrufen und wollte das ganze Geld auf einmal weggeben und um ihr Brot wie eine arme Schwester betteln. Dies wollten ihr aber die Herren nicht gestatten. Da vergab sie die eine Hälfte des Geldes als Spende, und mit der anderen Hälfte baute sie in Marburg ein Spital. Dorthin begab sie sich, um den armen Kranken als eine Magd zu dienen. Welche Barmherzigkeit, Mühe und Arbeit sie in dem Spital dort verrichtete, könnt ihr daran ersehen, dass sie diejenigen, die so sehr krank in das
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Spital kamen, dass sie niemand behandeln wollte, eigenhändig versorgte. Und sie sprach einmal zu ihren Mägden, die ihr dabei halfen: „Mir kommt es vor, als ob diese Kranken sehr gut riechen und schmecken.“ Da antworteten die Mägde: „Herrin, das scheint uns nicht der Fall zu sein, denn wenn uns das auch so gut schmecken würde wie euch, würden wir diese Arbeit wohl lieber verrichten.“ In dem Spital lag ein Kranker mit einem Furunkel, der wollte nicht aufbrechen, obwohl er schon beinahe offen war, und der Kranke lag im Sterben; da saugte sie den Furunkel aus und reinigte ihn, worauf der Kranke gesund wurde. Ein Kranker lag in dem Winter, der besonders streng war, in dem Spital und verlangte inbrünstig nach Fischen, und niemand konnte sie ihm geben; da nahm sie ein Becken, lief zu dem Wasser und betete: „Herr Jesus Christus, ist es dein Wille, so gib mir für den Kranken Fische.“ Daraufhin schöpfte sie das Wasser, und sie fing schöne Fische, die sie dem Kranken brachte, worauf dieser gesund wurde. Eines Tages kamen viele hochgestellte Damen von Mansfeld und Auernfurt mit der Wirtin von Nabern zu ihr gefahren, um sich mit ihr zu unterhalten. Da wurde ein Kind gebracht, das war blind und hatte keinen steten Blick. Sie machte dem Kind ein Kreuz im Gesicht, und es gab einen großen Krach, als ob zwei große Hölzer auseinanderbrechen, und das Kind bekam zwei schöne Augen und konnte vollständig sehen. […] In dieser Gegend gab es ein Kloster, in dem sehr heilige Frauen wohnten, die den Wunsch hatten, dass die heilige Elisabeth zu ihnen käme, um ihren Lebenswandel zu prüfen und das Kloster zu besichtigen, und sie kam und wohnte eine gewisse Zeit bei ihnen. Da fragten sie: „Liebe Herrin, gibt es etwas in diesem Kloster, das euch missfällt?“ Sie antwortete: „Ja, dass ihr Silber und Gold und anderes Geschmeide auf die Altäre legt, das missfällt mir sehr. Mit dem Geld sollte man Dinge kaufen, womit man die Hungernden speisen kann, denn Gott sieht an ein reines Herz, aber weder Silber noch Gold.“ Die Nonnen gelobten von Herzen Besserung. […] Diese heilige Frau, die heilige Elisabeth, starb, von Heiligkeit durchdrungen, als sie wenig mehr als zwanzig Jahre alt war, und sie liegt in Marburg bei den Deutschen Herren begraben. Sie bitte bei Gott für uns. Amen. Quelle: Herrmann von Fritslar, Zum Namenstag der Heiligen Elisabeth, Landesherrin von Thüringen, Übersetzung der Wiedergabe in: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hg. v. F. Pfeiffer. Erster Band: Hermann von Fritslar, Nicolaus von Strassburg, David von Augsburg, Leipzig 1845, 242–246, in: Gerhard K. Schäfer (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeigen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20 . Jahrhundert, VDWI 4, Heidelberg 1991, 140–145.
115. Nürnberger Bettelordnung (um 1370) Die Schwarze Pest, die von 1348 bis 1350 das gesamte Abendland erfasste, stellt in der Armutsgeschichte eine einschneidende Zäsur dar. Man schob Armen und Bettlern die Schuld an der Pest zu und diffamierte sie – wie die Juden – als Brunnenvergifter. Zugleich verbesserte sich nach der Pestwelle infolge der Knappheit an Arbeitskräften und des Anstiegs der Löhne die finanzielle Lage der „fleißigen“ Armut für wenige Jahre, bevor Pest und Hunger, Revolten und Kriege sowie Probleme der Wirtschaftskonjunktur und der Sozialstruktur die Lage der Armen wieder drastisch verschärften. Die grassierende ländliche Armut führte zu Landflucht. Armut konzentrierte sich in massiver Weise in den Städten. Vor diesem Hintergrund begannen Städte allmählich, sich die Ordnung des städtischen Lebens insgesamt zur Aufgabe zu machen und damit auch soziale Verantwortung zu übernehmen. Die im Folgenden abgedruckte älteste deutsche Bettelordnung belegt die beginnende Kommunalisierung der Armenfürsorge. Die Ordnung wurde um 1370 vom Rat der Stadt Nürnberg erlassen. Nürnberg war mit ca. 20.000 Einwohnern und als bedeutende Handelns- und Messestadt eine Großstadt europäischen Formats. Die schlichte Nürnberger Ordnung lässt die herkömmliche Form der Unterstützung, das Almosen, in Kraft. Das Betteln bleibt erlaubt, wird aber durch bestimmte Kriterien und Maßnahmen reglementiert. Die Erlaubnis zu betteln ist an eine Prüfung der Bedürftigkeit geknüpft. Bedürftigkeit setzt die Unfähigkeit zu arbeiten voraus. Die Genehmigung zu betteln wird durch ein entsprechendes Zeichen im Sinne eines Ausweises dokumentiert. Die Differenz von Einheimischen und Fremden wird zur Geltung gebracht. Erste Ansätze einer städtischen Sozialadministration treten in Erscheinung: Der Rat ernannte Pignot Weigel (gest. ca. 1407) zum Armenvogt, der mit der Durchführung der Bettelordnung betraut wurde. Man ist hinsichtlich der Landstreicher, unverschämt Abbettelnden (Geiler) und aller Bettler übereingekommen, wie es in der nachfolgenden Ordnung geschrieben steht. Erstens soll niemand vor den Kirchen noch in der Stadt bitten, und es soll auch niemand in den Kirchen und in der Stadt betteln, es sei denn, er besitze das Zeichen der Stadt. Und dieses Zeichen soll Pignot Weigel im Auftrag des Rates vergeben. Des Weiteren soll man auch niemandem ein Zeichen geben, noch ihn betteln und bitten lassen vor den Kirchen, es sei denn, er bringe mindestens zwei oder drei Personen zu dem vorher genannten Pignot mit, die auf ihren Eid nehmen, dass jener des Almosens bedürfe. Wenn es
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aber dem genannten Pignot so vorkommt, als ob da Leute wären, die gut handeln oder arbeiten könnten und des Almosens nicht bedürften, dann soll man denen nicht zu betteln erlauben noch das Zeichen überreichen. Wenn da Leute wären, die ohne des Pignot Weigels Erlaubnis bettelten und kein Zeichen hätten, sollen die vier Knechte und die Büttel sie sofort zu dem Pignot Weigel bringen. Es sollen auch die Bettler in allen Kirchen an den beiden Seiten der Pforte sitzen oder stehen, wo man zumeist die Kirchen verlässt oder betritt. Und die Bettler sollen auch nicht bei den Altären noch sonst wo in der Kirche betteln, und es sollen auch die Meßner in den Kirchen und die Büttel darauf aufpassen, damit sie es ihnen verwehren, wenn sie die Bestimmung überträten. Auch soll der Pignot Weigel jeweils auf St. Michaels-Tag und auf St. Walpurgis-Tag die Bettler zusammenrufen und dem, der es nötig hat und der zwei oder drei Leute, welche auf ihren Eid nehmen, dass bei ihnen Bedürftigkeit vorliege, [...] dem soll er das Zeichen gewähren, aber nur auf ein halbes Jahr. Aber dem, welcher nicht bedürftig ist, soll er das Zeichen abnehmen und sich an Eides Statt von ihm versichern lassen, dass er für ein Jahr die Stadt meidet und danach ohne seine Genehmigung in der Stadt nicht bettelt. Wenn der Pignot Weigel jemandem ein Zeichen gibt, dann soll er dessen Namen in einem Buch verzeichnen. Die zwei oder drei Leute, die für die Bettler ihren Eid schwören, sollen solche Leute sein, denen man sicher glauben kann. Wenn fremde Landstreicher oder unverschämte Abbettler kommen, die länger als drei Tage hier verweilen, soll man sie hindern und auf ein Jahr aus der Stadt verweisen. Falls aber ein Mitglied des Rats erfährt, dass die armen Leute unter den Gesetzen und der Ordnung, wie sie oben beschrieben wurden, ihren Unterhalt nicht erlangen können, dann soll es das den Rat wissen lassen, und dann soll man eine Änderung herbeiführen, indem man zu einer Lösung kommt, die nicht zu belastend für die armen Leute ist. Quelle: Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittellalter bis zum 1. Weltkrieg, zweite Aufl., Stuttgart u.a. 1998, 63f. (Älteste Nürnberger Bettelordnung aus der letzten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Georg Ernst Waldau: Vermischte Beyträge zur Geschichte der Stadt Nürnberg, 4. Bd., Nürnberg 1789, 328–331). © Kohlhammer
116. Statuten der MüllergesellenBruderschaft zu Basel (1427) Bruderschaften waren satzungsbasierte Zusammenschlüsse von Laien, religiösen Gruppen und Geistlichen. Sie hatten – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – die Förderung des Seelenheils und des irdischen Wohlergehens zum Ziel; insofern leisteten sie einen Beitrag zum bonum commune. Als „Fürsorgegemeinschaften“ (Alfred Haverkamp) verfolgten sie je nach lokalem Kontext und spezifischen Handlungsherausforderungen vielfältige Ziele und erfüllten unterschiedliche Funktionen im Kontext der spätmittelalterlichen Städte. Die Bruderschaften reagierten so auf die sozio-ökonomischen Differenzierungen und waren dementsprechend vielgestaltig in ihren Erscheinungsformen. Ihr Spektrum umfasste vor allem gemeinschaftsstiftende, kultisch-religiöse, karitative, memoriale, ständische, wirtschaftliche und seelsorgliche Zielsetzungen. Die am 17. Mai 1427 vom Rat der Stadt Basel bestätigten Statuten der Müllergesellen-Bruderschaft zeigen besonders den Charakter der Fürsorgemeinschaft innerhalb der Schmiedezunft, zu der die Müllergesellen gehörten. Die vorliegenden Auszüge dokumentieren zum einen detaillierte Vereinbarungen mit dem Dominikanerinnenkloster Klingental in Kleinbasel über das Begräbnis von Gesellen, um selbst im Falle von vermehrten Sterbefällen ein angemessenes christliches Begräbnis sicherzustellen. Zum andern unterstützt die Bruderschaft im Fall von Krankheit und Arbeitsausfall die betroffenen Gesellen mit Geldleistungen und Krediten. Allen denen, die diesen Brief lesen oder vorgelesen bekommen, tun wir, die Müllerknechte und Müllerknaben, die zum Ausstellungszeitpunkt dieser Urkunde in der Stadt Basel dienen und Angehörige dieser Bruderschaft sind, kund und zu wissen, dass wir für uns und allen nachfolgenden Müllerknechten und Müllerknaben, die zu künftigen Zeiten zu Basel dienen werden und in dieser Bruderschaft sein werden, die wir uns hierzu fest dem allmächtigen Gott und seiner hochwürdigen Mutter, unserer lieben Frau Sankt Maria, der Himmelskönigin, zu Lob und zu Ehren verpflichten, uns voran genannten Handwerksgesellen zu Nutz und zu Trost und ganz besonders, dass uns Gott gnädig sei und zu dem ewigen Leben, dahin wir alle billiglich zu kommen begehren sollen, fördern wolle und auch vordringlich zum Heil unserer Seelen mit Rat, Gunst, Wissen und Willen der ehrsamen weisen Meister, der alten und neuen Ratsherren, der Setzer und der Gruppe der Meister der Schmiedezunft zu Basel, zu denen wir gehören, gestiftet und geordnet haben,
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aber auch jetzt stiften und ordnen in Kraft dieser Urkunde die nachgeschriebenen Sachen und das Aufgeschriebene von uns und allen künftigen Gesellen unseres Handwerks, die in dieser Bruderschaft sind oder irgendwann darin kommen werden, einzuhalten. […] (8) Wenn auch irgendeiner unserer Gesellen, die in dieser Bruderschaft sind, von dieser Welt scheiden sollte und das Begräbnis zu Klingental erwählt hat, sollen die Mitgesellen, die noch lebendig und in dieser Bruderschaft sind, dem Leutpriester1 in dem Kirchspiel, wo der Verstorbene gelebt hat und verschieden ist, [die ihm verloren gegangenen Begräbnisgebühren] entrichten und ihn in seinen Ansprüchen befriedigen und dies von dem verstorbenen Gesellen nach seinem Tode hinterlassendem Gute nehmen, falls er soviel hat. Hat er es aber nicht, so sollen sie es aus der Bruderschaft gemeinen Büchse [Kasse] nehmen und es demselben Leutpriester darum entrichten und ihn in seinen Ansprüchen befriedigen, ohne dass auf die Frauen von Klingental Kosten und Schaden zukommt. […] (11) Würde es sich auch begeben, dass viele auf einmal [an einer Seuche] sterben, was Gott behüten möge, so dass die verstorbenen Gesellen dieser Bruderschaft nicht im Gesellengrab zu Klingental begraben werden können, so sollen und mögen wir sie, ohne den Nonnen besondere Zuwendungen zukommen zu lassen, auf dem Friedhof [und eben nicht im Gesellengrab in der Kirche!] von Klingental begraben, da wo die allergewöhnlichsten Leute begraben werden. […] (16) Sollt es auch sein, dass Gott über irgendeinen Gesellen dieser Bruderschaft das Verhängnis verhinge, dass dieser Geselle siech und krank werden sollte, also dass er weder arbeiten noch seine Notdurft zu verdienen in der Lage sein sollte, so soll man demselben auf sein Begehr aus der Büchse zehn Schilling Pfennige leihen. Würde er aber länger siechen und liegen, soll und darf man ihm auch auf sein Begehr als Pfand aus der Büchse ein Pfund Pfennig leihen, solange so viel in der Büchse drin ist, und sollen auch demselben Gesellen seine Pfänder ein ganzes Jahr nach der Verleihung aufgehalten und das Pfand wird aufrecht erhalten werden. Quelle: Urkunde vom 17. Mai 1427, Statuten der Müllergesellen-Bruderschaft, in: Wilfried Reininghaus (Hg.), Quellen zur Geschichte der Handwerkgesellen im spätmittelalterlichen Basel, Quellen und Forschungen zur Basler Geschichte, Bd. 10, Basel 1982, 72–77. Neuhochdeutsche, gekürzte und vereinfachte Übersetzung: Joachim Halbekann. 1
Leutpriester = Priester, der eine Stelle mit pfarrlichen Rechten tatsächlich besetzte.
117. Statuten des Trierer Leprosoriums St. Jost (1448) Das Leprosorium St. Jost, das vor den Mauern Triers lag, wird 1283 erstmals erwähnt. Es war wohl auf Eigengut des Benediktinerklosters St. Marien gegründet worden und unterstand ursprünglich allein der Aufsicht und Verwaltung des Klosters. Die im Folgenden abgedruckten Statuten wurden am 28. August 1448 erlassen und ergänzten wahrscheinlich frühere Regelungen. Die neuen Bestimmungen lassen Veränderungen in der Struktur des Leprosoriums erkennen und werfen ein Licht auf Konflikte unter den Leprakranken. Die Bewohner waren als Bruderschaft organisiert und verfügten über eine weitgehende Autonomie bei der Organisation und Verwaltung der Einrichtung. Die Lebensweise der Bruderschaft beruhte auf den klösterlichen Prinzipien Gehorsam, Keuschheit und Armut. Anlass für die Abfassung der Statuten waren langandauernde und tiefgreifende Streitigkeiten zwischen den Leprosen. Dabei standen drei Fragen im Vordergrund: die Ehe der Leprosen, der Verkauf bzw. die Verpfändung von Pfründen und die Regelung des Nachlasses Verstorbener. Die Gemeinschaft der in St. Jost lebenden Leprosen war offenkundig nicht in der Lage, die Streitigkeiten selbst zu lösen. Vor diesem Hintergrund erließen der Abt des Klosters Marien, Heinrich II. von Blenich, und zwei landesherrliche Beamte, der oberste erzbischöfliche Richter der bischöflichen Gerichtsbehörde in Trier sowie der Amtmann von Pfalzel, in dessen Amtsbezirk sich St. Jost befand, Bestimmungen, die auf die Lösung der Konflikte zielten. Damit wurde zugleich die bisherige Autonomie der Gemeinschaft von St. Jost eingeschränkt. Die Einsetzung eines Vormunds und Verwalters bedeutete eine starke Kontrolle über das Leprosorium. Dessen Leitung erfolgte nun maßgeblich von außen. Kund, bekannt und offenbar sei jedermann, der diese vorliegende offene Urkunde sieht, hört oder liest, dass wir Heinrich, Abt zu Sankt Marien, der altehrwürdigen vor den Trierer Mauern an und bei der Mosel gelegenen Benediktinerabtei, Johann Wunnemann von Arlon, Siegler des Geistlichen Gerichts des Hofes zu Trier und Kanoniker zu Sankt Simeon daselbst, und Johann Stuydyegell von Bitsch, Amtmann zu Pfalzel und Schultheiß zu Trier, zum ewigen Gedächtnis und Frieden die armen und elenden aussätzigen Leute, Pfründner, Brüder und Schwestern des Hauses zu Sankt Jost, an und bei der Mosel zwischen Trier und Pfalzel gelegen, wegen all ihren Konflikten, ihrer Zwietracht und ihren Streitereien, die sie seit langem und bis heute, dem Datum dieser Urkunde, untereinander unerbittlich und unfriedlich gehabt haben, voll-
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kommen und gänzlich, stark und lange zu künftigen Zeiten beständig und unverbrüchlich festzuhalten und auszuführen in Güte freundlich und angenehm, vereinigt, versöhnt, gerecht, aufrichtig und zu gutem Frieden und Eintracht strebend, und haben in [der] Art und Weise und Form alsdann einen solchen Bescheid, Entschluss und [eine] Verordnung verliehen von Wort zu Wort in Artikeln zusammengefasst und nachgeschrieben folgt. [1] Zum ersten: So soll sich künftig kein Pfründner des vorgenannten Hauses zu Sankt Jost verheiraten, und wer oder welcher das täte, soll sofort das Haus verlassen und seine Pfründe verlieren ohne irgendeinen Einwand oder Widerspruch. [2] Auch soll man forthin keine Pfründe des vorgenannten Hauses verkaufen ohne Beratung, Wissen, Willen und Zustimmung des Abtes von Sankt Marien, des Sieglers zu Trier und des jeweiligen Amtmanns zu Pfalzel. [3] Auch soll man das Geld, das dann für eine Pfründe gegeben wurde oder wird, zum Nutzen des Hauses und der Pfründner nach Anordnung des vorgenannten Abtes, Sieglers [und] jeweiligen Amtmannes einziehen. [4] Auch sollen nach dem Tod eines jeden Pfründners und Kindes des vorgenannten Hauses zu Sankt Jost desselben Wohnung, Gut, Bargeld, Einkommen, Hausrat, Silber und Gold, gemünzt und ungemünzt, Geldforderungen und [was] sonst ihm gehört hat, als er krankheitshalber verschied, gänzlich und überhaupt an das Haus und die Pfründner zurückfallen ohne Widerspruch anderer Personen. Und [so] soll man dann dasselbe Gut also zurücknehmen und es anlegen und bestimmen zum Nutzen und Besten des Hauses und der vorgenannten Pfründner nach Entschluss und Anordnung des Abtes, Sieglers und jeweiligen Amtmannes. [5] Ferner sollen die vorgenannten Abt, Siegler und [der] jeweilige Amtmann jederzeit dem vorgenannten Haus [und den] Brüdern und Pfründnern zu Sankt Jost einen getreuen Verwalter, Momper und Stellvertreter jederzeit bestimmen und einsetzen, der ihnen ergeben sei, um ihre Angelegenheiten und alles, was sie betrifft, bestens auszuführen und so, wie es erforderlich ist, zu regeln. [6] Ferner soll auch kein Pfründner zu Sankt Jost keinesfalls seine dortige Pfründe in irgendeiner Weise verkaufen, versetzen, verpfänden noch in anderer Weise verwenden, weder heimlich noch öffentlich weggeben ohne ausdrückliches Wissen, Willen und Erlaubnis [des]
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Abtes, Sieglers und jeweiligen Amtmannes. Und wer oder welcher das tut, dem soll auf der Stelle seine Pfründe und Wohnung aberkannt und entzogen sein ohne irgendjemandes Widerspruch. [7] Auch wer nun weiterhin in das Haus zu Sankt Jost kommen mag, dem soll man diese Verordnung hören [lassen], lesen lassen oder deutlich und ausdrücklich sagen, damit er sie kenne und ihn dann geloben lassen, alle Artikel und Verordnungen in der vorgeschriebenen Art und Weise beständig, fest und unverbrüchlich für alle Zeiten einzuhalten, jeden einzelnen Artikel und alle Verordnungen, wie sie in vorgenannter Art und Weise zusammengefasst, angeordnet und beschaffen sind. Diese bewilligen und beraten wir Brüder, Schwestern, Pfründner und Kinder des vorgenannten Hauses zu Sankt Jost, und geloben und versprechen damit aufrichtig für uns und unsere Nachkommen als Pfründner und Kinder des Hauses zu Sankt Jost, alle vorgenannten Angelegenheiten, Artikel und Verordnungen beständig, fest und unverbrüchlich stets zu wahren und dabei zu verbleiben, ohne irgendeinen Einwand oder Widerspruch, ausgeschlossen jede Arglist und Hinterlist. Und damit diese vorgenannten Verordnungen zu allen Zeiten eingehalten, festgesetzt, bestätigt und versichert werden, bitten wir, die gegenwärtigen Brüder, Schwestern, Pfründner und Kinder des vorgenannten Hauses und ein jeder von uns für uns und die nachfolgenden Pfründner und Kinder zu Sankt Jost mittels dieser Urkunde die obengenannten ehrwürdigen und würdigen Abt, Siegler und den ehrenwerten Amtmann Johann, dass sie ihre Siegel und das große Siegel des Hofes des geistlichen Gerichts zu Trier an diese Urkunde hängen wollen, [für] uns und unsere Nachkommen, Pfründner und Kinder des Hauses zu Sankt Jost, [um] damit das voranstehende zu bezeugen. Der würdige Abt, Siegler und Amtmann bekennen, dass wir um eifriger Bitte der Pfründner und Kinder des Hauses zu Sankt Jost willen, des vorgenannten Hauses [Siegel] und des Hofes großes Siegel an diese Statuten-Urkunde anhängen, [damit] sie und ihre Nachkommen alle vorgenannten Artikel und Verordnungen für alle Zeiten bezeugen und zu Ende bringen. Gegeben wurde diese Urkunde im Jahre unseres Herrn vierzehnhundertachtundvierzig Jahre nach Christi Geburt, am nächsten Mittwoch nach Sankt Bartholomäus, des Heiligen Apostels, in dem altehrwürdigen Kloster zu Sankt Marien. Quelle: Martin Uhrmacher, Konfliktregelungen in einem spätmittelalterlichen Leprosorium. Die Statuten des Trierers Leprosoriums St. Jost vom 28. August 1448, in: Quellen zur Geschichte des Rhein-Maas-Raumes. Ein Lehr- und Lernbuch, hg. v. Winfried Reichert u.a., Trier 2006, 167–192, Abdruck der Statuten: 167–171. © Kliomedia GmbH, Trier
118. Memminger Antoniterspital: Urkunden (1451/1471/1475) Ende des 11. Jahrhunderts wurden weite Teile Westeuropas von der Krankheit heimgesucht, die man „Heiliges Feuer“ nannte. Die Erkrankten litten nach dem Genuss von Mutterkorn – einem Pharmakon, das im Hochsommer an Roggenfeldern zu finden ist – an einer Pilzvergiftung, die zu Ergotismus gangraenosus (Mutterkornbrand mit Verengung der Blutgefäße, Brand und Abfallen von Gliedern) oder Ergotismus convulsivus (Krampfseuche, Kribbelkrankheit, mit Anfällen und halluzinogenen Bewusstseinszuständen) führen konnte. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts war die Verbindung des „Heiligen Feuers“ mit dem Mutterkorn unbekannt. Die von großen Schmerzen geplagten Menschen wandten sich vor allem an den Heiligen Antonius (gest. 365). Über seinen Gebeinen im südfranzösischen SaintAntoine entstand Ende des 11. Jahrhunderts die Laienbruderschaft der Antoniter, die sich der Erkrankten in besonderer Weise annahm und Hospitäler in ganz Europa gründete. Aus der Bruderschaft erwuchs der Antoniterorden. 1214 schenkte König Friedrich II. dem Hospital des heiligen Antonius das Patronatsrecht zu Sankt Martin in Memmingen. Während der Amtszeit des Memminger Generalpräzeptors Petrus Mitte de Capariis konnte ab 1454 eine vierflügelige Spitalanlage errichtet werden – mit einem großen Krankensaal, der einen Blickkontakt zur Petruskapelle im Ostflügel des Antonierhauses ermöglichte. Das Memminger Antoniterspital fand 1531 in der Reformationszeit ein Ende. Der Antoniterorden wurde 1777 in den Malteserorden inkorporiert. Im Memminger Spital wurden zwischen 7 und 20 Personen, die überwiegend aus dem Bistum Augsburg stammten, gleichzeitig versorgt. Eine „Krankenschau“ stellte sicher, dass nur am Antoniusfeuer erkrankte Personen Aufnahme fanden. Die folgenden Urkunden zeigen exemplarisch, wie die Erkrankten in das Antoniusspital gelangten und welche Regelungen in diesem Zusammenhang getroffen wurden. Die Kranken wurden Leibeigene des Ordens. Die Kranken brachten, soweit vorhanden, Vermögen oder Anteile an möglichen Erbfällen in der Familie mit ins Spital. Im Gegenzug erhielten sie lebenslange Versorgung. Im Mittelpunkt der Behandlung stand zunächst die Verabreichung von reinem Weizenbrot sowie von Schweinefleisch und „Antoniuswein“, der aus Kräutern produziert wurde. Die erkrankten Körperteile wurden durch Ärzte, Bader oder Krankenpfleger bzw. pflegerinnen mit „Antoniusbalsam“ bestrichen – hergestellt aus gefäßerweiternden Heilkräutern. Erst wenn keine Hoffnung auf Besse-
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rung bestand, fanden Amputationen statt. Die Aufnahme folgte festen Regeln und glich der feierlichen Aufnahme in einen Orden – verbunden mit einem Treue-, Armuts- und Keuschheitsgelübde. Die Kranken hatten einfache Kleidung zu tragen – markiert mit dem Krückenkreuz der Antoniter, dazu eine schwarze Kapuze. Erwartet wurde die Teilnahme an der täglichen Heiligen Messe sowie am gemeinschaftlichen Gebet, das als Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Heilungsprozess gesehen wurde. Die Kranken erhielten ein wenig Taschengeld für ihren persönlichen Bedarf und konnten sich durch einfache Arbeiten noch Geld hinzuverdienen. 1531 betrug das Durchschnittsalter der letzten Spitalinsassen 45 ½ Jahre; die durchschnittliche Verweildauer lag bei 23 Jahren. Gastel Graber aus Egling begibt sich in die Leibeigenschaft des Heiligen Antonius und seiner Pfleger in Memmingen, 19. März 1451 Ich, Gastel Graber von Egling [bei Wolfratshausen], beurkunde hiermit Folgendes: Als ich nach dem Willen Gottes schwer erkrankte, insbesondere an der sogenannten Sankt-Antonius-Plage, begab ich mich mit freiem Willen und zur Rettung meines Seelenheils in die Obhut des Heiligen Antonius und seines Spitals zu Memmingen, um dort als Leibeigener nach Recht und Herkommen zu leben. Ich verspreche dem Heiligen Antonius an allen Orten und in jeglicher Weise treu zu sein. An diese Urkunde hat Jörg von Grafeneck auf mein Bitten hin sein Siegel ohne Schaden für sich und seine Erben gehängt. Gegeben am Freitag vor dem Sonntag Reminiscere in der Fastenzeit, nach Christi Geburt im tausendvierhundert und einundfünfzigsten Jahr. Der Memminger Bürger Claus Hug begibt sich mit Einverständnis seiner Familie wegen seiner Erkrankung an „Sankt Antoniens Plage“ in die Obhut der Memminger Antoniter, 11. Juli 1471 Ich, Claus Hug, Bürger zu Memmingen, bekunde mit dieser Urkunde Folgendes: Da ich durch Strafe Gottes an der Antonius-Plage erkrankt bin, begebe ich mich freiwillig und mit Zustimmung meiner Frau Christina, meiner Söhne Klaus und Hans, meines Schwiegersohnes Klaus Bäsch und meiner Tochter Else nach den Statuten des Antoniterordens in die Leibeigenschaft des Heiligen Antonius. Nach meinem Tod erhalten alle dann noch lebenden Familienangehörige ihren Erbteil. Wir, Christina Hug, des Claus Hug Ehefrau, Klaus, Hans und Else, dessen Kinder, und Klaus Bäsch, Ehemann der Else, bekennen unser Einverständnis mit dem vorhin genannten Vorgang und verzichten auf jegliche Rechtsmittel dagegen. Zur Beglaubigung dieser Angelegenheit haben wir Stadtamtmann Hans Spun gebeten, sein
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Siegel ohne Schaden für sich und seine Erben an diese Urkunde zu hängen. Gegeben am Donnerstag vor Sankt Margarethen Tag nach Christi Geburt im vierzehnhundert und einundsiebzigsten Jahr. Der Augsburger Rat übergibt den Weber und Bürger Hanns Franck an die Memminger Antoniterpräzeptorei, 19. Juni 1475 Wir, die Räte der Stadt Augsburg, grüßen den ehrwürdigen Hochmeister des Antonierhauses zu Memmingen, Doktor Peter Mitte [Pierre Mitte de Chevrières]. Uns wurde berichtet, dass unser Bürger und Weber Hans Franck durch göttliche Fügung an „Sankt Antonien Krankheit“ leide und er und seine vielen kleinen Kinder in Elend und Armut geraten seien und Hunger leiden müssen. Auf sein Bitten hin ersuchen wir Euch hiermit schriftlich und begleitet von unseren Gebeten, dies zu bedenken und den uns schon lange bekannten und arbeitsfreudigen Hans Franck ins Antoniterspital aufzunehmen – um Gottes und des Heiligen Antonius Willen und wegen seines krankheitsbedingten Elends und Unvermögens. Wir vertrauen in aller Freundschaft auf eine wohlgewogene Behandlung unseres Anliegens. Gegeben auf Montag nach Sankt Veits Tag anno domini [14]75. Quelle: StadtArchiv Memmingen, D 222/1. Übertragung: Christoph Engelhard.
119. Nikolaus von Kues: Testament (1464) Der aus Kues/Mosel stammende Nikolaus Krebs (1401–1464), genannt Cusanus, gehörte zu den originellsten Theologen und Philosophen des 15. Jahrhunderts. Nach Studien in Heidelberg, Padua und Köln war der gelernte Kirchenjurist zunächst Sekretär des Trierer Erzbischofs, machte dann aber aufgrund seines diplomatischen Geschicks, das er auf dem Basler Konzil (1431–1448) bewies, rasch Karriere. 1448 wurde er zum Kardinal, 1450 zum Fürstbischof von Brixen (Tirol) ernannt. Die letzten sechs Jahre seines Lebens wirkte er als Kurienkardinal. Als anerkannter Amtsträger der katholischen Kirche setzte er sich kirchenpolitisch für die Einheit der Kirche ein. In philosophischer Perspektive zielte sein theologisches Denken stets auf die vernünftige Entfaltung und Durchdingung des christlichen Glaubens. Der vorliegende Text dokumentiert das Testament des Nikolaus von Kues von 1464, das durch erweiterte Nachlassregelungen das Testament von 1461 bestätigt und erweitert. Es bedenkt das 1458 von Nikolaus gestiftete St-Nikolaus-Hospital in Bernkastel-Kues, das 33 über 50jährige Männer als Pfründner aufnimmt und versorgt. Ihm wird gleichzeitig die eindrückliche Bibliothek des Cusanus vermacht. Zudem wird eine Stiftung für die finanzielle Unterstützung armer Scholaren gegründet – heute die Studienstiftung Cusanuswerk. Die Institutionen dienen der Memoria des Stifters. Insgesamt treten aber institutionell festgelegte Gedenkpraktiken wie z.B. Messstiftungen zurück. [B.1] Im Jahre [14]61 usw., am Montag, dem 15. Juni, im neunten Jahr der Indiktion, im dritten Pontifikatsjahr unseres Herrn Papst Pius II., etwa zur 16. Stunde, hat in Rom der ehrwürdigste Vater und Herr in Christus, Nikolaus, Kardinalpriester der heiligen römischen Kirche, Titular von St. Peter in Ketten und Bischof von Brixen, auf dem Krankenbett, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, aber körperlich krank, in meiner, des Heinrich Pommert, Klerikers der Diözese Lübeck, öffentlich bestellten päpstlichen und kaiserlichen Notars, Anwesenheit und im Beisein der unterzeichneten Zeugen, kraft der ihm am gestrigen Tage vom obgenannten Heiligsten Vater mündlich und auch durch eine Bulle des Papstes Nikolaus V., seligen Angedenkens, erteilten Vollmacht in der Absicht, wie er sagte, über seine Angelegenheiten für den Fall seines Todes zu verfügen und ein Testament bzw. Kodizill zu machen zu seiner und seiner Vorgänger Seligkeit, seinen Letzten Willen angeordnet und verfügt, dass er infolge seiner Krankheit aus dieser Welt abberufen werden sollte, in folgender Weise: […]
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[B.2.4] Nach seinen Angaben hat er bei der Bank der Medici 6700 rheinische Gulden. Davon vermacht er 5000 dem von ihm gestifteten St. Nikolaus-Hospital in Kues mit der Auflage, dass von diesen 5000 Gulden für das genannte Hospital eine Rente von 200 Gulden gekauft werde, von denen 20 arme Scholaren, die in Niederdeutschland studieren wollen, bis zu sieben Jahre lang vom Alter von 14 oder 15 Jahren ab jeweils 10 Gulden erhalten sollen; und das soll unbegrenzt so gehandhabt werden. […] [B.2.7] Sein gesamtes Silber, dessen Wert er auf 4000 rheinische Gulden schätzt, soll gewogen und gänzlich dem St. Nikolaus-Hospital in Kues zukommen. [B.2.8] Die Bücher, die sich bei ihm befinden und nicht ihm gehören, sollen den Eigentümern zurückgegeben werden; seine eigenen aber vermacht er seinem schon erwähnten Hospital. Sie sollen dorthin gebracht und dort aufbewahrt werden. [B.2.9] Von dem Geld, das nach seiner Aussage bei Magister Symon von Wehlen, seinem Verwandten, sein wird, vermacht er dem genannten Hospital 1000 Gulden; 200 Gulden seinem genannten Verwandten für die aufgewendete Mühe. Der Rest des Geldes soll der Kirche von Brixen zufallen und ihr überwiesen werden. […] [C.3] Den ersten Teil, das erwähnte Hospital betreffend, untergliederte er in drei Abschnitte. Er sagte: [C.3.1] – der erste beziehe sich auf arme junge Scholaren, die in Niederdeutschland studieren wollten. Für diese hat er im inserierten Testament, das er, wie oben gesagt, bei anderer Gelegenheit aufgesetzt hatte, 5000 rheinische Gulden eingesetzt, die nach seiner Aussage bei der Medici-Bank liegen. Davon soll eine jährliche Rendite von 200 Gulden bzw. soviel, wie für die genannten 5000 Gulden erzielt werden kann, gekauft werden. Jeder der 20 Scholaren soll jährlich 10 Gulden erhalten entsprechend den Anordnungen im inserierten Testament. [C.3.2] – der zweite betreffe die Armen, die nach seinem Willen in seinem genannten Hospital unterhalten werden sollen – 33 nach der Zahl der Lebensjahre Christi unseres Erlösers auf Erden – sowie den Rektor und die sechs Bediensteten des Hospitals. Er sagte, er habe für diese schon Einkünfte von etwas mehr als 800 Gulden jährlich gekauft und zur Verfügung gestellt. Er will, dass in diesem seinem Hospital die Anordnungen seiner ehrwürdigen väterlichen Fürsorge be-
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achtet werden, die nach seinen Worten in einer mit seinem Siegel gesiegelten und durch unseren heiligsten Vater bestätigten Urkunde enthalten sind. [C.3.4] Außerdem setzt er das Hospital als Universalerben all seines gegenwärtigen und zukünftigen Besitzes im Allgemeinen und im Einzelnen ein. Quelle: Wolfgang Schmid/Sylvie Tritz, Sorge für das Diesseits mit Blick auf das Jenseits. Das Testament des Kardinals Nikolaus von Kues von 1464, in: Quellen zur Geschichte des Rhein-Maas-Raumes. Ein Lehr- und Lernbuch, hg. v. Winfried Reichert u.a., Trier 2006, 193–226: 195–199. © Kliomedia GmbH, Trier
120. Statuten der Rosenkranzbruderschaft von 1475 (1476) Die Rosenkranzbruderschaft in Köln wurde 1475 von Jakob Sprenger (1435–1495), Prior des Kölner Dominikanerklosters, gegründet. Die Bruderschaft verpflichtete sich zum Rosenkranzgebet, ohne an strenge Regeln gebunden zu sein. Der Einzugsbereich der Kölner Bruderschaft erstreckte sich bis südlich von Worms. Darüber hinaus verbreitete Jakob Sprenger die Gebetsbruderschaft mit Hilfe des Dominikanerordens in ganz Deutschland, vor allem in Süddeutschland. Die Besonderheit der Rosenkranzbruderschaft lag vor allem darin, dass sie keine Aufnahmegebühr verlangte und damit für Männer und Frauen ohne Ansehen des Standes oder Vermögens offen war. Während gemeinhin ausschließlich Wohlhabende Mitglieder von Bruderschaften oder Genossenschaften waren, zielte die Rosenkranzbruderschaft auch und gerade darauf ab, Arme als Mitglieder zu gewinnen. Die Arme integrierende Prägung der Bruderschaft entsprach zum einen dem Charakter der Dominikaner, dem zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegründeten Bettelorden. Die Statuten betonen, dass die Gebete der Armen Gott wohlgefälliger sind als die der Reichen. Schließlich lag Sprenger daran, möglichst viele Menschen in die Bruderschaft zu holen, um die Gebete für das Heil der Menschen in Leben, Tod und Fegefeuer möglichst wirkungsvoll zu machen. Wenn ein Mitglied der Bruderschaft – so die Auffassung – für eine Seele betet, wird diese der Gebetswirkung aller Rosenkranzschwestern und -brüdern teilhaftig. Es ergaben sich also gleichsam spirituelle Vervielfältigungseffekte, die besonders durch die breite Einbindung von Armen möglich wurden. Die Gründung der Rosenkranzbruderschaft zielte insgesamt darauf, Menschen durch Gebete, Befolgen der Gebote Gottes und gute Werke auf einen Lebensweg zu führen, der der Seele himmlischen Lohn sichern sollte. Die Statuten sind in mehreren Drucken und Handschriften überliefert. Der folgenden Wiedergabe liegt der Augsburger Druck von 1476 zugrunde. Du sollst dieses Werk im Geist erwägen und nicht auf den Wortlaut des Bündnisses achten, [denn] es ist wahrhaftig ein Schmuck der Freundschaft.1
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Die lateinische Überschrift ist nur in der Basler Handschrift von 1476 überliefert, ansonsten fehlt sie in allen anderen Handschriften.
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Zur Ehre der werten Mutter und unverheirateten Jungfrau Maria habe ich, Bruder Jakob Sprenger, Doktor der heiligen Schrift und Prior des großen Konvents des Predigerordens von Köln,2 im 75. Jahr am Tag Unserer Frauen Geburt3 das von alters hergekommene Gebet des Rosenkranzes Unser Lieben Frauen erneuert und wieder hergestellt. Da aber Eigennutz als ein allgemeiner Nutzen auf den Menschen wirkt, schien es mir passend und gut geraten, dass der Zweck einer solchen Bruderschaft auf der geistlichen Gabe des Gebets aufbaue, den ein Mensch wegen des Reichtums des selbst regierenden Geistes Christi jederzeit Gaben und Güter gereicht und sich der Bruderschaft angeschlossen hat. Denn also sollen die armen, bedürftigen und verschmähten Menschen in dieser unwürdigen Welt den reichen gleichgestellt werden. Es sind viele Bruderschaften in der Christenheit, deren kein armer Mensch teilhaftig werden kann. Besonders wenn er kein Geld hat, das man der Bruderschaft reichen und zahlen muss. Aber in dieser unserer Bruderschaft wird keinem Menschen der Weg verschlossen, wie arm er auch sei, sondern je ärmer, verschmähter, verächtlicher [er sei], umso genehmer, lieber und teurer wird er in dieser Bruderschaft geachtet, darum weil dieses Menschen Gebet, wie die heilige Schrift sagt, Gott genehmer und gefälliger als der reicher und hoch geachteter Menschen ist.4 Hiernach folgt die Ordnung dieser Bruderschaft: Zum ersten also. Der Mensch, der in diese würdige Bruderschaft der Jungfrau Maria kommen will, soll seinen Namen mitsamt dem Familiennamen und Wohnort, ob er verheiratet oder ledig, geistlich oder weltlich sei, schriftlich angeben, [und zwar] in den unteren Landen in Köln oder in den oberen deutschen Landen in Augsburg5, eben in der Stadt, in der Unsere Frau ihre Heimat und ihr Haus hat, das ihr Gott selbst geweiht hat. Daselbst [soll er] schriftlich dem Pfarrer von St. Mauritius6 die Namen [übergeben]. Weil den Menschen der Eigennutz mehr drängt, je größer er erscheint, desto fleißiger wird er. Also dass der Mensch die in die Bruderschaft [Eingetretenen] begreifen könne, wollte ich die Anzahl der Brüder und Schwestern mit ihren Namen schriftlich haben. Ebenso die Familiennamen, damit man nicht meint, dass die Zahl erfunden sei. Darum dass Zehntausend mehr beten als 2
Geboren um 1436 in Rheinfelden, Eintritt in Basel in den Dominikanerorden 1452, seit 1464 in Köln, 1467 in Köln immatrikuliert, 1468–1469 Sententiar in Köln, 1472– 1495 Professor an der Kölner theologischen Fakultät. 3 8. September 1475. 4 Vgl. beispielsweise Ps 22,25; Ps 69,34; Ps 102,18. 5 Das Folgende eine Anspielung auf das Marienpatrozinium der Kathedralkirche? 6 Kollegiatkirche St. Moritz (Mauritius) in Augsburg.
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Tausend, so ist auch der Nutzen mehr in einer reichen als in einer armen Bruderschaft. Deswegen denke ich, bringt man den Menschen schneller und eher zum Gebet Unser Frauen Bruderschaft, wenn man ihm die Zahl der Menschen vor Augen führt. Zum andern Mal soll der Mensch jede Woche drei Rosenkränze beten. Das heißt zu drei Malen fünfzig Ave Maria und zu drei Malen fünf Pater Noster. Das heißt, dass er nach zehn weißen Rosen eine rote dazwischen setze, die im Pater Noster bedeutet, dass ein Mensch das Rosenrot als Blut Jesu Christi deute, das unsertwegen hat unser Vater, der Gott, vergießen lassen. Die Anzahl dieser Ave Maria macht insgesamt für eine ganze Woche einhundert fünfzig und die Pater Noster sind insgesamt fünfzehn. Deswegen hat man die Anzahl ausgewählt, weil so viel die Psalmen Davids7 sind. Zugleich werden auch hundert fünfzig Ave Maria Unser Frauen Psalter genannt. Und die drei Rosenkränze soll der Mensch an einem Tag oder aber in der Woche beten, wie es ihm am passendsten ist. Und dies Gebet soll der Mensch der würdigen Gebärerin Gottes Maria darbringen für sich und alle diejenigen, die in dieser Bruderschaft sind, in der Meinung, dass sie bei ihrem lieben Sohn die Gnade der Reinigung von den Sünden, willig und gehorsam zu den Geboten Gottes und Beharrlichkeit in Guten Werken bis zum Ende [darbringen]. Und in der besonderen gemeinsamen Teilung dieses Gebets besteht die ganze Bedeutung dieser Bruderschaft. Um die Ursache der Beschwerlichkeit des grübelnden und furchtsamen Gewissens zu vermeiden, will ich, Stifter dieser Bruderschaft, die Brüder und Schwestern nicht zu dem oben angeführten Gebet vor ihrem Gewissen verpflichten, sondern sie sollen frei und ungehindert und willig die Gabe des Gebets ausführen. Nachdem auch sie in die Bruderschaft gekommen sind oder schon vorher [in ihr] waren, ehe dass sie die [Gebete] auf sich genommen haben, ebenso wie einer, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Bruderschaft wäre und willentlich ohne Ursache das Gebet der drei Rosenkränze unterließe, oder halb oder in einem Teil derselben ausführe, so ist er keineswegs schuldig oder schuldig, dies zu beichten. Er ist auch nicht schuldig, das zu gegebener Zeit zu nachzuholen. Das allein ist seine Strafe und Pein, dass der Mensch in derselben Woche oder längere Zeit, in der er den Rosenkranz nicht gebetet hat, beraubt ist und nicht teilhaftig wird der Gebete der anderen Brüder und Schwestern, die in der Zeit, in der er es nicht getan hat, gebetet haben. Auch darum, dass der Mensch desto mehr Aufmerksamkeit für das Gebet habe, hat der würdigste Alexander, Bischof von Forlí, zur selben Zeit ein Legat des heiligen Stuhls von Rom für das gesamte 7
König David werden 150 Psalmen zugeschrieben.
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Deutschland8, jedem, der den Rosenkranz betet, so oft und wenn er ihn betet, es sei an einem Tag zehn-, zwanzig- oder dreißigmal oder an mehreren Tagen von jedem Kranz einen vierzigtägigen Anlass gegeben oder an fünf Festen Unserer Frau jedem Bruder oder jeder Schwester in deutschen Landen einen hunderttägigen Ablass, und zwar zu Unser Frauen Tag Kerzweihung9, Verkündigung10, Heimsuchung11, Himmelfahrt12 und den Tag ihrer Geburt13. Auch ist es so geordnet, wenn ein Bruder oder eine Schwester beten wollten und dieses Gebet der drei Rosenkränze für eine Seele, die jetzt das Zeitliche gesegnet hat und sich im Fegefeuer befindet, so ist sie des Gebets aller Brüder und Schwestern der gesamten Bruderschaft teilhaftig. Zum letzten, so hat sich der große Predigerkonvent von Köln verbunden, jedes Jahr viermal eine lange Vigil mit neun Lektionen14 und ein Seelenamt zugunsten der armen Seelen der Menschen, die in der Bruderschaft gestorben sind. Und das geschieht zu den vier nämlichen Festen Unser Frauen, das ein besonders gutes Werk ist. Denn viele Menschen scheiden aus dem Zeitlichen, denen leider wenig Gutes nach ihrem Tod geschieht. Vor diesem Versäumnis kann sich der Mensch bewahren und es verhüten, wenn er dieser Bruderschaft beitritt. Nun zu einem Beschluss und zu einer Bestätigung dieser Bruderschaft und Ordnung wie ein Siegel [sei angemerkt], so hat der würdigste in Christo Vater und Herr, Herr Alexander, Bischof von Forlí und des heiligen Stuhls zu Rom Legat15, mit der vollen Gewalt eines Legaten päpstlicherseits über die gesamten deutschen Landen, wegen des unabweislichen Bittens des unüberwindlichen, unser aller gnädigsten Herrn, Kaiser Friedrich16, bewahrheitet und bestätigt in einem offenen Brief, der mit seinem langen Siegel besiegelt sind17, in welchem gänzlich und förmlich alle die Dinge stehen und beglaubigt sind, die ich oben angeführt und soeben veröffentlicht habe. Das lasst euch genug sein, liebe Brüder und Schwestern, zu einer Bewahrung brüderlicher Liebe, damit die Bruderschaft bewahrt, verschlossen und zusammen gefügt ist. Weiter und mehr bestätige euch 8
Alexander Numai, 1470–1485 Bischof von Forlí. 2. Februar. 10 25. März. 11 2. Juli. 12 15. August. 13 8. September. 14 Liturgische Lesungen. 15 Vgl. Anm. 8. 16 Kaiser Friedrich III., 1440–1493. 17 Nicht ermittelt. 9
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der Sohn Gottes Jesus Christus, der einem jeden gläubigen Herzen Siegel, Urkunde und Zeugnis dieser Bruderschaft wahrhaftig genug ist. Die Zahl der Brüder und Schwestern ist heute an Unser Frauen Tag, den man nennt Verkündigung18, in der Fastenzeit des Jahres 76 in Köln so viel wie acht tausend gewesen. Wer sich seither eingeschrieben worden hat, weiß ich nicht. Die Anzahl in Augsburg ist am Montag desselben Jahres jetzt in der Osterzeit19 bis auf Allerheiligen20 drei tausend gewesen, und wird von Tag zu Tag mehr. Und auf dass der Mensch eher zur Andacht gelange und ihm die Mutter Gottes liebenswert werde, kann er nach dem Gebet die Mutter Gottes folgendermaßen anrufen: Maria, ich bitte dich um Gottes willen, sprich, dass du unsere Schwester sein willst und dass wir an dir Freude haben und dass uns um deinetwillen wohl sei und dass wir in deiner Gnade leben. Quelle: Statuten der Rosenkranzbruderschaft von 1475, in: Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1562/63, bearbeitet von Klaus Militzer, Bd. 1: Einführung; St. Achatius – St. Georg, Düsseldorf 1997, Nr. 35.1, 507–517. Übersetzung: Klaus Militzer. © Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
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25. März 1476. 15. April 1476. 20 1. November 1476. 19
121. Nürnberger Bettelordnung (1478) 100 Jahre nach der ersten Bettelordnung (s. Text 115) erließ der Rat der Stadt Nürnberg eine neue Ordnung, die wesentlich ausführlicher und differenzierter war. In der Wahrnehmung des Rats hatte der Bettel zugenommen und war zu einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung geworden. Die Ordnung zielt vor allem darauf, den unredlichen Bettel, d.h. den Missbrauch, einzudämmen bzw. zu verhindern, damit die Unterstützung durch das Almosen den wirklich Armen zugutekommen kann. Die Ordnung von 1478 zeichnet sich gegenüber von 1370 insbesondere durch folgende Veränderungen aus: Erstens wird in Bezug auf die Bettler deutlich stärker differenziert – zwischen Frauen und Männern, Verheiraten und Unverheiraten,„starken“ Bettlern und verschämten Armen sowie Kindern unterschiedlichen Alters, Wöchnerinnen, Priestern, Studenten und Aussätzigen. Zweitens werden für die Prüfung der Bedürftigkeit striktere Regelungen getroffen. Zum dritten erweitert und präzisiert die Ordnung die Sanktionen. Bestraft werden auch Bürger, die einen Bettler länger als erlaubt beherbergen. Arbeitsfähige Arme sollen nützliche Arbeiten verrichten. Viertens wird die Erlaubnis zu betteln verstärkt mit Erwartungen an das moralische Verhalten und an ein elementares Glaubenswissen verknüpft. Schließlich weist die Rede von „Bettelrichtern oder Bettelmeistern“ (Plural!) darauf hin, dass die städtische Sozialadministration ausgebaut wurde. Der ehrbare Rat ist oft und nachdrücklich, ausführlich und glaubwürdig davon unterrichtet worden, dass etliche Bettler und Bettlerinnen ein nicht gottesfürchtiges, auch sonst unziemliches und ungebührliches Wesen treiben. Auch gehen etliche hierher nach Nürnberg zu dem Almosen, fordern es und nehmen es an, obwohl sie seiner nicht bedürftig sind. Und weil das Almosen, wenn es gegeben wird, ein besonders löbliches und verdienstliches, tugendhaftes Werk und eine gute Tat ist, und auch die, welche es unbedürftig oder unrechtlich entgegennehmen, damit schwer und offenbar Schuld auf sich laden, haben die oben genannten, unsere Ratsherren, zum Lob Gottes, aber auch aus Notwendigkeit sich vorgenommen, solcher Unredlichkeit und Betrugsgefahr zuvorzukommen, damit den armen notleidenden Menschen ihr Unterhalt aus dem Almosen desto weniger entfremdet und entzogen werde. Deswegen wollen sie, setzen sie fest und gebieten ernstlich, dass diese nachstehende Ordnung bei Vermeidung der darin angedrohten Strafe genau eingehalten, vollstreckt und befolgt werde; danach mag sich ein jeder richten:
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Zum ersten ordnen unsere Ratsherren an, setzen fest und gebieten, dass weder Bürger noch Bürgerin, weder männlicher Gast noch weiblicher Gast in dieser Stadt Nürnberg, weder Tag noch Nacht betteln darf, wenn es ihm nicht von jemandem, der durch den ehrbaren Rat damit betraut und eingesetzt ist, zugestanden oder erlaubt wird. Und welche so die Erlaubnis erhalten haben, sollen doch nicht betteln, es sei denn sie tragen offen an sich das Zeichen, das man ihnen aushändigen wird. Wer jedoch ohne Erlaubnis und das Zeichen bettelt, der soll ein Jahr und eine Meile von dieser Stadt fernbleiben. Den Bettlern und Bettlerinnen, die sich schämen, bei Tag zu betteln und nur des Nachts betteln wollen, wird man ein besonderes Zeichen dafür geben, im Sommer in der Nacht nicht länger als zwei Stunden und im Winter in der Nacht nicht länger als drei Stunden zu betteln, jedoch nicht ohne Licht nach dem Gebot der Stadtordnung. Sodann soll jeder Bettler und jede Bettlerin, bevor man ihnen Erlaubnis und das Zeichen gibt, den vorher erwähnten Herren der Wahrheit gemäß offenbaren, in was für einem Stand, Wesen und welcher körperlicher Verfassung man sei, ob verheiratet oder ledig und wieviel Kinder man habe, um daraus zu ersehen, ob sie auf die Bettelei angewiesen sind oder nicht. Wer dabei die Wahrheit unterschlägt, soll ein Jahr und eine Meile außerhalb der Stadt bleiben und darüber hinaus, selbst wenn er der Bettelei bedürftig wäre, dennoch nicht zugelassen werden, außer er bringt mindestens jedes Jahr von seinem Beichtvater ein Zeichen, wie sie gerade hergestellt und den Beichtvätern übergeben worden sind, dass er zumindest für das Jahr gebeichtet und Absolution erhalten habe. Dann wird den Bettlern hier zu betteln nicht erlaubt, die Kinder bei sich haben, von denen eines über acht Jahre alt und ohne Gebrechen ist, da die ihr Brot sehr wohl selbst verdienen können. Doch hätte ein Bettler oder eine Bettlerin vier oder fünf Kinder, und alle unter sieben Jahre alt, und dazu ein Kind über acht Jahre, das die anderen beaufsichtigen soll, dann soll der erwähnte Herr berechtigt sein, dieses zu berücksichtigen. Sodann sollen die Namen solcher Kinder von Bettlern und Bettlerinnen, die über acht Jahre alt und gesund sind und denen von ihren Eltern nicht zu einer Arbeit verholfen wurde, durch diese angezeigt, den Bütteln, um jene dann abzuholen, übergeben und aufgeschrieben werden, damit alsbald versucht wird, ob ihnen hier oder auf dem Lande zu einer Anstellung verholfen werden kann. Die Bettler und Bettlerinnen, denen hier zu betteln erlaubt ist und die nicht Krüppel, lahm oder blind sind, sollen an keinem Werktag vor den Kirchen müßig an dem Bettelort sitzen, sondern spinnen oder andere Arbeit, die zu verrichten sie in die Lage sind, ausführen. Wer bei Überprüfung anders angetroffen wird, soll einen Monat lang eine
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Meile außerhalb der Stadt bleiben. Dann sollen die Bettler und Bettlerinnen, denen laut oben Geschriebenem hier zu betteln erlaubt wird, hier in Nürnberg nicht in den Kirchen dem Betteln nachgehen noch überhaupt hineingehen, sondern davor sitzen, herumgehen oder stehen. Ausgenommen sein sollen davon die Kirchen St. Moritz, St. Nicolaus und St. Kunigunde. Und wenn es regnet und Unwetter herrscht, dürfen sie in den anderen Kirchen in der Nähe der Kirchtüren stehen oder sitzen, doch an niemanden darin die Bitte um ein Almosen richten. Wer sich darüber hinwegsetzt, soll ein Jahr aus der Stadt verbannt sein. Es soll auch jeder Bettler, sei er Bürger, sei er Gast, dem zu betteln erlaubt wird und der eine offene, schlimme Verletzung an seinem Leibe oder seinen Gliedern hat, wovon die schwangeren Frauen durch Hinsehen Schaden erleiden könnten, diese Verletzung verdecken und nicht offen sichtbar zeigen oder zur Schau stellen, bei Strafe von einem Jahr Stadtverbannung. Auch soll weder ein hiesiger noch auswärtiger Bettler, dem zu betteln erlaubt ist, an einer Kirche oder an irgendeiner Stelle in der Stadt an der offenen Straße aber auch überhaupt etwas singen, erzählen oder zur Schau stellen, seien es Gemälde, Standbilder, wundersame Tiere oder anderes, sondern er möge dastehen oder dasitzen und um das Almosen betteln und bitten wie andere arme Leute. Eine Ausnahme ist es, wenn jemand mit Bettelsang die Gassen entlangzieht, dem soll dieses erlaubt sein. Demjenigen, der dagegen verstößt und dabei ergriffen wird, dem sollen die Stadtknechte oder Büttel das abnehmen, das er zur Schau stellt, aber auch das Geld, das er durch Singen verdient oder durch die Zurschaustellung verdient hat, und obendrein soll dieser Übertreter ein Jahr lang nicht in die Stadt kommen. Es dürfen auch solche, die nicht Bürger sind, hier betteln, jedoch nicht mehr als zwei Tage je Vierteljahr, und überhaupt nicht dürfen sie hier betteln, wenn sie es nicht mit Wissen des oben erwähnten, vom ehrbaren Rate Beauftragten tun, sowie darüber hinaus noch das Vaterunser, das Ave Maria, das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote beten und aufsagen können. Ausgenommen von der Regelung sind die drei Tage vor und nach der Vorweisung des Heiligtums, der Allerheiligen-Tag und Allerseelen-Tag. Dem, der bei einer Übertretung entdeckt wird, wird man für ein Jahr die Stadt verbieten. Arme Priester, die wegen schlechtem Sehen oder sonstiger körperlicher Gebrechen dem priesterlichen Beruf nicht mehr gerecht werden können, sowie auch auswärtige, herumziehende Priester, die sich aber trotzdem ehrbar und priesterlich geben, dürfen in geziemender Form vor den Kirchen das Almosen erbitten. Doch sie müssen vorher bekannt machen, dass sie Priester sind.
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Jeder selbstverschuldete Arme soll nicht mehr als einen Tag im Jahr hier in der Stadt betteln, wenn er das Stadtverbot auf ein Jahr vermeiden will. Desgleichen sollen die erkennbaren Büßer, denen ihre Buße nicht hier auferlegt wurde, nicht über einen Tag im Jahr hier in der Stadt betteln, wenn sie das Stadtverbot auf ein Jahr vermeiden wollen. Auch die Aussätzigen, sowohl die hier vor der Stadt als auch fremde, sollen sich nicht hier in der Stadt bettelnd herumtreiben, besonders die bei der Stadt sollen sich auf die ihnen zugewiesenen Stätten beschränken, und die Fremden, denen das mitgeteilt wird, sollen sich ebenso verhalten, bei Androhung der Stadtverbannung auf ein Jahr. Nur in den Passionswochen, wenn die Aussätzigen hereinkommen, mögen sie es halten, wie es zurzeit Gewohnheit ist. Will ein Student sich hier um das Almosen bewerben, dann soll er nicht zugelassen werden, wenn er nicht pünktlich zur Schule geht und sich als ein gehorsamer Schüler ausweist. Die Schulmeister sollen den Schüler, der sich anders verhält, gebührend bestrafen. Wenn die Notwendigkeit besteht, wird der ehrbare Rat ihnen dazu Hilfe leisten. Unsere Herren vom Rate bestimmen und gebieten auch aus erheblichen Beweggründen, dass niemand von ihren Bürgern oder Bürgerinnen, weder ein Vermieter noch öffentlicher Gastwirt noch jemand sonst nicht länger als drei Tage einen Schüler bei sich behalten noch beherbergen soll, der hier nicht selbst Bürger oder Bürgerskind ist, regelmäßig zur Schule geht und sich gebührlich aufführt. Wer dagegen verstößt, soll zur Buße jeden Tag zwanzig Pfund auf das Rathaus bringen. Es soll hier auch keine Wöchnerin betteln, noch vor den Kirchen liegen oder sich dort zum Betteln aufhalten, es sei denn, sie wäre zugelassen von den ehrbaren Frauen, die zur Betreuung der Wöchnerinnen bestellt sind und sie hätten ein Zeichen von ihnen, das dafür geschaffen wurde; wenn die Kindbettzeit vorüber ist, ist das Zeichen zurückzugeben. Wer dies Gebot übertritt, soll ein Jahr aus der Stadt verbannt sein. Ebenso soll auch niemand hier in den Kirchen, Häusern noch in den Gassen für eine Wöchnerin betteln, wenn nicht die Wöchnerin und die, welche für sie betteln wollen, von den erwähnten ehrbaren Frauen die Erlaubnis und ein Zeichen, das dafür hergestellt ist, besitzen; wenn die Zeit des Kindbetts dann vorüber ist, muss das Zeichen zurückgegeben werden. Jeder, der dies Gebot übertritt, der soll ein Jahr aus der Stadt verbannt sein. Der ehrbare Rat wird hier die Bettler auch besonders beaufsichtigen lassen und sie, wenn sie eines ungebührlichen Verhaltens beschuldigt werden, so bestrafen, wie es der Rat entsprechend der Art ihrer Zuwiderhandlung beschließt.
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Es soll auch kein Pilger, Einwohner noch öffentlicher Gastwirt irgendeinen Bettler länger als drei Tage beherbergen oder bei sich behalten, wenn es ihm nicht von den dazu bestimmten Herren erlaubt wurde. Sonst ist jeden Tag für jede Person ein Pfund neuer Heller fällig. Die Bettelrichter oder Bettelmeister sind angewiesen, den genau zu unterrichten, der von dem ehrbaren Rat mit den vorher beschriebenen Angelegenheiten betraut und dafür eingesetzt worden ist. Wenn außer den Stadtknechten und Bütteln einer jemanden anzeigt oder anklagt und beweist, dass der eines oder mehr der vorher dargestellten Vergehen begangen habe, der soll für jeden angezeigten Fall und jede Person mit 9 Pfennig belohnt werden. Diese Gesetzesordnung ist am Sonntag Laetare anno 1478 in Kraft getreten. Quelle: Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittellalter bis zum 1. Weltkrieg, zweite Aufl., Stuttgart u.a. 1998, 64–66 (=Josef Bader, Nürnberger Polizeiordnungen aus dem 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 1861, 316ff.). © Kohlhammer
122. Sebastian Brant: Das Narrenschiff (1494) Sebastian Brant war in literarischer, sozialer und politischer Hinsicht eine der führenden Gestalten des ausgehenden Mittelalters. Er wurde 1457 in Straßburg geboren. Von 1475 bis 1510 lebte und wirkte er in Basel. Nach dem Studium der Rechte arbeitete er als Dozent für kirchliches und ziviles Recht sowie der Poesie und dann als Professor in der Juristischen Fakultät. Daneben machte er sich durch editorische Tätigkeiten, Fachbeiträge, politische Stellungnahmen und Gedichte einen Namen. Auf Initiative Geilers von Kaysersberg (s. Text 125) wurde Brant 1510 nach Straßburg berufen. Er wirkte als Stadtsyndikus und dann als Stadtschreiber und Kanzler und damit als höchster Verwaltungsbeamter der Freien Reichsstadt. Er starb 1521 in Straßburg. Das 1494 in Basel erschienene Narrenschiff, das europaweit enthusiastisch aufgenommen wurde, begründete Brants literarischen Ruhm. Das mit Holzschnitten bebilderte und aufwendig gestaltete Buch schildert 109 Narren, die ein Schiff besteigen und sich auf die Reise nach „Narragonien“ machen. Der Narr verkörpert die Torheiten der Zeit und allgemein menschlicher Defizite und Verrücktheiten. Brant hält in seiner Moralsatire der Gesellschaft seiner Zeit den Spiegel vor. Das Werk ist zugleich eine Menschheitsdarstellung mit den literarischen Mitteln und Anschauungsmaterialien des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Dem Typus des Narren stellt Brant den Weisen gegenüber, der die göttlichen Ordnung und in diesem Zusammenhang sich selbst erkennt. Im Sinne einer literarischen Unterweisung und mit pädagogischem Optimismus zielt das Werk darauf, Dummheit und Unvernunft zu entlarven, Selbsterkenntnis zu provozieren, kirchliche und gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren und zu verbessern sowie die Menschen zur Seligkeit zu führen. Die beiden folgenden Auszüge thematisieren zwei spezifische Ausprägungen des Narrentums. Zum einen werden vor allem die Bettelorden sowie der berufliche Bettel mit seinen Techniken satirisch dargestellt. Zum anderen karikiert Brant die „Geldnarren“. Biblische und patristische Motive sowie Elemente der antiken Literatur (goldenes Zeitalter) aufgreifend warnt der Dichter vor den Gefahren des Reichtums, kritisiert die Unterdrückung der Armen und hebt die Freiheit hervor, die mit Armut verbunden sein kann.
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63. Von Bettlern – Nur dass sie sich nicht gerne bücken Der Bettel hat auch Narren viel, man schafft sich Geld durch Bettelspiel und will mit Betteln sich ernähren. Mönchsorden, Pfaffen sich beschweren, dass sie, die Reichsten, wären arm. Ach, Bettel, dass sich Gott erbarm! Bist für die Armut auserdacht und hast viel Geld zusammenbracht. Doch schreit der Prior: „Mehr ins Haus!“ Dem Sack, dem ist der Boden aus. Desgleichen tun die Heilturmführer, die Stirnenstoßer, Stationierer, die keiner Kirms vorübergehn, wo sie nicht öffentlich ausstehn und schrein, sie führten in dem Sack das Heu, das tief vergraben lag unter der Krippe zu Bettelheim, oder von Bileams Esel ein Bein, eine Feder aus Sankt Michels Flügel und von Sankt Jörgens Ross den Zügel oder die Bundschuh‘ von Sankt Klaren. Mancher treibt Bettel in solchen Jahren, wo jung er ist, stark und gesund und werken könnte jede Stund‘, nur dass er sich nicht gern mag bücken, ihm steckt ein Schelmenbein im Rücken. Seine Kinder müssen’s jung verstehn, ohn‘ Unterlass zum Bettel gehn und lernen wohl den Bettelschrei, sonst bräch‘ er ihnen den Arm entzwei und ätzte ihnen Wunden und Beulen damit sie könnten schrein und heulen. […] Einem wär’s leid, wenn heil das Gewand; Bettler beschissen jetzt alle Land‘ – aber sein Kelch muss silbern sein, gehn täglich sieben Maß hinein; der geht auf Krücken im Tageslicht, wenn er allein ist, braucht er sie nicht. Dieser kann fallen vor den Leuten, dass jedermann möcht‘ auf ihn deuten; der borget andern die Kinder ab,
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dass er einen großen Haufen hab‘. Der einen Esel mit Körben beschwert, wie einer, der nach Sankt Jakob fährt. Der eine hinkt, der muss sich bücken, der bindet sich ein Bein auf Krücken oder ein Totenbein unters Wams. Wenn man recht schaute nach der Wunden, säh‘ man, wie das wär‘ angebunden. Noch bin ich nicht am Bettelziel, denn es sind leider Bettler viel und werden stets noch mehr und mehr, denn Betteln – das schmerzt niemand sehr, nur den, der es aus Not muss treiben; sonst ist’s gar gut ein Bettler bleiben: Vom Bettelwerk verdirbt man nit, viel schaffen Weißbrot sich damit und trinken nicht den schlichten Wein: es muss Reinfall, Elsässer sein. Gar mancher verlässt auf Betteln sich, der spielt, buhlt, hält sich üppiglich; denn hat er verschlemmt sein Gut und Hab‘, schlägt man ihm Betteln doch nicht ab: ihm ist erlaubt der Bettelstab. Mit Betteln nähren viele sich, die reicher sind als du und ich! […] 83. Von Verachtung der Armut – Nackt kann man leichter schwimmen Geldnarren sind auch überall soviel, dass man nicht kennt die Zahl, die lieber haben Geld als Ehr‘. Nach Armut fragt jetzt niemand mehr; man kommt auf Erden dort kaum aus, wo nichts als Tugend ist im Haus. Weisheit tut man nicht Ehr‘ mehr an, und Ehrbarkeit muss hinten stahn; sie kommt kaum noch auf grünen Zweig, man will jetzt, dass man von ihr schweig‘; und wer nur strebt nach Reichtum hin, hat den allein in seinem Sinn, und scheuet Sünd‘ nicht, Wucher, Schand‘, nicht Mord, Verrat am eignen Land; das ist jetzt üblich in der Welt. […]
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Der Arme muss stets in den Sack; was Geld gibt, ist gut von Geschmack. Armut, die jetzo ganz unwert, war einstens lieb und hochgeehrt und angenehm der goldnen Welt. Da hat niemand geachtet Geld oder etwas besessen allein: All Dinge waren da gemein, und man an dem Genügen fand, was ohne Arbeit jedes Land und die Natur ohn‘ Sorgen trug. Doch als gebraucht erst ward der Pflug, fing man auch gierig an zu sein, da kam auch auf: „Wär‘ mein, was dein!“ All Tugend wär‘ noch auf der Erde, wenn man nur Ziemliches begehrte. Armut ist eine Gab‘ von Gott, wiewohl sie jetzt der Welt ein Spott; das macht allein, weil niemand ist, der denkt, wie Armut nichts gebrist, und dass der nichts verlieren kann, er nichts hatte von Anfang an, und dass der leicht kann schwimmen weit, der nackend ist und ohne Kleid. Ein Armer singt frei durch die Welt, dem Armen selten etwas fehlt. Die Freiheit hat ein armer Mann, dass er doch betteln gehen kann, obschon man ihn sieht übel an; und wenn man ihm auch gar nichts reicht, so bleibt sein Gut wie vorher leicht. […] Der Herr sprach: „Euch sei Weh und Leid! Ihr Reichen habt hier eure Freud‘, genießet euer Gut auf Erden, glücklicher wird der Arme werden!“1 Wer lügt, damit sein Gut sich mehre, ist unnütz und ganz ohne Ehre und nähret selbst sein Missgeschick, dass er erwürg‘ am Todesstrick. Wer einem Armen unrecht tut und damit häufen will sein Gut, 1
Vgl. Lk 6,24.
Das Narrenschiff
Das Narrenschiff
trifft einen Reichern, der erpresst, sein Gut und ihm in Armut lässt. Richt nicht die Augen auf das Gut, das allzeit von dir fliehen tut; gleichwie der Adler so gewinnt es Federn und fliegt durch den Wind. Wenn Reichtum wäre gut auf Erden, trüg‘ Christus nicht Armutsgebärden. Quelle: Sebastian Brant, Das Narrenschiff, Wiesbaden 2013, 124–127; 174–177. © marixverlag Wiesbaden
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123. Testament der Barbara Grieninger (1494) Nicht nur adelige Äbtissinnen wie Theophanu (s. Text 86) und wohlhabende Kleriker (s. Text 119) verfassten Testamente, in denen sie die Vorsorge für ihr Seelenheil mit Zuwendungen für karitative Organisationen und Orden verbanden. Auch wohlhabende Bürger trugen vermehrt seit dem 13. Jahrhundert durch ihre Vermächtnisse zur Unterstützung diakonischer Hilfeprozesse bei. Das Testament der reichen Esslinger Bürgerin Barbara Grieninger (gest. 1496) gibt einen Einblick in ein derartiges Vermächtnis. Es umfasst zum einen Erbteile für die Verwandtschaft, zum anderen vielfältig verästelte Regelungen und Verfügungen, die sich auf das Seelenheil und karitative Unterstützungen beziehen. Finanziert werden Seelenmessen, besonders für ihren verstorbenen Mann. Das Esslinger Katharinen-Spital, das Waisenhaus und das Armenhaus erhalten Geldzuwendungen. Auch an der Mitfinanzierung eines städtisch angestellten Arztes möchte Grieninger sich beteiligen. Die ortsansässigen Orden und die Kirchengemeinde werden ebenfalls im Testament bedacht. Teilweise werden die Verwendungszwecke detailliert vorgeschrieben. Im Namen Gottes Amen. Weil allen Menschen das Ende ihres zeitlichen vergänglichen Lebens festgesetzt ist durch den grausamen Tod, durch den Leib und Seele getrennt, der Leib wieder der Erde anverwandelt und die Seele entweder zu ewiger Seligkeit oder Verdammnis je nach Verdienst oder Verschulden des Menschen geführt wird, und kein Mensch die Stunde seiner Berufung kennt, deswegen ist es notwendig, dass jeder einzelne Mensch, solange seine Seele mit guter Vernunft in seinem Leib ruht und der göttlichen Gnade empfänglich ist, den Zeitpunkt des Todes so vorbereitet, dass er zu ewiger Seligkeit, auf die wir alle hoffen, geschickt wird [...] Deshalb habe ich, Barbara Grieninger, Witwe des Jörg Lieber, zu Lebzeiten [...] mein Testament und letzten Willen wie nachfolgt aufgesetzt, gemacht und beschlossen: Erstens setze ich [...] meine Seele unter die Barmherzigkeit Gottes und in den Brunnen der überfließenden Verdienste der bitteren Martern Jesu Christi, in der Hoffnung, dass damit meine Unvollkommenheit aufgehoben und meine Missetaten abgewaschen werden. Zum andern [wünsche ich], dass mein Leib in der Erde bei Jörg Lieber, meinem lieben verstorbenen ehelichen Gemahls Körper in der Predigerkirche [Kirche des Dominikanerklosters in Esslingen] be-
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graben und mein Todesfall nach angemessener Gewohnheit begangen werde. Wegen meiner Güter verordne ich, dass ich, wie ich meinem lieben verstorbenen Ehemann vor Jahren zugewilligt habe, nach unser beider Tod seinen Geschwistern bzw. deren Erben 800 Gulden zu gleichen Teilen vermache. [Es folgen detaillierte Bestimmungen darüber, in welchem Fall die beiden Schwestern des Ehemannes, Felitas und Lucia, Nonnen im Dominikanerinnenkloster Mödingen, selbst bzw. ihr Konvent Teile des Geldes erben]. Von den 44 Gulden jährlichen Zinses, die ich von der Stadt Esslingen erhalte, ordne ich an, dass eine Hälfte dem vornehmen Herrn Prior und dem Konvent der Prediger [= Dominikaner] zu Esslingen zufallen soll, und damit bei ihnen in ihrer Kirche eine ewige Messe gestiftet werden soll, die täglich, nachdem die Messe in der hiesigen Frauenkirche gelesen wurde, am Altar des Heiligen Peters von Mailand gelesen werde zu Hilfe und Trost aller armen vergessenen Seelen, und vor allem jener, die der Erlösung am meisten bedürfen. Und besonders soll in diesen Messen für Werner Sachs und Jörg Lieber, meinen verstorbenen Ehemann, meine Vorfahren und alle, für die ich beten soll, gebetet werden. Sollte die Messe an einem Tag nicht abgehalten werden, sollen Prior und Konvent der Dominikaner verpflichtet sein, für jede nicht gehaltene Messe 2 böhmische Gulden den armen Siechen im Spital [Katharinenhospital in Esslingen] zu geben, worüber der Spitalmeister und andere Verantwortliche des Spitals achten sollen. Falls Prior und Konvent der Dominikaner dauerhaft die Messe nicht mehr lesen, sollen die genannten 22 Gulden vollständig an das Spital fallen und unter den armen Siechen verteilt werden. Die 22 Gulden Zins sollen an die Stadt Esslingen fallen mit der Auflage, dass Bürgermeister und Rat damit einen gelehrten, erfahrenen und bewährten Arzt anstellen, der seine Wohnung in Esslingen haben soll und der verpflichtet werden soll, die Hebammen zu beaufsichtigen, zu unterweisen und zu lehren, wie diese den gebärenden Frauen am besten unterstützen können. [Es folgen Bestimmungen zur Kontrolle der Stiftung durch die Dominikaner und die Forderung, dass der Inhalt dieser Stiftung abgeschrieben und in die Ratsstube gehängt werden und jährlich bei Neubesetzung des Rats öffentlich verkündet werden soll]. Weiter setze ich fest, dass von meinen Gütern 200 Gulden an die Barfüsser [Franziskanerkloster in Esslingen], den Augustinern [Augustinereremitenkloster in Esslingen], den Frauenbrüdern [Karmelitenkloster in Esslingen], der Pfarrkirche, der Elendenherberge, dem Fundenhaus [Waisenhaus] und den Nonnen in Weiler [Dominikanerinnenkloster in Weiler vor den Toren Esslingens] und 100 Gulden an
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die Frauenkirche und an das Regelhaus der Schwestern [3. franziskanischer Orden] gegeben werden sollen. Franziskaner, Augustiner und Karmeliten sollen das Geld anlegen und zur Bekleidung und Bettgewand verwenden. [Es folgen weitere Detailbestimmungen]. Die Stadt Esslingen erhält noch 400 Gulden zur Vermehrung des Zinses zugunsten der Anstellung des Arztes. Dasjenige Geld, das nach Ausbezahlung meiner Testamentsvollstrecker übrig ist, soll an das erwähnte Katharinenhospital fallen, allerdings mit der Auflage, dass das Leibgeding meines Vetters Thomas Rinstrain, das ich ihm in genanntem Hospital gekauft habe, sollte er noch am Leben sein, aufgebessert und vermehrt wird. [Es folgen Bestimmungen über die Bestellung und Besoldung der Testamentsvollstrecker und die Ausfertigung, Besiegelung und Bezeugung der Testamentsurkunde unter namentlicher Nennung zahlreicher Zeugen und Siegler]. Beurkundet bei körperlicher und geistiger Gesundheit in der hinteren Stube meines Hauses am Montag nach Sankt Luzia zur Vesperzeit, nach Geburt Christi 1494. Quelle: Testament der Barbara Grieninger aus Esslingen, ausgestellt am 13. Dezember 1494, Stadtarchiv Esslingen, Privaturkunden 68. Neuhochdeutsche, gekürzte und vereinfachte Übersetzung: Joachim Halbekann.
124. Reichstag zu Lindau: Abschaffung unziemlichen Bettelns (1497) Seit dem 14. Jahrhundert begannen westeuropäische Städte mit Maßnahmen zur Bekämpfung des Bettels, und seit etwa Mitte des 15. Jahrhunderts griffen sie zunehmend in die Armenpflege ein. Die überregionale Bedeutung der Bettelthematik zeigt sich daran, dass sich der Reichstag damit befasste, der auf Einladung König Maximilians I. (1459–1519) vom 7. September 1496 bis 10. Februar 1497 in Lindau (Bodensee) tagte. Der Lindauer Abschied enthält erstmalig eine allgemeine Anordnung, in der die Obrigkeiten angewiesen werden, unziemliches Betteln nicht zuzulassen, und zu verhindern, dass Betteln sich gleichsam vererbt. Dieser Beschluss des Reichstags wurde mit den einschlägigen Verordnungen Kaiser Karls V. 1530/31 (s. Texte 144; 145) aufgegriffen und ausgebaut. Er fand dann Eingang in die Reichspolizeiordnungen. § 20. Ebenso: Eine jede Obrigkeit soll wegen der Bettler ein ernstes Einsehen haben, damit niemand zu betteln gestattet wird, der nicht mit Schwachheit oder Gebrechen des Leibes beladen ist und dessen nicht bedarf. Dass auch der Bettler Kinder zeitlich, sofern sie geschickt sind, ihr Brot zu verdienen, von ihnen genommen und zu Handwerkern oder sonst zu Diensten gewiesen werden, damit sie also nicht für immer dem Betteln anhängen. In dieser Hinsicht soll eine jede Obrigkeit eine Ordnung erlassen und in die nächste Versammlung einbringen, damit davon weiter verhandelt wird. Doch sollen die armen Schüler, die der Lehre nachziehen, hierin nicht einbezogen werden. Quelle: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tagen abgefasset worden, sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind. In Vier Theilen, hg. v. Heinrich Christian von Senckenberg/Johann Jakob Schmauß, Frankfurt a.M. 1747, Teil 2, 32.
125. Johann Geiler von Kaysersberg: Armut und Reichtum (1498) Der 1445 in Schaffhausen (Schweiz) geborene Geiler wuchs im elsässischen Kaysersberg auf. 1470 zum Priester geweiht, wurde er 1476 Professor für Theologie und Rektor der Universität Freiburg. Berühmtheit gewann er als Prediger am Straßburger Münster, wo er 1478 bis zu seinem Tod 1510 wirkte. Er sah sich als Wächter, der ins Horn stößt, sobald er vom Turm aus einen Brand gesichtet hat. Entsprechend deckte er Schäden der Kirche schonungslos auf. Zugleich prangerte er die Miss- und Günstlingswirtschaft des Straßburger Rats an und kritisierte die Kaufleute, die Monopole errichten wollten, ebenso scharf wie die reichen Bürger, die Kornvorräte zu Wucherpreisen verkauften. Geiler trat für die Verwirklichung der christlichen Gerechtigkeit in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen ein. Dazu gehörte die an den Rat der Stadt gerichtete Forderung, die „kräftigen“ Bettler zur Arbeit anzuhalten und die zur Arbeit unfähigen, ehrbaren Armen zu unterstützen. Der Straßburger Münsterprediger hielt vom 25.2.1498 bis 21.4.1499 einen Predigtzyklus über das Narrenschiff Sebastian Brants, mit dem Geiler von Kaysersberg befreundet war. Der folgenden Predigt liegt ein Abschnitt Brants zugrunde, in dem er die „Geldnarren“ charakterisiert (s. Text 122). Die Zeilen Brants werden von Geiler vor allem durch „Predigtmärlein“ erweitert und durch Zitate aus der Bibel, aber auch aus Werken Aristoteles‘ und Thomas von Aquins angereichert. „Gott hegt übergroße Liebe zu den Armen“ – dieser Grundsatz führt bei Geiler einerseits zur Kritik an den reichen Wucherern und mündet andererseits in den Appell, die Armut in Geduld und in Erwartung himmlischen Lohns zu ertragen. Am Montag nach Okuli hat der hochwürdige Herr Dr. Kaysersberg von den Geldnarren gepredigt. Die 17. Narrenschar sind die Geldnarren. Es gibt nämlich viele, die die Armen wegen ihrer Armut verachten, die Reichen dagegen hochschätzen. Diese Narren kann man an sieben Schellen erkennen. Von der ersten Schelle Die erste Schelle ist diese: Viele erweisen den Armen keine Ehre, wohl aber den Reichen um deren Besitzes willen. Wer dies tut, ist ein Narr, denn er versteht nicht, warum man jemand Ehre erweisen soll. Aristoteles sagt, dass nicht der Reichtum, wohl aber die Tugend zu ehren sei – eigene so gut wie fremde. Wir ehren also Prälaten sowohl
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als auch Amtsleute, das heißt: geistliche Würdenträger und weltliche, da in ihnen sich die göttliche Tugend verkörpert und wir, wenn wir ihnen gehorchen, zugleich diese anerkennen. Genauso ehren wir andere Oberherren, aber auch Vater und Mutter, weil sie an Gottes Herrschaft und seiner Vaterschaft teilhaben. Und so ehren wir auch die Alten, da sie die Anzeichen der Tugend an sich tragen. Wir können durchaus den Reichen deshalb Ehre erweisen, weil sie Regierungsämter innehaben. Nur soll man sie keinesfalls einzig wegen ihres Reichtums ehren. Wer das täte, müsste sich vom heiligen Jakobus (Jak 2) als bloß nach dem Äußeren urteilend rügen lassen. Jakobus nämlich sagt: Meine Brüder, haltet den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, den Herrn der Herrlichkeit, frei von jedem Ansehen der Person. Wenn in eure Versammlung ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung kommt, so sollt ihr nicht sagen: Setz dich hier auf den guten Platz! Wenn hingegen ein Armer in schmutziger Kleidung kommt, dann sagt ihr: Du kannst dort stehen!, oder: Setz dich dort auf den Fußschemel!1 Der heilige Hieronymus hat solches Verhalten gehasst. Noch in der Stunde seines Todes belehrte er seine Brüder so: Ihr sollt dem Reichen keineswegs mehr Ehre erweisen als dem Armen, es sei denn, er sei vollkommener und besser als der Arme. Ja, ihr sollt dem Armen mehr Ehre erweisen als dem Reichen, denn in ihm leuchtet das Bild Jesu Christi auf. Der Reiche dagegen trägt nur das Bild der Welt an sich. Wir sind alle ein und derselben Wurzel entsprossen und Glieder des einen Leibes, dessen Haupt Jesus Christus ist. Womit hätte der Reiche dann mehr Ehre als der Arme verdient? Etwa damit, dass er Macht und Reichtum besitzt? Wenn dem so wäre: warum hassen wir dann den irdischen Reichtum? Und warum predigen wir, man müsse die weltlichen Ehren verschmähen? Hört auf Hieronymus! An seine Aufforderung halten sich diejenigen Narren nicht, die den Reichen mehr Ehre erweisen als den Armen. Aber das Blatt wird sich wenden, sobald es ans Sterben geht. Es wird den Menschen gehen, wie es dem Jagdfalken und dem Huhn geht. Solange der Falke lebt, erweist man ihm Ehre und trägt ihn auf der Hand. Das Huhn läuft und pickt auf dem Misthaufen herum. Ist jedoch der Falke tot, dann wirft man ihn auf den Misthaufen. Das Huhn dagegen wird mit Ehren auf der Tafel aufgetragen. Von der zweiten Schelle. Die zweite Schelle ist diese: Den Armen nicht glauben, wohl aber den Reichen. Es heißt gemeinhin, die Reichen hätten den Glauben in der Geldkiste. Deshalb glaubt man einem, je nachdem wieviel Geld er in der Tasche hat. Isidor sagt davon: Der Arme besitzt nichts, was er 1
Jak 2,1–3.
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verschenken könnte. Deshalb hört man ihn nicht nur nicht an, sondern unterdrückt ihn noch und versagt ihm Gerechtigkeit. Dabei sollte man einem ehrbaren, anständigen Armen eher glauben als einem reichen Wucherer. Das schreiben sowohl die geistlichen als auch die weltlichen Gesetze vor. Aber heutzutage kümmert sich kaum mehr jemand um Ehrbarkeit. Von der dritten Schelle. Die dritte Schelle ist diese: Man beruft die Armen nicht in die Ratsversammlung. Raus mit den Armen! Wenn Salomo heute auf die Erde käme und nicht reich, sondern nur ein armer Weber wäre (wie der heilige Serenus einer war) – man würde ihn doch nicht in den Rat aufnehmen! Es gibt ein Sprichwort, das lautet: Im Bauch eines Armen verdirbt viel Weisheit. Viele Reiche sind wie der Metzger, der mehr Hirn in der Tasche als im Kopf hat. Der Staat der Römer ist dagegen lange Zeit von armen Leuten regiert worden. Lies das Narrenschiff des Sebastian Brant! Darin kannst du finden, wie viele Königreiche ihren Ursprung auf Bauern zurückführen. Apuleius schreibt, dass das römische Reich seinen Ursprung von Hirten genommen hat. Die Armut hat sie besser beraten als der Reichtum. Fabricius, ein römischer Heerführer, strebte eher nach Ehre als nach Geld, und viele andere genauso. Sokrates, Homer, viele andere, insbesondere viele Philosophen, sind arm gewesen und trotzdem hochgelehrt und gerecht. Die vierte Schelle ist: Keine Armen einladen, sondern nur Reiche. Viele sind, die sich nicht im Geringsten um die Armen kümmern, dagegen Woche für Woche die Reichen bei sich zu Gast laden, wobei es hoch hergeht. Die Armen liegen derweil auf der Straße. Sollen sie doch ruhig erfrieren! Das hat uns unser Herr Jesus nicht gelehrt. Der sagt vielmehr (Lk 14): Wenn du ein Essen gibst, so lade nicht die Reichen, deine Freunde oder deine Brüder usw., sonst laden auch sie dich ein. Nein, lade vielmehr Arme, Lahme, Krüppel, Blinde ein. Sie können es dir nicht vergelten. Es wird dir vergolten bei der Auferstehung der Gerechten.2 […] Von der fünften Schelle. Die fünfte Schelle ist diese: Man will mit den Armen nicht befreundet sein. Es sind viele, die nur Reiche zum Freund haben. So sagt Salomo: Die Reichen haben viele Freunde, die Armen nur wenige.3 Das ist kein Wunder. Denn ganz so, wie die Disteln im Weizen wachsen 2 3
Lk 14,12–14. Spr 14,20.
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und die Zweige aus den Bäumen sprießen, so verhält es sich mit den vorgeblichen Freunden der Reichen. Es wurde einmal einer Bischof, der zuvor nur ein armer Priester gewesen war. Der gab seinen angeblichen Freunden die passende Antwort, als sie kamen, ihm Glück zu seiner Ernennung zu wünschen. Er fragte sie, wie alt sie wären. Und als sie ihm wahrheitsgemäß ihr Alter genannt hatten, da sagte er: Ihr könnt nicht meine Freunde sein, wenn ihr so alt seid. Meine Freunde sind keinesfalls älter als einen Tag. Gestern nämlich, als ich noch arm war, hatte ich noch keinen einzigen. Er hatte recht: Er selbst war zwar genau der, der er gestern war. Aber heute hatte er plötzlich Freunde; gestern hatte er keine. Das beweist: sie waren alle nicht seine Freunde, sondern bloß Freunde seines Glücks. Besitz vermehrt die Zahl der Freunde.4 Die sechste Schelle ist diese: Über nichts anderes jammern als darüber, wie arm man doch selber sei. Viele sagen: Mir fehlt nur eins – Geld. Das sind Narren. Seneca sagt: Ihnen geht mehr ab, was sie nicht zu benennen vermögen, weil sie nichts davon wissen. Dass ihnen Geld fehlt, ist das einzige, was sie wissen; und darum jammern sie dauernd darüber. Oh du Narr, begreifst du nicht, wie sehr dir vielmehr Einsicht und Verstand fehlen? Kennst du nicht die krummen Wege deiner Begierden und die Neigung deines Willens zu jeder Form von Bosheit? Bist du dir nicht bewusst, wie sehr du aller Tugend und Gnade bloß bist? Wo sind deine Gottesfurcht, deine Demut? Über deine Armut sollst du nicht klagen. Sprich vielmehr mit David: Illumina oculos meos.5 Das heißt: Herr, erleuchte meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe. Kehr dein Angesicht zu mir.6 Die siebte Schelle ist diese: Die Armut in allen Dingen hassen. Viele gibt es, die nichts angenehm finden können, selbst wenn es noch so gut ist, es sei denn, rundum habe es mit Geld zu tun. Sie benehmen sich wie beim Essen: Wenn in eine Speise, sie sei noch so gut und schmackhaft, eine Fliege fällt, dann schmeckt sie nicht mehr. So schmeckt denen nichts ohne Geld. Man schätzt an einem Menschen sein Aussehen, seine Stärke, seine Gesundheit, seinen Adel, seine Fähigkeiten, seine Weisheit, seine Wohlgeratenheit (lateinisch lautet's multa licet sapias re sine nullus
4
Spr 19,4. Erleuchte meine Augen, Ps 13,4. 6 Ps 31,17. 5
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eris ). Wenn jedoch die Fliege der Armut hineingeraten ist, dann will keiner mehr etwas davon wissen. Nimm das folgende Beispiel! Wenn man ein Mädchen ehelichen will und um sie wirbt, dann kann sie so tugendhaft und hübsch sein, wie es nur möglich ist: Falls sie arm ist, willst du nichts mehr von ihr wissen. Immer fragt man als erstes eher: was besitzt sie? als danach, was sie kann oder dergleichen. Dazu hast du auch im heutigen Evangelium oder vor dem Evangelium in der vorhergegangenen Lesung ein Beispiel gehört, wie man Jesus lange schätzte und sein Freund sein wollte. Sobald ihnen jedoch aufging, wie arm er war, da schreckten sie zurück. Sie saßen vor einer Platte, voll mit Gnaden und Tugenden Jesu Christi. Aber weil die Mücke der Armut hineingefallen war, wollten sie nichts davon und riefen: Ist er nicht der Sohn eines armen Handwerkers?8Auch von den Römern berichtet man dergleichen. Die Römer pflegten solche Leute, die etwas Großes getan hatten, in den Rang ihrer Götter zu erheben. Als sie nun davon erfuhren, wie hoch man Christus, nicht zuletzt aufgrund seiner Wunderzeichen, lobte, da disputierten sie im Rat darüber, ob man nicht auch ihn in die Reihe der Götter aufnehmen solle. Nach heißer Redeschlacht wurde beschlossen: nein! Und warum? Er predigte und lobte doch die Armut, die jedermann flieht und hasst. So konnte er doch keine Ehre erwerben. Natürlich wussten sie nicht, dass er selber Gott und Herr war, der nämlich, von dem Sacharja im neunten Kapitel spricht: Er ist ein armer König, der auf einem Esel reitet.9 Er ist arm und reich zugleich. Darum ist es ihm ein Leichtes, die, die ihm dienen und ihn ehren, reich zu machen. Aber so wie in seinem Fall wird die Armut von den Narren gehasst, die das Geld höher schätzen als die Tugend. Sei daher kein Narr und verachte die nicht, die Gott in seiner ewigen Weisheit, der alles nach seinem wahren Wert zu schätzen weiß: die Armen nämlich, hoch geschätzt hat. Bevor Christus gekommen war, waren allenfalls noch Zweifel daran möglich, ob Armut wirklich ein so kostbares Gut wäre. Aber Christus, dem unbedingt zu glauben ist, hat diesen Zweifel endgültig ausgeräumt. Er hat gelehrt, die Armut sei ein kostbarer Schatz, und er hat es durch sein Tun bezeugt. Arm, in einem Stall ist er geboren worden, von einer armen Mutter (die ihn aber in kleine, saubere Windeln gewickelt hat). Arm hat er gelebt, hatte er doch nichts, worauf er sein Haupt hätte legen können. In Armut ist er gestorben. Ja sogar im Grab eines anderen hat man ihn begraben müssen. Nur um der Armen willen wurde das Evangelium 7
Du kannst noch so weise sein, ohne Geld bist du nichts. Die Sentenz stammt von Plautus oder Terenz. 8 Mt 13,55; Mk 6,3. 9 Sach 9,9.
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verkündet. Die Armen hat Jesus, schon am Beginn seiner Lehrtätigkeit, selig gepriesen (beati pauperes).10 Den Reichen dagegen hat er Unseligkeit und Elend vorhergesagt (vae vobis divitibus – Mt 5; Lk 6). Christus hat in seiner ewigen Weisheit die Armen seines Tisches für würdig befunden – und du Narr zweifelst noch immer? Sei ehrlich! Hat er nicht allein die Armen auserwählt (Jak 2)? Den Armen hat er sich zugesellt und das Zusammensein mit ihnen dem Zusammensein mit den Reichen vorgezogen (Lk 14): Wer nicht allem entsagt, was er besitzt, der kann nicht mein Jünger sein. Darum sollst du keinen Armen verachten, denn sie genießen bei Gott ein besonderes Ansehen, und er gedenkt ihrer stets (Psalmista non in finem): Gott wird die Armen auf ewig nicht vergessen.11 (Dominus sollicitus est mei): Ich bin arm und gebeugt; der Herr aber sorgt für mich.12 Er wacht über ihnen. […] Du sollst stets vor Augen haben, dass Gott ihre Zuflucht ist und ihre Hoffnung und nicht der Pfennig (factus est dominus refugium pauperum13. Gott ist das rechte Ziel jeder Hoffnung. Aber wenn du alle Hoffnung auf Geld setzt, ist das ganz so, als lehntest du dich auf ein Schilfrohr, das unter deinem Gewicht bricht, so dass sich die Splitter dir in den Arm und in den Schenkel bohren. Verachte die nicht, deren das Himmelreich ist. Sie besitzen es nicht nur; sie wollen es auch anderen Menschen zukommen lassen. (facite vobis): Macht euch Freunde usw., damit ihr in die ewigen Wohnungen aufgenommen werdet.14 Am Jüngsten Tag wird der Herr sie fragen, wie man sie 15 hier getränkt, gespeist und behandelt habe. Ja, mehr noch: Gott hat ihnen das Gericht selbst übertragen: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und alle, die jetzt von den Herrschenden verurteilt, mit ungerechter Steuer überzogen oder gepeinigt werden, sollen dann das härteste Urteil über ihre Richter fällen.16 Du sollst die nicht verachten, die Gott bei ihrem Namen nennt und anerkennt, wo er doch die schandbaren Reichen weder beim Namen ruft noch anerkennt. Vergleiche bei Lukas 16 die Geschichte vom Bettler Lazarus.17 Fürwahr, ganz so lässt er die Armen von den Engeln an den Ort der Ruhe tragen. Als, wie an jener Lukas-Stelle berichtet wird, der Bettler Lazarus starb, trugen ihn die Engel in Abrahams Schoß. 10
Vgl. Lk 6,20; Mt 5,3. Ps 9,19. 12 Ps 40,18. 13 Ps 9,10. 14 Lk 16,9. 15 Vgl. Mt 25,31ff. 16 Mt 19,28. 17 Lk 16,19–31. 11
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Ich will meine Predigt mit einem letzten kurzen Wort beschließen: Gott hegt übergroße Liebe zu den Armen. Was du ihnen tust, das sieht er alles so an, als hättest du es ihm selbst getan, vergleiche Mt (quid uni ex minimis18). Weh dagegen euch Reichen, die ihr die verachtet, die Gott so hoch schätzt! Weh über weh aber auch dir Armen, wenn du den nicht wieder liebst, der dich so lieb hat und dir seine Liebe so deutlich gezeigt hat. Oh du Armer, liebe ihn auch, der dich dermaßen liebt! Liebe ihn um seiner Ehre willen und liebe die Armut! Sei geduldig in der Armut und in der Tugend! Folge deinem armen König nach! Wie du ihm auf Erden in Armut und Leiden gleich gewesen bist, so mögest du ihm auch im Himmel gleich werden. Das verleihe uns Gott der Vater, der Sohn und der heilige Geist. Amen. Quelle: Johann Geiler von Kaysersberg, Armut und Reichtum, Übersetzung: Gerhard Bauer, in: Gerhard K. Schäfer (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, VDWI 4, Heidelberg 1991, 148–155.
18
Mt 25,40.
126. König Maximilian I.: Einrichtung einer Wechselbank in Nürnberg (1498) Auf franziskanische Initiative hin wurden im Spätmittelalter in oberitalienischen Städten sog. Montes Pietatis/Monti di Pietà („Berge der Frömmigkeit“ bzw. „Barmherzigkeit“) gegründet. Der erste Mons Pietatis entstand 1462 in Perugia. Bei den Montes handelte es sich um Einrichtungen, die Armen und insbesondere von Armut Bedrohten Kleinkredite gegen ein Pfand (z.B. Schmuck, Kleidung, Geräte) und geringe Zinsen (4–5 %) gewährten. Im Unterscheid zu den Banken, den Montes, arbeiteten die Montes Pietatis nicht gewinnorientiert, sondern karitativ und gemeinnützig. Das Kapital wurde vor allem durch Stiftungen und Spenden aufgebracht. Die Montes Pietatis erwiesen sich als hilfreiches Instrument, um z.B. Handwerkern, Händler und Bauern, die in Krisensituation von Armut bedroht waren, Mittel etwa zum Kauf von Werkzeugen, Stoffen oder Saatgut zur Verfügung zu stellen. Die Vergabe von Kleinkrediten war auf Einheimische beschränkt; Fremde waren ausgeschlossen. Mit den Einrichtungen war die Intention verknüpft, Vorbehalte gegen Kreditgeschäfte und Zinsen in Einklang zu bringen mit dem Kreditbedarf unterer Schichten der Gesellschaft. Die Institutionen richteten sich auch gegen jüdische Geldhändler und deren Privilegien und suchten ihnen die Existenzgrundlage zu entziehen. Außerhalb Italiens wird vor 1515 nur ein Plan zur Errichtung einer Bank nach dem Vorbild der italienischen Montes Pietatis erwähnt. Der Nürnberger Stadtrat hatte bereits 1473 beim Kaiser um die Erlaubnis nachgesucht, die „Juden […] wegen ihrer bösen Aufführung“ vertreiben und „eine Wechselbank“ gründen zu dürfen. Erst am 21. Juli 1498 gewährte König Maximilian I. (1459–1519) die Bitte. Ob und wieweit der Plan allerdings wirklich realisiert wurde, ist unklar. Der Auszug aus dem Bewilligungsschreiben belegt einerseits die antijüdische Stoßrichtung der Idee zur Einrichtung einer „Wechselbank“. Andererseits kommen die karitativen und gemeinwohlorientierten Zielsetzungen und die Funktionsweisen einer Bank, die dazu beitragen sollte, das Abgleiten in Armut zu verhindern und Wege aus der Armut zu eröffnen, exemplarisch in den Blick. […], weil sie [die Juden] mannigfaltige böse, gefährliche und geschickte wucherische Händel gegen eure Mitbürger und andere geübt haben, und darum gefährliche, betrügerische Schuldverschreibungen
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ausgestellt haben, wodurch etwa viele von denen, die sonst bei ihrer Ehre, Hab und Gütern, in Glauben und in ihrem Charakter geblieben wären, sich dermaßen übernommen haben und in Schulden geführt worden sind, dass sie deshalb aus ihrer Nahrung und häuslicher Ehre und Wohnung gedrängt wurden. […] So geben wir auch die fernere Gnade und Freiheit, gönnen und erlauben euch auch durch oben genannte Königliche Machtvollkommenheit wissentlich in Kraft dieses Briefes, dass ihr Wechselbänke bei euch in der Stadt Nürnberg an geeigneten Stellen errichtet und ihr und eure Nachkommen nun zukünftig für ewige Zeiten diese habt, haltet, und mit Schreibern, Amtsleuten und anderen Personen, die solchen vorstehen und Notdürftigen aushelfen nach euren Notdürften, nach eurem Willen und Gefallen, wie es zu Zeit und Gelegenheit die Dinge erfordern, besetzen, vorsehen und ordnen mögt, dermaßen, dass ihr euren Mitbürgern und Einwohnern, die ihr Handwerk, Hantierung und Gewerbe ohne Entleihen und Versetzen wohl nicht ansehnlich betreiben oder durchführen könnten, wann und so oft ihr wollt auf ihr Ansuchen und Begehren, nach Gelegenheit ihres Handelns und ihres Charakters zu ihrer Notdurft Geld leihen und dafür Pfand, Bürgschaft und Versicherung nehmt, auf Zeit und Ziel zu bezahlen, und dann zu besagter Frist über die Bezahlung der Kaufsumme hinaus einen Zins, der sich ziemt, einfordert und einnehmt und von diesen Zinsen den Sold und die Arbeit der oben genannten Amtsleute und Ausrichter entrichtet und wenn alsdann von diesen Zinsen noch ein Überschuss bleibt, diese Zinsen für den gemeinen Nutzen aufgewandt und dem Gut der Stadt Nürnberg zugefügt werden mögen, wie andere gemeine Güter dieser Stadt. Quelle: Heribert Holzapfel, Die Anfänge der Montes Pietatis (1462–1515), München 1903, 102f.
IV. Zeitalter der Reformation
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127. Martin Luther: Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (1519) Martin Luther (1483–1546), seit 1505 Augustinermönch und ab 1512 Professor für die Auslegung der Bibel an der Universität Wittenberg, war die prägende Gestalt der Reformation. Die Lehre von der Rechtfertigung markiert für Luther das Zentrum des christlichen Glaubens, die Mitte aller Theologie und den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Bibel. Rechtfertigung versteht er als Geschehen, in dem Gott den Menschen, der als Sünder existiert, aus Gnade gerecht spricht und gerecht macht. Im Glauben nimmt der Mensch an, dass er bedingungslos angenommen ist. Der Glaube erschließt ein lebensbestimmendes Vertrauen und die „Freiheit eines Christenmenschen“. Diese Freiheit macht unabhängig von irdischen Autoritäten und allen weltlichen Ansprüchen, menschliches Leben letztinstanzlich zu beurteilen und zu regulieren, und befähigt zugleich dazu, sich dem Nächsten in Liebe zuzuwenden. Von Luthers Konzentration auf das Gottesverhältnis des Menschen fällt ein spezifisches Licht auf die Lebensführung des Einzelnen, die Grundstruktur christlicher Gemeinde und das ganze Themenspektrum des öffentlichen Lebens. Dies gilt auch und gerade für diakonisch relevante Problemfelder – die Wahrnehmung des Nächsten, die Einstellung zum Almosen, zu Arbeit und Armut sowie die Bestimmung obrigkeitlicher sozialer Aufgaben. Dabei klingt der Grundtenor von Luthers Perspektive bereits in den 95 Thesen von 1517 an: Besser als Ablass zu kaufen, sei es – so Luther – gute Werke der Liebe zu tun (These 41) und z.B. „dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen“ (These 43). In seinem Sermon vom Abendmahl entfaltet Luther die Bedeutung des Sakraments unter dem Gesichtspunkt der Gemeinschaft. Er kritisiert die zeitgenössischen Bruderschaften, denen er Mitgliederfixierung und verkappten Egoismus vorwirft, und setzt ihnen die Gemeinschaft der Liebe entgegen, die im Herrenmahl wurzelt. Die communio sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen, gewinnt ihre spezifische Sozialstruktur dadurch, dass die Teilhabe an den Gütern Christi ein Miteinander begründet, das in wechselseitiger Sorge füreinander und Freude aneinander aktualisiert wird. Im Herrenmahl wird deutlich, dass
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die christliche Gemeinde in Gleichursprünglichkeit Glaubensgemeinschaft und Bruderschaft, Teilhabe- und Teilgabegemeinschaft ist. Geistliche Orientierung und diakonische Praxis sind hierin auf engste verbunden. Diakonie gilt als Kennzeichen des Lebens in der Gemeinschaft des Leibes Christi. Zugleich unterscheidet das Miteinanderteilen in geistlichen und elementaren Lebensvollzügen die christliche Gemeinde vom bürgerlichen Gemeinwesen. […] Zum vierten. Die Bedeutung oder das Werk dieses Sakraments ist die Gemeinschaft aller Heiligen. […] Zum neunten. […] Da muss nun dein Herz sich in die Liebe ergeben und lernen, wie dieses Sakrament ein Sakrament der Liebe ist und wie dir Liebe und Beistand zuteilwerden, wie umgekehrt du Liebe und Beistand erzeigen sollst Christus in seinen notleidenden Gliedern. Denn hier muss dir Leid zufügen alle Unehre Christi in seinem heiligen Wort, alles Elend der Christenheit, alles Unrechtleiden der Unschuldigen. All dies Leid zusammen findest du in überschwänglichem Maß an allen Orten der Welt. Hier musst du wehren, arbeiten, bitten und, wenn du nicht mehr kannst, herzliches Mitleid haben. Sieh, das heißt dann wiederum tragen Christi und seiner Heiligen Unglück und Widerwärtigkeiten. Da gilt denn der Spruch des Paulus: „Einer trage des andern Bürden, so erfüllt ihr Christi Gebot.“1 Siehe, so trägst du sie alle, so tragen sie wiederum dich, und alle Dinge sind gemeinsam, gute und böse. […] Zum zwölften. […] Doch in früheren Zeiten übte man dieses Sakrament so gut und lehrte das Volk diese Gemeinschaft so gut verstehen, dass sie auch äußerliche Speisen und Güter in der Kirche zusammentrugen und dort denen austeilten, die bedürftig waren, wie Paulus 1Kor 11,21.23 schreibt. Von daher ist das Wörtlein „Kollekte“ in der Messe noch übrig geblieben, das heißt allgemeine Sammlung, ebenso wie man Geld sammelt, um es den Armen zu geben. Damals wurden auch sehr viele Christen Märtyrer und Heilige. Es gab weniger Messen und mehr Frucht der Messe und Stärkung durch sie. Da nahm sich ein Christ des andern an, stand einer dem andern bei, hatte einer mit dem andern Mitleid, trug einer des andern Bürde und Unglück. Das ist nun verblichen, geblieben sind nur viele Messen und häufiger Sakramentsempfang ohne jedes Verständnis für seine Bedeutung und rechte Ausübung. […]
1
Gal 6,2.
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Zum Schluss. Die Frucht dieses Sakraments ist Gemeinschaft und Liebe, durch die wir gestärkt werden gegen Tod und alles Übel, so dass die Gemeinschaft doppelt ist: eine, dass wir Christi und aller Heiligen Gemeinschaft und Liebe genießen, die andere, dass wir alle Christenmenschen auch die unsere genießen lassen, wie sie und wir es vermögen. So soll die eigennützige Liebe zu sich selbst ausgerottet werden durch dieses Sakrament, damit die gemeinnützige Liebe aller Menschen eingelassen wird und so durch die Verwandlung aus der Kraft der Liebe ein Brot, ein Trank, ein Leib, eine Gemeinschaft wird, nämlich die rechte christliche brüderliche Einigkeit. Von den Bruderschaften Zum ersten wollen wir die bösen Übungen der Bruderschaften ansehen. Eine unter ihnen ist die, dass man ein Fressen und Saufen ausrichtet, eine oder mehrere Messen halten lässt, nach denen der ganze Tag und die Nacht und der nächste Tag dazu dem Teufel zu eigen gegeben werden. Da geschieht nichts anderes, als was Gott missfällt. Solches Wüten hat der böse Geist uns eingetragen, und er lässt es eine Bruderschaft nennen, obwohl es mehr eine Luderei ist und ein ganz heidnisches, ja säuisches Wesen. […] Zum zweiten. Wenn man eine Bruderschaft haben will, soll man zusammenlegen und an ein oder zwei Tischen arme Leute speisen und ihnen dienen lassen um Gottes willen. Man soll den Tag zuvor fasten und an dem Feiertag nüchtern bleiben, die Zeit mit Beten und anderen guten Werken zubringen. Dann würden Gott und seine Heiligen recht geehrt, daraus würde auch Besserung folgen und anderen ein gutes Beispiel gegeben. Oder man soll das Geld, das man versaufen will, zusammenlegen und einen Gemeinschaftsschatz sammeln, ein jedes Handwerk für sich, damit man in der Not einem bedürftigen Handwerksgenossen zulegen, helfen und leihen oder einem jungen Paar aus dem Volk dieses Handwerks aus diesem Gemeinschafsschatz mit Ehren eine Aussteuer aussetzen könnte. Das wären rechte brüderliche Werke, die Gott und seinen Heiligen die Bruderschaft angenehm machten, so dass sie in ihnen gerne Schirmherren wären. […] Zum dritten. Es herrscht eine andere böse Gewohnheit in den Bruderschaften, und das ist eine geistliche Bosheit, eine falsche Meinung. Sie meinen nämlich, ihre Bruderschaft sollte niemand anders zugutekommen als nur ihnen selbst, die in ihren Registern verzeichnet sind oder ihrer Zahl noch zugefügt werden. Diese verdammte böse Meinung ist noch ärger als die erste Bosheit. Sie ist eine Ursache, warum es Gott so verhängt, dass aus den Bruderschaften ein solcher Gottesspott und solche Lästerung wird mit Fressen und Saufen und derglei-
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Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament
chen. Denn dadurch lernen sie, sich selbst zu suchen, sich selbst zu lieben, im Ernst nur sich selbst zu meinen, die anderen nicht zu achten, sich als etwas Besseres zu dünken und mehr Vorteil bei Gott anderen voraus herauszuschlagen. Und so geht die Gemeinschaft der Heiligen unter, die christliche Liebe und fest gegründete Bruderschaft, die in dem heiligen Sakrament eingesetzt ist. Quelle: Martin Luther, Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (1519), in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling, 2. Bd.: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1983, 52–77. © Insel-Verlag
128. Martin Luther: Ein Sermon von dem neuen Testament (1520) Nachdem Luther 1519 das Abendmahl unter dem Gesichtspunkt der Gemeinschaft gedeutet hatte, lehrte er es ein Jahr später als Testament verstehen. D.h. er interpretierte es von den Einsetzungsworten her. Am Ende der Schrift befasst er sich mit der Frage, ob Taubstumme am Abendmahl teilnehmen dürfen und damit als gleichberechtigte Glieder der christlichen Gemeinschaft anzuerkennen sind. Taubstumme galten in der Tradition seit der Antike als nicht bildungsfähig. Aus Augustins Lehre von der Wortgebundenheit des Glaubens ließ sich die Ausschließung der Tauben vom Heil überhaupt ableiten. Bemerkenswerterweise rehabilitiert Luther die Taubstummen theologisch, obwohl er – wie Augustin – dem Wort höchste Bedeutung für das Verständnis des Glaubens beimisst: Taubstumme – wie auch Blinde und Lahme –, die durch die Taufe in den gnädigen Bund Gottes einbezogen sind, besitzen das volle Recht, am Abendmahl teilzunehmen. Luther bereitete damit der neuzeitlichen Beurteilung der Taubstummheit den Weg. Aber erst in der Aufklärung wurde die politische Gleichberechtigung der Taubstummen verwirklicht. Zugleich eröffnete die Taubstummenpädagogik seit dem 18. Jahrhundert neue Bildungshorizonte für eine Gruppe, die seit der Antike als bildungsunfähig angesehen wurde. Zum neununddreißgsten. Es haben einige gefragt, ob man auch den Stummen das Sakrament geben soll. Einige meinen, sie freundlich betrügen zu sollen, indem man ihnen ungesegnete Hostien gibt. Dieser Schimpf ist nicht gut, wird auch Gott nicht gefallen, der sie so gut zu Christen gemacht hat wie uns. Darum, wenn die Stummen bei Vernunft sind und man aus sicheren Anzeichen merken kann, dass sie es aus rechter christlicher Andacht begehren, wie ich oft gesehen habe, so soll man dem heiligen Geist sein Werk lassen und ihm nicht versagen, was er fordert. Es kann sein, dass sie innerlich ein höheres Verständnis und einen höheren Glauben haben als wir, und dem soll niemand frevelhaft widerstreben. Lesen wir doch von St. Cyprian, dem heiligen Märtyrer, dass er auch den Kindern beide Gestalten des Sakraments geben ließ in Karthago, wo er Bischof war, obwohl dieser Brauch aus bestimmten Ursachen abgeschafft ist. Christus ließ die Kinder zu sich kommen und wollte nicht dulden, dass jemand sie abwehrt.1 So hat er seine Wohltat auch weder Stummen noch Blinden 1
Vgl. Mk 10,14.
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Ein Sermon von dem neuen Testament
noch Lahmen versagt. Warum sollte dann sein Sakrament nicht auch denen zuteilwerden, die es herzlich und christlich begehren. Quelle: Martin Luther, Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe (1520), in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling, Bd. 2: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1983, 78–114: 112f. © Insel-Verlag
129. Martin Luther: Von den guten Werken (1520) Luther bestritt mit seiner Lehre von der Rechtfertigung die Verdienstlichkeit guter Werke und entzog damit der mittelalterlichen Almosenpraxis, die auf das Seelenheil des Gebers ausgerichtet war, den Boden. Sein Ansatz provozierte den Vorwurf, mit der programmatischen Betonung des Glaubens würden gute Werke bedeutungslos. Luther sah sich genötigt, seine Auffassung zu präzisieren: Die im Glauben empfangene Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade gewinnt in den verschiedenen Wirklichkeitsfeldern durch die Liebe Gestalt. Die Schrift „Von den guten Werken“ reflektiert vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Glaube und Werken und weist die Grundlagen evangelischer Ethik auf. Die folgenden Auszüge dokumentieren, dass Luther den auf Gottes Gnade vertrauenden Glauben den Taten prinzipiell vorordnet. Das Tun des Menschen gewinnt sein Gutsein durch den Glauben. Der mit den Taten verbundene Verdienstgedanke und eine Hierarchie der Werke lösen sich auf: Das Handeln des Geistlichen und das Tun des Schumachers erscheinen als gleichwertig. In der Freigebigkeit als Frucht des Glaubens findet die geistliche Orientierung ihren praktischen Ausdruck. Hier kommt die Not des Nächsten programmatisch in den Blick. Der unentwirrbaren Mischung von Bettelmönchen, bettelnden Pilgern und umherreisenden Bettlern sowie wirklichen oder vorgeblich Bedürftigen soll durch eine Eingrenzung auf die Bettler der eigenen Stadt entgegengetreten werden. Zum zweiten: Das erste und höchste, alleredelste gute Werk ist der Glaube an Christus, wie er sagt Joh 6,25f., als die Juden ihn fragten: „Was sollen wir tun, dass wir gute, göttliche Werke tun?“ da antwortete er: „Das ist das göttlich gute Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“ […] Denn in diesem Werk müssen alle Werke ergehen und das Einströmen ihres Gutseins wie ein Lehen von ihm empfangen. Das müssen wir kräftig hervorheben, damit sie’s begreifen können. Wir finden viele, die beten, fasten, Stiftungen machen, dies und das tun, ein gutes Leben führen vor den Menschen. Doch wenn du sie fragst, ob sie auch gewiss seien, dass es Gott wohlgefalle, was sie tun, sprechen sie: Nein. Sie wissens’s nicht oder zweifeln daran. Darüber hinaus gibt es auch etliche große Gelehrte, die sie verführen und sagen, es sei nicht nötig, dessen gewiss zu sein, die doch sonst nichts anderes tun, als gute Werke zu lehren! Nun sieh, diese Werke gehen
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Von den guten Werken
alle außerhalb des Glaubens vor sich; darum sind sie nichts oder ganz tot. Denn wie ihr Gewissen zu Gott steht und glaubt, so sind auch die Werke, die daraus geschehen. Nun ist da kein Glaube, kein gutes Gewissen zu Gott. Darum ist den Werken der Kopf abgeschlagen und all ihr Leben und Gutsein ist nichts. Daher kommt es, wenn ich den Glauben so sehr hervorhebe und solche ungläubigen Werke verwerfe, beschuldigen sie mich, ich verbiete gute Werke, wo ich doch gern rechte, gute Werke des Glaubens lehren wollte! Zum dritten: Fragst du sie weiter, ob sie das auch als gute Werke erachten, wenn sie arbeiten in ihrem Handwerk, gehen, stehen, essen, trinken, schlafen und aller Werke tun zur Leibesnahrung oder gemeinem Nutzen, und ob sie glauben, dass Gott auch dabei ein Wohlgefallen an ihnen habe, so wirst du wieder finden, dass sie Nein sagen und die guten Werke so eng fassen, dass nur das Beten in der Kirche, das Fasten und Almosengeben übrig bleiben; die andern halten sie für vergeblich, Gott sei nichts daran gelegen. Und so verkürzen und verringern sie wegen ihres verdammten Unglaubens Gott seine Dienste, dem doch alles dient, was im Glauben geschehen, geredet, gedacht werden kann. [… ] Zum sechsten […] Einzig die Zuversicht lehrt ihn das alles und mehr, als notwendig ist. Da gibt‘s für ihn keinen Unterschied in den Werken; er tut das Große, Lange, Viele so gern wie das Kleine, Kurze, Wenige und umgekehrt. Dazu tut er’s mit fröhlichem, friedlichem, sicherem Herzen und ist dabei ein ganz freier Geselle. Wo aber ein Zweifel da ist, da sucht man, was wohl am besten sei. Da fängt man an, sich Unterschiede der Werke auszumalen, mit denen er Huld erwerben könnte, und er geht dennoch mit schwerem Herzen und mit großer Unlust daran und ist gleich davon gefangen, mehr als halb verzweifelt und wird oft zum Narren darüber. So auch ein Christenmensch, der in dieser Zuversicht zu Gott lebt, weiß alle Dinge, vermag alle Dinge, greift in allen Dingen kühn an, was zu tun ist, und tut alles fröhlich und frei, nicht um viele gute Verdienste und Werke zu sammeln, sondern weil es ihm eine Lust ist, Gott damit wohlzugefallen, und dient Gott lauter und uneigennützig: Es ist ihm genug, dass es Gott gefällt. […] Das siebente Gebot: Du sollst nicht stehlen Dieses Gebot hat auch ein Werk, das sehr viel gute Werke in sich begreift und vielen Lastern entgegensteht. Es heißt auf Deutsch Freigebigkeit. Dieses Werk besteht darin, dass jedermann willig ist, mit seinem Gut zu helfen und zu dienen. Und es streitet nicht bloß gegen Diebstahl und Räuberei, sondern gegen jede Verkürzung, die man am
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zeitlichen Gut gegeneinander verüben kann, wie Geiz, Wucher, Überteuern, Übervorteilen, falsche Ware, falsche Maße, falsche Gewichte verwenden; und wer könnte alle die behenden neuen Spitzfindigkeiten aufzählen, die sich täglich vermehren in jeder Hantierung, durch die jeder seinen Vorteil sucht zum Nachteil des andern und das Gesetz vergisst, das uns sagt: „Was du willst, dass dir andere tun, das tu du ihnen auch.“1 Wer sich diese Regel vor Augen hielte, jeder bei seinem Handwerk, Geschäft und Handel gegenüber seinem Nächsten, der würde leicht finden, wie er kaufen und verkaufen, nehmen und geben, leihen und umsonst geben, zusagen und halten sollte und dergleichen mehr. […] Und wahrhaftig, an diesem Gebot kann man am klarsten bemerken, wie sehr alle guten Werke im Glauben gehen und geschehen müssen. Denn hier empfindet es gewiss jeder, dass der Grund des Geizes das Misstrauen, der Grund der Freigebigkeit aber der Glaube ist. Denn weil er Gott vertraut, ist einer auch freigebig und zweifelt nicht daran, er habe immer genug. Umgekehrt ist einer deshalb geizig und sorgenvoll, weil er Gott nicht vertraut. Wie nun in diesem Gebot der Glaube Werkmeister und Antreiber des guten Werkes der Freigebigkeit ist, so ist er es auch in allen andern Geboten, und auch die Freigebigkeit ist ohne solchen Glauben zu nichts nütze, sondern nur ein achtloses Ausschütten des Geldes. Zum vierten: Hierbei ist zu wissen, dass diese Freigebigkeit sich auch auf Feinde und Widersacher erstrecken soll. Denn wie Christus Lk 6,32ff. lehrt: Was ist das für eine Wohltat, wenn wir bloß gegen Freunde freigebig sind? Tut das doch auch ein böser Mensch für den andern, wenn der sein Freund ist! Ebenso sind auch die unvernünftigen Tiere gegen ihresgleichen guttätig und freigebig. Darum muss ein Christenmensch höher greifen und seine Freigebigkeit auch denen dienen lassen, die es nicht verdienen, Übeltätern, Feinden, Undankbaren, und auch wie sein himmlischer Vater seine Sonne aufgehen lassen über Fromme und Böse und regnen lassen über die Dankbaren und Undankbaren. Hier wird man wieder finden, wie schwer gute Werke zu tun sind nach Gottes Gebot; wie sich die Natur dagegen sperrt, krümmt und windet, während sie ihre selbst ausgesuchten Werke leicht und gern tun. Deshalb nimm dir deine Feinde vor, die Undankbaren, tu denen wohl: So wirst du entdecken, wie nah und fern du von diesem Gebot seist und wie du dein Leben lang mit den Übungen dieses Werks immer zu tun haben wirst. Denn wo dein Feind deiner bedarf und du ihm nicht hilfst, wenn du’s kannst, das ist das genau so, als hättest du 1
Mt 7,12.
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ihm das Seine gestohlen. Denn du bist es ihm schuldig gewesen zu helfen. So sagt St. Ambrosius: Speise den Hungrigen. Speisest du ihn nicht, dann hast du ihn, soweit es an dir liegt, erwürgt. Und zu diesem Gebot gehören die Werke der Barmherzigkeit, die Christus am Jüngsten Tag einfordern wird.2 Doch sollten die Herrschaften und die Städte darauf bedacht sein, dass die Landläufer, Jakobsbrüder und alle übrigen fremden Bettler verboten oder doch nur in Maß und Ordnung zugelassen würden, damit nicht den Buben unter dem Namen des Bettels ihr Vagabundieren und ihre Bubenstücke gestattet werden, die jetzt so häufig vorkommen. Quelle: Martin Luther, Von den guten Werken (1520), in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling, 1. Bd.: Aufbruch zur Reformation, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1983, 39–148: 42f.; 45f.; 140;143f. © Insel-Verlag
2
Vgl. Mt 25,31ff.
130. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) Unter dem Eindruck, dass sich das Papsttum seiner Zeit gegenüber Kritik und Reformforderungen immunisiert hatte, wandte sich Luther 1520 mit einem programmatischen Appell an die höchsten Vertreter des christlichen Laienstandes, an den neuen Kaiser Karl V. (1500–1558) und an den Adel. In seiner Streitschrift kritisierte Luther, dass sich Rom von drei Mauern umgeben habe, indem es die Macht über weltliche Obrigkeiten, das Monopol der Schriftauslegung und die Oberherrschaft über das Konzil beanspruche. Angesichts der Unbelehrbarkeit und Reformunfähigkeit der römischen Kirche drängte er auf die Einberufung eines Konzils und nannte dessen vordringlichste Themen. Seine Forderungen und Vorschläge knüpfen an spätmittelalterliche Reformideen an, die in der Bewegung des Konziliarismus und im Humanismus geltend gemacht wurden. „Beschwerden der deutschen Nation“ (sog. Gravamina) gegen finanzielle Abgaben an Rom waren zuletzt auf dem Augsburger Reichstag 1518 vorgebracht worden. Zu den wichtigsten Themen, die ein Konzil beraten sollte, zählte die Armenfürsorge. Luthers Forderung, den Bettel zu verbieten, verbindet sich mit dem Appell, eine Armenordnung zu schaffen, die das Betteln überflüssig macht. Neben konkreten Vorschlägen schärft er der Obrigkeit – über die Zwecke der Rechtswahrung und Friedenssicherung hinaus – die Verantwortung für soziale Aufgaben und für den „gemeinen Nutzen“ ein. Luthers Vorstellungen zum Umgang mit Bettel und Armut wurden in Wittenberg bereits Anfang 1521 mit der vom Rat erlassenen Beutelordnung umgesetzt (s. Text 131). Der allerdurchlauchtesten, großmächtigsten kaiserlichen Majestät und christlichem Adel deutscher Nation. D. Martinus Luther Gnade und Stärke von Gott zuvor, Allerdurchlauchtester! Gnädigste, liebe Herren! Es ist nicht aus lauter Vorwitz oder Frevel geschehen, dass ich einzelner, armer Mensch mich unterstanden habe, vor Euern hohen Würden zu reden. Die Not und Beschwerung, die alle Stände der Christenheit, vor allem die deutschen Lande, drückt und nicht allein mich, sondern jedermann bewegt hat, vielmals zu schreien und zu rufen, ob Gott jemand den Geist geben wollte, seine Hand zu reichen
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An den christlichen Adel deutscher Nation
der elenden Nation. Es ist oft durch Konzilien etwas vorgebracht, aber durch etlicher Menschen List geschickt verhindert und immer ärger geworden, deren Tücke und Bosheit ich jetzt, Gott helfe mir, zu durchleuchten gedenke, auf dass sie, erkannt, hinfort nicht mehr so hinderlich und schädlich sein können. Gott hat uns ein junges, edles Blut zum Haupt gegeben und damit viele Herzen zu großer, guter Hoffnung erweckt; daneben will sich’s ziemen, das Unsere dazu zu tun und die Zeit und Gnade nutzbringend zu gebrauchen. […] Zum einundzwanzigsten: Es ist gewiss eines der größten Bedürfnisse, dass alle Bettelei abgeschafft würde in der ganzen Christenheit. Es sollte jedenfalls niemand unter den Christen betteln gehen.1 Es wäre auch leicht eine Ordnung darüber zu machen, wenn wir den Mut und Ernst dazu täten, nämlich, dass jede Stadt ihre armen Leute versorgte und keine fremden Bettler zuließe, sie hießen, wie sie wollten, es wären Wallfahrtsbrüder oder Bettelorden. Es könnte ja jede Stadt die Ihren ernähren und wenn sie zu schwach wäre, sollte man auf den umliegenden Dörfern auch das Volk ermahnen, dazu zu geben; müssen sie doch sonst so viele Landstreicher und Buben unter dem Namen des Bettelns ernähren. So könnte man auch wissen, welche wahrhaft arm sind oder nicht. Ebenso müsste ein Verweser oder Vormund da sein, der alle Armen kennte und dem Rat oder Pfarrer meldete, was ihnen fehlt oder wie das am besten geordnet werden könnte. Es geschehen meines Erachtens bei keinem Handel so viele Gaunereien und Betrügereien wie beim Bettel, die alle leicht zu vertreiben wären. Ebenso geschieht dem gemeinen Volk wehe durch solch freies, allgemeines Betteln. Ich hab’s überschlagen: die fünf oder sechs Bettelorden kommen im Jahr jeder mehr als sechs- oder siebenmal an einen Ort, dazu die gewöhnlichen Bettler, Botschafter und Wallfahrtsbrüder. So hat sich die Rechnung gefunden, wie eine Stadt beinahe sechzigmal im Jahr besteuert wird, ohne das, was der weltlichen Obrigkeit an Gebühren, Abgaben und Steuern gegeben wird und was der römische Stuhl mit seiner Ware raubt und was sie unnütz verzehren. Daher ist mir’s eines der größten Wunder Gottes, wie wir dennoch bestehen bleiben und ernährt werden können. Dass aber etliche meinen, es würden auf diese Weise die Armen nicht gut versorgt und nicht so große steinerne Häuser und Klöster gebaut, auch nicht so reichlich, das glaube ich sehr wohl. Ist es doch auch nicht nötig; wer arm sein will, sollte nicht reich sein, will er aber reich sein, so greife er mit der Hand an den Pflug und such’s sich selbst aus der Erde. Es genügt, dass die Armen angemessen versorgt 1
Vgl. Dtn 15,4.
An den christlichen Adel deutscher Nation
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sind, sodass sie nicht Hungers sterben noch erfrieren. Es schickt sich nicht, dass einer auf Grund der Arbeit des andern müßig gehe, reich sei und gut lebe, während ein anderer übel lebt, wie jetzt der verkehrte Missbrauch geht. Denn St. Paul sagt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“2 Es ist niemandem von Gott verordnet, von den Gütern der andern zu leben, als allein den predigenden und eine Gemeinde leitenden Priestern, wie St. Paulus 1Kor 9,14 sagt, um ihrer geistlichen Arbeit willen, wie auch Christus zu den Aposteln sagt: „Jeder Arbeiter ist würdig seines Lohns.“3 Quelle: Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung (1520), in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling, 1. Bd.: Aufbruch zur Reformation, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1983, 150–237: 152f.; 214f. © Insel-Verlag
2 3
2Thess 3,10. Lk 10,7.
131. Ordnung des Gemeinen Beutels zu Wittenberg (1521) Als erste einer Reihe von reformatorischen Ordnungen erließ der Rat der Stadt Wittenberg eine Beutelordnung. Martin Luther hatte die Ordnung entworfen und sie durchkorrigiert, bevor er zum Reichstag nach Worms abreiste. Die Beutelordnung enthält charakteristische Elemente, die in späteren Armenordnungen wiederkehren, und hat in mancher Hinsicht Modellcharakter. Die Einrichtung eines Kastens, Zentralisierung von Einnahmen, Beauftragung von Vorstehern und Rationalität der Entscheidungsfindung sind für die Beutelordnung besonders prägend. Dabei richtet sich die Unterstützung auf die „Unsern“, die ortsansässigen Armen, Gebrechlichen und Bedürftigen. Wallfahrer, Bettelmönche und Landstreicher erhalten hingegen keinen Zutritt zur Stadt. Als unterstützungswürdig gelten Menschen, die nicht (mehr) in der Lage sind zu arbeiten. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den verschämten Hausarmen. Ein Vorrat an Korn und Holz sollte für Notzeiten angelegt werden. Die kurze, schlichte Ordnung von 1521 wurde in der Kastenordnung der Stadt Wittenberg ein Jahr später weiter ausgestaltet. Ordnung des Gemeinen Beutels zur Erhaltung von Haus- und anderen armen bedürftigen Leuten, bei uns in Wittenberg aufgerichtet. Wie es damit gehalten werden soll: Erstens soll ein Kasten mit drei Schlössern wohl gesichert in die Pfarrkirche an einen sichtbaren Ort gestellt werden, in den das eingenommene Geld oder was sonst erbettelt wurde, eingeworfen werden soll. Zum anderen soll die andere Tafel1, welche in der Pfarrkirche umher getragen wurde und zuvor allein dem Hospital zugutekam, hinfort für alle gebrechlichen, notdürftigen Personen in der Gemeinde gebraucht werden, aber so, dass die Armen im Spital nach Erkenntnis der Vorsteher des Gemeinen Beutels nicht vergessen werden. Zum Dritten mag dieselbe Tafel wöchentlich in der Pfarrkirche umhergetragen werden, sooft das Volk zur Andacht versammelt ist, ungeachtet der Tatsache, dass ohne dieselbe das Bitten und Fordern allein an hochzeitlichen Festen neben anderen Tafeln gestattet ist. 1
Sammelaktion während des Gottesdienstes, bei der eine Bitttafel (latein. tabula), ein Almosenbrett in Form eines schaufelartigen Kästchens bzw. ein Beutel herumgereicht wurde, damit jeder etwas darauf legen oder bzw. darein legen konnte. Solche Sammlungen waren schon vor der Reformation üblich.
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Zum Vierten ist vonnöten, dass dem Gemeinen Beutel diese Vorsteher vorgeordnet werden, welche in der Stadt kundig sind und um Vermögen, Wesen, Stand, Herkommen und Redlichkeit der armen Leute wissen. Auch sollen sie unter den selbigen unterscheiden können, ob sie zur Arbeit schickt wurden oder müßig gehen. Sie sollen auch nicht aufgrund von Liebe und Hass richten, sondern allein die Notdurft bemessen, damit nicht die Müßigen vor die Arbeitsamen gestellt werden, die Unehrlichen und Unzüchtigen nicht vor diejenigen, die durch Kinder aufgehalten sind und sich dennoch ehrenhaft ernähren wollten, wie sie es nach ihrem Vermögen zu Wege bringen können. Darum ist für gut anzusehen, dass der regierende Bürgermeister immer vier redliche, wohlhabende und getreue Bürger aus der Gemeinde beauftragt, die man aus den vier Vierteln der Stadt wählen soll und die sich bei ihren Ratsfreunden und anderen – ihren Nachbarn – nach Anliegen und Notdurft der armen, gebrechlichen und bedürftigen Leute erkundigen soll, damit sie denen zu Hilfe, Rettung und Trost von dem Gemeinen Beutel nach ihrem besten Verständnis geben. Zum Fünften sollen die aus den vier Vierteln, die dazu von den drei Räten abgeordnet wurden, zwei Schlüssel und der regierende Bürgermeister einen haben. Und von ihren Einnahmen und Ausgaben dem Neuen [Bürgermeister] neben den drei Räten und dem Pfarrer vollständig Rechenschaft ablegen, damit aller Argwohn vermieden werde. Und zur gleichen Zeit soll über diese begonnenen Werke eine Befragung stattfinden und Rechenschaft abgelegt werden, dass stattlich erhalten und fruchtbringend ausgeteilt wurde. Wo es auch im Ermessen des Dreierrats und des Pfarrers angebracht sein wird, andere Vorsteher einzusetzen, da sollen sie auch Macht haben. Zum Sechsten soll der Rat auf der Hut sein, dass die Jakobs Brüder2, Ternisten3 und andere Streicher nicht hereingelassen werden, sondern nur die Unseren, die sich bei uns mit Arbeit und anderen redlichen Taten erhalten. Desgleichen mag man die Zahl der Terminierer4, die unsere Einfältigen zu Testamenten überreden und sonst das Volk mit Betteln belästigen, mit gutem Gewissen vermindern und mäßigen, denn Gott Lob, wir haben Priester genug bei uns.
2
Wallfahrer nach dem Grab des Apostels Jakobus in Spanien. Tertiarier, d.h. Laien, die nach der „dritten Regel“ gewisser Orden entweder in der Welt (weltliche T.) oder in klösterlicher Gemeinschaft (regulierte T.) zusammenleben. 4 Abgeordnete eines Ordens, die in einem bestimmten Bezirk Almosen für den Orden sammeln. 3
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Zum Siebenten sollen die aus den vier Vierteln verpflichtet sein, den Bürgermeister in diesen Sachen am Sonntag nach der Predigt zu besuchen, um bei ihm an gelegenem Ort zu beratschlagen, wem von dem Gemeinen Geld in derselben Woche etwas vorgestreckt oder um Gottes Willen gereicht werden soll. Sie sollen die hausarmen Leute selbst versorgen, um ihre Armut und Entbehrung zu erforschen und nicht ausharren, bis sie entzwei liegen und von der äußersten Not gepackt sind. Denn es sind viele zugegen, die sich des Bittens schämen und doch des Almosens bedürftig sind. Zum Achten, wenn es so viel von der Darreichung frommer christlicher Leute durch seine Gnade beschert gibt, wie es uns erscheinen muss, so ist es möglich, dass man einen Vorrat an Korn schaffen kann. Die Vorsteher sollen dann in wohlfeilen Jahren dasselbe einkaufen und es im Spital lagern, damit man den Armen in schweren Nöten zur Sättigung verhelfen kann. Den Habenden gegen Entgelt, den Kranken und Schwachen, die es nicht bezahlen können, um Gottes Willen. Hierhin sollen immer die Erkenntnisse der Vorsteher vorgehen, und eines jeden Vermögen soll ermessen werden. Ebenso soll man mit dem Holz im Sommer verfahren, damit die Armen im Winter vor Frost gerettet werden. In Sterbenszeiten soll man den Armen Pflege und Versorgung an einem abgesonderten Ort, von anderen Leuten entfernt gelegen, zukommen lassen, dieses und anderes soll dann der Beherzigung und Sorgfältigkeit der Vorsteher unterstehen. Ebenso soll es auch mit den Unwürdigen gehalten werden; alles Gott und allen Heiligen zu Ehren und zu der Liebe, die ein jeder für den anderen empfinden soll. Quelle: Ordnung des Gemeinen Beutels zu Wittenberg 1521, in: Theodor Strohm/ Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege im 16. Jahrhundert, VDWI 23, Heidelberg 2004, 15–17 (Wiedergabe des bei Hans Lietzmann, Kleine Texte für theologische und philosophische Vorlesungen und Übungen, Bonn 1911, 31f., abgedruckten Fassung). © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
132. Armenordnung der Stadt Nürnberg (1522) Schon mit den Ordnungen von 1370 und 1478 (s. Texte 115; 121) versuchte der Rat der Stadt Nürnberg, den Bettel einzudämmen. Die entsprechenden Maßnahmen brachten allerdings nicht den erhofften Erfolg. Als im Frühjahr 1522 in Nürnberg der Reichstag zusammentrat, sah sich der Rat genötigt, dafür zu sorgen, dass die anwesenden Fürsten und fremden Herrschaften nicht von Bettlern belästigt würden. Am 20. Mai wurden Sigmund Fürer (1470–1547) und Hans Haller (geb. 1483) beauftragt, Vorschläge für eine vollständige Unterdrückung der Bettelei zu erarbeiten. Bereits wenige Tage später legten sie ihre Ratschläge vor und erhielten die Anweisung, eine genaue Liste aller wirklich Unterstützungsbedürftigen anzulegen. Am 7. Juli wurde die vorgeschlagene Ordnung probeweise eingeführt; beide Männer wurden zu Oberpflegern der neuen Einrichtung ernannt. Am 23. Juli erließ der Rat auf der Grundlage „der Gebote Gottes“ die Regelungen der neuen Armenfürsorge: „Eines Rates der Stadt Nürnberg Ordnung des großen Almosens hausarmer Leute.“ Die Ordnung ist von reformatorischen Einsichten, aber auch von humanistischen und reformkatholischen Ideen beeinflusst. Die Einleitung akzentuiert zwar den reformatorischen Topos der Gerechtigkeit aus Glauben; im Blick auf die Finanzierung der Armenfürsorge bleiben aber die kirchlichen Vermögen – anders als in der Leisniger Kastenordnung (s. Text 133) – noch unberührt. Kommunale und kirchliche Armenpflege sind zunächst in gewisser Weise getrennt. Charakteristisch sind der Ausbau und Aufbau einer leistungsfähigen Sozialadministration mit ehrenamtlichen Verwaltern und besoldeten Knechten. Die differenzierte Wahrnehmung der bedürftigen Adressaten verstärkt durch hierauf abgestimmte Maßnahmen (Bedürftigkeitsprüfung, Kontrolle, Kennzeichnung, Dokumentation) die Effizienz der Hilfe. Die kommunale Unterstützungspflicht bleibt dabei an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Die Ordnung verbietet zwar den Bettel nicht völlig, schränkt ihn aber energisch ein. Hatte bereits die Ordnung von 1478 die materielle Unterstützung mit Anforderungen an den Lebenswandel der Unterstützungsbedürftigen verbunden, so werden „volkspädagogische“ Motive in der Armenordnung von 1522 weiter verstärkt. Die Nürnberger Armenordnung wurde ein großer Erfolg. Die Gaben flossen reichlich. 1525 wurden auch die Kirchengüter in das 1522 gegründete „große“ Almosen integriert. Die Nürnberger Ordnung wurde von einer ganzen Reihe von Städten übernommen oder – z.B. in
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Straßburg – als Grundlage für die Gestaltung der örtlichen Armenpflege verwendet. [Einleitung: Zum christlichen Auftrag] Glaube und Liebe, wie Christus in Mt 221 sagt, sind die zwei Haupteigenschaften eines echten christlichen Verhaltens, worin alle anderen Gebote Gottes eingeschlossen sind und von denen auch alle Gesetze und die Propheten abhängen. Denn Christum zu lieben, ihm allein zu vertrauen und dem Nächsten das widerfahren zu lassen, was Christus, wie ich glaube, für mich getan hat, das ist der einzige und richtige Weg, um fromm und selig zu werden. Einen anderen gibt es nicht. Durch den Glauben wird der Mensch gerecht, lebendig und selig. Nichts hat er mehr nötig, als solchen Glauben zu beweisen. Ja, wo der Glaube im Menschen ist, da kann er nicht verborgen bleiben, sondern er bricht offen hervor. Alles was er vorlebt und bewirkt und unternimmt, das tut er zur Unterstützung des Nächsten, um diesem Rat und Hilfe zu bieten, genauso wie er sieht, dass Christus auch an ihm selbst gehandelt hat. Und wo die Liebe und die guten Werke nicht offenbar werden, da ist gewiss der Glaube nicht recht, denn die Werke der Liebe sind Zeugnis des Glaubens, die Nächstenliebe aber ruht, wie der genannte Spruch des Evangeliums klar aufzeigt, darin, dass man alle Menschen liebt wie sich selbst. Das heißt, ihnen Hilfe, Rat, Beistand und alles Gute zu erweisen, sie nicht Not leiden zu lassen und ihnen insgesamt alles das zukommen zu lassen, von dem ich wünschte, dass sie es auch mir zukommen ließen; und sie mit dem zu verschonen, mit dem ich auch von ihnen nicht gern belästigt werden möchte. Und diese Werke der Liebe sind die Frucht, die aus einem rechten, lebendigen Glauben erwachsen, und sie heißen deshalb gute Werke, weil sie aus einem tiefen Vertrauen auf Gott fließen und dem Nächsten zu Nutzen und Unterstützung gereichen sollen. Ein jeder Christ wird auch (nach Ausweis des heiligen Evangeliums) am Jüngsten Tag wegen solcher Werke, nämlich ob er um Christi willen seine nächsten, bedürftigen Armen und Notleidenden geliebt, sie gespeist, getränkt, bekleidet, besucht hat und ihnen überhaupt Hilfe und Förderung hat angedeihen lassen, Rechenschaft ablegen müssen.2 Und nicht, ob er viele Messen gestiftet, Kirchen gebaut, Wallfahrten unternommen und andere dergleichen Werke getan hat, die Christus gar nicht geboten hat. Deshalb soll jeder Christ sein ganzes Leben, Tun und Trachten auf dieses Ziel ausrichten, beständig und frei von Zweifel auf Gott vertrauen sowie diesen Glauben gegenüber seinem
1 2
Vgl. Mt 22,37–40. Vgl. Mt 25,31–46.
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Nächsten mit aller brüderlichen Liebe, Hilfe und Fürsorge um Christi willen beweisen. Da es nun aber in der Stadt Nürnberg bisher gar viele bedürftige, hausarme und Not leidende Menschen gegeben hat, die aus Not dazu gedrungen worden sind, zu ihrer und ihrer Verwandten Versorgung und Unterhalt öffentlich auf den Straßen und in den Kirchen zu betteln und um das Almosen zu bitten, was aber für unseren Glauben ziemlich verletzend und beleidigend ist, (denn was kann unter uns Christen für glaubensloser und schändlicher befunden werden, als offen zu dulden und zuzuschauen, dass die, welche in einem Glauben und in einer einzigen christlichen Gemeinschaft mit uns vereint, und in jeder Hinsicht gleich und von Christus so aufwendig und teuer erkauft und deshalb auch mit uns zugleich Glieder und Nachfolger Christi sind, dass die Not, Armut, Mangel und Bedrängnis erleiden, ja auf den Gassen und in den Häusern öffentlich verhungern). Deshalb nun hat der ehrbare Rat der genannten Stadt Nürnberg sich solches alles (wie selbstverständlich) zu Herzen genommen; hat dabei aber auch in Betracht gezogen, dass sich bisher viele Bürger und auswärtige andere Personen unterstanden haben, das Almosen ohne wirkliche Not und Berechtigung entgegenzunehmen, gar ihr Handwerk zu verlassen und sich allein mit Betteln durchzubringen. Sie haben sich auch unterstanden, dieses sich so angeeignete Almosen mit Müßiggang und anderer sündhafter Leichtfertigkeit zu verbrauchen, obendrein auch ihre Kinder zum Betteln zu erziehen und dem Schicksal auszusetzen, dass diese ihre Jugend, ohne eine ehrbare Verrichtung oder ein Handwerk zu erlernen, mit Nichtstun herumbringen, den Eltern das Erbettelte abliefern und obendrein Frost, Hunger und alle Unbilden erdulden müssen. Jedoch folgt aus allem diesem, dass den armen, bedürftigen Personen, die sich gern in Ehren selbst erhalten hätten, die Versorgung entzogen und den Unwürdigen ausgehändigt wird; auch ist bei den Kindern, die zum Betteln und Müßiggang erzogen sind, viel an Schande, strafbaren Handlungen und Leichtfertigkeiten aufgekommen. Und für alles dies, Gott zu Lobe in christlicher, guter und getreuer Absicht, den Nächsten zu Nutze sowie zur Abstellung geschilderter Beschwerden und Abträglichkeiten ist beabsichtigt, die armen, bedürftigen Personen unter Aufsicht des Rates mit angemessenem, notwendigem Unterhalt zu versehen; deshalb ist auch die nachfolgende Ordnung darüber, wie man mit solchen Almosen verfahren soll, bedacht worden. 1. Armenpfleger: zwei Ratsherrn, zehn Bürger Zunächst hat der ehrbare Rat zwei Ratsmitglieder und außerdem als nicht dem Rat zugehörig zehn andere ehrbare, angesehene Bürger benannt und gebeten, welche die Zuständigkeit für die Verwaltung dieses
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Almosens allein für Gott und aus brüderlicher Liebe, ohne Forderung von Einkünften und Vergütung entsprechend nachfolgender Ordnung übernommen haben. Aus diesen zehn vom Rat benannten und gebetenen Bürgern sind zwei ausgewählt worden, die vom Zeitpunkt der Geltung dieser Ordnung an die Verwaltung für ein halbes Jahr übernommen haben; und wenn dieses halbe Jahr zu Ende ist, sollen zwei andere aus den acht, je nach Verabredung untereinander, in das Amt eintreten, das genannte Almosen vertrauensvoll zu verwalten. […] 2. Vier Knechte, ihre Obliegenheiten Den vorgenannten Pflegern und Verwaltern sind auch vier unbescholtene Diener oder Knechte beigegeben und mit speziellen Pflichten zugeordnet. Sie haben genau zu befolgen, was auch ihnen von den derzeitig amtierenden Pflegern befohlen wird, und zwar den Armen das Geld zuverlässig auszuhändigen, vertrauenswürdig Rechnung zu führen und abzurechnen. Keinesfalls sollen sie von den Armen oder anderen irgendeine Anerkennungsgebühr oder Gegenleistung für sich annehmen oder allein oder zu mehreren irgendeine Täuschung anwenden. Dieses Geld, sei es wenig oder viel, mit oder ohne Wissen und Willen der Armen, denen es zusteht, dürfen sie nicht zu ihrem Nutzen einsetzen, wie die Amtsverpflichtung für diese vier Knechte ausführlich klarstellt. Diese vier Knechte sollen auch jährlich mit einer ausreichenden, gerechten Besoldung aus dem Almosen versehen werden. Vor der Durchführung dieses Almosens werden die Knechte mehr als einmal durch die ganze Stadt Nürnberg, die Werde und Gostenhoff gegangen sein und alle Bürger und Bürgerinnen, die des Almosens bedürftig sind, sorgfältig verzeichnet haben; sie verzeichnen auch, wie viel jeder öffentlich auftretende Bettler mit seiner wöchentlichen Bettelei einsammelt, auch wie viele Kinder ein jeder dieser Bettler hat, welches Alter und welche Ausbildung die Eltern und Kinder haben und ob diese Kinder zum Teil gar in der Lage sind, mit Dienstleistung und ihrer Hände Arbeit ihr Brot zu erwerben und die Unterhaltung ihrer Eltern zu übernehmen. Diese werden auch besonders deshalb schriftlich erfasst, um ihnen durch die Pfleger und ihre Helfer in den Handwerken oder sonst wo Anstellungen zu verschaffen, damit sie mit Arbeit aufwachsen und mit der Zeit ohne Almosen auskommen können. Dazu haben sich die genannten vier Knechte bei den umwohnenden Nachbarn dieser Bettler und Armen zu erkundigen und sorgfältig zu notieren, was für einen guten oder schlechten Leumund diese Armen besaßen und noch besitzen, ob sie ihre Tage mit ehrbaren Verrichtungen oder mit Diebstahl, Kuppelei, Völlerei, Spiel und anderen offenbaren Lastern dieser Art hingebracht haben, damit berüchtigte Personen in ihrem sündigen Lebenswandel durch Gewährung des Almosens nicht noch bestärkt werden. Durch Entziehung des Almo-
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sens soll hingegen darauf hingewirkt werden, dass sie sich von solchen Lastern zu einem ehrbaren, gottesfürchtigen, christlichen Wandel bekehren und dadurch des Almosens würdig werden; zwischen den Frommen und den Gottlosen soll in der Gewährung des Almosens ein entsprechender Unterschied gemacht werden und das Almosen etwa dem Mann und nicht der Frau oder auch nicht dem Mann gewährt werden, und dem Ungeratenen sei dann verboten, dem anderen das empfangene Almosen abzunötigen. Der amtliche Auftrag der vier genannten vereidigten Knechte soll folgender sein: Sie teilen wöchentlich das Almosen aus, wie das von den bestallten Pflegern für jede bedürftige Person gemäß ihrer Bedürftigkeit, der Kinderzahl, des Betragens und Verbrauchs taxiert und ihnen auszuhändigen befohlen wurde, und zwar jeder Knecht in seinem Viertel oder Bezirk (weil die Stadt Nürnberg, der Markt Werde und Gostenhoff in vier Teile oder Bezirke aufgeteilt sind). Und der Knecht unter den Vieren, welcher in dieser Woche in einem bestimmten Viertel austeilt, der soll das in den nachfolgenden Wochen in dem Gebiet von einem der anderen tun, dies also Woche um Woche von Knecht zu Knecht umlaufen, damit jeder Knecht des anderen, seines Mitgesellen, Aufseher sei und sich jeweils nach Verfehlungen, Fleiß oder Faulheit des anderen, seines Mitgesellen erkundige; und wenn er irgendeine Verfehlung aufdeckte, wäre diese den beauftragten Pflegern pflichtgemäß sofort anzuzeigen; alsdann ist denen befohlen, den Beschuldigten entsprechend dem mehr oder weniger großen Ausmaß seines Fehlverhaltens mit Entlassung oder auf andere Weise zu bestrafen oder die Bestrafung dem ehrbaren Rat anheim zu stellen. Wenn von den genannten vier Knechten mit der Zeit bei den armen Leuten wegen Todesfällen oder anderen Vorgängen Veränderungen oder weitere Bedürfnisse gegenüber den von ihnen zu Anfang verzeichneten erkannt werden, sollen sie die zwei Pfleger oder Verweser, die dann amtieren, unterrichten und einen baldigen Bescheid erwarten. 3. Das messingsche Zeichen der unterstützten Armen Jeder, Mann oder Frau, welcher das Almosen beansprucht und der Aufmerksamkeit der vier Knechte bedarf, muss ein offenes Zeichen aus Messing, das dafür besonders angefertigt ist, tragen; und doch ist allen und jedem, samt und sonders verboten, in der Stadt Nürnberg, zu Werde und Gostenhoff weder auf der Straße, auf den Kirchhöfen, in den Kirchen noch in den Häusern selbst, durch Verwandte oder andere zu betteln. Ausgenommen sind die zwei Tage Allerheiligen und Allerseelen, welche jedem, er sei Bürger oder Gast, für öffentliches Betteln unverwehrt sind, wie dies seit alters Gewohnheit ist; ansonsten sollen sie sich mit dem, was ihnen durch des Rates bestellte Pfleger und deren zugeordnete Helfer gegeben wird, genügen lassen. Solchen aber,
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die ohne Zeichen oder in der Stadt, in Kirchen, auf Straßen oder in Häusern bettelnd angetroffen werden, soll die Stadt Nürnberg oder das Ratsgebiet verboten oder sie sollen entsprechend ihrer Übertretung sonst wie bestraft werden. Obendrein sollen sie, solange sie die Strafe verbüßen, kein Almosen in irgendeiner Form erhalten. Das ausnahmslose Zeichentragen soll verhüten, dass die Armen andauernd öffentliche Tavernen, Wirtshäuser und andere ungeziemende Orte besuchen, ihren armen Frauen, Kindern und Verwandten Abbruch tun, indem sie dort müßig herumstehen und unnütz verzehren. Der ehrbare Rat hat nachdrücklich verbieten lassen, in den Tavernen und den Orten, wo ziemlich viele der öffentlichen und heimlichen Bettler vor Erlass dieser Ordnung das Ihre sinnlos vergeudet und verspielt haben, irgendeinen dieses Standes noch zu bewirten oder zu dulden; welcher Arme aber trinken und zechen möchte, der kann das bei Frau und Kindern oder in der Wohnung tun, auf dass dergleichen Völlerei, Spiel, Gotteslästerung und sonstige Übeltaten, welche die Folge solch täglichen Zechens sind, unterdrückt werden und das Almosen sich umso umfassender und reichhaltiger zu entwickeln vermag. 4. Getrennte Eheleute Wenn sich unter diesen Armen einer oder mehrere Eheleute finden, die ohne redliche, zugestandene Ursache nicht beisammen wohnen wollen oder sonst getrennt leben, soll ihnen solange nicht irgendwelches Almosen gegeben werden, bis sie wieder ehelich zusammenwohnen, wie es sich gehört und von Gott geboten ist, und sich wie Eheleute verhalten. 5. Verschämte Arme Weil sich zweifelsohne viele fromme, hausarme, bedürftige Personen finden werden, die sich aus guten christlichen Gründen schämen zu betteln, jedoch ohne persönliche Hilfe und Handreichung nicht zu leben vermögen und denen auch durch dieses Almosen ihr Unterhalt vorenthalten wird, wird es deshalb unbedingt notwendig, solche Personen billigerweise nicht weniger als andere öffentliche Bettler mit angemessener Unterstützung und Hilfe zu bedenken; deshalb ist verordnet, dass die Pfleger solche zurückgezogene Not leidenden Personen von sich aus besuchen, sie extra verzeichnen und ihnen gebührende Hilfe entsprechend ihrer Bedürftigkeit zukommen lassen, damit sie ernährt und unterhalten werden, und dass sie dieses sodann den obersten Pflegern anzeigen und verrechnen. 6. Verschämte Arme Desgleichen soll es mit denen gehalten werden, die sich mit Rücksicht auf die Ehre ihrer frommen und ehrbaren Eltern, auch ihres Handwerks, ein Zeichen zu tragen oder öffentlich zu betteln schämen wür-
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den. Im Auftrag und auf Anordnung der Pfleger soll diesen aus dem Almosen geheim und nicht öffentlich durch Mittelspersonen geholfen werden, worüber die Pfleger gleichermaßen gesondert abrechnen sollen. 7. Einzelne unterstützungsbedürftige Familienmitglieder Würden sich Eheleute finden, von denen ein Partner aus Schwäche, Armut und Vermögen seine Nahrung nicht erwerben kann und deshalb des Almosens bedürftig wäre, während der andere Partner, bei leiblicher Gesundheit, in der Lage und geschickt zur Arbeit, deshalb auch des Almosens unbedürftig wäre und darum auch kein Zeichen tragen möchte, so soll dem kranken Bedürftigen das Tragen des Zeichens befohlen und ihm daraufhin gebührender Unterhalt zugeteilt, dem anderen Partner jedoch das Zeichentragen erlassen werden […]. 8. Arme Schüler In den fünf hiesigen Schulen gab es bisher eine beträchtliche Anzahl armer Schüler oder Pauperes [Arme], die sich durch Gesang und Umherziehen in der Stadt mit Betteln durchgebracht haben. Vielen jungen, begabten Personen ist dadurch aber Anlass geboten worden, allein der Bettelei nachzugehen, ihre Gelegenheit und Begabung nicht wahrzunehmen und auf diese Weise in reinem Bettel- und Müßiggang fortzuschreiten und älter zu werden, so dass sie später kaum zu ehrbaren Verrichtungen, geistiger oder handwerklicher Arbeit haben gelangen können. Aus dem Zwang, sich zu ernähren und es den Müßigen gleichtun zu müssen, sind sie gedrängt, ungelernte Mönche und Pfaffen zu werden und wie unverständige Blindenführer3 noch andere zu verführen. Um diesen und anderen Beschwerden, die unter Umständen daraus folgen, zuvor zu kommen, hat der ehrbare Rat in guter Absicht eine angemessene Höchstzahl der Schüler angesetzt […]. 9. Arme Priester Wenn sich arme Priester fänden und das Almosen begehrten, soll ihnen dies aus guten Ursachen und darum nicht gegeben werden, weil das geistliche Recht ihnen das verbietet und es als verächtlich ansieht, sollten Priester der öffentlichen Bettelei obliegen; damit gerade diese Priester keinen Anlass haben, das Wort Gottes (um des willen allein sie leiblich unterhalten werden sollen) zu verlassen und sich dem Mutwillen und der Bettelei hinzugeben; oder damit die, welche außerhalb des priesterlichen Standes auf andere ehrbare Art und Weise ihre Nahrung leicht suchen und erhalten könnten, sich nicht umso mehr veranlasst fühlen, sich ganz auf solchen Müßiggang und die Bettelei zu verlegen und dadurch den Armen, Bedürftigen das Almosen zu ent3
Vgl. Mt 15,14.
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ziehen, sollen sie durch Gewährung des Almosens darin nicht bestärkt werden. Wenn sie aber leiblicher Fürsorge und Unterhaltung bedürftig sind, sollen sie von den anderen Priestern dieser Stadt, die mit Pfründen, jährlichen Einkommen, täglichen Hilfen und Unterhaltsleistungen versorgt sind, gebührend unterstützt werden […]. 10. Arme Kranke Die Pfleger dieses Almosens sollen auch den Hinweis geben und verordnen, dass wenn unter den eingetragenen Bettlern und hausarmen Leuten, die mit dem Fieber oder anderen Krankheiten behaftet sind sowie unter den armen Wöchnerinnen wegen ihrer Leiden irgendwelche Arznei oder Fürsorge benötigt würde, diese solches einem der eingesetzten Knechte bekannt geben. Wenn dann dieser Knecht nach Augenschein das Bedürfnis anerkennt, soll er dem Kranken oder Bedürftigen das Nötige auf Kosten des Almosens aus den Nürnberger Apotheken verschaffen. 11. Auswärtige Bettler Auch soll es allen fremden und auswärtigen Bettlern, die nicht in der Stadt Nürnberg, in Werde und Gostenhoff Bürger oder Bürgerinnen sind, verboten sein, an einer dieser Stellen, desgleichen vor der Stadt Nürnberg innerhalb der Gräben und Wälle zu betteln oder sich dort in Hütten, Behausungen oder anderen Wohngelegenheiten niederzulassen und aufzuhalten. Deshalb sind auch an alle Tore der Stadt besondere Personen beordert worden, diese fremden Bettler abzuweisen und ihnen die vom Rat erlassene und an die Tore angeschlagene Ordnung zu verkünden, mit dem Ziel, dass durch diese Aufsicht allerhand verdächtige, strafwürdige Personen oder diejenigen, welche wie die Pilger von einer Stadt zur anderen ziehen, Weib und Kind sitzen, verderben und Hunger leiden lassen, abgeschreckt werden. Wenn aber trotzdem ein Bettler oder mehrere in die Stadt gelangen und in Unkenntnis dieser Ratsordnung öffentliches Betteln anfangen, dann sollen sie durch die zwei alten Amtsleute oder Bettelrichter (die vor Geltung dieser Ordnung in ihren Ämtern für die Bettler zuständig waren und dies noch eine Zeitlang bleiben sollen, bis diese Ordnung richtige Auswirkung zeigt) ausgewiesen werden. […] Über die Einkünfte dieses Almosens 12. Beschaffung der nötigen Gelder. Aufruf Damit das gemeine Volk ermuntert werde, seinen Beitrag und seine Unterstützung für dieses große, ansehnliche Almosen umso reicher zu leisten, sollen die Leute von den Predigern auf den Kanzeln dazu getreulich und ernst um Christi willen ermahnt und später in ihren anderen Predigten ohne Unterlass daran erinnert werden. Das ist eine drin-
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gende Notwendigkeit, um weitestgehend zu verhindern, dass der Teufel dieses und ähnliche gute Werke selbst und durch bestimmte andere Personen, denen wegen ihres persönlichen Geizes, ihrer Genusssucht und ihres Vorteils solches Almosen ganz zuwider und verhasst ist, hintertreibt. Und ungefähr vierzehn Tage vor Inkrafttreten dieser Ordnung wird auch dieses Almosen von allen Predigern auf den Kanzeln öffentlich verkündet worden sein, mit folgendem Wortlaut: „Der ehrbare Rat dieser Stadt ist der festen Meinung und Auffassung, dass kraft der Gebote Gottes alles christliche Wesen allein in rechtem Vertrauen und Glauben zu Gott besteht sowie in brüderlicher Liebe, Hilfe und Unterstützung für den Nächsten in der Weise, dass die armen, bedürftigen Personen in dieser Stadt mit dem Nötigen angemessen unterhalten werden und infolgedessen das öffentliche Betteln in den Kirchen und auf der Gasse abgestellt wird. Darum ist eine lobenswerte, christliche Ordnung entworfen worden, in welcher Form diese Zuwendung an die Armen wöchentlich geschehen soll; dafür sind mehrere ehrbare, angesehene Personen eingesetzt worden, um dieses löbliche, christliche, gute Werk ordentlich und mit der besten, ausdauerndsten Geschicklichkeit durchzuführen. Weil aber unsere Seligkeit letztlich von der Einhaltung und Befolgung der Gebote Gottes abhängt, welche einen jeden christlichen Menschen auch zu solcher Hilfe und Ausübung brüderlicher Liebe gegenüber dem Nächsten direkt verpflichten, so werden eure Gewissen hiermit in der Liebe unseres Herrn Jesu Christi ermahnt, dass ihr euer Almosen, eure Hilfe und Gabe zu diesem löblichen Vorhaben spendet und in die Truhen oder Kästen, die dazu bestimmt und in mehreren Kirchen aufgestellt sind, legt oder denjenigen aushändigt, die der ehrbare Rat als Einnehmer und Verteiler dieses Almosens ausersehen hat. Dafür wird eurer Liebe ohne Zweifel bei Gott dem Allmächtigen ewige und unsterbliche Belohnung zuteil, und ein hochchristliches und gutes Werk wird sie fördern.“ 13. Bettelverbot Daneben hat der ehrbare Rat zum Vorteil dieses Almosens alles andere Almosensammeln und Betteln, das bisher ziemlich viele Jahre mit dem Almosentischchen und lautem Geschrei in allen hiesigen Kirchen zugunsten von Aussätzigen, Findelkindern, Kirchengebäuden, Spitälern und dergleichen Almosen und Stiftungen durchgeführt wurde, gänzlich abgestellt; desgleichen das Aussätzigenbetteln der Glöckner auf den Gassen; denn diese Almosen sind ohnedies in den Kirchen mit Kisten bedacht. Und es soll fürderhin in den beiden Nürnberger Pfarrkirchen an jedem Sonntag und gebotenen Feiertag von frommen, ehrbaren Personen, die sich dazu um Gottes willen verpflichtet haben, nicht mehr als ein mit dem Bettlerzeichen gekennzeichnetes Säckchen
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an einer kurzen Stange herumgetragen und dahinein für dieses Almosen sorgfältig gesammelt werden; auch soll das gesammelte Geld jedes Mal den bestellten Pflegern übergeben oder in die nächsten Kästen gelegt werden, welche in den beiden Pfarren und der Kirche Unserer lieben Frau mit beschriebenen Hinweistäfelchen für dieses Almosen besonders aufgestellt und bestimmt sind. Und damit das gemeine Volk veranlasst sei, sich mit Liebe und Hilfe für den Nächsten den Geboten Gottes gemäß zu verhalten, sollen hinfort die Bettler und Sammler, die für Kirchen, Altäre, Glocken, Bilder und anderen dergleichen Schmuck mit Wissen des Rates öffentlich in Nürnberg gebettelt haben, nicht mehr zugelassen werden. Und die ernannten Pfleger sollen den armen, aussätzigen Menschen, Findelkindern und, wenn es Not täte, den bedürftigen Menschen hier im Spital wegen der Abschaffung der Kirchentischchen von Zeit zu Zeit aus diesem Almosen eine geziemende Zuwendung machen. 14. Verwendung der bestehenden und zukünftig noch zu erwartenden Stiftungen Jedoch will der ehrbare Rat aus guten Gründen die alten, vordem gestifteten Zuwendungen und Seelbäder4 in ihrer bisherigen Bestimmung belassen, aber vorhersehend, dass sie mit der Zeit auch diesem Almosen zugeschlagen werden. Was aber in Zukunft an Spenden, Seelbädern und dergleichen einkommt, soll alles in dieses Almosen eingebracht werden, weil diese Spenden und Seelbäder, wie jeder ermessen kann, nicht ausgiebiger und gleichmäßiger verteilt werden können als durch die vereidigten Knechte. Auch hat der ehrbare Rat verordnet und den Kirchenmeister der Pfarrkirche Sankt Sebald in Nürnberg angewiesen, die dreizehn alten Stiftungen, die er jährlich von der Kirche aus verteilt hat, nämlich jede zu vier Sumern5 Korn, insgesamt also zweiundfünfzig Sumern, den Pflegern des reichen Almosens zu überlassen; dieses Getreide für das genannte Almosen soll man zu Brot verbacken und den Pflegern des großen Almosens jährlich für jeden der gespendeten Sumer eineinhalb Gulden zahlen. Diese teilen es darauf den eingeschriebenen hausarmen Leuten und den Schülern in der festgesetzten Zahl, die auch bisher wöchentlich vom Almosen betreut wurden, aus und lassen die armen Leute ermahnen, Gott für die Seelen der Stifter zu bitten.
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Ein freies Bad, das armen Leuten im Testament vermacht wurde, der Seele des Verstorbenen zum Besten. 5 Getreidemaß.
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15. Ausschluss der anderweitig versorgten Bettler Bürger und Bürgerinnen, die aus dem gestifteten „Reiche Almosen“ versorgt werden sowie mit der Franzosenkrankheit [Syphilis] behaftete Personen, sollen keine Berechtigung für dieses Almosen haben, da sie bereits die notwendige Betreuung, Versorgung und Pfleger haben, und damit den anderen Notleidenden nichts entzogen wird; falls aber eine oder mehrere dieser Personen so unterversorgt wären, dass sie darüber hinaus einer Hilfe bedürften, oder falls sich die Einkünfte des Almosens der Franzosenkranken derart verringerten, dass es verstärkter Unterstützung bedürfte, dann sollte ihnen von diesem Almosen angemessen geholfen werden. 16. Verwendung der anfallenden Überschüsse zur Unterstützung verarmter Bürger Wenn mit der Zeit dieses Almosen mit Hilfe frommer, christlicher, Gott liebender Leute oder durch Stiftung, Testament, Seelgerät6 dermaßen anwächst, dass über die wöchentliche Ausgabe und Verteilung hinaus ein Überschussbetrag entstehen sollte, dann soll dieser gleichfalls zur Ausübung und Erhaltung brüderlicher Liebe und zu des Nächsten Vorteil, Unterstützung und Versorgung benutzt werden, und zwar folgendermaßen: Für arme, fromme Handwerker, die sich und die Ihren mit der Hände Arbeit gern ernähren würden und doch keine Grundlage für den Anfang haben; desgleichen für andere fromme Bürger, die heimlich Not leiden, kinderreich sind und sich schämen zu betteln, – denen soll jedoch besonders intensiv nachgeforscht werden, ob sie spielen, prassen oder sonst Unehrenhaftes treiben oder nicht. Mit vier, sechs oder zehn Gulden soll denen geholfen werden, je nachdem wie die Pfleger das nach der Lage und dem Verhalten jedes Armen oder Notleidenden für notwendig ansehen und einschätzen werden. Denen in dieser Weise geholfen und Zuschuss gegeben wurde, soll zu bedenken gegeben werden, ob sich mit der Zeit nicht ihre Angelegenheiten in so glückliche und von Unterhaltssorgen freie Richtung entwickeln würden, dass sie wieder vermögend genug würden, um den Pflegern die Geldzuwendungen in bequemen, annehmbaren Fristen zurückzuerstatten. Wenn das aber nicht in jedem Fall geschieht, soll dies im Namen Gottes, dem zu Ehren das getan ist, für unerheblich angesehen werden. 17. Vorschüsse an bedrängte Handelsleute Desgleichen mögen die bestellten Pfleger, wenn das Almosen mit der Zeit Vermögen anhäuft, ein anderes Werk christlicher Liebe und Hilfe in folgender Weise ausführen. Wenn Handwerker dieser Stadt we6
Stiftung für Seelenmessen.
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gen eingetretener Kriegs- oder anderer Ereignisse ihre geleistete Arbeit oder ihre Artikel nicht verkaufen oder zu Geld machen können oder wenn sie durch die Zwischenhändler so bedrängt werden, dass sie ihre Arbeit mit Verlust leisten, dann sollen die Waren durch einen Sachverständigen, den die Pfleger berufen, übernommen, ordentlich aufgeschrieben und in ein besonders dafür bereitgestelltes Lagerhaus verbracht werden. Und der Handwerker, dem so Abhilfe geschaffen wurde, erhält dann auf seine vielleicht hundert Gulden werte Ware oder Arbeitsleistung bis ungefähr achtzig Gulden geliehen und ausgehändigt, mit der Anweisung, selbst größtmögliche Mühe aufzuwenden, diese eingelagerten und aufgeschriebenen Artikel und Waren binnen einem halben Jahr, möglichst aber eher, wenn dies ohne Zumutung und großen Schaden seinerseits geschehen könnte, zu verkaufen und vertreiben sowie das ausgeliehene Geld entsprechend zu erlegen und zurückzubezahlen. Dadurch vermögen die Handwerke in besserer Verfassung zu bleiben, die Handwerker oder Arbeiter ihre Werkstätten und vertraglichen Verhältnisse zu erhalten und vor künftigem Zusammenbruch zu sichern. Es würde damit auch zum großen Teil das allgemeine Hausieren abgestellt, das die Handwerker aus Not und Armut für den Verkauf ihrer Ware in den Wirtshäusern oder sonst in Nürnberg haben betreiben müssen, wodurch mancher Schaden, unehrenhaftes Verhalten und Nachrede bei Frauen und Töchtern vorgekommen ist. 18. Anlage einer Kornkammer für die Armenpflege Die bestellten Pfleger mögen von dem Überschuss und Zuwachs des genannten Almosens auch eine Menge Korn, wenn das wohlfeil angeboten wird, auf Vorrat kaufen und in den Speicher, den ihnen der Rat aus öffentlichem Besitz zu überlassen zugesagt hat, aufschütten und damit den hausarmen Leuten zu Mangelzeiten eine nicht geringe Hilfe erzeigen. 19. Berücksichtigung der sich verändernden Lage der Pflegebefohlenen Es könnten gar viele arme Personen unter den Verzeichneten auffallen, welche die Not in mancherlei Art so niedergedrückt hat, dass sie mit dem taxierten Wochengeld nicht auskommen können, oder sonst wegen Ungemachs bei den bestellten Pflegern angegeben und bekannt gemacht werden. Desgleichen könnten sich über die verzeichneten Personen hinaus noch mehr Arme finden, darunter auch zum Teil diejenigen, denen das „Reiche (sonntägliche) Almosen“ gereicht wurde und die nun von diesem Großen Almosen hausarmer Leute Hilfe begehren. Daher sollen die zwei ordentlichen Pfleger jeden Sonntag neben den Pflegern des genannten Reichen Almosens
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sitzen, um zu erfahren, welche Personen im Reichen Almosen zusätzliche Zuwendungen aus diesem Almosen begehren. Dazu soll dann einer der vier Knechte abgeordnet und der Verbrauch, die Bedürftigkeit und das Verhalten des armen Bittstellers festgestellt werden. Alsdann soll der Auftrag ergehen, diesen Armen durch den Pfleger eine wöchentliche Unterstützung wie den anderen zuzumessen und auszuhändigen. 20. Die öffentlichen Sitzungen der beiden Armenpfleger Zudem sollen die zwei bestellten Pfleger dieses Almosens auch jede Woche oder vierzehntäglich, wie es die Lage der Dinge erfordert, am Montag zusammenkommen und die Armen über ihre Anliegen in jeder Hinsicht anhören, und dann, entsprechend dem gewonnenem Eindruck, zur Hilfe und Versorgung der Armen wieder das Beste und Preiswerteste erstehen und beschaffen. 21. Erfolge der neuen Armenordnung Auf alles dies hin sind die bestellten zwei Pfleger nach Inkrafttreten dieser Ordnung, nämlich ungefähr in der dritten Woche mit den vier Knechten zu allen Wohnungen und Häusern der armen verzeichneten Personen gegangen, um diese Bedürftigen persönlich anzuschauen und um die Verhältnisse eines jeden unmittelbar zu erfahren, so auch, ob sie mit dem geschätzten Wochengeld auskommen könnten. Sie haben infolge dieser besuchsweisen Erkundigung das erwähnte, von ihnen taxierte Wochengeld teils erhöht, teils herabgesetzt, wie sie es den Umständen der Armen entsprechend für angemessen und gut angesehen haben. Sie haben dabei auch erfahren, dass sich ziemlich viele dieser armen Leute, jung wie alt, die zuvor völlig müßig gegangen und den ganzen Tag bei den Kirchen und in den Straßen der Bettelei nachgegangen sind, wieder ihren früher betriebenen Handwerken ordnungsgemäß zugewandt haben; und ihre Kinder, die früher auf der Straße unter Kälte, Frost, Hunger und Nässe litten, haben sie bei der Arbeit unter Obdach gehalten und von öffentlicher Bettelei abgebracht. Dies wirkt sich auch für alle hiesigen Handwerke (wie der Rat glaubhaft versichert) höchst förderlich aus. Denn während vorher verschiedentlich Mangel an Wollspinnerinnen, Zubereitern und anderen Arbeitskräften auftrat, ist dieser Mangel durch die Menge der jetzt hinzugekommenen Arbeitenden und durch die sehr vielen vollbeschäftigten Arbeiter ganz abgestellt, mit dem auch die tägliche Bedrängnis der armen Leute und Kinder, die den Bürgern, Kaufleuten und Gästen in Kirchen, Herbergen, auf den Gassen, dem Markt und sonst überall andauernd nachgelaufen und auf den Fersen gefolgt sind (was bei vielen Personen in nicht geringem Maße Unwillen und Belästigung verursacht hat).
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22. Erste von den Pflegern festgesetzte Taxierung der Unterstützungen Die erste Schätzung des Wochengeldes durch die Pfleger ist gewesen, wie jetzt folgt: Wöchentlich ist nämlich gezahlt worden an zwei alte, besitzlose Eheleute ohne Kinder: fünfzig bis sechzig Pfennig; falls aber mit Kindern: siebzig bis neunzig Pfennig. An alleinstehende, vermögenslose Personen: fünfunddreißig bis zu vierzig Pfennig. Sodann an die, welche ganz krank, mittellos und bettlägerig waren, so dass sie besondere Personen zu ihrer Pflege und Bedienung bezahlen müssen und wegen Unmöglichkeit vorher kein Almosen haben fordern können: ein halber Gulden. Dann den Armen, die noch geziemende Arbeit leisten, sich mit dieser Arbeit aber nicht mehr voll haben ernähren können, einen Zuschuss von fünfzehn, zwanzig bis zu dreißig oder fünfunddreißig Pfennig; und wenn sie Kinder hatten, ein erhöhter Zuschuss. – Dies wird darum in diese Ordnung geschrieben, damit jeder daraus die wahrhafte Begründung und Bestimmung dieses Almosens erkennen möge und umso mehr zu Liebe und hilfreicher, bürgerlicher Hinneigung angeregt werde, um unseres frommen Christus willen, der wegen unser aller Heil und Erlösung in armseliger und der verachtetsten Gestalt auf die Erde gekommen ist. 23. Über eine zukünftige Abänderung der Ordnung Weil sich mit der Zeit noch allerlei Fälle, die in dieser Ordnung nicht vorgesehen sind, zutragen könnten, hat der ehrbare Rat sich vorbehalten, auch den berufenen Pflegern den entsprechenden Auftrag gegeben, diese Ordnung entsprechend den Vorfällen zu ändern, zu verbessern, zu mindern und mehren, ganz wie die Erfordernisse der Zeit und die angelegentlichen Probleme es erfordern. Gelobt sei Gott. Wohl dem, der sich des Schwachen und Armen annimmt; zur Zeit des Unheils wird der Herr ihn retten.7 Quelle: Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1998, 67–76. © Kohlhammer
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Ps 41,2 im Original latein.
133. Leisniger Kastenordnung mit der Vorrede Martin Luthers (1523) In der kleinen kursächsischen Stadt Leisnig kam die Reformation, getragen von Adel, Bürgern und Bauern, schon früh zum Durchbruch. Im Blick auf das Recht der Gemeinde, ihren Pfarrer selbst zu wählen, sowie die Neuordnung des Gottesdienstes und des Gemeinwesens einschließlich der Armenpflege nach reformatorischen Grundsätzen baten die Leisniger Luther um Unterstützung. Der Rat der Stadt Leisnig erließ die Ordnung zur Neugestaltung der verschiedenen Gemeindeaufgaben und ihrer Finanzierung unter dem Titel: Bruderliche Vereinigunge des gemeinen kasten gantzer eingepfarten vorsamlunge zu leisneck. Im Zentrum der Ordnung steht die Einrichtung eines gemeinen Kastens. Das reformatorische Verständnis des Kastens entkoppelt individuelle, werkgerechte Seelenvorsorge und karitative Leistungen. Die vielfältigen Geldquellen, die sich aus dieser eingeführten Verbindung ergaben, sollen neben weiteren Einnahmen im Kasten gepoolt, kommunal verwaltet und dann für kirchliche und soziale Zwecke verausgabt werden. Die Einnahmen der Pfarrei, der Kirche, der Messstiftungen, Bruderschaften, Almosen und Testamente werden im Kasten zusammengefasst. Der Kasten soll aufkommen für das Pfarramt, die Küsterei, die Schulen und die Armenfürsorge. Die Armenpflege gilt als integraler Bestandteil der Aufgaben des gesamten kirchlich-bürgerlichen Gemeinwesens. Mit den Maßnahmen zur Ausrottung des Bettels geht der Aufbau eines Systems präventiver und akuter Hilfen einher. Die Fürsorge gilt Arbeitsunfähigen, Witwen und Waisen, Siechen und Alten, mittellosen Handwerkern und anderen in wirtschaftliche Not geratenen Einwohnern Leisnigs und der dazu gehörenden Dörfer. Neu Zugezogene sollen Hilfe zur Existenzgründung erhalten. Für Notzeiten ist das Anlegen von Vorräten vorgesehen. Die Verwaltung des gemeinen Kastens soll durch zwei Adlige (ehrbare Mannen), zwei Mitglieder des Rats, drei Bürger und drei Bauern erfolgen. Diese zehn Vormünder oder Vorsteher des gemeinen Kastens werden durch die Gemeindeversammlung gewählt und kontrolliert. Luther versah die „Ordnung eines gemeinen Kastens“ mit einer Vorrede und veröffentlichte sie spätestens im Juni 1523 als Modell für andere Städte. In seinem Vorwort behandelt Luther vor allem das Vorgehen bei der Auflösung von Klöstern, die Verwendung kirchlichen Grundbesitzes und solcher Vermögensbestände, die in Zinsen aus Darlehen auf fremdem Grundbesitz entstanden. Luther war klar, dass der mit der Einrichtung eines gemeinen Kastens einhergehende Transformationsprozess auf Widerstände stoßen würde. Er unter-
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schätzte gleichwohl das Geflecht konkurrierender Interessen. Bei der Durchführung der Kastenordnung lehnte es der Rat, der doch bei der Erstellung der Ordnung beteiligt war, ab, seine bisherigen Verfügungsrechte über Stiftungen, Testamente und Gottesgaben an den gemeinen Kasten abzutreten. Infolgedessen trat die Ordnung in der ursprünglichen Form nie in Kraft. Der angesichts des Konflikts um die Umsetzung der Ordnung angerufene Kurfürst zögerte mit einer Entscheidung. Nach langen Verhandlungen kam es schließlich 1529 zu einer Bestätigung des gemeinen Kastens. Dabei kam es allerdings zu einer signifikanten Veränderung der Entscheidungsbefugnis und Kontrolle: Die in der Kastenordnung von 1523 betonte Entscheidungskompetenz der Gemeindeversammlung, in der sich das genossenschaftliche Gemeindeverständnis des frühen Luther widerspiegelt, wurde zugunsten der Zuständigkeit des Rats aufgegeben. Der Rat der Stadt nahm den Kasten in seine alleinige Verantwortung. Ordnung eines Gemeinen Kastens der Stadt Leisnig Luther, Prediger, allen Christen der Gemeinde zu Leisnig, meinen lieben Herren und Brüdern in Christus, Gnade und Frieden von Gott dem Vater unserem Heiland Jesus Christus.1 Nachdem Euch, liebe Herren und Brüder, der Vater aller Barmherzigkeit mit in die Gemeinschaft des Evangeliums gerufen und seinen Jesus Christus in Euer Herz hat scheinen lassen und solcher Reichtum an Erkenntnis Christi bei Euch so groß und wirksam ist, dass Ihr eine neue Ordnung für den Gottesdienst und für ein Gemeindeeigentum nach dem Vorbild der Apostel beschlossen habt,2 habe ich diese Eure Ordnung für geeignet gehalten, sie durch den Druck zu verbreiten für den Fall, dass Gott seinen gnädigen Segen dazu geben will, dass sie ein allgemeines Vorbild wird, dem auch viele andere Gemeinden nachfolgen, damit wir auch von Euch rühmen könnten, wie der heilige Paulus von den Korinthern rühmt,3 ihr Eifer sei vielen ein Anreiz geworden. Allerdings müsst Ihr sicher damit rechnen und Euch darauf gefasst machen, dass Ihr – wenn das von Gott ist, was Ihr anfangt – ganz gehörig angegriffen werden müsst, denn der Teufel, der uns Leid zufügt, wird nicht ruhen noch feiern. Wir hoffen nun, dass Euer Beispiel dazu führt, dass es allgemein angenommen wird und daraus dann ein großer Untergang der bisherigen Stifte, Klöster, Kapellen und des stinkenden Bodensatzes4 folgt, die sich bis jetzt unter dem Vorwand eines göttlichen Dienstes mit dem 1
Vgl. Tit 1,4. Vgl. Apg 2,44; 4,32. 3 Vgl. 2Kor 9,2. 4 Die Hierarchie. 2
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Reichtum der ganzen Welt angefüllt haben. Dazu hilft ja auch gewaltig das heilige Evangelium, das wieder hervorbricht und die lästernden und verdammenswerten „Gottesdienste“ klar hervortreten lässt und an den Tag bringt. Außerdem verhalten sich die Geistlichen auch selbst so, dass nichts Redliches bei ihnen geblieben ist noch zu ihnen will. Und allenthalben sieht die Sache so aus, als ob Gott und die Welt die Möncherei und das falsche geistliche Wesen satt hätten und es anders werden müsse. Dabei ist aber aufzupassen, dass die verlassenen Güter der Stifte nicht zum Beutegut werden und jeder an sich reißt, was er erlangen kann. Darum habe ich gedacht, mit christlichem Rat und christlicher Ermahnung – so viel nur zufällt oder zuteilwird – rechtzeitig zuvorzukommen. Zumal es mir doch zugeschoben wird, wenn die Klöster und Stifte leer werden, Mönche und Nonnen sich verringern oder sonst etwas zum Schaden und zur Verachtung des geistlichen Standes geschieht, will ich doch das nicht auf mir sitzen lassen, wenn habgierige Wänste diese geistlichen Güter an sich reißen und mich als den, der Ursache dazu gegeben hat, zum Schein vorschieben. […] 1. Es wäre wohl gut, wenn keine Feldklöster5 wie die der Benediktiner, Zisterzienser, Cölestiner und dergleichen je auf die Erde gekommen wären. Da sie nun aber da sind, ist es das Beste, dass man sie zugrunde gehen lässt oder, wenn man es in angemessener Weise tun kann, dazu hilft, dass sie ganz und gar verschwinden. Das mag auf die folgenden beiden Weisen geschehen: Die erste Weise ist, dass man die Personen, die darinnen sind, frei von sich selbst – wenn sie wollen – herausgehen lässt, wie es das Evangelium erlaubt. Die zweite Weise ist, dass jede Obrigkeit mit seinen Klöstern vereinbart, keine Person mehr aufzunehmen und, wenn ihrer zu viele darinnen sind, einige woanders hin zu schicken und die übrigen aussterben zu lassen. Weil aber niemand zum Glauben und zum Evangelium zu zwingen ist, soll man die übrigen Personen, die in den Klöstern bleiben – es sei um des Alters, des Bauches oder des Gewissens willen – nicht hinaus stoßen, noch unfreundlich mit ihnen umgehen, sondern sie ihr Leben lang genügend haben lassen, wie sie vorher hatten. Denn das Evangelium lehrt, auch den Unwürdigen Gutes zu tun, wie der himmlische Vater über Gute und Böse es regnen und die Sonne scheinen lässt.6 Und man muss hier berücksichtigen, dass diese Personen aufgrund allgemeiner Verblendung und Irrtum in diesen Stand geraten sind und nichts gelernt haben, mit dem sie sich ernähren können. Jedoch ist das 5
Außerhalb der Städte liegende Klöster der drei genannten Orden, unter die auch das Zisterzienserkloster Buch fiel. 6 Vgl. Mt 5,45.
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mein Rat, dass die Obrigkeit diese Klostergüter an sich nehme und die übrigen Personen, die darinnen bleiben, davon versorgen, bis sie aussterben, auch reichlicher und freigebiger als sie vielleicht vorher versorgt wurden, damit man ja spüre, dass nicht Habsucht nach geistlichem Gut, sondern der christliche Glaube den Klöstern Feind ist. Und hier sind nicht zu allererst eine päpstliche oder bischöfliche Erlaubnis einzuholen oder der Bann und Verdammung zu fürchten. Denn ich schreibe auch dieses nur denen, die das Evangelium verstehen und die Macht haben, dieses in ihren Ländern, Städten und Herrschaftsgebieten zu tun. 2. Die Güter dieser Klöster, die die Obrigkeit an sich nimmt, sollen auf dreierlei Weise verwendet werden. Erstens soll man die Personen, die darinnen bleiben – wie oben gesagt – damit versorgen. Zweitens soll man den Personen, die das Kloster verlassen, eine gehörige Summe mitgeben, damit sie etwas anfangen und sich in einen Stand begeben können, auch wenn sie nichts mit hineingebracht haben. Denn sie verlassen gleichwohl ihren lebenslänglichen Unterhalt, wenn sie das Kloster verlassen, und sind betrogen, da sie in der Zeit, während der sie im Kloster waren, etwas gelernt hätten. Es ist aber gerecht vor Gott, dass man denjenigen, die etwas in das Kloster gebracht haben, ihren Teil wiedergibt. Denn hier soll die christliche Liebe und nicht die Strenge menschlicher Rechte richten. Und muss jemand Schaden oder Verlust ertragen, soll das auf Kosten des Klosters und nicht auf Kosten der Personen gehen, denn das Kloster ist ja die Ursache ihres Irrtums. Drittens ist es das Beste, dass man alles Übrige zu einem Gemeindeeigentum einer Gemeindekasse gelangen lässt, aus der man nach christlicher Liebe allen, die im Lande dessen bedürfen, es seien Adlige oder Bürger, gibt und leiht, damit man auch der Stifter Testament und Willen erfüllt. Denn obgleich sie geirrt haben und verführt worden sind, so dass sie es den Klöstern gegeben haben, ist es ja dennoch ihre Überzeugung gewesen, es Gott zur Ehre und zum Dienst zu geben, und sie haben nur bei der Ausführung fehl gegriffen. Nun gibt es keinen größeren Gottesdienst als die christliche Liebe, die den Bedürftigen hilft und dient, wie Christus am jüngsten Tag selbst bekennen und richten wird.7 Darum hießen auch früher die Kirchengüter bona ecclesiae, das ist Gemeindegüter, eine Gemeindekasse für alle unter den Christen, die etwas bedurften. Doch ist auch das gerecht und der christlichen Liebe gemäß, dass, wenn die Erben der Stifter verarmen und Not leiden, ihnen diese Stiftungen mindestens zum großen Teil oder ganz, wenn die Not so groß 7
Vgl. Mt 25,35ff.
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ist, zurückgegeben werden. Denn es ist gewiss nicht die Absicht ihrer Väter gewesen und hat es auch nicht sein sollen, ihren Kindern und Erben das Brot aus dem Mund zu nehmen und anderswohin zu geben. Und sollte ihre Absicht so gewesen sein, ist sie falsch und unchristlich. Denn die Väter sind verpflichtet, vor allen Dingen ihre Kinder zu versorgen. Das ist der höchste Gottesdienst, den sie mit zeitlichem Gut ausüben können. Wenn aber die Erben es nicht benötigen noch bedürfen, sollen sie die Stiftungen ihrer Väter nicht wieder zurücknehmen, sondern der Gemeindekasse überlassen. […] 3. Diese Handlungsweise ist auch am Platz gegenüber den Bistümern, Stiften und Kapiteln, die Länder und Städte und andere Güter unter sich haben. Denn diese Bischöfe und Stifte sind weder Bischöfe noch Stifte. Sie sind im Grund in Wahrheit weltliche Herren mit einem geistlichen Namen. Darum sollte man sie zu weltlichen Herren machen oder die Güter an die armen Erben und Freunde und die Gemeindekasse austeilen. Was aber die Pfründen und Lehen betrifft, soll man sie denjenigen bleiben lassen, die sie jetzt innehaben, und nach ihrem Tod niemandem mehr verleihen, sondern unter die armen Erben und in die Gemeindekasse geben. 4. Es beruhen aber die Güter der Klöster und Stifte zum Teil und die Pfründen sehr viel auf dem Zinsnehmen, das sich jetzt in aller Welt der „Wiederkauf“ nennt und in wenigen Jahren die ganze Welt verschlungen hat. Diese Güter muss man vorher von den testamentarisch vermachten Gütern wie die Zinsen abtrennen. Denn was ich oben geraten habe, will ich von den Stiftungen gesagt haben, die ohne Zinsnehmen aus rechten, redlichen Erbgütern gestiftet sind. Die Stiftungen aber, die auf Zinsnehmen gestiftet sind, kann man gut für Wucher halten. Denn ich habe noch nie eine rechte Kapitalanlage auf Zinsnehmen gesehen oder davon gehört. Darum muss man hierin zuerst den Wucher wiedergutmachen und einem jeden das Seine8 wiedergeben, ehe man es in die Gemeindekasse gelangen lässt. Denn Gott spricht: „Ich bin Feind dem Opfer, das aus einem Raub kommt.“9 Es sei denn, dass man die nicht finden kann, die durch das Zinsnehmen geschädigt wurden. Das kann dann die Gemeindekasse an sich nehmen. […] 5. Aus den Bettelklöstern in den Städten sind gute Schulen für Jungen und Mädchen zu machen, wie sie vorzeiten gewesen sind. Aus den übrigen Klöstern aber kann man Häuser machen, wenn die Stadt ihrer 8 9
Die ihm abgenommenen Zinsen. Jes 61,8.
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bedarf. Denn die Weihung durch die Bischöfe soll sie hieran nicht hindern, weil Gott nichts davon weiß. Doch wenn man diesen meinen Rat christlich in Angriff nimmt, wird es sich von selbst ergeben, schicken und lehren, besser als man jetzt mit Worten vorschlagen kann. Denn die Fälle werden sich so vielseitig und schwierig ergeben, dass außer der christlichen Liebe sie niemand gut entscheiden kann. Wenn nun Gott gibt, dass dieser Rat befolgt wird, so wird man nicht nur eine reiche Gemeindekasse für den Bedarf haben, sondern es werden auch drei große Übel zugrunde gehen und aufhören. Erstens die Bettler, durch die den Ländern und den Leuten großer Schaden widerfährt. Zweitens der schreckliche Missbrauch mit dem Bann10, der kaum etwas anderes tut als die Leute um der Pfarrer und Mönche Güter zu martern. Wenn nun diese Güter abgeschafft sind, braucht man diesen Bann nicht. Drittens der leidvolle Zinskauf, der größte Wucher auf Erden, der sich bisher am allermeisten bei den geistlichen Gütern gerühmt hat, dass er daselbst recht sei. Wer aber diesem Rat nicht folgen will oder seine Habgier damit befriedigen will, den lasse ich dahinfahren. Ich weiß wohl, dass ihn nur wenige annehmen werden, es ist mir genug, wenn einer oder zwei mir folgen oder wenigstens doch gerne folgen wollen. Es muss die Welt Welt bleiben und der Satan der Fürst der Welt. Ich habe getan, was ich kann und wozu ich verpflichtet bin. Gott helfe uns allen, damit wir handeln und beständig bleiben. Amen. Im Namen der heiligen, ungeteilten Dreifaltigkeit. Amen. Wir Adligen, Ratsherren, Viertelmeister11, Älteste und gewöhnlichen Einwohner der Stadt und eingepfarrten Dörfer der Gemeinde und des Kirchspiels Leisnig, nachdem wir durch die Gnade des allmächtigen Gottes aus der Offenbarung christlicher evangelischer Schriften nicht nur einen beständigen Glauben, sondern auch gründliches Wissen empfangen haben, dass alles innerliche und äußerliche Vermögen des Christen zur Ehre Gottes und zur Liebe des Nächsten, des Mitchristen, nach Ordnung und Gebot der göttlichen Wahrheit und nicht nach menschlichem Gutdünken dienen und gereichen soll, bekennen und machen hiermit bekannt: Wir haben für uns und unsere Nachkommen nach rechtzeitiger Beratung mit in der göttlichen Schrift Gelehrten diese nachfolgende brüderliche Vereinbarung aufgesetzt und beschlossen, die in unserer Gemeinschaft, die jetzt besteht und in Zukunft sein wird, treu und unverändert gehalten werden soll. Nämlich:
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Bann meint die geistliche Gerichtsbarkeit. Vertreter der Bürgerschaft (der Stadtviertel).
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Besetzung des Pfarramts Wir wollen und sollen zu jeder Zeit unsere christliche Freiheit, soweit die Besetzung unseres gemeinsamen Pfarramts in Bezug auf Berufung, Wahl, Ein- und Absetzung unserer Seelsorger nur die Verkündigung des Wortes Gottes und die Austeilung der Sakramente betrifft, nicht anders als nach dem Gebot und der Verordnung der göttlichen biblischen Schriften anwenden, üben und gebrauchen. […] Vermögen, Vorrat und Einnahmen für die Gemeindekasse Damit nun unser christlicher Glaube, in dem alle zeitlichen und ewigen Güter von dem ewigen Gott durch unseren Herrn und Seligmacher Christus aus reiner Gnade und Barmherzigkeit erworben und uns mitgeteilt werden, zur eigentlichen Frucht der brüderlichen Liebe und dieselbe Liebe in die Wahrheit und Werke der milden Güte gelangen und geführt werden können, haben wir, die zuerst genannte gemeinsam zum Pfarramt gehörende Gemeinde für uns und unsere Nachkommen in voller Einmütigkeit eine Gemeindekasse verordnet, angefangen und eingerichtet, und verordnen, fangen an und richten dieselbe hiermit jetzt ein kraft dieser unserer brüderlichen Vereinbarung nach Absicht, Maßgabe und Form wie folgt: Zu dem Vermögen und Vorrat in der Gemeindekasse sollen diese genau fixierten Sachen, Zinsen, Güter, Abgaben, Gelder und Besitzungen überall zusammengeworfen, eingesammelt und zusammengebracht werden, für immer gestiftet und einverleibt sein und bleiben. Einnahmen aus den Gütern und Abgaben des Pfarramtes Alle Güter und Abgaben, Erblehen, Erb- und Gatterzinsen12, Erbgerichte13, Häuser, Höfe, Gärten, Äcker, Wiesen, Vorräte und bewegliche Habe, nichts ausgeschlossen, soweit überall Pfarr- und Seelsorgeamt hier bei uns durch die anfänglichen Stifter und die nachfolgenden Vermehrer dazu gegeben, verordnet und in der vergangenen Zeit dazugehörig und im Gebrauch gewesen und die in dieser unserer Gemeindekasse vorhanden sind, desgleichen was zur Schule und Küsterei gehört, wird auch in diese Kasse getan. […] Einnahmen aus den Gütern und Abgaben der Kirche14 Alle Güter und Abgaben, Erblehen, Erb- und Gatterzinsen, Brückenzoll15, Bargeld, Silberwerk16, Kleinodien, Vorräte und bewegliche 12
Zinsen, die durch die Haustüren (die zum Teil Gitter hatten) gereicht wurden. Erträge einer an einem Grundstück haftenden niederen Gerichtsbarkeit. 14 Die Stadtkirche St. Matthäus. 15 Aus dem Vermögen der Stadtkirche musste die Muldenbrücke unterhalten werden. 16 Zum Beispiel Altargeräte. 13
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Habe und was alles an festen und gelegentlichen Dingen unserer Kirche zusteht, soll ganz und gar mitsamt den besiegelten Urkunden, Verzeichnissen und Registern, die davon handeln, in die Gemeindekasse mit einbezogen werden und bleiben. Einnahmen aus den vier Altarlehen sowie den Gütern und Abgaben anderer Stiftungen Die vier Altarlehen17 in unserer Kirche sollen hinfort, wenn die jetzt damit belehnten Altarpriester verstorben oder die Lehen auf andere Weise freigeworden sind, nicht mehr verliehen, sondern die vier Häuser mit den Gütern, Zinsen, Einkommen, Nutzungen, Kleinodien, Vorräten und beweglicher Habe mit den besiegelten Urkunden, Verzeichnissen und Registern, die dazu gehören, in die Gemeindekasse gebracht werden und dazu alle Einnahmen für Seelenmessen, Seelenmessen am Jahrestag eines Verstorbenen, in der Karwoche oder anderen Wochen und andere einzelne Stiftungen und Geschenke an das Hospital und anderswohin alles in die Gemeindekasse getan werden. Einnahmen von den Bruderschaften Was an Bargeld, Zinsen, Kleinodien, Silberwerk, Vorräten und beweglicher Habe von den berühmten Bruderschaften des Kalands18, der heiligen Anna und der Schustergesellen bisher eingesammelt wurde und diesen zusteht, soll mit den besiegelten Urkunden, Verzeichnissen und Registern alles in diese Gemeindekasse getan und verordnet werden und darinnen bleiben. Einnahme aus der „Gottesgabe“ von den Handwerkern und Bauern Einlagen, Zunftabgaben, Ansprüche, Buß- und Strafgelder und durch Gemeindebeschluss festgesetzte Strafgelder und was an solchen Dingen sich bisher innerhalb der Stadt bei den Handwerkern und außerhalb auf dem Land in den Dörfern bei den Bauern in unserem gemeinsamen Kirchspiel im Vorrat als Gottesgabe angesammelt hat und in Zukunft das Jahr hindurch eingesammelt wird, soll alles in die Gemeindekasse getan und mit eingebracht werden.
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Für den Vollzug gestifteter Messen an den Altären Corporis Christi, Annuntiationis Mariae, Conceptionis Mariae und Crucis erhielten die vier, jeweils an einem Altar angestellten Altaristen die dafür festgesetzten Erträge des Stiftungsgutes. 18 Eine aus Geistlichen und Laien bestehende Vereinigung, die durch gegenseitige Fürbitte, Seelenmessen, Prozessionen und Beteiligung am Begräbnis zum Seelenheil verhelfen wollte, sich aber auch in wirtschaftlichen und rechtlichen Schwierigkeiten unterstützte.
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Einnahmen von Speisen und Geld in den Armenkasten und dem Opferstock In unserer Kirche sind aufgestellt und sollen allezeit unverändert bleiben zwei Fässer bzw. runde Kisten, um Brot, Käse, Eier, Fleisch und andere Speisen und Vorräte, und ein oder zwei Opferstöcke, um Geld hineinzulegen, damit auf beide Arten zur Unterhaltung der Gemeindekasse beigetragen wird. Desgleichen sollen die Geschenke und müden Gaben, die von zwei aus uns Bestimmten allezeit, wenn unsere Gemeinde in der Kirche versammelt ist, von Person zu Person für die Unterhaltung der Armen erbeten werden, auch in den zuständigen Opferstock gelegt und getan werden. Und die Stücke des Vorrats, die leicht verderben, sollen durch die dafür Bestimmten aufgrund ihres Auftrags – wie unten folgt – unverzüglich, soweit es nötig ist, unter den Armen ausgeteilt werden. Was sich aber bis zum folgenden Sonntag hält, soll aufbewahrt und dann zur Nutzen und Vorteil der Armen verteilt werden. Einnahmen von Gaben aus gesunden Tagen und aus Testamenten auf dem Totenbett Andere freiwillige Gaben aus gesunden Lebenstagen und Testamenten auf dem Totenbett, soweit sie zur Ehre Gottes und Liebe des Nächsten aus christlicher Überzeugung geschehen, sie mögen aus Gütern, Bargeld, Kleinodien, Vorräten oder beweglicher Habe bestehen, sollen ganz und gar in diese Gemeindekasse getan werden und ihr verbleiben. Auch sollen unsere Seelsorger auf der Kanzel und sonst ermahnen, die Menschen sollen, solange sie bei Verstand sind, auf dem Krankenbett mit Bewilligung der Erben, die die Anwartschaft haben, in rechtmäßigen Sachen dafür Verfügungen treffen. Verwaltung der Gemeindekasse Die Verwaltung der Gemeindekasse soll folgendermaßen eingerichtet und durchgeführt werden: Jedes Jahr an dem Sonntag nach dem achten Tag nach dem Tag der heiligen drei Könige gegen elf Uhr will und soll die gesamte zum Pfarramt gehörende Gemeinde hier auf dem Rathaus erscheinen und soll dort durch die Gnade Gottes im wahren christlichen Glauben und in Eintracht zehn Vormünder bzw. Vorsteher für die Gemeindekasse aus der gesamten Versammlung ohne Unterschied die Ruhigsten wählen, nämlich zwei Adlige, zwei vom regierenden Rat, drei von den gewöhnlichen Bürgern in der Stadt und drei Bauern vom Land. Diese zehn so Gewählten sollen die Last dieser Verwaltung und Vormundschaft sogleich um Gottes und allgemeinen Nutzens willen bereitwillig auf sich nehmen und laden und mit gutem christlichen Gewissen ohne Rücksicht auf Gunst, Neid, Nutzen, Furcht oder irgendeine schändliche Ursache nach ihrem bes-
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ten Vermögen laut dieser unserer vorliegenden Vereinbarung die Verwaltung, Einnahmen und Ausgaben treu und unparteiisch auszuüben verpflichtet sein. Verschließung der Kasse mit vier verschiedenen Schlössern Diese Gemeindekasse bzw. Truhe soll in unserer Kirche an dem Ort, an dem es am sichersten ist, verwahrt und mit vier verschiedenen Schlössern und Schlüsseln verschlossen werden, so dass der Adel, der Rat, die Gemeinde in der Stadt und die Bauernschaft auf dem Land je einen besonderen Schlüssel haben. Die Vorsteher sollen jeden Sonntag zusammen sein Jeden Sonntag im Jahr von elf bis zwei Uhr zur Vesperzeit sollen die zehn Vorsteher in unserem Gemeindepfarrhof oder im Rathaus beisammen sein und dort ihre Vormundschaft fleißig ausüben und bereit sein, alles zusammen zu beraten und zu verhandeln, damit die Ehre Gottes und die Liebe zu dem, der ebenso Christ ist wie wir, in dauernder Betätigung erhalten und zum Nutzen ausgeübt werden können. Und es sollen ihre Beratungen in aufrichtiger Treue geheim gehalten und nicht außerhalb der Ordnung bekannt gemacht werden. Wenn einige von ihnen nicht zugegen und durch einen verantwortbaren Grund verhindert sind, soll trotzdem die Mehrheit zu verhandeln oder auszuführen das Recht haben. Drei Bücher, in denen alle Güter, Abgaben und Verwaltungen verzeichnet werden Drei Bücher bzw. Register sollen die zehn Vorsteher zu dieser Zeit am Sonntag zur Hand haben: Das Hauptbuch, in das sollen geschrieben sein und in Zukunft werden: diese unsere brüderliche Vereinbarung, wie diese gesiegelt in der Truhe liegt, alle besiegelten Urkunden, Stiftungsurkunden, Verzeichnisse und Erbregister über alte Güter und Abgaben, die alle in die Gemeindekasse wie oben getan und eingebracht und in Zukunft hineingebracht und hineinkommen werden. Das Verhandlungsbuch, in das alle Verhandlungen, Beratungen, Beschlüsse, Erkundigungen, Nachforschungen und Ergebnisse, die alle bei und über die Verwaltung, Einnahmen und Ausgaben der Gemeindekasse geschehen, ausgeübt und vollzogen werden, genau eingeschrieben und verzeichnet werden, aus dem man sich allezeit notwendigen Bescheid holen kann. Das Jahresrechnungsregister, in das geschrieben werden soll am Anfang ein vollständiges Verzeichnis bzw. Inventar aller Stücke des Vorrats, beweglicher Habe, Kleinodien, Silberwerk und Bargeld, jedes mit genauer Unterscheidung des Gewichts, der Zahl und des Maßes, die den vorher genannten zehn Vorstehern unter Haben gebucht
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und bei Amtsantritt Jahr für Jahr und Stück für Stück übergeben und wieder in Rechnung gestellt werden sollen. Hier hinein sollen auch jeden Sonntag alle wöchentlichen Einnahmen und Ausgaben eingeschrieben werden, alles entsprechend der üblichen Form der Buchführung, worüber sich die ganze Gemeinde einigt und nach Gelegenheit in Zukunft sich zu einigen haben wird. Davon soll immer ein auf diese Weise angefertigtes Register nach seinen notwendigen Kapiteln geordnet am Tag der Wahl den neuen zehn Vorstehern durch die alten abgefasst und geschrieben überreicht werden, um schädlichen Irrtum und Versäumnis zu verhindern. Und wenn diese drei Bücher, wie oben gesagt, gebraucht worden sind, sollen sie sogleich wieder in die Gemeindekasse eingeschlossen werden. Alle Einkommen und Schuldeinnahmen Die zehn Vorsteher sollen mit ganzem Fleiß alle Zinsen, Steuern, Einkommen und Schulden, regelmäßige und gelegentliche, einmahnen und in die Gemeindekasse einbringen, soweit es immer möglich ist und ohne Bedrückung der Armen im Unterstützen einer unveränderten Lebensweise geschehen kann. Amt zweier Baumeister Zwei Baumeister sollen die zehn Vorsteher aus sich selbst bestimmen, die beide mit Rat und Wissen der anderen acht die Gebäude der Kirche, der Brücke, des Pfarrhofes, der Schule, der Küsterei und des Hospitals versorgen sollen. Diese beiden sollen auch in der Kirche, sooft die unserem Pfarramt zugehörige Gemeinde versammelt ist, mit zwei Beuteln oder Tafeln die Geschenke zum Unterhalt der Armen erbitten und sogleich in die beiden dafür bestimmten Opferstöcke öffentlich hineinschütten, wovon die Schlüssel in der Gemeindekasse aufbewahrt werden sollen. Und das Geld soll jeden Sonntag durch die zehn Vorsteher zusammen herausgenommen und in die Gemeindekasse hineingelegt und in das Rechnungsregister genau eingeschrieben werden. Auch sollen diese beiden die Geschenke an Speisen und Vorrat, die schnell verderben, wie es an einem jeden Sonntag für notwendig und gut erachtet und durch die zehn Vorsteher zusammen beschlossen worden ist, täglich unter den Armen austeilen. Die dauerhaften Stücke aber sollen aus der Geschenketruhe genommen und an einem geeigneten Ort in der Kirche immer bis zu einem Sonntag aufbewahrt und künftig nach dem Ermessen der zehn Vorsteher für die Armen verwendet werden. Beseitigung fremder Lasten Nachdem wir Adligen, Ratsherren, Viertelmeister, Älteste und gewöhnlichen Einwohner der Stadt und der Dörfer unseres Kirchspiels
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für uns und unsere Nachkommen kraft dieser unserer Vereinbarung beschlossen und diese spürbaren Lasten – mit denen die ganze zu unserem Pfarramt gehörende Gemeinde über die Maßen von fremden, heuchlerischen, aber nicht wirklich Not leidenden Armen und Müßiggängern beladen war, während wir selbst im Mangel versunken waren – auf Rat der in der göttlichen Schrift Gelehrten beseitigt und aufgehoben haben, sollen sie ebenso beseitigt und aufgehoben bleiben, und zwar folgende: Beseitigung der Bettelbezirke Kein Mönch, welches Ordens er auch sei, soll weiterhin in unserem Kirchspiel, weder in der Stadt noch auf den Dörfern, einen Bettelbezirk haben. Darum sollen ihnen auch die drei Bettelhäuser19 aus der Gemeindekasse und derselben zugute, entsprechend einer angemessenen Schätzung, vergütet werden. Betteln der Mönche, Abschaffen der Stationierer20 und Kirchenbitter21 Keinem Mönchen, keinem Stationierer noch Kirchenbitter soll in unserem Kirchspiel, weder in der Stadt noch auf den Dörfern, gestattet oder erlaubt werden zu betteln oder betteln zu lassen. Beseitigung des Bettelns fremder Schüler Kein fremder Schüler soll in unserem Kirchspiel, weder in der Stadt noch auf den Dörfern, geduldet werden, um zu betteln. Will aber jemand bei uns in die Schule gehen, der mag sich selbst seine Kosten und seine Nahrung verschaffen. Beseitigung der Bettler und Bettlerinnen Keine Bettler und Bettlerinnen sollen in unserem Kirchspiel, weder in der Stadt noch auf den Dörfern, gelitten werden. Denn diejenigen, die nicht mit Alter oder Krankheit beladen sind, sollen arbeiten oder aus unserem Kirchspiel, sowohl aus der Stadt als auch aus den Dörfern, selbst mit Hilfe der Obrigkeit hinausgetrieben werden. Die aber durch Unglücksfälle bei uns verarmen oder vor Krankheit oder Alter nicht arbeiten können, sollen durch die verordneten Zehn aus unserer Gemeindekasse in ausreichendem Maße versorgt werden, wie folgt:
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Häuser, in denen sich die Bettelmönche während der Tage aufhielten, an denen sie in Leisnig und Umgebung bettelten. 20 Bettelmönch, der mit Reliquien umherzieht und Heilung oder Befreiung aus dem Fegefeuer anbietet. 21 Mönche, die für einen Kirchenbau Geld erbitten.
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Ausgaben und Versorgungen aus der Gemeindekasse Darum wollen und sollen wir, die zu unserem Pfarramt gehörende Gemeinde, und unsere Nachkommen nun künftig aus unserer Gemeindekasse durch unsere zehn gewählten Vorsteher, soweit sich unser Vermögen mit Gottes Gnade erstrecken wird, ernähren, versorgen und unterhalten und die Ausgaben wie folgt nach den Gegebenheiten tätigen und auszahlen. Ausgaben für das Pfarramt Unserem gemeinsamen, berufenen und gewählten Seelsorger bzw. Pfarrer zusammen mit einem auch für uns berufenen Prediger, der jedoch selbst sein Pfarramt mit Verkündigung des Wortes Gottes und anderem Tun können und verstehen soll und dem Pfarrer als Hilfe zugeordnet ist, und dazu einem Kaplan, wenn es die Notwendigkeit erfordert, sollen die zehn Vorsteher aufgrund einmütigen Beschlusses der ganzen Gemeinde mit einer namhaften Geldsumme und einigen zum Genuss bestimmten Vorräten und der Nutzung liegender Grundstücke und Güter alle Jahre jeweils ein Viertel auf einen Quatember bzw. Vierteljahr für ihren angemessenen Bedarf und Unterhalt versorgen und aus der Gemeindekasse gegen entsprechende Quittung überreichen. […] Ausgaben für die Schulen Einen Lehrer für die Jungen zu berufen, ein- und abzusetzen sollen die zehn verordneten Vorsteher im Namen unserer ganzen zum Pfarramt gehörenden Gemeinde Macht und Auftrag haben nach dem Rat und guten Leumund unseres gewählten Seelsorgers und des Predigers und anderen in der göttlichen Schrift Gelehrten, damit ein guter, untadliger und wohl gelehrter Mann zur christlichen, ehrlichen und sittsamen Erziehung und Unterweisung der Jugend als einem hochnotwendigen Amt vorgesetzt wird. […] Darum soll diesem Lehrer aus unserer Gemeindekasse ein namhaftes Jahresgeld und einige Vorräte an den vier Vierteln des Jahres entsprechend dem Beschluss der Gemeindeversammlung durch die zehn Vorsteher gegeben und er damit zufrieden gestellt werden. […] Desgleichen soll aus unserer Gemeindekasse durch die zehn Vorsteher eine ehrliche, ältere und untadlige Frau mit einem Jahresgeld und einigen Vorräten versorgt werden. Diese soll die jungen Mädchen unter zwölf Jahren in rechter christlicher Erziehung, Ehre und Haltung unterweisen und laut der Ordnung unseres Seelsorgeamts einige festgelegte Stunden bei hellem lichten Sonnenschein an einem ehrlichen, unverdächtigen Ort deutsch schreiben und lesen lehren und auch darüber nichts weiter von unserer Gemeinde beanspruchen oder erhalten. […]
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Ausgaben für die gebrechlichen alten armen Menschen Die Menschen, die in der zu unserem Pfarramt gehörenden Gemeinde und Kirchspiel durch Unglücksfälle verarmen und von ihren Verwandten, wenn sie einige Vermögende darunter haben sollten, keine Hilfe erhalten, auch die wegen Krankheit oder Alter nicht arbeiten können und notwendigerweise arm sind, sollen durch die zehn Vorsteher wöchentlich jeden Sonntag und sonst nach Gelegenheit etwas aus unserer Gemeindekasse erhalten und versorgt werden, so dass sie Gott zur Ehre und zum Lobe davor bewahrt sein mögen, ihren Leib und ihr Leben aus Mangel an der notwendigen Wohnung, Kleidung, Nahrung und Pflege weiter krank zu machen, zu schwächen und zu verkürzen. Und weil von keinem Armen in unserer Gemeinde solche Dinge des täglichen Bedarfs im Vorübergehen auf der Straße zugerufen, geklagt und erbettelt werden dürfen, sollen die zehn Vorsteher mit großem beständigen Fleiß Erkundigungen und Nachforschungen anstellen und wirklich gründliches Wissen haben von allen solchen Armen, wie oben gesagt, in der Stadt und den Dörfern unseres ganzen Kirchspiels und darüber jeden Sonntag beraten und sollen die Namen derjenigen Armen, die auf diese Weise erfasst wurden und denen zu helfen beschlossen worden ist, zusammen mit den Beschlüssen in das Verhandlungsbuch deutlich eingeschrieben werden, damit das Vermögen aus unserer Gemeindekasse ordnungsgemäß ausgeteilt wird. Ausgaben zur Versorgung der Waisen und armen Kinder Arme verlassene Waisen sollen mit Erziehung und leiblichem Bedarf, bis sie ihr Brot verdienen und erarbeiten können, durch die Vorsteher aus der Gemeindekasse innerhalb der Stadt und den Dörfern unseres ganzen Kirchspiels entsprechend den Gegebenheiten versorgt werden. Wenn sich unter diesen Waisen oder den armen Kindern unvermögender Leute auch Knaben finden, die zur Schule wohl geschickt und aufnahmefähig für die Freien Künste und die Wissenschaften sind, sollen sie neben den anderen armen Menschen durch die Vorsteher aus der Gemeindekasse ernährt und versorgt werden. Die anderen Jungen sollen zur Arbeit, zu Handwerk und angemessenem Gewerbe gefördert werden. Die Mädchen unter diesen verlassenen Waisen, desgleichen die Töchter armer Leute, sollen auch durch die Vorsteher aus der Gemeindekasse für den Ehestand mit einer angemessenen Hilfe ausgerüstet werden. Ausgaben zur Versorgung verschämter Armer Handwerksleuten und anderen verschämten armen Leuten, die verheiratet oder verwitwet sind und in der Stadt oder den Dörfern innerhalb unseres Kirchspiels wohnen und kein Vermögen noch sonst anderswo Hilfe haben, um ihren handwerklichen, bürgerlichen oder
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bäuerlichen Erwerb ordentlich zu treiben und zu arbeiten, sollen die Vorsteher aus der Gemeindekasse einen ansehnlichen Vorschuss geben, der zu den entsprechenden Terminen zurückzuzahlen ist. Denen aber, die trotz treuer Arbeit und Fleiß dies nicht zurückgeben können, soll es zu ihrem Bedarf und um Gottes willen erlassen werden. Solche Beschaffenheit soll durch die Vorsteher genau erkundet werden. Ausgaben zur Versorgung Fremder Fremden Ankömmlingen, gleichgültig ob sie Männer oder Frauen sind, die christliche und brüderliche Zuversicht zu unserer Gemeinde haben und innerhalb der Stadt oder der Dörfer in unserem Kirchspiel mit der Mühe und dem Fleiß ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt suchen, sollen die zehn Vorsteher aufrichtig fördern und auch aus unserer Gemeindekasse mit Leihen und Geben nach den Gegebenheiten angemessen zur Hilfe kommen, damit auch die Fremden nicht ohne Trost gelassen und vor Schande und öffentlichen Sünden errettet sein mögen. Ausgaben zur Erhaltung und Aufrichtung der Gebäude Laufende Unterhaltungen und Ausbesserungen der Gebäude – auch neue Gebäude –, und zwar an folgenden Orten, für die die Gemeindekasse zuständig ist: die Kirche, die Muldenbrücke, der Pfarrhof, die Schule, die Küsterei, die Hospitale – sollen die zehn Vorsteher mit gutem Fleiß und Vorsicht, auch mit dem Rat der Bauverständigen und bewährten Bauleute beraten, in Auftrag geben und ausführen lassen und das dazugehörige Material in angemessener Weise beschaffen und aus der Gemeindekasse bezahlen und durch ihre beiden Baumeister bei den Leuten in der Stadt und auf dem Land nach hergebrachter Gewohnheit Fuhrwerke und Handlanger, besonders für die Brücke, durch Bitten zu erlangen versuchen. Ausgaben zum Getreidekaufen für den gemeinsamen Vorrat Zu einem gemeinsamen Nutzen für unsere zum Pfarramt gehörende Gemeinde sollen die zehn Vorsteher aus unserer Gemeindekasse neben einem Zuschuss des Rates aus der Stadtkasse eine ansehnliche Menge und Anzahl von Korn und Erbsen für die Magazine, die dem Rat und dem gemeinsamen Kirchspiel gehören, zum Vorrat einkaufen und dafür sorgen, dass dieser Vorrat in Jahren, in denen das Getreide billig zu kaufen ist, nicht angegriffen, sondern vielmehr vermehrt und vergrößert wird, damit die Einwohner der gesamten zum Pfarramt gehörenden Gemeinde, alle in der Stadt und auf den Dörfern, in der Zeit drohender Not durch Verkaufen, Leihen und Geben, wie dies die zehn Vorsteher für gelegen und geeignet ansehen, zu diesem Vorrat durch die Gnade Gottes Zuflucht nehmen und die leibliche Ernährung erhalten können. Was außerdem an Getreide von Ackerleuten in der
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Stadt oder Bauern auf dem Land zum gemeinsamen Nutzen aus milder Hand gegeben oder testamentarisch vermacht und über die Unterhaltung der armen Leute, wie oben gesagt, hinaus übrig bleibt, soll auch zu diesem gemeinsamen Vorrat geschlagen und, wie gesagt, für den Bedarf der ganzen zu unserem Pfarramt gehörenden Gemeinde verwendet werden. Jährliche Zulage, die in die Gemeindekasse zu tun ist Für den Fall, dass die Zinsen, Erhebungen und Einkünfte im Vermögen und Vorrat unserer Gemeindekasse, wie oben Stück für Stück aufgezählt, zur Unterhaltung und Versorgung unseres Pfarramts, unserer Küsterei und Schulen, der bedürftigen Armen und der Gemeindegebäude, wie sie der Reihe nach aufgeführt sind, nicht ausreichen, haben wir, Adlige, Ratsherren, Viertelmeister, Älteste und gewöhnliche Einwohner der Stadt und Dörfer unseres ganzen Kirchspiels, für uns und unsere Nachkommen kraft dieser unserer brüderlichen Vereinbarung einmütig beschlossen und bewilligt, dass ein jeder Adlige, Bürger und Bauer, der in diesem Kirchspiel wohnt, entsprechend dem, was er besitzt und vermag, für sich, seine Frau und seine Kinder jährlich eine Abgabe hinzulegen soll, damit die Hauptsumme, die die zu unserem Pfarramt gehörende Gemeinde in ihren Überlegungen und Beratungen aus der Jahresrechnung für notwendig und ausreichend ermittelt und erkundet, voll zusammengebracht und erlangt werden kann. Hierzu sollen auch, soweit sich unser Kirchspiel erstreckt, alle Hausgenossen, Dienstleute, Gesellen der Handwerker und andere Personen, die keine Hausbesitzer sind und sich doch unserer Pfarrechte erfreuen und sie nutzen, eine jede Person einen silbernen Groschen – immer an einem Quatember bzw. Viertel des Jahres drei neue Pfennige als den vierten Teil dieses Groschens – jährlich zur Hilfe geben. Dies soll ein jeder Hauswirt bzw. Hauswirtin fleißig einsammeln und den zehn Vorstehern an jedem Quatember weitergeben. Und die zu unserem Pfarramt gehörende Gemeinde möge und soll sich jetzt und künftig von dieser jährlichen geringen Abgabe und Hilfe zur Ehre Gottes und Liebe des Mitchristen nicht beschwert fühlen, angesichts dessen, dass zuvor eine lange, ewige Zeit beide, sowohl die Ansässigen als auch die Nichtansässigen in unserem ganzen Kirchspiel durch übermäßige, unerträgliche Belastungen und Geldabzüge auf vielerlei Weisen und Kniffe ohne Unterlass das ganze Jahr hindurch überladen und ausgesogen wurden. Diese Dinge sind nunmehr durch die Gnade Gottes wieder in die wahre Freiheit des christlichen Geistes gebracht worden und gekommen. Es muss sich aber jeder Christ mit größtem
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Eifer davor hüten, diese christliche Freiheit zum Deckmantel der schändlichen Habgier zu missbrauchen.22 Dreimaliges Abhalten einer Gemeindeversammlung im Jahr Dreimal im Jahr, nämlich am Sonntag nach dem achten Tag der heiligen drei Könige, am Sonntag nach dem Tag des heiligen Urban23 und am Sonntag nach dem Michaelistag,24 möge und soll die ganze zu unserem Pfarramt gehörende Gemeinde um elf Uhr auf dem Rathaus zusammenkommen und wenigstens bis um zwei Uhr nachmittags dort ausharren, um erstens diese unsere Vereinbarung öffentlich zu verlesen und anzuhören und aufgrund der Unterrichtung durch unsere zehn Vorsteher mit Vorlage ihrer Verhandlungs- und Rechnungsbücher und sonstigen von uns allen gemeinsamen Überlegungen die Verwaltung, Einnahmen und Ausgaben unserer Gemeindekasse und was sonst irgendwie notwendig und erforderlich ist, zu beraten und durch die Gnade Gottes endgültig zu beschließen, damit diese brüderliche Vereinbarung entsprechend des Gemeindevermögens und -vorrats erhalten bleibt und nicht abnimmt. […] Ablegen der vollständigen Jahresrechnung durch die Vorsteher Unsere zehn vorher bestimmten Vorsteher sollen jedes Jahr einmal am Sonntag nach dem achten Tag der heiligen drei Könige und den folgenden Tagen nacheinander ihre ganze Jahresrechnung über die Verwaltung, Einnahmen und Ausgaben unserer Gemeindekasse durch ihre Verhandlungs- und Rechnungsbücher und ihren sonstigen mündlichen Bericht öffentlich in Gegenwart unserer Gemeinde oder einer stattlichen Zahl oder einem Ausschuss für und anstatt der ganzen Gemeinde – wie es die Umstände ergeben – ablegen, vorlegen und ausführen, nachdem die Buchführung und Unterweisung zu dieser Jahresrechnung aufgrund des gemeinsamen Beschlusses der Gemeinde am ersten Tag ihres Amtsantritts, wie oben gesagt, gemacht und den neuen Vorstehern übergeben oder zugestellt worden ist. […] Quelle: Leisniger Kastenordnung, einschließlich der Vorrede Martin Luthers, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas. Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege im 16. Jahrhundert, VDWI 23, Heidelberg 2004, 24–41 (= Martin Luther Taschenausgabe, Auswahl in fünf Bänden, hg. v. Horst Beintker u.a., Bd. 3: Sakramente – Gottesdienst – Gemeindeordnung, Berlin 1981, 198–221). © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
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Vgl. 1Petr 2,16. 25. Mai. 24 29. September. 23
134. Huldrych Zwingli: Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel (1523) Huldrych (Ulrich) Zwingli, 1484 in Wildhaus (Ostschweiz) geboren, wurde nach Studien in Wien und Basel 1506 zum Priester geweiht und 1519 als Leutpriester an das Züricher Großmünster berufen. Zusammen mit Bürgern führte er die Reformation in Zürich ein. Zwingli war zwar von Luthers Schriften beeinflusst, entwickelte aber ein eigenständiges Modell von Reformation. Die Überzeugung von der ungreifbaren Souveränität Gottes, das Verständnis des Abendmahls als reiner Zeichen- und Erinnerungshandlung und die Gegenüberstellung von „göttlicher“ und „menschlicher“ Gerechtigkeit als Grundlage der Ethik markieren Charakteristika der Theologie Zwinglis. Insofern Zwingli nicht so sehr den um seine Erlösung ringenden Einzelnen vor Augen hat, sondern den selbstsüchtigen Menschen, der mit seiner Gier das ganze soziale Leben vergiftet, eignet seinem Denken ein ausgeprägter sozialethischer Grundzug. Zwingli wurde 1531 in der Schlacht von Kappel zwischen reformierten und romtreuen Kantonen getötet. Nachdem sich 1522 die Auseinandersetzung um Zwinglis kritische Predigttätigkeit zunehmend zuspitzte, lud der Züricher Rat für den 29. Januar 1523 zu einer öffentlichen Disputation ein. Zwingli verfasste für dieses Rechtsverfahren 67 Artikel oder Thesen. Nachdem die Delegation des Bischofs von Konstanz auch nach der Disputation noch behauptete, Zwinglis Anschauungen seien nicht mit dem Evangelium Christi und der Lehre der Apostel vereinbar, ging Zwingli daran, seine Artikel und Thesen ausführlich biblisch zu begründen und zu erläutern. Das so entstandene Werk gilt als Hauptzeugnis von Zwinglis Lehre und wurde ein Fanal für die Durchsetzung der Reformation in Zürich. Die folgenden Auszüge belegen Zwinglis Kritik an den Anhängern des Papstes und sein Drängen auf die Zurückgabe unrecht erworbenen Guts an die Armen. Deutlich wird auch, wie er die Obrigkeit verpflichtet, dem Willen Gottes gemäß für das Recht der Schwachen einzutreten. Schließlich deutet Zwingli an, dass das Priesteramt als Dienst am Wort eine diakonische Dimension beinhaltet. Artikel 33 Das unrechtmäßige Gut soll nicht Kirchen, Klöstern, Mönchen, Priestern oder Nonnen, sondern den Bedürftigen gegeben werden, wenn es dem rechtmäßigen Besitzer nicht zurück erstattet werden kann
Auslegung und Begründung der Thesen
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Diesen Artikel könnte ich bei den Päpstlern durchsetzen, wenn sie Herzen hätten, die sich zu ihrer eigenen Lehre bekennten; denn ich erinnere mich gut, dass ich bei ihren eigenen Summisten1 – die hier anzuführen unnütz wäre – gelesen habe, dass unrechtmäßig erworbenes Gut in erster Linie demjenigen zurückerstattet werden soll, dem es weggenommen worden ist. Wenn aber dieser nicht ausfindig gemacht werden könne, so gehöre es den Armen. Erst wenn es diesen aus irgendwelchen Gründen auch nicht gegeben werden könne, gehöre es den Kirchen. Aber die Päpstler sind so sehr in die Defensive gegangen, dass sie alles leugnen. An ihre eigenen Lehren halten sie sich nicht, und durch Gottes Wort lassen sie sich nicht überzeugen. Daraus folgt, dass sie selbst Gott sind, und die, welche an sie glauben, heißen zu Recht Päpstler, so wie die, welche an Christus glauben, Christen heißen. […] Artikel 39 Darum sollen alle ihre Gesetze dem göttlichen Willen gleichförmig sein, so dass sie dem Bedrängten Rechtsschutz gewähren, auch wenn er nicht Klage einreicht […] Wenn nun Herrscher und Volk der höchsten Weisheit, die es im Himmel und auf Erden gibt, Vertrauen schenken, d.h., wenn sie dem Wort Gottes glauben, so ist nichts anderes möglich, als dass hier größter Friede, Freundschaft und Liebe herrschen. Das demonstrieren deutlich die ersten Christen, die all ihr Hab und Gut miteinander teilten und als Brüder zusammenlebten. Ja, sie übertrafen darin die leiblichen Brüder; denn solche hätten nicht so bereitwillig auf ihr Eigentum verzichtet wie sie. So viel stärker also ist das, was Gott vollbringt, als das, was der Mensch vermag. Auch werden Volk und Herrscher befähigt, die armselige menschliche Gerechtigkeit so gut als möglich dem Gesetz Gottes anzugleichen. Desgleichen richten sie auch alle Gesetze nach dem Gesetz Gottes aus. Dann wird der Vorgesetzte sich selbst auch nur gegenüber den Schurken als Vorgesetzten empfinden und nur ihnen gegenüber seine richterliche Gewalt brauchen; gegenüber den Gläubigen wird er sich verhalten wie gegenüber seinen Brüdern, und er wird nicht nur dafür besorgt sein, wie er die Schurken strafe, sondern auch, wie er die Gerechten vor Unrecht in Schutz nehme und bewahre. Dies tut er, damit sie nicht einem irrigen Glauben oder der Bosheit verfallen, und er wird sich mehr um die Seelen der ihm Anvertrauten kümmern als um die vergängliche Habe, wie Paulus im Hebräerbrief 13,17 sagt: „Sie – die Vorgesetzten – wachen über euer Leben als solche, die Re1
Summisten heißen jene Scholastiker, die „summae“, Systeme der Theologie, verfassten (z.B. Alexander von Hales, Thomas von Aquin).
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Auslegung und Begründung der Thesen
chenschaft ablegen werden über euch.“ Denn wie weiter oben aus dem 1. Petrusbrief2 nachgewiesen worden ist, hat der Klerus keinen Auftrag, Zwang auszuüben, sondern ihm ist aller Zwang verboten. Dennoch sind einige Böcke unter den Schafen Christi so rücksichtslos, dass sie weder von der Lehre Christi noch vom Kirchenbann etwas halten. Wiederum sind einige der Schafe Christi so sanft und demütig, dass sie nicht jeden Übergriff und jede Rücksichtslosigkeit einklagen. Es gehört sich nun für christliche Vorgesetzte, dass sie – gemäß dem letzten Abschnitt des hier besprochenen Artikels – dem Bedrängten Rechtsschutz gewähren, auch wenn jener keine Klage einreicht. Denn wo das Gesetz oder der Brauch besteht, dass man nur straft, wenn jemand Klage erhebt, da ergeben sich viele Missstände. Die Armen müssen Unrecht von den Reichen erdulden; denn diese sind jenen sowieso immer zu stark. Und wenn die Armen das sehen, tragen sie lieber ihre Last, als noch in eine weitere Gefahr zu geraten. Dann hat der Reiche mit seinem Unrecht den Sieg davon getragen und wird zuletzt so halsstarrig, dass er sich auch gegen die Obrigkeit auflehnt; wo das aber geschieht, ist es um ein Staatswesen geschehen. Darum muss die Obrigkeit ganz genau aufpassen, dass die starken, fetten Böcke die armen, schwachen Schäflein nicht umbringen. […] Artikel 62 Die Schrift kennt auch keine anderen Priester als die, welche das Wort Gottes verkünden Ein Priester ist, um es präzise zu sagen, nichts anderes als ein alter, ehrwürdiger, d. h. ernsthafter Mann. Darum soll man in allen Pfarreien oder Kirchgemeinden die Ältesten, Anständigsten und Ernsthaftesten auswählen, wie Paulus im Titusbrief 1,5–9 lehrt. Die sieben Diakone, die zur Zeit der Apostel gewählt wurden,3 wurden nicht Priester genannt, außer sie verkündeten das Wort Gottes. Darum sagt auch Paulus im 1. Timotheusbrief 5,17: „Die Ältesten, die ein gutes Beispiel geben, sollen zweifach beschenkt werden.“ Diese Stelle kann zwar nicht beweisen, dass es neben den predigenden noch andere Priester gab; denn er spricht hier von den alten Männern, die von den Kirchgemeinden versorgt wurden. Dass man den Alten das Doppelte geben solle, sagt er ohne Zweifel darum, weil das Alter hilflos ist. Paulus sagt auch gleich darauf: „Besonders die, welche in Wort und Lehre arbeiten.“4 So lasse ich hier gerne diejenigen Priester sein, die in einer Kirchgemeinde lehren, das Gotteswort verkünden, aus der griechischen und hebräischen Sprache übersetzen, 2
Vgl. 1Petr 5,1–3. Vgl. Apg 6,2–5. 4 Vgl. 1Tim 5,17. 3
Auslegung und Begründung der Thesen
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predigen, ärztliche Hilfe leisten, die Kranken besuchen, die Armen unterstützen, ihnen Almosen verteilen und sie speisen; denn dies alles gehört zum Wort Gottes. Aber die anderen Gottesjunker kennen die göttliche Schrift nicht, sie mögen sagen, was sie wollen. Höchstens spricht Philipper 3,19 von ihnen, wo es heißt „… deren Gott der Bauch ist.“ Sie sind den Drohnen in den Bienenkörben gleich, die das, was andere erarbeiten, in aller Ruhe verschmausen. Quelle: Huldrych Zwingli, Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, in: ders., Schriften II, Im Auftrag des Zwinglivereins hg. v. Thomas Brunnschweiler/Samuel Lutz, Zürich 1995, 341, 371, 379–381, 481. © Theologischer Verlag Zürich
135. Martin Luther: Predigt am St. Stephanstag (1523) In seiner Predigt am Tag des heiligen Stephan, am 26. Dezember 1523, markiert Luther in elementarer Form sein Verständnis des Diakonenamtes. Orientiert an Apostelgeschichte 6 (s. Text 20) und am Dienst des Stephanus umreißt er die Notwendigkeit zweier Ämter, die für die Kirche konstitutiv sind. Neben der Sorge für die Seele, die dem Predigtamt aufgetragen ist, hat die Kirche auch die Aufgabe, für den Leib zu sorgen – dies ist Sache des Diakonenamts. Luther kritisiert, dass das zeitgenössische Amt des Diakons seiner ursprünglichen sozialen Bezüge vollkommen entleert worden und stattdessen ausschließlich mit Lektoratsfunktionen in der Messe befasst sei. Der in der Sicht Luthers gebotenen Erneuerung des Diakonenamts steht in der historischen Situation entgegen, dass keine Personen da sind, die – christlich und fachlich gebildet – die Aufgaben des Diakonenamts wahrzunehmen in der Lage sind. Luther deutet zugleich an, dass in den Kastenordnungen zwar noch nicht die Vollgestalt des kirchlichen Diakonenamts realisiert werden kann, wohl aber Entsprechungen einzuzeichnen sind – in Form der „Diener“, die darauf achten, dass Arme angemessen unterstützt und versorgt werden. Das erste Stück habt ihr hier, dass ihr seht, wie eine christliche Kirche gestaltet sein soll und ein rechtes Bild eines geistlichen Regiments, das die Apostel hier führen: Sie versorgen die Seelen, gehen mit Predigten und mit Gebeten um, sorgen dafür, dass auch der Leib versorgt wird, stellen etliche Männer auf, die da die Güter austeilen. So versorgt das christliche Regiment Leib und Seele, dass keiner Mangel hat, wie Lukas sagt, und alle reichlich gespeist werden an der Seele und wohl versorgt am Leib. Das ist ein rechtes Bild. Es wäre wohl gut, dass man’s noch anfangen würde, wenn entsprechende Leute da wären, dass eine Stadt wie diese hier in vier oder fünf Stücke aufgeteilt und jedem [Bezirk] ein Prediger und Diakon gegeben würde, die Güter austeilten und kranke Leute versorgten und darauf sähen, wer da Mangel leidet. Wir haben aber nicht die Personen dazu, darum traue ich mich nicht, es anzufangen, so lange bis unser Herr Gott Christen macht. Jetzt hat man mit der Zeit aus den Diakonen Epistler und Euangelier [in der Messe dienende Lektoren der Epistel und des Evangeliums] gemacht. Wenn man einen zum Bischof macht, macht man ihn nicht deshalb dazu, dass er predigen soll, denn das tat er vorher schon aufgrund des Priesteramts wie sonst ein jeglicher Priester. Vielmehr nur
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darum, dass man sie auf einen Hengst setzt und spricht „Gnädiger Junker“. So wählt man auch Diakone nicht zu dem Amt, das sie zur damaligen Zeit ausübten, sondern dass sie beim Altar stehen, Epistel und Evangelium lesen; was zum Predigen und Beten gehört, das hat man Messe genannt, was dazu gehört, Leute zu versorgen, das hat man Epistler, Euangelier genannt. Ein Stück oder Bild von den Diakonen ist in den Ämtern der Spitalmeister, Nonnenpröpste und Armenvormünder noch bewahrt. Und ihr, wenn ihr einen gemeinen Kasten aufrichtet, so seht ihr, was Bischöfe und Diakonen sind. Bischof heißt ein Amtmann Gottes, der soll Diener haben, er soll die göttlichen Güter austeilen, das Evangelium, die Diakonen aber, das heißt, die Diener, sollen das Register haben über arme Leute, dass sie versorgt werden. Quelle: Martin Luther, Predigt am S. Stefanstag, 1523, WA 12, 692–695: 693f.
136. Wenzeslaus Linck: Von der Arbeit und vom Betteln (1523) Wenzeslaus (Wenzel) Linck, geb. 1483 in Colditz, gest. 1547 in Nürnberg, war Freund und Weggefährte Martin Luthers. Um 1501 wurde er Augustinermönch, 1516 übernahm er eine Theologieprofessur an der Universität Wittenberg. Nach einer Tätigkeit als Prediger in Nürnberg leitete Linck den deutschen Augustinerorden bis zu dessen Auflösung. Im Juli 1522 trat er eine Stelle als Prediger in Altenburg an. Dort war er maßgeblich an der Einführung der Reformation und der Grundlegung der Armenfürsorge beteiligt. 1525 berief ihn der Rat der Stadt Nürnberg auf eine Pfarrstelle in der Reichsstadt. Bei der Durchführung der Reformation in der Stadt spielte er eine wichtige Rolle. Als Prediger und Verfasser erbaulicher Schriften verstand es Linck, Luthers Lehren breitenwirksam zu vermitteln. Angesichts des Bettelproblems und im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Armenpflege in Altenburg verfasste Linck seine Schrift „Von Arbeit und Betteln. Wie man solle der Faulheit zuvorkommen und jedermann zur Arbeit ziehen“. Sie erschien im Oktober 1523 in Zwickau. Für den ehemaligen Mönch gehören Arbeit und Schmerz konstitutiv zusammen. Ihr Zusammenspiel bringt im Menschen die Buße hervor, die ihn zu Gott zurückführt. Arbeit tötet daher den Egoismus und die Begierden ab. Demgegenüber gilt Betteln als der Anfang aller Laster, aus dem vielfältige Fehlorientierungen – vom Müßiggang bis zur Kriminalität – entspringen. Die theologische Rechtfertigung der mönchischen Bettelpraxis wird scharf verworfen und das Betteln grundsätzlich verboten. Nur wenige Bedürftige (Arbeitsunfähige aufgrund von Gebrechlichkeit und Krankheit) in der eigenen Stadt erfahren diakonische Aufmerksamkeit. Was Arbeit ist! Arbeit ist eine Arznei, dem Menschen nach dem Sündenfall auferlegt, damit er dadurch büße und zu Gott wiederkehre, vom Bösen abweiche und es vermeide, sich dem Guten nähere, dem alten Adam absterbe und den neuen Christus erlange, damit er dadurch eine ganz neue Kreatur werde und, indem er sein Kreuz trage, Christus nachfolge, dem Gesetz Gottes untertänig folge, dem Teufel, Tod und Sünden entfliehe. Denn Arbeit macht bußfertige Menschen, die zu Gott wiederkehren. Arbeit behütet vor Bösem und fördert zum Guten. Dazu gehört der Schmerz, wie das Weib zum Manne, auf dass eines dem andern die Hand reiche und der Mensch also zweierlei Trost habe, nämlich in der Arbeit wie in der Trübsal, und dass die, welche nicht
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arbeiten können, doch auch in Schmerzen Trost für ihr Heil erlangen können, und zwar für beides, das geistliche oder das leibliche. Denn wie Mann und Weib zwei in einem Fleisch sind,1 so sind Schmerz und Arbeit ein Weg des Heils, wenn man‘s nur christlich trägt. […] Arbeit führt zur Haltung der Gebote Gottes. Alle Gebote leiten dazu an, dass ein Mensch niemanden belästige noch beschädige, sondern jedermann helfe und tröste, soviel ihm möglich ist. Dazu dient wohl, wenn einer sich mit seiner Arbeit ernährt und nicht andern Leuten zur Last fällt, sondern vielmehr den anderen hilft. Demnach befinden sich gemeinhin die Bauern und arbeitenden Leute mehr in einem Stand der Vollkommenheit als die Geistlichen. Zudem ist Gottes Gesetz gegeben zur Abtötung des alten Menschen mit seinen Begierden und seiner Eigensucht, denn es gebietet Liebe des Nächsten, auf dass ein jeder jedem anderen helfe; es verbietet Eigensucht, Wollust und Begierde. Dieweil nun durch Arbeit und Schmerzen der alte Mensch gekreuzigt, Gemeinnutz gefördert, eigene Wollust entzogen, Gottes Strafe erkannt und das Fleisch dem Geist unterworfen wird, mag man wohl sagen, dass im Gebot der Arbeit alle anderen Gebote des Gesetzes Gottes eingeschlossen seien. Deshalb wird es auch als erstes bald nach dem Fall gegeben.2 Denn ebenso wie der Mensch durch das Gesetz sein Elend, wie er in Gottes Ungnade sei, erkennt und infolgedessen nach Gnade seufzt, genau so geschieht dies durch die Arbeit und Schmerzen. Und wer die Arbeit flieht, der flieht das Gesetz und Kreuz Gottes. Wer ohne Arbeit und Schmerzen lebt, der fühlt nicht die Kraft des göttlichen Gesetzes, sucht nicht die Hilfe der Gnade. Deshalb lenkt auch der Teufel so mannigfach von der Arbeit ab und hilft zu faulem, müßigem Leben. […] Wie schädlich Müßiggang ist und wie nützlich dagegen Arbeit! In der Schrift wird vielfältig aufgezeigt, wie verdammenswert müßiges, faules Leben sei. Denn wer faulenzt und ohne Beschwernis lebt, der wird ganz ungeschickt, er begehrt die wahrhaftigen Gütern nicht, wie sich an den Reichen zeigt. So fielen auch die Kinder Israels oftmals in Sünden, als sie in der Wüste müßiggingen und murrten und sich nach Ägypten zurücksehnten.3 Darum sagt der weise Mann richtig: Der ist der Allertörichtste, der sich dem Müßiggang hingibt, er wird mit Bedürftigkeit erfüllt. Denn Müßiggang hat viele Bosheit hervorgebracht4 und deshalb rechnet sie der Prophet unter andere Laster, 1
Vgl. Gen 2,24. Vgl. Gen 3,19. 3 Vgl. Ex 16,2f. 4 Vgl. Sir 33,28. 2
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derentwegen Sodom und Gomorrha vertilgt wurden, indem er sagt: Nimm wahr, darin hat die Bosheit deiner Schwester Sodom und ihrer Töchter bestanden: in Hoffart, Völlerei, Überfluss und Müßiggang etc.5 […]. Wie sorgfältig ein jeder sich vor Müßiggang hüten und der Arbeit nachgehen soll! Aus den genannten Ursachen ist es für einen jeden frommen Christen notwendig, dass er sich an die göttliche Ordnung genau halte (darin ist dem Menschen in diesem sündigen Leben Arbeit und Schmerz zur Buße auferlegt, welche auch Christus selbst geübt hat) und seine Nahrung mit leiblicher oder geistiger Arbeit suche, dazu das Kreuz der Schmerzen geduldig trage, sich mit allem Ernst vor gottlosem, faulem Leben hüte, worin auf Kosten von fremder Leute Blut und Schweiß gelebt und den armen Bedürftigen ihr Brot aus den Zähnen gerissen wird, wie es denn leider Gottes gemeinhin und übervorteilend im geistlich genannten Wesen geschieht, wo man sich mit Stiftungen, Spenden, Testamenten, Messenverkauf, Wucher, Geldverleih, Simonie, Betteln und dergleichen ernährt und obendrein auch Gottes Gebot der Arbeit und des Kreuzes verfolgt. Denn ohne Zweifel entzieht sich dies müßige Volk darum der Ehe und verfolgt sie, weil sie eben gemeinhin in Unzucht leben, mit so viel Huren umhängt wie ein Jakobsbruder mit Muscheln. Anstatt dass Arbeit und Schmerzen vereinigt wären, ebenso wie der Mann und das Weib, wollen sie dagegen dem faulen, wollüstigen Leben verbunden sein, gegen Gottes Ordnung, sondern der Ordnung der Menschen unterworfen. […] Vom Betteln und von der Unterstützung der Bedürftigen. Unter allen Formen des Müßiggangs, wodurch Gottes Gesetz, dass dem Menschen als Buße auferlegt ist, sich mit Arbeit zu nähren, verachtet wird, ist nicht die geringste, sondern die verbreitetste der Bettel. Denn viele faule Schelme berufen sich auf den verbreiteten Spruch, der doch unbegründet und unchristlich ist, es sei niemandem verboten zu betteln und zu bitten. Sonst kenne ich keinen Grund, womit das Betteln bestätigt werden könnte. Daran mag man wohl ermessen, was für ein gar leichtfertiges Handwerk es ist, das so eine haltlose, unbegründete Herleitung hat, obwohl man es so umfänglich und hoch aufgebauscht hat, dass man es eine heilige, evangelische Sache und heiliges Almosen genannt hat, welches man den gottlosen und faulen Kriminellen hat zukommen lassen [...]. Armen Bedürftigen, die sich mit körperlicher oder geistiger Arbeit nicht zu erhalten vermögen und doch das Kreuz in Schmerzen, wodurch sie unterm Gesetz Gottes ste5
Vgl. Ez 16,49.
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hen, tragen, denen ist man Hilfe schuldig aus brüderlicher Liebe und göttlichem Gebot, nicht weniger als man verpflichtet ist, einem treuen Arbeiter seinen Lohn zu geben.6 Deshalb will ich diese nicht unter dem Bettel einbegriffen sehen; denn genauso wie Gott geboten hat, dass sich ein jeder mit seiner Arbeit ernähren soll, damit er niemand anderem zur Last falle, so hat er auch einem jeden befohlen, dem anderen Bedürftigen aus Liebe zu helfen [...]. Was dann gebrechliche Menschen betrifft, die gerne einer Gemeinde zum Trost dienen möchten und dieses doch nicht vermögen, denen ist die Gemeinde schuldig und verpflichtet, nicht nur sie geduldig mit ihren Gebrechen zu tragen, sondern auch entsprechend der Bedürftigkeit zu ihrer Besserung zu helfen. Es ist das gleiche, wie wenn ein Glied des Körpers krank ist und seinen Dienst nicht allen anderen zugute leisten kann, so helfen dann alle anderen dem kranken, dass es wieder zu Kräften kommt oder doch wenigstens nicht völlig verdirbt. [...] Wo nun ein Geschlecht oder ein Haus seinen armen, kranken, bedürftigen Hausgenossen, Verwandten ausreichend Hilfe leistet, soll man nicht dazu noch eine ganze Gemeinde belasten, damit die anderen Bedürftigen nicht benachteiligt werden. Denn so lehrt S. Paulus: Wenn ein Gläubiger oder eine Gläubige Witwen hat, versorge er diese, damit die Gemeinde nicht belastet wird und denen, die ganz verlassene Witwen sind, ausreichend Versorgung leisten kann7 [...]. Wenn das aber nicht geleistet werden kann, dann soll eine Gemeinde helfen. Des Weiteren halte fest: Wenn schon ein Gläubiger, der doch ein Mitglied ist, die Gemeinde so viel wie möglich schonen soll, damit den anderen bedürftigen Gliedmaßen kein Nachteil geschehe, so sollen ihnen noch viel weniger die Fremden, die nicht zum Körper gehören, das Brot aus den Zähnen reißen und ihnen Nachteil bereiten. Und wenn es auch keine andere Begründung gäbe, so besagt doch dieser Ausspruch des Paulus ganz zwingend, dass man in einer Gemeinde fremde Bettler nicht zulassen soll, besonders wenn dadurch den Gemeindemitgliedern Nachteile erwachsen. Wo man aber Überschuss hat, kann man wohl einer anderen Gemeinde vorstrecken, als wenn die Gliedmaße eines Körpers einem anderen Körper dienen […]. Es soll eine jede Gemeinde für sich Sorge für ihre leibliche Notdurft tragen, ihre Bedürftigen unterhalten, so wie das wahre Jerusalem den Bedarf aller Güter selbst bestreitet. Es sei denn, es gäbe besondere Ursache, dass man anderen anderswo aushelfen müsste, was sich wohl begeben mag. Denn so sammelte der heilige Paulus mit seinen Gesellen für die Armen von Jerusalem eine Steuer, von denen die Heiden 6 7
Vgl. Lk 10,7; 1Tim 5,18. Vgl. 1Tim 5,16.
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geistliche Güter des Wortes empfangen hatten, welches kein Bettel, sondern eine pflichtgemäße Vergeltung war.8 […] Was betteln ist! Nun wollen wir sehen, was zu unseren Zeiten betteln ist, denn wir haben gehört, es sei ein Gebot Gottes, den armen Bedürftigen zu helfen, wozu schon die Natur beim Gleichen drängt, entsprechend dem Gleichnis mit den Gliedmaßen des Körpers. Betteln ist aber eine Frucht des Müßiggangs und widerstrebt ganz klar Gottes Ordnung. Deshalb können wir den Bettel folgendermaßen deuten: Bettel ist Bodensatz und Anhäufung aller Übertretung von Gottes Ordnungen und Geboten, ein Anfang aller Laster, eine Krone des Geizes, welcher eine Abgötterei ist, steht der Nächstenliebe entgegen, da man niemand wohltun, sondern von jedermann Wohltat haben will. Denn, wer sich untersteht, niemandem zu helfen, aber von jedermann geholfen zu werden, der handelt ganz und gar gegen die göttliche und natürliche Liebe, deren Art es ist, jedermann zu helfen und von niemandem zu nehmen. Zudem gebraucht er alle anderen bösen Mittel, als da sind: Lügen, Betrügen, Heucheln, üble Nachrede, Simonie, falsche Lehre, vorgegebene Heiligkeit [...]. Deshalb malt man den Teufel oftmals als Bettler, weil er unter solcher Verkleidung am listigsten gegen Gottes Gesetz auftritt, nach dem einem jeden aufgelegt ist, sich mit Arbeit zu nähren und dem Bedürftigen zu helfen. […] Das Betteln ist in der Heiligen Schrift verboten. Deshalb wird auch das Betteln, so wie oben davon gesprochen wurde, in der Heiligen Schrift so mannigfach verboten, als ein Tun, das der Liebe entgegenstehet [...]. Deshalb handeln nicht nur allein die gegen Gottes Gebot, welche betteln, sondern auch alle, die einwilligen und es gestatten; gleichermaßen wird Täter und der, der zusieht, gestraft. Der Grund dafür: Wenn die Obrigkeit den Bettel zulässt, und dadurch dem gemeinen Mann das Seine abgeschwatzt wird, verursacht sie, dass er nicht zu halten und zu befolgen vermag das Gebot Christi, der da spricht: Gib einem jeden, der dich bittet;9 sowie auch Tobias seinen Sohn lehrte: Du sollst dein Gesicht nicht abwenden von irgendeinem Armen.10 Das ist nicht so zu verstehen, als müsste man Bettler haben, um einem jeden zu geben, weil den Geiz doch niemand zu befriedigen vermag, sondern dass man einem jeden Bedürftigen helfe und ihn der Not entreiße, so wie ein Glied sich gegenüber dem ande-
8
Vgl. 2Kor 8,1ff. Vgl. Lk 6,30. 10 Tob 4,7. 9
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ren verhält. Darum verhindert man, wo man allerlei Bettler zulässt, dass einem jeden, der da bittet, gegeben werden kann. Von den Bettelorden. Hier entsteht großes Bekümmernis wegen der geistlichen Bettler und der Bettelmönche, denn weil sie vom Stuhl zu Rom die Erlaubnis zum Betteln haben, rühmen sie sich großer Armut, nennen ihr Betteln evangelisch und heilig; wer auch immer es verurteilt, der ist bei ihnen neunhundertmal verflucht. Dies sind die allerschädlichsten Bettler, sie könnten auch sehr gut simoneische Krämer genannt werden, da sie nicht nur Brieflein und Nadeln verteilen (was sie letztlich, da ihre Heiligkeit nicht mehr so viel gelten wollte, haben tun müssen), sondern sie preisen auch ihre Verdienste an und verkaufen ihre Heiligkeit und betteln daraufhin, auf dass diese ihre Bettelei nicht nur ein gemeiner, sondern ein unübertrefflicher Betrug sei. Die anderen Bettler verheißen den Leuten, wenn sie ihnen etwas geben, dass sie Gott für sie bitten wollten. Im Unterschied zu ihnen betteln solche, die Almosen verdienen, nur unter Hinweis auf ihre Krankheit und nicht auf ihre Heiligkeit, indem sie sagen: O ein armer, blinder, kranker Mann, erbarmt euch seiner. Aber die betteln mit ihrer Heiligkeit, rufen das Volk auf, diese von ihnen zu kaufen, indem sie sagen: So viele Messen und gute Werke, Kasteiungen, Wachen nehmen wir auf uns. O heilige, fromme Leute, gebt euer Almosen, auf dass ihr Anteil an ihrer Frömmigkeit erhaltet. Genauso wie sich einer beschmutzt, der sich an einem alten Kessel reibt. Die ersten lügen und betrügen, sündigen gegen Gottes Sohn; diese aber sind Gotteslästerer (da sie sich zu Göttern aufwerfen und an Gottes Stelle setzen) gegen den Heiligen Geist, indem sie das Evangelium Jesu Christi, welches der Heilige Geist in die Herzen schreibt, austilgen und unterdrücken. Das Evangelium verkündet, dass alle Menschen verdammte Sünder sind mit allen ihren Frömmigkeiten, dass auch niemand fromm sei als allein durch Jesus Christus aus dem Glauben an die Gnade. Und so wird Christus verherrlicht, aber diese Leute verherrlichen sich selbst mit ihrer Heiligkeit, setzen einen Abgott an Gottes statt, einen Antichrist an Christus statt, lehren selig werden mit eigenen menschlichen Gerechtigkeiten, die doch vor Gott ganz unrein sind. Solche Bettler, die gegen den Sinn des Evangeliums betteln, sind ohne Zweifel des Teufels Apostel. Quelle: Wenzel Linck, Von der Arbeit und vom Betteln. Wie man der Faulheit zuvorkommen und jedermann zur Arbeit anhalten sollte, in: Wilhelm Reindell (Hg.), Wenzel Lincks Werke, 1. Hälfte, Marburg 1894, 150–173. Übersetzung auf der Basis der Textfassung in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1998, 59–63. © Kohlhammer
137. Erasmus von Rotterdam: Bettlergespräch (1524) Desiderius Erasmus wurde 1466/1469 in Rotterdam geboren, war Priester und Theologe, Philologe und Journalist. Erasmus gilt als der bedeutendste Humanist seiner Zeit, der europaweit vernetzt war. Fragen der Bildung, des Friedens und der Veränderung der Kirche standen im Fokus seines Denkens und Handelns. Die Kritik an kirchlichen Missständen teilte er mit Martin Luther; bei zentralen theologischen Themen und im Blick auf die Gestaltung des kirchlichen Reformprozess überwog indes der Dissens zwischen dem Humanisten und dem Reformator. Erasmus starb 1536 in Basel. 1518 wurden Erasmus‘ Vertrauliche Gespräche ohne Wissen und Einwilligung des Autors von Beatus Rhenanus (1485–1547) in Basel veröffentlicht. Die erste von Erasmus formell anerkannte Fassung erschien 1522. Erasmus wirkte an verschiedenen Neuausgaben der „Gespräche“ mit, die sich rasch zum Bestseller entwickelten. Die Gespräche, die an sokratische Dialoge erinnern, kreisen um moralische Themen. Fragen der Lebensführung, der Ehe, des Krieges, aber auch Kritik an der Geistlichkeit und kirchliche sowie gesellschaftliche Probleme werden erörtert und präsentiert. Die Vertraulichen Gespräche sind „voll lebendigster Anschaulichkeit, praktischer Lebensweisheit, souveräner Satire und verschmitzten Schalks“ (Kurt Steinmann). Das im Folgenden wiedergegebene Bettlergespräch entstammt der Ausgabe von August/September 1524. Das Bettlergespräch spiegelt die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um das Bettlerwesen und die Ansätze einer Armenpolitik wider, mit denen das Verbot oder zumindest die Kontrolle des Bettels einhergingen. Erasmus zeichnet zwei Typen von Bettlern: Irides ist der Inbegriff des – stoisch inspirierten – innerlich freien Menschen und lebt insofern wie ein König; Misoponus (=Hasser der Arbeit) hingegen, der durch seinen verschwenderischen, auf irdische Güter fixierten Lebenswandel verarmte, führt nach seinem Bettlerdasein das Leben eines wohlbetuchten Betrügers, der die Gier der Menschen mit vorgeblich alchemistischen Kenntnissen ausnutzt. IRIDES Was für einen sonderbaren Vogel sehe ich da herbeieilen? Das Gesicht kenne ich, aber die Kleidung will nicht dazu passen. Entweder sehe ich weiße Mäuse, oder es ist Misoponus. Ich muss es wagen! Ich will den Mann anreden, trotz der Lumpen, die ich anhabe. Sei gegrüßt, Misoponus! MISOPONUS Das ist ja Irides!
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IRIDES Guten Tag, Misoponus. MISOPONUS Schweig, sage ich! IRIDES Was, willst du dich nicht grüßen lassen? MISOPONUS Nein, jedenfalls nicht unter diesem Namen. IRIDES Was ist denn passiert? Bist du nicht mehr derselbe, der du warst? Ändert sich mit dem Kleid auch der Name? MISOPONUS Nein, aber ich habe meinen alten Namen wieder angenommen. IRIDES Wie hießest du denn früher? MISOPONUS Apicius1. IRIDES Du brauchst dich deines alten Kameraden nicht zu schämen, wenn das Schicksal es inzwischen mit dir etwas besser gemeint hat; es ist noch nicht lange her, dass du zu unserer Zunft gehörtest. MISOPONUS Komm doch mal her, du sollst die ganze Geschichte hören. Ich schäme mich nicht eures Ordens, ich schäme mich des Ordens, dem ich zuerst angehört habe. IRIDES Von was für einem Orden redest du? Vom Franziskanerorden? MISOPONUS Ganz und gar nicht, mein Bester, ich meine den Orden der Brüder „Saus und Braus“. IRIDES In diesem Orden fehlt es dir weiß Gott nicht an Kumpanen. MISOPONUS Ich besaß ein ansehnliches Vermögen, ich habe es mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen. Als es durchgebracht war, kannte den Apicius keiner mehr. Ich schämte mich, mied hinfort die Gesellschaft dort und schloss mich eurer Gilde an; das war mir lieber als harte Knochenarbeit. IRIDES Das war klug von dir. Aber woher hast du mit einem Mal eine so straffe, glänzende Haut? Denn dass du ein besseres Tuch trägst, erstaunt mich nicht so sehr. […] MISOPONUS Weder durch Penia2 noch durch Diebstahl oder Raub kam ich dazu. Ich will dir aber zuerst über meine straffe Haut Auskunft geben, über die du dich vor allem wunderst. IRIDES Bei uns warst du ja ganz übersät mit Eiterbeulen! […] MISOPONUS Ich habe diesen ganzen Putz selbst angestrichen mit Weihrauch, Schwefel, Harz, Vogelleim, Lumpen und Blut. Als es mir an der Zeit schien, habe ich das Geschmier wieder heruntergeputzt. IRIDES O du Halunke! Keiner sah elender aus als du. Du hättest in einer Tragödie ohne weiteres die Rolle des Hiob spielen können. MISOPONUS Die bittere Armut brachte es damals so mit sich, doch pflegt das Glück einem manchmal sogar die Haut zu verändern.
1
M. Gavius Apicius war ein reicher römischer Feinschmecker aus dem 1. Jh. n. Chr. Unter seinem Namen gibt es ein Kochbuch (De re coquinaria libri X) aus späterer Zeit. 2 Die personifizierte Armut (griechisch: Penía), die Göttin der Bettler.
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IRIDES So erzähle also von deinem Glück! Hast du einen Schatz gefunden? MISOPONUS Nein, aber eine Erwerbsquelle, die ein wenig lohnender ist als die eure. IRIDES Wie konntest du einen Gewinn erzielen, da du kein Kapital hattest? MISOPONUS Die Kunst ernährt überall ihren Mann. IRIDES Ich verstehe ... du meinst die Beutelschneidekunst. MISOPONUS Verzapf keinen Unsinn! Ich rede von der Alchimie. IRIDES Kaum vierzehn Tage sind es her, dass du uns verlassen hast, und schon hast du dir eine Kunst zueigen gemacht, die andere kaum in vielen Jahren richtig erlernen? MISOPONUS Ich stieß zufällig auf einen Kurzlehrgang. IRIDES Ich bitte dich, auf was für einen? MISOPONUS Eure Kunst hatte mir ungefähr vier Dukaten eingebracht. Durch einen glücklichen Zufall traf ich auf einen alten Spießgesellen, der bei der Verwaltung seines Vermögens ebenso gescheitert war wie ich. Wir zechten miteinander, und wie es zu gehen pflegt, fing er an, von seinem neuen Glück zu erzählen. Ich versprach, ihn freizuhalten, wenn er mir seine Kunst verriete. Nach bestem Wissen weihte er mich in ihre Geheimnisse ein, die mir nun zu reichlichen Einkünften verhelfen. IRIDES Darf man diese Kunst nicht kennenlernen? MISOPONUS Aus alter Freundschaft will ich dir mitteilen, was ich weiß – und erst noch unentgeltlich. Es ist dir bekannt, dass man allerorten massenhaft Menschen findet, die auf diese Kunst geradezu versessen sind. IRIDES Ich habe davon gehört und glaube es. MISOPONUS Ich versuche bei jeder sich bietenden Gelegenheit, mich bei solchen Leuten einzuschmeicheln, und rühme ständig meine Kunst. Wenn ich merke, dass sie bereit sind anzubeißen, mache ich den Köder fertig. IRIDES Auf welche Weise? MISOPONUS Ich warne sie sogar, leichtfertig Vertretern dieser Kunst zu glauben; denn die meisten seien Betrüger und mit ihrem Zauberspuk allein darauf aus, Unvorsichtigen die Geldschatulle auszuräumen. […] IRIDES Von einem seltsamen Vertrauen in deine Kunst erzählst du mir da! MISOPONUS Ich fordere sie auf, während der Verwandlung anwesend zu sein und genau aufzupassen. Um ihre Zweifel möglichst klein zu halten, ersuche ich sie, das ganze Experiment eigenhändig durchzuführen, ich würde von ferne zusehen und es nicht einmal mit dem kleinen Finger anfassen. Ich heiße sie, die geschmolzene Masse sel-
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ber zu läutern oder sie beim Goldschmied läutern zu lassen. Ich sage voraus, wieviel Silber oder Gold heraus geklärt werden müsse, und wenn es schließlich herausgeklärt ist, heiße ich sie, das Gold bei verschiedenen Goldschmieden mit dem Prüfstein untersuchen zu lassen. Sie finden das vorausgesagte Gewicht, sie finden das lauterste Gold oder Silber; es spielt nämlich keine Rolle, ob der Versuch des geringeren Risikos wegen von mir mit Silber unternommen wird. IRIDES So ist also deine Kunst ganz frei von Schwindel? MISOPONUS Im Gegenteil, sie ist der reinste Schwindel! IRIDES Bis jetzt sehe ich noch keine Spur von Betrug. MISOPONUS Warte nur ab! Zuerst vereinbare ich meinen Lohn. Ich lasse ihn mir nicht auszahlen, bevor das kunstvolle Experiment abgeschlossen ist. Ich händige ihnen ein Pülverchen aus, als ob durch dessen Kraft die ganze Wirkung erzielt würde. Das Rezept zur Herstellung des Pulvers verrate ich nur, wenn sie es mir teuer bezahlen. Ich verlange von ihnen einen heiligen Eid, dass sie das Geheimnis der Kunst binnen sechs Monaten keiner sterblichen oder unsterblichen Seele ausplaudern. IRIDES Ich höre immer noch nichts von einem Betrug. MISOPONUS Der ganze Betrug liegt in einer Kohle, die ich zu diesem Zweck vorbereitet habe. Ich höhle sie aus und gieße so viel flüssiges Silber hinein, wie nach meiner Vorhersage gefunden werden soll. Nachdem das Pulver hineingestreut ist, stelle ich den Tiegel so hin, dass er nicht nur von unten und von den Seiten mit glühenden Kohlen umgeben ist, sondern auch von oben; ich rede ihnen ein, dass dies ein Bestandteil des Verfahrens sei. Unter die Kohlen, die oben darauf gelegt werden, mische ich eine bei, die das Gold oder Silber enthält. Durch die Glut des Feuers zum Schmelzen gebracht, rinnt es in die übrige Masse, die geschmolzen wird, sei es Zinn oder Bronze. Nach der Läuterung findet sich das, was ich beigemischt habe. IRIDES Eine leichte und bequeme Kunst! Aber wie führst du den Betrug aus, wenn ein anderer eigenhändig das ganze Experiment durchspielt? MISOPONUS Wenn er alles nach meinen Vorschriften ausgeführt hat, trete ich zuletzt hinzu, ehe der Alchimistentiegel entfernt wird, und sehe mich um, ob nicht vielleicht etwas vergessen wurde. Ich sage, es scheine mir, als ob oben noch die eine oder andere Kohle fehle, und lege heimlich die meine dazu. Ich tue so, als nähme ich sie vom Haufen der übrigen weg, doch habe ich sie vorher so dazu gelegt, dass niemand es merken konnte, und so gelingt mein Betrug. IRIDES Wenn sie aber den Versuch ohne dich machen und er misslingt ihnen, mit welcher Ausrede kommst du dann? MISOPONUS Von daher droht mir keine Gefahr, denn ich habe mein Honorar ja schon einkassiert. Ich erfinde irgendetwas und sage, der
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Tiegel sei verunreinigt gewesen oder die Kohlen von schlechter Qualität oder das Feuer zu wenig fachgerecht dosiert worden. Schließlich ist es ein Teil der Kunst, zu der ich mich bekenne, nie lange am selben Ort hängen zu bleiben. IRIDES Springt denn bei dieser Kunst so viel heraus, dass du davon leben kannst? MISOPONUS Ja, und erst noch glänzend! Auch du wirst nun, wenn du vernünftig bist, deinem Elend entsagen und dich unserem Orden anschließen. IRIDES Nein, eher will ich alle Hebel in Bewegung setzen, dich wieder in unsere Zunft zurückzuholen. MISOPONUS Damit ich freiwillig das wieder tue, dem ich ein für allemal entflohen bin, und das Gute im Stich lasse, das ich gefunden habe? IRIDES Unser Gewerbe hat die Eigenschaft, dass es einem umso lieber wird, je länger man sich daran gewöhnt hat. Während es viele gibt, die von der Regel des heiligen Franz oder Benedikt abspringen, hast du je einen gesehen, der nach längerer Mitgliedschaft unserem Orden untreu geworden wäre? Allein, in so wenigen Monaten konntest du kaum ein Pröbchen davon nehmen, was Betteln eigentlich ist. MISOPONUS Diese „Pröbchen“ haben mich gelehrt, dass es die allerelendeste Sache ist. IRIDES Warum gibt sie denn keiner auf? MISOPONUS Vielleicht, weil sie von Natur aus elende Memmen sind. IRIDES Ich möchte dieses Elend nicht einmal gegen das Glück der Könige eintauschen. Denn nichts ist dem Königtum ähnlicher als das Reich der Bettler. MISOPONUS Was höre ich da? Nichts ist dem Schnee so ähnlich wie die Kohle? IRIDES Sag mir, woraus erwächst in erster Linie das Glück der Könige? MISOPONUS Sie können tun, was ihr Herz begehrt. IRIDES Diese Freiheit, die köstlicher ist als alles auf der Welt, besitzt kein König mehr als wir. Ich zweifle nicht daran, dass viele Könige uns beneiden. Mag Krieg sein oder Frieden, wir leben unbehelligt: Wir werden nicht zum Kriegsdienst eingezogen, nicht zu Leistungen für die Öffentlichkeit aufgeboten, nicht vom Steueramt veranlagt, und wenn der Steuervogt dem Volk den letzten Heller auspresst, kräht kein Hahn nach uns. Ist eine Untat geschehen, selbst eine ziemlich scheußliche, wer wollte sich herablassen, einen Bettler vor Gericht zu ziehen? Selbst wenn wir uns an jemandem tätlich vergreifen, würde sich jeder schämen, gegen einen Bettler handgemein zu werden. Den Königen ist es weder im Frieden noch im Krieg vergönnt, ein so be-
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hagliches Leben zu führen; je höher einer gestellt ist, desto mehr Feinde hat er zu fürchten. Als ob wir Heilige Gottes wären, scheut sich das gemeine Volk auch aus einer Art religiöser Befangenheit heraus, uns zu nahe zu treten. MISOPONUS Aber unterdessen erstickt ihr im Schmutz eurer Lumpen und Fetzen. IRIDES Was hat das mit dem wahren Glück zu tun? Was du da sagst, betrifft nur das Äußere des Menschen. Diesen Lumpen verdanken wir unser Glück. MISOPONUS Aber ich befürchte, es wird euch innert kurzer Zeit ein gut Teil eures Glücks in die Binsen gehen. IRIDES Wieso? MISOPONUS Weil in den Städten schon davon gemunkelt wird, den Bettlern solle das Recht entzogen werden, nach Lust und Laune herumzustreunen, nein, jede Stadt solle ihre Bettler ernähren, und wer körperlich dazu imstande sei, solle zu Zwangsarbeit verpflichtet werden. IRIDES Warum will man denn diese Maßnahmen ergreifen? MISOPONUS Weil man dahintergekommen ist, dass unter dem Deckmantel der Bettlerei ungeheuerliche Schandtaten verübt werden, und weil kein geringer Schaden von eurem Orden ausgeht. IRIDES Solches Geschwätz habe ich schon oft gehört. Aber wird etwas geschehen? Ja, am Sankt-Nimmerleins-Tag! MISOPONUS Vielleicht aber schneller, als dir lieb ist. Quelle: aus Erasmus von Rotterdam, Vertrauliche Gespräche aus dem Lateinischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Kurt Steinmann. Copyright der deutschsprachigen Übersetzung © 2000 Diogenes Verlag AG Zürich Textausschnitt: 163–171.
138. Huldrych Zwingli: Wer Ursache zum Aufruhr gibt (1524) Zwingli fasste seine bedeutendste sozialkritische Schrift Ende 1524 ab. Er reflektiert darin unterschiedliche krisenhafte Entwicklungen: Zum einen begann im Juli 1524 die Bauernerhebung in der Nordostschweiz und in Süddeutschland, die bald bis nach Thüringen um sich griff. Zwingli wurde bezichtigt, Urheber des Aufruhrs der Bauern zu sein. Zum zweiten drohte die Spaltung der reformatorischen Bewegung in einen „moderaten“ und „radikalen“, täuferischen Flügel. Zum dritten drohte Zürich die politische Isolation, und in der Stadt verstärkte sich die Wirtschaftskrise, die mit Inflation und massenhaften Zehnt- und Zinsverweigerungen einherging. Angesichts der sich überschneidenden Krisen rechnet Zwingli zum einen in scharfer Weise mit den hohen kirchlichen Würdenträger, den Klerikern von geringerem Stand sowie den „Fürsten, Mächtigen und Reichen dieser Welt“ als den „eigentlichen Aufrührern“ ab. Selbstsucht, Gier, Heuchelei, Ausbeutung – so lauten die harschen Anschuldigungen des Reformators. Bischöfe, Äbte und Fürsten vermischen geistliche und weltliche Aufgaben und werden durch Eigentums- und Geldgeschäfte korrumpiert. Sie erfüllen daher nicht ihre in Gottes Wort begründeten Aufgaben, sondern verhindern vielmehr Reformen und provozieren gewaltsamen Widerstand. Zum anderen ruft Zwingli die staatlichen Repräsentanten zu weitreichenden, aber auch gangbaren Reformen auf. Er dringt u.a. darauf, die religiösen Orden abzuschaffen, die Klöster aufzuheben und in „Herbergen der Armen“ umzuwandeln sowie den Kirchenzehnten für die Armenfürsorge zu verwenden. Diese Reformvorschläge kennzeichnen in Ansätzen das soziale Denken und Handeln des Züricher Reformators. Zwingli übertrug in der Perspektive der christlichen Gesellschaft der Obrigkeit die prinzipielle Verantwortung für die Sozialfürsorge, die sie vor Gott ausüben sollte. Zweiter Teil: Wer die eigentlichen Aufrührer sind Dieser Teil wird von den eigentlichen Aufrührern handeln, die freilich nicht so genannt sein wollen, sondern diese Bezeichnung auf andere übertragen. II.1. Die ersten sind die hohen Bischöfe. […] So tun sie von allem, was sie Gott zu tun heißt, das Gegenteil. Gott beauftragt und sendet sie zu predigen – doch sie predigen nicht. […] Weiter: Gott gebietet,
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nicht zu herrschen1 – sie aber übertreffen die heidnischen Fürsten an Tyrannei. Gott verbietet ihnen Brotsack und Geldsäckel2 – sie aber schinden und raffen zusammen, prägen eigenes Geld und treiben Wechselgeschäfte und tun alles, was irgend Geld bringt; sie haben große Vermögen und teilen sie nicht mit den Armen. […] II.2. Die anderen sind der Rest der kläffenden Priester, Mönche, Nonnen und – allen voraus – der Äbte. Wie man an ihren Worten und Taten klar erkennt, tun auch sie nichts anderes als Aufruhr veranstalten. [...] Von den Äbten müssen wir zuerst reden. Sind nicht auch sie Mönche? Was bedeutet „monachus“? Ein Einsiedler. Sieh an, was für schöne Einsiedler sie sind! Nicht nur leben sie inmitten der Welt, sondern fast die ganze Welt ist ihr Eigentum geworden. Zweifellos gebührt es einem Einsiedler nicht, mit so vielen Pferden, Knechten, Prunk oder Schmuck einherzureiten, wie sie es zu tun belieben. Diese Äbte haben bei dem Papst und den Fürsten Zehnten und Reichtümer entweder erbettelt oder erheuchelt – das will ich mit ihren eigenen Urkunden beweisen –, bis sie so viel zusammenrafften, dass sie damit andere Zehnten und Güter, ja Land und Leute gekauft haben. […] Es spricht auch das Ziel, das die Mönchsorden verfolgten, dafür, dass ihr Treiben nie etwas anderes als eine Vortäuschung war; denn sie beklagten ihre Armut und stellten den Reichtümern nach – mit geistlicher Tarnung und Kleidung, als ob sie die Reichtümer verachten würden. Seit sie nun reich geworden sind, tragen sie zwar noch die Kutte, aber sie füllen diese inwendig mit so viel Ausschweifung, Ehrsucht und Maßlosigkeit an, dass sie aus allen Nähten platzt, und alle Menschen ihren Hochmut hervorquellen sehen. […] Was wird jetzt aber aus der Ordensregel der Mönche, die ja auch irgendwo in den päpstlichen Rechtsbestimmungen sich findet: „Monasteri monachorum sunt xenodochia pauperum“, das heißt: Die Klöster der Mönche sind die Herbergen der Armen? Was da existiert, sind vielmehr „xenodochia militum“, sprich: Kriegslazarette. Wo aber beherbergen sie die Armen? Oh, sprechen sie, wir geben große Almosen. Ja, wirklich „große“ gemessen an ihrem Geiz, denn es ist ein Wunder, wenn dieser sie noch so viel hergeben lässt. Aber beachte nun, wie groß diese Almosen sind! Ist es eine gekochte Speise, so wollten es zuvor die Jagdhunde nicht fressen und nicht die Schoßhündchen, denn sonst hätte man es den Armen nicht gereicht. Es muss ein Überrest der Mahlzeit sein, in welchem schon der Speichel mit Löffeln verrührt worden ist. Und für diesen Abfall muss der Arme vor dem 1 2
Vgl. Lk 22,26. Vgl. Lk 9,3.
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Tor frieren oder so viel Weg- und Arbeitszeit vergeuden, dass er auf den Genuss der ungenießbaren Brühe besser verzichtete, wenn nicht quälender Hunger ihn triebe. Wie wollen sie es am Jüngsten Tag verantworten, dass sie Christus mit solchem Auswurf abgespiesen haben? Denn er wird ihnen das, was den Seinen angetan wird, anrechnen, als ob es ihm selber angetan wurde.3 Lassen sie aber einmal frische Kost auftischen, ist diese so kraft- und geschmacklos, dass man sieht, dass sie keinerlei Liebe zu den Armen haben. […] II.3. Die dritten eigentlichen Aufrührer sind die Fürsten, Mächtigen und Reichen dieser Welt. Diese haben viele Gründe zum Aufstand, wie sie meinen. Dieser Vorwurf gilt nicht dir, redlicher Mann! – wie in der Vorrede genügend verdeutlicht wurde. Die Fürsten, Adligen und Regenten sehen aber, dass ihnen die sicheren Einkommen, die sie aus Bistümern, Domstiften, Abteien bezogen haben, nun genommen werden sollen. Weshalb sie so laut und öffentlich aufschreien: „Ach!“ Es geht ihnen ja auch nicht von ungefähr an den Kragen! Als die Dome, Stifte und Klöster anfänglich errichtet wurden, wurden sie dazu verpflichtet, alles zu lehren, was dem Verstehen des göttlichen Wortes diene, und darüber hinaus, den Armen Aufenthalt zu gewähren. Daraufhin sind die Einkünfte so stark angewachsen, dass Adel und Fürsten deutlich zu spüren bekamen und gesehen haben, dass bald alle Reichtümer und Besitztümer den Geistlichen gehörten. […] Adel und Fürsten griffen deshalb ein und eigneten sich die reichen Domstifte und Klöster an, mit des Papstes Erlaubnis, der das gerne bewilligte, damit seine Herrschaft umso mehr verwurzele und befestige: nun mit Hilfe der weltlichen Fürsten. […] Ich will von den unzähligen Abgaben und Sondersteuern schweigen, die ihr täglich eurem Volk auferlegt. Muss der Herrscher 4000 Gulden für einen Reichstag aufbringen, treibt er es sogleich von seinen Untertanen ein. Ja einige überwälzen geradezu die doppelte Summe auf sie. Dergleichen trickreiche Machenschaften aber wollen wir mit Schweigen übergehen und vom Unwesen der nicht mehr zu ertragenden landesweiten Zins- und Steuerlasten reden. Eure eigenen Rechtsbestimmungen verbieten die „monopolia“, das heißt: die Alleinverkaufsrechte, wo einer allein über eine Ware verfügt. Dennoch sind nahezu alle Waren in die Verfügungsmacht einiger Alleinhändler gekommen. Selbst wenn eine arme Schwangere zur Niederkunft Kindbettpulver kaufen will, kann sie schwerlich umhin, den Spekulanten eben so viel als Gewinnaufschlag zu zahlen, wie das Pulver wert ist. Damit häufen diese solche Reichtümer an, dass sie all das Bargeld, das in den Händen der Welt im Umlauf ist, an sich zu bringen ver3
Vgl. Mt 25,40.45.
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mögen. Könnt ihr nicht an den nächtlichen Glücksspielen erkennen, wie es zuletzt damit enden muss? Wenn zwei des Nachts spielen, erhöhen sie nach und nach ihre Einsätze. Am Morgen, wenn das Spiel aus ist, hat der Bankhalter den Gewinn, und trieben sie es endlos so weiter, fiele all ihr Geld dem Bankhalter zu. Genauso ziehen auch die Monopolisten nach und nach alles an sich, und wird ihnen das Wasser nicht abgegraben, so werdet auch ihr mit euren Untertanen ihr Eigentum. Dass ihr aber von ihnen Steuern abschöpft wie von den Bienenstöcken, hat zur Folge, dass ihr Gejammer bei euch Gehör findet. Da ihnen das Evangelium nichts einbringen wird, können sie sich ganz manierlich bei euch beklagen und behaupten, es sei eine schädliche Sache, und darin werde angedroht, man werde ihnen ihr ganzes Vermögen entreißen. Darauf kommt es ihnen vor allem an! Man lernt im Evangelium ja nur, maßvoller zu leben als vorher, und das trägt in der Tat nicht so viel Gewinn ein wie ein gottloses Leben. Das Evangelium stellt sie denn auch nur den Zöllnern gleich. Und das können die säuberlich gezapften Gesellen nicht ertragen. „Regina pecunia“ [Königin Geld]! Das Geld hat seit einiger Zeit alles vermocht und bewirkt, dass auch ihr gottloses Gewinnstreben und Geldgewerbe nicht für unanständig gehalten wird. Nun aber wird's anders werden, und daher lasst ihr euch von jenen aufhetzen. Ihr nehmt die unverschämtesten Spekulationen des Geldmarktes hin. Heute können Bankiers das Gold billig an sich bringen, bald wieder bringen sie es umso teurer auf den Markt, und ihre Preise sinken und steigen nicht anders als die Gezeiten des Meeres. Besitzen sie das kursierende Kleingeld, halten sie damit zurück, bis sie das Goldgeld zum Spottpreis an sich bringen. Ist dieses erst eingebracht, wenden sie dasselbe Verfahren an, bis man ihnen das Gold zum Höchstpreis abkaufen muss. […] Fragt ihr nun: „Was geht denn das das Evangelium an?“ Viel, auf jeden Fall! Denn wenn ihr den Wucherern ganz und gar verpfändet werdet, müsst ihr von Tag zu Tag neue Zölle, Kniffe, Abgaben und Steuern aushecken, und es können dennoch weder ihr noch euer Volk sich der letzten Ausplünderung erwehren. Was geschieht aber, wenn man diejenigen nun mit Gottes Wort überführt, die das Gottesvolk unterdrücken und gegen Gottes Willen und alle Gerechtigkeit peinigen? Wie Jesaia 10,1–3 aufschreit: „Wehe denen, die ungerechte Gesetze machen. Sie haben das Unrechte aufgesetzt, um damit die Armen vor Gericht zu belasten und den Geringen meines Volkes Gewalt anzutun, so dass die Witwen ihre Beute werden und sie die Waisen plündern. Was wollt ihr tun am Tag der Heimsuchung und gegen das Übel, das von ferne naht?“ Sobald man diese oder andere Worte vorträgt, sprecht ihr, man sei „lutherisch“, man wolle Aufruhr machen etc. Dabei will doch Gott, dass die Propheten solches Unrecht nicht verschweigen. Denn verschweigen sie es, so geschieht es entweder,
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weil sie von der Räuberei profitieren, oder aber auf dieselbe Weise an einem anderen Ort Unrecht tun. Denn eine solche Missachtung des christlichen Gemeinwesens kann allein aus der Gottlosigkeit stammen, wie Psalm 52,2.5 deutlich zu lernen ist, wo es heißt, dass jene, die in ihren Herzen sprechen, es sei kein Gott, sein – nämlich Gottes – Volk fressen und verschlucken wie das Brot. Nun sollen aber die Propheten gegen alle Gottlosigkeit aufstehen und das Gottesvolk befreien – oder es werden die umgekommenen Schafe von ihnen zurück gefordert. […] Dritter Teil: Wege zu Einigkeit und Frieden […] III.1 Damit wollen wir bei den zuletzt Genannten anfangen: den Repräsentanten der Staatsgewalt. Durch deren Zutun – wenn Gott Gnade geben wird – werden christliches Leben und Friede viel ruhiger einkehren, als wenn sie durch Volksaufstand erkämpft werden müssen. Dazu muss aber der Beginn des Unternehmens von Gott ausgehen, damit er ihnen ihre Herzen erleuchte, so dass sie ihn erkennen und fürchten. Denn wo die Liebe zu Gott und Gottesfurcht nicht sind, da gibt man nicht Acht, wie es den Kindern Gottes ergehe. […] Wohlan, so wollen wir euch gar Wege zeigen, wo ihr entdecket werdet, dass euer eigener Nutzen nicht abnehmen, sondern zunehmen wird. III.2 Das Papsttum muss abgeschafft werden – oder aber es duckt sich nur bis zur nächsten Gelegenheit, wo es das Evangelium wieder unterdrückt. […] Was die Nonnenklöster betrifft, so lasst keine Frau gehen, bevor sie eine anständige Unterkunft hat. Sorgt dafür, dass die Klöster zu Herbergen der Armen gemacht werden. Man verwalte sie in der Weise, dass die Güter den Armen und den öffentlichen Bedürfnissen dienen. Wollen aber junge Frauen sich weiterhin von der Welt absondern, so soll ihr Gut nicht in ihren Händen verbleiben, sondern man versehe sie nur ausreichend mit dem Nötigen, lasse sie nicht ohne Arbeit und erteile ihnen die Erlaubnis zu heiraten – denn sonst wird das Klosterwesen nie wirklich reformiert und es würde mit der Zeit in der alten Üppigkeit verkommen. Reiche und bettelnde Mönche, ja den gesamten Klerus soll man ganz und gar aussterben lassen, mit Ausnahme jener, die zur Verkündigung des Gotteswortes benötigt werden. An Stelle der Verstorbenen sollen keine anderen Mönche aufgenommen werden. Dies wird dem Papsttum ein weiteres Standbein abbrechen. Die Habgierigen sorgen sich dann umsonst, sie könnten ihre Kinder künftig nicht hinreichend versorgen. Denn ihre Vermögen müssen sie hier zurücklassen – man
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wird sie recht zu gebrauchen wissen. Und wenn auch nicht mehr den Kindern der Reichen und Machthaber, werden sie nun den Armen zufallen. Das aber kommt letztlich auch den Wohlhabenden zugute, denn je weniger Arme es gibt, desto mehr kann den Wohlhabenden zufließen. Kurz, das Aussterben der unnötigen Geistlichen schadet der Welt nichts. Es erzieht vielmehr zum Arbeiten, entzieht dem Müßiggang und damit vielen Lastern den Boden und ersetzt sie durch gottwohlgefällige Gepflogenheiten. […] Wo nun die Zehnten, wie eben bemerkt, aus den Kirchgemeinden abgeführt werden, ist zuerst dafür zu sorgen, dass jene, die sie abführen, die Pfarrer mit einem angemessenen ortsüblichen Lebensunterhalt versehen. Letztere sollen sich nicht mit Bitten, Betteln und Lügen am Leben erhalten müssen, so dass man die entsprechenden Opfergaben ganz und gar abschaffen und für die Armen verwenden kann. Denn wenn man diese Opfergaben nicht abschafft, wird der Habsucht nichts zu viel sein, sie wird immer neue Lügen ausdenken, damit man Opfergaben herbeischaffe. Darum muss man der Habsucht entgegenwirken mit einem angemessenen Unterhalt aus den Zehnten, wogegen auch diejenigen, die den Zehnten abführen, selbst nach den päpstlichen Rechtsbestimmungen nichts einwenden können. Darnach muss man die Zehnten loskaufen, damit sie wieder der örtlichen Kirchgemeinde zukommen. Da wird sich herausstellen, dass der größere Teil der Zehnten verkauft sind. Deshalb sollte man jedem Käufer sein Anlagekapital zurückerstatten oder sonst wie mit ihm übereinkommen, ja vielleicht einige Äcker oder anderes Kirchengut zur Abfindung der Zehntenrechte geben, damit sich niemand zu Recht einer Unverhältnismäßigkeit beklagen kann. Es ist auch der Einwand nicht angebracht: Jene hätten lange genug profitiert, so brauche man ihnen nichts mehr zurückzuerstatten. Denn das sagst nur du, aber der Richter urteilt anders. Und es steht keinem Christen zu, jemandem Gewalt anzutun. Man wird es aber auch leichter haben, die Zehntenrechte zu tauschen, wenn die Mönche und Stifte einmal verschwunden sind, und darüber können die Kirchgemeinden sich einig werden. Quelle: Huldrych Zwingli, Wer Ursache zum Aufruhr gibt, in: ders., Schriften I. Im Auftrag des Zwinglivereins, hg. v. Thomas Brunnschweiler/Samuel Lutz, Zürich 1995, 373, 379–384, 389–392, 401, 404, 406f., 411. © Theologischer Verlag Zürich
139. Juan Luis Vives: Über die Unterstützung der Armen (1526) Der christliche Humanist, Philosoph, Bildungs- und Sozialtheoretiker Juan Luis Vives wurde 1492 in Valencia geboren. Vives studierte 1509 bis 1512 Philosophie und Theologie an der Pariser Sorbonne und setzte seine Studien in Brügge fort. Die flämische Handelsstadt wurde für ihn trotz längerer Aufenthalte in Löwen, Paris, Oxford und London zu seiner Heimat. In Löwen, wo er eine Lehrerlaubnis an der Universität erhielt, lernte er Erasmus von Rotterdam (s. Text 137), die zentrale Gestalt des europäischen Humanismus, kennen, mit dem er fortan immer wieder zusammenarbeitete. 1523 übernahm Vives eine Stelle als Lektor für Griechisch in Oxford, 1527 wurde er zum Erzieher der englischen Prinzessin Mary (1516–1558) ernannt. In England wandte sich Vives unter dem Einfluss insbesondere von Thomas Morus (1485–1547) und dessen Utopia sozialpolitischen Themen zu. Nach Konflikten mit König Heinrich VIII. (1491–1547) kehrte er nach Brügge zurück, wo er 1540 starb. Vives programmatische Abhandlung De subventione pauperum (Über die Unterstützung der Armen) erschien Anfang 1526 in Brügge. Der Straßburger Reformator Kaspar Hedio (1494–1552) übersetzte sie 1533 ins Deutsche. Auch Kaiser Karl V. war von der Schrift beeinflusst (s. Texte 144; 145). Gewidmet ist der Traktat dem Bürgermeister und dem Rat von Brügge. Insbesondere vor dem Hintergrund der Praxis der Armenfürsorge in den flämischen Städten Brügge und Ypern entwirft Vives ein Konzept eines christlichen Gemeinwesens, das durch den Geist der Liebe, sozialen Frieden, gegenseitige Hilfe und öffentliche Sicherheit bestimmt ist. Das Werk ist charakterisiert durch seine systematische Anlage, ausgeprägte geschichtliche, philosophische und biblische Begründungszusammenhänge, deutliche Praxisrelevanz und eine hohe literarische Qualität. Vives Schrift gliedert sich in zwei Teile: Das erste Buch handelt von der privaten Wohltätigkeit, d.h. davon, wozu jeder Mensch und zumal jeder Christenmensch verpflichtet ist. Im zweiten Buch legt Vives Grundzüge staatlicher, d.h. vor allem städtischer Sozialverantwortung dar. Das städtische Handeln ist vor allem durch Armut, Krankheit, Kriminalität und Auflehnung herausgefordert. Was die Finanzierung der Unterstützung der Armen betrifft, so sieht Vives – im Unterschied zu reformatorischen Sozialinitiativen – grundsätzlich keine Einbeziehung des Kirchenguts vor. Er rät, die Einnahmen der Spitäler teils umzuwidmen, teils besser zu verteilen. Erbschaften, Kirchenspenden aus Opferstöcken sowie Einzelspenden reicher Bürger treten
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hinzu. In Ausnahmefällen ist auch der Einsatz öffentlicher Mittel denkbar. Letztlich kommt es vor allem auf die effektive Verwendung der Mittel an. Das katholisch-humanistische Konzept verfolgt eine konsequente Arbeitspflicht. Es sieht an individuelle Fähigkeiten angepasste Arbeitsvermittlungen und ggf. städtische Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vor. Die öffentliche Unterstützung von Armen hat eine differenzierte Bedürfnisprüfung zur Voraussetzung und zielt auf pädagogisch motivierte Explorationen des Lebenswandels, um die Armen durch die zivilisierende Kraft der Arbeit besser zu fördern. Bemerkenswert erscheint u.a., wie differenziert Vives Blinde und „Geisteskranke“ in seine Überlegungen einbezieht und wie weit gefasst sein Begriff von Armut ist. Armut schließt materielle, psychische und soziale Bezüge ein. Armut stellt dabei eine Konkretion der Bedürftigkeit dar, die als Grundsituation des Menschen gilt. Buch 1: Private Wohltätigkeit oder wozu jedermann verpflichtet ist. […] Die Bedürfnisse der Menschen. […] So ist der ganze Mensch innerlich und äußerlich hilfebedürftig geworden; das ist der gerechte Lohn für sein Unterfangen, Gottgleichheit zu beanspruchen. Die Selbstüberschätzung des bevorzugtesten Wesens scheiterte, so dass es nichts Schwächeres und nichts Hilfloseres gibt. Sein ganzes Leben und Wohlbefinden hängt von fremder Hilfe ab, zum einen um die Wurzel der Überheblichkeit, die von den Urvätern auf die nachkommen vererbt wird, zu unterdrücken, zum anderen im Einzelfall durch Gottes verborgenen Plan, dass den einen das Geld fehlt, den anderen, die nicht damit umgehen können, der gesunde Menschenverstand. Manchen hilft diese Bedürftigkeit, große Tugenden zu entwickeln. Denn alles weiß der Herr und Lenker dieser Welt, der weiseste und liebevollste Vater, zu unserem Nutzen zu wenden. Wer also fremder Hilfe bedarf, ist arm und braucht Mitleid, was auf Griechisch Almosen heißt; das bedeutet nicht nur Geldspenden, wie die Leute glauben, sondern jede Leistung, die menschliche Not lindert. Wie soll man Wohltätigkeit üben? […] Wie man also nicht nur etwas zu essen geben muss, wenn der ganze Mensch ringsum Hilfe braucht, so dürfen sich unsere Wohltaten nicht allein auf Geld beschränken. Man muss Gutes tun mit geistigen Gaben wie Wünschen, Rat, Klugheit, Lebensregeln, mit den Möglichkeiten des Körpers, wie körperlicher Anwesenheit, Warten, Kraft, Arbeit, Fürsorge, mit äußeren Werten, wie Stellung, Einfluss,
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Gunst, Freundschaft, Geld – darunter möchte ich alles verstehen, was man für Geld bekommt. Welche Mittel einer hat, mit denen soll er helfen und denen nutzen, die ihrer bedürfen, keinem – so viel an ihm liegt – schaden, es sei denn, er nutze auf diese Weise jenem ersten Gut, d.h. der Rechtschaffenheit. Aber das wird man nicht schaden nennen; denn man muss einem jeden geben, nicht was er fordert, sondern was ihn fördert. Dazu muss notwendig der, dem die Entscheidung obliegt, einen völlig klaren Kopf haben. […] Frömmigkeit und Christentum kann es ohne gegenseitiges Einander-Gutes-Tun nicht geben. […] Aber ich sehe fürwahr nicht, woher wir die Stirn nehmen, uns als Christen zu bezeichnen, da wir nichts von dem zu bieten haben, was Christus als erstes und einziges befohlen hat. Die heidnischen Philosophen hatten als ihr Zeichen, an dem man sie erkannte, nackte Füße, wie Gregor von Nazianz bezeugt, und schäbige Kleider; die Juden haben die Beschneidung; Soldaten im Krieg haben ihre Feldzeichen, Schafe sind gekennzeichnet, Waren ebenso. Hat Christus kein Zeichen, mit dem er die Seinen kennzeichnet und von den Fremden absetzt?1 Daran, sagt er, werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt. Und wenig später: Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt.2 Das ist die Hauptsache, dies ist das erste Dogma. […] Buch 2: Wie weit ist die Armenfürsorge Sache der Staatsführung? Bis jetzt [ging es darum], was jeder Einzelne tun muss; nun folgt, was der Staat öffentlich tun muss und sein Lenker, der in ihm das ist, was die Seele im Körper. Sie bewegt oder belebt nicht nur den einen oder andern Körperteil, sondern den ganzen Körper; so darf die Verwaltung in ihrem Gemeinwesen nichts unversorgt lassen. Denn wer sich nur um die Reichen kümmert und die Armen übergeht, handelt so, wie wenn ein Arzt nicht viel Wert darauf legte, den Händen oder Füßen zu helfen, weil sie weit vom Herzen weg sind. Wie dies nicht ohne schweren Schaden für den ganzen Menschen geschähe, so können auch im Staat die Schwächeren nicht vernachlässigt werden ohne Schaden für die Mächtigen. Denn unter dem Druck der Not müssen sie zum Teil stehlen, was zu wissen der Richter nicht hoch achtet, aber dies ist noch gering. Sie beneiden die Reichen. Sie murren und entrüsten sich, dass die übrig haben, wovon sie Narren, Hunde, Dirnen, Maulesel, Pferde und Elefanten füttern, sie aber nicht haben, was 1 2
Vgl. Joh 13,35. Joh 15,12.
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sie ihren hungernden kleinen Kindern geben könnten; dass die hochmütig und achtlos mit dem Reichtum umgehen, den sie ihnen und ihresgleichen weggenommen haben. Es ist kaum zu glauben, wie viele Bürgerkriege solche Worte erregt haben, und zwar quer durch alle Völker, bei denen die erregte und vor Hass lodernde Menge allem voran ihre Wut an den Reichen ausließ. […] Die Römer hatten einst so für ihre Bürger gesorgt, dass niemand es nötig hatte zu betteln, es auch nicht erlaubt war; schon seit dem Zwölftafelgesetz war es verboten. Dieselben Vorsichtsmaßregeln traf das Volk von Athen. Der Herr gab dem jüdischen Volk ein besonderes, hartes, strenges Gesetz, weil es ein Volk von eben dieser Gesinnung war. Und trotzdem befiehlt er im Deuteronomium, sie sollten sich anstrengen, sich Mühe geben,3 dass unter ihnen kein Bedürftiger und Bettler sei, besonders im Brachjahr,4 das dem Herrn angenehm ist, in welchem die immer leben, für die der Herr Jesus begraben wurde mit dem Gesetz, den Bräuchen und dem alten Menschen, und auferstanden ist zur Erneuerung des Lebens und des Geistes. Es ist in der Tat schimpflich und beschämend für uns Christen, denen nichts mehr aufgetragen ist als die Liebe, ja vielleicht als einziges überhaupt, dass man in unseren Staaten so viele Arme und Bettler auf Schritt und Tritt antrifft. Wohin man sich wendet, gibt es Not und Bedürftigkeit und Menschen, die die Hand ausstrecken müssen, um etwas zu bekommen. […] Sammlung und Registrierung der Armen. […] Von den Armen leben die einen in Häusern, die man gemeinhin Spitäler nennt – auf Griechisch Armenkrippen, aber wir wollen das gebräuchlichere Wort verwenden –, andere betteln öffentlich; wieder andere ertragen, so gut sie können, jeder zu Hause ihre Not. Spitäler nenne ich, wo die Kranken Essen bekommen und gepflegt werden und wo eine bestimmte Anzahl von Armen unterhalten wird, wo die Knaben und Mädchen unterrichtet und ausgesetzte Kinder aufgezogen werden, wo geistig Behinderte verwahrt werden und wo Blinde leben. Die Staatslenker müssen wissen, dass all dies zu ihrer Sorgepflicht gehört. Niemand soll die Gesetze der Gründer vorschützen, sie werden unverletzt weiter bestehen. In ihnen ist nicht der Wortlaut ausschlaggebend, sondern die Billigkeit, wie in ehrlichen Verträgen, und der Wille, wie bei Testamenten. Er lautet so, darüber besteht kein Zweifel, dass die Hinterlassenschaft zu möglichst gutem Gebrauch 3 4
Dtn 15,4. Vgl. Dtn 15,1ff.
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verteilt und da aufgewandt wird, wo es am sinnvollsten ist. Durch wen oder auf welche Weise es geschehen sollte, kümmerte sie nicht so sehr, als dass es geschehen sollte. […] Zur Kontrolle sollen zwei Ratsherren jedes dieser Häuser mit einem Schreiber aufsuchen, die Vorräte verzeichnen und Anzahl und Namen derer, die dort unterhalten werden, außerdem aus welchem Grund ein jeder dorthin gekommen ist. Dies alles sollen sie den Bürgermeistern und dem Rat ins Rathaus bringen. Die zu Hause ihre Armut ertragen, sollen von zwei Ratsherren nach den einzelnen Bezirken mit ihren Kindern verzeichnet werden. Ihre Bedürfnisse soll man hinzufügen, auf welche Art sie früher gelebt haben, und durch welchen Unglücksfall sie in Armut geraten sind. Von den Nachbarn wird man leicht erfahren, was für eine Sorte Menschen sie sind, was für ein Leben, was für Sitten sie haben. Ob einer arm ist, soll man sich nicht von einem Armen bestätigen lassen; denn er ist nicht frei von Neid. Über all das sollen Bürgermeister und Rat unterrichtet werden. Wenn jemand plötzlich ins Unglück gerät, soll er das durch einen Ratsherrn dem Rat anzeigen und nach seinen persönlichen Voraussetzungen und den äußeren Umständen soll über ihn entschieden werden. Schließlich sollen von den wohnsitzlosen Bettlern diejenigen, die gesund sind, vor dem ganzen Senat ihren Namen angeben und den Grund ihres Bettelns, und zwar unter freiem Himmel oder auf einem Platz, damit dieses Geschmeiß nicht in den Sitzungssaal hereinkommt, die Kranken vor zwei oder vier Ratsherren und einem Arzt, damit dem Rat dieser Anblick erspart bleibt. Man soll sie nach Zeugen fragen, die über ihren Lebenswandel Auskunft geben können. Denen, die der Rat mit der Prüfung und Durchführung dieser Dinge beauftragt, soll er Macht verleihen, zu verlangen und zu verbieten bis hin zur Möglichkeit, ins Gefängnis zu werfen, damit der Rat Gericht halten kann über diejenigen, die nicht gehorsam waren. Wie man allen ihren Lebensunterhalt verschaffen soll. Vor allem muss man das zur Leitlinie machen, was der Herr dem Menschengeschlecht gewissermaßen als Strafe für sein Vergehen auferlegt hat, dass ein jeder sein Brot esse, das er sich mit seiner Arbeit verschafft hat. Wenn ich Essen, Sich-Ernähren oder Unterhalten sage, will ich nicht nur Speise darunter verstanden wissen, sondern auch Kleidung, Wohnung, Brennholz, Licht, schließlich all das, was zum Lebensunterhalt des Körpers gehört. Keiner unter den Armen soll also müßig sein, soweit er aufgrund seines Alters oder seiner Gesundheit arbeiten könnte. Der Apostel Paulus schreibt an die Thessalonicher: Denn als wir bei euch waren, ha-
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ben wir euch die Regel eingeprägt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.5 […] Auf Gesundheit und Alter muss man Rücksicht nehmen, aber so, dass sie nicht durch Simulieren von Krankheit oder Schwäche Eindruck machen. Das passiert nicht selten. Man wird deshalb einen Arzt befragen, und wer täuscht, soll bestraft werden. Von den gesunden Bettlern soll man die Fremden in ihre Heimatgemeinden zurückschicken, was auch durch kaiserliches Recht gesichert ist. Aber man soll ihnen ein Wegegeld mitgeben; denn es wäre unmenschlich, einen Armen ohne Wegzehrung auf die Reise zu schicken, und wer das täte, was täte er anderes, als den Befehl zum Rauben geben? Vor ihren Verwandten und Freunden werden sie sich einerseits ihrer Faulheit und ihres schimpflichen Lebens wegen mehr schämen, andererseits werden sie dort leichter Hilfe finden als draußen. Wenn sie aber aus Dörfern oder Städtchen sind, wo Krieg ist, dann muss man bedenken, was Paulus lehrt, dass es unter den in Christi Blut Getauften keinen Griechen, Barbaren, Franzosen oder Flamen gibt, sondern eine neue Schöpfung. Man soll sie wie Leute von hier behandeln. Die Bettler von hier soll man fragen, ob sie irgendetwas können. Die nichts gelernt haben, soll man, soweit sie im passenden Alter sind, ausbilden, wozu sie sich am meisten geneigt zeigen, sofern dies möglich ist. Wenn nicht, zu etwas Ähnlichem, so dass, wer nicht Kleider nähen darf, so genannte Schaftstiefel näht. Wenn er keine Neigung zeigt oder gar zu unbegabt ist, soll man ihm etwas Leichteres zuweisen, am Ende das, was jeder in wenigen Tagen erlernen kann: Graben, Wasserschöpfen, Lastentragen, einen Karren ziehen, der Behörde dienen, Amtsbote sein, Briefe und Erlässe irgendwohin befördern, Pferdekutschen führen. Die auf hässliche Art und durch schändliches Fehlverhalten ihr Vermögen durchgebracht haben, zum Beispiel beim Spiel, mit Dirnen, durch Luxus, Völlerei, die soll man zwar ernähren, denn durch Hunger darf niemand getötet werden, im Übrigen soll man ihnen aber lästigere Arbeiten zuweisen und einen dürftigeren Lebensunterhalt, damit sie den anderen als Beispiel dienen und selbst Reue über ihr früheres Leben empfinden, dass sie nicht so leicht in die alten Fehler zurückgleiten, woran sie auch durch die Dürftigkeit des Lebensunterhalts und die Härte der Arbeit gehindert werden. Man soll sie nicht gerade hungern lassen, aber doch kurz halten. Für sie alle wird es nicht an Werkstätten fehlen, in die sie aufgenommen werden. Schafzüchter, die eine Wollspinnerei betreiben, überhaupt die allermeisten Handwerker, klagen über einen großen Mangel 5
2Thess 3,10–12.
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an Arbeitskräften. Die Seidenweber in Brügge würden Kinder einstellen, nur damit sie bestimmte Räder drehen, und diesen würden sie täglich ein paar Groschen mehr oder weniger zusätzlich zum Essen geben, und können doch keine finden, die das tun; denn ihre Eltern sagen, sie brächten vom Betteln mehr nach Hause. Aber durch öffentliche Verfügung soll den einzelnen Handwerkern eine gewisse Anzahl von Leuten zugeordnet werden, die von sich aus zu keiner eigenen Werkstatt gelangen könnten. Wenn einer in seinem Handwerk Fortschritte macht, soll er eine Werkstatt aufmachen. Dann soll bei diesem, wie auch bei jenen, denen die Behörde Lehrlinge zugewiesen hat, das in Auftrag gegeben werden, was von der Stadt öffentlich genutzt wird. Das ist mancherlei, z.B. Bilder, Statuen, Gewänder, Abwasserkanäle, Gräben und Gebäude, schließlich das, was man für die Spitäler braucht, damit das Geld, das am Anfang für die Armen gegeben wurde, auch von den Armen verbraucht wird. […] Diejenigen, denen man bisher weder einen Herrn noch ein Haus verschaffen konnte, sollen eine Weile an einem bestimmten Ort von Almosen ernährt werden. Aber sie sollen in dieser Zeit nicht weggehen, damit sie durch den Müßiggang nicht Faulheit lernen. In demselben Haus soll man auch gesunden Durchreisenden ein Mittag- oder Abendessen geben und ein gewisses Wegegeld, das bis zur nächsten Stadt ausreicht, wohin ihre Reise geht. Die in den Spitälern gesund sind und dort festsitzen, sich wie Drohnen an fremdem Schweiß gütlich tun, sollen weggehen und zur Arbeit geschickt werden, es sei denn, sie müssten aufgrund irgendeines Rechts, zum Beispiel des Erbrechts, dort bleiben, da ihnen dieses Vorrecht durch eine Stiftung ihrer Vorfahren hinterlassen worden ist, oder sie hätten sich mit ihrem Vermögen in diesem Haus eingekauft. […] Auch die Blinden möchte ich nicht untätig herumsitzen oder -laufen lassen, es gibt mancherlei, worin sie sich üben können: Die einen haben Begabung für die Wissenschaft, sie sollten studieren; bei manchen von ihnen sehen wir nicht zu verachtende Fortschritte in der Bildung. Andere sind musikalisch begabt, sie sollen singen, Saiteninstrumente spielen, Flöte blasen. Die einen sollen Handmühlen drehen, andere Keltern bedienen, andere sollen Hämmer in den Schmiedewerkstätten treiben; wir wissen, dass Blinde Kästchen, Kistchen, Körbchen und kleine Käfige zusammensetzen. Blinde Frauen nähen und spinnen. Sie dürfen nur nicht untätig sein und die Arbeit scheuen, dann werden sie leicht finden, womit sie beschäftigt werden können. Faulheit und Gleichgültigkeit sind daran schuld, dass sie behaupten, sie könnten nichts, kein körperliches Gebrechen. Auch den Schwachen und Alten soll man leichte Arbeit zuweisen, die ihrem Alter und ihren Kräften entspricht. Niemand ist so schwach, dass ihm jegliche Kraft fehlte, irgendetwas zu tun. So wird das Er-
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gebnis sein, dass schlechte Gedanken und Gemütsanwandlungen, wie sie bei Untätigen entstehen, bei den Beschäftigten und auf die Arbeit Konzentrierten gar nicht erst aufkommen. Wenn derartige Blutsauger aus den Spitälern entfernt sind, die Ausgaben und jährlichen Einnahmen auf dem Tisch liegen und das vorhandene Geld gezählt ist, soll die Kapazität eines jeden Spitals berechnet, Kostbarkeiten und überflüssiger Zierrat, der eher Kindern und Geizhälsen Freude macht als den Frommen nützt, verkauft werden. Dann soll zu jedem Spital eine Anzahl von kranken Bettlern geschickt werden, gerade so viele, dass ihnen kein allzu karger Lebensunterhalt bleibt, so dass er kaum den halben Hunger stillt. Darauf muss man vor allem bei den körperlich oder geistig Kranken achten; denn sie werden kränker, wenn sie nicht genug zu essen haben. Aber man muss sie nicht verwöhnen, denn daraus könnten leicht schlechte Gewohnheiten entstehen. Damit sind wir bei den Geisteskranken. Da es in der Welt nichts Hervorragenderes gibt als den Menschen und im Menschen nichts Hervorragenderes als den Geist, muss man vor allem darauf achten, dass er stark ist. Und dies ist als die höchste Wohltat anzusehen, wenn wir den Geist anderer entweder zur Gesundheit zurückführen oder in Gesundheit und Ausgeglichenheit erhalten. Wenn also ein geistig verwirrter Mensch ins Spital gebracht wird, muss man zuerst untersuchen, ob der Wahnsinn angeboren ist oder ob er nur vorübergehend auftritt, ob es Heilungschancen gibt, oder ob er ein hoffnungsloser Fall ist. Ein solcher Defekt des menschlichen Geistes, der hervorragendsten Sache überhaupt, verdient Bedauern, und vor allem muss der Mensch so behandelt werden, dass sein Wahnsinn nicht vermehrt oder genährt wird. Das passiert bei Tobsüchtigen, wenn man sie auslacht, reizt, ärgert, bei Schwachsinnigen, wenn man durch Zustimmung billigt, was sie Törichtes sagen oder tun, und wenn man sie anreizt, noch mehr lächerlichen Unsinn von sich zu geben; denn damit leistet man der Torheit und dem Irrsinn Vorschub. Was könnte man unmenschlicher nennen, als einen zum Narren machen, damit du lachen und dein Spiel treiben kannst mit solchem Unglück eines Menschen? Es sollen die jeweils geeigneten Heilmittel angewandt werden: Die einen brauchen Wickel und eine geregelte Diät, andere eine sanfte und freundliche Behandlung, damit gewissermaßen die wilden Tiere allmählich gezähmt werden; andere brauchen Unterweisung. Manche werden Zwang und Fesseln brauchen, aber man soll sie so anwenden, dass sie dadurch nicht noch mehr erregt werden. Überhaupt soll man, soweit möglich, Ruhe in ihr Gemüt bringen; dann können leicht die Urteilskraft und die geistige Gesundheit zurückkehren. Wenn die Spitäler nicht alle kranken Bettler fassen, muss man ein Haus bestimmen oder auch mehrere, groß genug, sie dort einzu-
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schließen, einen Arzt anzustellen und einen Apotheker sowie Diener und Dienerinnen. Dies wird zum Ergebnis haben, was die Natur und die Schiffbauer vorsehen: Wie der Schmutz an einer bestimmten Stelle versammelt wird, damit er nicht dem übrigen Körper schade, so sollen die mit einer ekligen oder ansteckenden Krankheit in Quarantäne schlafen und essen können, damit die anderen nicht Ekel erfasst und Ansteckung sich ausbreitet, und es niemals ein Ende der Krankheiten geben wird. Wenn jemand gesund wird, soll er so behandelt werden wie die übrigen Gesunden. Man soll ihn zur Arbeit schicken, wenn er nicht aus Nächstenliebe irgendeine Fähigkeit dort in den Dienst der andern stellen will. Arme, die sich zu Hause aufhalten, sollen Hilfe aus öffentlichen Mitteln oder aus den Spitälern erhalten. Und weil sie Bürger sind, sollen sie keinen Mangel haben; und wenn sie nachweisen, dass ihre Bedürfnisse größer sind, als das, was sie erarbeiten können, soll man ihnen dazugeben, was als ausreichend gilt. Die Bedürfnisse der Armen sollen die Schatzmeister freundlich und verständnisvoll prüfen, ohne Vorurteile; sie sollen keine Strenge anwenden, es sei denn, sie hielten sie für nötig gegen solche, die Widerstand gegen die Staatsgewalt leisten und sie verunglimpfen. […] Fürsorge für die Kinder und Jugendlichen. Ausgesetzte Knaben haben ein Heim, wo sie aufgezogen werden. Wo die Mütter bekannt sind, sollen die sie bis zum sechsten Lebensjahr aufziehen; dann sollen sie in die öffentliche Schule gebracht werden, wo sie Lesen und Schreiben und moralische Grundsätze lernen. Hier sollen sie auch Essen bekommen. Diese Schule sollen Männer leiten, die möglichst fein und frei gebildet sind, dass sie ihre Sitten auf die unerfahrene Jugend und Schüler übertragen können. Denn den Söhnen der Armen droht von nirgends eine größere Gefahr als von einer billigen, schmutzigen und unfeinen Erziehung. Bei der Einstellung solcher Lehrer sollten die Behörden nicht am Geld sparen: Sie können dem Staat, dem sie vorstehen, etwas Großes bieten für einen geringfügigen Aufwand. Die Knaben sollen lernen, mäßig zu leben, dafür ordentlich, sauber und mit wenigem zufrieden zu sein. Sie sollen von allen Vergnügungen ferngehalten werden und sich nicht an Üppigkeit und Völlerei gewöhnen. Denn sobald sie sich ans Vollfressen und -saufen gewöhnt haben und sie nicht bekommen, was ihrer Gier genügt, vergessen sie alle Scham und betteln. Das sehen wir manche tun, sobald Schnaps oder etwas Ähnliches ausgeht. Sie sollen nicht nur lesen und schreiben lernen, sondern vor allem die christliche Religion und die richtige Einstellung zu den Dingen.
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Dasselbe möchte ich gesagt haben über die Mädchenschule, in der das Elementarwissen vermittelt werden soll. Ist ein Mädchen zum Lernen geeignet und geneigt, soll man sie ruhig ein wenig weiter vorankommen lassen, wenn nur alles auf bessere Sitten hinzielt und sie die richtige Einstellung und eine religiöse Haltung lernen. Dann sollen sie spinnen, nähen, weben, sticken, kochen und Haushalt lernen. Ihre Bescheidenheit, Sauberkeit, Freundlichkeit, Scham und vor allem ihre Keuschheit sollen sie bewahren in der Überzeugung, dass dies das einzige Gut der Frauen ist. Danach soll man von den Knaben die zum Lernen geeignetsten in der Schule behalten als zukünftige Lehrer für andere und als Pflanzstätte späterer Priester. Die Übrigen sollen in Handwerke geschickt werden, jeder nach seiner Neigung. Prüfer und Prüfung. Aus dem Rat sollen alljährlich als Prüfer zwei ernsthafte Männer von anerkannter Charakterfestigkeit gewählt werden. Sie sollen Lebenswandel und Sitten der Armen erforschen, und zwar der Kinder, der jungen Erwachsenen und der Alten: Was die Kinder treiben, welche Fortschritte sie machen, welchen Charakter sie haben, welche Begabung, und wenn sie einen Fehler machen, wessen Schuld es war. Alles soll gebessert werden. Bei den jungen und alten Erwachsenen sollen sie darauf achten, ob sie nach den Gesetzen leben, die man für sie erlassen hat. Die alten Frauen sollen sie am sorgfältigsten überprüfen, denn sie sind die Hauptkupplerinnen und -giftmischerinnen. Wie sparsam und mäßig alle ihr Leben führen, [sollen sie feststellen]. Wer zum Würfelspiel, in Wein- oder Bierkneipen geht, soll zurechtgewiesen werden; wenn die eine oder andere Verwarnung nicht genügt, sollen sie Maßnahmen gegen sie ergreifen. Es sollen Strafen festgesetzt werden je nach dem, was den Klügsten in einer Stadt richtig erscheint; denn dasselbe passt nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit, und den einen berührt dies, den anderen mehr das. […] Das zur Deckung dieser Kosten erforderliche Geld. Das hast du dir schön ausgedacht, wird einer sagen, aber woher die Mittel zu alledem? Doch weit gefehlt, dass ich glaube, sie seien nicht vorhanden, ich sehe sogar deutlich, dass sie im Überfluss vorhanden sind, nicht nur um jene alltäglichen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch, um in außergewöhnlichen Fällen zu helfen, wie sie überall in allen Städten sehr häufig vorkommen. […] Es sollen also die jährlichen Einkünfte der Spitäler zusammengezählt werden; und es besteht kein Zweifel, dass, wenn man die Arbeit hinzuzählt, die geleistet wird von denen, die die Kraft dazu haben, die
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Einnahmen nicht nur für die ausreichen werden, die in den Spitälern leben, sondern auch außerhalb Lebenden davon ausgeteilt werden kann. Denn man sagt mir, dass der Reichtum der Spitäler in allen Städten so groß ist, dass, wenn er richtig verteilt wird, mehr als genug da ist, um alle Bedürfnisse der Bürger zu befriedigen, sowohl die normalen als auch die unvorhergesehenen und außergewöhnlichen. Die reicheren Spitäler sollen von ihrem Überfluss den ärmeren abgeben. Wenn auch die ärmeren nichts brauchen, soll das Übrige den verborgenen Armen gegeben werden. Und die Liebe Christi soll sich so nicht nur in der ganzen Stadt ausbreiten, dass sie aus ihr ein einträchtiges Haus voll innerer Übereinstimmung macht und bewirkt, dass jeder der Freund aller ist. Sondern sie soll auch nach außen dringen und den ganzen christlichen Erdkreis umfangen, und es soll werden, was unter den Aposteln war, wie wir lesen: Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele und keiner von ihnen nannte, was er besaß, sein Eigen. Sondern alles war ihnen gemeinsam, und es gab keine Armen unter ihnen.6 Deshalb wäre es nur recht, wenn die vermögenden Spitäler und die reichen Leute, sofern in ihrer eigenen Stadt niemand ist, mit dem sie ihren Reichtum teilen könnten, etwas in ihre Nachbarstädte, sogar in weiter entfernte Städte schickten, wo größerer Bedarf herrscht. So müssten wahre Christen handeln. Jedem Spital sollen zwei vom Rat bestimmte angesehene Männer als Pfleger zugeordnet werden, die Gott gegenüber ein hohes Verantwortungsgefühl haben. Sie sollen jährlich dem Rat gegenüber Rechenschaft ablegen über ihre Verwaltung. Wenn sie zuverlässig erscheinen, soll ihr Amt verlängert werden, wenn nicht, sollen neue gewählt werden. Weiter ist es üblich, dass jeder auf dem Sterbebett seinen Verhältnissen entsprechend etwas für die Armen stiftet. Man soll [den Sterbenden] ermahnen, vom Aufwand des Begräbnisses abziehen zu lassen, was den Armen nützen kann. Dies ist vor dem Herrn ein angenehmeres Begräbnis und auch bei den Menschen nicht ohne Ruhm. Aber die aus dem Leben scheiden, müssen sich nicht um Ruhm kümmern oder um Lob, es sei denn von Gott. Weiter gibt es beim Begräbnis eine Speisung und es wird Brot ausgeteilt, auch Geld oder andere Dinge aufgrund einer Marke; dieselbe Möglichkeit könnten bei der ersten Totenmesse und beim Jahrgedächtnis diejenigen haben, die die Angelegenheiten des Verstorbenen regeln. Weiter sollten die Vorsteher des Almosenwesens begutachten, was die Kirche übrig hat, wie man es verteilen soll, damit nicht denen gegeben wird, die es am wenigsten brauchen. 6
Vgl. Apg 4,32.34.
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Wenn all das nicht genügt, sollen in den drei oder vier Hauptkirchen, die am meisten besucht werden, Opferstöcke aufgestellt werden. Da soll jeder, was ihm die Frömmigkeit rät, hineinwerfen. Jeder wird lieber dort zehn Gulden hineinlegen, als herumstreifenden Bettlern zwei Groschen zu geben; aber die Opferstöcke sollen nicht jede Woche aufgestellt werden, es sei denn, die Not treibt dazu. Für diese Opferstöcke sollen zwei ehrenwerte, rechtschaffene Männer verantwortlich sein, die nicht so sehr reich sein müssen als, worauf bei solchen Ämtern besonders zu achten ist, nicht habgierig oder von schmutziger Gesinnung; sie sollen vom Rat ausgewählt werden. Und es soll nicht gesammelt werden, was möglich ist, sondern so viel für jeweils eine Woche ausreicht. Im Großen und Ganzen wenig mehr, dass sich die Verwalter nicht daran gewöhnen, mit viel Geld umzugehen, damit es ihnen nicht so geht wie manchen von denen, die mit der Fürsorge für die Spitäler betraut sind. Was hier geschieht, weiß ich nicht und ich forsche nicht nach, weil ich mit dem vollauf beschäftigt bin, was mich interessiert. Aber in Spanien habe ich von älteren Leuten gehört, es gäbe viele, die aus dem Vermögen der Spitäler ihre eigenen Häuser ins Unermessliche vergrößert hätten. Indem sie sich und die Ihren statt der Armen ernährten, machten sie ihre eigenen Häuser voll mit einer großen Dienerschaft, die Spitäler der Armen aber leer. Das wird zu leicht gemacht, wenn zuviel Geld vorhanden ist. Deshalb sollen fortan keine Renten für Arme gekauft werden; denn unter diesem Vorwand wird Geld bei den Leitern des Spitals verwahrt und in der Zwischenzeit, während für das Vermögen so lange Geld angesammelt und aufgehoben wird, bis man endlich etwas kaufen kann, geht der Arme vor Hunger und Not langsam zugrunde. Wenn viel Geld bei denen ist, die dem Almosenwesen öffentlich vorstehen, soll man es wegnehmen, wie ich vorhin gesagt habe; man soll es auch an ärmere Orte schicken. Denn eine ungeheure Menge Geld vermehrt die Geldgier, so dass die, die damit umgehen, ungerner etwas davon hergeben als von einer mäßigen Summe. Das nötige Geld aber soll beim Rat aufbewahrt werden; und es soll einen Eid darauf geben und schwere Flüche, dass es nicht zu etwas Anderem verwendet wird. Es soll auch bei der ersten Gelegenheit ausgegeben werden, damit nicht die Sitte entsteht, etwas lange aufzubewahren. Denn es wird immer jemanden geben, der es braucht, nach dem Wort des Herrn: Arme werdet ihr immer unter euch haben.7 Man muss auch manchmal darauf achten, dass Priester nicht unter dem Vorwand von Andachten und Messen das Geld für sich selbst ver7
Vgl. Mt 26,11.
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wenden, vor allem diejenigen, die genug zum Leben haben und nicht mehr brauchen. Wenn die Almosen einmal nicht ausreichen, soll man zu den reichen Leuten gehen und sie bitten, den Armen zu helfen, die Gott so empfohlen hat, dass sie wenigstens leihen, was nötig ist. Das soll man ihnen später, wenn sie es wollen, wenn Almosen in Hülle und Fülle da ist, auf Heller und Pfennig zurückerstatten. Dann soll der Staat selbst von den öffentlichen Ausgaben etwas abziehen, z.B. von Festessen, Gastgeschenken, Leckereien, Geschenken, alljährlichen Spielen und Umzügen, was alles dem Vergnügen dient oder der Hoffart oder dem Ehrgeiz. Und ich zweifle nicht, dass der Fürst es mit Gleichmut oder eher erfreut aufnehmen würde, wenn er mit geringerem Aufwand empfangen würde, wüsste er nur, zu welchem Zweck das Geld ausgegeben wird, das gewöhnlich bei seiner Ankunft verschwendet wird. Wenn er das nicht gut aufnähme, wäre er wirklich kindisch und töricht, ehrgeizig oder dumm. Wenn aber der Staat das nicht tun will, dann soll er leihen, was er nachher, wenn die Almoseneinkünfte größer sind, wiederbekommt. Das Almosengeben muss in jedem Fall frei sein, wie Paulus sagt: Ein jeder, wie er es beschlossen hat in seinem Herzen, nicht in Traurigkeit oder unter Zwang.8 Denn niemand darf gezwungen werden, Gutes zu tun, sonst ist diese Bezeichnung hinfällig. […] Plötzliche oder geheim gehaltene Notfälle. Man muss nicht nur den Armen helfen, die das nicht haben, was man wirklich zum Leben braucht, sondern auch denen, die ein plötzliches Unheil betrifft, wie z.B. Gefangenschaft und Krieg, Gefängnis wegen Schulden, Feuersbrunst, Hochwasser, vielerlei Krankheiten, schließlich unzählige Zufälle, die ehrenhafte Häuser treffen. Dazu kommen die zarten Mädchen, die häufig die Not dazu zwingt, ihre Scham zu vergessen. […] Die menschlichen und göttlichen Vorteile der Durchführung. Es ist eine ungeheure Zierde, wenn man in einem Staat keine Bettler sieht. Denn eine große Zahl von Bettlern zeigt bei den Privatleuten Bosheit und Unmenschlichkeit an und bei den Behörden Nachlässigkeit gegenüber dem allgemeinen Wohl. Diebstahl, Verbrechen, Raub, Mord, Kapitalverbrechen werden weniger begangen, seltener Kuppelei und Giftmischerei, sofern die Not gelindert wird, die ja zuerst zu Fehlern und schlechten Sitten, dann zum Verbrechen anreizt und treibt. Die Ruhe wird größer sein, wo für alle gesorgt ist, die Eintracht überwältigend, da der Ärmere den Reicheren nicht beneidet, sondern eher 8
Vgl. 2Kor 9,7.
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als seinen Wohltäter liebt, der Reichere sich nicht vom Ärmeren abwendet wie von einem Verachteten, vielmehr ihn liebt gewissermaßen als Sitz seiner Wohltätigkeit und ihm geschuldeten Dankbarkeit. Denn die Natur bringt es mit sich, dass wir die lieben, gegen die wir wohltätig sind. So bringt Wohlwollen Wohlwollen hervor. Es wird sicherer, gesünder und angenehmer sein, in den Kirchen und in der ganzen Stadt herumzulaufen, wenn sich nicht überall den Augen hässliche Wunden und Krankheiten aufdrängen, vor denen die Natur zurückschreckt und vor allem ein menschlicher und mitleidiger Sinn. Die Ärmeren werden nicht genötigt, wegen der Zudringlichkeit etwas zu geben; und wenn jemand etwas geben will, wird er nicht abgeschreckt durch die Masse der Bettler, nicht durch Furcht und nicht, weil es ihm unwürdig erscheint. Den größten Gewinn hat der Staat, wenn so viele Bürger bescheidener, gesitteter, dem Vaterland nützlicher sind und es lieber haben, da sie in ihm oder von ihm unterhalten werden. Auch werden sie nicht Neuerungen suchen oder nach Aufstand streben. Und wenn so viele Frauen von Unkeuschheit, so viele Mädchen von Gefahr, so viele Alte von Hexerei zurückgehalten werden. Knaben und Mädchen werden im Lesen und Schreiben, in Religion, in Bescheidenheit und in den Lebenskünsten unterrichtet, aufgrund derer man rechtschaffen, ehrenhaft und fromm sein Leben führt. Alle werden schließlich Verstand, Gefühl, Frömmigkeit erhalten, werden sich erzogen, gesittet und auf menschliche Weise unter Menschen bewegen. Sie werden die Hände rein halten von Lastern, werden wahrhaft und in gutem Glauben an Gott denken. Sie werden Menschen sein, sie werden sein, was man sie nennt: Christen. Ich bitte, was bedeutet dies anderes, als viele tausend Menschen sich selbst zurückgegeben und für Christus gewonnen zu haben? Der göttliche Nutzen besteht darin, dass die Herzen vieler durch die Religion befreit werden, die, obwohl sie sehen, dass sie die Pflichten des Erbarmens erfüllen müssten, trotzdem nicht tun, was ihnen befohlen wird, sich statt dessen mit Abscheu und Abneigung von den Armen abwenden – ihr Wille wird durch die Menge [der Armen] behindert und gewissermaßen hin und her gerissen. Wo sie zuerst und vor allem helfen sollen; da sie so viele unter der Armut leiden sehen, helfen sie in einer Art Verzweiflung niemandem, weil sie erkennen, dass das, was sie geben, zu wenig nützen wird, so wie wenn man in einen großen Brand ein oder zwei Tropfen Wasser spritzt. So aber werden diejenigen, denen die Mittel zur Verfügung stehen, lieber und reicher geben, froh darüber, dass sie bei so wohl geordneten Verhältnissen ihre Wohltat gut anlegen werden, da sie den Menschen helfen und zugleich Christi Befehle ausführen und so sich große Gunst bei ihm erwerben. Und es besteht kein Zweifel, dass auch
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aus anderen Städten, wo die Armenfürsorge nicht vergleichbar funktioniert, viele Reiche Geld hierher schicken werden, sobald sie wissen, dass es hier bestens verteilt und denen, die es am meisten brauchen, geholfen wird. Hinzu kommt, dass ein so mildtätiges Volk der Herr besonders schützen und wahrhaft glücklich machen wird. […] Und zeitlicher Nutzen wird nicht fehlen nach dem Beispiel der Witwe, der Elias Speise verschaffte. Dasselbe singt der Psalmist von der Stadt, in der Gott wohnt: Zions Nahrung will ich reichlich segnen, mit Brot seine Armen sättigen.9 Und an einer andern Stelle zu derselben Stadt: Er verschafft deinen Grenzen Frieden und sättigt dich mit fettem Weizen.10 Aber das Allerwichtigste ist der Zuwachs an gegenseitiger Liebe, die entsteht aus wechselseitigem Geben und Nehmen von Wohltaten in reiner und einfacher Gesinnung, ohne den Verdacht, es sei etwas Unwürdiges dabei, und als dessen Folge jener himmlische Lohn, der, wie wir gezeigt haben, dem Almosengeben bereitet ist, das aus der Liebe kommt. Quelle: Juan Luis Vives, Über die Unterstützung der Armen – De subventione pauperum (1526) für die Stadt Brügge, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 1: Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jahrhundert, VDWI 22, Heidelberg 2004, 282–339. © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
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Ps 132,15. Ps 147,14.
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140. Hans Hergot: Von der neuen Wandlung eines christlichen Lebens (1527) Anfang 1527 erschien in Leipzig anonym die Flugschrift „Von der newen wandlung eynes Christlichen Lebens“. Der Verfasser der chiliastisch bzw. sozialutopisch inspirierten Schrift war wahrscheinlich der ehemalige Mönch und Nürnberger Drucker Hans Hergot. Wegen seines „aufrührerischen Büchleins“ wurde Hergot am 20. Mai 1527 in Leipzig hingerichtet. Die Schrift aus dem Umkreis des sog. linken Flügels der Reformation entstand aus der Enttäuschung des Verfassers über die nicht radikal genug ansetzende und nicht weit genug gehende Reformation. Die sich anbahnende Kirchenspaltung, die ausbleibenden gesellschaftlichen und politischen Reformen und die Niederschlagung des Bauernkriegs veranlassten den Autor zu seiner Schrift, in der er seine Erwartung einer grundlegenden Wandlung der Verhältnisse zum Ausdruck bringt. Angeregt durch Joachim von Fiores (ca. 1130–1202) Lehre von den drei Zeitaltern (Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes) sagt der Verfasser der „neuen Wandlung“ das Kommen der Zeit des Heiligen Geistes voraus. Mit dem unmittelbar bevorstehenden dritten Zeitalter des Geistes verbindet sich die Wiederherstellung einer einheitlichen Welt unter der Herrschaft Gottes. Dies schließt die Einheit der Kirche ebenso ein wie eine neue globale Gesellschaftsordnung, die durch Gemeinnutz gekennzeichnet ist. Einheit, Gemeinsamkeit und Gleichheit sind die Prinzipien der neuen Ordnung, deren kleinste Einheit die sog. Flurgemeinde darstellt. Die Gütergemeinschaft, gemeinsames Essen, Arbeiten und Wohnen, die Sorge für Alte und Kranke sowie der Gehorsam gegenüber dem Erneuerer des Gotteshauses und der Glaube an Gott prägen das zukünftige Zusammenleben. Es sind drei Wandlungen gesehen worden: Die erste hat Gott, der Vater, gehalten mit dem Alten Testament. Die andere Wandlung hat Gott, der Sohn, mit der Welt gehabt im Neuen Testament. Die dritte Wandlung wird der Heilige Geist haben, mit dieser zukünftigen Wandlung von ihrem [der Welt] Argen, in dem sie jetzt sind. Zur Förderung der Ehre Gottes und des gemeinen Nutzens gebe ich armer Mann dasjenige zu wissen, was zukünftig ist, dass Gott demütigen wird alle Stände, die Dörfer, Schlösser, Stifte und Klöster und
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eine neue Wandlung einsetzen wird, in der niemand sprechen wird: Das ist mein. Die Sekten werden gedemütigt, sodass ihre Häuser zu Schutt werden, und ihr Volk und Handwerk werden von ihnen weichen, die Dörfer werden reich werden an Gütern und Mannschaften und von allen Beschwernissen erlöst werden. Die adlige Geburt wird vergehen, und das gemeine Volk wird ihre Häuser besitzen. Die Klöster werden die vier Orden und den Bettelstab verlieren, die anderen reichen Klöster werden auch verlieren, was sie aus Zinsen und Renten haben. Alle Sekten werden miteinander vergehen und zu einander gemacht werden. Alle Dinge werden zu einem Gebrauch der Gemeine kommen, es sei Holz, Wasser, Weide etc. Ein jedes Land wird nicht mehr als einen Herrn haben, die geistlichen und weltlichen Herren werden vergehen, gleich welche Form sie jetzt haben. Auch werden die Diener der Fürsten und Herren von ihren Diensten weichen. Es ist auch vergebens, dass jemand meint, seinen Stand erhalten zu können. Diese erwähnten Artikel habe ich aus der Erkenntnis genommen, die ich über den christlichen Schafstall gehabt habe.1 Da habe ich das ganze Gebrechen dessen erkannt und gesprochen: O ewiger Gott, wie elend geht es zu in deinem christlichen Schafstall. Hernach habe ich erkannt, dass Gott den zwei Hirten2 Urlaub gegeben hat, die da über den christlichen Schafstall mit allen ihren Verwandten gesetzt sind, und der großen Arbeit, die sie tun, keine Frucht mehr schenken will. Hernach habe ich erkannt, dass Gott Neues angeordnet und einen Hirten bestellt hat über seinen Schafstall durch Verleihung des Erdreichs. Das ist also geschehen, dass Gott jeden Flur den Gotteshäusern verliehen hat, die auf dem Flur sind und dazu Menschen, so viel jeder Flur ertragen kann und alles, was auf dem Flur wächst, das gehört dem Gotteshaus und den Menschen, die darauf sind. Alle Dinge sind ihnen zum gemeinsamen Brauch verliehen, so dass sie auch aus einem Topf essen und aus einem gemeinsamen Gefäß trinken und einem Mann Gehorsam sein werden. Dies ist notwendig zur Ehre Gottes und zum gemeinen Nutzen, und denselben werden sie einen Erneuerer des Gotteshauses nennen. Und die Leute werden alle in der Gemeine arbeiten, ein jeder, wozu er geschickt ist und was er kann, und alle Dinge werden gemeinsam genutzt werden, so dass es keiner besser haben wird als der andere. Und der Flur wird ganz frei sein, denn man wird weder Zins noch Steuern geben und alle werden doch erhalten durch die Obrigkeit. Die Wandlung der Menschen wird besser sein als jeder Orden. Sie werden glauben an Gott, Gottes Leiden, göttliche Barmherzigkeit und anderes mehr betrachten. […] 1 2
Vgl. Joh 10,1. Gemeint sind wahrscheinlich Papst und Kaiser.
Von der neuen Wandlung eines chistlichen Lebens
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Auch werden sie haben ein Haus, in dem man die alten Menschen mit Essen und Trinken und aller Notdurft des Leibes versorgen wird, besser als es in einem Spital geschieht. Auch ein Haus für die am Aussatz des Leibes wird es geben und noch eines für die, die Gebrechen der Seele haben, wie für die, die nicht in dem rechten Weg der Seelen wandeln, die werden so lang in dem Haus sein, bis sie ihre Sünden bereuen. […] Mein Büchlein macht keinen Aufruhr, es zeigt nur die an, die in der Bosheit sitzen, damit sie sich erkennen und Gott um Gnade bitten, wenn er sich nicht wird schlagen lassen, wie man es den Bauern getan hat. Wenn Gott selbst mit euch fechten will, wie euch denn das Büchlein klar anzeigt, wer unschuldig ist, muss sich nicht fürchten. Wer sich aber schuldig weiß, fliehe zu Gott und bitte ihn um Gnade. Es ist große Zeit, denn er will das Unkraut ausrotten.3 […] Wenn sie sogar die Gläubigen fressen, sie wissen nicht, dass uns gesagt ist und durch Mose verkündet, wo wir der Stimme Gottes glauben werden, werden wir gesegnet eingehen und gesegnet ausgehen, und der Stimme des Herrn glauben wir, und es wird geschehen, wie er uns verheißen hat.4 Diese Sache hat mich armen Mann lange in meinem Gewissen gefressen, so sehr, dass ich mich nicht mehr darin erhalten kann, gebe sie darum auf im Namen Gottes. Es sind geschehen drei Tische in der Welt, der erste ist voll Überfluss, und es ist zu viel darauf. Der andere ist mittelmäßig und eine auskömmliche Notdurft. Der dritte ist ganz mangelhaft. Da kamen die von dem überbordenden Tisch und wollten das Brot von dem untersten Tisch nehmen. Hieraus erhebt sich der Kampf, so dass Gott den überbordenden Tisch und den geringen Tisch umstoßen und [nur noch] den mittleren Tisch bestehen lassen wird. Quelle: Hans Hergot und die Flugschrift „Von der newen wandlung eynes Christlichen Lebens“. Faksimilewiedergabe mit Umschrift. Erschienen im Auftrag des Rates der Stadt Leipzig aus Anlass der Feierlichkeiten zum Gedenken an den 450. Jahrestag der Hinrichtung des Buchdruckers Hans Hergot in Leipzig. Mit einem Vorwort von Max Steinmetz und einem Anhang von Helmut Claus, Leipzig 1977, 107–132: 107–111, 131f. © VEB Fachbuchhandlung Leipzig
3 4
Vgl. Mt 13,25–30. Vgl. Dtn 28,1–14.
141. Verhör der Täuferin Anna Salminger, Augsburg (1528) 1526/15627 entwickelte sich in Augsburg eine große Täufergemeinde. 1528 soll es ca. 1.000 „Wiedertäufer“ gegeben haben. Insbesondere Hans Denck (1500–1527) und Hans Hut (1490–1527) übten in Augsburg großen Einfluss aus. Beide waren von Thomas Müntzer (um 1489–1525) geprägt. Hans Hut begründete eine eigenständige mystischapokalyptisch orientierte Richtung des Täufertums. Im August nahm Hut an dem Täuferkonzil teil, zu dem sich führende süddeutsche, schweizerische und österreichische Täuferführer in Augsburg trafen, um Unterschiede in zentralen Fragen (Legitimität von Gewalt, Auffassung des Staates, Zeitpunkt der Wiederkunft Christi) auszuräumen. Die Augsburger „Märtyrersynode“ markiert den Höhepunkt der frühen Täuferbewegung und zugleich einen Wendepunkt: Viele der Teilnehmer der Synode wurden kurze Zeit später verhaftet und hingerichtet. Anna Salminger, Frau eines führenden Augsburger Täufers, der an der „Märtyrersynode“ teilgenommen und anschließend verhaftet worden war, wurde am 17. September aus Augsburg ausgewiesen, kehrte aber in die Stadt zurück. Am Ostersonntag, dem 12. April 1528, ließ der Rat der Stadt das Haus umstellen, in dem sich die Täufergemeinde versammelt hatte, und verhaftete 88 Versammlungsteilnehmer_innen, darunter auch Anna Salminger. In den mit Folter verbundenen Verhören wurde sie, wie andere, nach den Vorstehern der Täufer gefragt. Thema war aber auch die täuferische Armenpflege. Die Armenpflege stand dabei unter dem Verdacht, den Anfang der von den Täufern angeblich angestrebten Gütergemeinschaft zu bilden. Das Stichwort „Gütergemeinschaft“ stand für eine radikale Infragestellung und Veränderung der herkömmlichen Ordnung des Eigentums und Wirtschaftens (s. Texte 140; 150). Die einschlägigen Auskünfte Anna Salmingers deuten auf eine starke diakonische Solidarität innerhalb der Täufergemeinde hin. Sie sind aber auch erkennbar dadurch geprägt, dass die Gefangene Namen nicht preisgeben will und den Verdacht radikaler Vorstellungen zerstreuen möchte.
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Augsburg, 13. und 15. April 1528 Anna, die Ehefrau Sigmund Salmingers, der gefangen liegt, sagt: Sie sei im vergangenen Jahr vor Lichtmess (2. Februar) durch Hans Hut zum Langenmantel1 getauft worden. Sie sei so oft bei den Versammlungen gewesen, dass sie es nicht anzeigen könnte, und sooft sie konnte, doch neulich bei keiner, außer bei der, als man sie am Ostertag (12. April) gefangen genommen habe, und davor (4. April) im Keller bei der Schleifferin2, der Krämerin, wo man das Nachtmahl des Herrn gehalten und sie gelehrt habe. Sie kenne die Brüder und Schwestern hier nicht alle, die ihnen in ihrer Bruderschaft verwandt seien. Es gebe ihnen niemand Geld, so wisse sie auch von keiner Büchse zu sagen, darin die Brüder sammeln, sondern sie halten den Brauch untereinander, dass sich jeder mit seiner Arbeit behelfe, und wer nicht arbeiten könne, dem teile einer, der mehr hat, etwas mit. Wenn sie Versammlung halten, gebe ihnen die Person, bei der die Versammlung gehalten werde, eine Suppe, Kraut und anderes dergleichen zu essen, der schwachen Brüder und Schwestern wegen, damit sie bleiben mögen, wie es denn auch die Adolfin3 getan habe. [..] Sie sei einst mitsamt anderen aus der Stadt geführt worden, habe aber nicht geschworen, draußen zu bleiben4, und sei deshalb wieder hineingegangen. Ihr Mann, der gefangen liege, habe ihr bei den Brüdern, die man hier mit Ruten ausgepeitscht hat, geboten, sie solle ihren Hausrat und Sachen verkaufen, was sie auch getan habe, und sie sei niemand hier schädlich gewesen, sei auch willens gewesen, wieder aus der Stadt zu gehen und sei der Meinung, nicht gegen Gott, den Herrn gehandelt zu haben. Sie habe sich in der Zeit, als sie außerhalb der Stadt war, an vielen Orten im Schwabenland aufgehalten, sei eine Nacht nicht da geblieben, wo sie bereits war. […] Man habe ihr und anderen Schwestern mehrmals Geld aus der Stadt hinausgeschickt, sie wisse aber nicht, wer solches geschickt habe. Als 1
Der aus einem Augsburger Patriziergeschlecht stammende Eitelhans Langenmantel (1480–1528) griff in seinen 1526/27 Schriften die Abendmahlslehre Luthers scharf an. Er wurde von Hans Hut getauft, nach der Augsburger Märtyrersynode verhaftet und ausgewiesen. Im April 1528 wurde er hingerichtet. 2 Barbara Schleifferin. 3 Susanna Adolfin, Frau des nach Wien gereisten Bildhauers Adolf Daucher. 4 Anna Salminger, getauft von Hans Hut, wollte den vom Rat geforderten Eid, sich von den Wiedertäufern fern zu halten, nicht leisten, wurde deshalb am 17. Sept. 1527 zur Ausweisung verurteilt und, weil sie nicht „hinausschwören wollte, zur Stadt hinausgeführt“ […]. Zugleich wurde ihr das Betreten der Stadt für immer verboten; trotzdem war sie nun wieder hereingekommen.
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sie danach gefragt habe, habe man ihr geantwortet, sie dürfe danach nicht fragen, sondern sie sollten es zur Notdurft von der Person, die es geschickt habe, um Gottes Willen gebrauchen. Ein Ringmacher5 an der Mauer beim Göggingertor, sie wisse nicht, wie er heißt, sei auch ein Bruder und nicht mehr hier, habe ihr einmal zwei Gulden gebracht. So habe ihnen auch eine Fränkin, sie auch nicht mehr hier sei, da sie im Wirtshaus bei Wellenburg gewesen sei, eineinhalb Gulden aus der Stadt gebracht, aber auch nicht angezeigt, von wem, sie habe sie auch nicht weiter gefragt. Quelle: Friedrich Roth, Zur Geschichte der Wiedertäufer in Oberschwaben. III. Der Höhepunkt der wiedertäuferischen Bewegung in Augsburg und ihr Niedergang im Jahre 1528, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 28 (1911), 1–154: Nr. 88, 69f.
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Leonhart Ringmacher.
142. Von der falschen Bettler Büberei. Mit einer Vorrede Martin Luthers (1528) 1509/11 erschien in Pforzheim der „Liber vagatorum. Der Bettler Orden“, eine Zusammenstellung der Typen von Bettlern und ihrer Praktiken. Autor des Liber war wahrscheinlich Matthias Hütlin (gest. 1524), der damalige Spitalmeister des Pforzheimer Heilig-Geist-Spitals. Das Büchlein war insbesondere dazu gedacht, dem leseunkundigen einfachen Volk vorgelesen zu werden. Martin Luther hat es 1528 unter dem Titel „Von der falschen Betler buberey“ neu herausgegeben und mit einer Vorrede versehen. Er hat damit zur weiten Verbreitung des Handbuchs beigetragen. Bis 1668 sind 30 Ausgaben des Liber vagatorum bezeugt. Im Spätmittelalter bildete sich in dialektischem Wechselspiel von Armutsrealität und Armutsbewertung das Bild vom unwürdigen, lästigen, Furcht einflößenden Armen heraus. Der Liber vagatorum bildet den Höhepunkt der literarischen bzw. dokumentarischen Bemühungen, zwischen unterschiedlichen Bettlern zu unterscheiden und die betrügerischen Bettler zu entlarven und zu bekämpfen. Im ersten Teil des Handbüchleins werden 28 Bettler- und Gaunertypen dargestellt. Der zweite Teil berichtet über betrügerische Vorkommnisse; der dritte enthält ein bis dahin einmaliges Lexikon des Rotwelschen, einer Geheimsprache von Bettler- und Gaunergruppen. Die kurze Einführung, die Luther seiner Ausgabe vorangestellt hat, betont die Zielsetzung der Publikation, vor den falschen Bettlern zu warnen und die Verantwortung für die wirklichen Armen einzuschärfen. Zugleich markiert der Reformator einen Deutungszusammenhang, der die Bettler, Juden und das Wirken des Teufels verbindet. Dabei verweist er auf die vielen hebräischen Wörter im Rotwelsch. Die Erforschung der geheimen Sondersprache, soweit sie im Liber vagatorum erfasst ist, hat inzwischen ergeben, dass darin das deutsche Element dominiert und die hebräischen Wurzeln etwa 20 % ausmachen. Daneben finden sich u.a. lateinische Anteile. Entgegen Luthers pauschalem Urteil deuten die unterschiedlichen sprachlichen Einflüsse, die sich im Rotwelsch nachweisen lassen, auf die heterogene Zusammensetzung der nicht sesshaften Gruppen der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft hin. Zu ihnen gehörten auch sozial deklassierte christliche Vagant_innen, bettelnde Talmudstudenten, umherziehende Rabbiner und jüdische Spielleute, aber auch z.B. Angehörige des klerikalen Proletariats, ehemalige
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Priester und Mönche. Im Folgenden werden Luthers Vorrede und einige Beispiele der Typisierung von Bettlern dokumentiert. Dieses Büchlein von der Bettler Büberei hat zuvor einer im Druck lassen ausgehen, der sich Expertum in trufis [Experte in Sachen Betrug] nennt. Das ist ein recht erfahrener Geselle in Büberei, welches auch dies Büchlein wohl beweist, auch wenn er sich nicht so genannt hat. Ich hab’s aber für gut angesehen, dass solches Büchlein nicht allein am Tag bliebe, sondern auch fast überall gemein würde, damit man doch sehe und begreife, wie der Teufel so gewaltig in der Welt regiert, ob’s helfen wolle, dass man klug würde und sich vor ihm vorsehen wollte. Es ist freilich solche rotwelsche Sprache von den Juden gekommen, denn es sind viele hebräische Wörter darin, wie die denn wohl merken werden, die sich auf Hebräisch verstehen. Aber die Glosse und rechter Verstand, dazu die treue Warnung dieses Büchleins ist freilich diese, dass Fürsten, Herren, Räte in den Städten und jedermann klug sein soll und auf die Bettler sehen und wissen, dass, wo man nicht den Hausarmen und bedürftigen Nachbarn geben und helfen will, wie Gott geboten hat, man dafür aus des Teufels Anreizung, durch Gottes rechtes Urteil, solchen verlaufenen, verzweifelten Buben zehn Mal so viel gibt, gleichwie wir bisher an die Stifte, Klöster, Kirchen, Kapellen, Bettelmönche auch getan haben, wodurch wir die rechten Armen verließen. Darum sollte eine jede Stadt und jedes Dorf billig seine Armen wissen und kennen und sie in einem Register erfassen, dass sie ihnen helfen möchten, die aber ausländische oder fremde Bettler sind, nicht ohne Brief oder Zeugnis leiden. Denn es geschieht allzu große Büberei darunter, wie dieses Büchlein meldet. Und wo eine jede Stadt ihre Armen so wahrnähme, wäre solcher Büberei bald gesteuert und gewehrt. Ich bin selbst dieses Jahr her so beschissen und von solchen Landstreichern und Zungendreschern versucht worden, mehr als ich bekennen will. Darum sei gewarnt, wer gewarnt sein will, und tue seinem Nächsten Gutes nach christlicher Art und Gebot. Das helfe uns Gott, Amen. Der erste Teil des Büchleins Von den Bregern Das erste Kapitel ist von den Bregern. Das sind Bettler, die keine Zeichen der Heiligen, oder nur wenige, an sich hängen haben, und sie treten schlicht und einfältig vor die Leute und erheischen Almosen um Gottes und Unserer Lieben Frau willen. Etliche sind wie ein hausarmer Mann mit kleinen Kindern, der in der Stadt oder dem Dorf, wo er um Almosen bittet, bekannt ist. Und wenn sie mit ihrer Arbeit oder mit anderen ehrlichen Dingen weiterkämen, so ließen sie ohne Zwei-
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fel von dem Betteln ab. Denn es gibt eine Menge frommer Männer, die betteln nur mit Unwillen und schämen sich vor denen, die sie kennen: dass sie früher ausreichend viel hatten und jetzt betteln müssen. Wenn sie weiterkämen, ließen sie das Betteln unterwegs. Conclusio: Diesen Bettlern ist wohl zu geben, denn es ist wohl angelegt. […] Von den Klenckern Das vierte Kapitel ist von den Klenckern. Das sind Bettler, die auch oft vor den Kirchen sitzen an allen Messtagen oder Kirchweihen mit den böse zerbrochenen Schenkeln. Einer hat keine Füße, der andere keine Schenkel, der dritte keine Hände oder keinen Arm mehr. Item etliche haben Ketten bei sich liegen und sprechen, sie seien unschuldig gefangen gelegen, und gewöhnlich einen Heiligen, Sankt Sebastian oder Sankt Lenhart, bei sich stehen, um deren willen sie mit großer, jämmerlicher, klagender Stimme bitten und heischen; und jedes dritte Wort, das sie barlen [sprechen], ist gefoppt [gelogen]; und der Mensch wird dadurch nur besefelt [beschissen], denn dem sind seine Schenkel, diesem seine Füße im Gefängnis oder im Block um böser Sachen willen abgeschlagen worden. Item und jenem ist eine Hand im Krieg abgehauen worden wegen des Spiels um der Metzen [Huren] willen. Item mancher verbindet einen Schenkel oder einen Arm mit Binden und geht auf Krücken; ihm fehlt so wenig wie anderen Menschen. […] Item: Das sind die allergrößten Gotteslästerer, die man finden kann, die solches und dergleichen tun. Sie haben auch die allerschönsten Glyden [Huren]; sie sind die allerersten auf den Messtagen oder Kirchweihen und die letzten, die gehen. Summa: Gib ihnen so wenig du kannst, denn es sind nichts als Besefler der Houtzen [Bescheißer der Bauern] und aller Menschen. […] Von den Kammesierern Das sechste Kapitel ist von den Kammesierern. Das sind Bettler, das heißt junge Scholaren, junge Studenten, die Vater und Mutter nicht folgen und ihrem Meister nicht gehorsam sein wollen und apostieren [laufen fort] und kommen in böse Gesellschaft, die auch in der Wanderschaft gelehrt ist. Die helfen denen, das Ihre zu verjonen [verspielen], versencken [versetzen], verkimmern [verkaufen] und verschochern [versaufen]. Und wenn sie nichts mehr haben, so lernen sie das Betteln oder Kammesieren [das gelehrte Betteln], lernen die Houtzen besefeln [die Bauern bescheißen] und kammensieren so. […] Item, sie scheren Kronen [schneiden sich Tonsuren] und sind nicht ordiniert und haben auch kein Format [Priesterweihe], obwohl sie sprechen, sie hätten es. […] Summa: Diesen Kammesierern gib nicht, denn je weniger man ihnen gibt, umso besser werden sie und lassen eher davon ab. […]
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Von den Schwanfeldern oder Blickschlagern Das zwölfte Kapitel ist von den Schwanfeldern oder Blickschlagern. Das sind Bettler, die, wenn sie in eine Stadt kommen, die Kleider in der Herberge lassen und sich fast nackt vor die Kirche setzen und zittern jämmerlich vor den Leuten, dass man meinen soll, sie litten großen Frost; so haben sie sich mit Nesseln oder anderen Dingen gestochen, dass sie glühen. Etliche sprechen, sie seien von bösen Leuten beraubt worden. Etliche sagen, sie hätten krank gelegen und ihre Kleider versetzen müssen. Etliche sagen, sie seien ihnen gestohlen worden. Und sie tun das deshalb, dass ihnen die Leute Kleider geben. Dann verkimmern [verkaufen], verbulens [versaufen] und verjonens [verspielen] sie die. Summa: Hüte dich vor diesen Schwanfeldern, denn es sind Bubenstücke, und gib ihnen nichts – sei es Frau oder Mann –, außer du kennst sie gut. […] Von den Dützbetterinnen Das fünfzehnte Kapitel ist von Dützbetterinnen. Das sind Bettlerinnen, die sich im Land überall vor die Kirchen legen und breiten ein Leintuch über sich und setzen Wachs und Eier vor sich hin, als ob sie Kindbetterinnen [Wöchnerinnen] wären und sprechen, ihnen sei vor vierzehn Tagen ein Kind gestorben – obwohl etliche von ihnen seit zehn oder zwanzig Jahren keins gehabt haben. Und die heißen Dützbetterinnen. Es gibt keine Ursache, diesen zu geben. […] Es gibt auch etliche Weiber, die behaupten und tun so, als ob sie seltsame Gestalten ausgetragen und zur Welt gebracht hätten. Als kürzlich im tausendfünfhundertneunzehnten Jahr eine Frau nach Pforzheim kam, sagte diese Frau, wie sie vor kurzem ein Kind und eine lebendige Kröte zur Welt gebracht hätte. Dieselbe Kröte hätte sie dann zu Unserer Lieben Frauen zu Einsiedeln getragen, da wäre sie noch lebendig gewesen. Der musste man jeden Tag ein Pfund Fleisch geben, die hielt man zu Einsiedeln für ein Wunder. Und sie bettelte so, als wäre sie jetzt auf dem Weg nach Aachen zu Unserer Lieben Frauen, sie hätte auch Brief und Siegel, die ließe sie auf der Kanzel verkünden. Dieselbe hat einen starken Buben in der Vorstadt im Wirtshaus sitzen, der auf sie wartet, den sie mit solcher Büberei ernährt. Da wurde man ihrer durch den Torwärter gewahr und wollte sie ergreifen, aber sie waren gewarnt worden und machten sich davon. Und alles war Büberei und erlogen, womit sie umgegangen sind. […] Von den Jungfrauen Das neunzehnte Kapitel ist von den Jungfrauen. Das sind Bettler, die Klappern tragen, als ob sie aussätzig wären, und sind es doch nicht. Das heißt: mit den Jungfrauen gehen. […]
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Von Übern Söntzen Gehern Das einundzwanzigste Kapitel ist von Übern Söntzen Gehern. Das sind die Landfahrer oder Bettler, die sprechen, sie seien Edle und wegen des Kriegs, Feuers und Gefängnisses vertrieben und beraubt worden und ziehen sich gar säuberlich an, als ob sie Edle wären, obwohl es nicht so ist, und haben das loe bsaffot (falsche Papiere), das heißt: Übern Söntzen gehen. […] Von den Veranerinnen Das dreiundzwanzigste Kapitel ist von denen, die auf Keimen [als Juden] gehen. Das sind Frauen, die sprechen, sie seien getaufte Jüdinnen und seien Christen geworden. Und sie sagen den Leuten, ob ihr Vater oder ihre Mutter in der Hölle sind oder nicht. Und sie geilen [betteln] den Leuten Röcke, Kleider und andere Dinge ab und haben auch falsche Briefe und Siegel. Dieselbigen heißen Veranerinnen. […] Von den Schweigern Das 26. Kapitel ist von den Schweigern. Das sind Bettler, die nehmen Pferdemist und mengen ihn mit Wasser und bestreichen die Beine, Hände und Arme. Damit werden sie geschaffen, als ob sie die Gelbsucht hätten oder andere große Krankheiten, was doch nicht der Fall ist. Damit betrügen sie die Leute, und die heißen Schweiger. Quelle: Von der falschen Betler buberey. Mitt einer Vorrede Martini Luther. Und hinden an ein Rottwelsch Vocabularius, daraus man die wörter, so ynn diesem Büchlein gebraucht, verstehen kann, Wittenberg 1528, A1v–C1v.
143. Stadt Hamburg: Christliche Ordnung (1529) Die Einführung der Reformation in Hamburg war wesentlich eine Sache des Bürgertums. Die Bürger setzten vor allem das Recht auf die Wahl des Pfarrers durch und nahmen die Neuordnung der Armenfürsorge in Angriff. 1527 richtete die Gemeinde St. Nikolai nach dem Vorbild der Leisniger Kastenordnung (s. Text 133) und nach Vorschlägen Johannes Bugenhagens einen Gemeinen Kasten, eine sog. Gotteskiste, ein und wählte nach der Zahl der Apostel 12 Diakone, die mit der Armenfürsorge betraut wurden. Ende 1527 schlossen sich die anderen drei Hamburger Gemeinden St. Petri, St. Jakobi und St. Katharinen diesem System an. 1528 kam Johannes Bugenhagen (1485–1558), seit 1523 Stadtpfarrer in Wittenberg, nach Hamburg. Auf den von den vier Gemeinden eingeführten Regelungen aufbauend erarbeitete er in ständiger Beratung mit den Vertretern der Kirchspiele eine Kirchenordnung, die im Mai 1529 fertig gestellt wurde. Parallel dazu entstand ein neues Stadtrecht mit verfassungsähnlicher Funktion, der Lange Rezess, den der Rat im Februar 1529 verabschiedete. Stadt- und Kirchwesen waren Sache der damals ausschließlich lutherischen Bürger. Die „christliche Ordnung“ für die Stadt Hamburg, die der aus Pommern stammende Reformator Bugenhagen nach der kurz zuvor fertig gestellten Braunschweiger Kirchenordnung aufbaute, umfasst drei Teile: Die Schulordnung, die Ordnung des Predigtamtes und die Kastenordnung. Bugenhagen entwickelt ein differenziertes Kastensystem mit jeweils unterschiedlichen Zwecken. In den vier Pfarrbezirken werden in den Kirchen Almosen in einem Kasten gesammelt. Ein sog. fünfter Kasten poolt die Mittel aus Hospitälern, Bruderschaften und anderen freiwilligen Spenden. Gewählte Armen-Diakone – sie repräsentieren das Gemeindeprinzip und arbeiten zugleich eng mit dem Rat zusammen – verwalten die Mittel, verteilen sie an die Armen oder führen sie um einer transparenten Finanzierung willen an die Spitäler zurück. Die Pfründnerpraxis in Hospitälern soll begrenzt, ein vor allem auf Arme fokussiertes Spital gegründet werden. Die Hamburger Armenordnung legt explizit dar, was in vergleichbaren Statuten schlicht vorausgesetzt ist: Die öffentliche Armenpflege hat im Kontext der frühneuzeitlichen Selbsthilfegesellschaft subsidiären Charakter, d.h. sie tritt ein, wenn das soziale Potenzial der Familie, Nachbarschaft etc. an ihre Grenze gekommen ist. Für Mönche bietet die Ordnung Übergangsregelungen der Versorgung. Die Sicherstellung von Stifterzwecken in Testamenten und das Verhindern eines administrativen Missbrauchs von Almosen stehen auf der Ta-
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gesordnung. Deshalb führen vier kommunale Ratspersonen die Aufsicht über die von den Armen-Diakonen verteilten Almosen; die weithin kirchlich gewonnenen Mittel unterliegen damit der öffentlichen Kontrolle, Kassen- und Rechnungsprüfung. Die Kirchenordnung und die Verfassung der Stadt werden so miteinander verzahnt. Die damit ausgestaltete Verantwortung für die Armen ist Ausdruck eines christlichen Gemeinwesens und städtischer Identität. Der ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung, dienend dem Evangelium Christi, christlicher Liebe, der Zucht, dem Frieden und der Einigkeit. Mit dieser Ordnung wird Folgendes verfügt: eine gute Schule für die Jugend und gute Prediger des Wortes Gottes für uns alle, dazu, wie es billig und christlich ist, die Besoldung der Arbeitenden, außerdem eine für die Armen bestimmte Versorgung. [ ... ] Von den allgemeinen Kästen und den Diakonen oder Kastenvorstehern Zur Besoldung der kirchlichen und anderer in der Ordnung enthaltenen Dienste und zur Versorgung unserer armen Leute müssen wir allgemeine Kästen haben. Denn dass die Arbeiter ihres Lohnes wert sind und wir den Armen, die sich nicht selbst versorgen können, helfen sollen, das bringt auch die Vernunft mit sich oder das natürliche Recht bei allen Menschen, wenn es auch Heiden sind, und uns Christen ist es auch ausdrücklich aufgetragen durch göttliches, in der Schrift aufgezeichnetes Recht. Dies bringt auch das heilige Evangelium unseres Herrn Jesu Christi mit sich, wenn es denn unter uns ist, als eine Frucht des rechten Glaubens. Jeder ist schuldig, die Seinen zu versorgen, soweit er dazu mit seinem Vermögen oder seiner Arbeit imstande ist, damit das allgemeine Gut der Armen nicht belastet werde, wie Paulus 1Tim 5,16 über die Witwen sagt. Außerdem sollen wir auch jedermann geben und ohne Verdruss wohltun, solange wir die Zeit dazu haben und dazu imstande sind, vor allem denen, die sich Gott zuwenden und gleich uns das Evangelium Christi lieben, wie Paulus es Gal 6,9f. lehrt. Mit anderen Werken, die Gott nicht geboten oder aufgetragen hat, vermagst du allenfalls Heuchelei zu stiften und einen frei erfundenen Gottesdienst, allein hiermit beweist du, dass du Christ bist, Christus zu Ehren und zum Dienst, wie Christus selber sagt Joh 13,35: Dabei wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt. Und er wird auch am Jüngsten Tage bekennen, wie es Mt 25,35ff. geschrieben steht: Ich bin hungrig, durstig, nackend, ohne Herberge, gefangen gewesen etc. Aber wenn wir so die Unsrigen versorgen und ihnen Gutes tun, wo immer wir können, so bleiben dann doch noch
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viele heimliche und öffentlich bekannte Arme unversorgt, vor allem in einer so großen Stadt. Denn es gibt viele, die sich um diese Armennot nicht kümmern, und anderen wird es zu viel. Darum ist es erforderlich, dass wir für diese Armennot einen allgemeinen Fundus zusammenbringen, wie auch zur Besoldung unserer in der Ordnung enthaltenen Dienste. Solche Bestrebungen nicht zu unterstützen, ist unchristlich, sie hintertreiben und verhindern zu wollen, ist sogar teuflisch und genießt auch in den Augen der Welt ein übles Ansehen. Es ist auch nicht gerade ein gutes Zeichen der Seligkeit, wenn uns Gott Gutes in Fülle zukommen lässt, dass wir unsererseits so verhärtet sind, uns um einen nackten Armen nicht zu kümmern, ja, es fertigbringen, ihn mit einem Heller abzuspeisen. Ebenso wenig machen wir uns Gedanken über die Bedürftigkeit des wohlbekannten Hausarmen, über arme Mägde, dass sie nicht verkommen etc. Dies wäre gewiss der rechte Gottesdienst, zu dem wir beitragen sollten. Gottlosen Gottesdienst, zu dem wir den faulen Bräuchen, unseren Verführern, mit beiden Händen gegeben haben, haben wir leider, ach, leider allzu viel gehabt. Diese Meinung spricht Johannes, 1Joh 3,17, mit diesen Worten aus: Wenn jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm? Meine Kinder, lasset uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und Wahrheit. […] Ordnung der Armenkästen In jeder Pfarrkirche soll sichtbar ein Kasten für die Armen stehen.1 Da hinein sollen alle freiwilligen Opfer kommen, die man das ganze Jahr über feiertags oder werktags hinein geben will. Die Prediger sollen die Leute angelegentlich dazu anhalten, dass sie ihre mildtätige und barmherzige Hand zu diesem Kasten hinstrecken. Unsere Prediger sind es schuldig, dies zu tun, und können das auch sicher ohne jeden Verdacht tun, weil sie nichts davon erhalten oder begehren, sondern sich an ihrer Besoldung genügen lassen. […] Die Gelder aus diesen Kästen soll man aus allen Pfarrkirchen am Sonnabend zusammentragen, als Beihilfe für die Spende, die dann durch die Armendiakone verteilt wird. Was aber dazu sonst noch sowie zu anderer Armennot gehört, das soll alles aus dem fünften allgemeinen Kasten der Armen2 genommen werden, der an einem passenden Orte stehen soll, in welchen die Armendiakone den Schatz der Armen in dieser Weise zusammenbringen sollen. 1
Die Gotteskasten bestanden für St. Nikolai seit 16. August 1527, für die übrigen drei Kirchspiele seit 18. Dezember 1527. 2 Der fünfte so genannte Hauptkasten bestand seit dem 19. September 1528, womit auch eine ausgleichende Kontrolle über die anderen Gotteskasten gegeben sein sollte.
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Hier hinein sollen die folgenden Vermögenswerte und Einkünfte gehören: Alle Hospitäler mit ihrem Zubehör [...] sowie alles, was den Armen in Testamenten und an anderen freiwilligen Spenden gegeben wird, auch Leibgedinge, die wie üblich gemacht werden. […] Alle Hospitäler sollen durch die Armendiakone versorgt werden, ausgenommen das St. Georgspital, in welchem die Aussätzigen vom Ehrb. Rat versorgt werden. Darum sollen die Diakone ihren Hospitälern gewissenhaft vorstehen, damit die Armen dort um der Kasten willen nichts einbüßen. Für Geld soll sich keiner mehr in die Hospitäler [Altenheime] einkaufen. Es sei denn, es werde anerkannt, dass es notwendig für jemanden sei, so dass man ihm sich so einzukaufen zugestehe und nehme all sein Gut an sich, wie es nachher noch beschrieben wird. Darum soll es mit den Pfründnern, die einem Erwerb nachgehen, wie herkömmlich gehalten werden, dem Hospital zum Besten. Man muss noch ein besonders großes Hospital einrichten zur Betreuung der wirklich bedürftigen Armen etc. Darin muss man auch einen Wohnteil mit vielen Kammern absondern, die man beheizen kann, nur zum Gebrauch für die Notlage derer, die von der Pest [...] befallen sind, falls man ihnen helfen könnte, damit nicht auch andere durch sie angesteckt werden. Hier richte man Lagerstätten ein und verschaffe sich rechtzeitig Pflegekräfte dafür, damit auf jeden Fall diese Leute, die von allen gemieden werden, ihre Betreuung haben. So wird Gott in unserer Notlage für uns sorgen. Diejenigen, welche Verwandte oder Herren und Frauen haben, die dazu in der Lage sind, sollen billiger- und christlicherweise von diesen Hilfe erhalten, so dass der allgemeine Kasten nicht belastet werde, wenn nicht, so soll man sie trotzdem nicht vernachlässigen. Wollen andere nicht tun, was christlich ist, so sollen die Diakone deswegen nicht säumig sein. Was ins Hospital von frommen Herzen gegeben wird, soll von den Armen-Diakonen angenommen werden und auch in diesen Kasten gehören. Auch was in den Erbtestamenten oder sonst in dieser Stadt an Tuchen, Brot, Butter, Spenden, Geld, Schuhzeug und dergleichen, auch an barem Gelde, zum Zweck jährlicher Ausschüttung an die Armen gestiftet ist, sollen billigerweise die jeweiligen Testamentsverwalter den Armen-Diakonen jährlich überantworten, damit dies Geld ordnungsgemäß unter die rechten Armen verteilt werde und die bekannten Armen den anderen nicht zum Nachteil gereichen. Während man aber in den allgemeinen Kasten solche Erbtestamente nicht einbringen kann, die bei den Geschlechtern verbleiben oder ewigen Testamentsverwaltern, als welche sie vor Gott und den Menschen auftreten wollen, zur Versorgung ihrer Armen und Bedürftigen anbefohlen sind, ebenfalls nicht jene Lehnware der Patrone, die Bür-
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gern und Bürgerinnen gehören, auch nicht die Lehnware, die schon früher erloschen [expiret] war und dem Domkapitel zugeschlagen [incorporeret] oder – gegen die Patrone – zu Rom beansprucht [impetreret], – sollen alle diese [Sachen] jetzt wieder zu ihren rechtmäßigen Erbpatronen zurückkommen und dort dauernd verbleiben, zur Unterstützung einiger Studenten auf der Universität oder zu anderen christlichen Sachen und zur Behebung der Armennot, was sie, ihrem aus Gottes Wort unterwiesenen Gewissen folgend, gewiss tun werden. Falls solche Testamentserben und Patrone aus dem Einkommen öfter oder alle Jahr viel oder wenig zur Ehre Gottes der allgemeinen Armut zuwenden wollten, wohl gar das ganze Corpus samt den Einnahmen, falls es ohne Nachteil für die rechtmäßigen Erben geschehen könnte, so soll all dies ihrem Willen freistehen. Auch dies sollte in diesen allgemeinen Kasten der Armen kommen. Die Lehen aber und Pfründen, die von Fürsten oder vom Adel verliehen sind, sollen in eben dem Werte, den sie bei ihrer ersten Stiftung, nach Inhalt ihrer Fundationsakte, hatten, den Patronen anheimgestellt werden, ob sie auch zu solchem guten Werke und rechtem Gottesdienst mit dem Gute beitragen wollten, das ihre Voreltern in guter Absicht für den Gottesdienst hergegeben haben. Und leider ist ein anderer Dienst daraus geworden, wie man es in der Braunschweiger Ordnung über die Messe nachlesen kann, und über andere Geld- und Bauchdienste, nicht Gottesdienste! Ein Ehrb. Rat aber und auch die Kastenvorsteher sollen, jeder für sich, eine Liste derartiger Testamente und Lehen haben, welche, wie gesagt, die Bürger im Besitz haben, damit sie nicht verloren gehen, vielmehr die Patrone und Testamentsverwalter dem Ehrb. Rat über das Kapital Auskunft geben können, wenn sie dazu aufgefordert werden. Dringliche Notfälle sollen durch den Ehrb. Rat entschieden werden und nicht durch eigenmächtiges Vorgehen. Außerdem soll auch in diesen Armenkasten alles hineingehören, was fromme Leute christlich aufbringen und den Armen stiften wollen. Zu einem guten Anfang und als christliches Beispiel, damit andere Herren und fromme Leute dem nacheifern können, hat ein Ehrb. Rat diesem Armenkasten3 die Summe von tausend Mark gespendet und übergeben. […]
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Der hier genannte Hauptkasten bestand nur kurze Zeit. Bei dem Ausfall des Hauptkastens half man sich dadurch, dass die reichen Kirchspiele den ärmeren aushalfen.
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Welche Armen aus dem Kasten versorgt werden sollen Aus diesem Armenkasten sollen alle rechten Armen versorgt werden. Das sind als erste die Hausarmen. Ebenso die Handwerker und Arbeiter, die das Ihre nicht versaufen oder verkommen lassen oder unnütz verbringen, sondern fleißig arbeiten, in aller Ehrbarkeit und Redlichkeit leben und doch dabei Unglück haben, so dass sie ohne eigene Schuld Not leiden. Ebenso jene, die durch Krankheit oder körperliche Gebrechen erwerbsunfähig sind. Ebenfalls Witwen und Waisen,4 die nichts haben und sich nichts erarbeiten oder erwerben können oder sonst keine Verwandten haben, die sich ihrer annehmen sollen oder wollen, sofern sie ein ehrbares Leben führen und nicht lasterhaft leben, wie Paulus 1Tim 5,4ff. von den Witwen schreibt. Sind sie jung, so verhelfe man ihnen, um Gottes willen, dass sie wieder Ehemänner bekommen, wie Paulus es ebendort haben will. Desgleichen hier ortsfremde junge Frauen und ordentliche Dienstmägde,5 die einen guten Ruf haben, niemand aber nimmt sich ihrer an, sondern sie sind von allen verlassen. Ebenso jene, die eine Zeitlang bei uns gedient haben, so dass sie sich als bewährt und rechtschaffen erwiesen haben, und um Gottes Willen bitten, dass man ihnen zum Erlernen eines Handwerks behilflich sein solle, um bei uns einem ordentlichen Beruf nachzugehen. Ebenso jene, denen man dazu verhelfen kann, dass sie von ihrer Krankheit genesen, sonst aber aus Armut verkommen müssten. Diesen und Ähnlichen helfen wir aus der Not. Diese Werke sind keine Heuchelei, sondern, wie oben gesagt, die ernsthaften rechten guten Werke. Über arme ehrbare Priester steht weiter unten etwas in der Ordnung des Schatzkastens. Auch soll man aus diesem Kasten den Hebammen oder Bademuhmen für die Pflege armer Frauen Zuwendungen machen, wie oben von ihnen gesagt ist. Die Namen der Armen, die man eine Zeitlang oder ständig versorgen muss, sollen in eine Liste eingetragen werden. Bei ihnen soll man besonders darauf achten, dass sie ehrbar leben. […] Sie [die Diakone] sind nicht dazu eingesetzt, den Kasten reich zu machen, sondern die Armen in ihrer Not zu versorgen. Wiederum werden sie gewiss so verständig und vernünftig sein, dass sie Müßiggänger und Schurken nicht wissentlich unterstützen. Ergattern diese wirklich etwas mit Betrug, dann sollen sie damit abziehen und nicht wiederkommen. Die Diakone haben es ihnen nicht gegeben wegen ihrer Schwindelei, sondern um Gottes Willen, und Christus wird dies ebenso anerkennen wie das andere. 4
Gotteskasten-Ordnung St. Nikolai: die Kastenvorsteher haben für die Berufsausbildung der Waisenkinder zu sorgen. Erstes Hamburger Waisenhaus 1604 [...]. 5 Gotteskasten-Ordnung St. Nikolai [...]. Ihnen soll zum Ehestand verholfen werden durch eine Aussteuer aus Testaments- und Stiftungsmitteln.
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Rechtschaffenen Handwerkern, die ohne eigenes Verschulden mit Frau und Kindern Not leiden, soll man mit Vorschuss helfen, der nach bestimmter Frist ohne Aufgeld oder Gewinn zu erstatten ist. Die Diakone sollen hierbei Vernunft gebrauchen, dass sie den Armen nicht unklugerweise Schaden tun durch Maßlosigkeit der Ausgabe. Die christliche Liebe aber soll doch überall das letzte Wort haben. Fremde Bettler und andere, die arbeiten können oder sonst keine Not leiden, sollen mit ihrem Betteln hier nicht geduldet werden. Jedoch die bei uns krank werden, an denen, obwohl ortsfremd, wollen wir handeln wie an solchen, die bei uns gewohnt oder gedient haben. Denn so sehen wir sie an, dass Gott selber sie uns in ihrer Notlage zum Versorgen zuweist. Erhielte aber zu Zeiten ein durchreisender Bedürftiger aus unserem allgemeinen Gut eine Gabe, sei es nun Geld, Strümpfe oder Schuhe, vor allem durch Fürsprache rechtschaffener Bürger oder der Prediger, so soll es so genau nicht genommen werden, allerdings ohne Schmälerung unserer Armen. Die Bedürftigen sollen sich bei den Diakonen selber melden oder dies durch andere glaubwürdige und bekannte Personen tun lassen, damit man ihre Notlage richtig erkennen und ihnen so helfen kann etc. Denen allerdings, die ihren Ehegatten verlassen oder Schande und Gotteslästerung betreiben, soll man nichts geben, falls sie sich nicht ändern. Wenn jemand – Mann, Frau, Knecht, Magd – aus nachweisbarer Not um Gottes willen bittet und zu lebenslänglicher Unterstützung aus dem allgemeinen Gut angenommen wird, soll dieser Kasten sogleich deren ganzes Hab und Gut, beweglich und unbeweglich, übernehmen als Zuschuss zum Unterhalt und, falls nach dem Tode des Betreffenden etwas übrig bleibt, für immer behalten. Auf die Mönche, die bei uns bleiben, weil sie alt, krank oder sonst untauglich sind, soll man Acht geben, dass sie zuchtvoll leben, zu bösem Gerücht keinen Anlass geben, und man sorge für ihren zeitlichen Unterhalt. Schlemmen brauchen sie nicht. Sie sollen bedenken, dass man sie völlig umsonst um Gottes Willen ernährt, jedoch so, dass man sie keine Not leiden lasse. Die aber das Kloster verlassen wollen, soll man angemessen mit Geld bedenken und ihnen, wenn sie es wollen, zu einem Handwerk verhelfen oder zum Predigtamt oder zu einem anderen Kirchen- oder Schuldienst, hier oder anderswo, wenn sie sich dazu eignen, oder zu einem sonst christlichen Broterwerb je nach persönlicher Eignung. Wir sollen [stets] die Not dieser nun von allen verlassenen Leute gerecht und gründlich bedenken. Das verlangt unser Evangelium und die rechte christliche Liebe, sofern sie ihr Leben redlich und ordentlich, wie sie es schuldig sind, führen wollen. Was sie glauben oder nicht glauben, das muss man alles Gott anheimstel-
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len, der hat darüber Macht, sofern sie bei anderen Leuten unserem Evangelium und der Gnadenpredigt in Christo nicht hinderlich sind. Fielen die Schuldner dieser Kasten in plötzliche nachweisliche Not ohne ihr Verschulden, so dass sie ganz oder teilweise nicht bezahlen können – wie denn Gott uns gewiss Unglück schicken kann –, so sollen die Diakone an ihnen gnädig und barmherzig handeln nach Lage der Sache, jedoch so, dass dem Schuldner weder Hinterlist noch Betrug gestattet werde. Geld auszuleihen in größeren Beträgen aus diesem Gut der Armen, sollen drei oder vier Diakone nicht auf sich nehmen, sondern dies soll geschehen, wenn am Sonnabend die sechzehn Diakone oder die meisten von ihnen, falls einmal einige nicht kommen können, beisammen sind. Es wäre denn, dass irgendwo eine plötzliche oder nachweisliche Not es anders erfordert. […] Die Ordnung des Schatzkastens Man braucht nicht mehr als einen Schatzkasten zu haben, der an einem geeigneten Orte, an dem auch der fünfte Armenkasten steht, aufgestellt werden soll. In diesen Schatzkasten sollen die Geldwerte kommen, die den Schatzkasten-Diakonen oder Schatzkasten-Vorstehern übergeben werden sollen. Als erstes der Vierzeiten-Pfennig oder das Opfer, denn jeder Mensch von zwölf Jahren an soll verpflichtet sein, zum Unterhalt der Pastoren und Kapläne jährlich vier Pfennige Lübsch6 zu geben. Das Geld soll jeder zu den vier Zeiten des Jahres, wie man dies auch abkündigen wird, in das Armen-Becken geben, und jeder Hausvater soll seine Gäste, seine Kinder und sein Gesinde darüber belehren, dass dies Geld ausgegeben werde. Auch sollen hier alle Kirchengüter hineinkommen, ausgenommen von St. Gertrud, worüber vom Ehrb. Rat und von den dortigen Bürgern eine Sonderregelung getroffen und beschlossen wurde. […] Von den Diakonen oder allen Kastenvorstehern Weil bereits früher von dem Ehrb. Rat und der Gemeinde in jedem Kirchspiel zwölf Diakone oder Kasterverweser bewilligt und angenommen sind, welche jetzt im Amte sind, von denen die ersten drei in jedem Kirchspiel die Seniores oder Älterleute oder Ältesten7 sind, so muss man [nun] diese achtundvierzig Männer in bestimmter Weise einteilen, dass sie nicht planlos und ohne System in dieser gottgefälligen Sache tätig sein mögen, sondern einem jeden aufgetragen werde, 6 7
Lübsch bezieht sich auf Lübecker Münzen. Später die Oberalten genannt.
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was er insbesondere christlich tun soll, Gott zur Ehre, diesem Dienst zum Gewinn. […] Von den vier Ratspersonen Weil dies gottgefällige Amt Geld und Besitzgut angeht, auch viel Geschäftliches in dieser Stadt, kann und soll es auch nicht bestehen ohne des Ehrb. Rats Zustimmung, Anordnung und Ermächtigung, wie es denn, Gott sei es gelobt, schon zum Teil im Auftrag des Rates in Angriff genommen ist. Darum sollen die Diakone diesmal alle miteinander darüber beraten und danach durch ihre zwölf Ältesten den Ehrb. Rat um vier namentlich genannte Ratspersonen zur Unterstützung der Kästen bitten, die im Namen des Rats den Diakonen behilflich sein sollen, wo es, in Sachen der Kästen oder dies Amt angehend, notwendig ist, und die im Namen des Rats genaue Aufsicht darüber führen sollen, ob es auch im Hinblick auf die Armen und die Kästen mit allen Dingen recht zugehe. Und sie sollen ein Verzeichnis besitzen und über alle eingehenden Gelder Bescheid wissen, wie man ihnen auch Rechenschaft über alle jährlichen Ausgaben ablegen soll, damit nichts abhanden komme. […] Die Zusammenkunft der Armendiakone Nun sollen von den Alten der Diakone, aus jedem Kirchspiel einer, vier verschieden gearbeitete Schlüssel zum fünften oder Hauptkasten haben, [sie sollen] einnehmen, ausgeben und zuteilen an die Hospitäler und Armen und alles erledigen, was oben vom Kasten gesagt ist, jedoch mit Wissen der anderen acht Alten und der zwölf jüngsten Diakone, während der Zeit ihrer Dienstmonate, damit die Sache rechtmäßig zugehe und unverdächtig bleibe. […] Diese sollen ein Hauptbuch führen über alle Kapitalien und ansehnlichen Gaben, die den Armen gegeben werden, und vom gleichen Buch soll ein zweites gleichen Wortlauts und Inhalts bei dem Ehrb. Rate liegen, wo die beiden Ratspersonen in jedem Falle Kontrolle ausüben sollen. Ferner sollen sie ein Rechnungsbuch haben, in das ordnungsgemäß und übersichtlich Einnahme und Ausgabe eingetragen werden, viel und wenig, damit sie desto besser mit allen ihren jüngsten (Diakonen) Abrechnung halten können. […] Allgemeines über alle Diakone oder Kastenvorsteher Stets wenn eine Wahl einer Ratsperson oder eines Diakons geschehen soll, soll man durch die Kastendiener bei den Pfarrern ausrichten lassen, dass in allen Kirchen am Sonntage vorher öffentlich Fürbitte gehalten werde, dass Gott uns einen guten Herrn oder einen guten Diakon gebe, zum Besten dieses Amtes. […]
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Zweimal im Jahr sollen alle Diakone mit den vier Ratspersonen zusammenkommen, um ruhig, vernünftig, mit Frage und Antwort zu beraten und zu überlegen, was für die Armen und die Kastenämter getan werden müsse, in der Weise, dass die Ratspersonen als erste Sitz und Stimme haben, danach die Ältesten, dann die Jüngsten, einmal um den Michaelistag, zum zweiten Male vor Lätare, ehe sie an die allgemeine Rechnungslegung gehen, damit sie richtige und klare Rechenschaft geben können und um das Weitere zu besprechen. […] Jedes Jahr um Lätare, an einem vom Ehrb. Rate bestimmten Tage, sollen alle Diakone dem Ehrb. Rate oder wem es der Rat, vor allem den vier Ratspersonen und anderen, übertragen will, vollständige Rechnung legen, das Ergebnis der Rechnungslegung glaubwürdig schriftlich niederlegen und sich entlasten lassen, damit man diese Entlastung seitens des Rates am nächsten Sonntag von den Kanzeln bekannt gebe, um jeden Verdacht zu vermeiden und gutwillige Herzen anzuregen, dass sie ihre barmherzige Hand ausstrecken, dieser Sache zu helfen. […] Wenn die gesamte Rechnungslegung, wie gesagt, und alles Nötige hinsichtlich des Amtes erledigt ist, soll aller Überschuss in den beiden Kästen verwahrt werden als Beihilfe in Fällen von Pest oder anderer Not auch für [Kirchen-]Bauten, vor allem damit man Brotkorn anschaffe und davon einen guten Vorrat in einem Kornhause anlegen könne. Dieses Haus soll beide Kasten erhalten und verwalten, damit man das Korn bei Bedarf seitens dieser Stadt, nach Lage der Zeitumstände und der Personen, die dessen bedürfen, gegen einen angemessenen Betrag austeilen oder auch bei erkannter Notlage umsonst ausgeben und spenden könne. Besondere, notwendig zu ändernde Dinge Alle, die wissentlich zulassen, dass ein geschändetes Mädchen mit Gewalt gezwungen werde, Freiwild zu sein für alle Männer, ob sie wolle oder nicht, die sündigen gröber vor Gott, als das Mädchen mit seiner ersten Sünde gesündigt hat etc. Darum soll ein bestimmtes Haus in der Neustraße, wo dies geschieht, von diesem Tag an zu solchem gewissenlosen und schimpflichen Tun nicht [mehr] gebraucht werden. […] Beschluss Wann diese Ordnung angenommen worden ist, ist oben unter Von den Festen gesagt. Dass sie aber eingehalten werde und in Kraft bleibe, werden gewiss die vier Ratspersonen und die Diakone, vom Rat und der ganzen Stadt dazu bestellt, sich angelegen sein zu lassen. Alles dies ist verhandelt und angenommen worden nach Gottes Wort, Christo zu Ehren und keiner weltlichen Obrigkeit zuwider. Denn wir wollen, nach der Gnade Gottes, dem Evangelium so anhangen, wie es
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das Evangelium selbst und die apostolischen Schriften lehren, dass den kaiserlichen Rechten, Landesrechten und Stadtrechten oder weltlichen Obrigkeiten, denen Gott uns unterworfen hat, auf keinerlei Weise Abbruch geschehe. Vielmehr wollen wir gern, wie wir es nach Christi Lehre schuldig sind, dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, d.h. aller weltlichen Obrigkeit, was ihr gehört, jedoch so, dass wir daneben Gott geben können, was Gottes ist.8 Quelle: Der Ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung 1529, De Ordeninge Pomerani, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege im 16. Jahrhundert, VDWI 23, Heidelberg 2004, 135–152. © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
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Vgl. Mt 22,21.
144. Kaiser Karl V.: Von Bettlern und Müßiggängern (1530) Die Reform der Armenfürsorge im 16. Jahrhundert war wesentlich eine Angelegenheit der Städte. Erst allmählich nahmen sich auch staatliche Instanzen des Themas an. Die beiden folgenden Verordnungen Kaiser Karls V. sind klassische Beispiele für Ansätze zentralstaatlicher Armenpolitik. Ihre unmittelbare Wirkung blieb allerdings insofern begrenzt, als sich die Durchführung der Reformbestrebungen auf lokaler Ebene vollzog und deren Ergebnisse entscheidend von den lokalen Behörden abhing. Karl V. – geb. 1500 in Gent, 1520 zum römisch-deutschen König und 1530 zum Kaiser gewählt, gestorben 1558 – erließ auf dem Reichstag in Augsburg am 19. November 1530 für das Heilige Römische Reich eine „Ordnung und Reformation guter Policey“, die auch Grundsätze der Armenpolitik beinhaltete. Die Verordnung legt die Pflichten öffentlicher Behörden beim Umgang mit Bettlern und im Bereich der Armenfürsorge fest und sucht reichseinheitliche Regelungen herbeizuführen. Die nur sehr grob markierten Richtlinien fußen auf den Initiativen deutscher und niederländischer Städte. Darüber hinaus wird den lokalen Behörden empfohlen, die Spitäler zu kontrollieren, damit sie ausschließlich der Unterhaltung der bedürftigen Armen dienen. Da, wo sich die Übertragung der Aufsicht über die Spitäler auf die lokalen Behörden durchsetzt, markiert sie einen bedeutenden Schritt zur „Laizierung des Spitalwesens“ (Bronislaw Geremek). Wir, Karl der Fünfte, von Gottes Gnaden römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches, König in Germanien, zu Castilien, zu Arragon, zu Legion, beider Sicilien, zu Jerusalem, […] auch der Inseln Indiarum und Terrae Firmae und des Meers Oceani, und Erzherzog zu Österreich, Herzog zu Burgund, zu Lothringen [... ] Entbieten allen und jeglichen, Unsern und des Heiligen Reichs Kurfürsten, Fürsten, Geistlichen und Weltlichen, Prälaten, Grafen, Freien, Herren, Rittern, Knechten, Hauptleuten, Schultheißen, Bürgermeistern, Richtern, Räten, Bürgern und Gemeinden, und sonst allen andern Unsern und des Reiches Untertanen und Getreuen, in welchen Würden, Stand oder Wesen sie seien, denen diese unsere Ordnung oder Abschrift davon zu sehen oder zu lesen fürkommt oder gezeigt wird, unser Gnad und alles Guts. [ ... ]
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Von Bettlern und Müßiggängern
XXXIV. Von Bettlern und Müßiggängern § 1. Wir wollen auch, dass eine jede Obrigkeit sich um das Problem der Bettler und anderen Müßiggänger ernstlich bemüht, denn es soll niemandem zu betteln gestattet werden, der nicht eine Krankheit oder ein körperliches Gebrechen hat und dementsprechend nicht zu betteln braucht. Ebenso, dass auch die Kinder der Bettler, die in der Lage sind, ihr Brot zu verdienen, von den Eltern genommen werden und in Handwerken oder anderen Diensten unterwiesen werden, damit sie nicht für alle Zukunft der Bettelei nachgehen. Auch, dass die Obrigkeit dafür Sorge tragen soll, dass jede Stadt oder Gemeinde ihre Armen selbst ernährt und unterhält und dass es im Reich nicht gestattet wird, dass Fremde an jedem Ort betteln. Und wenn berufsmäßige Bettler angetroffen werden, sollen dieselben entsprechend den Rechtsordnungen oder sonst streng bestraft werden, anderen zur Abscheu und zum Exempel. Falls eine Stadt oder ein Amtsbezirk so viele Arme zu versorgen hat, dass er sie nicht selbst ernähren kann, soll die Obrigkeit berechtigt sein, sie mit einem Schreiben und einer Urkunde versehen in einen anderen Amtsbezirk zu schicken. § 2. Desgleichen soll eine jede Obrigkeit an Orten, an denen es Spitäler gibt, darauf achten, dass diese Spitäler sorgfältig unterhalten und geführt werden und sie zu keinem anderen Zweck genutzt und gebraucht werden als zum Unterhalt der bedürftigen Armen und zum guten Zweck der Barmherzigkeit. Quelle: Karl V., Römischer Kaiserlicher Majestät Ordnung und Reformation guter Policey, im Heiligen Römischen Reich, zu Augsburg Anno 1530 aufgericht, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege im 16. Jahrhundert, VDWI 23, Heidelberg 2004, 158.
145. Karl V.: Edikt für die Niederlande (1531) Während seines Aufenthalts in seiner Geburtsstadt Gent verkündete Karl V. am 6. Oktober 1531 ein Edikt für die Niederlande, das am 7. Oktober in Brüssel erlassen wurde. Es enthält in Art. IX detaillierte Regelungen der Armenfürsorge, die sich an der Praxis niederländischer Städte orientieren. Angesichts der eminent gestiegenen Zahl von Armen, die „von auswärts“ kommen, und der damit verbundenen Probleme will der Kaiser mit seiner Initiative, bevor er die Niederlande verlässt, Abhilfe leisten und im öffentlichen Interesse Ordnung schaffen. Das Dokument stellt die subsidiäre Verantwortung der lokalen Behörden und die weitgehende Autonomie der städtischen Armenfürsorge heraus. Das Edikt fordert zudem auf, die Regelungen kontextuell weiter zu entwickeln. Es verfolgt ein striktes Bettelverbot und sieht harte Strafen bei Zuwiderhandlungen vor. Ausnahmen sind nur in engen Grenzen erlaubt (religiöses Betteln, Unterstützung von Pilgern, Menschen in exzeptionellen Notsituationen wie Krieg und Naturkatastrophen). Auch der Lebenswandel rückt in den Mittelpunkt. Zu den unterschiedlichen Finanzierungsquellen gehören neben einem in Kirchen aufgestellten Kasten auch die traditionellen Geldquellen vor allem aus Testamenten, Bruderschaften, Hospizen, die kooperativ von den kommunalen Amtsträgern mit den Einrichtungsleitern zusammen verwaltet werden. Alle Spenden und Almosen sollen in einer allgemeinen Kasse gepoolt und durch die Kommune verwaltet und verteilt werden. Dass sich die Kommune zunehmend die Kontrolle über die Almosenfinanzierung aneignet, ist eine bedeutsame Etappe im Prozess der „Säkularisierung der Sozialfürsorge“ (Bronislav Geremek). Da die Armen gegenwärtig in sehr viel größerer Anzahl von auswärts in unsere Lande strömen, als es früher gewöhnlich der Fall war, haben wir die folgenden Anordnungen und Verfügungen getroffen. Erfahrungsgemäß ist es nämlich in einer solchen Lage der Fall, dass allen ohne Unterschied gestattet wird, zu betteln und um Almosen zu bitten, woraus zahlreiches Fehlverhalten und Missbrauch folgen, in der Weise, dass diese Menschen sich dem Müßiggang hingeben, was der Anfang allen Übels ist, indem sie für sich selbst und ihre Kinder davon ablassen, ein Handwerk oder eine andere Tätigkeit auszuüben, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen könnten; daraus folgt [dann], dass sie sich einem üblen und verdammenswerten Lebenswandel hingeben, die jungen Frauen der Armut und dem Unglück und allen Übel-
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taten und Lastern; und so jung sie auch sind, so kräftig und körperlich stabil, erfordern sie auf sehr unpassende Weise [alle Mittel], die sonst unter die Alten, Kranken, Schwachen und in großer Bedürftigkeit Lebenden verteilt würden; deshalb muss es vor allem unsere Aufgabe sein, hier Abhilfe und Ordnung zu schaffen zum Wohl der Öffentlichkeit und vor allem, damit die Armen, Kranken und andere Bedürftigen, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ernährt und unterstützt werden können, zur Ehre und nach dem Gebot Gottes unseres Schöpfers, aus wahrer Liebe und Barmherzigkeit, deshalb Zum Ersten: Niemand, seien es Männer oder Frauen, darf von jetzt ab sich daran machen oder es versuchen, hinter Almosen her zu sein oder andere dazu zu veranlassen oder Almosen zu erbetteln [oder es herbeiführen, Almosengaben zu verfolgen oder verfolgen zu lassen oder zu erbitten], sei es bei Nacht oder bei Tag, weder offen und öffentlich noch verdeckt und heimlich, weder auf den Straßen und in den Kirchen noch in den Häusern und vor den Häusern, auf welche Art es auch sei; wenn jemand das Gegenteil zum ersten Mal tut, soll er zur Strafe festgenommen und bei Wasser und Brot gefangen gesetzt werden nach dem Ermessen unserer Offiziellen, Richter und Rechtsleute oder anderer Personen, die damit beauftragt werden sollen, darauf zu achten, dass die vorliegende Ordnung jetzt und in Zukunft durchgeführt wird; wenn jemand es zum zweiten Mal tut, soll er nach dem obengenannten Entscheid bestraft werden. Ausgenommen und verschont von der Strafe mit Gefängnis bei Wasser und Brot nach dem oben genannten Entscheid sind die religiösen Bettler und Bettlerinnen, die Gefangenen und die Aussätzigen; sie dürfen Almosengaben in der gewohnten Weise verfolgen; die Aussätzigen haben ja ihre Hüte, Handschuhe, Mäntel und Kennzeichen, die sie tragen müssen, außer wenn sie ihre Verrichtungen machen möchten, und dann sollen sie sich von den Menschen entfernen, soweit sie können. Weiterhin: Kein Ausländer und fremder Händler darf Almosen erbitten, bei entsprechender Strafe und Zurechtweisung, es sei denn, es handle sich um ehrenwerte Leute, die gewöhnlich nicht betteln und die ihres Weges gehen wegen einer Pilgerfahrt oder anderer Verhaltensweisen frommer Unterwürfigkeit; sie können in Hospizen und Gotteshäusern eine einzige Nacht verbringen, andernfalls droht ihnen die oben genannte Strafe. Und um von den Vorstehern und Vorsteherinnen der Hospize aufgenommen zu werden, sind sie gehalten, ein Kennzeichen der Offiziellen oder der mit dem Werk der Barmherzigkeit Beauftragten offen zu tragen und ihnen dort vorzuzeigen, wo sie unterkommen wollen.
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Ebenso: Arme Leute dürfen nicht von einer Stadt zur anderen Stadt oder von einem Dorf zum anderen Dorf gehen, um dort zu bleiben und wohnhaft zu werden, bei oben genannter Strafe, es sei denn, sie seien arm geworden durch Kriegsgeschick, durch Überschwemmung, Feuersbrunst oder andere Unglücke und können es offenbar machen, in welchem Fall man ihnen helfen soll und ihnen Wohnung oder Haus beschaffen soll, andernfalls nicht. Und was die Armen angeht, die sich gegenwärtig in unseren Landen aufhalten und die dort ein Jahr sich aufgehalten haben, sie sollen da bleiben können in der Lage, in der sie sich befinden und teilhaben an den Almosen, die wir anordnen, ohne öffentlich oder heimlich betteln gehen zu dürfen, wie oben gesagt. Ebenso: Jeder soll seine kleinen oder großen Kinder davon abhalten, zu betteln oder um Almosen zu bitten, bei oben genannter Strafe, und solche Kinder sollen mit Ruten und auf andere Weise gezüchtigt werden, nach der Entscheidung der genannten Offiziellen und Rechtsleute am Ort, wo das geschieht. Ebenso: Um diejenigen zurechtzuweisen, die gegen unsere Anordnungen und Verbote verstoßen, wie sie bekannt gemacht worden sind, sollen in allen Städten, Ortschaften und Dörfern von den Offiziellen und Rechtsleuten ein oder zwei Polizisten beauftragt und abgeordnet werden, oder auch mehr, wenn Bedarf ist, je nach der Größe der Ortschaften. Und um die Armen, Kranken und anderen Bedürftigen zu unterstützen, die ihren Lebensunterhalt nicht verdienen können und auch sonst nichts haben, um sich zu erhalten und die in einer Stadt oder einem Dorf in unseren Landen leben, ordnen wir an, dass von allen Wohltätigkeitswerken, Armentischen, Hospizen, Bruderschaften und anderen, die es sich zur Aufgabe machen, Gaben und Almosen zu verteilen, eine allgemeine Kasse geschaffen wird, um daraus an die Armen zu geben nach der Maßgabe der Herren und Leiter der genannten Armentische, Hospize und Bruderschaften zusammen mit denjenigen, die die Offiziellen und Rechtsleute in jeder Stadt, Gemeinde und jedem Dorf abordnen und beauftragen sollen mit der Verwaltung der Wohltätigkeit in der Art, wie es im Folgenden erklärt wird, mit Ausnahme der Gaben, die für geistliche Personen bestimmt sind, wie Bettelmönche und andere, die nach der Anordnung der Geber verteilt werden sollen.
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Ebenso: Ab jetzt sollen in jeder Kirche der Städte und Dörfer in unseren Landen Kasten und Behälter aufgestellt werden, in die die freundlichen Menschen die Almosen im Verborgenen hineintun können; diese Kasten und Behälter sollen verschlossen sein und drei Schlüssel haben, von denen einen der Priester der Gemeinde behält, einen die Rechtsleute, und den dritten sollen die mit der Verteilung der Gaben Beauftragten haben, um das darin befindliche Geld zu nehmen, wenn es ihnen gut erscheint; darüber hinaus sollen in jeder Gemeinde von den Offiziellen und Rechtsleuten am Ort ein oder zwei angesehene Männer beauftragt werden, die Armen ein oder zwei Mal die Woche aufzusuchen oder so oft es ihnen nötig erscheint. Darüber hinaus sollen die genannten Beauftragten in jeder Gemeinde einmal die Woche oder häufiger vor die Häuser der Bewohner gehen und um Almosen bitten zur Unterstützung der Armen. Die Beauftragten und Ernannten, sowohl diejenigen, die das Almosen an die Armen austeilen als auch diejenigen, die es einsammeln, sollen angehalten werden, für jeden Monat gegenüber den Offiziellen und Rechtsleuten oder ihren Beauftragten an einem gemeinsamen Platz eine Abrechnung ihrer Einnahmen und ihrer Ausgaben zu machen, in Gegenwart aller, die sich einfinden möchten. Ebenso: Um dieses Werk der Wohltätigkeit zu leiten und durchzuführen, sollen von den Offiziellen und Rechtsleuten der Städte und Dörfer dort wohnhafte Personen ausgewählt und ernannt werden, und zwar unter den am besten geeigneten, von denen wir erwarten und die wir beauftragen, dass sie diese Aufgabe übernehmen und die Ordnung und Regel, die ihnen hoheitlich anvertraut ist, einhalten allein aus der Liebe Gottes und in echter Barmherzigkeit. Jene ausgewählten und ernannten Leute können einen Kassierer nehmen und beauftragen, der unter ihrer Anleitung in besonderer Weise Rechenschaft ablegen soll über die Almosen und was damit zusammenhängt, und die Beauftragten sollen eine sorgfältige Aufstellung machen oder machen lassen über die Anzahl, den Zustand, die Eigenschaft und Lebensbedingung der Armen, jeder in seinem Viertel, welchen Beruf und welches Alter sie haben, für wie viele Kinder sie verantwortlich sind, auch welchen Lohn sie bekommen oder bekommen könnten. Ebenso sollen diese beauftragten Personen in jeder Gemeinde Register anlegen oder anlegen lassen und darin klar und deutlich aufführen den Nachweis ihrer Erkundung, das heißt die Anzahl der Armen in jedem Hausstand und den Geldbetrag, der für sie notwendig ist über ihren Lohn hinaus, im Hinblick auf ihre Fähigkeiten, ihre Bedürfnisse und ihre Belastungen.
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Ebenso: Die Offiziellen und Rechtsleute sollen, beraten von wohlhabenden und ehrenhaften Leuten am Ort, sich darum kümmern, alle Spenden und Almosen, welcher Art sie auch seien, in eine allgemeine Kasse zu sammeln, um das Geld wöchentlich zu verteilen, jeder in seiner Gemeinde, entsprechend der Anzahl der Armen und nach der Entscheidung der Beauftragten, sei es in Form von Geld, als Brot, Holz, Kleidung oder auf andere Weise, immer im Hinblick auf die Art und Lebensbedingung der Armen, und sie sollen kein Geld geben an Trinker, Müßiggänger, Spieler, Abenteurer oder andere in ähnlichen Verhältnissen, stattdessen Brot, Holz, Kleidung und andere notwendige Dinge, um sie in ihrem Hausstand zu unterstützen. Und die Taugenichtse und die Arbeitsscheuen sollen gezwungen werden, zu arbeiten und ihren Lohn nach Hause zu bringen, unter der Strafandrohung, kein Almosen mehr aus der allgemeinen Kasse zu bekommen und unter der Androhung anderer geeigneter Strafen. Ebenso: Die Krüppel und die Kranken und andere, die ihren Platz nicht verlassen können, so auch Frauen im Kindbett, sollen besucht, unterstützt und mit Gaben versorgt werden, mit Betten, Leintüchern und Decken, mit Lebensmitteln, Heizmaterial und anderen Notwendigkeiten, und in ähnlicher Weise sollen die Waisenkinder und die Kinder Nahrung und Unterstützung aus den Wohltätigkeitsgaben erhalten. Des Weiteren: Die Kinder der armen Leute, die vor dieser Verordnung und Maßgabe herumlungerten und in den Tag hinein lebten, sollen entweder in die Schule gehen oder ein Handwerk erlernen oder eine andere Tätigkeit ausüben oder angesehenen Personen zu Diensten sein; und diejenigen, die ein Handwerk erlernen, sollen an Sonn- und Festtagen ihr „Vater unser“ lernen, ihren Glauben und die Gebote der Heiligen Kirche durch ihren Schullehrer, der dafür bestimmt wird und der sie jeden Sonntag zur Messe bringt oder bringen und begleiten lässt, und zwar zur Predigt und zur Vesper. Und damit die genannten Kinder eher geneigt sind, Dienstleistungen zu übernehmen und zu lernen, sollen die Beauftragten für die Werke der Barmherzigkeit Sorge tragen, sie mit Kleidung und allem Notwendigen auszustatten, auch dafür, sie von allem Schmutz reinigen zu lassen und sie von Schlimmem zu heilen, das sie eventuell haben, und zwar bevor sie die Gaben erhalten können. Und mit den Gaben und ihrer Verteilung, was die Offiziellen, die Rechtsleute und die mit den Werken der Barmherzigkeit Beauftragten regeln sollen, soll es so sein, dass sie in ihrem Gewissen erkennen, dass sie es um des Besten willen tun.
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Des Weiteren: Alle Armen, die von den Gaben der Wohltätigkeit und Barmherzigkeit leben, sollen gehalten sein, auf ihren Kleidungsstücken ein Zeichen zu tragen auf Anweisung der genannten Beauftragten. Ebenso: Alle Priester und Prediger sollen ein gutes Werk dadurch erfüllen, dass sie in ihren Predigten und Gesprächen, wenn sie Beichten abnehmen, wenn Testamente und Anordnungen des letzten Willens gemacht werden, dazu das Volk ermahnen, veranlassen und überzeugen, an der Unterstützung und Beförderung dieser Anordnung und dieses Wohltätigkeitswerkes teilzuhaben und von ihrem Besitz abzugeben. Und wenn die Armen, die von dem Almosen unterstützt werden, bei den Priestern und Predigern klagen oder bei anderen, dass die gegenwärtige Anordnung ihnen nicht zum Unterhalt reiche, sollen die Priester, die Prediger und die anderen nicht leichtfertig Glauben schenken, sondern sollen sie mit gütigen Worten trösten und sie zu den Beauftragten der Wohltätigkeit schicken, damit nachgesehen wird, was man machen müsste. Und sollte irgendjemand erfahren, dass das Wohltätigkeitsalmosen verteilt würde an Leute, wo es nicht [richtig] verwendet würde, oder dass irgendwelche Personen, aus Scham oder aus Schlichtheit, es nicht wagten, ihre Bedürfnisse zu äußern, dann sollen sie die Verantwortlichen benachrichtigen, damit diese, informiert von ihnen, für Abhilfe sorgen. Ebenso: Wir verbieten, dass irgendjemand, wer es auch sei, sich ohne Erlaubnis einmischt oder es ermöglicht, Bettler oder Bettlerinnen zu beherbergen, es sei denn für eine Nacht, bei Strafe von 3 karolus Gold [Golddukaten] als Bußzahlung, ein Drittel dem Ankläger und das Übrige zu Nutzen der Almosen der Wohltätigkeit. Außerdem: Wir verbieten allen, Männern und Frauen, die selbst oder ihre Kinder oder andere Personen Unterstützung aus den Almosen der Wohltätigkeit erhalten sollen, ab jetzt in Tavernen, Spielvorstellungen oder ähnliche Orte zu gehen, ebenso sind alle Arten von Spielen, Brettspielen, Kegel-, Kugel-, Würfelspielen verboten, unter Androhung beliebiger [zu beschließender] Strafen. Es ist erlaubt, dass sie das eine oder andere Mal zur Erholung ein Glas Bier mit ihren Frauen trinken können, ohne allerdings sich zu betrinken. Und damit dies gegenwärtige heilige Werk beachtet und auf Dauer ausgeführt werden kann zur Ehre Gottes und zur Unterstützung der Armen, haben wir [in der Vergangenheit] zugestimmt und angeord-
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net, stimmen wir [auch jetzt] zu und ordnen an, dass alle unsere Offiziellen und Rechtsleute und mit dem Werk der Barmherzigkeit Beauftragten in allen unseren Landen, dass jeder von ihnen bzw. jeder Ort der Durchführung, dass alle und, sooft Notwendigkeit besteht, die gegenwärtige Anordnung ausweiten und verbessern können durch neue Statuten, von denen sie sehen und erkennen, dass sie für das angesprochene Werk der Nächstenliebe dienlich und nützlich sein können zu Weiterführung, Verstärkung und Vermehrung. Quelle: Karl V., Edikt für die Niederlande vom 7. Oktober 1531, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege im 16. Jahrhundert, VDWI 23, Heidelberg 2004, 159–163. © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
146. Gutachten der Theologischen Fakultät Paris zur Armenordnung der Stadt Ypern (1531) Die flandrische katholische Stadt Ypern beschloss 1525 die Einführung einer neuen Armenordnung. Diese sah insbesondere die systematische Erkundung der Lebensverhältnisse der Armen sowie die Gründung einer gemeinsamen Kasse vor, um die wahrhaft Bedürftigen ausreichend zu unterstützen. Alles Betteln wurde verboten; fremde Bettler sollten aus- bzw. abgewiesen werden. Die neue Armenordnung fand große Zustimmung: Sie wurde zur Grundlage für Juan Luis Vives berühmte Schrift De subventione pauperum/Über die Unterstützung der Armen (s. Text 139), in der er Grundzüge einer Theorie der Armenfürsorge entwickelte, und inspirierte Kaiser Karl V. zu seiner Armenordnung für die Niederlande (s. Text 145). Allerdings stieß die Ordnung auch auf Kritik, vor allem in den Reihen der Bettelorden. Insbesondere das Bettelverbot wurde mit theologischen und naturrechtlichen Argumenten stark angefochten. Angesichts solcher Kritik ersuchte der Stadtrat von Ypern die Theologische Fakultät der Sorbonne um ein Gutachten. Der Bescheid der Fakultät der Pariser Universität erging am 16. Januar 1531. Das inhaltsreiche Gutachten befürwortet die Ordnung der flandrischen Stadt grundsätzlich, macht aber in Bibel und Tradition begründete Einschränkungen geltend. Es entwickelt unhintergehbare Gestaltungskriterien der Armenordnung für die Kontextualisierungen: Zuvorderst muss die prinzipielle Sicherung von bedürftigen Armen sichergestellt sein. Die Armenordnung darf nicht die Mitleidskultur, vor allem der Begüterten, schädigen. Öffentliches Betteln von kirchlich anerkannten Bettlern muss erlaubt sein. Darüber hinaus gilt es, die häufig kontrastreiche Gegenüberstellung von fremden und einheimischen Bettlern angesichts des Aufeinanderangewiesenseins von Dorf- und Stadtgemeinschaften zu relativieren. In allen Reformen darf die Armenfürsorge nicht als Vorwand für einen städtischen Zugriff auf kirchliches Vermögen missbraucht werden. Das Reglement der Fürsorge für die Armen, das durch den Magistrat von Ypern eingeführt und in der lateinischen Urkunde zusammengefasst ist, ist dieser unserer Beurteilung angehängt. Die Sache halten wir für schwierig, aber nützlich, fromm und heilsam; sie widerspricht auch nicht den Schriften des Evangeliums, der Apostel oder der Tradition, falls die folgenden Grundsätze eingehalten werden:
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Erstens, dass dieses Reglement mit solcher Beflissenheit und Sorgfalt beachtet wird, dass für alle Armen, die auf die Fürsorge der Gemeinschaft angewiesen sind, hinreichend und gebührend gesorgt wird und die Einheimischen oder Besucher oder Fremden dieser Fürsorge wegen nicht in die äußerste oder der äußersten nahekommende Not getrieben werden. Deshalb darf, wo die Gemeindekasse nur ganz wenig erlaubt, offenes Betteln nicht verhindert werden. Ebenso wenig sind die Reichen durch die Einrichtung einer Gemeindekasse von ihrer Pflicht entbunden, den Armen bzw. denjenigen, von denen sie wissen, dass sie von äußerster oder nahezu äußerster Not bedrängt sind, zu helfen. Sodann soll durch dieses vorgeschriebene Reglement keiner gehindert oder abgehalten werden, von seinen Gütern entsprechend seiner Frömmigkeit heimlich oder öffentlich zu geben, und es soll auch denen keine Strafe oder Gebühren auferlegt werden, die den Bedürftigen Werke der Barmherzigkeit zuteilwerden lassen, ja vielmehr soll das Volk immer aufs Neue durch öffentliche Ermahnungen dazu angehalten werden, von den Gütern, die ihnen vom Herrn verliehenen worden sind, allezeit und mit froher Gesinnung den Armen darüber hinaus zu spenden. Zudem sollen sich die weltlichen Behörden hüten, dass sie nicht unter dem Vorwand von Frömmigkeit oder im frevelhaften Bemühen, den Armen zu helfen, alle möglichen Einkünfte und Güter der Kirchen und Kirchenleute entwenden oder antasten. Das ist nicht die Art von gläubigen katholischen Menschen, sondern von ketzerischen Anhängern des Valdes1, Wyclif2 und Luther3. Doch wir wollen uns erst recht anstecken lassen, dass wir uns jeder entsprechend seinem eigenen Amt intensiv bemühen, den zur Kirche Gehörenden mit frommen Werken zu dienen. Letztlich soll auf keine Weise das öffentliche Betteln von frommen Bettlern, die von der Kirche anerkannt sind, untersagt werden. Im Übrigen sollen durch diese Regelung die Armen der umliegenden Gemeinden keineswegs von der geschuldeten Unterstützung ferngehalten werden, wenn sie so große Not leiden, dass sie sich von ihren eigenen Gütern ihren Lebensunterhalt nicht beschaffen können. Denn 1
S. Text 97. John Wyclif (1330–1384): englischer Kirchenreformer, der 1415 vom Konzil von Konstanz zum Ketzer erklärt wurde. 3 S. Texte 127ff. 2
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dann muss man ihnen das öffentliche Betteln behördlich gestatten oder man muss sie durch Mittel der gemeinsamen Armenkasse ernähren. […] Denn die Stadtgemeinden brauchen die Dorfgemeinschaften und die Dorfgemeinschaften die Stadtgemeinden. Auch die Stadtgemeinden selbst werden durch die Hilfen der anderen unterstützt, und diejenigen, die jetzt reich sind, geraten späterhin durch Unfruchtbarkeit des Landes oder durch irgendein anderes Ereignis in Not. Deshalb sind gegenseitige Hilfen nötig, so dass sie [die Stadtgemeinden] unterstützt werden. Und es ist gewiss ein Zeichen von Menschlichkeit, anderen gern das zu gewähren, was jeder will, dass es ihm zuteilwerde,4 wo er sehr in Not ist. Und das wird gewiss nicht zur Diskreditierung dieser neuen Regelung vorgeschlagen, von der man weiß, dass sie in dieser Zeit am meisten zu einer privaten und ruhigen Unterstützung beiträgt und aufgrund dessen bekanntlich viel Gutes entsteht und schwere Schäden beseitigt werden. Das wird vielmehr vorgeschlagen, damit man erkennt, dass die Regelung einer derartigen Fürsorge für die Armen nicht einfach zu handhaben und keineswegs alles in allem gleichsam ein unumstößliches Naturgesetz ist, von dem man keinesfalls und niemals abweichen darf, sondern deren Deutung und Realisierung dem Urteil kluger und frommer Männer überlassen werden muss, die wissen, dass ihre Beurteilungen entsprechend der Bedeutung der Orte, der Zeiten, der Personen und der übrigen Umstände gefällt werden. Quelle: Das Gutachten ist abgedruckt bei Franz Ehrle, Beiträge zur Geschichte und Reform der Armenpflege, Freiburg i.Br. 1881, 38f. Übersetzung: Hans Werner Schmidt.
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Vgl. Mt 7,12.
147. Lukas Hackfurt: Denkschrift zur Verteidigung und Verbesserung der Armenpflege (1532) Die Stadt Straßburg führte 1523 eine neue Almosenordnung ein. Diese fußte auf der Nürnberger Ordnung von 1522 und zielte entsprechend darauf, den Bettel zu verbieten und die einheimischen bedürftigen Armen aus einem unter städtischer Aufsicht stehenden Gemeinen Almosen zu unterstützen. Lukas Hackfurt gestaltete die Armenfürsorge in der elsässischen Reichsstadt praktisch aus. Der zwischen 1490 und 1500 in Straßburg geborene Hackfurt wurde nach dem Studium in Heidelberg Priester. Während seiner Zeit als Kaplan in Oberehnheim (Obernai/Elsass) wandte er sich der lutherischen Lehre zu. Seit 1522 lebte er wieder in Straßburg, wo er zunächst eine private Lateinschule unterhielt. 1523 wurde er zum Almosenschaffner der Stadt, d.h. zum Verwalter des Almosens, gewählt. Die Einstellung eines festbesoldeten Geschäftsführers war eine der wichtigsten Abweichungen von der Nürnberger Ordnung. Hackfurt wurde „dank seiner Begabung, Willenskraft und Liebe zu den Armen zur eigentlichen Seele der städtischen Fürsorge“ (Otto Winckelmann). Er bekleidete das Amt des Schaffners bis zu seinem Tod im Jahr 1554. Die Fürsorgepraxis entwickelte sich unter Hackfurts Leitung zunächst gut, geriet aber seit 1529 insbesondere im Zusammenhang von Missernten, Teuerung und Hungersnot zunehmend in eine Krise. Im Winter 1531/32 erreichte die Unzufriedenheit mit dem Stadtalmosen ihren Höhepunkt. Die Vorwürfe betrafen die Almosenordnung als solche bzw. einzelne ihrer Teile sowie die Praxis der Fürsorge. Massives Misstrauen traf auch Hackfurt selbst. In seiner Denkschrift vom Januar 1532 stellte Lukas Hackfurt die verschiedenen Kritikpunkte zusammen, erörterte sie und suchte sie zu widerlegen. Der Schaffner verteidigte die Grundzüge der Straßburger Ordnung und der entsprechenden Praxis. Zugleich drang er insbesondere darauf, zur Erfüllung der Aufgaben weitere Mittel aus dem Kirchengut zu erhalten. Die Denkschrift, die im Folgenden auszugsweise wiedergegeben wird, macht in paradigmatischer Weise Prinzipien und Zielsetzungen, Erfahrungen und Schwierigkeiten sowie divergierende Einstellungen und Interessen im Blick auf die Armenfürsorge deutlich, wie sie seit den 1520er Jahren in Straßburg und anderen Städten eingeführt wurde. Hackfurt, dessen Stellung und Integrität durch die massiven Vorwürfe erschüttert waren, erhielt in bemerkenswerter Weise Schützenhilfe durch den Münsterprediger Kaspar Hedio. Dieser legte 1533
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eine deutsche Übersetzung von Vives Schrift „De subventione pauperum“ (s. Text 139) vor. Damit wollte der lutherische Theologe vor Augen führen, dass sich die nicht zuletzt von Altgläubigen kritisierte Straßburger Almosenordnung in Einklang mit den Grundsätzen des angesehenen katholischen Gelehrten befand. In seinem Vorwort bezog sich Hedio ausdrücklich auf Hackfurts Denkschrift, rühmte die seit der Verabschiedung der Ordnung erzielten Fortschritte bei der Versorgung der Armen und empfahl dem Rat, den beschrittenen Weg weiterzugehen. Nichts ist je auf Erden so gut und vorausschauend bedacht und angefangen worden, dass jedes Ding jedermann gefallen würde und auch nicht etwa ein Teil einen Mangel gehabt und nicht hätte verbessert werden können, wie dies denn die Erfahrung zu erkennen gibt und anzeigt. Daher ist es für mich kein Wunder, dass solches auch im Blick auf diese Ordnung des Gemeinen Almosens geschieht und gehört wird, die, wiewohl sie in jedermanns Augen, vor allem in den Augen der Reichen dieser Welt, in geringem Ansehen steht und verachtet wird, jedoch in sich selbst und vor Gott (durch den alle Dinge in der Wahrheit mit Ernst gerichtet werden) eine große, schwere, umfassende Aufgabe ist, wenn man ihr gerecht werden will und zu tun begehrt, was man soll und schuldig ist, oder aber hier alles Unglück und dort ewige Strafe erwartet. Nun hat ein ehrwürdiger Rat in guter und rechter Weise, um viel Übel, allerlei Unrat, Schande und Laster (wie sie bei den Bettlern vorkommen) zu strafen, abzustellen und zu verhindern, dagegen arme, bedürftige Leute, die mit Beeinträchtigungen und anderen Krankheiten beladen sind, bei denen sich wahrhaftige Not, Jammer, Elend und Armut finden, zu erhalten und ihnen so viel als möglich zu raten und zu helfen, eine schöne, löbliche Ordnung eingerichtet, die billigerweise keinem Verständigen und Gutherzigen missfallen kann, die um der erwähnten ehrlichen und redlichen Ursachen willen angefangen wurde, die auch mit entsprechender Unterstützung und leidlichen Kosten bisher und weiterhin hätte erhalten werden können, wenn nicht nochmals viele außergewöhnliche, große Beschwernisse gleich von Anfang an angefallen und hinzugekommen wären, von denen etliche auch schon vorher bestanden: 1. Nämlich des Schultheißen Bürgerrecht1, das zum größten Teil zu nichts anderem als dazu führt, Bettler zu pflanzen, und schließlich zu
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Der bischöfliche Schultheiß hatte in Straßburg das Recht, gegen eine Gebühr das Kleinbürgerrecht zu vergeben. Das Vollbürgerrecht bzw. große Bürgerrecht hingegen
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einem Verderben des gemeinen Nutzens wird. Was allenthalben, weit und breit, aus Faulheit und Liederlichkeit nicht arbeiten will oder das Feld und die Reben nicht bearbeiten mag oder einen anderen um das Seine bescheißt und betrügt und dasselbe unnütz vertut mit Verzehren und Spielen, darüber hinaus wegen anderer böser Stücke daselbst nicht bleiben darf und ihm das Seine genommen wird, der kommt ohne allen Anschein des ehrbaren Bescheids und anderer redlicher Ursachen und kauft sich ein durch des Schultheißen Bürgerrecht, obwohl, denke ich, etliche durch das große Bürgerrecht herein kommen würden, die nützlicher für uns wären. 2. Zudem ist auch allezeit vor und nach Beginn dieser Ordnung nie ein gemeineres, feigeres, mutwilligeres Leben der gemeinen Bürgerschaft der Stuben und vieler anderer Gesellschaften gewesen und währt immer noch fort. […] 3. Nicht weniger Ursache hat auch das Stadtwerk2, das noch immer andauert und vielen Leuten und Tagelöhnern weit und breit Anlass gibt, her zu ziehen und daraufhin das Bürgerrecht zu kaufen, solchen, die über Nacht oder einige Jahre mit Krankheit, vielen Kindern und Armut zu Winterzeiten überfallen werden und danach in ihren Nöten ins Almosen kommen. Deren Zahl ist überaus groß. Daran ist aber die Almosenordnung nicht schuld. 4. Sodann ist eine Ursache nach Beginn der Ordnung durch die Sache des Evangeliums entstanden, die einige in Wahrheit und guten Herzens angenommen haben, einige freiwillig, einige aus Zwang und um der Verfolgung willen, einige aber, und zwar eine überaus große Rotte, sind im Schein des Evangeliums hergezogen, um ihres zeitlichen Ungehorsams, Mutwillens und Frevels willen, um niemand etwas zu geben, jedermann das Seine zu nehmen und ihn darum zu betrügen. 5. Danach folgte bald der Bauernkrieg3, der viele zu Witwen und Waisen gemacht und allerlei Volks bewogen hat herzuziehen. 6. Darauf wurde allenthalben Schuldigen und Unschuldigen, Guten und Bösen eine schwere, unbillige Steuer jedermann auferlegt, wokonnte nur vom Rat erteilt werden und setzte ein Mindestvermögen von 10 Pfund voraus. 2 Das „statt werk“ wurde für die Arbeitslosen eingerichtet, aber nur periodisch angeordnet, vor allem dann, wenn Teuerungen die Zahl der Arbeitslosen vergrößerten. Die Arbeitsbeschaffung bezog sich auf die Ausbesserung der Stadtbefestigung. 3 Während des Bauernkriegs 1525 flohen viele Witwen und Waisen getöteter elsässischer Bauern nach Straßburg.
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durch viele gezwungen worden sind, ihre ganze Armut und ihr gesamtes Vermögen anzugeben, zu versetzen und zu verkaufen, worüber sie schließlich mit Weib und Kind entfliehen mussten, um dem nahen Tod zu entkommen. Sie kamen deshalb hierher. 7. Darüber hinaus ist schließlich eine solch große Teuerung über alle um uns gelegenen Länder hereingebrochen, wie sie in gleicher Weise keinem Menschen so hart und langwierig im Gedächtnis ist. Die hat auch ihren Teil – und nicht den geringsten – hergeschickt. Diese sieben bezeichneten Stücke haben zahllose Leute hergebracht, und zwar zum größten Teil liederliche Leute (mit Erlaubnis); und keiner von ihnen ist je abgewiesen worden, sondern sie sind alle zu Bürgern des großen und kleinen Bürgerrechts angenommen worden. […] Welchen nun die Not der Krankheit, großen Hungers und Armut, vieler Kinder selbst oder an seinem Weib ergreift und befällt, wenn er als Bürger angenommen worden ist und nicht Mutwillen, Faulheit und Liederlichkeit an ihm befunden wird, wer ist unter allen Menschen so rau und unbarmherzig, auch wenn kein Gott wäre, dass er, wenn er einen solchen Menschen in seiner Stadt vor seinem Haus sieht oder kennt (ich schweige, wenn er es aus großer Not mit Weinen und Klagen begehrt), ihm nicht doch etwas, und sei es wenig, austeilt? Ich rede jedoch vornehmlich nur von denen, die hier angenommen worden sind und hier wohnen. Soll man dann jetzt in dieser Zeit sparen, so weiß ich nicht, wie man den Armen etwas austeilen soll. […] Entweder man jage sie alle wieder hinweg oder man verbrenne sie in einem alten Haus jedes Jahr ein- oder zweimal, so wird man sie schließlich los, oder man lässt sie wieder frei umherlaufen und betteln, und was ein jeder bekommt, das behalte er. Oder man erhalte sie einigermaßen notdürftig, damit sie nicht Hungers sterben. Nicht bitten dürfen und ihnen auch nichts geben oder ihnen doch weniger geben, als mancher seinem Jagdhund gibt, würde heißen, die armen Bedürftigen nicht zu erhalten. Gott sieht es. Er würde es zu seiner Zeit nicht ungestraft lassen an denen, die das verursacht haben. In Summa, so denke ich, sind etliche der Meinung, wenn man ihnen nicht viel geben würde, wäre das eine feine Ordnung. Ja wenn sie doch das alte Geröll essen möchten, das von den Kirchen und anderen Häusern abbricht! Hiermit will ich gar nicht feige, böse, mutwillige, starke Bettler oder auch solche, die vor kurzem hergekommen sind, versprochen und gefördert haben, ausgenommen zur Zeit der höchsten Not, wie man auch nicht länger als nötig (nicht dass sie des Almosens würdig und
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wert, sondern dass sie dessen notdürftig sind) aus Barmherzigkeit unterstützen soll. Sie sollen noch einmal auf die Arbeit verwiesen oder nach Lage der Dinge aus der Stadt verwiesen werden, damit allzeit das Almosen den Bedürftigsten mitgeteilt und leckere Buben nur weidlich gestraft würden, auf allerlei Einreden gegen das Almosen und seine Austeilung hin. Ich bin auch nicht der Meinung, dass man einem das Seine nehmen und den Armen geben soll, ja auch nicht den Kirchen und Klöstern (das doch billig wäre und von Rechts wegen armen Leuten gehört, damit sie in Notlagen davon unterhalten werden), woran sich doch der Hl. Ambrosius und viele alte Bischöfe in der alten Kirche (der diese gleich sein sollen, wenn es nicht besser sein kann) gehalten haben, alle Kleinodien, Kelche und anderes zerbrachen und den Armen in ihrer Not halfen und zwischenzeitlich andere Geräte benutzten etc. Wo aber ein solches Kloster angesichts einer Not Überfluss hätte, sollte man daher vom Überfluss nehmen und ihn zur Unterhaltung der Armen gebrauchen, welches man sozusagen entleihen würde, bis sie es nötig haben, alsdann möchte man bedenken, wie man sie wieder bezahle. Inzwischen sollten die armen Leute ihr Unterpfand sein und je einer für den anderen haften und ohne Unterschied Bürgen und Mitschuldner sein. […] daher mit der Zeit noch mancherlei eingerichtet werden sollte, was auch zum Nutzen der gemeinen Bürgerschaft und des Almosens reichen und dienen würde:4 1. Nämlich einen erfahrenen, fleißigen Arzt einzustellen, den man anständig besolden sollte, der allerlei Erfahrungen mit Beeinträchtigungen, Wunden und anderen Krankheiten hat, um denen zu raten und zu helfen, […] damit nicht ein jeder Himpelarzt einen hier, den anderen dort verdirbt und an armen Leuten (zu ihrem und des Almosens großen Nachteil) seine Kunst oder Scharlatanerie versuchen und lernen dürfte, womit alle Lande und Städte beschwert ist. 2. Dazu, wo junge erwachsene Knaben sind, deren Eltern in kleinen Verhältnissen oder gar in Armut leben, die soll man zu Handwerkern […] verdingen oder ihnen dazu eine Unterstützung geben, damit die Jugend zur Arbeit erzogen und nicht im Müßiggang (wie es leider jetzt geschieht) verdirbt und dann auch zu Bettlern wird.
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Die folgenden sechs Vorschläge hat Hackfurt wörtlich aus seinem Gutachten vom 21. Mai 1530 übernommen. Abgedruckt bei Winckelmann, Das Fürsorgewesen, 132–134.
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3. Ebenso in Bezug auf Handwerksleute und andere, wie es sich begibt, wenn einer ohne Liederlichkeit aus Krankheit und anderem Unfall von Armut betroffen wird, sodass er sein Handwerk nicht weiter ausüben kann, dem soll je nach Umständen der Sache und der Personen auf Bürgschaft, Pfand oder auf sein gutes Vertrauen etwas vorgestreckt werden, das jeweils zu geringen Zinsen zurückgezahlt werden soll, was dann auch eine Guttat oder ein Almosen wäre. […] 4. Entsprechend soll man armen Töchtern, die heiratsfähig sind, je nach den Verhältnissen der Personen oder ihrer Eltern, eine Aussteuer geben. Damit würde man manche veranlassen, sich in der Hoffnung auf eine solche Unterstützung redlicher und frömmer zu verhalten, wodurch dann manch ein frommer Geselle umso williger würde, die Tochter eines armen Mannes, die gut erzogen ist, zur Ehe zu begehren, wo sonst beide Teile um der Armut willen (die viel Anfechtung bringt) die Ehrbarkeit eher vergessen und manches Mal in Schande und Schaden fallen, worin sie dann lasterhaft werden und ihr Leben lang im Huren und Buben leben bleiben. 5. So soll man auch jungen Handwerksleuten entsprechend der Umstände mit Unterstützung und Ausleihen helfen, die ein gutes Zeugnis ihres Lebens und Wandels haben etc., was dann vielleicht geheim geschehen könnte. 6. Ebenso, dass schließlich das Gemeine Almosen darauf gerichtet wird, dass meine Herren mit Ausleihen, Vorstrecken oder Unterstützen in Korn und Geld zur Zeit der Not und Teuerung, mit der Stadt und Land überfallen sind und beschwert werden, aus dem Gemeinen Almosen helfen. Denn alle diese jetzt bezeichneten Stücke sind Werke der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit […]. Dergleichen, dieweil eine solche Versorgung der Armen und Ordnung des Almosens auch gottgefällig und seinen Geboten etwas gemäßer ist, als es vorher war und wie es noch an einigen Orten gehalten wird, so will es den Menschen gar nicht oder nicht gut (ich meine im Herzen) gefallen, dass Kirchen und Klöster, Pfaffen und Mönche Blendwerk sind, das sie sich selbst erdichtet haben, weshalb auch an manchen Orten die Trennung, Absonderung und Unwille einiger Erwachsener ist, in erster Linie der Reichsten und auch sonst aller anderen, die des alten Verstands sind und der Partei des Papstes angehören, denen diese Ordnung nicht allein für sich selbst nicht gefällt (indem einige von ihnen manchmal aus Zorn und Trotz, viele auch aus eigenem Wohlgefallen ihr Almosen gemeinhin denen geben, die sie anbetteln, sie sehr hofieren und am wenigsten des Almosens bedürftig
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sind und nicht anderes als Gierige und Schleicher sind), sondern die auch Vorwürfe, die von unnützen, unwahren Leuten erdichtet worden sind, auch andere gutherzige Leute davon abwenden, mit diesen und ähnlichen Reden: 1. Man muss die verordneten Herren und Kirchspielpfleger5 daraus besolden, die den größten Nutzen daraus ziehen etc., von denen doch keiner bisher weder einen Heller noch den Wert eines Hellers oder auch mehr, ja nicht einen Trunk Weins davon gehabt hat. Vielmehr beraten sie die Armen freiwillig durch Gottes Willen und helfen ihnen, versäumen deshalb ihre Arbeit jede Woche (um die Armen zu verhören). 2. Ebenso, man erhalte einige Prädikanten und Schulmeister, ebenso allerlei weggelaufene Pfaffen und Mönche daraus etc. In Bezug darauf berufe ich mich auf alle meine Rechnungen, die ich meinen Herren, den Pflegern, bisher vorgelegt habe, woraus hervorgeht, dass solches mit Unwahrheit geredet ist. 3. Ebenso, man gebe nur den Evangelischen etc., was auch nicht der Wahrheit entspricht, denn man fragt nicht, wessen Glaubens er ist, sondern ob er des Almosens bedürftig ist. Mit solchem Reden wurde dem Almosen sehr geschadet; deshalb ist auch die Unterstützung in den [Opfer]Stöcken entsprechend geringer. 4. Ebenso, wie es zugegangen ist, dass die Armen früher weniger geklagt haben als jetzt, obwohl es doch mehr waren und durch diese Ordnung eine Auslese getroffen worden ist. Antwort: Früher sind mehr Bettler vorhanden gewesen, aber nicht Arme, die ihren Strich und ihre Spenden gewusst haben, denen solches nun verboten ist. Und die klagen auch noch und in erster Linie, dass man ihnen sonst gar auf die Eisen6 schaut, jetzt stärker als vorher. Dagegen ist aber schon mancher hausarme Mensch daheim aus Scham verdorben, der sich geschämt hat zu betteln. Diese müssen jetzt zur Zeit der Not aufgesucht werden und soweit es durch das Almosen möglich ist, in ihrer Not nach Gelegenheit unterstützt werden. […] Deren Zahl ist jetzt groß, mehr als früher, aus den oben angezeigten Gründen, die sich in dieser Zeit verstärkt haben. Wenn aber diese und andere eigensinnigen Leute ihr Almosen auch in den Stock stießen, so wäre auch nicht 5
Die Almosenordnung sah den vom Rat eingesetzten Ausschuss der „Almosenherren“ oder „Oberpfleger“ vor. Die Almosenherren wählten aus den neun Pfarreien der Stadt je einen „Kirchspielpfleger“ oder „Unterpfleger“. 6 Eine Ordnung von 1531 sah vor, rückfällige Bettler ins „Halseisen“ zu stellen.
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so viel Mangel, wie es jetzt zum großen Teil der Fall ist. Und es sind vor allem die Reichsten, die aus Unwillen, etliche andere aus Geiz und Kargheit, etliche aus Liederlichkeit, um des Fressens, Saufens und Spielens willen, die Armen aber aus Unvermögen nichts oder gar wenig in die Stöcke geben. Dass aber die Bettler klagen, ist kein Wunder. Denn es steht fest, dass der Bettelsack keinen Boden hat, wie der Pfaffen und Mönche Sack auch. Es ist deshalb kein Unterscheid zwischen einem Dieb und einem Bettler. Ich meine diese, die das Betteln für ein Handwerk halten und in diesem Sinne wohl arbeiten, die zum Teil von Jugend auf dazu erzogen worden sind und ihre Kinder auch mit Willen und Wohlgefallen dazu erziehen. 5. Weiter, so gebe man einem nur einen Batzen oder anderthalb Batzen. Wie sich einer damit behelfen kann? Antwort: Dass man etlichen nur einen Batzen oder anderthalb Batzen gibt, geschieht nicht deshalb, weil er nicht mehr bedarf für seinen Lebensunterhalt und den seines Weibs und seiner Kinder und deshalb gar müßig gehen sollte, sondern dass er solches zu seiner Unterstützung und zur Aufstockung habe, um daneben mit der Arbeit, sie sei so klein sie immer mag, über die Runden zu kommen, damit der Notdürftige und nicht der Geile oder Müßiggänger unterstützt wird. Da, wo ihn größere Not trifft, wird ihm die Spende […] je nach vorhandenen Mitteln des Almosens und Ausmaß seiner Not dazu beitragen, dass er dennoch nicht Hungers stirbt, wiewohl es schmal genug ist. Das geschieht, wenn wenig da ist, kann man nicht so viel austeilen, damit die vorhandenen Mittel für alle Armen ausreichen. Unterstützt du viel, so gibt man desto mehr. Deshalb hat man wohl jede Woche ein Verhör der Armen. Weiter, es gibt auch welche, die mehr haben, 3, 4, 5, 6, 7, 8 Batzen und einige große Laibe Brot dazu, was dann auch eine Unterstützung ist – und zwar keine geringe. 6. Ebenso, was man den armen Leuten antut, wenn einer von ihnen ein Stück Brot vor den Häusern erbittet und man ihn deshalb in den Turm sperrt. Ob sie stehlen sollen? Antwort: Man sperrt keinen um seiner Armut willen in den Turm, sondern wenn er faulenzt, obwohl er arbeiten und sich ernähren kann und den wahren bedürftigen Armen ihr Brot vom Mund abschneidet, was dann ein mönchischer und papistischer Diebstahl ist, den man nicht leiden soll. Deshalb gibt es das Verhör der Armen. Wo man seine Armut in Wahrheit erkennt, so unterstützt man ihn, und dies geschieht auch, damit man eine rechte Ordnung hält und den mutwilligen Gierigen ihr Betrug gebrochen werde. Denn es gibt ein Mittel zwischen Betteln und Stehlen (die alle beide nicht sein sollen), nämlich Arbeiten. Ist dann einer fremd und bedürftig, wird ihm ein Zehrpfennig zuteil, um weiterzuziehen. Er
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behelfe sich bei anderen oder lasse sich von denen helfen, die es ihm auch schuldig sind. Denn wie soll eine Stadt oder ein Land sich um alle Armen kümmern? Ein jedes Land und Flecken kümmere sich um die Seinen, so werden alle erhalten. Ist er über unsere Ordnung unterrichtet worden und befolgt sie nicht, so wird er bestraft wie ein Einheimischer. Man muss in allen Dingen Ordnung halten, sonst entstehen Zerrüttung und eine Zerstörung guter Sitten. […] 7. Da wird geredet, man gebe das Almosen eitel unnützen Leuten, die nie etwas gespart, sondern das Ihre üppig und liederlich vertan haben. Antwort: Ja, das leugne ich nicht. Ich frage aber, wer ist schuld daran? Denen hätte solches befohlen werden und dem hätte gewehrt werden sollen, als noch etwas vorhanden war. Wenn man wartet bis in die Not, so kommt dann die Strafe zu spät. Soll man sie dann in der Zeit der Not verderben lassen? Nein, das tut heute keiner. Aber ihm genügend sein verruchtes Leben erzählen und ihm seine jetzige Buße anzeigen, dabei ihm aber seine Notdurft geben, damit er nichts Hungers sterbe, ob er in sich kehre und sich zu Gott bekehre, das wird ihm dann Salz und Essig genug sein, er sei, wer er wolle; und weiteres steht auch den Almosenpflegern hierin nicht zu. 8. Ebenso sagt man, man gebe auch denen Almosen, die einst in Schanden und Lastern gelebt haben. Antwort, wie vorherige: Warum hat man nicht zur selben Zeit gestraft, ehe sie hierher gekommen sind? Man schneidet dem Kind, das sich in den Finger geschnitten hat, den Finger nicht gar ab, sondern man schaut, wie man‘s heile. Besser wäre es, man hätte ihm beizeiten das Messer abgenommen. Wenn aber einer von denen, die jetzt das Almosen nutzen, sich unehrenhaft verhält, den zeige man an. Bleibt er ungestraft, so beklage es dann jedermann. Aber dennoch sollst du deine Hand nicht von anderen Bedürftigen abziehen, die daneben im Almosen erhalten werden. 9. Ebenso, das Almosen mache eine liederliche Bürgerschaft. Antwort: Wer daraufhin liederlich sein will, dem wird es wohl zu sauer. Sollte man deshalb für die wahren armen Bedürftigen keine Versorgung und verlässlichen Überlegungen haben? Sollte man darum keinen vielen Wein haben, weil sich viele davon vollsaufen und gar wenige es gut und mit Danksagung gebrauchen? Wer liederlich ist, der empfange seine Strafe. Man lasse ihm nur nicht noch rechte Zeit und Gelegenheit. 10. Ebenso, man möge nicht mehr Arbeiter einstellen für ziemlich viel Geld als vor Beginn der Ordnung, und bevor einer wegen der
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Kosten und für wenig Geld arbeite, gehe er eher müßig und bettle. Und etliche sagen, man muss sie gut erziehen. Das Gut der Klöster und aller genannten Geistlichen gehöre ihnen, den Armen. Antwort: Dagegen klagen auch etliche, sie können keine Arbeit bekommen. Wie hilft man diesen? Und es ist wahr, es ziehen etliche deshalb hinaus zum Heuen, zur Ernte und zum Herbsten, die man wohl vorher draußen ließ, und lassen Weib und Kinder inzwischen hier sitzen. Sie klagen, sie können hier keine Arbeit finden. Die aber hier nicht arbeiten wollen für einen angemessenen Lohn, zeige man an, wenn sie das Almosen begehren, damit man sie abweisen möge. Was soll das die Ordnung angehen? […] 11. Ebenso sagt man: Lieber, hab acht, wie viele Bettler du bei den Predigten siehst, selten über drei oder vier, und es sind doch wohl vier- oder fünfhundert hier. Was soll doch Gott Lust an dem Volk haben? Oder wie sollte Gott ohne Erhaltung des Volkes geehrt werden, dem Wort Gottes zuwider, so er sagt: Was ihr meinen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan etc.7 Antwort: Es ist leider zum Teil wahr, dem Sprichwort nach: Es erzieht niemand bösere Kinder als Bettler. Sie sind so erzogen, also leben sie auch so. Wir sind etwa wohl auch keines besseren Volkes wert. Wenn wir also karg gegenüber den wahren Armen sind, schickt uns Gott solche Raupen und Käfer zu. Es ist kein Wunder, dass man das ganze Volk nicht recht erziehen kann. Mancher hat nur 2 oder 3 Kinder und kann sie nicht recht erziehen und klagt doch teilweise über die Ordnung des Almosens. Das ist wegen der Bösen. Aber soll man sie deshalb Hungers sterben lassen, so ertränke man sie einmal, so beseitigt man den Wust. Wer des Almosens nicht bedürftig ist, dem soll man auch nichts geben, so muss verfahren werden. Gott wird sie deshalb8 strafen. Verhalten sie sich aber sonst ungebührlich, so bestrafe man sie. Erachtet man aber, dass es gut sei, so zwinge man sie hinein [in die Predigt], vielleicht hilft es ihnen. […] Sie denken, die Reichen haben gut die Predigt hören, sie wissen, wo sie ihre Nahrung und Essen haben. Armut ist eine schwere Anfechtung. 12. Ebenso sagt man, dass die Schultheißenbürger den Vorrat der alten Hochbürger und frommer arbeitender Leute fressen, und mancher, dessen vier Ahnen bereits hier ansässig gewesen sind, der könne das Seine nicht genießen, weil vorab die neu Hergekommenen versorgt werden. Antwort: Das gestehe ich ein, und es ist wahr. Warum hat man dem nicht längst gewehrt? Daran ist die Ordnung des Al7 8
Vgl. Mt 25,31ff. Wegen des Fehlens im Gottesdienst.
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mosens nicht schuld. Entweder ganz draußen lassen oder zur Zeit der Not hierher gezogen. Denn wenn man jemand hier wohnen lässt, dem wird man den Nutzen nicht wehren können […]. 13. Ebenso sagt man: Es gehen allenthalben auf den Gassen junge Knaben und Töchterlein und dazu mutwillige, starke Leute betteln, dass einer nicht in Ruhe essen kann. Ob das durch die Ordnung gedeckt sei? Wo die Knechte9 seien? Einem zerreißt man die Schelle am Haus, dem anderen rennt man auf der Gasse an, und des Anbettelns ist kein Ende. Antwort: Wenn es noch viel Mal so viel Knechte gäbe, so kann man doch nicht zu allen Zeiten vor eines jeden Tür wehren. Auch hält das nicht jeder für gut; mancher flucht über die Knechte, wenn sie ihnen die Bettler vertreiben. Es ist nicht möglich, jedermann gerecht zu werden bei einander widersprechenden Interessen. Aber mich dünkt, man sollte wegen ihres Hütens ein großes Vergnügen haben. Sind doch die Bettler auf herausgegangenen Befehl hin wohl aufgestöbert worden, dass es jedermann Wunder nahm. Wenn jeder ein Rösslein gehabt hätte, hätten sie kaum mehr geschafft. Sie können nicht mehr, als sie wollen. Ich weiß nicht, wie sie hüten. Der Turm ist nimmer leer. So ist auch bisher keine besondere Strafe selbst den verruchtetsten, meineidigen Bettlern auferlegt worden. Was sollten sie dann fürchten? Dass aber gesagt wird, man gebe denen das Almosen, die erwachsene Kinder bei sich haben und nicht von ihnen lassen, ist wohl gegen die Ordnung. So klagen sie aber, wo sie mit ihnen hin sollen, wer sie nehmen wolle, insbesondere während dieser harten Teuerung, wie auch die, die eine Zeitlang ein Gesinde bei sich gehabt haben, dies jetzt ausschlagen und in Urlaub gehen. So kenne ich keinen reichen Mann, der so mild ist, ein halbes Dutzend solcher Kinder zu sich in sein Haus aufzunehmen. Wo sollen sie dann mit ihnen hin? Und wenn sie schon einen Dienst finden, so sind sie doch nicht entsprechend gekleidet, dass eines Bürgers Frau einem solchen Aschenputtel nachgehe oder ihr ein altes Röcklein gebe. So ist auch kein Handwerksmann, der einen solchen armen Knaben vergebens in die Lehre nehme. So ist solches für das Almosen zu schwer, junge Knaben bei Handwerkern zu verdingen. So haben die Bauern im 9
Neben dem Schaffner hatte die Almosenverwaltung vier „Knechte“ als Angestellte, deren Aufgabe es war, die Spenden an die Bedürftigen auszuteilen, die Einhaltung des Bettelverbots zu überwachen, das Verhalten der Unterstützungsempfänger zu kontrollieren und auf die Fremden zu achten, die sich in der Stadt aufhielten. Da die Knechte überlastet waren, wurde 1530 zwischen den Schaffner und die Knechte das neue Amt des Diakons eingeschoben. Der Diakon oder Aufseher sollte alle Armen besuchen, sich nach ihren Bedürfnissen erkundigen, die Wirksamkeit der Unterstützung überprüfen und bisher übersehene Arme der Fürsorge des Gemeinen Almosens empfehlen.
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Land auch ihre Knaben von sich gewiesen. Was wollten sie dann diese annehmen? Deshalb müssen sie elende Bettler werden und bleiben, wenn sie in der Jugend keine Hilfe erhalten, und im Alter gibt es Diebe oder sonst Huren, und wenn sie wohl geraten, so werden daraus Sackträger und Karrenfuhrleute, von denen die Stadt voll ist und täglich voller wird. Deshalb darf man nicht Sorge um solche Leute haben, dass man sie erst als Schultheißenbürger annimmt. 14. Ebenso sagt man, man könne keine Weibs- noch Mannspersonen finden zur Wartung der Siechen und Kindbetterinnen, und es sei doch noch eine gute Sache gewesen, als es so viele Beginenhäuser gab. Man habe allenthalben Leute gefunden, wie man sie wollte, Mönche, Blotzbrüder10 und Beginen. Antwort: Man findet noch genug Volk hier und da, wenn es sein darf auch um einen angemessenen Lohn. Dass man aber, sobald einem etwas zufällt oder wenn man den Kopf zum Fenster hinausstreckt, gleich jemand an der Hand hat, ist nicht möglich. Sollte man deshalb die Ordnung des Almosens zur Versorgung armer, bedürftiger, kranker Leute nicht haben? Das reimt sich nicht. Ist aber jemand, der im Almosen ist, dazu tauglich und will nicht, den zeige man an. Man wird ihn wohl deshalb bestrafen können. Zum größten Teil hat man aber solche Leute im Almosen: entweder gar alte und unvermögende Leute, die können‘s nicht, oder junge Weiber, die viele kleine Kinder haben, die können nicht von ihnen weggehen und sie ohne Aufsicht liegen lassen, oder sonst Leute mit Blattern oder anderen Schäden, Fallsucht und anderen Krankheiten beladen, dass man sie mit Lust nicht brauchen kann, oder aber es sind unflätige, tolle, ungeschickte Leute, die man im Haus nicht wünscht und sie eher aus dem Haus leitet, als dass man sie in Dienst zu nehmen begehrt. Das ist der größte Anteil der Leute, die täglich vom Almosen versorgt werden. Wenn man aber beklagt, die Beginenhäuser etc. seien verschwunden, so hat es mir nie gefallen, dass man mit einem Missbrauch auch einen rechten Brauch beseitigt und verkommen lässt, in dieser Sache und in anderen Sachen mehr. Löblich, nützlich, tröstlich und hoch vonnöten wäre es, dass mindestens 4 Häuser oder Versammlungen an den 4 Orten der Stadt, an denen wenigstens ein Dutzend betagter, armer, redlicher Witwen wäre, die ihre auskömmliche Nahrung und Versorgung zu allen Zeiten hätten, die verpflichtet wären auf eines jeden Begehren in seiner Not, es wäre Krankheit oder Kindbett, um Lohn, wo es einer vermag, und für einen armen, gemeinen Mann umsonst und um Gottes willen, um ihn zu warten und ihm zu dienen. Wem wollte solches nicht gefallen? Man 10
Laienbrüder.
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sollte solche Leute auch durch das Almosen erhalten, die darauf warten, unter der Bedingung dass, wie oben angezeigt, das Almosen auch reichlicher bedacht würde und nicht solch ein Zipfelwerk wäre. Wäre nur jemand, dem es zu Herzen ging! Aber viel schreien und nichts dazu tun und nicht mit Ernst helfen, führt zu nichts. Daran ist die Almosenordnung nicht schuld. 15. Ebenso sagt man, die Kirchspielpfleger gehen nicht mehr wie zu Beginn der Ordnung von Haus zu Haus.11 Sie sind nicht mehr so engagiert etc., und man verlasse sich allein auf den Schaffner und die Knechte. Antwort: Es ist wohl wahr, dass sie eine Zeitlang nicht herumgegangen sind, die Oberpfleger auch nicht.12 Die Ursache ist zum Teil, dass zu etlichen Zeiten, insbesondere zur Herbst- und Winterzeit, eine starke Zunahme der Pest, von Krankheit und Sterben bei den Armen gewesen ist. Daher ist jeder furchtsam und scheu geworden und hat nicht viel Lust und Liebe dazu gehabt. So hat man keinen dazu zwingen können, die ohnehin an allen Zinstagen ihre Arbeit und ihr Geschäft versäumt, indem sie die Armen verhört haben, wofür sie, wie oben gesagt, bisher keinen Heller oder etwas im Wert eines Hellers empfangen haben […] 16. Ebenso sagt man, der Sack des Almosens habe keinen Boden, man greife allemal durch und nichts bleibe drin. Er sei nicht zu füllen. Man fresse Pfründen, Kirchen, Klöster, Eisen, Glocken etc. Müsse man denn alle Dinge in die Bettler stopfen? Man vergeude auf diese Weise wohl ein ganzes Bistum, Königreich und alles, was vorhanden sei, und wenn man kein Einsehen habe, so werde alles Klostergut, dazu alle Pflegereien ausgeschöpft und ausgelöst, was doch der Vorrat der Stadtgemeinde sein sollte. Also, man vergeude viel, man wisse nicht, wo das Geld hinkomme. Ebenso tue der gemeine Mann genug, indem er in diesen harten Jahren in die Stöcke gibt. Es sei des Bettelns und Bedrängens kein Ende, und man erziehe nur volle, gefräßige Buben und Huren dabei heran, und die Bettler seien das verruchtetste und verzweifeltste Volk, das unter der Sonne sei, und kein Volk, das mehr fluche, schwöre, fresse, saufe, spiele und betrüge, dazu geil und unkeusch sei. Antwort: Das hieße auch einmal der Ordnung des Almosens den Boden ausschlagen, auf dass sich der Geiz und Eigennutz einmal mit Gewalt sehen lassen, für die Armut, Jam11 Die „Kirchspielpfleger“ oder „Unterpfleger“ sollten gemäß der Ordnung die hilfsbedürftigen Armen auswählen, überließen diese Aufgabe aber mehr und mehr dem Schaffner. 12 Die „Almosenherren“ oder „Oberpfleger“ sollten zweimal im Jahr einen Rundgang machen, um sich von der ordnungsgemäßen Versorgung der Armen zu überzeugen. Dies scheint schon nach wenigen Jahren aus der Übung gekommen zu sein.
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mer und Elend ein Gräuel und Widerwillen darstellen. Und die Summe davon ist: Man darf ihnen nur nicht viel geben, so wäre es eine gute Sache, dass die armen Leute zu Straßburg nicht auf die Gassen gingen und nichts essen dürften. Nun könnte man für diesen Sack einen guten Boden machen, wenn uns an dem Sack so viel gelegen wäre wie an unseren Wangen und Säcken, die wir dennoch mit Mutwillen und Überfluss füllen. Wie kommt es, dass uns dieser Armensack so sehr leid tut und doch der Sack der Pfaffen und Mönche bis zu diesem Tag bei uns in solchen Ehren ist, dass ihn niemand in dieser großen Not zur Unterhaltung der Armen anrühren und auch nur ein wenig schütteln darf, den sie mit Lügen und Betrügen zu einem großen Nachteil der Armen und ihrem teuflischen Geiz, Mutwillen und Überfluss bekommen und noch bis zu diesem Tag behalten und man ihnen noch „gnädiger Herr“ und „würdiger Vater“ dazu sagen soll? Es würde deshalb nicht alles Klostergut und Pflegerein ausgeschöpft und ausgelöst, wenn man den Armen ihre Notdurft davon gibt. Wenn man schon nichts von ihnen nehmen will, so möchte man doch eine Zeitlang so viel daraus entlehnen, bis sie wieder notdürftig würden. Dann möchte man ihnen wie einem anderen Armen auch die Spange13 geben, auch wenn man sie etwas weiter genießen lassen würde. Es würde auch nicht nur zum Nutzen der Armen, sondern auch der Stadt sein, als wenn sie die geistlichen Raubhäuser unter ihren Händen zu ihrem Mutwillen behalten und gebrauchen. Die Armen würden es auch hier lassen. Keiner von ihnen würde es wie die Fürsten und Herren in Venedig oder Frankfurt anlegen, sei es zur Zeit der Not oder des Friedens. […] Nein, man muss nicht alle Dinge für die Bettler aufwenden, sondern nur den armen Bedürftigen ihre Notdurft geben. Christus verlangt nicht, den Hungrigen zu füllen oder zu überschütten, sondern die Notdurft zu speisen, entsprechend der Notdurft zu tränken, nach Notdurft den anderen Nahrung und Handreichung zu tun. Das begehre ich auch. […] Wenn man aber nicht weiß, wo es alles hinkommt, so biete ich an, einem jeden jederzeit Rechnung darüber abzulegen, und ich kann rasch eine Gesellschaft derer zusammenbringen, die es verzehrt haben. […] 17. Ebenso sagt man, dass mancher das Almosen nehme, der mehr Gold und Geld habe als mancher, der gar frei einhergeht, und es leidet mancher heimlich große Not, der eher Hungers stirbt, ehe er bittet oder bettelt. Darauf sollte man wohl achthaben. Antwort: Wo solche sind, kann man nicht wissen. Wer es aber weiß, der zeige es an den Orten an, wo es sich gebührt, oder man muss erachten, dass er es sich selbst ausgedacht hat zum Nachteil des Almosens. Es hat sich viele 13
Almosenzeichen.
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Male ergeben, dass bei etlichen, denen Argwohn und Anzeige galten, sie sollten Geld haben, nichts gefunden wurde, und es ihnen aus Neid anderer Bettler geschehen ist. Etliche aber, bei denen wohl etwas Geld gefunden wurde, sind deshalb bestraft und der Gebühr nach behandelt worden, wie das die Pfleger gut wissen. Was die heimliche Not betrifft, so glaube ich das wohl. Wie soll man denen geben und sie deshalb aufsuchen (man würde viele von ihnen finden), wenn man sich über diese beschwert und ihnen übel will? […] 18. Ebenso, auf dass man nur dem Almosen genug schaden möge und es bei aller Ehrbarkeit in Verdacht geraten lässt, so sagt man: Man gebe das Almosen nur, wem man will, je nachdem wie der Schaffner und die Knechte zu einem Gunst oder Ungunst haben, nämlich den Wiedertäufern14. So kennt doch Gott mein Herz, dass es gegenüber allen Armen und jedermann am Ort unparteiisch ist, aus Gunst oder Ungunst niemand zu fördern oder zu hindern, so viel mir möglich und auch zu wissen ist, einem wie dem anderen geneigt ist, der Not nach, und anderes weiß ich auch von den Knechten nicht. Was aber die Täufer betrifft, weiß ich nicht, ob einem oder zweien oder dreien je etwas gegeben oder unterstützt worden ist, es sei denn ohne Wissen und auch in höchster Not und Krankheit, da man keinem Türken oder Heiden etwas versagen könnte. […] 19. Nun gibt es auch viele Klagen wegen der armen Torhüter: Sie schauen nicht darauf und lassen die fremden Bettler und Landstreicher herein. Es ist wohl nicht möglich, alles zu sehen. Auch halten sie manchen Bauersmann und andere schlecht Gekleidete an, die nicht im Sinne haben zu betteln. Dagegen streichen einige ziemlich gut gekleidete Männer, Frauen, Knaben und Mädchen herein, die niemand als Bettler ansieht, und verlangen dann. Etliche setzen sich auch vor der Stadt auf die Wägen und fahren herein. […] In Summa, wie gesagt, ist es ihnen nicht möglich, solchen Schwindel und solche Hinterlist zu kennen und wahrzunehmen. Deshalb habe man Mitleid mit ihnen. […] Summa Summarum: Nachdem aus den anfangs gemeldeten Ursachen ein solch großer Überfall armer Leute (die von überschwänglich großer Not der Armut über alle Zuversicht beladen) täglich je länger 14
Lukas Hackfurt neigte wohl einige Zeit den Lehren des radikalen Spiritualisten Kaspar Schwenckfeld zu, der sich zwischen 1529 und 1534 in Straßburg aufhielt. Schwenckfeld lehnte wie die Täufer die Kindertaufe ab, unterschied sich aber ansonsten in seinen theologischen Auffassungen von den „Wiedertäufern“. Unter dem Einfluss Martin Bucers wandte sich Hackfurt 1531 wieder von Schwenckfeld ab.
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je mehr hier erhört und befunden und dann mit keinem Fug und Recht (ohne besondere treffliche Ursache) weggewiesen oder weggetrieben werden können, weil sie als Bürger angenommen worden sind und hier Wohnung bezogen haben (so dann zukünftig wohl vorgenommen werden kann), so wird man sie entweder mit gemeiner Arbeit für und für, wo das sein kann, vor dem Almosen oder dem Bettel behüten oder aber zur Zeit der Not, in Krankheit, im Kindsbett, in Teuerung, Winterzeit und auch sonst, wenn sie keine Arbeit oder nur einen geringen Arbeitslohn haben, sie, ihre Weiber oder Kinder durch das gemeine Almosen unterstützen oder auf den Gassen, vor den Häusern und sonst wo verlangen und betteln lassen. […] Ich bin allein der Schaffner der armen Leute, deren Nutzen begehre ich zu schaffen und helfe ihnen (nur nach bloßer Notdurft) hauszuhalten. Nicht dass ich darauf aus bin, die Sache des Almosens dahin zu richten, dass man jedermann ohne alle Not und Bescheidenheit, egal wo einer herkomme, unterstützen soll, wie einige mir vorwerfen: Wenn man mir nur viel auf einmal unter die Hand gibt, so wäre es alles vergeudet etc., woraus dann zuletzt ein gemeiner Geizkasten würde, das solle aber nicht sein. Aber einen Gotteskasten aufrichten und den zu erhalten mit allem Ernst und christlichem Gemüt, das begehre ich. Daher muss in Wahrheit aller Notdurft zu allen Zeiten geraten und geholfen werden. Dazu gehört etwas mehr Lust, Liebe und Fleiß, als bis jetzt gespürt wird. Das gebe Gott uns allen, vornehmlich meinen Herren als der Obrigkeit (die der Armen Väter sein sollen), von Herzen zu bedenken und einmal mit Ernst nachzukommen, solange man noch geben kann. Denn gewiss (und die Sorge ist, dass es bald ist) wird die Zeit kommen, dass man gern gäbe und täte, und es niemand mehr von uns nimmt, und es alsdann versäumt ist. Wie gut und herrlich ist vor Gott, seinen Engeln, ja auch vor aller Welt Leuten der Spruch von Sankt Laurentius: Die Hände der Armen haben die Schätze der Kirche hinweggetragen. Wenn wir doch auch so haushalten würden, wie er es getan hat. […] Der Nutzen der Kirche ist aber vornehmlich der Nutzen der Armen, nochmals, wo die noch einigermaßen notdürftig versorgt sind (wie das dann ausführlich und auf vielerlei Weise, wie dies am Anfang gezeigt worden ist, bedacht werden möchte), sollen auch andere Kirchenzierden angerichtet, nämlich getreue, fromme Hirten und Vorsteher des Wortes unterhalten werden. Zum dritten sollen junge Knaben von gottesfürchtigen, gelehrten Schulmeistern in allen Sprachen und ehrlichen Künsten samt guten Sitten unterrichtet werden, mit denen nochmals allerlei Ämter mehr und besser als jetzt besetzt werden können. Alsdann würde man das Kirchen- und Klostergut gut und nützlich verwenden, deshalb dürfte man die ganze Welt mit ihren Fürsten nicht fürchten wegen aller Kosten, die darauf ergehen, Rechnung abzulegen, wozu allein Herz und Verstand dienen
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können, die uns der gütige Gott dazu förderlich verleihen möchte. Amen. Quelle: Lukas Hackfurt, Denkschrift zur Verteidigung und Verbesserung der Armenpflege, in: Otto Winckelmann, Das Fürsorgewesen der Stadt Strassburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Zwei Teile in einem Band, Leipzig 1922, Nachdruck New York/London 1971, 149–165. Übertragung: Gerhard K. Schäfer.
148. Johannes Ferrarius: Von dem Gemeinen Nutzen (1533) Johann(es) Ferrarius (auch Johannes Eisermann oder Ferrarius Montanus), geb. 1486 in Amöneburg (Hessen), gest. 1558 in Marburg, erwarb an der Universität Wittenberg akademische Grade an allen vier Fakultäten: Freie Künste (Philosophie), Theologie, Jurisprudenz, Medizin. 1523 kam er nach Marburg, wurde Mitglied des Rats der Stadt, Berater Landgrafs Philipp von Hessen (1504–1567) und 1527 Gründungsrektor der Universität Marburg. 1533 legte er mit seiner Schrift Von dem Gemeinen Nutzen das erste Werk der frühen Neuzeit in deutscher Sprache zur res publica, zur Lehre vom Staat und seiner Wohlfahrt, vor. Die Schrift erschien kurz nach der Stiftung der hessischen Hohen Hospitäler (s. Text 149), rückt diese soziale Maßnahme in den Zusammenhang von Reformen im Sinne des Gemeinen Nutzens und interpretiert die Gründung der Hospitäler als politischen Ausdruck der Nächstenliebe. Ferrarius widmete die Schrift seinem Schwager, dem Bürgermeister von Wetter (Ruhr). Die spätere lateinische Fassung war dem ältesten Sohn Philipps, dem Landgrafen Wilhelm IV. (1532–1592), zugeeignet. Die lateinische Ausgabe wurde 1559 ins Englische übersetzt und der englischen Königin gewidmet. Ferrarius zeichnet ein kritisches Bild seiner Zeit: Eigennutz grassiert und zerstört die Gemeinschaft. Es ist, wie Ferrarius ist seiner Vorrede schreibt, fast so weit gekommen, dass – nach einer Metapher von Plautus – „ein Mensch des anderen Wolf ist“. Vor diesem Hintergrund entfaltet Ferrarius seine Auffassung vom Gemeinen Nutzen. Dabei verknüpft er antike Elemente mit biblisch-christlichen Traditionen. Die „Gemein“, das kommunale und territoriale Gemeinwesen, gründet – mit Aristoteles und Cicero – darin, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Das antike Ideal einer Lebensform der Muße lehnt er hingegen ab. Theologisch gesehen gilt ihm das Gemeinwesen als göttliche Stiftung, der die Menschen entsprechen sollen. Der Gemeine Nutzen erfordert insbesondere die Integration der Armen in das Gemeinwesen. Ferrarius macht dies deutlich, indem er die antike Metapher vom Gemeinwesen als Leib, nach der die Obrigkeit als Haupt des Staates und die Untertanen als Glieder gelten, mit der Vorstellung von der Kirche als Leib Christi (Röm 12/1Kor 12) verbindet. Er entwickelt eine Gemeinwesenvorstellung, die die engen städtischen Grenzen überschreitet und Ansätze territorialstaatlicher Verantwortung umreißt. Die Sorge um das Gemeinwohl erweitert sich um wohlfahrtstaatliche Motive und wird zur Aufgabe des Fürsten bzw. der Obrigkeit. Zugleich aber bleibt die christliche Verantwortung der Bürger
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gefragt. Im Bereich der Almosenpflege bewegt sich Ferrarius einerseits im Rahmen der üblichen Regelungen (Kategorisierungen der Armen, Arbeitsvermittlung, Maßnahmen gegen Missbrauch); andererseits verfolgt er – anders als viele zeitgenössische Ansätze – kein striktes Bettelverbot. Dass man für die Armen im Gemeinwesen sorgen soll. Es gibt im Gemeinwesen auch solche Menschen, die nicht aus Bosheit in Müßiggang geraten sind, sondern wegen der Schwachheit ihres Leibes, weil es ihnen an Nahrung fehlt und dergleichen Ursachen, so dass sie den Gemeinnutz nicht fördern, ihr Handwerk nicht betreiben oder sonst sich selbst und noch viel weniger Weib und Kinder ernähren können. Dies sind die Armen, die deshalb nicht ausgemustert, sondern als Glieder der Gemeinschaft auch unterhalten werden. Denn das wäre übel, wenn jemand mit einem lahmen Arm, der nicht mehr arbeiten kann, von dem Leib bald abgetrennt und ihm nicht vergönnt würde, dass ihm die gemeinschaftliche Speise des Leibes ohne Schaden für die anderen Gliedmaßen ausgeteilt würde. Darum sollen wir uns auch die Armen als zu dem Gemeinwesen gehörig anempfohlen sein lassen, nicht allein um der bürgerlichen Pflicht willen, deretwegen einer dem anderen als seinem im Gemeinwesen mit Einverleibtem Dienst, Hilfe und Rat zu beweisen schuldig ist, welches auch zumeist der Grund dafür sein soll, solche Einrichtungen aufzurichten und zu erhalten, sondern damit wir auch unsere Liebe erzeigen gegenüber dem Nächsten und des Glaubens gute Früchte von uns geben. Deshalb sollen die Oberen und Räte aus väterlicher Treue, wie sie sich dem Gemeinwesen unterworfen haben, sich auch der Armen annehmen, Fürsorge leisten, damit sie unterhalten und neben den anderen weiterhin als Mitglieder der Gemeinschaft leben können. So erkennt der Gerechte die Armen und nimmt sich ihrer an, aber der Gottlose verlässt sie. Die Armen begegnen uns auf vier Wegen. Da sind [zum einen] behinderte Leute. Zum anderen solche, die das Brot und Almosen vor dem Haus begehren. Zum dritten Hausarme, die nicht behindert sind, sich aber schämen, das Brot zu holen, und sich doch ohne Hilfe des Nächsten nicht ernähren können. Und dies sind Einheimische. Zum vierten gibt es die fremden Armen, die an den Bettelstab geraten sind. Damit nun allenthalben Ordnung gehalten werde und ein jeder wissen möge, wem und in welcher Gestalt er gebe, gebührt es einem Rat, Abhilfe zu schaffen und nach der Möglichkeit einer jeden Stadt der Notdurft zu begegnen. Denn soviel ich befinde, haben die Christen am Anfang in der christlichen Gemeinde vor dem Herrn nicht mit leerer Hand erscheinen
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wollen, sondern ein jeder hat, was er vermochte, Geld oder sonst etwas vom Brot, Fleisch, Käse und Kleidern mit sich gebracht. Dies haben die Apostel und Prediger unter die Armen verteilt. Später, als die Gemeinde größer wurde, wurden die Apostel dadurch am Predigtamt gehindert und haben sieben Diakone erwählt, die die Almosen austeilen und den Armen damit dienen sollten.1 Zuletzt haben die Christen solchen Auftrag abgeschafft, der dem Diakonenamt zugeordnet war, und haben, als das Spital aufgekommen ist, zum einen für die bedürftigen Kranken, zum anderen für die Pilger und wer sonst von Almosen leben will, dazu gegeben. Und die, die denselben als Diakone vorstehen sollten, haben solche Güter in ihren Brauch genommen mit ihrem Beten und Fasten und wollen dadurch Gott dienen. Sie [die Spitäler] sind so zu Klöstern geworden (welche man zuerst für Zuchtschulen gehalten hat), und danach sind aus einigen Stiftskirchen geworden, und zuletzt ist es dahin gekommen, dass man solche Almosen nicht mehr so fleißig den Armen reichte, sondern den Klöstern, Kirchen und Stiften zuwandte. Und deshalb haben die Diakone die Armen an den Türen der Leute abgewiesen, aber die, die behindert waren, wurden durch die Stifte und Klöster gespeist, und [die Diakone] waren keine Diener der Armen mehr, sondern haben sich als Beamte in den errichteten Stiften brauchen lassen und haben die Sache soweit gebracht, dass neben den Stiften und Klöstern etliche Spitäler errichtet wurden und wo diese nicht für die Armen ausreichten, wurden Gemeine Kästen eingerichtet, um die, die in Armut sind, am Leben zu erhalten. Nun sollten sich Christen so verhalten, dass ein jeder nach seinem Vermögen und sich selbst hinzu dränge und den Armen Handreichung leiste und keiner von ihnen vergessen würde. Aber die Kälte unserer Herzen ist so groß, dass die Armen darüber verderben müssen. Deshalb ist es vonnöten, das es besondere und dazu verordnete Vorsteher und Diakone gibt, die nicht allein die Güter der Armen verwalten und ihnen Handreichung in ihrer Notlage leisten, sondern auch von den Christen dazu erbitten und aufnehmen und das, was sie zum Unterhalt brauchen, den Behinderten nach Hause bringen und den anderen austeilen. Dabei sollen sie vorab achthaben auf die Einheimischen, ob sie behindert sind oder nicht. Den Behinderten soll vor den anderen geholfen und ihnen gedient werden. Den anderen, die noch laufen können, ihrer Möglichkeit und ihrem Vermögen nach, zu welchen auch die armen Waisen und unerzogenen Kinder gehören, die dann, sobald sie arbeiten können, von der Bettelei ab- und zur Arbeit angehalten werden sollen, es sei ein Handwerk, freie Künste oder 1
Vgl. Apg 6,1ff.
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sonst eine Arbeit, damit aus Güte kein unguter und ewiger Müßiggang entstehe […]. Und obwohl unter den Armen etliche sind, die das Ihre vergeudet und es nicht so recht gebraucht haben, wie es vonnöten gewesen wäre, soll man hier auch nicht irren. Man soll dieselben auch nicht Hungers sterben lassen, dieweil sie unsere Nächsten sind und in das Gemeinwesen gehören. Man darf ihnen aber nicht so fett schmieren, dass sie an solcher Armut nicht große Freude oder Wollust haben. Sonst würden viele das Ihre mit der Zeit ganz durchbringen, den alten Mann vergessen und denken: Wenn du heute oder morgen nichts hast, so willst du von dem gemeinen Kasten leben und jetzt einen guten Mut haben. Darum soll man achthaben auf die Müßiggänger und darauf, wer die sind, die von Almosen leben wollen, ob sie die auch benötigen oder nicht, ob sie das Ihre auch übel durchgebracht haben, damit die Gesunden auf die Arbeit verwiesen und den Armen das Brot nicht aus dem Maul nehmen und die Bedürftigen in der Gemeinde – ein jeder nach seinem Bedarf – versorgt werden. Das will der Apostel, wenn er schreibt: „Als ich bei euch war, verkündigte ich euch dies: Wo einer wäre, der nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Ich habe wohl gehört, dass unter euch einige sind, die unordentlich leben und nichts arbeiten, sondern unnütze Dinge treiben. Solchen verkündigen wir und bitten sie durch unseren Herrn Jesus Christus, dass sie mit stillem Wesen arbeiten und ihr eigenes Brot essen.“2 Es sind auch vielleicht in dem Gemeinwesen arme Hausleute, die gerne alle Hacken anschlagen, um sich von der Bettelei fernzuhalten, und können sich doch mit ihrem Weib und ihren Kindern nicht erhalten, sondern großen, unerträglichen Hunger und Schmach leiden. Dasselbe gilt auch für die Handwerker, die sich sonst nicht helfen können als aus dem Gemeinen Kasten, und wo der nicht reicht, muss darüber hinaus aus dem Gemeinwesen etwas vorgestreckt werden. Wo das nicht geschieht, geschieht irgendwann allerlei Unheil mit heimlichem Abtragen (denn es will gegessen sein und stünde der Galgen über dem Tisch) und allerhand Lastern, welchen die Armut gar bald die Fenster öffnet und arme Weiber und Töchter in Schande bringt. Daher kommt, dass St. Nikolaus, der Bischof, einiges an Gold in das Haus eines armen Mannes warf, damit seine Kinder nicht in Schande kämen. Wenn in einem Haus so etwas droht, soll erreicht werden, dass nicht Schlimmeres einreißt und man dem Übel zuvorkommt. Im Blick auf die, die von Haus zu Haus gehen, ist die Auffassung die, dass es nicht gestattet ist, entsprechend dem, was der Herr spricht: Es 2
2Thess 3,10–12.
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soll unter euch kein Bettler sein.3 Wiewohl wir überall in der heiligen Schrift finden, dass Bettler an den Wegen gesessen und Almosen empfangen haben. Weil aber die Liebe unter uns so sehr erkaltet ist, dass wir den Armen vergessen und ihn, wenn er sich nicht selbst meldet, verlassen und auch die Güter des Armen nicht so groß sind, dass sie damit allein ihren Unterhalt bestreiten können, muss man es geschehen lassen. Doch soll es ein Maß haben. Denn wenn die Bettler ohne Unterlass vor die Häuser laufen, ist dies ein Zeichen für einen faulen Rat und darüber hinaus für ein gottloses Gemeinwesen – dies gilt für die einheimischen und fremden Bettler. Die Heimischen sollen nicht zur Bettelei zugelassen werden, es sei denn, sie haben die Erlaubnis von einem Rat oder von denen, die von diesem eingesetzt sind, darauf zu achten. Sonst läuft jeder und verlässt die Arbeit, und so werden viele müßige Leute zum Armenbrot erzogen. Den Fremden und Ausländischen kann ein solches Maß nicht gestattet werden, da niemand wissen kann, wie es um sie steht. Darum tut man hier genug, wenn man ihnen einen Zehrpfennig oder ein Nachtbrot gibt und sie weiter passieren lässt, [...] und es ist nicht gut, dass man solche Leute in Städten, Flecken und Dörfern ihrem Gefallen und Aufsehen nach hausen lässt, denn unter denselben sind gelegentlich große Bösewichte, die mit Verräterei, Mordbrennen und dergleichen Dingen danach trachten, Land und Leute zu verderben, oder dass einige nicht der Armut wegen so herumlaufen, sondern weil sie nicht arbeiten und im Müßiggang leben wollen und dabei wohl etwas Arges tun. Im Summa: Wir sollen den Armen auch aufhelfen, nach dem Wort des Herrn: Es wird an Armen in dem Land deiner Wohnung nicht mangeln, deshalb gebiete ich dir, dass du deine Hand auftust dem Gebrechlichen und Armen, der mit dir auf der Erde wohnt, und ihm hilfst, auf dass du in allen Werken deiner Hände Segen und Gnade findest.4 Wir sollen aber auch sehen, wem wir Almosen geben. Hier muss eine Obrigkeit um des Gemeinwesens willen Einsicht haben und ihr Amt wahrnehmen, damit der Arme neben dem Reichen, der Blinde neben dem Sehenden, Witwen und Waisen neben den anderen, die Schutz und Schirm haben, bleiben können und so das Gemeinwesen in allen seinen Stücken und Gliedmaßen zusammengehalten und in Wohlfahrt gehalten wird. Das ist es, was der Herr von uns haben will, nämlich dass wir den Herrn fürchten und in seinem Weg gehen, den Armen die Hand reichen und ihnen die Almosen nicht rauben und darin allein Gottes Ehre und den Nutzen des Gemeinwesens suchen. 3 4
Vgl. Dtn 15,4. Vgl. Dtn 15,11.
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Wenn wir das tun, werden wir Spitäler und Gemeine Kästen einrichten, so dass der Arme dadurch gebessert und nicht beschwert wird, und zusehen, wie wir die Almosen zusammen bekommen. Denn die Almosen, die von unrechtem Gut gegeben werden, will Gott nicht haben. Dazu werden wir bei gesundem Leben auch Hand mit anlegen, dem Armen geben und nicht allein auf den Tod, wo wir es nicht mehr brauchen können, sparen. Im Leben soll ein jeder seinem Freund Gutes tun und die Hand gemäß seinem Vermögen dem Armen ausstrecken. Was in dem Gemeinen Nutzen letztendlich gesucht werden soll. Wenn das Gemeinwesen nun so geordnet ist, dass alles seinen Gang geht und ein jeder, der dazu gehört, auf sein Amt und seine Berufung sieht: Der Fürst schützt und schirmt und lässt einem jeden angedeihen, was Recht ist. Die anderen, die ein Amt haben, tun auch desgleichen, damit jeder allein dem Gemeinen Nutzen dient. Die Hintersassen sind gehorsam, und führen ihren Handel und ihre Hantierungen treu aus. Die Armen werden in ihrer Notdurft versorgt und, dass ich‘s einmal sage: Es geht bei einem solchen Gemeinwesen nicht anders zu als bei einer Zuchtschule, in der nichts als Gehorsam und der Schüler gemeinsame Wohlfahrt gesucht wird. So müssen wir nun fortschreiten und überlegen, warum solches geschehen soll und was darin zu suchen und schließlich zu erwarten ist. Die Philosophen haben ihre Meinungen vertreten und schließen mit Aristoteles, dass in einer solchen bürgerlichen Gemeinschaft letztendlich gesucht werden soll, dass man in der Gemeinschaft und vor sich selbst wohl lebe oder ein aufrichtiges bürgerliches Leben führe. Und wenn sie es weiter ausführen, ergibt sich die Auffassung, als sollte daraus ein anderes redliches Leben gesucht werden, das nicht auf die Arbeit ausgerichtet ist, sondern auf Muße und Ruhe. Die anderen, die sich nicht so sehr um das beschauliche Leben kümmern, beharren auf dem gemeinsamen Gedeihen, das geschieht, wenn jeder der Hintersassen über seine Nahrung in guter Weise und ohne Betrug am anderen verfügt und so eine Kommune gemeinschaftlich gedeiht und jeder nach Befehl mit Namen gebessert wird. Ein Fürst sollte es dabei lassen, wenn er die Hintersassen geschützt und mit Recht deren Belange ausgeglichen hat, so dass ein jeder ohne Aufruhr und Erweiterung das bekommen hat, was sein ist und darüber hinaus das Land sich merklich gebessert hat […] Aber wir Christen sollen es nicht dabei belassen, dass der Gemeine Nutzen im Schwange ist, wir den Sieg über die Feinde haben, Land und Leute sich bessern und die Hintersassen [Schutzverwandte] gehorsam sind, woraus den Herren Ehre und den Verwandten ewiger Nutzen zufließen mag und dies also auf eigener Ehre und eigenem
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Von dem Gemeinen Nutzen
Nutzen beruhen will, sondern wir sollen weiter gehen und etwas Besseres suchen, nämlich die Ehre Gottes, denn wie die menschliche Gesellschaft von Gott geordnet ist und herrührt, in dem Maße, wie es zuerst gesagt worden ist, so soll sie auch wieder zu diesem gelangen und auf dessen Ehre allein ausgerichtet werden. Die Obrigkeit soll dessen eingedenk sein, dass ihre Gewalt von Gott stammt, dem muss sie wie ein Diener gehorsam leisten,5 dem Gemeinwesen getreu vorstehen in dem Maße, wie es ihr befohlen ist, und alles, was sie vollbringt und erreicht, stammt von Gott dem Herrn, der solches durch sie als einem Diener geschehen lässt. So haben gehandelt Mose, Josua, Gideon, David, Salomon, Hiskia, Josia und viele andere gottesfürchtige Herrscher mehr, die in ihrer Regierung keinen weltlichen Ruhm suchen wollten, sondern allein Gottes Ehre, von dem sie den Auftrag, das Volk zu weiden, empfangen hatten. Der Hintersasse [Schutzverwandte] soll in dem Gemeinwesen das anstreben und letztendlich suchen, dass Gott nicht nur solchen Gehorsam gegen die Oberen an seiner statt haben will, sondern dass er auch dem Nächsten in der Gemeinschaft Gutes tun, brüderliche Liebe erzeigen und Früchte seines Glaubens erbringen soll, alles um Gott, den Herrn, zu ehren. Ebenso bleiben die Oberen in ihrer Regierung immer in der Furcht Gottes. Die Untertanen sind in ihrem Gehorsam der brüderlichen Liebe verpflichtet und demnach dem Gedeihen des Gemeinwesens. Der Obere erhebt sich nicht über sein Amt, der Untertan kann nichts als gehorsam sein und Liebe erzeigen, denn sie stehen alle in der Furcht des Herrn, dem sie die Ehre geben und dessen Lob sie in dem Gemeinwesen suchen. Der Reiche gebraucht seine Güter, die ihm verliehen sind, nicht so als wären sie seine eigenen, sondern als die, die ihm verliehen und eine Zeit lang zur Verwaltung überlassen sind. Dem Armen gibt er, dem Nachbarn spendet er. Der Arme lässt Gott walten, tut, als hätte er viele Güter, denn er weiß, dass ihn Gott nicht verlassen will, solange er ihm vertraut, dann wird der Nachbar ihm für immer Arbeit geben. So tut der Reiche, als hätte er gar nichts, und der Arme, als hätte er es allzumal, so geben sie Gott, dem Herrn, die Ehre. Quelle: Johannes Ferrarius, Von dem Gemeinen nutze, in massen sich ein ieder, er sey regent, ader unterdan, darin schicken sal, den eygen nutz hindan setzen, und der Gemeyn wolfart suchen, Marburg 1533, 59a–65b.
5
Vgl. Röm 13,1.4.
149. Ordnungen der Hohen Hospitäler Hessens (1534/1535) Philipp Landgraf von Hessen (1504–1567), der sich 1524 der Reformation angeschlossen hatte, strebte seit 1526 eine durchgreifende Reformierung seines Landes an, die eine ausgeprägte soziale Dimension aufwies. Die Verbindung von Territorium und Reformation ging mit der Entwicklung eines protestantischen Obrigkeitsverständnisses einher, das auch die prinzipielle Verantwortung für Arme und Kranke einschloss. Die Obrigkeit blieb dabei auch als weltliche Gewalt christlich gebunden und fundierte ihre sozialen Initiativen und Maßnahmen in Gottes Willen und Christi Worten. Die im Zuge der Reformation durchgeführten sozialen Reformen beanspruchten zugleich, an das Wirken der heiligen Elisabeth in dem Marburger Hospital (s. Text 114) anzuknüpfen und es unter veränderten Bedingungen und in neuen Formen weiterzuführen. Die hessischen Sozialreformen vollzogen sich in drei Phasen: Nach dem Erlass der Kastenordnung 1530 begannen 1531 die Visitation und Restrukturierung der städtischen Hospitäler. In der dritten Phase (1535–1542) kam es zur Gründung von Landeshospitälern, die für die auf dem Lande lebenden Armen bestimmt waren. Dabei handelt es sich um einen bedeutsamen Einschnitt in der Organisation und Steuerung der Armenversorgung. Die territorialstaatliche Verantwortung wurde auf soziale Ausgaben ausgeweitet und griff durch praktische Maßnahmen und Regelungen in die Armenpflege ein. Die Gründung von Hospitälern für die auf dem Land lebenden Armen zielte darauf, die Armenversorgung strukturell zu verbessern. Zudem war von epochaler Bedeutung, dass relativ gute Bedingungen für Arme geschaffen und psychisch Kranke sowie Menschen mit körperlicher wie geistiger Behinderung ausdrücklich in die Versorgung einbezogen wurden. 1533 ließ Landgraf Philipp die beiden im Zusammenhang der Reformation aufgelösten Klöster Haina (Oberhessen) und Merxhausen (Niederhessen) in sog. Hohe Hospitäler umwandeln. 1535 kamen die Hohen Hospitäler in Hofheim (bei Darmstadt, heute Riedstadt) und Gronau bei St. Goar hinzu. Je zwei Hospitäler waren für Frauen (Merxhausen und Hofheim) und Männer (Haina und Gronau) bestimmt. Das Adjektiv „hoch“ brachte einerseits die landgräfliche Trägerschaft zum Ausdruck und andererseits die Anerkennung, die Zeitgenossen den Gründungen zollten. Geschaffen wurden die Einrichtungen, wie es in einer Merxheimer Quelle von 1557 heißt, für die Armen, Elenden, Lahmen, Blinden, Kranken, Wahnsinnigen, nackten jungen und alten Männern, Männer wie Frauen. Die vier Hospitäler konnten
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im Laufe des 16. Jahrhunderts über 1.000 Bedürftige gleichzeitig aufnehmen, die lebenslang versorgt wurden. Darüber hinaus wurden zahlreiche Hausarme finanziell unterstützt. Der Alltag in den Einrichtungen orientierte sich an klösterlichen Regeln. An die Stelle gewisser liturgischer Bräuche des „alten“ Glaubens traten allerdings evangelische Predigten und Katechismusstunden. Große Bedeutung wurde der täglichen Arbeit der Insassen zugeschrieben. Damit waren zum einen pädagogische Ziele verbunden. Zum anderen sollte die Arbeit der Insassen auch Einkünfte für das Hospital erbringen. Seelsorge und – nachrangig – medizinische Versorgung, gute Ernährung, warme Kleidung, ein eigenes Bett und gemeinschaftliche Aktivitäten prägten das Leben in den Einrichtungen. Strafen bei Verstößen gegen die Hospitalordnung wurden festgelegt. Schläge waren dabei nicht erlaubt. Im Folgenden werden zum einen Auszüge aus dem Haina-Merxhäuserner Statut wiedergegeben. Es bildete die erste Grundordnung für die Hohen Hospitäler und wurde 1534 von Heinz Lüder (1490–1559) im dem Geist religiöser Erneuerung verfasst. Zum anderen sind Abschnitte aus der Merxhäuser Disziplinordnung für Frauen und der Hainaer Zuchtordnung für Männer dokumentiert, die 1535 zur Ergänzung der Grundordnung erlassen wurden. a) Grundstatut Landgraf Philipp von Hessen, Graf von Katzenelnbogen und Diez, Ziegenhain und Nidda hat die Häuser Haina und Merxhausen mit ihren jetzigen Einkünften als Spitäler für Arme errichtet und gemäß ihren Fundationsurkunden bestätigt. Diese Urkunden sind den Städten Kassel und Marburg zur Verwahrung übergeben worden. Es ist des Fürsten Meinung, dass so viel arme Personen in die Spitäler aufzunehmen sind, wie man unterhalten kann, sodass, wenn die Nahrung sich mehrt, auch die Zahl der Armen vermehrt werden soll, jedoch nur aus den Dörfern, nicht aus den Städten des Fürstentums. Die Aufnahme soll allein um Gottes Willen und nur der Armut und Notdurft halben, nicht aber um Gunst oder Gabe oder irgendeine sonstige Zuwendung oder Vergünstigung erfolgen. Personen unter 60 Jahren dürfen nur aufgenommen werden, wenn sie so gebrechlich sind, dass sie zu nichts mehr tauglich sind. II. Damit die in den Spitälern versorgten Armen in christlicher Ordnung und ehrbarem Wandel leben, wird angeordnet: Diejenigen, die es noch vermögen, sollen morgens zugleich aufstehen, wenn das Glockenzeichen zu der vom Vorsteher bestimmten
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Stunde gegeben wird. Für Kranke und Unvermögende gilt es nicht. Nach dem Glockenzeichen ist eine halbe Stunde Zeit zum Waschen und Anziehen. Dabei ist darauf zu achten, dass alle sich reinlich halten, damit sie nicht wie Säue in einem Saustall leben. Das will auch Gott haben, denn Paulus schreibt an die Kolosser1, dass man den Leib verschönen und ihm seine Ehre geben soll. So besteht das Reich Gottes auch nicht in Unflätigkeit, Unfleiß und Heuchelei, sondern in der Gerechtigkeit des Glaubens, im Frieden des Gewissens und in der Freude, die wir am Heiligen Geist haben.2 Nach der halben Stunde soll man wieder läuten, damit alle sommers in der Kirche, winters in der Stube zusammenkommen, wo man sie unterweisen soll, wie sie Gott zu danken haben, dass er sie die Nacht behütet hat, und ihnen eine kurze Lehre aus dem Katechismus erteilen, da dieser ein Auszug aus der Heiligen Schrift ist. Danach lehre man sie recht bitten für unseren Fürsten, den allgemeinen Frieden, ihre Vorsteher und alle Notdurft der Christenheit. Denn Christus sagt: Suchet zum ersten das Reich Gottes.3 Unterweisung und Danksagung dürfen nicht länger als eine halbe Stunde dauern, damit das Gedächtnis der Alten nicht überfordert wird. Danach gebe man einem jeden eine seinem Vermögen angemessene, nicht zu schwere Arbeit zur Vermeidung des Müßiggangs, nicht aber um großen Nutzen zu erzielen, damit man dem Teufel durch den Müßiggang keinen Raum gewähre. Denn wie der Prophet sagt, haben Müßiggang und Völlerei Sodom zur Asche gemacht.4 Wenn der Prädikant die Allgemeinheit vermahnt und ihr eine Predigt gehalten hat, soll er dasselbe bei den Kranken wiederholen, damit sie zum Ausgang aus dieser Welt gerüstet werden. Dabei soll er kurze und mächtige Trostsprüche verwenden und ihnen täglich vorhalten, damit sie fröhlich werden, unverzagt vor dem Tode und begierig des ewigen Lebens. Die beiden folgenden Stücke sind die dringlichsten im Spital: 1. Dass man die Küche beaufsichtige, dass alles reinlich, nützlich und gargekocht und den Armen gereicht wird und 2. dass man die Armen täglich tröste, denn Christus sagt: Was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch, das ist das ganze Gesetz und alle Propheten;5 und ferner: Was ihr dem Geringsten von den meinen tut, das habt ihr mir getan.6 1
Vgl. Kol 2,23. Vgl. Röm 14,17. 3 Vgl. Mt 6,33. 4 Vgl. Ez 16,49. 5 Mt 7,12. 6 Mt 25,45. 2
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Vor dem Essen sollen sich alle waschen, dann sich niedersetzen und beten. Während des Essens ist Gottes Wort zu verlesen, morgens aus dem Neuen Testament (ohne die Apokalypse) und abends aus dem Katechismus. Dies deshalb, weil das ganze Jahr über Personen hinzukommen, welchen die Kenntnis des Katechismus vonnöten. Nach dem Essen und der Danksagung sollen sich alle eine Stunde lang mit ihrem persönlichen Anliegen befassen, dabei ihre Betten machen und ihre Kammern kehren. Dann gibt man ihnen wieder etwas zu arbeiten bis zum Vespertrunk. Danach soll man sie wieder an ihr Werk weisen, doch ohne Beschwerung, sodass jeder etwas nach seinem Vermögen tun mag. Wer nichts vermag, soll unbeschwert bleiben, denn alle Arbeit soll nur dazu dienen, Arges zu verhüten. Nach dem Abendessen halte man es wie am Morgen. Nach dem Essen und der Danksagung lasse man alle zuerst ruhen und sich dann zur bestimmten Zeit schlafen legen, damit sie am nächsten Morgen gemäß den gegebenen Anordnungen wieder zu allem geschickt und bereit sind. III. Der Herr Jesus Christus hat uns neben seinem Wort auch ein leibliches Zeichen seiner Freundschaft gegeben, indem er uns befohlen hat, seinen Leib zu essen und sein Blut zu trinken zu seinem Gedächtnis, auf dass wir seiner großen Liebe, die er uns durch unsere Erlösung bewiesen hat, nicht vergessen. Es ist deshalb einmal im Monat das Nachtmahl zu halten; doch soll es so eingerichtet werden, dass auch der, der zur bestimmten Zeit nicht teilnehmen kann oder zwischendurch danach begehrt, das Abendmahl erhält. Wer zum Abendmahl gehen will, soll am Sonnabend vorher dem Prädikanten Zeugnis ablegen von seinem Glauben, Leben, Wandel und Gebrechen und die Stücke des Katechismus aufsagen. Ist das während eines Tages nicht zu bewältigen, soll man die ganze Woche dazu nehmen. Wer die Gebote Gottes, die Glaubensartikel und das Vaterunser nicht kann, wird solange nicht zugelassen, bis er sie gelernt hat; denn wer von Christus nichts weiß, kann weder Christ genannt werden noch sein. Alle Teilnehmer sind zu ermahnen, allen Hass und Neid abzulegen, von Herzen einander zu vergeben und zu glauben, dass auch Gott ihnen vergeben wolle, damit sie das Nachtmahl nicht zu ihrer Verdammnis nehmen.7 Wessen Gewissen schwach ist, soll durch eine Absolution aufgerichtet werden, wessen Herz aber verhärtet ist, soll durch das Gesetz Gottes geschreckt und zur Erkenntnis seiner Sünden gebracht werden, damit auch er des Evangeliums teilhaftig werde, 7
Vgl. 1Kor 11,29.
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wie das alles ja der christliche Prediger besser weiß, als es hier beschrieben werden kann. IV. Vorsteher soll ein redlicher, gottesfürchtiger Mann sein, der sein Leben lang beim Spital bleibt. Er soll ausrichten, was der Fürst gebietet. Will er aus triftigen Gründen nicht länger im Amt bleiben, kann er mit Zustimmung des Fürsten nach abgelegter Rechenschaft ausscheiden. Wird er ungerecht oder undienlich erfunden, kann ihn der Fürst nach vorheriger hinreichender Unterrichtung absetzen. Der Spitalmeister, der Gott dem Allmächtigen nicht nur für sich selbst, sondern für alle Hausgenossen dereinst Rechenschaft ablegen muss, soll als Haupt und Herr des Hauses darauf achten, was zu des Spitals Nutzen und der Armen Notdurft und Seligkeit dienlich ist. Er hat demnach dafür zu sorgen, dass sich die Spitalspersonen der Ordnung gemäß verhalten mit Beten, Lernen und Danken, in Frieden, Einigkeit und redlichem Wesen wandeln und ihre Versorgung haben an Leib und Seele. Jede oder mindestens jede zweite Woche soll er der Armen Betten und Lager besehen lassen, die Kranken täglich besuchen, beim Anrichten und Austeilen der Speisen zugegen sein, Anordnungen treffen, dass es im Back-, Brau- und Viehhaus sowie in der Mühle getreulich zugehe und dafür sorgen, dass den Kranken als denen, die bald, wenn sie entschlafen sind, den Engeln Gottes im Reich unseres Vaters gleich werden, wohl und fleißig gedient wird. Der Helfer des Spitalmeisters soll die dem Spital fälligen Zinsen einfordern und die Angelegenheit des Spitals draußen auf dem Lande vertreten. Solange der Spitalmeister bleibt, soll auch er bleiben, möglichst sein Leben lang. Der Prädikant, der zu bestellen ist, soll den Armen zumindest einmal am Tag predigen, sie während ihrer Krankheit besuchen und aus der göttlichen Schrift trösten. Die Vorsteher insgesamt sollen jährlich einmal vor den fürstlichen Räten Rechnung legen. […] b) Merxhäuser Disziplinordnung für Frauen Alle Gesunden sollen sich morgens nach dem Läuten fertigmachen und ungesäumt zu Gebet und Predigt zusammenkommen. Danach soll jede an die ihr zugeteilte Arbeit gehen, jede nach ihrem Vermögen, wobei sich die Jungen und Starken nicht drücken sollen bei der darauf gesetzten Strafe; die wegen Alter oder Krankheit nichts tun können, sollen unbeschwert bleiben. Wenn die Glocke zum Essen läutet, soll jeder an seiner Stelle die Arbeit niederlegen, sich die Hände waschen und stillschweigen, bis die
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Kinder gebetet haben.8 Danach sollen sich alle, wenn die Schelle läutet, ordentlich zu Tisch setzen und zusammenrücken, aber keine über die andere steigen. Wer zuletzt kommt, soll vornean sitzen. Alle Schwestern sollen friedlich, einträchtig und christlich miteinander leben. Wenn sich zwei schelten, ankeifen, miteinander hadern oder sich hassen, sollen beide gestraft werden. Das geschieht auch der, die einer anderen flucht oder neidische Worte gibt. Niemand soll Brot und Bier vom Tisch nehmen und in Kisten oder im Bett verstecken. Derjenige, bei dem solches gefunden wird, wird bestraft. Wer Fleisch, Butter oder Käse übrigbehält, kann das später zu Brot essen. Wer keinen Speck essen mag, soll ihn wieder in die Küche liefern. Niemand soll etwas anderes tun als nähen, Hauben oder Hosen stricken, Beutel oder Schnüre machen und nichts davon aus dem Hause geben oder verkaufen, sondern eine der anderen im Hause nach allem Vermögen und ohne Entgelt helfen. Alle Kranken sollen ins Krankenhaus gelegt und dort mit aller Notdurft versorgt und gewartet werden. Nach ihrer Gesundung sind sie wieder zu entlassen. Niemand soll ohne Ursache und Erlaubnis vor die Pforte gehen oder zu Kirmessen und Hochzeiten, jede sich vielmehr jeder Leichtfertigkeit enthalten. Kommt ein Verwandter, soll er vor der Pforte bleiben und man zu ihm hinausgehen, um das Notwendige zu bereden, ihm auch auf Verlangen ein Bier, ein Brot oder eine Suppe reichen. Es soll eine allgemeine Dienerin erwählt werden, die allen im Remter [Speisesaal] dienen, sie regieren und alles Erforderliche anordnen soll. Ihrem Geheiß ist bei Strafe zu gehorchen, ob sie gebietet, die Stube zu kehren, die Fenster zu putzen oder die Kannen und Teller aufzuwaschen. Sie soll auch im Waschhaus regieren; wen sie waschen, blauen, auswringen oder aufhängen heißt, hat es bei Strafe zu tun. Dieser Dienerin sollen alle auch sonst gehorchen. Wer ihr ungehorsam ist oder flucht, ist von ihr anzuzeigen, damit die Betreffende dafür vom Vogt bestraft wird. Unterlässt die Dienerin die Anzeige, wird sie selber dafür gestraft. Eine jede soll sitzen bleiben, wo ihr der Stuhl hingesetzt wird, niemand sich anmaßen, regieren zu wollen, dem es nicht befohlen worden ist. Niemand darf im Remter für sich selber kochen oder eine Biersuppe oder dergleichen für sich machen, er sei denn krank. 8
Es waren also auch Kinder im Spital, d.h., dass es armen und elenden Frauen erlaubt gewesen sein muss, ihre Kinder mitzubringen. Es dürfte sich vielfach um uneheliche Kinder gehandelt haben, da geistesschwache Frauen in dieser Hinsicht ja besonders gefährdet waren. Aus den späteren Belegungslisten wissen wir, dass auch Findlinge in die Spitäler aufgenommen wurden.
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Alle diejenigen, denen befohlen ist, etwas zu tun, zu regieren, zu dienen oder den Kranken aufzuwarten, sollen dem aufs allerfleißigste und treulichste nachkommen. Wer es nicht tut, wird dafür bestraft. Alle Spitalspersonen sollen sich ehrlich und züchtig verhalten und alle böse Gesellschaft mit Männern in Worten und Werken meiden. Wer das leichtfertig unterlässt, wird des Spitals verwiesen. Ungehorsame werden entweder ins Gefängnis gesetzt, ein oder zwei Tage vom gemeinsamen Tisch ausgeschlossen und bei Brot und Bier in Gewahrsam gehalten. Wenn eine sich dann auch nicht bessert, sondern halsstarrig bleibt und andere dazu verführt und anreizt hinauszulaufen, dann soll sie stracks aus dem Hospital gewiesen und ohne Befehl der Obrigkeit nicht wieder aufgenommen werden. c) Hainaer Zuchtordnung für Männer Damit die Hospitalspersonen nicht der Faulheit verfallen, wodurch man zu vielfacher Sünde gereizt wird, sollen alle, die es vermögen, sommers um 5 Uhr in der Küche, winters um 7 Uhr in der großen Stube zusammenkommen. Dort soll ihnen das Morgengebet vorgelesen werden mit der Ermahnung, für den Landesfürsten, den allgemeinen Frieden und die Notdurft der Christenheit sowie für alle getreuen Vorsteher der Armen zu bitten. Gleichfalls sollen sie die gewöhnliche Wochenpredigt besuchen. Wer Gebet oder Predigt versäumt, wird mit Essensentzug bestraft. Die Brüder, die der Pfarrer in der Kirche aufruft, den Katechismus aufzusagen, sollen dem widerspruchslos nachkommen. Wer es verweigert, wird das erste Mal mit Gefängnis, im Wiederholungsfall mit Hospitalverweisung bestraft. Nach Gebet und Predigt soll der Hausvogt die vermöglichen Brüder an ihre Arbeit weisen. Wer sie verweigert, wird mit Essensentzug oder noch schärfer bestraft. Die Brüder sollen zur gewohnten Zeit ihre Mahlzeit halten, davor aber ihrer sechs den Katechismus (ohne Auslegungen) beten; wer neu ist und das nicht kann, soll Gelegenheit erhalten, es zu lernen. Wer darin ungehorsam befunden wird, erhält Gefängnis, wer aus Mutwillen nicht beten lernen will, wird ausgewiesen. Vor dem Gebet soll sich jeder Bruder an seinem Platz zu Tisch setzen und schweigend das Gebet erwarten. Wer nach dem Gebet kommt, erhält nichts, es sei denn, er habe sich aus triftigem Grund verspätet. Beim Morgenessen soll den Brüdern aus dem Neuen Testament, abends aus dem Katechismus vorgelesen werden. Wer nicht zuhört oder schwätzt, wird vom Spitalmeister vom Tisch gewiesen. Nach dem Abendessen sollen sich die Brüder im Sommer um 6 Uhr in der Kirche versammeln, wo ihnen das Abendgebet vorgelesen und sie ermahnt werden sollen, Gott für die tägliche Wohltat zu danken und für den
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Fürsten wie morgens zu bitten. Im Winter soll das nach dem Essen in der großen Stube geschehen. Danach hat sich jeder niederzulegen. Die Brüder sollen im Hospital bleiben und nicht ein- oder ausspazieren. Wenn jemand ohne Erlaubnis des Vogts oder Rentschreibers außerhalb der innersten Pforte geht und ohne Zeichen vom Pförtner ausund eingelassen wird, wird er zusammen mit dem Pförtner mit Gefängnis bestraft. Wird ein Bruder in der Küche oder im Keller, Brauhaus, Backhaus, Waschhaus, Webhaus, in der Schneider- oder der Schusterstube oder andernorts, wo er nicht hingehört, angetroffen, wird er jedes Mal mit Gefängnis bestraft. Wenn die Brüder an Essen und Trinken oder an anderem Mangel leiden, sollen sie deswegen mit niemanden zanken und mit Scheltworten um sich werfen, sondern den Mangel dem Amtsvogt anzeigen. Der wird ihn abstellen. Wer dagegen verstößt, wird mit Gefängnis gezüchtigt. Die Brüder sollen sich allen Gotteslästern enthalten, friedlich und einträchtig beieinander leben und sich nicht schelten oder schlagen. Wer dem zuwiderhandelt, erhält eine ernste Strafe und wird dann ausgewiesen. Die Brüder, die in die Schneiderei abgeordnet sind, sollen dort nach der Predigt ihre Arbeit beginnen, sie den Tag über fleißig betreiben und nicht im Spital herumspazieren. Wenn einer ohne triftigen Grund außerhalb der Werkstatt angetroffen wird, büßt er es mit einer Nacht Gefängnis. Kein Bruder darf ohne Wissen des Kleidergebers seine Kleider selber machen oder den Schneider damit beauftragen. Dieser darf den Armen die für sie verfertigten Kleider auch nicht selber zustellen, sondern muss sie dem Kleidergeber abliefern, damit dieser sie gemäß der Hospitalordnung unter die Brüder nach deren Bedarf verteilt. Wer das übertritt, wird ernstlich bestraft. Was für die Schneider gilt, gilt auch für die Schuhmacher, deren angefertigte Schuhe nur der Kleidergeber austeilen darf. Auch in diesem Falle wird eine Übertretung „ernstlich“ bestraft. Wollen- und Leineweber sollen ihre Arbeit so früh wie möglich beginnen und fleißig daran arbeiten. Wenn sie nachlässig sind und ohne Grund im Hospital hin- und herlaufen, wird sie der Amtsvogt bestrafen. Die Köche sollen alle Speisen reinlich und gut kochen, damit sie der Gesundheit der Armen dienlich sind, und jedem das, was ihm zusteht, getreu und gleichmäßig austeilen. Damit durch unnötiges Hin- und Herlaufen in der Küche nichts versäumt wird, sollen Meister und Unterköche ohne Wissen des Amtsvogts nicht vor die Pforte gehen. Wer dem zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bestraft.
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Wenn ein Hospitalinsasse verstorben ist, sollen ihn alle, die es vermögen, zu Grabe geleiten. Wer sich dem entzieht, wird mit Essensentzug bestraft. Quelle: Das Grundstatut und die ergänzenden Zuchtordnungen der Hospitäler (1534ff.), in: Karl E. Demandt, Die Hohen Hospitäler Hessens. Anfänge und Aufbau der Landesfürsorge für die geistesgestörten und Körperbehinderten Hessens (1528– 1591). Mit besonderer Berücksichtigung der Hospitäler Haina und Merxhausen, in: Walter Heinemeyer/Tilmann Pünder (Hg.), 450 Jahre Psychiatrie in Hessen. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen (47), Marburg 1983, 35– 133: 49–51; 53–56. © Elwert Verlag, Marburg
150. Heinrich Gresbeck: Das Täuferreich zu Münster (1535) Im von Februar 1534 bis Juni 1535 dauernden Täuferreich zu Münster verbanden sich radikale Strömungen des Protestantismus mit dem Emanzipationswillen der Gilden und städtisch-bürgerlichem Behauptungswillen. Jan Bockelson bzw. Jan van Leiden (1509–1536) und Jan Matthys (um1500–1534) formten die Stadt in ein theokratisches Königtum um, das sich durch eine programmatische Gütergemeinschaft auszeichnete und damit die prinzipielle Herausforderung der Armutsbewältigung beseitigte. Die Rückkehr zum Ideal der Urgemeinde, zur Wiedertaufe und die eschatologische Naherwartung gewannen eine religiös euphorisierte Gestalt sozialen Zusammenlebens, das von wesentlichen Gleichheitsdimensionen, jedoch auch von strengem moralischem Rigorismus geprägt war. Der vorliegende Text ist ein Augenzeugenbericht des Schreiners Herbert Gresbeck, der ein plastisches Bild der Täuferherrschaft vermittelt. Die Auszüge dokumentieren die Einführung der Gütergemeinschaft und die leibliche Versorgung der Bevölkerung durch Diakone. Heinrich Gresbeck, zunächst ein begeisterter Anhänger, erlebte das gesamte Täuferreich mit und verriet es am Ende an deren Gegner. 43. Die Täufer führen die Gütergemeinschaft ein Danach haben die Propheten, Prädikanten und der ganze Rat beratschlagt und wollten alles Gut gemeinsam haben.1 So haben sie als erstes befohlen, alle diejenigen, die Kupfergeld hätten, sollten es auf das Rathaus bringen, man sollte ihnen dort anderes Geld dafür geben. Das ist so geschehen. So sind sie des Weiteren eins geworden und haben beschlossen, dass alles Gut gemeinsam sein soll, dass ein jeder sein Geld, Silber und Gold bringen soll, wie ein jeder zuletzt getan hat. Als die Propheten und Prädikanten sich darüber mit dem Rat eins geworden sind, so haben sie das in der Predigt verkündigen lassen, dass alles Gut gemeinsam sein soll und dass der eine so viel haben soll wie der andere, ob sie nun reich gewesen sind oder arm, sie sollen alle gleich reich sein, der eine sollte so viel haben wie der andere. So haben sie in der Predigt gesagt: „Liebe Brüder und Schwestern, nachdem wir wie einerlei Leute sind, Brüder und Schwestern, so ist es ganz Gottes Wille, dass wir unser Geld, Silber und Gold zusammenbringen sollen. Der eine soll so viel wie der andere haben. So soll ein jeder sein Geld auf die Schreiberei beim Rathaus bringen. Dort 1
Vgl. Apg 2,44.
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soll der Rat sitzen und das Geld in Empfang nehmen.“ So hat der Prediger Stutenbernt2 weiterhin gesagt: „Euch Christen steht es nicht an, Geld zu haben, es sei Silber oder Gold, […] alles, was die christlichen Brüder und Schwestern haben, das gehört dem einen so gut wie dem anderen. Ihr sollt an keinem Dinge Mangel haben, sei es Kost, Kleider, Haus oder Hof. Wessen ihr bedürft, das sollt ihr kriegen, Gott soll euch an keinem Ding Mangel haben lassen. Das eine soll ebenso gemeinsam sein wie das andere. Es gehört uns allen. Es ist mein so gut wie dein, und dein so gut wie mein.“ So haben sie die Leute überredet, dass sie zum Teil ihr Geld gebracht haben, Silber und Gold und alles, was sie hatten. Aber es ist ungleich zugegangen in der Stadt Münster, wo der eine so viel haben sollte wie der andere. Ein Teil der Leute in der Stadt haben all ihr Geld, Silber und Gold hergebracht und haben nichts von allem behalten. Und ein Teil der Leute haben einen Teil hergebracht und haben auch etwas behalten. Jene, die nun ihr Geld, Silber und Gold gebracht haben und nichts behalten haben, die waren gute Christen und haben Gottes Wort lieb gehabt. Jene, die etwas gebracht, aber auch etwas behalten haben, die waren noch […] doppelten Herzens gewesen und haben noch ein wenig gezweifelt. Aber dieselben sollen alle noch zu Gnaden kommen, sie sollen noch gute Christen werden. Aber sie müssen Gott getreulich bitten. Die anderen, die ihr Geld, Silber und Gold behalten haben und gar nichts gebracht haben, dieselben wurden am Freitag zur Taufe gezwungen und sind gezwungene Christen und sind noch gottlos. Dieselben müssen noch alle ausgerottet werden. So haben sie das Volk zusammenkommen lassen auf den Markt und haben dort eine Predigt gehalten. Da hat Johann van Leiden gesagt, dass es Gottes Willen so sei, dass ein jeder sein Geld, Silber und Gold bringen solle. „Dasselbe Geld, Silber und Gold ist zu unserem Besten, wozu wir es dann benutzen.“ Sie haben so getreulich gepredigt und haben so große Strafe darauf gesetzt, dass niemand etwas behalten durfte. Wenn sie einen entdecken konnten, der sein Geld, Silber und Gold behalten hatte, den entfernten sie aus der Gemeinschaft und straften ihn so, dass da ein anderer daran dachte, und hieben einem Teil von ihnen die Köpfe ab, dass da niemand etwas behalten durfte. Und es hat das Zusammenbringen an die zwei Monate lang gedauert, dass sie so getreulich gepredigt und gestraft haben, dass niemand etwas behalten durfte. So haben sie noch in der Predigt sagen lassen, wer noch etwas behalten hätte, der möge das noch frei bringen und offenbaren, sie sollten noch alle zu Gnaden kommen. Nach dieser Zeit ist keine Gnade mehr, die Gnadentür wird zugehn. Wer da noch etwas hatte, der hat es alles herbeigebracht und sich überreden lassen. 2
Bernd Rothmann.
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44. Diakone verwalten die eingezogenen Güter [….] Da das Gut so gemein gewesen ist, da haben sie in einem jeden Kirchspiel drei Diakone eingesetzt, die das gemeinsame Gut sollten verwahren von den Früchten oder von Korn und von Fleisch, von allerlei Essenskost, die in der Stadt war. Dieselben Diakone gingen in alle Häuser und besahen, was ein jeder in seinem Hause hatte an Kost, Korn, Fleisch und schrieben alles auf, was so ein jeder in seinem Hause hatte. Jede Gruppe von den Diakonen ging in ihrem Kirchsprengel einher und sollte sich umsehen, was für arme Leute in der Stadt wären, und sollten sie keinen Mangel haben lassen. Dasselbe taten sie die ersten zwei oder drei Mal, aber zuletzt wurde es vergessen, da sie noch Proviant in der Stadt genug hatten. Mit einem guten Schein trieben sie das so in Münster. Da sie das alles so aufgeschrieben hatten in einem jeden Haus, da konnte ein jeder nicht über das Seine verfügen. Aber hatten sie etwas auf die Seite gebracht, das nicht aufgeschrieben war, dasselbe mochten sie behalten. Quelle: Meister Heinrich Gresbeck´s Bericht von der Wiedertaufe in Münster, in: Das Täuferreich zu Münster 1634–1535, hg. v. Richard van Dülmen, München 1974, 97–99. © Deutscher Taschenbuch Verlag
151. Almosenordnung Kurtrier (1537) Die im Folgenden wiedergegebene Ordnung wurde von Johann III., geb. 1492, Erzbischof und Kurfürst von Trier von 1531 bis 1540, am 1. Juli 1537 erlassen. Sie dokumentiert die Neuordnung des Almosenbzw. Armenwesens, die der Erzbischof-Kurfürst als katholischer Landesherr in territorialstaatlicher Verantwortung einführte. Reichsrechtliche Prinzipien (s. Text 144) wurden in der Trierer Ordnung aufgenommen und konkretisiert. Die Verordnung des Kurfürstentums Trier zielt auf den Schutz der eingesessenen Armen und Notdürftigen und versucht, den Zuzug fremder Bettler strategisch an den Außengrenzen des Herrschaftsgebiets zu unterbinden. Kommunale Armenfürsorge soll das öffentliche Betteln weitgehend überflüssig machen. Wahre Bedürftige tragen nach eingehender Prüfung ein äußeres Zeichen auf ihrer Kleidung, das sie als almosenberechtigt kennzeichnet; das missbräuchliche Tragen des Zeichens steht unter Strafe. Zwei kommunal (!) gewählte Amtsträger jeder Pfarrei sammeln Almosen, die mit verteilter Schlüsselgewalt im Opferstock der Kirche aufbewahrt und mit anderen, außerhalb der Kirche gesammelten Geldern zusammengeführt werden. Die katholische Verordnung weist wesentliche Gemeinsamkeiten mit Grundsätzen und Maßnahmen der Armenfürsorge in protestantischen Gebieten auf: Unterscheidung Einheimischer und Fremder, Verbot des Bettels, Kriterien der Unterstützung der ehrbaren Armen, Kennzeichnung der Unterstützungsberechtigten, Gemeindeprinzip, transparente Almosenverwaltung. Der deutlichste Unterschied im Vergleich zu protestantischen Ordnungen liegt zum einen im Begründungszusammenhang: Die Trierer Ordnung hält an der Vorstellung fest, dass Almosen ein verdienstliches Werk darstellen und ein Mittel zum Gewinn des Heils sind. Zum anderen zeigen sich Differenzen vor allem bei den Ausnahmeregelungen: Fremde Pilger mit Sondererlaubnis sowie wandernde Schüler und Lehrjungen dürfen nach der Trierer Ordnung um Almosen bitten. Vor allem aber sind die Angehörigen der vier geistlichen Orden (Franziskaner, Dominikaner, Karmeliten und Augustiner-Eremiten) vom Bettelverbot ausgenommen. Ehrenbreitstein, den ersten Tag des Monats Juli 1537. Wir Johann, Erzbischof u. Kurfürst etc. tun kund allen und jeglichen unseren und unseres Erzstifts Amtsleuten, Verwaltern, Schultheißen, Vögten, Gerichten, Bürgermeistern, Räten und Gemeinden, auch allen andern unseren geistlichen und weltlichen Untertanen, wes Stands oder Würden sie sind, und geben den-
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selben mit unserem gegenwärtigem Brief gnädige, gute Meinung zu wissen: Nachdem Gott, der Allmächtige, von Anfang der Welt an das menschliche Geschlecht so geliebt hat, dass er seinen eigenen Sohn, unsern lieben Herrn Jesus Christus, vom Himmel herab gesandt und uns durch sein bitteres Leiden und Sterben von den Banden des ewigen Tods, nicht aus unserm Verdienst, sondern wegen unaussprechlich großer Liebe, Gnade und Barmherzigkeit, die er zu uns getragen, gnädig erlöst hat,1 darum er uns in seinem heiligen Evangelium durchaus vornehmlich auf den Glauben, aber auch auf die Liebe Gottes und des Nächsten, wie er sie selbst mit seinen eigenen Werken ohne Unterlass bewiesen, vermahnt und gereizt hat, so sind wir hier in diesem Jammertal aus göttlichem Geheiß und Befehl, neben andern christlichen Werken, die der Allmächtiger von uns haben will, bei Verlust ewiger Seligkeit schuldig, denjenigen, die wahrhaftig arm, notdürftig und gebrechlich sind, unsere Hand, Unterstützung und Hilfe zu reichen und mitzuteilen. Denn Christus, unser Herr, [hat] selbst mit seinem göttlichen Mund gesprochen, dass wir die Armen allezeit bei uns haben werden.2 So hat uns Gott durch den Propheten vermahnt, wir sollen unsere Sünden mit den Almosen erlösen und tilgen.3 Denn in gleicher Weise wie Wasser das Feuer so löschen Almosen die Sünde,4 so dass ohne jeden Zweifel die Unterstützung und Handreichung der Armen ein hoch verdienstliches Werk und dem Allmächtigen besonders angenehm und wohlgefällig ist. Deshalb ist es auch billig, dass alle Christgläubigen mit besonderem Fleiß dazu geneigt sind und den Armen zu Trost kommen sollen. Da aber unter dem Schein der Armut und des Bettels die Almosen oft den rechten Armen und Notdürftigen entzogen und andern leichtfertigen, nicht gebrechlichen jungen und nicht behinderten Leuten zur Stärkung ihrer Bosheit verabreicht werden, wodurch leider viel sträflicher und hoher Missbrauch, Sünde und Laster, wie das mit höchster Belästigung und Verletzung christlicher Liebe oftmals geschehen ist, eingerissen und erwachsen sind, haben wir nicht unbillig zu Herzen geführt und bedacht, solchem Laster, Ärgernis und Übel bei den Unsern, wie wir aus christlicher Pflicht zu tun schuldig sind, zu begegnen, soviel es immer möglich ist. Darum und damit hinfort die Almosen nicht anders als den armen Notdürftigen mit gutem gebührlichen Unterschied ausgeteilt und unsers Erzstifts und Kurfürstentums Arme von den ausländischen und fremden Vagabunden nicht verdrängt wer1
Vgl. Joh 3,16. Vgl. Mt 26,11. 3 Vgl. Tob 12,9. 4 Vgl. Sir 3,30. 2
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den, auch sonst allerlei Gefahr, die durch sie mit Totschlag, Mord, Brennen und in anderer Weise bis hierher unter dem Bettelstab gebracht worden ist, verhütet wird, so haben wir nachfolgende Ordnung, wie es hinfort mit dem Bettelwerk und der Handreichung der Almosen allenthalben in unserm Erzstift und Kurfürstentum gehalten werden soll, aufgerichtet und beschlossen, die wir euch hiermit öffentlich verkünden und gebieten darauf euch allen samt und sonders, dass ihr diese unsere Ordnung in allen unseres Erzstifts und Kurfürstentums Städten, Burgen, Flecken, Märkten, Dörfern und Weilern festhalten und ihr gemäß leben und ihr nachkommen wollt, wenn es euch lieb ist, unsere Ungnade und schwere Strafe zu vermeiden. Und um zum ersten zu verhindern, dass die fremden vermeintlichen Bettler und Landstreicher, wie es bisher geschehen ist, einen solchen freien Zugang in und auf unserem Erzstift und Kurfürstentum, dergleichen ihren gewissen Unterschlupf und Unterhalt von einer Zeit zu der anderen bei den Spitälern und anderen zur Notdurft der Armen verordneten Häuser haben, wodurch die Almosen nicht allein unnütz verwandt, sondern auch übel missbraucht werden, so sollen von diesem Tag an alle und jeder unserer Amtsleute, Verwalter und welche dergleichen in einer jeden Stadt, Burg, Markt, Dorf oder Weiler deren Vorsteher und Regenten sind, an den Grenzen und äußersten Orten unsers Erzstifts und Kurfürstentums, auch darinnen allenthalben gesessen und gelegen, mit ganzem Fleiß und Ernst darauf Acht haben und dafür sorgen, dass keine fremden Bettler und Vagabunden in unser berührtes Erzstift, Obrigkeit und Gebiet gelassen, aufgenommen oder geduldet, auch nicht gespeist oder getränkt, sondern ganz und gar davon heraus- und abgehalten werden, und wenn sich etliche darüber heimlich einschleifen würden, dieselben wiederum zurückgewiesen und bei den Spitälern oder andern Häusern mitnichten wohnen gelassen oder beherbergt werden. Doch wenn jetzt oder in Zukunft ein Pilger angetroffen und unsere Landschaft bereisen würde, der aus christlicher Andacht und anderen redlichen Ursachen, auf Grund eines geleisteten Gelübdes oder aus sonstigen Gründen seine geplante Bittfahrt mit Almosen zu bestreiten vorhätte, so wäre dann derselbe äußerlich anzusehen wie einer von ehrbarem Wesen und des Betrugs unverdächtig, dazu von seiner Obrigkeit oder seinem Pastor, darunter er ansässig, wie, warum und in welcher Form er solche Bittfahrt sich vorgenommen, glaubwürdige Bescheinigung oder Zeugnis, dem ersten Amtmann oder Befehlshaber von uns, dem er berichten kann, vorlegen, auch die rechte Straße zu dem Ort seiner angezeigten Bittfahrt einhalten und stracks weiter ziehen würde, dem sollte vergönnt werden, Almosen zu erhalten, während er durchzieht. Und wenn er unterwegs aber von schwerer zufälliger Krankheit befallen und beladen würde, so dass es ihm unmög-
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lich würde, stracks durchzuziehen, in dem Fall soll und mag es für ungefährlich gehalten werden, und diesem Kranken soll aus christlichem Mitleiden Barmherzigkeit erwiesen werden. Dergleichen wollen wir auch, dass es gegenüber und mit den armen Notdürftigen, die in der Nähe an und um unser Erzstift und Kurfürstentum unter andern angrenzenden Herrschaften ansässig sind, freundlich und nachbarlich gebraucht wird. Jedoch sollen dieselben immer ihre Armuts- oder Pilgerwegsurkunde und Bescheinigung – wie vorher gesagt – mitbringen, und ohne solchen Schein wie fremde Bettler angesehen und zum Almosen nicht zugelassen werden. Hinwiederum wollen wir auch nicht, dass unsere und unseres Erzstifts und Kurfürstentums Untertanen sich aufmachen und andere Fremden mit Betteln belästigen, sondern wenn jemand eine Bittfahrt unternehmen und dabei Almosen nutzen will, der soll in dem Maße wie angegeben eine Bescheinigung und Zeugnis von seinem Pastor oder Obrigkeit nehmen und mit solchem Schein und sonst nicht die Bittfahrt ehrbar vollbringen. Und damit werden die in unserem Kurfürstentum lebenden Armen berührt, die durch Almosen nach ihrer Notdurft unterhalten und gespeist werden und einer von dem anderen deshalb nicht verdrängt noch belästigt werde. So ist unsere ernstliche Meinung und Wille, dass in Zukunft kein Mensch, jung oder alt, Mann oder Weib, in unseren Städten, Burgen, Märkten, Dörfern oder Weilern, in und vor den Kirchen, Häusern oder an den Gassen und Straßen, bei Tag oder Nacht betteln oder [Almosen] verlangen soll, auch niemand dasselbe zu tun gestattet oder zugelassen werde, sondern es soll ein jeder Ort und Pfarrei oder Kirchspiel sich befleißigen und bewogen sein, die armen Leute, die an diesem Ort, Pfarrei oder Kirchspiel eingesessene Bürger und Nachbarn sind, selbst mit Almosen zu erhalten und, soweit es möglich ist, die Entwicklung zu fördern, damit jede Kommune oder Gemeinde ihre Armen, ohne den anderen zur Last zu fallen, erhalten und in Gehorsam gegenüber dem göttlichen Befehl leben möge. Dabei sollen auch unsere Amtsleute und Befehlshaber samt der Obrigkeit an einem jeden Ort eine fleißige und getreuliche Aufsicht haben und verfügen, dass Fürsorge gegenwärtig zuverlässig gelebt werde. Damit aber eigentlich klar werde und sich ein jeder danach richten mag, wer die rechten notdürftigen Armen sind, die man billig mit dem christlichen Almosen unterstützen soll, dass auch die jungen, starken und nicht behinderten Leute in Zukunft keine Ursache haben, auf Grund des Almosens müßig zu gehen, und andere leichtfertige Buben ihre vielfältigen Sünden und Laster mit Spielen, Saufen, Gotteslästern, Kuppeln und in andere Weise unter dem Schein des Bettelns nicht beschönigen und endlich das heilige Almosen nicht als Schanddeckel ihrer Bosheit gebrauchen, so sollen alsbald nach Verkündigung dieser
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unserer Ordnung an einem jeden Ort in den Pfarrkirchen unseres Erzstifts und Kurfürstentums – in den Städten, Burgen, Flecken, Märkten, Dörfern und Weilern – durch die Obrigkeit und Regenten derselben zwei oder mehr ehrbare, redliche und tapfere Männer verordnet und ihnen mit hohem Ernst auferlegt und befohlen werden, dass sie mitsamt dem Pastor oder Kirchherrn einer jeglichen Pfarrei Wesen, Gestalt und Verhältnisse aller derjenigen erforschen sollen, die Almosen begehren, und von diesen die jungen, nichtbehinderten, vermögenden Leute und die auch sonst der Almosen nicht bedürfen, die sich von ihrer Hand Arbeit ernähren und davon leben mögen, absondern, damit dieselben vom Betteln Abstand nehmen und keineswegs dazu zugelassen werden, sondern ein Handwerk lernen und sich mit ihrer Arbeit ernähren, diejenigen aber, die ihre Tage als fromme, biedere Leute wohl verbracht und nunmehr alt, schwach und unfähig sind zu arbeiten oder sonst gebrechlich oder mit Kindern überladen, so dass sie der Almosen bedürfen und ohne diese Hilfe nicht sein noch geraten möchten, die sollen mit Namen und Zunamen, auch mit all ihrer Gelegenheit [Habe] aufgezeichnet, der Obrigkeit und den Regenten jedes Ortes überantwortet und durch dieselben zugelassen werden, Almosen zu nutzen. Und es sollen alle diejenigen, die so für arm und notdürftig erkannt und zugelassen werden, ein besonderes Zeichen, das ihnen die Obrigkeit und Regierung eines jeglichen Orts (wie bereits genannt) nach ihrem Wohlgefallen geben soll, an der äußeren Kleidung tragen, so dass man es öffentlich sehen kann; auch [soll die Obrigkeit] anderen solche Zeichen nicht zuwenden noch zukommen lassen, um die nachfolgende Strafe zu vermeiden. Ferner, nachdem in und bei unserer Stadt Trier, auch in anderen Städten, Burgen, Flecken, Märkten, Dörfern und Weilern unseres Erzstifts und Kurfürstentums viele und mancherlei Almosen und Spenden von Geistlichen und Weltlichen seit vielen Jahren gestiftet und den Armen zu geben verordnet sind, damit dann solche Almosen und Spenden dieser unserer Ordnung gemäß ausgeteilt und darinnen allenthalben Gleichheit gehalten werde, so ermahnen wir alle und jeden Vorsteher der Spitäler und anderer Gotteshäuser, über die sie Befehl haben, über die sie dem Allmächtigen Rechnung, auch Rede und Antwort zu seiner Zeit geben müssen, mit emsigem Fleiß ganz ernstlich befehlend, dass sie darauf achten und verfügen wollen, damit die obengenannten Almosen und Spenden in dem Maße, wie sie gestiftet und jenen auszurichten befohlen sind, den aufgezählten Armen, die die Obrigkeit in dem Maße wie dargestellt zum Betteln zugelassen und ihnen deshalb Zeichen und Zeugnis gegeben hat und niemand anderes, gänzlich und vollständig mitgeteilt, und dieser unser Befehl mitnichten übergangen werde.
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Und damit dieses notwendige christliche und ehrbare Werk zum Trost der Armen immer mildtätiger unterstützt und gefördert werden möge, so soll in jeder Pfarrkirche ein besonderer [Opfer-] Stock aufgerichtet werden, und das Volk soll zu aller Zeit durch den Pastor, Kirchherrn oder Prädikant mit Fleiß erinnert und ermahnt werden, dass jeder nach seiner Andacht darin die Armen unterstützt. Dergleichen sollen bei jeder Pfarrei zwei redliche, tapfere Männer durch die Obrigkeit eines jeden Ortes dazu erwählt werden, an allen heiligen Tagen oder Feiertagen in den Pfarrkirchen unter dem Volk, auch einmal oder zweimal in der Woche von Haus zu Haus die Almosen bei den frommen, andächtigen Leuten zu suchen und einzusammeln, den Armen zum Trost und zugute. Und diejenigen, die in unserer Stadt Trier bei den Pfarrkirchen daselbst dazu verordnet werden, sollen sich ein um das andere Mal abwechseln und bei unserem hohen Thumstift, auch anderen Stiften, Klöstern, Kirchen und Spitälern, die nicht zu den Pfarreien gehören, aber doch dabei gelegen sind, jeden Sonntag während der Predigt und anderen Gottesdiensten die Almosen, wie dargestellt, mit allem Fleiß einsammeln und aufheben. Und was so an Geld in oder außerhalb der Kirchen eingesammelt, aufgehoben und zusammengebracht wird, das soll in den oben genannten Stock einer jeden Pfarrkirche ehrbar und treu gelegt und in dem betreffenden Stock mit zwei Schlössern, von denen der Pastor oder Kirchherr einen Schlüssel und die zwei Verordneten den anderen haben, aufbewahrt werden. Es sollen auch die zwei, die bei einer jeden Pfarrkirche zu dem Almosen verordnet werden, mit diesem Amt nicht länger als ein Vierteljahr beladen sein, und alles, was in diesem Vierteljahr an Geld in den Stock oder sonst in ihre Händen gelegt wird, soll bei ihrer Seelen Seligkeit den Armen nach eines jeden Notdurft und Bedarf mit Wissen des Pastors ehrbar und treu ver- und ausgeteilt werden, und zum Ausgang des Vierteljahres, nämlich am Samstag in den Fronfasten gegen Morgen um 8 Uhr in der Pfarrkirche vor dem Pastor oder Kirchherrn und denjenigen, die die Obrigkeit und Regierung jedes Ortes von sich aus dazu verordnet hat, auch sonst vor allen denjenigen, die dieser Pfarrkirche angehören und dabei sein wollen, klare Rechnung ihres Empfangens und Austeilens in dem betreffenden Vierteljahr öffentlich tun und geben. Und wenn die Rechnung so geschehen und gehört worden ist, so sollen alsbald zwei andere durch den Pastor und die Obrigkeit mit Hilfe der Vornehmsten der Pfarrei, die bei dieser Rechnungslegung dabei sein würden, erkoren, ernannt und verordnet werden, die dieses göttlich und mildtätige Werk das nächstfolgende Vierteljahr auch ausüben und vollbringen. Dabei soll sich niemand sperren und weigern, dazu ernannt und erkoren zu werden, und so soll die Erneuerung der Einwohner für und für von einem Vierteljahr zum anderen geschehen.
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Und wenn in der genannten Versammlung und Rechnung oder sonst für die Armen noch etwas übrig wäre, soll dies durch die Verordneten jederzeit treu verwahrt und mit Rat und Wissen unseres Amtsmanns, auch des Pastors und der Regenten eines jeden Orts den ehrbaren, züchtigen und tugendhaften Weibsbildern zur Ehesteuer, auch anderen Jungen und Waisen, die dessen bedürftig wären, zur Schule oder zum Anhalten ehrbaren Handwerks mitgeteilt und in jedem Fall dazu verwandt werden, dass vornehmlich die Ehre Gottes und die Liebe des Nächsten darin gesucht und die Armen zu Ehren und Tugenden dadurch aufgezogen werden. Wenn der Fall eintritt, dass einer oder mehrere derer, die zum Almosen, wie dargestellt, zugelassen worden sind, mittlerweile zu besserem Vermögen gekommen ist, denen soll ferner nicht gestattet werden, dieses Almosen zu beanspruchen, vielmehr sollen andere Arme an ihrer statt zugelassen werden. Und es sollen die vier Orden und andere geistlichen, auch die weltlichen Orden, dergleichen die Jungen, die zur Schule gehen oder eine Lehre machen (doch dass dieselben Jungen ihren Schulmeistern Kundschaft ihrer Armut geben und die gewöhnlichen Zeichen wie andere Armen haben und tragen), in dieser unserer Ordnung nicht ausgeschlossen sein, sondern das Almosen – wie von alters her und wie andere – nutzen. Würde aber jemand – er sei, wer er wolle – ohne oben genannte Zeichen der Armut oder sonst dieser unserer Ordnung entgegen und zuwider Almosen beziehen oder sich des Bettelns unterziehen oder aber sein empfangenes Zeichen veräußern oder auf einen anderen, der – wie dargestellt – durch die Obrigkeit und Regierung nicht zugelassen wäre, übertragen, dieser soll sofort der Obrigkeit, der solches förmlich gebührt, angezeigt und ausgeliefert und wegen seiner Übertretung nach den Umständen ohne Nachlass bestraft werden. Und wir haben uns vorbehalten, diese unsere Ordnung nach den Erfordernissen der Zeit und zufälliger Sachen ganz oder zum Teil wieder aufzuheben, zu ändern, zu vermehren und zu mindern, wie wir es für gut ansehen und die Notdurft es erfordern wird. Gegeben etc. Quelle: Erembreitstein den ersten Tag des Monats Julii 1533, in: Johann Joseph Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstentum Trier über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, Düsseldorf 1832, Bd. 1, Nr. 68, 298–305.
152. Martin Bucer: Leibsorge (1538) Martin Bucer, 1491 im elsässischen Schlettstadt geboren, gestorben 1551 in Cambridge (England), kam 1523 nach Straßburg. Er wurde bald zum einflussreichsten Theologen bei der schrittweisen Einführung der Reformation in der damaligen Weltstadt Straßburg. 1538 legte Bucer die erste evangelische Pastoraltheologie „Von der wahren Seelsorge“ vor. In der programmatischen Schrift fasst er sein Verständnis der Kirche, ihres Auftrags und ihrer grundlegenden Ordnung in elementarer Weise zusammen. Er orientiert sich dabei an biblischen Grundlagen sowie an der Alten Kirche und den Kirchenvätern. Indem er zentrale Glaubenspositionen aufweist, sucht er einen Beitrag zur Klärung praktischer Fragen und zugleich zur Überwindung der heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gefolgsleuten Luthers, Anhängern Zwinglis und Täufern in Straßburg und darüber hinaus zu leisten. Martin Bucer unterscheidet zwei Ämter, die für die Kirche konstitutiv sind: das Amt der Seelsorge, das Aufgaben der Wortverkündigung, der Erziehung und der Leitung umgreift, und das Amt der Leibsorge, das Amt des Diakons, das den Dienst an den Bedürftigen zum Inhalt hat. Nach der Zweckentfremdung des Diakonenamts durch die „Päpstlichen“ und gravierenden Fehlentwicklungen in Spitälern plädiert Bucer für die Wiederherstellung des Diakonenamts – im Kontext der 1523 in Straßburg verabschiedete Almosenordnung und der 1530 erfolgten Einführung des Diakonenamtes. Seine Ausführungen begründen, dass und inwiefern die Sorge für die Armen zum Wesen der Kirche gehört und den Diakonen obliegt. In der Praxis der Stadt gestaltete sich das Diakonenamt allerdings nicht als dezidiert kirchliches Amt, sondern als rein sozialer Dienst unter der Aufsicht der weltlichen Obrigkeit. Calvin hingegen griff Bucers Ämtervorstellungen auf und entwickelte sie weiter. Dies gilt auch und gerade für das kirchliche Amt des Diakons (s. Text 156). Aus diesen Sprüchen1 lernen wir, dass der gemeinsame Auftrag der Kirche zu allen Zeiten vornehmlich in den zwei Diensten besteht: im Dienst der Seelsorge und im Dienst der leiblichen Sorge für die Bedürftigen. Die zu dieser leiblichen Fürsorge eingesetzt sind, haben die Apostel und danach die Kirche, solange dieses Amt in der Kirche Bestand hatte, Diakone genannt, das heißt Diener. Und als die Kirche sich vermehrt und erweitert hat, sind auch Subdiakone, das heißt Unterdiener, und dann Archidiakone, das heißt Erz- oder Oberdiener eingesetzt worden. 1
Apg 6,1–6; 1Tim 3,8–10.
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Dieser aller Amt und Dienst war und sollte noch sein, das, was die Christen zur Erhaltung der Bedürftigen in ihren Versammlungen am Sonntag und auch sonst zusammentragen und opfern, auch was besondere Personen, hohen oder niederen Standes, zu diesem Werk Gottes den Kirchen geben, Unbewegliches und Bewegliches, getreu zu verwalten und davon allen Bedürftigen der Gemeinde, einheimischen und pilgernden, auszuteilen nach der allgemeinen Ordnung der Kirche und nach dem besonderen Bescheid der Ältesten und vornehmlich des obersten Seelsorgers, das heißt des Bischofs. Wie dann der Bischof als der oberste Aufseher über alle Notdurft der Kirche und die Ältesten als die Mitaufseher die täglich vorfallende Notdurft der Christen, sowohl der fremden wie der einheimischen, erfahren und erkennen, sollen sie nach dem Vermögen der Kirche Hilfe leisten. Und von den Einnahmen und Ausgaben solchen Kirchengutes haben solche Diener der Kirche immer getreu Rechnung abgelegt, wie wir das bei den alten h[eiligen] Vätern und in den Kirchengesetzen oder Kanones klar sehen können. Besonders hat man davon gar feine Anzeigen in den Sendbriefen des h[eiligen] Gregor, der ein frommer Papst zu Rom gewesen ist. Dieses Amt und dieser Dienst sind nun seit langem in der Kirche, die der päpstlichen Tyrannei unterworfen ist, leider gar verfallen, so dass es nun seit vielen Jahren wenige sind, auch von denen, die Diakone, Subdiakone oder Archidiakone genannt werden, die da wissen, worin ihr Amt oder Dienst in der Kirche bestehe, obgleich sie so reichen Nutzen von diesen Ämtern haben. Sie meinen, ihre Aufgabe sei es, etwa das Evangelium oder die Epistel in der Messe zu singen oder singen zu lassen. Es ist aber nun lange Zeit alles Kirchengut von unseren vermeintlichen Geistlichen der Kirche gänzlich entzogen, und es wurde dahin verwandt und gekehrt, dass sich die ganze Christenheit zum höchsten vor Gott fürchten und vor der Welt schämen muss. Denn diese Leute selbst nennen dieses Gut das Erbgut des Gekreuzigten und den Vorrat der Kirche, der allein zur Erhaltung der Bedürftigen und zur Erbauung des Reiches Christi bei jedem Einzelnen bestimmt ist, wie das die Kanones reichlich bezeugen. Solchen Kirchenraub und Schaden an den Armen Christi, die durch die genannten Geistlichen verübt wurden, haben die frommen Christen mit der Einrichtung von allerlei Spitälern, Waisen- und Siechenhäusern einigermaßen ausgleichen wollen. Aber nachdem die vermeintlichen Geistlichen durch ihre angemaßte Verwaltung auch diese Spitäler und Stiftungen in ihre Hand gebracht haben, haben sie den größten Teil dieser Spitäler und Stiftungen längst auch zu Prälaturen und Prachtbauten, Klöstern und Häusern gemacht, wie an Hospitä-
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lern, die sich nach dem h[eiligen] Geist, unserer Frauen, Sankt Johannes und anderen Heiligen genannt haben, zu sehen ist. Und so ist es vor Zeiten auch den älteren Gotteshäusern, das heißt, den alten Stiften und Klöstern ergangen, die alle zu der Versorgung der Armen und derer, die zum Dienst der Kirche aufgezogen und erhalten werden sollten, eingerichtet wurden. Sie sind aber danach durch List und Gewalt des Antichrists von allem Dienst der Kirche entwendet und zum Mutwillen und Pracht der Seinigen gekommen. Nun aber, da es uns der Herr zu dieser Zeit gegeben hat, sein heiliges Wort vollkommener zu erkennen, sind in der Kirche wieder gemeinschaftliche Versorgungen der Armen eingerichtet worden, obwohl diese wie fast alle anderen Stücke der christlichen Reformation bei uns noch ein geringer Anfang sind, gemessen an dem, was die christliche Liebe und der wahre Eifer für das Reich Christi erfordern. Und das Beispiel der alten Christen sollten wir bei dem Kirchenraub, der in den Händen der Päpstler ist, wohl vor Augen haben. Es sollte also dieser Dienst wieder aufgerichtet werden, damit jedermann erhalte, was er zum Reich Christi braucht und niemand Mangel leide, wie wir das Beispiel der ersten Kirche vor Augen haben, Apg 4. Dies sei an diesem Ort genug von dem Dienst und Amt, wodurch der Herr in seiner Kirche der leiblichen Notdurft der Seinen Abhilfe schaffen will. Am Amt und Dienst der Seelsorge ist weiter gelegen. Denn wo das Amt der Seelsorge recht bestellt ist und gut praktiziert wird, wird kein besonderer Mangel an diesem anderen Dienst der Leibsorge herrschen. Quelle: Von der wahren Seelsorge und dem rechten Hirtendienst, wie derselbige in der Kirchen Christi bestellet und verrichtet werden solle, durch Martin Bucer, in: Robert Stupperich, Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 7, Schriften der Jahre 1538–1539, 90–245: 114–116. © 2006, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
153. Domingo de Soto: Über die Regelung der Armenhilfe (1545) Domingo de Soto, geb. 1494 in Segovia, gest. 1560 in Salamanca, war einer der bedeutendsten spanischen Theologen der Spätscholastik. 1524 trat er in den Dominikanerorden ein. Er lehrte an der Universität Salamanca, nahm als Vertreter des Dominikanerordens am Konzil von Trient (1545–1547) teil und war Beichtvater Karls V. De Soto kritisierte die spanische Armengesetzgebung, die nach Modellen in Deutschland und vor allem in Flandern gestaltet worden war, und trat nachdrücklich für die Würde der Armen ein. Dem entsprach, dass er sich an der Seite von Bartholomé de Las Casas (1484/85–1566) für die Rechte der südamerikanischen indigenen Bevölkerung engagierte. Seine 1545 in Latein und Spanisch verfasste Schrift In causa pauperum deliberatio/Deliberación en la causa de los pobres (Über die Regelung der Armenhilfe) war an den damals siebzehnjährigen Kronprinzen Philipp (1527–1598) gerichtet. Im Vergleich mit vielen anderen Dokumenten dieser Zeit besitzen seine Überlegungen exzeptionellen Charakter. Vor dem normativen Hintergrund von göttlichen, natürlichen und positiven Gesetzen sowie der programmatischen Bedeutung der Armut Christi – der wirkungsgeschichtlich bedeutsamste Text vom Weltgericht (Mt 25,31–46; s. Text 12) ist für ihn zentral – kritisiert er vielfältige Regelungen der Armenfürsorge (Bettelverbot, Kontrolle, Überprüfung etc.), mit denen sich Wohlhabende die unmittelbare Begegnung mit Armen ersparen wollen. Es fehlt – so der spanische Theologe – an einer von christlicher Liebe getragenen Kultur des Mitleids und einer Sozialbindung des Eigentums. Auch Domingo De Soto hält es für notwendig, zwischen „Vagabunden“ und „legitimen“ Armen zu unterscheiden; im Gesamten jedoch zielen die Armengesetze auf eine kritisierenswerte, d.h. vor allem das Reichtumsproblem aus den Augen verlierende Disziplinierung der Armen. Grenzüberschreitungen der Obrigkeit sieht er besonders im „pfäffischen Hinter-den-Sünden-Herschnüffeln“ (Dietrich Bonhoeffer) und kritisiert die darin innewohnende Missachtung der Würde der Armen. De Soto fürchtet einen Rückgang der Almosen im Zuge der neuen Regelungen und verteidigt das herkömmliche Almosenwesen, das für die Reichen heilsnotwendig sei und eine direkte Begegnung zwischen Reichen und Armen ermögliche bzw. erzwinge.
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VII. Kapitel: Über das Ziel, das man sich bei diesen Institutionen vornehmen muss Es bleibt noch der zweite Teil dieses meines Vorhabens: Auf welche Weise es mehr zur Frömmigkeit passt und der christlichen Religion mehr entspricht, die Gesetze auszuführen, die bei den Armen einzuhalten erlaubt ist. In sechs Punkten haben wir oben zusammengefasst, was man jetzt in diesen Reichen zu tun fordert. Erstens, dass niemand betteln soll, ohne dass untersucht wird, ob er arm ist; und dies ist eine erlaubte Sache. Und über das Zweite haben wir bereits gesprochen: niemand dürfe außerhalb seiner Heimat betteln. Und das Dritte: Niemand bettele ohne Erlaubnisschein. Und das Vierte: Man solle ihm diesen nicht geben, wenn er nicht gebeichtet hat. Und das Fünfte, worüber wir schon gesprochen haben, betrifft die Santiagopilger. Und das Sechste: Die Armen sollen nicht an den Türen bitten, sondern andere sollen für sie bitten. […] Das Ziel dieser Unternehmung soll nicht so sehr der Hass und der Widerwillen gegen die Armen sein noch die Bestrafung der Bösen, die es unter ihnen gibt, als vielmehr die Liebe und Güte und das Mitleid mit diesem armseligen Stand von Leuten, und dass eine Ordnung aufgestellt werde, wie die Bedürftigen am besten zu versorgen sind. Und gewiss haben über den Königlichen Rat Seiner Majestät hinaus, von dem man nur heilige Absicht und weiseste Voraussicht vermuten kann, alle die, welche ich kenne, die sich damit befassen, dieses heilige Ziel, denn sie sind angesehene Personen und helfen und fördern reichlich, nicht nur mit ihrem Eifer, sondern auch mit ihren Vermögen. Dennoch muss man zusehen, ob es nicht unter den ersten Anregern einige gab – um diesen Verdacht nicht bei allen zu haben –, die dies mehr deshalb wünschten und anstrebten, um vielen Armen zu entgehen, als aus dem Wunsch, ihre Almosen besser bei den wenigen einzusetzen. Ich kann auch nichts anderes denken als, wenn der heilige Ambrosius oder der heilige Chrysostomus oder irgendeiner jener heiligen Väter diesen armseligen Stand von Leuten sähen, die so von Gesetzen belagert und umzingelt werden, dass sie nicht sollen betteln können, ohne überprüft worden zu sein und ohne Erlaubnisscheine und ohne gebeichtet zu haben und nur in ihren jeweiligen Heimatorten und dass sie nicht von Tür zu Tür gehen dürfen, sie es dem zuschreiben würden, dass diese Gesetze mehr aus Hass gegen den Stand als aus Liebe und Mitleid mit den verschämten Armen aufgestellt worden seien. Und wenn wir es schon nicht wagten, von Hass zu sprechen, zeigen diese Gesetze zumindest, dass sie nicht aus jenem Herzen und aus jenem Gemüt entstehen, von dem der Vater der Armen, unser Herr
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Jesus Christus, wollte, dass wir es gegenüber allen hätten, die in Tracht und Kleidung der Armen gehen. Sehr groß, erlauchtester Herr, ist die Aufmerksamkeit, die man haben muss, damit die Christen keinen Widerwillen dagegen haben noch es leid werden, Arme zu sehen […] Daher ist also das Erste, was man betreiben muss, dass dieser Name und Stand der Armen bei den Leuten nicht verhasst wird. Denn auch wenn es keinen anderen Grund gäbe, weshalb er unter Christen geachtet und geschätzt werden soll, als dass unser Herr Jesus Christus, von dem der katholische Glaube sagt, dass doch alle Stände in seiner Macht lagen, den besten wählte und als solchen den Stand des Armen wählte, sollten diese Gunst und dieses Privileg reichen, damit dieser Stand gefördert werde. Umso mehr, als wir in der ganzen Heiligen Schrift nie ein Wort zugunsten des Standes der Reichen gesagt finden werden; vielmehr ist sie ganz durchsäht mit Aussagen zu Lob und Gunsten der Armen. Ich sage nicht, dass der Stand der Könige und Fürsten und Männer der Regierung nicht gutgeheißen wird, denn das ist etwas anderes. Denn diese Mächte sind von der Hand Gottes eingesetzt – und wie der heilige Paulus sagt und das Gesetz des Evangeliums gebietet, muss man ihnen gehorchen und sie ehren –,1 sondern ich sage, dass der Überfluss an zeitlichen Gütern, obwohl er erlaubt sein mag, an keiner Stelle der Schrift gelobt wird, die Armut dagegen an vielen. […] Eure Hoheit möge kein anderes Lob der Armut wollen, als dass Gott, obwohl er Gott ist, der, wie der Psalmist sagt, unsere Güter nicht nötig hatte,2 einen Weg gefunden hat, wie er sich arm machen und wie er die Reichen nötig haben könnte. Denn es reichte ihm nicht zu sagen, dass wir das Gute, das wir dem Geringsten der Armen tun, um seinetwillen tun und dass er es uns danken werde, obwohl dies genug Lob war, vielmehr, dass wir das Almosen und die Wohltat, die wir dem Geringsten von diesen erwiesen, seiner göttlichen Person selbst erweisen, welche jeder beliebige Arme repräsentiert.3 Und nicht nur in dieser Welt, wo seine Gottheit den Stand des Armen hatte, sondern am Tag des Gerichts, wo er die Unermesslichkeit seiner Macht enthüllen und offenbaren wird, wird er es sich zur Ehre anrechnen, arm gewesen zu sein. Es wird ihm nicht reichen zu sagen, dass wir den nackten Armen nicht kleideten und den hungrigen Armen nicht ernährten und dem armen Pilger keine Unterkunft gaben; sondern zu unserer größeren Beschämung wird er sagen, dass wir, als er selbst der Nackte war, ihn nicht gekleidet haben, und als er der Hungrige 1
Vgl. Röm 13,1ff. Vgl. Ps 15,2 LXX. 3 Vgl. Mt 25,35ff. 2
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war, ihm keinen Unterhalt gegeben haben, und als er der Pilger war, ihn nicht aufgenommen haben, obwohl er uns aus nichts geschaffen hat und für uns die Welt erschaffen hat, damit sie uns aufnehme und unser Unterhalt sei. […] Aber um auf das erste Vorhaben zurückzukommen: Es ist kein ausreichendes Ziel dieses Unternehmens, wenn nach der Vertreibung der Landstreicher der Staat mehr entlastet bleibt von der Last der Almosen, die er ihretwegen erleidet. Denn wenn wir über das hinaus, was offenkundig ist, ohne Nachteil für irgendjemand sprechen: In vielen anderen Ständen jedes beliebigen Staates der Welt gibt es Leute, die durch unerlaubte Verträge und Täuschung und Betrug fremdes Eigentum wegnehmen, und doch wendet man keine so große Sorgfalt für ihre Besserung an noch wendet man so viele Kunstgriffe zu ihrer Bestrafung an. Eher würde ich wagen zu sagen: Wenn man nicht alles das, was man an den Landstreichern einspart, vollständig bei den Verschämten verwendet und aus diesem Grund der Stand des Armen mehr geschätzt und mehr gefördert wird, halte ich es für schädlicher für den Stand der Reichen, die Landstreicher zu verbannen als sie zuzulassen. Denn es ist sicher und nachgewiesen, dass sämtliche Almosen, die an irgendeinem Ort des Reichs an wirkliche und falsche Arme gegeben werden, bei weitem nicht dem gleichkommen, was die Christen zu geben verpflichtet sind. Ich spreche nicht über Einzelpersonen, von denen es viele gibt, die tun, was sie sollen, sondern ich spreche allgemein über die Leute. Wenn man also kein anderes Gut erreichen will, als dass die Almosen sich verringern, wäre es viel besser, dass die Hartnäckigkeit und das dringende Bitten der wirklichen Armen die Habsüchtigen zwänge, die zu besänftigen die Barmherzigkeit nicht ausreicht, und die Falschheit der vorgetäuschten Armen sie betröge. Auch die Besserung und Korrektur der Sitten der Armen ist kein ausreichendes Ziel dieser Institutionen. Wenn nämlich sie die Macht hätten, würden sie ebenso viel bei uns zu strafen finden wie wir bei ihnen. Zumal, wie ich weiter unten sagen werde, es die Prälaten und Gerichtsbarkeiten der Reichen sind, denen Gott die Sorge übertragen hat, alle zu bestrafen, Reiche und Arme. Den anderen Leuten gebot er nur, mit ihnen Mitleid zu haben. Es ist jedoch nicht als abwegig anzusehen, dass beiläufig diejenigen, die sie in ihrer leiblichen Armut versorgen, auch ein wenig darauf achten, sie auf die geistlichen Fehler aufmerksam zu machen. Aber das Hauptziel aller dieser Institutionen ist, – da sie ja als Werke der Barmherzigkeit unternommen werden – dass die rechtmäßig Armen umfassender in ihrer Armut, ihren Mühen und zeitlichen Nöten Abhilfe finden. Denn dies ist der Gegenstand der leiblichen Barmherzigkeit, und hier muss man die Armengesetze ausrichten. Und das,
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was diesem Ziel am meisten entspricht, muss man einrichten und einhalten. VIII. Kapitel: Über das Almosengebot […] Denn wenn wir, wie das Evangelium sagt, verpflichtet sind, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst4 und, wie der heilige Johannes sagt, derjenige, welcher, wenn er von den Besitztümern der Welt besitzt, duldet, dass sein Nächster Not leidet, nicht in der Liebe zu seinem Nächsten steht,5 so folgt, dass dieser Reiche das Gesetz des Evangeliums übertritt und sich folglich in Todsünde befindet; denn nur diese Sünde allein kann der Grund sein, weshalb man die Liebe verliert. […] Gewiss ist es, wenn unser Geiz uns nicht blind und taub hielte, um das Evangelium zu hören und zu verstehen, offenkundig, dass die Menschen unter Strafe der Todsünde, in viel mehr Fällen Almosen zu geben verpflichtet sind, als unsere verlogene Habsucht uns überzeugen will. Denn wie würde sonst jenes Urteil, die Werke der Barmherzigkeit nicht erfüllt zu haben, so allgemein so viele Leute erfassen und sie zur Hölle verdammen können? Ich habe hier weder Platz noch die Absicht, diesen Punkt ausführlicher zu behandeln. Ich schließe nur mit dieser Überlegung: Stellen wir uns vor, wie es Wahrheit ist, dass Gott der gemeinsame Vater der Reichen und der Armen ist; und dass er vielleicht für manche Arme mehr Herrlichkeit vorbereitet hat als für manche Reiche. Und dass er hier in dieser Welt als gemeinsamer Vater gleiche Sorge tragen muss, für die einen wie für die anderen zumindest im Lebensnotwendigen vorzusorgen. Hieraus folgt offenkundig: Entweder hatte Gott nicht ausreichende Vorsehung, sondern war nachlässig, die Armen so ohne Abhilfe zu lassen, um ihr Leben zu fristen; oder die Reichen sind als grausame und ungläubige Leute anzusehen und einzuschätzen, welche, da Gott ihnen so viele Güter anvertraut hat, damit sie sie mit ihren Brüdern teilen, sich stattdessen damit erhöht haben, indem sie den Glauben brachen, den sie Gott schulden. IX. Kapitel: Über die Prüfung der wirklich Armen Unter Voraussetzung dieser Grundlagen können wir als besser Unterrichtete über diese Artikel über die Armen klüger urteilen. Der erste berührt die Prüfung der Armen. […] Ehe sie der Not des Armen zu Hilfe kommen, durchforschen sie so sehr sein Leben, dass sie gegen die Ordnung des Rechtes manchmal die geheimen Sünden entdecken. […] Und bei den Sündern aus den 4 5
Vgl. Lk 10,27. Vgl. 1Joh 3,17.
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Armen trägt man mehr Sorge, ihre Schuld aufzudecken, als ihre Bedürfnisse zu bedecken. Ihre Situation ist allzu elend, wenn sie nicht ein armseliges Almosen empfangen können, ohne zuerst ihre Ehre in Gefahr zu bringen. Wie auch immer man in dieser Sache fürchten mag, dass die Armen manchmal, um sich bei ihrer Plage und ihrem Leid zu trösten, einige Fehler machen: Sie sind nicht so groß wie die, welche andere aufgrund großen Wohlergehens und eines Übermaßes an Wohlleben begehen. Und da man schon aus diesem Grund ihre Fehler nicht übersehen sollte, welche größere Strafe wollt ihr dem Armen auferlegen, als die er erleidet? An den Strand der Welt geworfene Leute, ohne Ehre, ohne Vergnügen, nackt, ohne Bett, ohne Haus, ständigen Kampf mit dem Frost erleidend, mit der Sommerhitze und dem Hunger, welcher am grimmigsten von allem ist. Denn wie jener heilige Prophet sagte, ist es ein erträglicherer Tod, von einem Messer durchbohrt zu sterben als an Hunger.6 Überhaupt sind sie weit entfernt von jedem Wohlergehen und wie aus der Welt verbannt; sie ertragen ein Leben, das wenig mehr als der Tod begehrenswert ist. Man füge dem hinzu, dass viele arme Frauen aus großer Not gezwungen sind, manchmal zu tun, was sie nicht dürfen, weil sie sich gegen so große Mühsal nicht verteidigen können. Und deshalb sind die Leute von beiden Seiten her grausam zu den Armen. Erstens: Weil sie ihnen nicht helfen, geben sie Anlass, dass sie einige Übel begehen. Und danach, indem sie eben diese Sünden der Armen zum Anlass nehmen, ihnen kein Almosen zu geben. Und in Wahrheit wäre es besser, um sie zur Tugend zu führen, es ihnen zu geben, als es ihnen zu verweigern. Denn indem ihr ihnen Gutes tut, könntet ihr ihnen das Herz erweichen; und wenn sie sich von den Almosen ausgeschlossen und ohne Hoffnung sehen, verhärtet sich ihr Herz, um sich nicht Gott zuzuwenden. Ich sage dies nicht, um die Übel zu begünstigen, sondern erstens um darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht, anstatt mit den Armen barmherzig zu sein, gegen sie so „gerecht“ sein dürfen, dass wir ihnen Unrecht tun. Und das Zweite: Dieser ganze Eifer, die Landstreicher zu verbannen und die Fremden auszuschließen und die Einheimischen zu untersuchen, möge nicht damit enden, dass die Almosen geringer werden und die Liebe lau wird. Denn je häufiger ich dies wiederhole, umso weniger werde ich es bereuen können: Wenn durch diese Gesetze die Almosen verringert werden, wäre es besser gewesen, dass niemand sie begonnen hätte; denn auch wenn man viel mehr Almosen gäbe, würden sie nicht an das heranreichen, was wir schulden. 6
Vgl. Klgl 4,9.
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Das Almosen ist den Christen für zahllose Anwendungen erforderlich. Wenn euch die Flamme böser Begierden angreift, um euch mit der Sünde anzustecken, dazu sagt der Weise in Jesus Sirach 3,30 [33]: „Wie das Wasser das Feuer löscht, so widersteht das Almosen der Sünde.“ Und wenn ihr, bereits in Schuld gefallen, Erlösung von ihr sucht, weist euch der Prophet Daniel an: „Löst eure Sünden mit Almosen aus, und um den Preis der Barmherzigkeit mit den Armen sollt ihr eure Schandtaten auslösen.“7 Und wenn ihr, nachdem ihr aus den Sünden herausgekommen seid, ganz deren Spuren reinigen wollt, lehrt unser Herr: ,,Gebt Almosen, und auf diese Weise werdet ihr vollkommen rein verbleiben.“8 Und wenn ihr, nachdem ihr bereits völlig rein seid, für den Weg der Tugend vorsehen wollt, heißt es bei Jesus Sirach: ,,Das Almosen ist wie der Reisesack für einen Menschen, der ihn so in der Gnade hält und ihn so behütet wie den Augapfel.“9 Und wenn ihr aus Habgier eure kostbaren Kleider und eure Schätze vor der Motte und dem Schimmel und den Räubern bewahren wollt, vertraut sie den Armen an. Denn davon meinte es unser Herr, als er sagte: ,,Sammelt nicht eure Schätze auf der Erde, wo die Motte sie frisst und die Räuber sie stehlen, sondern sammelt sie im Himmel, wo sie von diesen Gefahren frei sein werden.“10 Und den habgierigen Reichen, von denen er mit Nachdruck sagt, es sei ihnen so unmöglich, in den Himmel einzutreten, wie dem Kamel, durch das Nadelöhr zu gehen,11 gibt er kein anderes Heilmittel, als dass sie von ihrem ungerechten Schatz die Armen als Freunde gewinnen mögen, welche ihnen im Himmel Platz in ihren Wohnungen bereiten können. […] XI. Kapitel: Ob es besser ist, die Bettler festzusetzen, als ihnen das Betteln zu erlauben […] Und es geht darum, ob es besser ist, nachdem die rechtmäßigen Armen herausgefunden wurden, ihnen zu verbieten, von Tür zu Tür zu gehen, oder ob es eine Sache größerer Billigkeit und Frömmigkeit ist, ihnen zu erlauben, selbst ihre Nöte vorzustellen und sie den Christen vor Augen zu führen. Und dass es besser sei, sie zurückzuhalten, ist nicht so gewiss, wie einige denken. […] Und dass die Almosen auf diese Weise notwendig geringer sind, ist offenkundig. Erstens weil es einen äußerst großen Unterschied macht, wenn der Arme selbst bittet, um seiner eigenen Not abzuhel7
Dan 4,24. Vgl. Mt 5,48; 6,1–4. 9 Vgl. Sir 17,18. 10 Mt 6,19f. 11 Vgl. Mt 19,24. 8
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fen, oder wenn ein Reicher bittet, um die Not der Armen zu erfüllen. Den Reichen, die mit Ansehen und Ehre für die Armen bitten gehen, scheint es, da sie zu Hause das sichere Essen lassen, dass sie bereits genug tun, indem sie bitten, und sie bringen sich nicht allzu sehr um, auch wenn man ihnen nichts gibt. Aber dem elenden Armen, dem es um das Essen und das Leben geht, reicht es nicht zu bitten, sondern er muss lästig werden, bis er das Herz erweicht, von wo er einen Heller auspressen kann. Es reicht ihm auch nicht, eine Stunde zu gehen oder durch ein Stadtviertel, sondern den ganzen Tag und durch die ganze Stadt. […] Abgesehen von diesen Gründen, die die Verminderung des Almosens betreffen (was wir, wie gesagt, zu dem Wichtigsten rechnen), gibt es weitere aller Art. Der erste ist, dass die Begründung und das Verdienst der Barmherzigkeit nicht nur darin besteht, äußerlich Almosen zu geben, sondern sogar hauptsächlicher in der inneren Gemütsbewegung der Seele, die im Mitleid mit der Mühsal des Armen besteht. Und wenn die Fähigkeit für die äußere Hilfe fehlt, rechnet Gott jenes Mitleid an, um ihm seinen Lohn zu geben. Jesus Christus, unser Herr, lehrte es uns in jenem Wunder, als er jener Menschenmenge in der Wüste zu essen gab. Denn er hatte, wie der heilige Matthäus und der heilige Markus sagen,12 zuerst innerlich Mitleid und Mitgefühl mit ihrer Ermüdung und Erschöpfung, und daraus ging das äußere Werk hervor. Und deshalb nehmen diejenigen, welche die Armen aus den Augen der Christen entfernen, die Tugend der Barmherzigkeit weg. Denn wie niemand ein mutiger Hauptmann sein kann, wenn er nicht oft die Feinde in Bewaffnung vor sich gesehen hat, so kann niemand barmherzig sein, wenn er sich nicht mit seinen Augen und mit seinen Händen mit Werken der Barmherzigkeit befasst hat. Quelle: Domingo de Soto, Über die Regelung der Armenhilfe, in: Theodor Strohm/ Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 1: Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jahrhundert, VDWI 22, Heidelberg 2004, 343–399: 361–364; 368; 381f.; 390. © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
12
Vgl. Mt 14,14; Mk 6,34.
154. Konzil von Trient: Rechtfertigung und praktische Fragen der Caritas (1546–1563) Die Hoffnung, dass ein Konzil die Reform der Kirche in Angriff nehmen würde, war während des gesamten 15. Jahrhunderts lebendig. Sie scheiterte aber insbesondere an Päpsten, die die Appellation an ein Konzil verboten oder die Einberufung einer Generalsynode verweigerten. In den Anfangsjahren der Reformation erhielt die Konzilsidee neuen Auftrieb. Luther (s. Text 130), aber auch die Reichsstände und der Kaiser forderten die Einberufung eines allgemeines Konzils. Schließlich fand das Konzil in Trient statt, allerdings ohne Beteiligung der Evangelischen. Das Tridentinum hat die Erneuerung der römisch-katholischen Kirche und die sog. Gegenreformation auf den Weg gebracht und damit einen spezifischen Beitrag zum „Prozess der Konfessionalisierung des Christentums“ (Gerhard Müller) geleistet. Das Konzil tagte in drei Sitzungsperioden (1545–1547/49, 1551/1552, 1562/63). Die „hochheilige, ökumenische Generalsynode in Trient“ traf zum einen Lehraussagen und formulierte zum anderen Dekrete zu praktischen Reformfragen. Die Auseinandersetzung mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre steht im Zentrum der Dekrete des Tridentinums, die sich auf Themen des Glaubens und der Lehre beziehen. Das in der sechsen Sitzung am 13. Januar 1547 verabschiedete Dekret über die Rechtfertigung versteht Rechtfertigung als einen Prozess, bei dem die Gnade Gottes allem menschlichen Tun zuvorkommt, in dem die Gnade Gottes und das Tun des Menschen aber auch ineinandergreifen. Die Bedeutung des Glaubens wird unterstrichen, aber auch die Notwendigkeit guter Werke betont. Das ewige Leben kann als Gnade und zugleich als Lohn bezeichnet werden. Stärker als durch bestimmte Lehraussagen hat das Konzil indes durch Reformdekrete Impulse für eine Erneuerung der Caritas gesetzt. Zum einen suchte das Konzil Probleme im Kollektenwesen zu beseitigen. Das erwerbsmäßige Sammeln von Almosen wurde verboten. Zum zweiten traf die Synode Regelungen, die das Aufsichtsrecht und die Aufsichtspflicht des Bischofs über die Hospitäler, aber auch über alle anderen karitativen Institutionen in der Diözese festlegten. Damit ist die Rechenschaftspflicht der Verwalter karitativer Einrichtungen gegenüber dem Bischof verbunden. Die entsprechenden Dekrete zielen darauf ab, Missstände insbesondere bei Hospitälern – schlechte Verwaltung, stiftungswidrige Verwendung von Mitteln etc. – zu beheben. Zum dritten schärfte das Konzil die Residenzpflicht der Bischöfe ein
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und unterstrich in diesem Zusammenhang die Sorge für die Armen als Dimension des von Gott gesetzten bischöflichen Auftrags. Die alte Titulierung des Bischofs als Vater der Armen wird aktualisiert. Schließlich stellt ein Reformdekret heraus, dass Hospitalstiftungen keine bloßen Nutznießungspfründe sein dürfen, sondern wesentlich Orte institutioneller Gastfreundschaft darstellen und mithin zur Aufnahme Fremder, Kranker, Alter und Armer verpflichtet sind. Die Ausführung der Konzilsbeschlüsse erfolgte durch regionale und diözesane Reformsynoden. Bischöfliche Visitationen stellten das Instrument dar, durch das die Umsetzung der Bestimmungen des Tridentinums sowohl erzwungen als auch kontrolliert werden konnte. 6. Sitzung (13.01.1547), Dekret über die Rechtfertigung, Kapitel 7: Das Wesen der Rechtfertigung des Gottlosen und ihre Ursachen Dieser Disposition oder Vorbereitung folgt die Rechtfertigung selbst. Sie ist nicht nur Vergebung der Sünden, sondern auch Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch die willentliche Annahme der Gnade und der Gaben, wodurch der Mensch aus einem Ungerechten ein Gerechter und aus einem Feind ein Freund wird, so dass er Erbe ist „gemäß der Hoffnung auf das ewige Leben “1. […] Denn obwohl niemand gerecht sein kann, außer wenn ihm die Verdienste des Leidens unseres Herrn Jesus Christus mitgeteilt werden, geschieht dies dennoch in der Rechtfertigung des Gottlosen in der Weise, dass aufgrund des Verdienstes des heiligen Leidens die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in die Herzen derer ausgegossen wird,2 die gerechtfertigt werden, und in ihnen bleibt. Deshalb bekommt der Mensch in der Rechtfertigung mit der Vergebung der Sünden dies alles zugleich eingegossen durch Jesus Christus, dem er eingegliedert wird: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Denn ohne dass Hoffnung und Liebe zu ihm hinzukommen, eint der Glaube nicht vollkommen mit Christus und macht nicht zum lebendigen Glied seines Leibes. Deshalb heißt es völlig zutreffend, der Glaube ohne Werke sei tot und nutzlos,3 und in Jesus Christus gelte weder die Beschneidung noch das Unbeschnittensein, sondern der Glaube, ,,der in der Liebe wirksam ist“4. […] Deshalb ergeht an diejenigen, welche die wahre und christliche Gerechtigkeit empfangen haben, sogleich nach der Wiedergeburt der Auftrag, diese Gerechtigkeit oder das erste Gewand5, das ihnen durch Jesus Christus anstelle des Gewandes, das Adam durch 1
Tit 3,7. Vgl. 1Kor 12,11. 3 Vgl. Jak 2,17.20. 4 Gal 5,6. 5 Vgl. Vgl. Lk 15,22. 2
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seinen Ungehorsam für sich und uns verloren hat, geschenkt ist, weiß und makellos zu bewahren, um es vor den Richterstuhl unseres Herrn Jesus Christus zu tragen und das ewige Leben zu erhalten. Kapitel 10: Das Wachstum der empfangenen Rechtfertigung Die so gerechtfertigt wurden und zu Freunden und Hausgenossen Gottes6 geworden sind, schreiten ,,von Tugend zu Tugend“7 voran und werden – wie der Apostel sagt8 – von Tag zu Tag erneuert, indem sie nämlich die Glieder ihres Fleisches töten9 und sie als Waffen der Gerechtigkeit zur Heiligung verwenden10 durch die Beobachtung der Gebote Gottes und der Kirche. In dieser durch Christi Gnade empfangenen Gerechtigkeit und unter Mitwirkung des Glaubens mit den guten Werken wachsen sie und werden noch mehr gerechtfertigt, wie geschrieben steht: ,,Wer gerecht ist, werde weiterhin gerechtfertigt.“11 Wiederum: ,,Scheue dich nicht, bis zum Tode gerechtfertigt zu werden.“12 Ferner: ,,Ihr seht, dass der Mensch aufgrund seiner Werke gerecht wird, nicht nur aufgrund des Glaubens.“13 Diesen Zuwachs an Gerechtigkeit erbittet die heilige Kirche, wenn sie betet: Gib uns, Herr, Wachstum des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.14 […] 21. Sitzung (16.07.1562): Reformdekret, Kanon 9 [Abschaffung der Almosensammler] Von verschiedenen früheren Konzilien […] sind viele Mittel gegen den schändlichen Missbrauch der Almosensammler angewendet worden und haben sich in späteren Zeiten als nutzlos erwiesen, ja zum großen Ärger und Verdruss aller Gläubigen nimmt ihre Boshaftigkeit – es sei geklagt – täglich in solchem Maße zu, dass es keine Hoffnung mehr auf ihre Besserung zu geben scheint. Deshalb hat die Synode festgelegt, in Zukunft in allen Gegenden der christlichen Religion Begriff und Tätigkeit der Almosensammler völlig abzuschaffen und sie nicht mehr zur Ausübung ihres Amtes zuzulassen, und zwar ungeachtet der Privilegien, die Kirchen, Klöster, Hospitälern, frommen Einrichtungen und Personen, unabhängig von Stellung, Stand und Würde, gewährt wurden, ungeachtet ebenso der Gewohnheiten auch aus unvordenklicher Zeit. Ablässe oder andere geistliche Gnaden, die 6
Vgl. Eph 2,19. Vgl. Ps 84,8. 8 Vgl. 2Kor 4,16. 9 Vgl. Kol 3,5. 10 Vgl. Röm 6,13.19. 11 Apk 22,11. 12 Sir 18,22. 13 Jak 2,24. 14 Missale Romanum, Gebet des 13. Sonntags nach Pfingsten. 7
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man deswegen nicht den Christgläubigen entziehen soll, sind laut Beschluss der Synode von nun an durch die Ortsordinarien unter Hinzuziehung von zwei Mitgliedern des Kapitels zu gegebener Zeit dem Volk bekannt zu machen. Diesen wird auch die Erlaubnis gegeben, Almosen und andere Gaben der Nächstenliebe ohne jedes Entgelt ehrlich zu sammeln. Es mögen schließlich alle wahrhaft erkennen, dass die himmlischen Schätze der Kirche nicht dem Gelderwerb, sondern der Frömmigkeit dienen. 22. Sitzung (17.09.1562): Reformdekret, Kanon 8 [Bischöfliche Rechte und Pflichten im Stiftungswesen] Bischöfe sind – auch als Delegaten des Apostolischen Stuhls – in den rechtlich zugelassenen Fällen – Vollstrecker aller frommen Verfügungen, handle es sich um den letzten Willen oder um Verfügungen Lebender. Sie haben das Recht, Hospitäler, Kollegien und Laienbruderschaften und auch, was „Schule“ oder sonst wie heißt, zu visitieren. Einrichtungen, die unter direkter Protektion der Könige stehen, visitieren sie jedoch nur mit deren Erlaubnis. Armenhäuser, montes pietatis oder Häuser der Nächstenliebe und alle anderen frommen Einrichtungen, wie auch immer sie genannt werden – auch wenn für die genannten Orte Laien verantwortlich sind und diese frommen Orte durch das Exemtionsprivileg geschützt sein sollten –, und alles, was zur Ehre Gottes, für das Heil der Seelen oder die Unterstützung der Armen eingerichtet worden ist, kontrollieren die Bischöfe kraft ihres Amtes nach den Bestimmungen der heiligen Kanones15 und sorgen für die Vollstreckung der Verfügungen, ungeachtet einer, auch unvordenklichen Gewohnheit, eines Privilegs oder eines Statuts. Kanon 9 [Rechenschaftspflicht gegenüber den Ordinarien] Sowohl kirchliche als auch weltliche Administratoren des Vermögens einer Kirche, auch einer Kathedrale, eines Hospitals, einer Bruderschaft, eines Almosenhauses, eines mons pietatis und aller frommen Einrichtungen, sind gehalten, jedes Jahr vor dem Ordinarius Rechenschaft über ihre Verwaltung abzulegen. Alle Gewohnheiten und Privilegien, die dem entgegenstehen, sind aufgehoben, außer es wurde in der Stiftung und Errichtung einer solchen Kirche oder eines Kirchenvermögens vielleicht ausdrücklich anders verfügt. Muss aus Gewohnheit, aufgrund eines Privilegs oder einer örtlichen Konstitution gegenüber anderen, die dafür abgeordnet wurden, Rechenschaft abgelegt werden, dann wird mit ihnen zusammen auch der Ordinarius zugezo15
Vgl. Konzil von Vienne [1311–1312], Konst. 17 ([Conciliorum Oecumenicorum Decreta/Dekrete der Ökumenischen Konzilien, besorgt v. Guiseppe Alberigo u.a.], Bd. 2, 374–376).
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gen. Anders erteilte Entlastungen nützen den genannten Administratoren überhaupt nichts. Kanon 11 [Verwerfliche Habsucht] Wenn ein Kleriker oder Laie – unabhängig von seiner Würde, sei sie auch kaiserlich oder königlich – so sehr von der Habsucht, der Wurzel aller Übel, befallen ist, dass er, persönlich oder durch andere, Güter mit Gewalt oder unter Furchteinflößung oder auch durch ihn untergebene Personen – Kleriker oder Laien – oder mit Kunstgriffen irgendwelcher Art oder unter irgendeinem Vorwand zum eigenen Nutzen verwendet und sie sich aneignet, oder wenn er verhindert, dass die rechtmäßigen Inhaber sie erhalten, unterliegt er dem Anathem […]. Dabei geht es um folgende Dinge: Jurisdiktionen, Güter, Mietund Pachtzinsen und Rechte, auch Feudal- und Erbpachtrechte, die zu einer Kirche oder einem weltlichen oder einem klösterlichen Benefizium, zu einem mons pietatis und anderen frommen Einrichtungen gehören, sowie ihre Erträge, Vorteile oder alle möglichen Einnahmen, die für die Bedürfnisse der Bediensteten und der Armen verwendet werden müssen. […] 23. Sitzung (15.07.1563): Reformdekret, Kanon 1 [Einschärfung der Residenzpflicht] Da durch göttliche Weisung16 allen, denen die Seelsorge anvertraut ist, geboten ist, ihre Schafe zu kennen, für die sie das Opfer darbringen, sie durch die Verkündigung des Wortes Gottes, durch die Verwaltung der Sakramente und durch das Beispiel aller guten Werke zu weiden, wie ein Vater für die Armen und die anderen Elenden Sorge zu tragen und sich den übrigen pastoralen Aufgaben zu widmen – dies alles kann keineswegs von denen erfüllt werden, die über ihre Herde nicht wachen und nicht bei ihr sind, sondern sie nach Art der Tagelöhner verlassen17–, ermahnt sie die hochheilige Synode eindringlich, der göttlichen Gebote eingedenk zu sein und die Herde als ihr Vorbild18 in Gerechtigkeit und Wahrheit zu weiden und zu führen. […] 25. Sitzung (3./4.12.1563), Dekret über die allgemeine Reform, Kapitel 8 [Ermahnung zur institutionellen Gastfreundschaft] Die heilige Synode ermahnt alle Inhaber von kirchlichen Benefizien, seien es weltliche oder klösterliche, die von den heiligen Vätern häufig empfohlene Pflicht der Gastfreundschaft, soweit es ihre Einkünfte 16
Vgl. Joh 10,1–16; 21,15-17; 1 und 2Tim und andere Stellen. Vgl. Joh 10,12f. 18 Vgl. 1Petr 5,2–4. 17
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erlauben, bereitwillig und großzügig auszuüben, eingedenk dessen, dass die Liebhaber der Gastfreundschaft in ihren Gästen Christus aufnehmen.19 Folgendes freilich erlässt die Synode als strenge Vorschrift: Handelt es sich um Gästehäuser, die im Volksmund „Hospitäler“ heißen, oder um andere fromme Einrichtungen, die vornehmlich für Fremde, Kranke, Senioren und Arme errichtet wurden – sie mögen den Inhabern als Kommende, zur Verwaltung oder auf sonst einen Titel verliehen sein –, oder geht es um Pfarrkirchen, die zufällig mit Hospitälern vereinigt oder als Hospitäler errichtet wurden und deren Verwaltung den Patronen zugestanden wurde, so schreibt die Synode streng vor, die ihnen auferlegte schwere Verpflichtung wahrzunehmen und die geschuldete Gastfreundschaft mit Hilfe der ihnen dazu angewiesenen Einkünfte […] tatsächlich auszuüben. […] Deshalb gilt für alle einzelnen angesprochenen Personen, in deren Händen die Verwaltung der Hospitäler liegt, […] folgende Bestimmung: Kommen sie trotz Ermahnung durch den Ordinarius ihrer Verpflichtung zur Gastfreundschaft mit allem, was dazu gehört, nicht nach, können sie dazu nicht nur durch Kirchenstrafen und andere Rechtsmittel gezwungen, sondern sogar für immer die Verwaltung und Sorge für die Hospitäler einbüßen. An ihre Stelle werden von den Zuständigen andere gesetzt. Die Betroffenen sind vor dem Gewissensforum trotzdem auch zur Zurückerstattung aller Erträge verpflichtet, die sie gegen den Stiftungszweck der Hospitäler erhalten haben. Dabei gibt es kein Entgegenkommen durch Schuldenerlass oder Vergleich. Die Verwaltung und Führung solcher Stätten wird von nun an nicht mehr als drei Jahre ein und derselben Person anvertraut, sofern sich keine andere Regelung in der Stiftungsurkunde findet. Quelle: Conciliorum Oecumenicorum Decreta/Dekrete der Ökumenischen Konzilien, besorgt v. Guiseppe Alberigo u.a., Bd. 3: Konzilien der Neuzeit. Konzil von Trient (1545–1563), Erstes Vatikanisches Konzil (1869/70), Zweites Vatikanisches Konzil (1962–1965), im Auftrag der Görres-Gesellschaft hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u.a. 2002, 672–675, 731f., 740, 741, 744, 788f. © Ferdinand Schöningh
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Vgl. Mt 25,35–36; Lk 24,29–30.
155. Katharina Schütz Zell: Diakonin der Fremden in Straßburg (1556) Katharina Schütz Zell ist eine der wenigen Frauen der Reformationszeit, die ihr diakonisches Handeln öffentlich gemacht und reflektiert und ein entsprechendes Zeugnis hinterlassen haben. Katharina Schütz wurde wahrscheinlich Ende 1497 oder Anfang 1498 geboren. Sie entstammte einer angesehenen Straßburger Familie. Sie erhielt eine elementare Schulausbildung, erlernte das Weben von Bildteppichen und wurde als Mädchen durch den Domprediger Geiler von Kaysersberg (s. Text 125) religiös geprägt. 1523 heiratete sie den Straßburger Priester und Reformator Matthias Zell (1477–1548). Die Trauung vollzog Martin Bucer (vgl. Text 152). Der Kritik an der Eheschließung begegnete Katharina Schütz Zell mit einer Schrift, in der sie ihre Ehe als sittlich und standesgemäß verteidigte. Als Christin und Pfarrfrau engagierte sie sich vor allem diakonisch. Dabei verstand sie ihr karitatives Tun als ein von Gott gebotenes, die Verkündigung ihres Mannes ergänzendes öffentliches Handeln zum Wohl der Stadt. Der folgende Briefabschnitt stammt aus der sog. Rabus-Korrespondenz. Ludwig Rabus (1523–1592), ehemals Assistent Matthias Zells, war nach Zells Tod 1548 dessen Nachfolger geworden. Zunehmend polemisierte er gegen alle, die die lutherische Lehre nicht teilten. Er verließ im Winter 1556/57 Straßburg, um leitender Pfarrer in Ulm zu werden. Die Kritik daran, dass Rabus ohne Erlaubnis Straßburg verlassen hatte, beantwortete dieser mit heftiger Kritik an Straßburgs Religionspolitik, die gegen Häretiker – v.a. Katholiken, Wiedertäufer, Calvinisten und Zwinglianer – nicht energisch vorgehe. Katharina Schütz Zell warf er u.a. vor, zusammen mit ihrem Mann in Straßburg große Unruhe gestiftet zu haben. Darauf bezieht sich der folgende Abschnitt des Briefs, in dem sich Schütz Zell ausführlich verteidigt. Dabei schildert sie ihr diakonisches Engagement, das neben Kranken und Gefangenen vor allem denen galt, die aus Glaubensgründen 1524 oder im Zusammenhang des Bauernkriegs 1525 nach Straßburg geflohen waren. Als Ortsfremde wurden sie im Rahmen der 1523 verabschiedeten Almosenordnung nicht unterstützt. Lukas Hackfurt, der Straßburger Almosenschaffner (s. Text 147), organisierte zunächst eine private Fürsorge für die fremden Armen, die später in einen Unterstützungsfonds umgewandelt wurde. Katharina Schütz Zell spielte bei der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten eine führende Rolle. Sie wirkte zusammen mit Lukas Hackfurt u.a. als „diaconi exulum“, als Diener der Flüchtlinge.
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Diakonin der Fremden in Straßburg
Ja, mir selbst und nicht der Kirche habe ich freilich viel Unruhe gemacht und etwas angefangen, das vorher bei unseren Weibern nicht gewöhnlich war und worin ich auch nicht viel Nachfolge gefunden habe, als ich die armen Verjagten und Elenden (die vor Wasser und Feuer geflohen sind) aufgenommen und für sie geredet und geschrieben habe. Ich habe weder durch Nachrede und Hass noch Gunst dem Ansehen der Kirche Leid zugefügt noch Unruhe angefangen, sondern allezeit freundlich gehandelt und war zu allen Parteien salzig und habe es gern gesehen, dass nicht ein Bruder dem anderen zum Tod geholfen hat, sondern sie einander geduldet haben, damit das Hauptstück in der Erlösung, des Verdiensts und der Seligmachung von Christus ganz bleibe, wie ich dies noch immer tue. In solche Verdammung (vor der uns der Herr Christus und seine Apostel gewarnt haben1) habe ich nie eingestimmt und will nimmermehr einstimmen. Habe ich darum Unruhe in der Straßburger Kirche angefangen? Ich wollte gerne von ihm [Rabus] wissen, womit. Er nenne das Kind, in welchem Stück ich’s getan habe, ob ich’s nicht könnte verantworten, wie auch alle das Recht haben, eine Klage zu eröffnen und den Beklagten zur Verantwortung kommen zu lassen. Ist das die Sünde der Unruhe, die ich der Kirche gemacht habe, dass ich, während andere Weiber auf ihre Hauszierde und Hoffahrt geschaut haben und zu Hochzeiten, Freuden und Tanzen gegangen sind, in armer und reicher Leute Häuser gegangen bin, mit aller Liebe, Treue und Mitleiden Pestilenz und Tote getragen habe, die Angefochtenen und Leidenden in Türmen, Gefängnis und Tod besucht und getröstet habe, dabei allezeit den Spruch des weisen Manns bedacht: Es ist besser in ein Klagehaus als in ein Freudenhaus zu gehen.2 Ich habe auch (Gott sei Lob) viel dabei gelehrt und rede vor Gott, dass ich mehr Arbeit meines Leibs und Mauls getan habe als ein Helfer oder Kaplan der Kirche, gewacht und gelaufen Nacht und Tag und viele Male zwei, drei Tage nichts gegessen noch geschlafen. Weshalb mich auch mein frommer Mann (dem es so gut gefiel) nur seinen Helfer genannt hat, obwohl ich schon nicht auf der Kanzel gestanden habe, was ich zu solchen meinen Geschäften auch nicht brauchte. Vielmehr habe ich nach der Lehre des heiligen Paulus3 entsprechend der Regel der gläubigen Weiber zu seinen Zeiten gelebt und bin von ihm geliebt worden, weil ich mich daran gehalten habe. In keinem Haus und Volk, auch außerhalb Straßburgs, in dem ich war, habe ich meine Hilfe und meinen Beistand versagt, so dass ich Nutzen und keinen Schaden noch Unruhe geschaffen habe. Das werden – so hoffe ich – der Herr Christus und die Seinen, um 1
Vgl. Lk 6,37; Röm 2,1; 14,10. Vgl. Pred 7,2. 3 Vgl. Eph 5,22,24; Kol 3,18; Tit 2,5. 2
Diakonin der Fremden in Straßburg
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deretwillen ich mir viel große Arbeit und Unruhe gemacht und meinen Leib gebrochen habe, bezeugen. Heißt das auch Unruhe in der Kirche anfangen, dass ich zu Anfang meiner Ehe so viele herrliche Leute in ihrer Flucht aufgenommen, in ihrem Kleinmut getröstet und herzhaft gemacht habe, wie Gott im Propheten lehrt: Unterstütze und stärke die müden Knie.4 Das habe ich nach meinem Vermögen und entsprechend der mir verliehenen Gnade Gottes getan, als einmal fünfzehn liebe Männer aus der Markgrafschaft Baden weichen mussten, weil sie nicht gegen ihr Gewissen handeln wollten. Unter diesen war ein gelehrter alter Mann, der Doktor Mantel hieß, der mich samt anderen in Baden kannte, zu mir kam, Rat und Trost von mir begehrte, als er mit Weinen sagte: Ach, ich alter Mann mit vielen kleinen Kindern. Als ich ihm aber Matthias Zells Haus und Herberge zusagte, wie wurden da sein Herz erfreut und seine müden Knie gestärkt, denn Angst und Schrecken hatten ihn versucht, als er vier Jahre gefangen lag. Den und selbst weitere fünf haben mein lieber Mann und ich den Winter über bei uns gehabt. Hat es auch mir oder der Kirche zu Straßburg Unruhe gemacht, als im vierundzwanzigsten Jahr anderthalb Hundert Bürger aus dem Städtchen Kenzingen im Breisgau entweichen mussten und nach Straßburg kamen,5 von denen ich in derselben Nacht achtzig in unser Haus gebracht und vier Wochen lang nie weniger als fünfzig oder sechzig gespeist und darüber hinaus viele fromme Herren und Bürger unterstützt und geholfen haben, sie zu erhalten. Wie habe ich im fünfundzwanzigsten Jahr mir und vielen frommen Leuten so große Arbeit und Unruhe gemacht, als nach dem Totschlag an den armen Bauern so viele elende, erschreckte Leute nach Straßburg kamen, die Meister Lukas Hackfurt, der Schaffner des gemeinen Almosens, ich, Alexander Berner, zwei ehrsame Witwen, die Kraft hießen, in das Barfüßerkloster führten. Da es eine große Menge war, stellte ich viele Leute, Männer und Weiber, an, dass sie ihnen dienten und große Unterstützung und Almosen gäben, was noch etliche liebe Herren im Rat (die noch leben) wissen, auch viele ehrliche reiche Weiber, die da dienten, von denen ein Teil noch lebt und davon künden kann. Von dieser und anderer Unruhe wissen alle, Herr Ludwig und andere junge und herzugekommene Prediger, gar nichts. Ja ihnen erschiene es erschreckend fremd, was wir Alten zu Anfang des Evangeliums getan, gesehen und gehört, ja alle Schmach und Angst geholfen haben zu tragen. Habe ich nicht auch hernach so viele herrliche gelehrte Männer aus Sachsen, Hessen, der Schweiz, Schwaben, auch 4
Vgl. Jes 35,3. 1524 flohen rund 150 aus Speyer emigrierte Männer mit ihrem evangelischen Prediger Jakob Otter vor den vorrückenden katholischen Soldaten aus Kenzingen und kamen nach Straßburg.
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Diakonin der Fremden in Straßburg
von anderen Städten und Orten (die gemäß des Evangeliums gehandelt haben) mit großen Freuden aufgenommen, ehrlich empfangen, gespeist und gelegt, ja gehalten habe, so dass ich vielmals Gott gefürchtet, ich tue ihm zu viel. Ich habe mich aber der Sorge und des Dienstes der lieben Martha (die dem Herrn gedient hat)6 getröstet. Die Namen [der Aufgenommenen] kann ich noch allen sagen. Habe ich aber etwas geschrieben und geredet gegen viele Gelehrte, die auch Menschen gewesen sind, und David sagt im Psalm, große Leute begehen auch Fehler,7 das haben sie mir doch alles zugut und Dank aufgenommen und mich dennoch lieb gehabt. Sie wussten, aus welchem Herzen ich das alles tue, und keiner hat mir einen solchen Schmähbrief geschrieben. Wie auch unser jetzt seliger D. Luther selbst, als ich ihm wegen der schweren, trefflichen Auseinandersetzung und des Zanks wegen des Sakraments schrieb und dabei nicht heuchelte, wie freundlich schrieb er mir da zurück, und nicht einen solchen Brief wie Rabus. Quelle: Ein Brieff an die gantze Burgerschaft der Stadt Straßburg/von Katharina Zellin/… Betreffend Herr Ludwigen Rabus/jetz ein Prediger der Statt Ulm/samt zweyen brieffen jr und sein/… Dabey auch ein sanffte antwort/auff jeden Artikel/ seines brieffs, in: Elsie Anne McKee, Katharina Schütz Zell, Volume II. The Writings. A Critical Edition, Leiden u.a. 1999, 167–303, 230–235. © Brill
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Vgl. Lk 10,38–42. Vgl. 2Sam 1,19.27.
156. Johannes Calvin: Diakonenamt (1559) Johannes Calvin, geb. 1509 in Noyon (Frankreich), gest. 1564 in Genf, war der bedeutendste unter den Reformatoren der zweiten Generation. Nach dem Studium der Rechte und der alten Sprachen wandte sich Calvin 1533/34 der Reformation zu und veröffentlichte 1536 mit der Christianae Religionis Institutio (Unterricht in der christlichen Religion) sein Hauptwerk, das zum theologischen Lehrbuch der reformierten Kirche bzw. des Calvinismus wurde. Während seiner ersten Genfer Periode beteiligte sich Calvin an der Durchführung der Reformation, musste aber nach Konflikten mit dem Rat die Stadt 1538 verlassen. Nach einem Aufenthalt in Straßburg kehre er 1541 nach Genf zurück. Auf ihn gehen u.a. die Kirchenordnung von 1541 und die Gründung der Genfer Akademie (1559) zurück. Der folgende Auszug aus der letzten Ausgabe der Institutio von 1559 (Inst. IV, 3,9) belegt das Bestreben Calvins, die Zuwendung zu den Armen verbindlich in die Ordnung der Kirche einzuzeichnen. Er suchte deshalb das Diakonenamt zu erneuern – im Kontext einer Stadt, die durch die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus Frankreich und Italien einerseits einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte und andererseits mit Integrationsproblemen der zumeist armen Flüchtlinge konfrontiert war. In seinem Verständnis des Diakonenamts vermittelt Calvin neutestamentliche Aussagen mit der sozialen städtischen Praxis und geschlechtsspezifischen Auffassungen seiner Zeit: Zum einen ist das Diakonenamt für Calvin – neben den Ämtern der Pastoren, Doktoren und Ältesten – für die Ordnung der Kirche konstitutiv. Zum zweiten nimmt er eine Differenzierung im Diakonenamt vor – Administration einerseits, unmittelbare Zuwendung zu den Armen andererseits. Diese Unterscheidung, die Calvin meint, biblisch begründet zu können, ist wohl dem städtischen Genfer Sozialsystem entlehnt, in dem zwischen der Funktion der Verwaltung und der personenbezogenen Hilfe unterschieden wurde. Drittens nimmt Calvin geschlechtsspezifische Unterscheidungen vor: Die erste Art des Diakons, mit der Aufgaben der Verwaltung der Finanzen und der Aufsicht der Armenfürsorge verbunden sind, bleibt Männern vorbehalten. Die zweite Art hingegen, die persönliche Fürsorge für Armen und Kranke umfasst, steht Frauen offen. Calvins Konzeption des diakonischen Amtes eröffnet Frauen einen Zugang zu einem kirchlichen Amt und erschließt ihnen damit ein öffentliches Wirkungsfeld.
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Diakonenamt
Die Fürsorge für die Armen war den „Diakonen“ aufgetragen. Allerdings treten im Römerbrief zwei Arten von Diakonen auf; Paulus sagt da: „Gibt jemand, so gebe er einfältig, […] übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s mit Lust“ (Röm 12,8). Da Paulus hier zweifellos von den öffentlichen Ämtern der Kirche redet, so muss es also zwei voneinander unterschiedene Rangstufen gegeben haben. Wenn mich mein Urteil nicht täuscht, so bezeichnet er im ersten Gliede solche Diakonen, die die Almosen verwalten. Im zweiten Gliede meint er dann solche Diakonen, die sich der Fürsorge an den Armen und Kranken geweiht hatten; von dieser Art waren die Witwen, die er im (1.) Brief an Timotheus erwähnt (1Tim 5,10). Denn die Frauen konnten kein anderes öffentliches Amt übernehmen, als wenn sie sich dem Dienst an den Armen widmeten. Wenn wir uns dies nun zu eigen machen – und das sollten wir durchaus tun! –, so wird es also (auch bei uns) zweierlei Diakonen geben: Die einen dienen der Kirche, indem sie die Angelegenheiten der Armen verwalten, die anderen, indem sie für die Armen selber sorgen. Obwohl nun der Ausdruck „Diakonie“ eine sehr weitgehende Bedeutung hat, bezeichnet die Schrift doch in besonderer Weise solche Leute als „Diakonen“, die die Kirche als Vorsteher bei der Verteilung der Almosen und der Fürsorge für die Armen einsetzt und gleichsam zu Verwaltern des öffentlichen Armenvermögens bestellt. Ursprung, Einweisung und Amtsaufgabe dieser Diakonen werden von Lukas in der Apostelgeschichte beschrieben (Apg 6,3). Als sich nämlich „ein Murmeln unter den Griechen erhoben hatte“, weil ihre Witwen bei dem Dienst an den Armen „übersehen“ würden, da entschuldigten sich die Apostel, dass sie dem doppelten Amt, der Predigt des Wortes und dem „Dienst zu Tische“, nicht Genüge zu tun vermöchten, und sie baten die Menge, man solle sieben rechtschaffene Männer erwählen, denen sie diesen Dienst auftragen könnten (Apg 6,1ff.). Da sehen wir, was für Diakonen die apostolische Kirche gehabt hat und was für welche wir nach ihrem Vorbild auch haben sollten. Quelle: Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2012, 594.
157. Konvent reformierter Gemeinden in Wesel: Beschlüsse zur Diakonie (1568) Ende Oktober 1568 trafen sich Vertreter niederländischer reformierter Flüchtlingsgemeinden im niederrheinischen Wesel, um Fragen der Gemeindearbeit und -ordnung zu beraten. Bereits seit 1544 wurden in Wesel Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden aufgenommen, die unter der Herrschaft der spanischen Habsburger standen. Seit durch Herzog Alba (1507–1582) reformatorische Bestrebungen gewaltsam unterdrückt wurden und unter Wilhelm von Oranien der niederländische Freiheitskampf begonnen hatte, kam es zu einer Massenflucht reformierter Christen. Im Folgenden werden die Weseler Beschlüsse dokumentiert, die – auf der Basis der Ämterlehre Calvins (s. Text 156) – die Ausgestaltung des diakonischen Amts betreffen. Die Amtspflicht der Diakonen, „dem Mangel der Armen zu Hilfe zu kommen“, wird vor allem im Blick auf drei Gruppen konkretisiert: Die Unterstützung der Kranken soll deren „Tröstung“ einschließen. Zugewanderte und Fremde bedürfen spezifischer Hilfe. In Bezug auf Witwen und Waisen obliegt es den Diakonen, darauf zu achten, ob ihnen Gewalt und Unrecht angetan wird, und bei der Obrigkeit für deren Rechte einzutreten. Calvins Unterscheidung zwischen zwei Formen von Diakonen – Verwaltung und unmittelbare Zuwendung zu Hilfsbedürftigen – wird aufgenommen, aber unter das Kriterium der Nützlichkeit gestellt. Entsprechendes gilt für Calvins Auffassung, dass Frauen als Fürsorgerinnen im diakonischen Amt tätig sein können. Der Weseler Konvent bejaht dies, insofern es vor Ort „nutzbringend“ ist. In der Folgezeit spielte allerdings die Anstellung von Frauen als Diakoninnen in Entscheidungen reformierter Synoden (s. Text 158) und in der Praxis keine Rolle mehr. Kap. V. Von den Diakonen. 1. Dass der Diakonen Amtspflicht darin besteht, dass sie zu Tisch dienen, d.h. dem Mangel der Armen zu Hilfe kommen und von den gesammelten Almosen das Notwendige darreichen, ist durch das Zeugnis der Schrift ganz gewiss. 2. Dem entspricht, dass ihre Wahl und Bestätigung nicht auf eine andere Weise geschehen darf als der, die oben bezüglich der Ältesten
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Beschlüsse zur Diakonie
ausgeführt ist, mit dem Unterschied, dass bei der Prüfung das größte Gewicht auf Vertrauenswürdigkeit und Fleiß gelegt wird und man sich vor allem vor dem Anzeichen der Habsucht hüte. In jedem Falle aber soll die von Paulus 1Tim 3,3 vorgeschriebene Regel beobachtet werden. 3. Sie sollen aber mit Fleiß diejenigen nachdrücklich ermahnen, denen die Mittel zur Verfügung stehen, dass sie dem Mangel der Gemeinde und der Notdurft der Armen zu Hilfe kommen. 4. Wir meinen, dass deren Anzahl in den einzelnen Gemeinden zu diesem Zeitpunkt nicht vorgeschrieben werden kann, weil auf die Umstände besonders Rücksicht zu nehmen ist. 5. Hingegen wird nicht unzweckmäßig sein, besonders in den größeren Städten zwei Arten von Diakonen einzusetzen, von denen die einen der Sammlung und Verteilung der Almosen ihre Mühe widmen sollen und zugleich zugunsten der Armen für die durch Legate [Vermächtnisse] vermachten Güter, sofern es solche gibt, Sorge tragen sollen, dass sie rechtmäßig von den Erben abgefordert und auf die in den Legaten Bedachten getreulich ausgeteilt werden. 6. Die andern sollen vor allem Sorge für die Kranken, Verwundeten und Gefangenen tragen. Es wird nötig sein, dass diese außer mit Treue und Fleiß auch mit der Gabe der Tröstung und nicht alltäglicher Erkenntnis des Wortes begabt sind. Und von den Ältesten sollen sie mit Fleiß erkunden, ob es in den Bezirken Kranke und Schwache gibt, die der Tröstung oder der Unterstützung bedürfen. 7. Diejenigen, die ans Krankenlager gefesselt sind, die sollen ihre Krankheit durch Diakone oder Älteste dem Diener des Wortes anzeigen, damit er, wenn es nötig sein wird, selbst herzugehe und den Kranken mit dem Worte Gottes tröste oder diese Aufgabe den Ältesten oder Diakonen anbefehle, falls ihm durch andere gemeindliche und gewichtigere Geschäfte die Hand gebunden ist. 8. Auch auf die Zugewanderten und Fremdlinge Rücksicht zu üben, gebietet die Regel der Liebe. 9. Deswegen ist es Aufgabe der Diakonen, fleißig von den Ältesten und anderen Gliedern der Gemeinde zu erkunden, ob gläubige Zugewanderte oder Fremdlinge an jene Orte gekommen sind, damit ihnen die Wohltat der Gastfreundschaft und sonstige gläubige und christliche Hilfe geleistet werden kann. Und wenn sie mittellos sind, soll
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ihnen auch das Notwendige dargereicht werden. Dass die Sorge für diese die erste Sorte von Diakonen angeht, steht außerhalb jeden Zweifels. 10. An welchen Orten das nutzbringend sein wird, können nach unserer Meinung auch Frauen von bewährtem Glauben und Rechtschaffenheit sowie von fortgeschrittenem Alter zu diesem Amt nach dem Beispiel der Apostel zu Recht angenommen werden.1 11. Die Diakonen sollen aber Umschau halten, ob den Witwen oder Waisen in der Gemeinde von irgendwoher Gewalt oder Unrecht angetan worden ist.2 Und wenn sie etwas in Erfahrung bringen, sollen sie es an das Presbyterium berichten, damit unverzüglich einige bestimmte Personen ausgewählt werden, die nach Lage der Dinge dafür sorgen, dass diesen von der Obrigkeit Recht gewährt wird. 12. Weiterhin wird notwendig sein, außer diesen Diakonen noch andere gute Männer von bewährtem Glauben und Ehrbarkeit in sorgsamer Wahl zu gewinnen, die das Gehalt der Diener und das übrige, was zur Ausübung des Amtes notwendig sein wird, zusammenbringen sollen. 13. Dazu rechnen wir auch das, was sich auf die Versammlung der Synoden, auch die Abordnung, wo es nötig sein wird, von Dienern oder beliebigen anderen zu für die Kirche notwendigen Geschäften und zugleich auf die Bauleistungen für Kirchen und Kathedralen bezieht. 14. Obwohl wir es für dienlicher halten, dass in den größeren Städten womöglich diese Amtspflichten unterschieden werden und die Sorge für die Diener von der Zuständigkeit für sonstige Angelegenheiten getrennt wird. Aber dies wird am besten von der Synode entschieden werden können, der wir auch die Sorge und Errichtung der Schulen überlassen. 15. Hingegen über die Bestellung eines Kassenverwalters oder Kirchmeisters, über die Rechnungslegung in Einnahme und Ausgabe an das Presbyterium und über die Dinge, die sich auf diese Angelegenheit beziehen, muss von den einzelnen Gemeinden nach Art und Weise einer jeden künftig bestimmt oder doch wenigstens von der Synode etwas im Allgemeinen festgelegt werden. 1 2
Vgl. 1Tim 5,9ff. Vgl. z.B. Ex 22,21f.
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16. Wir halten aber dafür, dass vom Amt der Ältesten die Auszahlung und Verwaltung von Gemeindevermögen, welcher Art es immer ist und woher es immer anfällt, gänzlich verschieden ist. 17. Außer den Beschwerden, die täglich anfallen, spricht die Sache selbst dafür, dass die Ältesten und Diakonen, die sich in ihrem Beruf eine Zeitlang als treu erzeigt haben, nicht ohne großen Verlust an Privatem das tun. Deswegen halten wir es für nützlich, dass jährlich für sie eine Neuwahl stattfindet, so dass nach Ablauf eines Jahres oder von sechs Monaten (wie es Sachlage und Gelegenheit fordern) die Hälfte von ihrem Amt abgelöst werde und andere an ihre Stelle gewählt werden, die mit den übrigen im Amte Verbleibenden der Gemeinde an die Spitze gestellt werden, so freilich, dass es dem Presbyterium freisteht, besonders geeignete und bereitwillige Älteste und Diakone zu bitten und zu ersuchen, dass sie ein halbes oder ein ganzes weiteres Jahr (je nachdem es dem Presbyterium gut scheinen wird) der Gemeinde in ihrem Berufe dienen. 18. Eine Amtsperson wie ein Diener oder Pastor, Lehrer, Ältester, Schulmeister oder Diakon etc. soll die Gemeinde, der er gedient hat, auf keinen Fall verlassen ohne ordnungsgemäße Kenntnisgabe der Begründung und ein eingeschaltetes Urteil der gesamten Klassis oder des Bezirks (nachdem die Provinzen in solche Bezirke unterteilt sein werden). Und hinwiederum wird auch den Gemeinden nicht freistehen, ihren Diener, Lehrer oder Ältesten etc. abzusetzen, wenn nicht die Zustimmung des Bezirks oder der provinzialen Klassis hinzugekommen ist. 19. Aber dennoch glauben wir, dass den Zusammenkünften der Klassen keine Befugnis in dieser Sache zugestanden werden darf über irgendeine Gemeinde oder deren Diener, wenn nicht diese aus freien Stücken zustimmt, damit nicht eine Gemeinde ihres Rechtes und ihrer Autorität wider ihren Willen beraubt werde. Quelle: Beschlüsse zur Diakonie auf dem Konvent reformierter Gemeinden in Wesel 1568, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege im 16. Jahrhundert, VDWI 23, Heidelberg 2004, 277–282:280–282. © Universitätsverlag Winter, Heidelberg
158. Emdener Synode: Grundsätze (1571) Vom 4. bis 13. Oktober 1571 tagten in Emden 29 Abgeordnete reformierter niederländischer Gemeinden „unter dem Kreuz“, d.h. von Gemeinden, die in den Niederlanden unter Bedrängnis und Verfolgung ausharrten, sowie von Flüchtlingsgemeinden in Deutschland und Ostfriesland. An die Beschlüsse des Weseler Konvents von 1568 anknüpfend (s. Text 157) traf die Emder Synode Entscheidungen, die die Grundlage der presbyterial-synodalen Ordnung der reformierten Kirche in Westeuropa bildeten. Die Synodenbeschlüsse bedeuteten eine Absage an eine hierarchische Kirchenstruktur und sahen einen Aufbau der Kirche strikt von unten nach oben vor. Entsprechend ordnet die Ortsgemeinde ihre Angelegenheiten selbst. Das gemeindliche Leitungsgremium ist das Konsistorium. Übergreifende Anliegen werden durch regionale Classicalversammlungen und Provinzialsynoden sowie Generalsynoden geregelt. Die im Folgenden dokumentierten Grundsätze der Emdener Synode betreffen zum einen die Grundstrukturen der Kirche sowie die Wahlen zu kirchlichen Ämtern – Pastoren, Älteste, Diakone – und den Umgang mit Amtsträgern, die sich schwerwiegende Verfehlungen zuschulden kommen ließen. Zum anderen enthalten die Beschlüsse spezifische Regelungen im Blick auf durchziehende Flüchtlinge. Die Jahrzehnte lang andauernde Verfolgung der reformierten Christen in den Niederlanden führte zu immer neuen Wellen von Flüchtlingen. Das reformierte Emden gehörte zu den Städten, die viele Glaubensflüchtlinge aufnahmen. Zeitweilig lag deren Zahl bei 6000. Sie erhielten ein großes Maß an Unterstützung: Für die niederländisch sprechenden Flüchtlinge wurde z.B. 1567 eine „Diakonie der Fremdlingen-Armen“ eingerichtet; neue Stadtviertel entstanden. Besondere Schwierigkeiten bereiteten ständig durchreisende Flüchtlinge, die nur wenige Tage blieben, aber versorgt werden mussten. Dazu kamen solche, die ihre niederländische Heimat nicht aus Glaubensgründen, sondern aus anderen Motiven verlassen hatten. Diese Gruppen hat die Synode mit ihren Regelungen im Blick, die darauf zielen, den Missbrauch von Unterstützungsleistungen zu verhindern bzw. zu minimieren. 1. Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone den Vorrang oder die Herrschaft beanspruchen, sondern sie sollen lieber auch dem geringsten Verdacht und jeder Gelegenheit aus dem Wege gehen. […]
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Grundsätze
13. Die Pastoren werden vom Konsistorium mit Zustimmung der Classicalversammlung oder zweier oder dreier benachbarter Pastoren gewählt; sie werden dann der Gemeinde vorgestellt, die sie entweder in schweigender Zustimmung akzeptiert oder innerhalb von 14 Tagen Einspruch einlegt, wenn sie aus irgendeinem Grund mit der Wahl weniger zufrieden ist. Wenn trotzdem einige Gemeinden den bei ihnen bestehenden Brauch der Wahl durch die Gemeinde nicht ändern will, so soll das geduldet werden, bis eine Generalsynode anders beschließt. 14. Das gleiche Verfahren ist bei der Wahl von Ältesten und Diakonen zu beachten, nur dass die Zustimmung der Classicalversammlung oder der benachbarten Pastoren nicht eingeholt zu werden braucht. 15. Jedes Jahr scheidet die Hälfte der Ältesten und Diakone aus, und an ihre Stelle treten andere, die ebenso lange Dienst tun; dabei bleibt es aber besonders den Gemeinden unter dem Kreuz freigestellt, einen längeren oder kürzeren Zeitraum zu bestimmen, wenn es zweckmäßig und notwendig ist. […] 33. Wenn Pastoren, Älteste und Diakone eine Verfehlung begangen haben, die für die Gemeinde schmachvoll ist oder von der Obrigkeit geahndet werden muss, dann sind Älteste und Diakone durch das Wort des Konsistoriums abzusetzen, Pastoren aber von der Ausübung ihres Amtes zu suspendieren. Ob sie abgesetzt werden sollen, muss die Classicalversammlung entscheiden; sind sie mit deren Entscheidung nicht zufrieden, können sie bei der Provinzialsynode Berufung einlegen. 34. Die Frage, ob bereits abgesetzte Pastoren, Älteste und Diakone, die der Gemeinde durch Reue Genüge getan haben, nach erneuter Wahl wieder zugelassen werden dürfen, hat für Älteste und Diakone das Konsistorium, für Pastoren aber die Classicalversammlung zu entscheiden. […] 44. Es muss auch der schweren Belastung der Gemeinden begegnet werden, die täglich durch den Leichtsinn derer zunimmt, die allzu schnell ihren Wohnsitz wechseln und unter dem Vorwand ihrer Armut und ihres Glaubens die Almosen für sich beanspruchen, die für die einheimischen Gläubigen notwendig sind. Es ist deshalb in den einzelnen Gemeinden bekanntzugeben, dass diejenigen, die wegziehen, in Zukunft bei anderen Gemeinden nur dann wie Einheimische unterstützt werden, wenn sie von ihrer Heimatgemeinde ein Zeugnis über ihr Leben und ihren Glauben beibringen.
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45. Die Pastoren sollen diejenigen, die um ein Zeugnis bitten, sorgfältig fragen, weshalb sie wegziehen wollen, und sollen ihnen ein Zeugnis strikt verweigern, wenn sie keinen triftigen Grund für ihren Wegzug angeben. Pastoren und Diakone sollen sich hüten, allzu leichtfertig die Gemeinden von ihren Armen zu entlasten und andere ohne Notwendigkeit mit ihnen zu beschweren. Bei denen, welchen sie ein Zeugnis geben können, sollen sie angeben: Name, Vorname, Geburtsort, Beruf, Grund des Wegzugs, Dauer des Aufenthalts in der Gemeinde, Lebensführung, Zeitpunkt der Abreise, Ziel der Reise und ähnliches. 46. Wegziehenden soll so viel mitgegeben werden, wie sie bis zur nächsten Gemeinde, zu der sie kommen, brauchen; die Summe ist im Zeugnisbrief zu vermerken. Dasselbe sollen nach Möglichkeit die anderen Gemeinden tun, durch die sie ziehen. Wenn der überreichte Zeugnisbrief und alles andere in Ordnung ist, sollen sie ihnen so viel geben, wie nach ihrer Meinung bis zur nächsten Gemeinde erforderlich ist, und sie sollen das mit dem Datum in dem Schreiben vermerken. So sollen es auch die anderen Gemeinden halten, bis sie am Zielort angekommen sind; dort soll das Zeugnis vernichtet werden. 47. Wer nach dem kommenden November seine Gemeinde ohne Zeugnis verlässt oder mit einem, das nicht der Norm entspricht, gilt nicht als Glaubensgenosse, dem man nach der Weisung des Paulus am meisten Gutes tun soll.1 Wenn trotzdem jemand aus den Gemeinden unter dem Kreuz kommt oder von Orten, an denen kein Predigtdienst besteht, so soll man ihn prüfen, ob er beten, Rechenschaft von seinem Glauben anlegen, den Grund für seine Reise angebe kann usw. Die Diakone werden klug genug sein zu prüfen, wieweit man ihnen helfen muss. Quelle: Dieter Perlich, Die Akten der Synode der niederländischen Gemeinden, die unter dem Kreuz sind und in Deutschland und Ostfriesland verstreut sind, gehalten in Emden, den 4. Oktober 1571. Übersetzung aus dem Lateinischen, in: 1571 Emder Synode 1971. Beiträge zur Geschichte und zum 400jährigen Jubiläum. Bearbeitet und redigiert von Elwin Lomberg, hg. v. der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, Neukirchen-Vluyn 1973, 49–66: 49–51; 54; 56f.
1
Vgl. Gal 6,10.
159. Stiftungsurkunde des Juliusspitals Würzburg (1579) Julius Echter von Mespelbrunn, geb. 1545, war von 1573 bis zu seinem Tod im Jahr 1617 Fürstbischof von Würzburg und Herzog von Franken. Der entschiedene Vertreter der Gegenreformation, der Protestanten aus seinem Herrschaftsbereich vertrieb, war in karitativer und sozialpolitischer Hinsicht höchst umsichtig und innovativ. Als er im Jahr 1573 sein Amt antrat, fand er schwierige soziale Verhältnisse vor. Zwar boten zahlreiche karitative Stiftungen Hilfe in diversen Notsituationen, jedoch fehlte eine systematische, öffentlich organisierte und flächendeckende Fürsorge. Auf die prekäre Lage reagierte Julius Echter als Landesherr und Bischof mit der Gründung des nach ihm benannten Juliusspitals. Es wurde auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofs errichtet, was die Juden, die unter Echter fliehen mussten, als Affront empfanden. Die folgenden Auszüge aus der Stiftungsurkunde vom 12. März 1579 dokumentieren, dass sich der katholische Landesherr die Fürsorge der Armen als eine obrigkeitliche Aufgabe zu eigen macht. Sie zeigen zudem, wie der Fürstbischof selbst mit milder Traditionskritik durch seine Neugründung in die Spitalreformen eingreift: Traditionelle Geldquellen und Güter, kirchliche Besitzrechte, Pfründe, Steuerabgaben, Schuldverschreibungen etc. werden für die Finanzierung des Spitals umgewidmet und verwendet. Die Spitalleistungen werden schwerpunktmäßig auf die Armen fokussiert. Die in Spitälern übliche Pfründnerpraxis – besser gestellte Bürger kauften sich für ihre Versorgung durch Geld bzw. Testamente in ein Spital ein – wird abgeschafft. Hinzu kommen eine weitgehende Steuerbefreiung für die Mittel des Spitals und transparente, zustimmungspflichtige, die Leitung betreffende Personalentscheidungen. Die Urkunde lässt überdies die Motive, Zielsetzungen und die Konzeption erkennen, die Julius Echter mit der Gründung verband: Die Einrichtung erfolgt zum Nutzen des Landes wie zur Ehre Gottes. Das Spital soll Hilfebedürftigen umfassende Unterstützung, Begleitung und Pflege leisten. Als bahnbrechend erwies sich dabei die fachmännische Versorgung durch Ärzte. Gedacht war das Spital über seinen Charakter als Institution der Fürsorge hinaus als „vollkommene Haushaltung“, in der Arme Wertschätzung und Freude erfahren und deshalb für ihre Wohltäter bitten sollten. Im Namen der heiligen und einigen Dreifaltigkeit. Amen. Wir Julius von Gottes Gnaden Bischof zu Würzburg und Herzog zu Franken.
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Nachdem uns der allmächtige, gütige Gott in den Rang eines Bischofs trotz unserer Unwürdigkeit berufen hat, haben wir auf dieser freilich vergänglichen Welt neben unserer bischöflichen Hirten-Aufgabe auch als Landesfürst Menschen zu regieren. Berufen in dieses hohe Amt, darin verantwortlich vor Gott und den Menschen, sind wir vor allem unseren Untertanen verpflichtet, ihnen nach Kräften beizustehen, um die Ehre Gottes und die christliche Nächstenliebe zu mehren. Daher ist uns Folgendes als höchstes angelegen: Durch die Wohltaten unserer gottseligen Vorfahren sehen wir augenscheinlich unser Land und die Stadt Würzburg zur Ehre Gottes zwar geziert mit vielen herrlichen Kirchen, Klöstern, Stiften etc. für den geistlichen Stand. Doch darin verspüren wir einen Mangel: Es besteht nämlich weit weniger Fürsorge für die armen, abgearbeiteten und unvermögenden Menschen, die Alten, Kranken, Gebrechlichen und Alleinstehenden. Gerade unsere jetzige Zeit erfordert hier Abhilfe. Obgleich nämlich schon etliche Spitäler und andere solche Plätze für die Armen bestehen, so arbeiten sie entweder nicht nach dem Willen von deren gutmeinenden und treuherzigen Stiftern oder sind zum anderen zu gering an Größe, Gebäuden oder Vermögensumfang. Daher können nur wenige unserer armen Mitmenschen dort ein billiges Recht auf angemessenen Unterhalt und Obdach erhoffen. Sicherlich hat der gottgefällige sittliche Lebenswandel unserer Vorfahren den Allmächtigen in der Vergangenheit bewegt, die Menschen mit Armut und vielfältigen Krankheiten weniger zu strafen. Auch war früher die christliche Nächstenliebe, insbesondere für die uns von Gott anvertrauten Armen, nicht bei fast jedermann erkaltet, wie leider heutzutage. Die Armen fanden also in Notzeiten bei den Vermögenderen häufigere und insgesamt reichlichere Unterstützung als jetzt. Sie mussten daher nicht in die nächstliegenden Spitäler ziehen und völlig verlassen umkommen, wenn sie darin keine Unterkunft fanden. Ist es doch mehrfach vorgekommen, dass in den letzten schweren Jahren der Teuerung sogar redliche Leute in Armut gefallen sind, ohne Hilfe blieben und schließlich obdachlos auf der Straße gestorben sind. Solches sollte uns Christen zu besonderem Mitleid bewegen. Deshalb also haben wir beschlossen, Wohnstätten für die Armen und Verelendeten in unserem Land zu schaffen und mit entsprechendem Unterhalt auszustatten; dies zum Nutzen des uns anvertrauten Landes und unserer gehorsamen und treuen Untertanen wie ebenso Gott, dem Allmächtigen, zum Wohlgefallen. So hat denn auch Christus selbst, unser Heiland, uns mit seiner Lehre und seinem Beispiel aufgetragen, uns der Bedürftigen anzunehmen. Demzufolge haben wir uns vorgenommen, […] – Gott dem Allmächtigen zu Lob und Ehre und den Armen, unseren christlichen Mitschwestern und Mitbrüdern, zu Trost und Wohlergehen – hier in
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Stiftungsurkunde des Juliusspitals Würzburg
Würzburg ein Spital zu gründen für alle Arten armer, kranker, hilfsbedürftiger und behinderter Menschen, die rundum ärztliche Versorgung benötigen. Gleichfalls sollen darin je nach Erforderlichkeit verlassene Waisen, durchziehende Pilger und sonstig Bedürftige Unterhalt und Hilfeleistung erhalten. Dieses unser Spital liegt zwischen den Stadtvierteln von Pleich und Stift Haug an dem Platz, der seit alters her der Judengarten heißt und gute Wasser- und Luftverhältnisse bietet. Zu diesem Zweck haben wir bereits folgende Gebäude1 errichtet: eine Kirche zu Ehren Gottes, geweiht dem heiligen Bischof und Märtyrer Sankt Kilian, dem ersten Glaubensverkündiger dieses Landes. Dazu kommen Nutzgebäude wie Mühle, ein Backhaus, Küchen, Keller, Vorratsräume, Viehstallungen, Trinkwasserbrunnen, Gemüsegärten u. dergl. Zu den verschiedenen Wohnungen für die jeweiligen Hilfsbedürftigen kommen schließlich noch Unterkünfte für die Pfleger und Verwalter. Das gesamte Spital soll von Grund auf eine vollkommene Haushaltung bilden, weit über die reine Notversorgung hinaus. Denn eigentlich sollen diese armen Menschen, die in ihrem harten und mühseligen Leben zuvor täglich genug Plagen gelitten und überstanden haben, nun Freude finden durch zweckentsprechenden Unterhalt und Pflege wie auch durch bequeme und saubere Zimmer. Dadurch sollen sie, in ihrem Inneren bewegt, Gott danken sowie für alle Wohltäter und für uns selbst bitten. Unsere Absicht ist es, dass von jetzt an und zukünftig in unserem Spital obengenannte notleidende Menschen in angemessener Weise Nahrung, Kleidung, Unterkunft und entsprechende Gesundheitsversorgung erhalten sollen. Freilich sind immer nur so viele Personen aufzunehmen, wie die Mittel unseres Spitals zulassen. Denn eine Überbelegung müsste zu Geldnot und letztlich zum Scheitern führen, sodass am Ende kein Bedürftiger mehr Hilfe erhalten könnte. Zunächst sollen die alten, schwachen und behinderten Frauen und Männer, gebürtig aus dieser Stadt und unserem Land oder, wenn zugezogen, hier ehrlich wohnhaft, hier Unterhalt und Pflege finden, bis sie, von ihrem Leiden gesundet, sich wieder von eigener Arbeit ernähren können. Erst dann sind sie aus unserem Spital zu entlassen. Ebenso sollen die Waisen aus unserer Stadt und unserem Land hier untergebracht werden wie überhaupt Kinder frommer und ehrbarer Leute. Sie sollen erzogen und versorgt werden: die Knaben vor allem bis zum Beginn der Ausbildung je nach ihren Neigungen in Schule und Handwerk, die Mädchen bis zum Dienstmädchenalter oder zum 1
Den Grundstein zum Spital hatte Julius Echter schon am 12. Mai 1576 gelegt. Die rechtsförmliche Ausrichtung in Form dieser Stiftungsurkunde erfolgte dann am dritten Jahrestag, dem 12. März 1579.
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Eintritt in den geistlichen Stand. Gleichwohl dürfen Mädchen und Knaben nicht länger als zehn Jahre in unserem Spital verbleiben. Wenn die Knaben erwachsen geworden wie auch zu besserem Stand gekommen sind, wird von ihnen zu Recht erachtet, aus schuldiger Dankbarkeit uns, unseren Nachfolgern und unserem Land folgsam zu dienen, je nachdem wozu sie gebraucht werden in weltlichen oder geistlichen Angelegenheiten. Pilger und mittellose Durchziehende hingegen sollen lediglich mit einer Tagesration an Speise, Trank sowie einer einzigen Übernachtungsgelegenheit versehen und am nächsten Morgen fortgewiesen werden. Wenn aber ein Pilger oder ein anderer ehrbarer fremder Armer hier krank und unverschuldet zum Krüppel wurde, so soll ihm Unterhalt und Pflege gewährt werden genau wie den hier ansässigen Armen auch. Alle diese Menschen sollen also entsprechend der Finanzkraft des Spitals unterhalten werden. Wenn sie nun aus dem Spital entlassen werden, sei es wegen völliger Genesung, Fehlverhaltens oder altersmäßigen Ausscheidens der Waisenkinder, so soll der freiwerdende Pflegeplatz nach reiflichem Ermessen wie unter Berücksichtigung der finanziellen Mittel durch die Spital-Leitung neu besetzt werden mit anderen ehrbaren und würdigen Bedürftigen aus dem angesprochenen Personenkreis. Hingegen soll sich niemand mittels Güterschenkungen oder Geldleistungen in unser Spital einkaufen oder durch Fürsprache oder Protektion dahingehend begünstigt werden. Denn die Erfahrung hat bis auf den heutigen Tag vielerorts nur zu deutlich gezeigt, dass durch derartig verderbte Praktiken der Kranke durch den Gesunden vertrieben, der Bedürftige durch den Vermögenden gehindert wird und der Hilflose gegenüber dem begüterten Zudringlichen ins Hintertreffen gerät. Wird bei solchem Stellenkauf doch nicht das freigiebige Almosen der Spender gewürdigt, sondern der bequeme Müßiggang gesucht. Mithin wird diese wohltätige Gottesgabe [das Spital selbst] missbraucht und entweiht. Schließlich folgen daraus allerlei Manipulation und letztlich der Ruin; ganz zu schweigen davon, wie wenig damit Gottes Segen erlangt werden kann. All solches muss in unserem Spital vermieden werden, wo ja ausschließlich die Wohlfahrt der armen, gebrechlichen und bedürftigen Menschen im Mittelpunkt steht. Diesem also für die Armen und ihre Anliegen bestimmten Spital […] sollen in Stellvertretung für den Bischof, den „Beschützer der Armen“, besondere Stiftspfleger und Verwalter vorstehen. Auch deren jeweilige Nachfolger sollen tüchtige und verständige Personen sein, denen eine besondere Liebe zu armen Leuten eigen ist und die sich hierum anstandslos sowie mit Sorge und Mühe einsetzen. Es soll nämlich ein Spitalpfleger aus den Reihen unseres ehrwürdigen Domkapitels berufen werden, ein ebenso geeigneter aus dem Stifts-
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Klerus und ein dritter aus dem Stadtrat. Diese drei sollen sich als zuverlässige und fleißige Vorsteher mit gleicher Gewalt und Befugnis um den Zustand und die Gestaltung des Spitals insgesamt kümmern und zwar in genau der Weise, wie es jetzt eingerichtet ist, aber auch mit Augenmerk darauf, wie es in Zukunft verändert werden kann. Vor allem sollen sie sich jederzeit in Absprache und mit unserer Einwilligung bzw. der unserer Nachfolger einen fähigen Spitalmeister oder Hausvater anstellen. Ebenso sollen sie einen geeigneten Priester bestimmen, der zuallererst die Gottesdienste in der Spitalskapelle zu verrichten hat. Daneben soll er den armen Kranken predigen, die Sakramente spenden und sie in allen Nöten gut und heilsam trösten. Des Weiteren sollen die Spitalpfleger einen Mediziner mit seinem Instrumentarium im Spital anstellen, desgleichen eine Pflegemutter, auch Zuchtmeisterin genannt, für die jungen Kinder. Die genannten sollen zuverlässig, ehrbar und fromm sein und dem Spitalwesen vorstehen. […] Alle genannten Pfleger und Vorsteher sollen sich mindestens einmal im Monat und, falls möglich, am besten jede Woche in unserem Spital gemeinsam vor Ort ein genaues Bild vom Zustand der Gebäude und Liegenschaften machen, ob und wie die Barschaft zugunsten der Armenstiftung sicher angelegt ist und was hier und dort noch verbessert werden kann. Dabei sollen sie durch alle Häuser und Zimmer herumgehen, die Kranken visitieren und sich erkundigen über deren Anzahl, wie sie beköstigt, untergebracht und gepflegt werden, ob die Beamten und Bediensteten dort ihre Pflicht tun und im Übrigen die Räumlichkeiten sauber und einwandfrei gehalten werden. Desgleichen sollen sie nachforschen, ob unsere erlassene Spitalordnung genau befolgt wird hinsichtlich der Aufnahme von Armen, deren unterschiedlicher Pflege, des Küchenbetriebes, der Bevorratung und der anderen Versorgungseinrichtungen. Damit unsere Ordnung nicht in Vergessenheit gerät, soll sie vierteljährlich allen Beamten, Bediensteten und Armen im Spital öffentlich vorgelesen werden. Überdies sollen die Spitalpfleger vierteljährlich von dem angestellten Spitalmeister eine ordentliche Rechnungslegung verlangen, zu Ende eines jeden Jahres sodann eine Schlussbilanz. Was sie dann bei den Rechnungsabschlüssen und auf ihren Visitationen an Mängeln bzw. verbesserungsfähig finden – sei es wegen der Aufnahme weiterer oder Entlassung überzähliger oder gesunder Armer, Absetzung der Beamten und Dienstboten oder ähnliches –, das alles sollen sie dem Spitalmeister gebührend deutlich machen. Etwaige Beschwerden seinerseits sollen sie gleichfalls zur Kenntnis nehmen. Überhaupt sollen sie sorgfältig, zuverlässig und aufmerksam ans Werk gehen. Alles gehe recht und gut zu zum Nutzen des Spitals und der Armen. […]
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Da nun für den Unterhalt der Armen wie des Pflegepersonals nicht geringe Unterhaltsmittel notwendig sind, andererseits unser Land wegen der Heimsuchung der letzten Kriegsjahre2 noch mit vielerlei Schulden belastet ist, so haben wir […] von seiner päpstlichen Heiligkeit erreicht, das seit langem verlassene Kloster Heiligenthal mitsamt seinen Nutzungs- und Wirtschaftsrechten für unser Spital zu verwenden. Kraft dieser päpstlichen Bewilligung wie derjenigen unseres Domkapitels wollen wir hier in aller Rechtsform feststellen, welche Güter und Einkünfte wir unserem Spital einverleiben, Gott, dem Allmächtigen, zur Ehre, unserem Land und Untertanen zum Nutzen und allen Armen zum Trost: Zunächst das erwähnte Kloster Heiligenthal mit Grund und Boden, allen Feldern, Einkünften, Gütern und Besitzrechten […]. Die vor wenigen Jahren erworbene Frühmess-Pfründe zu Eckartshausen gliedern wir ebenfalls in das Spital ein samt allen Bezügen. Hiervon bestreiten wir den Unterhalt des Spitalpfarrers. Freilich behalten wir uns für alle unsere Nachfolger das Ernennungsrecht zu dieser Pfründe für alle Fälle vor […]. Hinzu soll noch dasjenige kommen, was gutherzige Leute zu Lebzeiten oder nach ihrem Tode aus besonderer Liebe zu den Armen dazu stiften, und zwar in der Weise, wie deren Stiftungsbriefe je bestimmen. Entsprechend soll in unserem Spital all dieser Stifter gedacht werden. Zur Versorgung unseres Spitals mit Brennholz schließlich haben wir in Absprache mit dem gesamten Domkapitel angeordnet, jährlich 4 Morgen Brennholz aus dem Waldbesitz des Würzburger Stifts schlagen zu lassen – dies zum einen angesichts der Holzknappheit in der Umgebung der Stadt Würzburg und zum anderen, um der Stadtbevölkerung dasjenige Holz zu belassen, das auf dem Main verschifft wird. […] Das Spital soll dieses Holz allerdings auf eigene Kosten fällen und abtransportieren entsprechend unseren jeweils geltenden Waldordnungen. Nach unserem entschiedenen Willen sollen alle jetzigen oder zukünftigen Güter Einkünfte und Nutzungsrechte unseres Spitals sowie sonstige zufallende Mittel von jeglichen Steuern, Abgaben und dergleichen befreit sein zur desto besseren Hilfe der Armen. Ausnahme hiervon bilden die Reichssteuern angesichts allgemeiner Notstände, insbesondere der Türkengefahr3. In dieser Hinsicht soll das Spital den 2
Seit fast einem halben Jahrhundert war das gesamte Frankenland durch eine Folge heftiger, z.T. langdauernder Kriege schwer erschüttert und in Mitleidenschaft gezogen: Bauernkrieg (1525), Zweiter Markgräflerkrieg (1552/53) und schließlich die verheerenden „Grumbach‘schen Händel“ (1558–1567). 3 Die andauernden Kriege der Türken gegen das habsburgische Kaiserhaus (1564– 1568/1593–1609) bedrohten das Reich nachhaltig und hatten die sogenannte „Türkenhilfe“ als Unterstützungssteuer zur Folge.
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anderen Spitälern oder Klöstern in unserem Land gleichgestellt sein. An dieser Stelle möchten wir freilich unsere Amtsnachfolger bzw. die mit der Sache Betrauten erinnern, bei solchen Steuererhebungen das Spital und somit die Bevölkerung nicht zu empfindlich zu treffen und die Armenhilfe so weit als möglich von solchen Sonderabgaben zu entlasten. […] Nach jeweilig vorhergehender Beratung wollen wir auch solche Pflegeplätze in Würzburg in unsere Spitalneugründung eingliedern, wie Seel-, Franzosen- und andere Häuser4, die bereits früher gutherzig den Armen gestiftet wurden, mittlerweile aber durch Alter oder wegen zu geringer Mittel nicht mehr ihrem Zweck entsprechen. Wenn dann unser Spital durch diese beschriebene Grundausstattung, durch zukünftige Schenkungen, vor allem aber durch den Segen und Erhalt des allmächtigen Gottes sichtlich Fortschritte machen wird, halten wir die Aufnahme einer wachsenden Anzahl Armer und deren stetig verbesserte Versorgung für gerechtfertigt, Gott zum Dank für seine Güte. […] Sollte aber unsere Stiftung, die ja Gott zur Ehre und den Armen, unseren Mitbrüdern in Christus, gewidmet ist, aus Unachtsamkeit verwahrlosen oder würde sie gar aus Vorsatz zweckentfremdet, so sei den Verantwortlichen, die solches verursacht oder zugelassen haben, Folgendes versichert: Wer sich der Armen nicht annimmt und so in diesen Gliedern der Gesellschaft Gott verachtet, dem drohen alle Strafen und Plagen zu Lebzeiten wie im Jenseits. Vor Gott und der Welt werden wir, die solches Unheil nicht verschuldet haben, derartige Verfälscher unserer Stiftung am jüngsten Tag vor dem Richterstuhl Gottes nachdrücklich anklagen als diejenigen, welche die Ehre Gottes ebenso geschmälert haben wie die erstrebte Hilfe für die Armen. […] So geschehen und gegeben am Tage des heiligen Kirchenlehrers Gregorius, dem zwölften März, an welchem wir, Bischof Julius, vor drei Jahren den ersten Stein des Spitalbaues gesetzt haben im Jahre 1579 nach Christi unseren lieben Herrn und Heilandes Geburt. Julius Episcopus Wirceburgensis Quelle: Die Stiftungsurkunde des Juliusspitals, übertragen in modernes Deutsch. Leicht überarbeitete und hinsichtlich der Literaturhinweise aktualisierte Fassung von Winfried Romberg, in: Helfen und Heilen. Der Stiftungsbrief Julius Echters als Leitbild für die Stiftung Juliusspital heute, von Wolfgang Weiß/ Winfried Romberg, Würzburg 2002, 7–26: 12–19. 4
Seelhaus: Verwahranstalt für geistig und seelisch Verwirrte. Franzosenhaus: zumeist abgelegenes Quarantäne-Hospiz für Infektionskranke.
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160. Johannes Althusius: Politik (1614) Johannes Althusius gilt als einer der bedeutendsten Theoretiker des frühneuzeitlichen Ständestaats. Er wurde 1563 in Diedenshausen in der Grafschaft Wittgenstein-Berleburg geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Basel und seiner Promotion zum Doktor der Rechte wirkte er von 1586 bis 1604 als Professor an den calvinistischen Hohen Schulen in Herborn, Burgsteinfurt, Siegen und wieder Herborn. 1603 erschien sein Hauptwerk, die Politica Methodice Digesta. 1604 übernahm Althusius das Amt des Stadtsyndikus von Emden, dem „Genf des Nordens“. Dabei erwies er sich insbesondere als Vorkämpfer einer weitgehend unabhängigen und freien Stadtrepublik. Die entsprechenden politischen Erfahrungen fanden ihren Niederschlag in der zweiten Auflage der Politica von 1610. Die dritte, endgültige Auflage des Werks erschien 1614. Althusius‘ calvinistisch inspirierte politische Theorie ist als Gegenentwurf zur absolutistisch geprägten Staatstheorie Jean Bodins (1529/30–1596) angelegt. Er entwirft eine Lehre vom Staat, in dem sich eine von unten nach oben aufgebaute, stufenweise kooperative Vergemeinschaftung (consocatio) vollzieht. Der politische Körper besteht aus Familien, Ständen, Provinzen sowie freien Städten und schließlich dem Staat. Für die althusiasche Konzeption von Politik ist der Gedanke der Subsidiarität maßgeblich: Die verschiedenen Gemeinschaftsformen bilden sich durch wechselseitige Vereinbarungen bzw. die Unterstützung der sie ausmachenden Glieder. Die kleineren Gemeinschaften sind für die Selbstverwaltung der sie betreffenden Angelegenheiten zuständig, während die allgemeinen politischen Gemeinschaften für Belange Sorge tragen, die die Möglichkeiten der kleineren Gemeinschaften übersteigen. In wichtigen Angelegenheiten muss schließlich der höchste Magistrat die Zustimmung der Stände haben, die Repräsentanten der kleineren Gemeinschaften sind. Althusius bezieht sich auf biblische Traditionen und verarbeitet Quellen des römischen und deutschen Rechts. Er entwickelt im Horizont der calvinistischen Bundestheologie vertragstheoretische Begründungsfiguren politischer Herrschaft. Die folgenden Auszüge dokumentieren Grundzüge von Althusius‘ Politiklehre sowie spezifische soziale und diakonische Aufgabenstellungen. Im ersten Kapitel entfaltet Althusius anthropologische Grundlagen, die eine Gemeinschaft notwendig und möglich machen. Der Mensch ist von Geburt an „nackt und wehrlos“ und insofern zutiefst auf Hilfe angewiesen. Zugleich ist er auf kooperatives Zusammenleben hin angelegt und zur Hilfe befähigt. Das Füreinander- und Für-Etwas-Sorge-Tragen durchzieht entsprechend alle Stufen der Vergemeinschaftung. Auf der Ebene der Provinzen und Städte (Kap. 7) verortet Al-
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thusius die Stände der Geistlichkeit, des Adels und des Volkes (Bauern, Handwerker, Kaufleute). Dem geistlichen Stand kommen Funktionen zu, die für die Gemeinschaft wesentlich sind. Dazu gehören Lehre, Schule, Religion sowie die Armenfürsorge, die den Diakonen auf örtlicher Ebene aufgetragen ist. Die gesamtstaatliche Aufgabe der „Zensur“, gemeinschaftszersetzendem Verhalten zu wehren, ist gewissermaßen subsidiär zwischen kirchlichem Stand und Staat aufgeteilt (Kap. 30). Da der geistliche Stand jenseits rechtlicher Regelungen für die soziale Kohäsion des Gemeinwesens zuständig ist, „damit alle fest miteinander verbunden werden“, obliegt es ihm auch, gemeinschaftszerstörendes Verhalten zu verfolgen und zu ahnden. Im Falle nachhaltiger Abweichung ist die Bestrafung Aufgabe des Magistrats. Dabei gilt es, den Müßiggang programmatisch zu verhindern und die Betroffenen ggf. zu öffentlichen Arbeiten zu zwingen. Schließlich weist Althusius dem Staat bzw. höchsten Magistrat die Aufgabe zu, für die Unterstützung wirklich Bedürftiger (invalide Bettler, Kranke, Arme usw.) öffentliche Mittel bereitzustellen und entsprechende Einrichtungen zu schaffen (Kap. 37). Kapitel I: Allgemeine Grundlagen und Wesen der Politik §1 Begriff der Politik Politik ist die Kunst, die Menschen zusammenzuschließen, damit sie untereinander ein gesellschaftliches Leben begründen, pflegen und erhalten. Deshalb wird sie die Lehre vom symbiotischen Leben […] genannt. § 2 Begriff der Gemeinschaft Gegenstand der Politik ist die Lebensgemeinschaft [consociatio], in der die Symbioten sich in einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag [pactum] untereinander zur wechselseitigen Teilhabe all dessen verpflichten, was zum Zusammenleben notwendig und nützlich ist. § 3 Ziel der Gemeinschaft Das Ziel des symbiotischen politischen Zusammenlebens der Menschen ist eine fromme [sancta], gerechte, angemessene und glückliche Lebensgemeinschaft, der es an nichts Notwendigem oder Nützlichem mangelt. Um aber ein solches Leben zu führen, ist niemand allein in der Lage oder von Natur aus hinreichend ausgestattet. § 4 Notwendigkeit und Nützlichkeit der Gemeinschaft Denn wenn der Mensch geboren wird, ist er jeder Hilfe beraubt, nackt und wehrlos gleich einem Schiffbrüchigen, der seine ganze Habe verloren hat. Er wird in die Mühsale des Lebens hinausgestoßen, kann
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allein weder die Mutterbrust erreichen noch die Unbilden der Zeit ertragen oder sich mit den Füßen von der Stelle, von der er geboren ist, fortbewegen, ist zu nichts anderem imstande, als ein überaus klägliches Leben unter Jammer und Tränen zu beginnen, hin zu dem sichersten Vorzeichen drohenden Unglücks. Bar jeden Rats und jeder Hilfe, die er gerade dann so nötig hat, ist er unfähig, sich selbst zu helfen, es sei denn, dass ein anderer sich seiner annimmt und ihm beisteht. Aber auch wenn der Mensch körperlich herangewachsen ist, kann er dennoch das Licht seines Geistes nicht zeigen und vermag auch in erwachsenem Alter nicht, die zu einem angemessenen und frommen Leben erforderlichen Hilfsmittel bei sich selbst zu finden, da seine Kräfte nicht ausreichen, alles zum Leben Notwendige aufzubringen. […] So beginnt der Mensch, über die Mittel nachzudenken, mit deren Hilfe eine symbiotische Gemeinschaft, die so viel Nutzen und Gewinn verspricht, eingerichtet, gepflegt und bewahrt werden kann. […] § 6 Wer die Symbioten sind Die Symbioten sind einander Helfende, die durch das Band eines sie eng zusammenschließenden Vertrages [pactum] dasjenige in die Gemeinschaft einbringen, was einer für den Leib und Seele förderlichen Lebensführung angemessen ist mit dem Ziel, daran Anteil zu nehmen und zu geben. […] Kapitel VII: Die Verwaltung des provinzialen Rechts § 1 Begriff der Verwaltung des provinzialen Rechts Die Verwaltung des provinzialen Rechts ist die zweckmäßige und angemessene praktische Handhabung des Rechts zum Wohl der Provinz im Allgemeinen wie im Besonderen. § 2 Die Glieder der Provinz sind ihre Stände Die Glieder der Provinz sind ihre Ordnungen und Stände, aber auch größere Kollegien, in die die Bewohner nach Maßgabe ihres Gewerbes, Berufes und ihrer Tätigkeit sowie aufgrund der Art und Verschiedenheit ihrer Lebensweise eingeteilt sind. […] § 6 Der geistliche oder kirchliche Stand und sein Aufgabenbereich Den geistlichen oder kirchlichen Stand repräsentiert ein Kollegium frommer, gelehrter und sehr bedeutender Männer, die durch gemeinsamen Beschluss aus den Mitgliedern der kirchlichen Kollegien der Provinz gewählt und eingesetzt sind. Ihm sind die Aufsicht und Sorge für die Lehre, die Religion und den Gottesdienst, die Schulen, die Kirchengüter und die Armen, darüber hinaus für alle kirchlichen Aufgaben sowie ein frommes Leben in der gesamten Provinz anvertraut,
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so dass hierdurch alle fest miteinander verbunden werden und einen mystischen Leib bilden […]. § 8 Die Parochien der Provinz Weil aber der geistliche Stand der Provinz diese ihm aufgetragene Aufgabe ohne die Hilfe und den Dienst anderer nicht zweckmäßig und gut durchführen und bewältigen kann, deshalb wird es seine erste Sorge sein, dass die Provinz in Parochien aufgeteilt wird und jede Parochie ihr eigenes und gut berufenes Presbyterium erhält, Tit 1,5 […]. § 15 Die Diakone Die Diakone, die von der Kirchengemeinde mit der Leitung der Verteilung der Almosen und der Sorge für die Armen betraut sind, Apg 6,3, betätigen sich vornehmlich in dem, was der Nächstenliebe eigen ist, Apg 6,2 u.ff. und tragen Sorge für die Kirchengüter, dazu 1Tim 3,8–10. § 16 Die Vielfalt der Aufgaben, für die das Presbyterium Sorge zu tragen hat Diener [am Wort], Presbyter und Diakone oder das ganze Kollegium und Presbyterium tragen gemeinschaftlich Sorge für das, was die Gemeinschaft der Gläubigen der gesamten Parochie betrifft, Eph 4,11–12; 2Kor 1,6. Dazu zählen erstens Schutz und Förderung der Wahrheit der himmlischen Lehre, zweitens die Berufung der Diener am Wort, drittens die Sittenzensur, viertens die Schulen für Kinder und Jugendliche, fünftens die Integrität der Riten und Zeremonien in der Gemeinde Gottes, sechstens die gute Ordnung, siebtens Art und Zeit der abzuhaltenden Zusammenkünfte, achtens Gebete, Predigten und Sakramente der Kirche, neuntens das Zeugnis der Reue sowie die Zurechtweisung mit dem Ziel, ein gottgefälliges Leben und Frieden zu erreichen, zu pflegen und zu erhalten, Hebr 12,14; Eph 4,12.10, zehntens die Diakonie und Verwaltung der Almosen, 1Tim 3; Tit 1–2. […] Kapitel XXX: Die Zensur § 1 Begriff der Zensur Die Zensur ist die Untersuchung und Rüge derjenigen Sitten und Ausschweifungen, die durch die Gesetze zwar nicht gehindert und bestraft werden, jedoch die Herzen der Untertanen verderben oder ihre Güter unnütz verbrauchen. […] § 4 Wem die Zensur heute anvertraut ist Heute ist bei uns das Untersuchungsverfahren der Zensur gewöhnlich dem ehrwürdigen Kollegium oder Presbyterium anvertraut. Wer ihm
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nicht Folge leistet, wird von den Sakramenten ausgeschlossen, damit er sich über die Schande seines Ausschlusses schäme, 1Kor 5. Wenn er diese Ausschließung und Exkommunikation nicht achtet, wird er wegen frevelhafter Missachtung beim Magistrat von Amts wegen angeklagt und von diesem mit der verdienten Strafe belegt, Mt 18. § 10 Müßiggang darf nicht erlaubt werden Er [der Zensor] wird den Müßiggang (das ist die im Gegensatz zum Gesetz Gottes stehende Untätigkeit, für den Lebensunterhalt zu sorgen und sich ehrbar zu beschäftigen) vom gesamten gemeinen Volk als Ursache aller Laster und Übel und als Verderbnis des Gemeinwesens fern halten, 2Thess 3,6–9 u. ff. […], und dafür Sorge tragen, dass es seinen Geschäften nachgeht, durch die es von öffentlichem Übel abgehalten wird […] § 13 Gesunde Bettler sind fern zu halten Es empfiehlt sich auch, dass die Zensoren gegen umherziehende, gesunde und kräftige Bettler vorgehen und sie zu ehrbaren Arbeiten nötigen oder sie aus dem Gemeinwesen und der menschlichen Gemeinschaft verbannen, damit sie nicht aus den Leistungen der Eifrigen Nutzen ziehen und das verbrauchen, was durch die Arbeit anderer erworben wurde […]. Kapitel XXXII: Die bürgerschaftliche Verwaltung § 66 Die Sorge für Dörfer und Städte In Sonderheit wird der Magistrat dafür sorgen, dass jede Provinz mit Dörfern, Kleinstädten und vielen Großstädten ausgestattet und versehen ist. § 67 Für unfruchtbare Regionen Ferner, dass sie ertragreich und fruchtbar ist und allerorts sorgfältig bebaut wird, auch mit exotischen oder fremdartigen Pflanzen, Bäumen und Samen, die von anderswoher geholt sind. Desgleichen soll jede Provinz keinen Mangel an nützlichen Tieren haben und über die verschiedenen notwendigen Handwerksstätten verfügen, vgl. dazu 2Chr 27,3–4; 1Chr 27,26 u. ff.; 4,39–40ff. § 68 Der Einsatz von Knechten und Müßigen Zu diesen Tätigkeiten und Mühen können die Dienste der Knechte und Verurteilten, der Bettler, die der Soldaten oder anderer Müßiger oder sonst unnütziger Lasten der Erde herangezogen werden, damit sie nicht das Apostelwort zu hören bekommen Wer nicht arbeitet, soll
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auch nicht essen1 und nicht dadurch Schlechtes zu tun lernen, dass sie nichts tun. Denn wie der Vogel zum Fliegen, so ist der Mensch zur Arbeit geboren. […] Kapitel XXXVII: Die bürgerschaftliche Verwaltung öffentlicher und privater Güter § 1 Die Verwaltung der öffentlichen Güter Die bürgerliche Verwaltung der öffentlichen Güter des Reichs (dessen Eigentumsrecht und Nutznießung beim Volk liegt) besteht darin, dass der oberste Magistrat für diese wie ein Vormund, Beschützer und Vater zum Nutzen des Gemeinwesens Sorge trägt und von ihnen in entsprechender Weiser Gebrauch macht. […] § 38 Das für den Gottesdienst Notwendige ist bereitzuhalten Gewiss muss der Magistrat das, was für den äußeren Gottesdienst erforderlich ist, aus den öffentlichen oder auch seinen eigenen Gütern aufwenden und beitragen, Esr 7,20; Neh 7,70; 10,36–37; 12,46–47; 13,10, kirchlichen Zwecken widmen, 2Chr 5,1; 1Kön 15,15, und besonders dafür Sorge tragen, was zur Erhaltung und Pflege der Armen und Mittellosen im Reich Not tut […] § 83 Die Sorge für bemitleidenswerte Personen und ihre Verteidigung Insbesondere aber ist dem obersten Magistrat die Sorge und der Schutz der bemitleidenswerten Personen anvertraut, 5Mos 10,18–19; 24,17.19.20; 15,4 u. ff., im Hinblick auf die er Gesetze geben und für die er gute und zuverlässige Aufseher, Beschützer und Kuratoren einsetzen wird, wie z.B. für die Blinden, Geistesgestörten, Stummen, Tauben, Unmündigen, Witwen, Armen, Kranken, Greisen, Aussätzigen, die invaliden Bettler und die Schwachen, die bei uns wegen ihres Unglücks und Elends Mitleid erregen können, und für Ähnliche […] Der oberste Magistrat wird auch einen festen Platz und Einkünfte für die notwendigen Bedürfnisse dieser bemitleidenswerten Personen vorsehen, 5Mos 24,17; 26,12; 15,4–6 u. ff. Quelle: Johannes Althusius, Politik. Übersetzt von Heinrich Janssen. In Auswahl hg. und eingel. v. Dieter Wyduckel, Berlin 2003, 23–25; 92–97; 306–309; 330f.; 372; 374; 379. [Der Ausgabe liegt die dritte Auflage der Politica zugrunde.] © Duncker & Humblot GmbH
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2Thess 3,10.
161. Johann Valentin Andreae: Christianopolis (1619) Johann Valentin Andreae, 1586 in Herrenberg (Württemberg) geboren und 1654 in Stuttgart gestorben, war einer der „untergründig einflussreichsten Autoren der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ (Wilhelm Schmidt-Biggemann). Sein Wirken als lutherischer Theologe und Schriftsteller stand im Zeichen der konfessionellen und politischen Spannungen, die 1618 bis 1648 im Dreißigjährigen Krieg ihren gewaltsamen Ausdruck fanden. Neben der Theologie Luthers beeindruckte ihn die strenge Ordnung der von Johannes Calvin geprägten reformierten Kirche, die er bei einer Reise nach Genf kennenlernte. In Weiterführung der „ersten“ Reformation und zur Abwehr der katholischen Gegenreformation suchte Andreae eine „Generalreformation der ganzen Welt“ anzubahnen. Angeregt durch Thomas Morus’ (1478–1535) Utopia entwarf er in seinem bedeutendsten Werk, der 1619 erschienen Christianopolis, das Bild einer idealen Gesellschaft. Andreae wollte damit der katholischen Staatsutopie des Dominikaners Tommaso Campanella (1568–1639) „Der Sonnenstaat“ (1602) eine protestantische Vision entgegensetzen. Die Utopie Andreaes nimmt humanistische Impulse der Kritik an einer unvollkommenen, aber verbesserungswürdigen Welt auf. Anders als Campanellas radikale Gütergemeinschaft und Askese verfolgt sie eine durch christliche Bildung ermöglichte Vervollkommnung des einzelnen Lebens und der Sozialität. In Andreaes Utopie verschlägt es einen Pilger, der sich vor der Tyrannei der Welt auf das „akademische Meer“ flüchtet, auf eine Insel mit der Stadt Christianopolis, die er als Hort der Wahrheit, der Bildung und Güte beschreibt. Der theokratischen Verfassung der Stadt entspricht eine ausgeprägte Brüderlichkeit. Arme gibt es unter den Christenbürger_innen nicht. Die vorbildliche Diakonie zeigt sich im Umgang mit Fremden und in der Pflege der Kranken. Andreaes utopisches Denken strahlte in mannigfacher Weise aus: Johann Amos Comenius (1592–1670) z.B. verstand sich als Schüler Andreaes. August Herrmann Franckes diakonisch-pädagogisches Unternehmen in Halle wurde von Andreaes Reformideen inspiriert (s. Texte 171–174; 176). 97 Fremde und Arme Gegen Fremde, die zu ihnen kommen, sind die Christenbürger ausgesprochen human und großzügig, wofür ich selbst, ein Mann von niedrigstem Stand, ein klares Beispiel bin. Sie haben aber ein Auge dar-
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auf, dass die Bürger von einer etwaigen Zügellosigkeit der Gäste nicht angesteckt werden. Die Niedertracht der Wirtinnen an anderen Orten ist in Christianopolis unerhört und unbekannt und würde andernfalls verflucht werden. Jeder Gast wird für ein, zwei Tage bescheiden unterhalten; ein Verbannter für eine gewisse Zeit ernährt; ein Kranker sehr wohltätig versorgt; einen Armen pflegen sie, solange es nötig ist, und lassen ihn nicht ohne Proviant gehen; sie prüfen Worte und Taten dieser Menschen genau und handeln dann entsprechend. Bettler kennen sie nicht und dulden sie nicht. Ihre Überlegung ist dabei die folgende: Wenn einer schlechthin bedürftig wäre, bräuchte der Staat nicht an seine Pflicht erinnert zu werden, aber soweit kann und darf es auch niemals kommen. Wer gesund ist, ist niemals berechtigt, dem Staat seine Arbeitskraft zu verweigern, mit der er sich einen ausreichenden Lebensunterhalt verschaffen kann. Andernorts wird aber beides vernachlässigt. Nicht selten leiden die Hunger, die schwerste Arbeiten verrichtet haben und, nachdem sie unter der Last zusammengebrochen sind, im Stich gelassen und weggejagt werden. Und umgekehrt kommt es vor, dass einige unanständig genug sind, göttliche Gaben wegzuwerfen und, weil ihr Fleisch verweichlicht ist und sie vor dem Schweiß Reißaus nehmen, sich meist aus der öffentlichen Kasse ernähren lassen. Oder Kindern wird Brot weggenommen und den Hunden vorgeworfen. Das verdanken wir der Welt und ihrer Regel. Der Reichtum dient meist der Gottlosigkeit sowie der Schwelgerei; er hilft nur selten – und dann auf sehr verderbten Wegen – den Gliedern Christi. So gerät er natürlich Betrügern, Marktschreiern, Hausierern, Musikanten und Köhlern in die Finger. Dann mag es so scheinen, als ob Christus auf Geld, das von so einem üblen Besitzer so übel erworben wurde, keinen Wert lege. Unterdessen fehlt Christus aber nichts, um die Seinen zu unterhalten, die auch der Mangel satt macht; und es fehlen auch nicht die, die sich ausziehen und mit ihren Kleidern den Weg auslegen, den Christus wandelt. Ich jedenfalls, der ich die Welt mir gegenüber stets gierig, geizig und gemein befunden habe, habe bei den Christenbürgern gelernt, dass es noch Menschen gibt, die gern um Christi willen und durch Christus alles mitteilen. 98 Kranke Es gibt vielerlei Arten von Krankheiten, weshalb auch unsere fromme Nächstenliebe vielfältig zu sein hat. Die Christenbürger, die es gelernt haben, Seele, Geist und Körper, wenn sie krank sind, zu pflegen und zu trösten, halten sich streng daran, und für alle ist es Pflicht, sich selbst und anderen bei Bedarf helfen zu können. Kranke sind auf die Medizin, die Chirurgie und die Küche in gleicher Weise angewiesen;
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und außerdem sind alle hilfsbereit. Hier räumt nicht der Höhergestellte die Apotheke leer, sodass der Untergebene sich ohne ein schmerzlinderndes Mittel quälen muss. Hier stehen die Ärzte bei den Großen nicht Schlange, während sich bei den Kleinen keiner blicken lässt – obwohl Ärzte in der Welt mehr Reiche als Arme ermordet haben. Hier haben Frauen und Witwen die beste Gelegenheit, ihre Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen; ihnen überlässt der Staat in seiner Humanität die Pflege der Kranken. In Christianopolis gibt es sogar nur zu diesem Zweck Krankenhäuser. Mehr als die sonstigen Mediziner pflegen sie die Kranken aufzumuntern und an ihre frühere Kraft zu appellieren, damit es ihnen nicht am christlichen Mut gebricht; dann ermahnen sie sie zur üblichen Mäßigkeit, damit sie dem körperlichen Aufruhr nicht zu sehr nachgeben; und schließlich stimmen sie sie darauf ein, den medizinischen Anordnungen Folge zu leisten, damit sie nicht vor den Unannehmlichkeiten der Pflege zurückschrecken. Durch diese drei Dinge wird das Kreuz Christi angenommen, auferlegt und getragen. Es ist wunderbar, dass die Krankenschwestern, obwohl eine Seuche wütet, keineswegs das Weite suchen, sondern die Hand Gottes erwarten. Denn wer daran glaubt, dass sein Wille Teil von Gottes Rechnung ist, denkt niemals darüber nach, wie er sich entziehen kann. Ist einer verrückt oder geisteskrank, lassen sie ihn, sofern er erträglich ist, unter sich leben; ist das nicht möglich, verwahren sie ihn auf menschliche Weise. Dasselbe geschieht mit Menschen mit starken Missbildungen. Die Vernunft befiehlt nämlich, dass die menschliche Gesellschaft zu denen, die die Natur stiefmütterlich behandelt hat, besonders wohltätig sei; schließlich hat auch Gott uns nicht so, wie er uns will, sondern nimmt uns in seiner unendlichen Milde und Geduld so, wie wir sind. Quelle: Johann Valentin Andreae, Reipublicae Christianopolitanae descriptio/Beschreibung der Stadt Christianopolis, in: Johann Valentin Andreae, Gesammelte Schriften, Bd. 14, bearbeitet, übersetzt und kommentiert v. Frank Böhling/Wilhelm Schmidt-Biggemann, Stuttgart-Bad Cannstadt: fromann-holzboog 2018, 86–417: 397–403. © frommann-holzboog
162. Johann Gerhard: Diakone und Diakonissen (1619) Johann Gerhard gilt als bedeutendster Vertreter der lutherischen Orthodoxie. Gerhard wurde 1582 in Quedlinburg geboren, studierte in Jena und Marburg Theologie und wurde 1606 von Herzog Johann Casimir von Coburg (1564–1633) zum Superintendenten von Heldburg und 1615 zum Generalsuperintendenten von Coburg berufen. 1616 nahm er eine Berufung durch die Universität Jena an, wo er bis zu seinem Tod 1637 lehrte. Johann Gerhards Hauptwerk sind die Loci theologici, die in neun Bänden zwischen 1610 und 1622 in Jena erschienen. Die Loci sind die umfassendste lutherische Dogmatik. In ihr tritt Gerhards Verständnis von Theologie als praktischer Wissenschaft deutlich hervor. Die folgenden Abschnitte sind dem ersten Teil des 1619 erschienen sechsten Bandes der Loci theologici entnommen. Johann Gerhard stellt darin sein Verständnis des kirchlichen Amtes dar (De Ministerio ecclesiastico). In Abgrenzung gegenüber der katholischen Theologie einerseits und dem Täufertum und der antitrinitarischen Bewegung des Sozianismus andererseits begründet er die Notwendigkeit des Amtes für die Kirche und charakterisiert es als Dienstamt. Typisch für Gerhard – und die Orthodoxie – ist es, dass mit großem Nachdruck die öffentliche Berufung in das kirchliche Amt herausgestellt wird. Am Beispiel der Diakone ist dies augenfällig. Der einschlägige Auszug lässt auch erkennen, dass Johann Gerhard einerseits eine gestufte Ordnung des Amtes – Diakon, Pfarrer, Bischof – geltend macht und damit eine Hierarchie in die lutherischen Kirchen einführt. Andererseits hält er aber an der fundamentalen Einheit des Amtes fest. Er schreibt den Diakonen zwar primär soziale Aufgaben zu; zugleich aber haben die Diakone nach Gerhard Teil am Dienst des Wortes. Undenkbar ist für Johann Gerhard die Zulassung von Frauen zum öffentlichen kirchlichen Amt. Phöbe gilt ihm als Diakonin im Sinne einer Fürsorgerin, die aber anders als die Diakone nicht teilhat am Amt der Lehre und Verkündigung. 92. […] Act 6, V. 3 sagt Petrus, als die Diakone zu wählen waren, zur ganzen Menge der Jünger: Brüder, macht unter euch sieben Männer mit gutem Ruf ausfindig, die voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wollen wir zu diesem Dienst bestellen. V. 5 Und ihre Rede gefiel der ganzen Menge gut, und sie wählten […] Stephanus und Philippus etc. V. 6 Diese stellten sie vor das Angesicht der Apostel und beteten und legten ihnen die Hände auf. Dabei beachte: 1. Petrus und die
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Apostel übertrugen den Auftrag der Einsetzung der Diakone der ganzen Kirche. 2. Die Kirche billigte diesen Plan der Apostel. 3. Die Wahl der Diakone geschah nicht allein durch die Apostel, sondern die ganze Kirche. 4. Nicht allein die Apostel, sondern auch die Ältesten legten ihnen im Namen der übrigen Kirche die Hände auf; dieses letzte Element schließen wir aus 1Tim 4, V. 14: Lass nicht außer Acht die Gabe, die dir durch Handauflegung des Presbyteriums gegeben ist, wobei mit Presbyterium nicht nur diejenigen gemeint sind, die mit dem Wort arbeiten, sondern auch die Ältesten, die statt der übrigen Kirche das Amt wahrnehmen. Es ist wahrscheinlich, dass dies bei der Wahl der Diakone beachtet wurde. Aber selbst wenn sehr wohl einzuräumen wäre, dass allein die Apostel den Diakonen die Hände aufgelegt hätten, so entfällt dennoch nichts von unserem Argument, dass durch diese Handauflegung auch zugleich beglaubigt wurde, sie hätten diese Wahl der Diakone als durch die Zustimmung der Kirche vollzogene angesehen. […] Wir verbinden aber mit diesem Beispiel diese apostolische Regel, 1Tim 3, V. 7: Ein Bischof muss aber auch einen guten Ruf haben bei denen, die draußen sind. Dasselbe sagen wir hier von den Diakonen, dass es nötig sein dürfte, dass sie einen guten Ruf bei der Gemeinde haben. Es war also nicht nur ein Zugeständnis, sondern um der Notwendigkeit der Übereinstimmung willen wurde auch ein Urteil der Gemeinde gefordert, damit zumindest nach ihrem Zeugnis etwas über die Personen feststünde, die in den Diakonat gewählt werden sollten […]. Wenn nämlich bei der Wahl der Diakone, deren Amt vor allem in der Verteilung von Lebensmitteln und in der Fürsorge für den Unterhalt des Leibes besteht, die Abstimmung des Volkes nicht ausgeschlossen war, umso weniger darf sie dann bei der Berufung der Pastoren, denen die Seelsorge obliegt, ausgeschlossen werden. Und das Argument wird dadurch bekräftigt, dass bei der Einrichtung des Presbyteramtes Act 14, V. 23 derselbe Prozess von den Aposteln beachtet worden ist. Aber es ist falsch, dass die Diakone nur Vorsteher der Tische gewesen sind. Wir haben vielmehr vorher am Beispiel des Stephanus und Philippus gezeigt, dass sie auch das Amt der Lehre wahrgenommen haben. 186. Es wird gefragt […]: Ob auch Frauen zum kirchlichen Amt zuzulassen sind? […] Röm 16, V. 1 wird Phöbe diakonos oder Dienerin der Gemeinde von Kenchreä genannt, durch die Paulus seinen Brief an die Römer von Korinth aus schickt. Hiermit ist nun wahrlich kein öffentliches Amt des Lehrens in der Kirche anzunehmen, sondern es handelt sich um die Fürsorge für Kranke, Arme und Fremde.
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Diakone und Diakonissen
1Tim 3, V. 11 werden Diakonissen erwähnt. Diesen Text missbrauchten einst die Kataphryger1 und Pepuzianer2 und räumten Frauen das Priesteramt ein, die Diakonissen genannt wurden, wie Augustin in haer. c.273, Epiphanius haer. 794 berichtet. Wie sie nämlich Männer zu Diakonen bestellten, so Frauen zu Diakoninnen. Aber Paulus handelt hier nicht von Diakonissen im Sinne des kirchlichen Amtes, sondern von den Frauen der Diakone. Denn privat können und müssen fromme Frauen eine familiale und häusliche Gemeinde einrichten. Zu unterscheiden ist also 1. zwischen Kirchenämtern im Allgemeinen und dem Amt des Lehrens im Besonderen, 2. zwischen einer öffentlichen Einrichtung und einer privaten oder häuslichen, 3. zwischen der gewöhnlichen Regel und dem außergewöhnlichen Fall der Notwendigkeit. Quelle: Ioannis Gerhardi Loci theologici, cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati, Tomus Sextus, hg. von Eduard Preuß, Berlin 1868, 62; 125f.
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Kataphryger=Montanisten, christlich-prophetische Bewegung seit 160 in Kleinasien. Der aus Phrygien stammende Gründer Montanus trat mit dem Anspruch auf, der von Christus im Johannesevangelium verheißene Paraklet zu sein. Er wurde von zwei Frauen begleitet, die als Prophetinnen in Erscheinung traten. 2 Pepuzianer: Bezeichnung der Montanisten nach dem phrygischen Ort Pepuza, an dem das neue Jerusalem auf die Erde herabkommen sollte. 3 Augustin, Liber de haeresibus. 4 Epiphanius, Panárion (Adversus haereses).
163. Johann Gerhard: Von der politischen Obrigkeit (1619) Johann Gerhard hat seine Auffassung vom Staat und den staatlichen Aufgaben am ausführlichsten in Locus 24 „De Magistratu politico“ (Von der politischen Obrigkeit) im sechsten Band seiner Loci theologici entfaltet. Zweck der politischen Obrigkeit – so der lutherische Theologe – ist die Herstellung und Bewahrung des Gemeinwohls. Der Gemeinwohlgedanke meint dabei einen wohlgeordneten inneren Zustand des Gemeinwesens, der sich in fundamentaler Weise am Naturrecht und den im Dekalog (10 Gebote) niedergelegten göttlichen Gesetzen orientiert. Drei Felder der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die Gerhard umreißt, verdienen besondere Beachtung: Maßnahmen in Bezug auf die Bettler, die Errichtung von Asylen und die Erlaubnis des Zinsnehmens. Im Blick auf die Bettler ist für Gerhard die herkömmliche Unterscheidung zwischen Arbeitsfähigen und Nichtarbeitsfähigen maßgeblich. Er fordert mit Nachdruck staatliche Finanzierung und Fürsorge für Arme, die nicht arbeiten können. Als Lutheraner treibt er damit die Ausgestaltung obrigkeitlicher Sozialverantwortung voran (s. Texte 130; 148). Der Staat soll entsprechende soziale Einrichtungen schaffen. Die Finanzierung soll durch staatliche Mittel erfolgen, in die auch kirchliche Kollekten einmünden. Gegen Müßiggänger hingegen soll der Staat mit gesetzlichen Mitteln vorgehen. Mit biblischen Gründen und Beispielen aus der antiken Staatlehre befürwortet Johann Gerhard die Einrichtung von Asylen für unschuldig Verfolgte und als Schutzräume in Kriegszeiten. Besondere Beachtung verdient Gerhards Haltung zur Zinsfrage. Im Unterschied zu der bis dahin zinskritischen lutherischen Tradition spricht er sich für einen gesetzlich festgelegten Zinsfuß von 4 bis 5 % aus, wenn Geld verliehen wird, um Geschäfte zu machen. Dabei macht er zwei soziale Ausnahmetatbestände geltend: Zum einen sollen „äußerst arme Leute“ Almosen erhalten. Zum anderen sollen diejenigen, die sich in einer augenblicklichen Notlage befinde, zinslose Darlehen bekommen. 228. Es wird gefragt 4. Ob Bettler im Gemeinwesen zu dulden sind? Es gibt zwei Arten von Bettlern. Denn einige können entweder wegen ihres Alters oder aufgrund von Krankheiten mit eigenen Händen nicht arbeiten und werden notwendigerweise dazu veranlasst, Geld zusammenzutreiben; einige aber, immer noch im Besitz starker Kräfte, aber an der Krankheit der Trägheit und Sorglosigkeit leidend, wollen ihren
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Lebensunterhalt lieber durch Betteln erwerben als durch ihrer Hände Arbeit. [...] Was die erste Art Bettler angeht, so ist es durch das göttliche und natürliche Recht gänzlich gefordert, ihnen Wohltaten zu erweisen, obgleich es besser wäre, dass durch die Fürsorge des Staates in jedem Staat Armenhäuser errichtet würden, in denen Bettler ernährt würden, ebenso Waisenhäuser, Hospitäler, Altenhäuser, Fremdenhäuser etc. und ausgewählte Männer eingesetzt würden, die aus der Staatskasse, in die von Einzelnen in Gottesdiensten Almosen einzubringen wären, die Armen unterhalten sollten [so] wie jene, die auf den Straßen unstet umherirren und bekümmert nach Almosen suchen. 1. Auf diese Weise nämlich könnte erkannt werden, ob auch jeder von so großer Not gedrückt wird, und jene, die nicht arbeiten wollen, könnten von jenen, die nicht arbeiten können und der Almosen würdig sind, unterschieden werden. 2. Jenes Betteln der umherschweifenden Menschen ist eine öffentliche Schande für die Christenheit und ein klarer Beweis, dass die Nächstenliebe und der Eifer, für die Armen etwas auszugeben, allzu sehr erlahmt ist. 3. Viele haben mit äußerster Armut zu kämpfen und lassen sich inzwischen aus Scham daran hindern, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und um Lebensunterhalt zu bitten, für jene könnte durch die Fürsorge der Obrigkeit gesorgt werden. 4. Einige Bettler werden von Geschwüren, Epilepsie, Lepra, Pest oder anderen grässlichen Krankheiten befallen, jene irren durch die Straßen und ziehen andere leicht in dieses Übel mit hinein, was verhütet werden könnte, wenn die Bettler aus der Staatskasse unterhalten würden. Es gibt Leute, die sich dazu auf das beziehen, was bei Moses in Dtn 15,4 gesagt ist: „Es wird überhaupt kein Bedürftiger und Bettler unter euch sein“ […]. Bettler der danach genannten Art sind im Staat nicht zu dulden, 1. weil sie den wirklich Armen das Lebensnotwendige wegschnappen, was jene sich nämlich zu nehmen gezwungen sind, diese rauben es. 2. Diese an das freiwillige Betteln Gewöhnten gehen leicht zu Diebstahl und Raub über […]. 229. Es wird gefragt 5. Ob Müßiggänger im Staat zu dulden sind? Jene sind nicht zu dulden, sondern es sind Gesetze gegen jene durchzusetzen: […] weil Müßiggang viele Übel lehrt, die den Staat in Unruhe versetzen […]. 231. An dieser Stelle wird gefragt 1. Ob Asyl zu gewähren ist? […] 6. Öffentliches Wohl. In Friedenszeiten gewährt das Asyl Sklaven, die mit allzu großer Härte ihrer Herren geknechtet werden, Zuflucht […],
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ebenso Angeklagten, die sich vor dem Zorn des Richters oder der Gewalt des Gegners fürchten, die in einem noch unentschiedenen Prozess gefährdet sind, die von Schulden gedrückt werden, jenen, die unabsichtlich einen Menschen getötet haben etc. In Kriegszeiten, wenn ein Staat erobert wird und sich keine Hilfe zeigt, nehmen die Bedrängten Zuflucht zu den Tempeln, um sich zu retten. Jedoch muss zwischen Vergehen aus freiem Antrieb und unfreiwillig geschehenen Vergehen unterschieden werden, zwischen offenkundigen und streitigen Vergehen, diejenigen, die Vergehen der zuerst genannten Art begangen haben, darf das Privileg des Asyls nicht freistehen. Ex 21,14: Wenn jemand seinen Nächsten vorsätzlich tötet, sollst du ihn von meinem Altar wegreißen, dass man ihn töte. [...] 232. Es wird gefragt 2. Ob in einem Staat Zinsen zu dulden sind? [...] 233. [...] Es gibt drei Arten von Menschen, mit denen wir es in der bürgerlichen Gesellschaft zu tun haben und die Geld von uns begehren – entweder wegen ihrer Notlage oder zu ihrem Wohl. Zuerst gibt es gewisse äußerst arme Leute, die nichts haben, wovon sie leben sollen, sondern, bis an die äußerste Grenze der Armut gebracht, nicht einmal das auf Zinsen ausgeliehene Geld bezahlen können; jenen werden Almosen geschuldet, dies ist jenen auf diese Weise zu gewähren, dass man durchaus nichts davon erhofft, Lk 6,35; die linke Hand soll nicht wissen, was die rechte tut, Mt 6,3. Dann gibt es gewisse Bedürftige, die wegen des notwendigen Lebensunterhaltes vorübergehend eine Geldsumme benötigen, mit der sie allerdings nicht Gewinne machen und Geldgeschäfte treiben, sondern einer gegenwärtigen Notlage abhelfen wollen; jenen wird eine unentgeltliche Dienstleistung eines Darlehens geschuldet, dies ist jenen auf diese Weise zu gewähren, dass das Geld zwar zu einem festgesetzten Zeitpunkt zurückgefordert werden soll, aber wegen des Bedarfs des Geldes soll nichts weiter gefordert werden, Lev 25,35; Ps 37,21. etc. Schließlich gibt es gewisse Vermögende, die Geld von uns begehren, nicht wegen irgendeiner bedrängenden Notlage, sondern um mit unserem Geld Geschäfte zu machen, Gewinne zu machen, Grundbesitz und Güter zu erwerben; mit jenen ist es erlaubt, einen solchen Vertrag zu schließen, dass sie jährlich vier oder fünf Prozent Zinsen zahlen, jedoch mit lebenslanger Rückforderung des Geldes. 234. Wir aber führen folgende Lehren an: 1. In Hinsicht auf naturgemäße Gleichheit. 1. Unser Erlöser Christus hat die Vorschrift der naturgemäßen Gleichheit mit dieser auch authentischen Regel zusammenfassend darge-
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stellt: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch, Mt 7,12. 235. 2. Von der christlichen Nächstenliebe. 1. Der Apostel schreibt in 2Kor 8,13 diese Regel der Nächstenliebe vor, dass anderen Wohltaten in der Weise zu erweisen sind, dass nicht ihnen dadurch Erleichterung widerfährt, uns aber Schädigung, sondern dass ein Ausgleich herrscht. Obwohl in der Tat diese Regel scheinbar dabei einer Almosen gebenden Wohltätigkeit angenähert wird, ist sie dennoch an und für sich allgemein, belehrend, sich anderen so als wohltätig zu erweisen, dass uns oder unseren Angehörigen daraus kein außerordentlicher Schaden entstehen soll. [...] Wenn aber jemand zufälligerweise, unerwartet und unvermeidlich in die Mittellosigkeit getrieben werden sollte, dann soll die christliche Nächstenliebe gleichsam als Richtung gebende Lenkerin aller Verträge in einem christlichen Staat die Vermittlerrolle übernehmen und mit Rücksicht auf die Umstände gebieten, dass dem Schuldner jener jährliche Zins oder sogar auch das Geld zu erlassen ist, wenn zum Beispiel Menschen der dritten Klasse zur zweiten Klasse gelangen, dann soll ihnen gegenüber das Darlehen umsonst sein, wenn sie in die erste Klasse gelangen, müssen Almosen helfen, weit entfernt, jenen einen jährlichen Zins abzufordern. Quelle: Ioannis Gerhardi Loci theologici, cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati, Tomus Sextus, hg. von Eduard Preuß, Berlin 1868, 385–391; 551f. Übersetzung: Maria Schöffel.
164. Johann Valentin Andreae: Gründungsstatuten des Färberstifts in Calw (1621) Johann Valentin Andreae entwarf nicht nur das Ideal einer christlichen Gesellschaft (s. Text 161), sondern versuchte auch, seinen utopischen Vorstellungen konkret Gestalt zu verleihen. Ein Beispiel seiner sozialen Organisationsfähigkeit ist das sog. Färberstift in Calw (Schwarzwald). Andreae kam 1620 als Pfarrer und Superintendent (Dekan) nach Calw, das durch seine florierende Wollproduktion eine der wirtschaftlich bedeutendsten Städte im damaligen Württemberg war. Zugleich kamen die Spinnerinnen und Weber nicht aus ihrer Armut heraus. Andreae initiierte 1621 die Gründung einer christlichen, Gott liebenden Gesellschaft, einer Bruderschaft oder Sozietät, die sich Aufgaben der Bildung, der Hilfe für Arme, Kranke und Behinderte sowie der Erhaltung kirchlicher Gebäude verschrieb. Die Maßnahmen der Stiftung sollten die obrigkeitlichen Verantwortlichkeiten gezielt ergänzen. Die zunächst aus 13 Männern bestehende Gesellschaft rief eine Stiftung ins Leben, die später Färberstiftung genannt wurde, weil vor allem wohlhabende Färber an ihrer Gründung beteiligt waren. Das Grundvermögen betrug 7100 Gulden. Andreae selbst übernahm die Verwaltung der Stiftung. Die Färberstiftung bestand bis 1923. Die Auszüge aus den Gründungsstatuten des Färberstifts dokumentieren die Motive der Stifter und die Zielsetzungen der Stiftung. Die privat organisierte Unternehmung sucht ein praktischen Christentum zu profilieren, das der Nachfolge Christi entspricht und an der Förderung des Reiches Gottes bzw. Christi orientiert ist. Umrisse einer durch brüderliche Handreichung gekennzeichneten Gesellschaft werden sichtbar. Dankbarkeit, die sich im Engagement für andere äußert, und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums treten besonders hervor. Zugleich zeigen sich die Stifter aber auch darauf bedacht, sich selbst und ihre Nachkommen für den Fall der Not abzusichern. In dem Namen der allerheiligsten, unteilbaren Dreifaltigkeit, Gottes des Vaters, des Sohns und des Heiligen Geistes, die eins waren, des ewigen und dreieinigen Gottes, der Himmel und Erde und alles, was lebt und schwebt, durch sein allmächtiges Wort erschaffen und gemacht hat. Amen. Wir Nachbenannten, mit Namen M. Johann Valentin Andreae, Pfarrer und Spezialsuperintendent zu Calw, desgleichen Christoph Demmeler, Ludwig Kleinbueb, der Jüngere, Peter Walltter, der Ältere, Jo-
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hann Jacob Dörttenbach, Jacob Schill, Jacob Zahn, Hanns Schauber, Michels Sohn, Gregorius Demeler, Hans Jacob und Hans Georg, die beiden Gebrüder Stuber, Joseph Geisel und Jacob Israel Metzger, Stadtschreiber, alle Bürger zu besagtem Calw, bekennen und tun mit diesem öffentlichen Instrument möglichst vielen, die dies selbst lesen oder hören, kund: Nachdem wir von unserm obersten Haupt, Erlöser und Seligmacher Jesus Christus, welchem samt dem Vater und dem heiligen Geist deshalb ewiges Lob, Preis und Dank gesagt sei, so hoch geadelt und gewürdigt worden sind, dass wir seinen Namen auf Erden tragen und nach ihm Christen, das ist, Begnadete und Gesalbte Gottes, geheißen und genannt werden sollen, solcher Name aber das beste, vernünftigste, ehrbarste und gleichsam vollkommenste Leben erfordert, da nicht nur die Erkenntnis und das Bekenntnis Gottes und seines heiligen Wortes, rein und lauter, der Gebrauch beider Sakramente, Geheimnisse, Verbindung und Gnadenzeichen in Übung und Verehrung wie nicht weniger die Absonderung von allem Irrtum und Ketzerei offenbar, sondern auch das Leben und der Wandel so dargestellt werden, dass Christus durch den Glauben in und außer uns sich hören, sehen und greifen lässt, dass wir in Christus und durch Christus lieben, leiden, fasten, beten, hoffen, glauben und über und auch wider die Vernunft Gott gehorchen, der Welt zuwider gehen, unser Fleisch bezähmen, dem Geist Platz und Raum in unseren Herzen machen. So wird es ja eine unvermeidbare Not sein, dass wir zuerst unsere Schuldigkeit nimmer vergessen, dann auch einander zu einer solchen Christenzucht ermahnen, abrichten, antreiben und erhalten wider die listigen Anschläge des Teufels, die spöttischen Nachreden der bösen, verkehrten Welt, die hartnäckige Ungeschicklichkeit unseres Fleisches und Behutsamkeit, Großmütigkeit und emsige Übung untereinander treiben. Denn so viele Weltkinder in ihrem Geschlecht wissen einander in aller Bosheit und Weltkniffen abzurichten, warum wollten die Kinder des Lichts und rechte Brüder Christi es unterlassen, eines dem anderen zu rechter himmlischer Beständigkeit, himmlischer Ergötzlichkeit und dergleichen zu vermahnen und aufzumuntern und die Nachfolge Christi in solchen Gang und Schwang zu bringen, dass die Welt darüber die Zähne zusammenbeißen, die lieben Engel aber im Himmel samt dem ganzen heiligen Heer sich zu erfreuen haben? Wenn nun dieser Grund gelegt ist, dass wir aus Schein- und Maulchristen zu rechten, wahren, lebendigen, tätigen Christen erzogen werden und so Gottes Wort mit seinem Saft, Kraft und Nachdruck unter uns wohnt, dass wir anfangen, nicht nur Gottes Wort zu hören, sondern auch ihm zu folgen, da bedarf es keiner Kunst und keines Nachsinnens, wie man das äußerlich und zeitlich so anlege, dass die Liebe des Nächsten allenthalben den Vorzug habe. Denn wo ein Christ des anderen be-
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darf, da ist ein jeder, der die hierzu notwendigen Mittel von Gott empfangen hat, schuldig und auf das Höchste verbunden, alles nach äußerem Vermögen darauf auszurichten, dass Gott durch uns wirken und Gutes schaffen möge, die Seinen zu speisen, tränken, kleiden, trösten, beschützen, unterrichten oder auf andere Wege ihnen Gnade zu erweisen. Denn dies ist wahrlich des Menschen größte Ehre, wenn er Gottes Spenditor und Austeiler werden kann und er in solchem Amt getreu, willig, mild, freudig und arbeitsam erfunden wird, zumal nichts in dieser Welt unser, alles aber Gottes Eigentum ist und in anderen Gestalten nicht zu Nutzen und zu einem beständigen Schatz kommen kann, es werde denn durch den Willen und die Verordnung Gottes an einem gebührenden und rechtmäßigen Ort beigelegt und verwahrt. Wir bezeugen zuallererst vor Gott und der ganzen Welt, dass wir mit unserer nachfolgenden Disposition und Verordnung nicht uns selbst oder unsere eigene Ehre und eigenen Nutzen, sondern einzig und allein Gott und was göttlich ist, suchen, meinen und begehren, auch allen Fortgang und ersprießlichen Nachdruck Gott und seiner Liebe zu uns armen, unwürdigen und untüchtigen Kreaturen zuschreiben. […] Hierauf nun haben wir unsere Intention und unser Vorhaben in den Rahmen der hochgelobt-gebenedeiten Dreifaltigkeit gestellt, um einen gottseligen Anfang zu machen, haben wir uns zuförderst sämtlich zur Propagierung und Fortpflanzung der Ehre und Kirchen Gottes, Erhaltung und Förderung guter Polizei und Ehrbarkeit, mitleidender Hilfe und Handreichung der Armen und Kranken, Beratung und Aufmunterung der lieben Jugend wie auch Kontinuierung und Fortplanzung der Studien derselben und der freien Künste für uns, unsere Erben und Nachkommen in einer vertrauten, christlichen, Gott liebenden, Schaden abwendenden Gesellschaft und Vereinigung mit Mund, Herz und Hand verbunden und eingelassen. […] Hierauf aber bei dieser unserer wohlgemeinten, getreuen Fundation sollen folgende Punkte und Artikel von uns, unseren Erben und Nachkommen zu ewigen Zeiten und Tagen in stetig immerwährender Observanz und Obacht gehalten und selbige soll unserem Nächsten zu Nutz und Gutem, dahin diese unsere Disposition vornehmlich intendiert und angesehen, kontinuierlich praktiziert, propagiert und fortgepflanzt werden. […] 2. Kapitel Von mitleidener Hilfe und Handreichung gegen die Armen. Nachdem in dieser Welt nichts verlasseneres und hilfloseres ist als arme Witwen, Waisen und verlebte kraftlose Leute, denen zumal Nahrung, Trost, Schutz, Ehre und fast alles Zeitliche entfallen sind, daneben aber unser christlicher Glaube und die Liebe sind, erfordert
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es unseres Gottes ernstliches Gebot, dass wir uns der Betrübten, Geängsteten und Verlassenen nach unserer Möglichkeit solchermaßen annehmen sollen, wie wir, wenn ein Gleiches, was der Allmächtige in Gnaden verhüten wolle, unserem lieben Weib und unseren Kindern wider alle Hoffnung begegnen sollte, wünschen und begehren möchten, dass ihnen auch nicht anders mitleidend geholfen würde, wiewohl auch zu Teuerung und Hungerszeiten eine weise, vernünftige Obrigkeit wegen der Armen gebührende und solche Ordnung verfüge, damit man sich untereinander vertrage und so viel als möglich der äußersten Not entfliehen möge. Hierin kann aber allerlei Ungleichheit schwerlich verhütet werden und doch ist gemeinhin bei so schwierigen und trübseligen Zeiten und Läuften der Mangel so groß, dass er sich eigentlich und nach seiner Schwere nimmermehr berechnen lässt, deshalb wollen wir, die wir durch Gottes Geist und Prediger darüber unterrichtet sind, allem, was in unserem Vermögen ist, eher entraten können und dürfen als der christlichen Liebe, entweder selbst oder aber durch etliche aus unserer Mitte, welche wir genügend zu bevollmächtigen gesinnt sind, einige Mal im Jahr und so oft es die Notdurft erfordert, bevor teure und klamme Zeiten kommen, reiflich deliberieren, erwägen und beratschlagen, was für Arme von Witwen, Waisen, alten betagten Leuten, Kranken, Notdürftigen, Sechswöchnerinnen und dergleichen, denen um Gottes und ihrer Armut willen Hilfe und Handreichung zu leisten ist, allhier sich aufhalten, und was einem und dem anderen nach Beschaffenheit der Person, des Alters oder der Armut zu erteilen ist, oder aber je nach Gelegenheit der Sachen einem oder zwei aus unserer Mitte von dem Einkommen dieser Fundation (jedoch mit unserem jedes Mal vorhergehenden Konsens und Einwilligung) eine gewisse Summe Geldes unter die Hand zu ordnen, welcher dieser an notleidenden Orten nach Befindung des Mangels und Beschaffenheit der Personen nützlich und wohl austeilen und anlegen soll, dabei dann in Sonderheit vor anderen unserer nächsten Verwandten und Befreundeten, für den Fall, dass einer oder der andere dessen bedürftig und würdig ist (darauf diese unsere Fundation vornehmlich und zuerst zielt), in bestem gedacht werden soll. Dieser Punkt auch zur Erhaltung der Armen soll von uns, unseren Erben und Nachkommen (was wir ihnen hiermit bei Beschwerung ihrer Gewissen ernstlich befohlen haben wollen) beständig gepflanzt und fortgesetzt werden. 3. Kapitel Wie gegenüber armen Kranken mitleidend zu verfahren ist. Demnach auch manchmal bei Leuten, die sonst von ihrer Handarbeit der Nahrung nicht ungewiss sind, aber wenn sie mit Krankheit und Leibesschmerzen von Gott heimgesucht werden, großer Mangel entweder an notwendiger Pflege oder tauglicher Arznei und Hilfsmittel
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aufkommt, solches aber, wie mir als Spezialsuperintendent und den Predigern am besten bewusst ist, vor anderen ein elender Anblick und äußerste Not ist, […] als wollen wir vermittels des göttlichen Beistands auch hierin unser christliches Mitleiden und Erbarmung erzeigen und, solange uns Gott das Leben verleiht, jedes Mal diese Anordnung verfügen, dass nach Gelegenheit der Zeiten und der Armut, besonders wenn durch Gottes Verhängnis die Erbseuche der Pest regieren, grassieren und einreißen würde, von dem uns vorgemeldeten Hauptgut jährlich anfallenden Zins (denn die Hauptsumme soll zu ewigen Zeiten und Tagen ungeschwächt und geschmälert verbleiben, ja, wo möglich, von Jahr zu Jahr noch gestärkt werden) durch etliche aus unserer Mitte den armen Kranken für die notwendige Pflege und Arznei ein gebührendes Ergiebiges darreichen, hiermit auch vermittelst der Gnade Gottes manch durstiges, hitziges, geängstetes Herz erquicken und erlaben lassen. Dahin wir dann unsere Kinder und Nachkömmlinge, damit sie zu dessen wirklicher, beständiger Fortsetzung an ihrem getreuen, möglichen Fleiß im geringsten nichts ermangeln lassen, sondern sich vielmehr die Not und Anliegen des Nächsten um Christus, unseres Erlösers, willen, angelegen sein lassen, durch Gott treuherzig erinnern, bitten, ermahnen und flehentlich ersuchen, da ihnen dasselbe bei Verlust, Privierung und Entsetzung dieser wohlgemeinten Fundation, was einem jeden ungetreuen, kargen und filtzigen [geizig] begegnen soll, mit allem Ernst mandiert, befohlen und auferlegt haben wollen. […] 6. Kapitel Von Hilfe und Handreichung der armen Bedürftigen, die entweder ihr Handwerk vollkommen erlernt und dieses aufgrund von Armut nicht betreiben oder aber kein Vermögen haben, ein ehrliches Handwerk zu erlernen. Nachdem es vielfältig geschieht, dass sich ein frommes, redliches, arbeitsames Gemüt aufgrund augenscheinlicher Armut seiner Eltern oder Angehörigen in die Fremde begeben, daselbst allerlei Ungemach, Hunger und Kummer erdulden und ausstehen, auch hierüber seinen Angstschweiß und Rückenschmalz anwenden muss, danach aber von dem allreichen Gott vermittelst seines Gebots und angewandter Mühe und Arbeit mit Gnaden angesehen ist und es zu Nahrung, Ruhe und Segen gebracht hat und so sein vielfältiges Seufzen und Flehen väterlich erhört worden ist, da ist es dann billig und recht und auch vor Gott die höchste Schuldigkeit, andere in gleicher Notlage noch steckende aufrichtige Gesellen in gute Obhut zu nehmen, ihres Mangels sich vernünftig anzunehmen und diesen so unverdrossenen und wohlgemuten Arbeitern die Hände zu bieten. Dies alles haben wir aus treuherzigchristlichem Gemüt als hoch notwendig erachtet, reiflich zu erwägen
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und ersprießliche Mittel vor und an die Hand zu nehmen – mit dem schlussendlichen Ziel, sowohl in der angezeigten Form den ledigen Personen, die in oben genannter Weise qualifiziert oder disponiert sind, wie auch verheirateten Gesellen, die ihr aufrichtig, redlich und wohl erlerntes Handwerk gerne betreiben wollen, jedoch aber aufgrund großer Armut mit diesem nicht fortkommen können und schließlich unserer Förderung zu ihrem Glück bedürfen – in Erinnerung unseres hiervon mehrmals erlittenen Mangels und schuldiger Dankbarkeit gegenüber allen unseren Wohltätern und Förderern – durch Zusprechung und Zugabe eines bestimmtes Geldes. […] 7. Kapitel Von Aussteuerung und Verheiratung armer, gottseliger Waisen und anderer verlassener lediger Personen, die ohne Vermögen sind. Wir haben es auch dem Allmächtigen zu schuldiger Dankbarkeit nicht zu unterlassen, wo ledige Personen in Zucht und Ehren, auch allerseits von gutem Leumund und Zeugnis, einander ehrlich suchen und begehren und sie zum Vollzug ihres christlichen Vorhabens, auch zur Errichtung einer gottseligen Haushaltung zwar ehrlich, redlich und arbeitsam sind, aber an Hab und Gut großen Mangel erleiden würden, da ihnen dann etwa mit wenigem Geld nicht nur ein guter Anfang, sondern auch ein rechter Grund für ein zukünftiges nützliches Hauswesen gemacht und andererseits viel schädliche Einbußen und große Verstrickungen, deren Junge ihr Lebtag entgelten müssen, auch eine dann erfolgende Leichtfertigkeit verhütet werden möchte, dass es alsdann unserer christlichen Meinung abermals angemessen erscheint, zur Errichtung alles dessen, was der leidige Teufel gern verhindert, solchen jungen Leuten – nach Beschaffenheit dessen, was ihnen fehlt, auch nach Gelegenheit dieser Stiftung, was jedes Mal in unsere und unserer Nachkommenschaft treuherzige Erwägung gestellt ist – mit einem genannten Geldlein von sechs, acht oder zehn Gulden, weniger oder mehr, entweder leihweise oder um Gottes Willen dergestalt geholfen werde, damit sie in künftiger Zeit nicht allein unser im besten gedenken, sondern vermittels göttlichen Segens noch Ursache haben, anderen Ihresgleichen in vergleichbarem Zustand zu helfen und beizuspringen. […] 10. Kapitel Wie fromme, gottesfürchtige Kinder, die durch Armut oder Unachtsamkeit ihrer Eltern von der Schule abgehalten werden, aus dieser Stiftung mit dem Schulgeld begabt werden sollen. Weil es auch in dieser bösen, verkehrten Welt leider geschieht, dass viele fromme Kinder durch Armut oder Unachtsamkeit ihrer Eltern, Pfleger und Freunde von den Schulen abgehalten werden und ent-
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sprechend weniger von Christus und dem Ewigen hören und erfahren und dies hernach ihr Lebtag bezahlen, wir aber unserem getreuen Erlöser und Seligmacher verpflichtet sind, viel und so viel wie möglich, ohne Zahl, zu dem Reich Gottes zu befördern und zu bringen, so wollen wir vermittels der Gnade Gottes auch in diesem Stück das Werk der Liebe erscheinen lassen und diese Verordnung tun, dass dergleichen Kinder, wenn wir sie in Erfahrung bringen, auch ohne Ansuchen ihrer unbesonnenen Eltern oder Verwandten zur Schule gewiesen werden und das Schulgeld von dem Einkommen dieser unserer Fundation zu reichen übernommen wird. Den Nutzen davon werden sie dann später mit den Jahren und mit vollkommenem Alter empfinden, und schuldige Dankbarkeit wird sich bei ihnen einstellen, oder sie werden vielmehr im ewigen Leben unaufhörlich Freude und Ehre genießen. Dies werden auch unsere Erben und Nachkommen zu ewigen Zeiten und Tagen zu kontinuieren und in getreuer Obacht zu halten wissen. 11. Kapitel Wie unvernünftigen, mit Wahnsucht, Blödheit oder schweren Leibesgebrechen beladenen Personen von dem Einkommen dieser Stiftung mitleidend zu helfen ist. Wenn nach dem unerforschlichen Rat Gottes ein Mensch mit Unvernunft, Wahnsucht, Blödheit oder sonst anderer schwerer Leibesgebrechlichkeit belegt und also zur Gemeinschaft mit anderen verständigen und gesunden Menschen untauglich wäre, welches dann sowohl für sich selbst ein beschwerlicher bemitleidenswerter Zustand als auch für die Eltern und Anverwandten eine schmerzliche Bürde ist, so soll hierin – zu schuldiger Erkenntnis der hohen Gaben unseres Verstandes, Sinnes und ganzer, wohlgestalteter Gliedmaßen, auch gebührender Danksagung gegenüber dem milden Schöpfer und Erhalter wie nicht weniger aus christlicher Erbarmung – angesichts dergleichen Elends von dem Einkommen dieser Stiftung eines heiligen Dankopfers und Hilfehandelns nicht vergessen werden. Solches soll im Blick auf gegebene Notdurft von uns oder unseren dieser Stiftung fähigen Nachkommen jedes Mal reiflich und wohl bedacht beratschlagt werden und so diesen Personen entweder jährlich, wöchentlich oder aber ein für alle Mal, je nach Gelegenheit dieses Vermögens, mit einem bestimmten Geld mitleidend geholfen werden, damit der getreue Gott uns, unsere lieben Kinder und Angehörigen, auch die folgende Nachkommenschaft als seine lieben und werten Geschöpfe bei rechter Ordnung und Harmonie der Natur erhalte, den Seelen ein taugliches, formgerechtes, gesundes und ganzes Gehäuse vergönne und uns eine vernünftige Beschauung und einen Gebrauch dieses schönes Weltgebäudes in kindlicher Furcht und Liebe genießen lasse etc. […]
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Gründungsstatuten des Färberstifts in Calw
16. Kapitel Gemeiner Schluss und Zusammenfassung der Verpflichtungen der Gesellschaft. Hierauf haben wir unsere Seelen und zukünftig erhoffte Seligkeit wahrzunehmen, unser Christentum und gottseligen Wandel zu erbauen, unseren Kindern und unserer Nachkommenschaft auf das beste und gewisseste Rat zu schaffen, unseren Nebenmenschen und Mitchristen nach Möglichkeit dienstbar und hilfreich zu sein, und solches mit großem Ernst, Eifer und Fleiß – wie es sonst die Welt im Argen zu tun pflegt – anzurichten, voranzutreiben und mit Gottes Hilfe rühmlich und selig zu beenden, für uns, unsere Kinder und Nachkommen, die wir hiermit zu dieser Stiftung fest obligieren und verbinden, die oben genannte, unterschiedlich begriffene Verordnung und Disposition mit dem dazu geschossenen Kapital, einträchtig, einhellig und einmütig zusammen verfasst und getragen, der getrosten Hoffnung und Zuversicht, wie unsere Kinder und Nachkommen, werden wir uns untereinander herzlich lieben, getreulich meinen, vernünftig unterbauen, sanftmütig übertragen, gutherzig unterrichten, freundlich verwarnen, eifrig anmahnen, also alles zu rechtem himmlischem Nutzen und zur Förderung des Reichs Christi verwenden, da dann die Predigten des göttlichen Worts ihren rechten gehörigen Nachdruck, Kraft, Saft und Frucht gewinnen werden und ein jeder Christ seines Mitchristen, ein jeder Hausvater seines Gesindes und Kinder Prediger sein wird, damit eines dem anderen die Hand biete, eines dem anderen das Herz bereite, alles aber nach dem wahren Vaterland und himmlischen Bürgerrecht sich lenke, richte und sehne. Quelle: Stifftung des sogenannten Färber-Gestiffts zu Calw. d.d. 1621, 12. Nov. nebst etlichen Anhängen von folgenden Jahren, o.O. (Stuttgart), o.J. (1681), 1–37.
165. Johann Valentin Andreae: Gespräch Xenoras mit ihrer Tochter Psilolea (1630) Andreae hat das im Folgenden auszugsweise dokumentierte Gespräch 1630 verfasst und 1633 in seinen Opuscula aliquot De Restitutione Rei publicae Christianae In Germania (Einige kleine Werke über die Wiederherstellung des christlichen Staates in Deutschland) veröffentlicht. Bei dem Gespräch zwischen Xenora (der „Gastfreundin“) und ihrer Tochter Psilolea (der „Schlichten“) handelt es sich um einen allegorischen Dialog. Dessen Zentrum bildet die akute Notlage, die durch das 1629 erlassene und 1630 vollstreckte kaiserliche Restitutionsedikt entstanden war. Das Edikt verfügte die Rückgabe von Klöstern, die sich in evangelischem Besitz befanden, an die Katholiken. Infolgedessen kam es zur Vertreibung von ca. 200 evangelischen Pfarrern und Schulmeistern. Mittel zur Versorgung der Vertriebenen gab es nicht. Andreae versuchte, eine Hilfsaktion zustande zu bringen. Seine Bemühungen kommen in dem Gespräch zur Sprache: Psilolea entwirft einen Aktionsplan, der weniger auf die kommunale und landesfürstliche Wohltätigkeit als auf das Engagement der Bürger und die ethische Prägekraft der evangelischen Kirche setzt. Sparsamkeit und Bescheidenheit der öffentlichen Hand und in der privaten Lebensführung, Bildung und Erhöhung der Spendenbereitschaft, maßvolle Steuererhöhungen, eine Art Vergnügungssteuer, Geldstrafen bei sittlichen Vergehen sowie Schenkungen während der Lebenszeit sind Maßnahmen, mit denen der akuten Not gewehrt werden soll. Zugleich entwirft Andreae damit Grundzüge seiner Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft und eines christlichen Staates. Wie der Calwer Superintendent in seiner Vita berichtet, wurden die Vorschläge in der aktuellen Situation nicht aufgenommen und nicht realisiert. Xenora, bereits seit langer Zeit eine Mutter der Guten, gastfreundliche Zuflucht für Verbannte, Ernährerin der Künste und Anhängerin der Religion, hatte den Wohlstand, den ihr Gott gewährt hatte, mit anerkannter Rechtschaffenheit verwaltet und in Frieden besessen, so lange die Menschen denken konnten. Als der Sommer des fatalen Jahres zu Ende ging, musste sie aber erleben, dass die von Romulus1 geführten feindlichen Heere von Süden her einfielen und zunächst ihre Äcker verwüsteten, dann das Vieh wegtrieben und schließlich die Hirten in die Flucht jagten. Diese irrten eine Weile umher und ver1
Anspielung auf die römisch-katholischen Kaiserlichen.
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Gespräch Xenoras mit ihrer Tochter Psilolea
sammelten sich schließlich bei der Herrin. Ach, was bot sich ihnen dort für ein Bild! Voll Jammers schauten sie einander an. Denn sie waren es bisher gewohnt gewesen, ihre Herrin voll Zutrauen um Hilfe zu bitten und sie immer freundlich, großzügig und entschlussfreudig vorzufinden. Jetzt war die ungewohnte Armut aber über ihre Kräfte gegangen, sie hatte jede Sorge um das Hauswesen aufgegeben und konnte ihnen bis auf weiteres den erwarteten Trost nicht geben. Ganz in Schwarz gekleidet, saß die Mutter unter ihren Töchtern, die sich die Brüste schlugen, die Haare rauften, mit tränenüberströmten Wangen die Hände gen Himmel streckten und Hilfe und Treue Gottes und der Menschen einklagten. […] Das Gejammer hätte kein Ende gefunden, und niemand hätte Anstalten zum Gehen getroffen, wenn nicht etwas höchst Unerwartetes geschehen wäre. Unter Xenoras jüngeren Töchtern war ein Mädchen mit Namen Psilolea. Gesicht und Körperformen waren ohne besonderen Reiz, weshalb sie eine geringere Mitgift erhalten hatte und ihre winzigen Äckerchen nur mit Mühe bestellen konnte. Die Not hatte sie gelehrt, Wolle zu machen und zu stricken; gewohnt, ihre Erzeugnisse draußen anzubieten, fand sie auf diese Weise durch fremde Wohltätigkeit ihr Auskommen. Weil sie Kälte und Hitze geduldiger ertrug als andere und dem Mangel mit Arbeit begegnete, begann sie dem Unglück die Stirn zu bieten und den Wechselfällen des Lebens weniger Bedeutung zuzumessen. Auch frugales Essen und Trinken und einfachste Kleidung machten ihr nichts aus, die Geißel der Teuerung und die Tyrannei des Luxus schätzte sie gering und spürte sie kaum. Sie zeichnete sich durch besonders fromme Ergebung in Gott aus und bewährte sich in dieser allgemeinen Niederlage durch anmutigen Geist und größere Freiheit in Tat und Wort sehr viel mehr als ihre Schwestern. […] Genug der Tränen, liebe Mutter, die du mir teurer bist als das Leben, und auch ihr, geliebte Schwestern, habt der menschlichen Schwäche genug geopfert! Gott soll es nicht zulassen, dass wir mit dem Vermögen auch unseren Mut verlieren, und wir wollen unseren Übeltätern die Freude nicht gönnen, uns allzu verzweifelt zu sehen. Sie raubten, was uns gehörte, machten sich in unseren Häusern breit und trieben unsere Herden weg, aber Gott verhüte, dass sie zusehen dürfen, wie unsere Familie bettelnd herumirrt. Was Gewalt nahm, wird Recht ersetzen; der Weltrichter wird der Gewalttätigkeit Grenzen setzen. Vertreiben wir die Unseren, die zu uns flüchteten, so wird keine Zeit diesen Makel abwaschen. Wir sind erst verloren, wenn wir uns selbst verloren geben. […] Ich gebe meinen Rat in drei kurzen Sätzen […]: Erstens: Aufs Beste geordnete Verhältnisse erfordern nicht so viel Aufwand, wie einer mit schlechten Augen glauben mag. Zweitens: Auf das Meiste können
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wir bequem verzichten. Drittens: geringe Mittel reichen, richtig eingesetzt, hin, um viele zu ernähren. […] Meiner Schlichtheit, meine Mutter, verdanke ich mehr als meine Schwestern ihrem Reichtum. Sie hat mich gelehrt, wie ungeheuer viele Sachen ich nicht brauche, er hat ihnen das Leben mit diesen Sachen sehr schwer gemacht. Betrachte ich das Wohlleben dieser Zeit, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir an mehr Dingen Überfluss haben, als es richtig wäre und auch als Gott duldet. […] Ich kenne die Menschen und weiß, wie gern sie festhalten, was Gott gebührt; diese Gewohnheiten zu berichtigen und zu brechen ist Aufgabe der kirchlichen Obrigkeit, und sie abzulegen Aufgabe eines guten Bürgers. Ich möchte daher, dass wir bei jedem Mann einzeln nach seinen Möglichkeiten das einsammeln, was nicht nur für die Einheimischen, sondern auch für die Fremden reicht. Das mag gering scheinen, aber bei dieser Sammlung wird so viel zusammenkommen, dass ich damit sicher 2000 Monatsrationen bestreiten kann. Die öffentlichen Bettler aber, die müssen wir davonjagen, sie sind wie faules Vieh, das uns mit seinen übermäßigen Ausgaben für schändliche Dinge auf der Tasche liegt, wie Hunde, die den Jungen das Brot wegschnappen. Mein Rat wäre, dieser Kollekte noch eine maßvolle Abgabe hinzuzufügen, die im Namen der Bedürftigen auf Waren und Handel erhoben wird, was sich mit gewissen Entschädigungen leicht durchführen ließe. […] Weiterhin würde ich, um die verbrecherischen Neigungen des Menschen zu drosseln, aus Abgaben Gewinn ziehen, die insbesondere auf Gotteslästerung, Meineid, Unterschleif [Unterschlagung] Ehebruch, Wucher, Trunkenheit, Glücksspiel und Prostitution erhoben werden. […] Wir würden unseren Nachkommen gleich einen doppelten Dienst erweisen, wenn wir ihnen einen weniger besudelten Staat und Bürger in einer besseren Verfassung übergäben. Was hindert uns, uns auch des Rechts auf Naturalien zu bedienen und, wo eine ordentliche Abgabe fehlt, einige Handvoll2 oder Milch oder Wolle als Gegenwert zu verlangen. Auf diese Weise hat sich die erste Kirche ernährt, das Gesetz wurde von Gott selbst geborgt und findet noch heute in beengteren Verhältnissen Anwendung. Schließlich können wir so auch das Vorbild unserer Ahnen nachahmen, und dies, da wir über die Wahrheit mit größerer Zuverlässigkeit belehrt sind, mit desto größerer Vollkommenheit. Was sie aus Angst vor einem Übel beitrugen, können wir aus Liebe zum Guten gern anbieten. Ihnen pressten leere Schreckensbilder das meiste ab, uns locken einige zweifelsfreie Einladungen. Was sie für Schläuche und Schwämme verschwendeten, wenden wir für den treuen Knechts2
Gemeint vermutlich: einige Handvoll Korn.
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dienst an Gott auf. Wir müssten uns doch schämen, wenn Gott es durch seine uns so viele Jahre erwiesenen unermesslichen Wohltaten nicht verdient hätte, dass ein Teil der aufgehäuften Reichtümer, ein Teil von dreißig, an ihn geht! [...] Wenn man auf mich hört, wird es keine Gabe sein, die ich von jemandem dann endlich empfange, wenn er aus dem Leben geschieden ist. Es ist doch anständiger, mit Gott ins Reine zu kommen, solange man lebendig und bei guter Gesundheit ist, und dann den verdienten Dank abzustatten. Kein ehrbarer Geist wird davor je zurückschrecken, wenn er richtig erzogen worden sein wird; ich erinnere mich daran, dass das anderswo nicht ohne heilige Lust geschah.3 Auf diese Weise wird für die Kinder, die wir doch immer gern als Vorwand gebrauchen und die ein uns anvertrauter Schatz sind, in besserer Weise Vorsorge getroffen. Quelle: Johann Valentin Andreae, Xenora matris cum Psilolea filia in subito casu ob dispersum famulitium colloquium/Gespräch Xenoras mit ihrer Tochter Psilolea über das überstürzte Auseinanderlaufen der Dienerschaft, in: ders., Gesammelte Schriften 17: Theologisch-politische Streitschriften. Bearbeitet, übersetzt und kommentiert von Frank Böhling und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Stuttgart-Bad Cannstadt: frommann-holzboog 2017, 40/41–71. © Verlag frommann-holzboog
3
Hinweis auf Genf.
166. Louise von Marillac: Brief an Vinzenz von Paul (1649) Louise de Marillac, die kongeniale geistliche Weggefährtin von Vinzenz von Paul, hat in Westeuropa im Bereich der Kinder- und Krankenpflege Pionierarbeit geleistet. Geboren 1591 in Paris als uneheliche Tochter des Chevaliers Louis de Marillac, eines Mitglieds des französischen Hochadels, wuchs Louise in einem Dominikanerinnenkloster bei Paris auf. 1613 heiratete sie den Sekretär der Königin Maria de‘ Medici, Antoine Le Gras (1577–1625). Nach dessen Tod suchte sie einen Seelsorger und lernte so Vinzenz von Paul (s. Text 168) kennen. Vinzenz hatte seit 1617 zahlreiche regionale Caritasvereine gegründet, sog. Confréries (Bruderschaften), die Armen und Kranken beistanden. Die weiblichen Mitglieder dieser Bruderschaften nannten sich Les Dames de Charité. Louise de Marillac schloss sich den Dames de Charité an und wurde von Vizenz mit der Gesamtleitung dieser Gruppen betraut. 1633 nahm Louise de Marillac eigenständig einige Bauernmädchen in ihr Haus auf und bildete sie zu Pflegerinnen aus. Sie wurde damit zur Initiatorin der organisierten weiblichen Krankenpflege im Abendland. Daraus entwickelten sich die „Filles de la Charité“. Später begleiteten auch elementare Bildungsanstrengungen für Mädchen und Frauen stets die karitativen Projekte, die sich zunehmend ausbreiteten. Louise de Marillac starb 1660 in Paris. Sie wurde 1934 heiliggesprochen und 1960 zur Patronin aller in der sozialen Arbeit Tätigen erhoben. Eines der großen, bahnbrechenden Projekte der Filles de la Charité (barmherzige Schwestern) war die lebensrettende Hilfe für unehelich geborene, ausgesetzte Kinder. Bastarde und Kinder der Sünde nannte man sie im damaligen Frankreich verächtlich. Um 1600 wurden allein in Paris 400 solcher Kinder ausgesetzt. Um eine nachhaltige Hilfe für Findelkinder zu ermöglichen, kauften Dames de Charité das Schloss Bicêtre bei Paris. Damit entstand ein Kinderheim, in dem Ammen beschäftigt wurden und die Barmherzigen Schwestern die Säuglingspflege übernahmen, die auf Achtung und Zuwendung basierte. Im Kontext der Aufstände und Bürgerkriege, die Frankreich erschütterten (Fronde), wurde die Finanzierung und Versorgung der Einrichtung immer schwieriger. Der folgende Brief Louises von Marillac an Vinzenz spiegelt die verzweifelte Situation des Findlingsheims im Oktober/November 1649 wider. Vinzenz von Paul reagierte auf den Brief mit einem Aufruf zur Unterstützung des Projekts, der dazu führte, dass das Heim gerettet werden konnte.
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Brief an Vincenz von Paul (1649)
An Herrn Vinzenz
November 1649 Mein Hochgeehrter Vater, ich bin allzu lästig, aber wir stehen ganz auf dem Punkt, dass wir unverzüglich Hilfe brauchen oder alles verlassen müssen. Gestern mussten wir das ganze Geld des Haushaltes hier bis auf 15 oder 20 Pfund beiläufig hergeben, um für die Kinder in Bicêtre Weizen zu kaufen, und dazu noch ausborgen, um bis zu vier Metzen (Hohlmaß) zu bekommen; und bis in einem Monat werden wir nicht das geringste bekommen. Es sind zwölf oder dreizehn Kinder hier, und wir haben keine Windeln zum Wechseln. Die morgige Versammlung der Damen muss, bitte, etwas tun, entweder, dass jeden Sonntag in den Pfarren gesammelt wird, dort an gut sichtbaren Stellen kleine Opferstöcke aufstellen, sie von den Herren Pfarrern und Predigern empfehlen und diese Sammlung am Hof durchführen lassen, die vorgeschlagen wurde. Ich glaube, wenn man zur Frau Prinzessin1 ginge, um mit ihr über diese äußerste Not zu sprechen, sie würde etwas geben. Es ist zum Erbarmen, dass diese Damen sich so wenig antun. Sie müssen wohl glauben, wir hätten reichlich genug, um sie zu erhalten, oder sie wollen uns zwingen, alles zu verlassen; und aus diesen Gründen, glaube ich, haben sie beschlossen, überhaupt nichts zu tun. Wenn es Ihrer Liebe gefiele, uns zu melden, ob wir Billets für die Versammlung ausschicken sollen und ob Sie es für gut finden, dass man Madame de Schomberg2 und Madame de Vertamont kommen lässt. Das übrige, was ich Ihnen zu sagen hätte, wäre zu lang; es wird schneller gehen, Ihnen morgen ein Wort darüber zu sagen, wenn ich die Ehre habe, Sie zu sehen. Ganz notwendig brauche ich den Beistand Gottes, da ich in allem, was mich betrifft, nur Elend und Trübsal finde. Gott sei dafür gepriesen! Nun habe ich Ihnen genug die Not aufgezeigt, in der ich bin, die ich keine andere Aussicht auf Hilfe und Trost habe als von Ihrer Liebe, und die Vorsehung hat gewollt, dass ich sei, mein Hochgeehrter Vater, ihre gehorsamste Tochter und dankschuldigste Dienerin. Quelle: Geistliche Schriften der heiligen Luise von Marillac/Sainte Louise de Marillac „Ecrits spirituels“, Tours 1983. Übersetzung von Schwester Vianney (Salzburg), hg. von Otto Schnelle CM, 1. Bd., Köln 1991, L 263, 296f. © Missionsverein e.V., Köln
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Charlotte de Montmorency de Condé, von der Königlichen Familie. Madame de Schomberg (1616–1691), geborene Maria de Hautefort, Schwägerin der Madame de Liancourt. Ihr Mann, Marschall von Frankreich, nimmt an der Fronde teil.
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167. Louise von Marillac: Brief an Vinzenz von Paul (1651) Die Gemeinschaft der Filles de la Charité (barmherzige Schwestern) stellte in zweifacher Hinsicht ein epochales Werk dar: Zum einen wurden auf christlicher Grundlage junge Frauen, einfache Bauerntöchter, zu Pflegerinnen ausgebildet, die Pflege als Beruf ausübten. Im Umgang mit den Kranken sollten Respekt, Freundlichkeit und Demut die vorrangigen Tugenden sein. Zum anderen entstand eine Gemeinschaft von Frauen, die nicht der Klausur unterlagen, sondern frei und ungehindert Kranke zuhause und in Krankenhäusern aufsuchen und pflegen konnten. Die Barmherzigen Schwestern kleideten sich einheitlich in der schlichten Tracht der Landfrauen, die aus einem grauen Kleid mit Haube bestand. Ein Mutterhaus in Paris entstand. Louise von Marillac übernahm die Funktion der Directrice, der Oberin. Der folgende Brief belegt anschaulich, wie skrupulös und selbstkritisch Louise de Marillac einerseits ihre Rolle wahrnahm. Andererseits verfolgte sie die Einführung eines festen Règlements für die neue Gemeinschaft und drang insbesondere auf die Bewahrung der spezifischen Lebensform der Schwestern. Der erste Entwurf von Regeln stammte von ihr. Weitere Règlements wurden im Zusammenspiel zwischen ihr und Vinzenz von Paul entwickelt. An Herrn Vinzenz
Am 5. Juli 1651 Mein Hochgeehrter Vater, die Art, wie mich die göttliche Vorsehung in jedem Anliegen zu Ihnen sprechen lässt, veranlasst mich auch in diesem, bei dem es um die Ausführung des Willens Gottes geht, dass ich Ihnen ganz einfältig über die Mängel spreche, die die Erfahrung uns gezeigt hat und die die Festigung der Genossenschaft der Töchter der christlichen Liebe verhindern könnten; angenommen, dass Gott nicht zu verstehen gibt, dass er ihre gänzliche Zerstörung wolle wegen der allgemeinen und besonderen Fehler, die seit einigen Jahren immer klarer daran hervortreten. Ich glaube in Wahrheit und vor Gott, dass ich, elend, wie ich bin, wenn schon nicht deren einzige, so doch deren hauptsächlichste Ursache bin, sowohl durch meine schlechten Beispiele als auch durch meine Nachlässigkeiten und meinen geringen Eifer für die treue Erfüllung meiner Pflicht. Und eben das ist eines der wichtigsten Erfordernisse, sich schon jetzt für die Zukunft um jemand umzusehen, die besseres Beispiel gibt.
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Brief an Vincenz von Paul (1651)
Eine zweite Notwendigkeit ist die, dass die Lebensweise schriftlich niedergelegt und den Orten gegeben wird, wo Schwestern sind, die sie vorlesen können und sie mit Ehrfurcht verwahren, ohne sie Weltleuten zu zeigen und Abschriften davon zu geben. Und damit jede in der Genossenschaft Kenntnis davon erhält, könnte man für Paris sie jeden Monat die Schwester Dienerin vorlesen lassen. Die Schwestern der Pfarreien sollen zu diesem Zweck zusammenkommen, ein Teil alle fünfzehn Tage und der andere fünfzehn Tage danach. Was die Schwestern auf dem Land und in den Orten betrifft, wo es nicht angezeigt wäre, sie hinzugeben, sowohl weil sie vielleicht nicht sehr gut lesen können, als auch weil man ihrer nicht genug sicher ist, könnte deren Lesung zur Zeit der Visitation vorgenommen werden und wenn sie ins Mutterhaus kommen. Und weil es in der Genossenschaft immer ziemlich schwerfällige Geister geben wird und weil die Übung zur Tat führt, wäre es notwendig, dass zu jedem Artikel eine Erklärung gegeben wird über die Meinung, in der es verrichtet werden soll. Es ist glaubhaft, dass die Schwäche und Leichtfertigkeit des Geistes eine Hilfe braucht durch eine feste Grundlage, damit sie die Versuchungen gegen ihren Beruf überwinden können. Und als Grundlage dieser Stiftung, ohne die es, wie mir scheint, nicht möglich ist, dass die Genossenschaft bestehen noch dass Gott aus ihr die Ehre gewinnen kann, die er allem Anschein nach von ihr haben will, ist es notwendig, dass die genannte Genossenschaft entweder unter dem Namen Genossenschaft oder Bruderschaft errichtet wird, die ganz der Leitung des Hochgeehrten Generals der ehrwürdigen Herren Missionspriester unterworfen und von ihm abhängig ist, und dass ihre Genossenschaft zustimmt, dass sie ihr angegliedert wird, um teilzuhaben an dem Guten, das in ihr geschieht und damit die Güte Gottes durch die Verdienste Jesu Christi und die Fürbitten der heiligen Jungfrau ihr die Gnade erweise, aus dem Geiste zu leben, mit dem seine Güte die genannte ehrbare Genossenschaft beseelt. Das sind, mein Hochgeehrter Vater, die Gedanken, die ich Ihnen nicht zu verbergen wagte. Ich überlasse sie ganz dem Urteil, das Gott Ihre Liebe darüber fassen lässt, so wie seine Güte mir die Gnade erwiesen hat, es seit den sechsundzwanzig Jahren zu tun, in denen seine Barmherzigkeit mich unter Ihre Leitung gestellt hat, um seinen heiligsten Willen zu tun. So hat er mich auf die Art, die er weiß, zu dem gemacht, was ich mein ganzes Leben lang sein soll, mein Hochgeehrter Vater, Ihre geringste Tochter und dankschuldigste Dienerin. Quelle: Geistliche Schriften der heiligen Luise von Marillac/Sainte Louise de Marillac „Ecrits spirituels“, Tours 1983. Übersetzung von Schwester Vianney (Salzburg), hg. von Otto Schnelle CM, 1. Bd., Köln 1991, L 315, 357f. © Missionsverein e.V., Köln
168. Vinzenz von Paul: Regeln der Schwestern der Barmherzigkeit (1658) Der in Pouy (Gascogne) geborene französische Priester Vinzenz von Paul (Vincent de Paul, 1582–1660) hat das Laienapostolat in der katholischen Kirche neu belebt und gilt als Begründer der neuzeitlichen Caritas. Seit 1617 Pfarrer einer Gemeinde bei Lyon, gründete er eine Frauenvereinigung zum Dienst an Kranken. Diese Vereinigung war die Vorläuferin der Confrérie des Dames de la Charité, die von Vinzenz 1629 in Paris ins Leben gerufen wurde und 1634 die Verantwortung für das Hôtel-Dieu übernahm, in dem unbeschreibliche Zustände herrschten. 1625 gründete Vinzenz die Congregatio Missionis, eine Kongregation von Weltpriestern, deren Hauptaufgaben die Evangelisation auf dem Land und die Reform der Geistlichkeit waren. Aus der Zusammenarbeit mit Louise de Marillac, die sich 1628 den Dames de la Charité angeschlossen hatte, erwuchs auf Initiative von Louise de Marillac seit 1633/34 die Gemeinschaft der Filles de la Charité, die sich in den nächsten Jahrhunderten – dann zumeist Vinzentinerinnen genannt – weltweit ausbreiteten. Auf der Basis einer von Louise geschaffenen Haus- und Lebensordnung (Règlement) führten die Schwestern der Barmherzigkeit das Leben einer freien, dem Gründer der Confrérie gehorsamen Schwesternschaft mit zumeist zeitlich begrenztem Gelübde, das nicht der Klausur unterlag (s. Text 167). Die freie Beweglichkeit – „ein Kommen und Gehen“ (Louise de Marillac) – ermöglichte das Aufsuchen der Kranken und die Wahrnehmung der Aufgaben vor Ort – ähnlich den Salesianerinnen in ihrer Frühphase. Nachdem Louise de Marillac von Anfang an hartnäckig darauf gedrängt hatte, das Leben der Gemeinschaft der Schwestern der Barmherzigkeit fest zu regeln, und mehrere vorläufige Ordnungen erarbeitet worden waren, traten die im Folgenden auszugsweise dokumentierten Regeln 1657/58 in Kraft. Vinzenz erläuterte sie den Schwestern in einer Reihe von Konferenzen. Die Regeln charakterisieren den Dienst an kranken Armen sowie eine Spiritualität der Nachfolge Christi und der Selbstverleugnung. Demut, Barmherzigkeit, Gehorsam und Geduld sind die Grundtugenden, die die Berufsarbeit der Schwestern prägen. Angesichts immer wiederkehrender Spannungen zwischen den Schwestern und den Damen der Barmherzigkeit wird die Haltung des Gehorsams der Filles gegenüber den Dames eingeschärft. Louise de Marillac warf den Damen immer wieder vor, den Schwestern nicht zu vertrauen und deren Arbeit finanziell nur unzulänglich zu unterstüt-
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zen. Gleichwohl waren die Damen und Schwestern aufeinander angewiesen. Barmherzigkeit soll schließlich die Gemeinschaft der Schwestern untereinander bestimmen. Der Erzbischof von Paris, der französische König, das Pariser Parlament und der Papst erkannten die neue Gemeinschaft jeweils 1655, 1657, 1658 und 1668 an und bestätigten damit auch ihre charakteristische Lebensform. Aus der Gemeinschaft, die 1635 gerade mal zwölf Mitglieder zählte, erwuchs die größte Frauengemeinschaft der katholischen Kirche, die heute den Namen Association Internationale de Charité (Internationale Verbindung der Barmherzigkeit) trägt. Daneben gibt es zahlreiche Frauengemeinschaften auf der ganzen Welt, die die Regeln des Vinzenz von Paul befolgen und sich als „Vinzentinerinnen“ oder „Barmherzige Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul“ bezeichnen. Auf Seiten des deutschen Protestantismus hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem Theodor Fliedner wesentliche Elemente der Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern aufgenommen und für seine Wiederbelebung des Diakonissenamtes und das Projekt der Mutterhausdiakonie fruchtbar gemacht. Gemeinsame Regeln der Gemeinschaft der Schwestern der Barmherzigkeit, genannt Dienerinnen der kranken Armen, die sie einhalten müssen, um ihre Pflicht durch die Gnade Gottes gut zu erfüllen 1. Der Zweck der Gemeinschaft Sie sollen sich oft in Erinnerung rufen, dass der Hauptzweck, zu dem Gott sie berufen und zusammengebracht hat, der ist, ihren Patron, unseren Herrn, zu ehren, indem sie ihm leiblich und geistlich in armen Menschen dienen – manchmal in einem Kind oder in jemand in Not oder einer kranken Person oder in einem Gefangenen. Und um einer solchen heiligen Aufgabe würdig zu sein, sollen sie sich bemühen, ein heiliges Leben zu führen und ernsthaft an ihrer eigenen Vervollkommnung zu arbeiten. Als ein Mittel, dies zu erreichen, werden sie ihr Mögliches tun, um die vorliegenden Regularien sorgfältig zu befolgen. 2. Ihre eigene Erlösung allem anderen vorziehen und nichts sparen, um sich selbst in der Gnade zu erhalten Die erste Sache, die sie unverbrüchlich zu befolgen sich bemühen sollen, ist, die Erlösung ihrer Seelen höher zu bewerten als alle irdischen Dinge und nichts zu sparen, sich immer im Stand der Gnade zu erhalten. Um dies zu tun, sollen sie die Todsünde mehr als den Teufel und sogar den Tod fürchten und alles tun, was sie können, um mit Gottes Hilfe nie absichtlich irgendeine verzeihliche Sünde zu begehen.
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3. Reinheit der Absicht Sie sollen alle ihre Handlungen, leibliche wie geistliche, in einem Geist der Demut, Einfachheit und der Barmherzigkeit ausführen, im selben Geist und in Einheit mit denen, die unser Herr Jesus Christus auf Erden durchgeführt hat, indem sie ihre Absicht auf diesen Zweck zu Beginn jeder wichtigen Handlung ausrichten, insbesondere wenn sie sich anschicken, den Armen zu dienen. Sie sollen sich in Erinnerung rufen, dass diese drei Tugenden wie die drei Kräfte der Seele sind, die den Körper und jedes Mitglied der Gemeinschaft beleben sollen, und dass sie, in einem Wort, den Geist der Gemeinschaft ausmachen. 4. Geist der Gemeinschaft Sie sollen die Maximen der Welt verabscheuen und die Jesu Christi annehmen, unter anderen diejenigen, die die innere und äußere Abtötung empfehlen, Nichtbeachtung seiner selbst und der Dinge dieser Welt, und Aufgaben wählen, die niedrig und schlicht sind, statt ehrenvoll und angenehm und immer den letzten Platz einnehmen und tun, was andere nicht tun wollen. Bei all dem sollen sie überzeugt sein, dass sie bessergestellt sind als sie es auf Grund ihrer Sünden verdienen. 5. Abstand und Gleichgültigkeit Sie sollen an kein geschaffenes Ding gebunden sein, insbesondere an Orte, Pflichten und Personen, und darauf achten, nicht einmal an ihre Verwandten und Beichtväter gebunden zu sein. Sie sollen immer bereit sein, alles zu verlassen, wenn sie angewiesen werden, dies zu tun, und bedenken, dass unser Herr sagt, dass wir seiner nicht würdig sind noch ihm nachfolgen, wenn wir uns nicht selbst verleugnen1 und unseren unordentlichen Handlungen in jeder Weise überhaupt entsagen und sogar Vater, Mutter, Brüder und Schwestern verlassen, um ihm zu folgen,2 wenn er uns ruft. 6. Geduld Sie sollen sich bemühen, willig und um der Liebe Gottes willen Unannehmlichkeiten, Widersprüche, Spott, Verleumdungen und andere Demütigungen, die sie treffen können, sogar für das Gute, das sie getan haben, zu ertragen und daran denken, dass all dies nur ein Teil des Kreuzes ist, von dem unser Herr will, dass sie es ihm auf Erden nachtragen, so dass sie es eines Tages verdienen, mit ihm in den Himmel
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Vgl. Mt 16,24. Vgl. Mt 19,29.
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zu gehen, mit ihm, der, obwohl unschuldig, so viel für uns litt und sogar für die betete, die ihn kreuzigten.3 7. Armut Sie sollen mit der Armut unseres Herrn beehrt werden und zufrieden sein damit, dass ihre bescheidenen Bedürfnisse in der üblichen Schlichtheit gedeckt werden, und daran denken, dass sie Diener armer Personen sind und deshalb arm leben sollen. Infolgedessen soll keine von ihnen etwas im Haus oder außerhalb für ihren privaten Gebrauch haben, sondern jede soll alles gemeinsam haben wie die ersten Christen.4 Sie sollen nichts entwenden oder weggeben vom Gemeinschaftseigentum noch ihres eigenen, noch etwas empfangen oder erwerben von jemand anderem ohne Zustimmung der Oberin in kleinen, gewöhnlichen Angelegenheiten. Bei außergewöhnlichen und wichtigen Angelegenheiten ist auch die Erlaubnis des Superiors notwendig. […] 12. Dienst an den kranken Armen Ihr wesentliches Anliegen soll sein, den kranken Armen zu dienen und sie mit Mitleid, Freundlichkeit, Herzlichkeit, Respekt und Demut zu behandeln, auch die, die höchst unangenehm und schwierig sind, weil ihnen dies nicht so viel ausmacht, wenn sie ihnen dienen als dienten sie Jesus Christus. Sie sollen nicht vergessen, ihnen gelegentlich ein gutes Wort zu sagen, um sie zu veranlassen, geduldig zu sein, ein gutes, generelles Bekenntnis abzulegen, um auf einen glücklichen Tod vorzubereiten oder um ein gutes Leben zu führen, und ihnen vor allem die Dinge zu lehren, die notwendig für deren Erlösung sind. Sie sollen auch darauf achten, dass sie alle ihre Sakramente rechtzeitig empfangen – sogar mehr, wenn sie nach der Genesung einen Rückfall erleiden. […] 13. Schlecht ausgerichtete Barmherzigkeit für Personen, die arm sind Da eine schlecht ausgerichtete Barmherzigkeit Gott extrem missfällt und schädlich für die Seelen derer ist, die dies auf diese Weise praktizieren, insbesondere wenn es als Gegenteil zum Gehorsam getan wird, werden sie es nie auf sich nehmen, Speise oder Medizin einem Patienten gegen den Willen derer zu geben, die verantwortlich sind, oder entgegen der ihnen gegebenen Ordnung. Obwohl sie sich nicht über die Beschwerden ärgern sollen, die unzufriedene, arme Personen gewöhnlich machen, sollen sie trotzdem versuchen, sie zu trösten und tun ihr Bestes, um sie zufrieden zu stellen, indem sie Mitleid mit 3 4
Vgl. Lk 23,34. Vgl. Apg 2,44.
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ihren Leiden haben und es bedauern, dass sie ihnen nicht so helfen können, wie sie es wünschen. Sie werden auch ihr Möglichstes tun, um die Damen der Barmherzigkeit und andere zu ermutigen, ihnen so viel Gutes zu tun wie möglich ist. […] 20. Gehorsam gegenüber dem Superior, der Oberin und den Amtsträgerinnen der Gemeinschaft Sie sollen den Generalsuperior der Mission ehren und ihm als Superior und Generaldirektor der Gemeinschaft gehorchen, und denen, die er beauftragt, sie zu leiten: der Oberin und – in ihrer Abwesenheit – den Schwesternassistentinnen5 und den anderen Amtsträgerinnen des Hauses, in allem, was ihren Dienst betrifft. Sie sollen auch den Schwesterndienerinnen gehorchen, die ihnen in den Gemeinden und anderen Orte geben werden, wo sie eingesetzt werden, und sehen, dass ihr Gehorsam prompt ist und sie ihren Willen und ihr Urteil in allen Dingen, in denen keine Sünde ist, allen Arten von Vorgesetzten und Amtsträgern unterordnen, sowohl denen, die unvollkommen und unangenehm, als auch denen, die vollkommen und angenehm sind. Sie sollen sich in Erinnerung rufen, dass sie nicht so sehr Menschen gehorsam sind als vielmehr Gott, der durch deren Mund Anweisungen gibt und selbst sagt, wobei er von denen spricht, die Verantwortung für andere tragen: Wer euch hört und gehorcht, hört mich und gehorcht mir; und wer euch verachtet, verachtet mich.6 21. Gehorsam gegenüber Vorgesetzten außerhalb der Gemeinschaft in Bezug auf Menschen, die arm sind In dem, was den Dienst an Menschen, die arm sind, betrifft, sollen sie gleicherweise die Verwalter der Hospitäler, in denen sie eingesetzt sind, ehren und ihnen gehorchen, den Damen der Barmherzigkeit in den besonderen Gemeinden, den Amtsträgerinnen der Damen und auch den Ärzten, indem sie deren Anweisungen rasch und genau ausführen. Die kranke Schwester soll auch der Krankenschwester und dem Arzt gehorchen, soweit es deren Pflichten betrifft. 22. Gehorsam und Respekt gegenüber Pfarrern Wenn sie in eine Gemeinde gesendet werden, um dort zu leben, während sie den kranken Armen dienen, gehen sie hin, um kniend den Segen des Pfarrers zu empfangen. Solange sie in ihren Gemeinden bleiben, sollen sie ihnen jede Art von Ehre und Respekt erweisen und auch gehorsam, was die Pflege der Kranken anbelangt. […] 5
Als die Zahl der Schwestern und die Größe der Aufgaben wuchsen, wies Vinzenz der Oberin, Louise de Marillac, drei Assistentinnen zu. 6 Vgl. Lk 10,16.
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36. Einheit und Barmherzigkeit unter ihnen Sie sollen oft an den Namen Töchter der Barmherzigkeit denken, den sie tragen, und sich bemühen, sich diesem würdig zu erweisen durch die heilige Liebe, die sie immer für Gott und ihren Nachbarn haben. Vor allem sollen sie in großer Einheit mit ihren Schwestern leben und nie murren oder klagen übereinander, sie sollen darauf achten, alle Gedanken der Antipathie, die sie füreinander haben mögen, zu beseitigen. Sie sollen sich von allem enthalten, was Zwietracht zwischen den Schwestern verursachen kann, insbesondere Gefühle des Neids, wenn man sieht, dass andere besser behandelt und geehrt werden. […] 41. Vertrauen in Gottes Vorsehung Sie sollen großes Vertrauen in die göttliche Vorsehung haben und sich auf sie völlig verlassen wie ein Kind gegenüber ihrer Amme. Sie sollen überzeugt sein, dass Gott sie, vorausgesetzt, sie bemühen sich zu ihrem Teil treu zu ihrer Berufung und der Beachtung ihrer Regeln zu sein, immer unter seinem Schutz behält und sie mit allem, was sie sowohl für den Leib als auch für die Seele brauchen, unterstützt – genau zu der Zeit, in der sie meinen, dass alles verloren geht. 42. Die vier Tugenden, die für die Töchter der Barmherzigkeit am angemessensten sind Obwohl ihre Berufung es erfordert, sich zu bemühen, in ihrem ganzen Leben alle Arten von christlichen Tugenden in Nachahmung Jesu Christi, ihres Patrons, zu praktizieren, sollen sie gleichwohl besondere Aufmerksamkeit den vier Extremen des Kreuzes schenken: Demut, Barmherzigkeit, Gehorsam und Geduld, denn dies sind die wichtigsten, die unser Herr grundsätzlich während seiner Kreuzigung praktizierte und die er von allen Christen verlangt und – mit noch mehr Recht – von den Töchtern der Barmherzigkeit, wegen der großen Not, die sie haben bei der Erfüllung ihres Dienstes. Deshalb sollen sie sich versichern, dass alle ihre Handlungen durch sie belebt sind, und sie sollen bedenken, dass es unnütz für sie ist, immer ein materielles Kreuz an ihrer Person zu tragen, wenn sie nicht zur selben Zeit ein geistliches haben, das nichts anderes ist als der Rahmen und die Praxis dieser vier Tugenden. 43. Eine tiefe Wertschätzung aller dieser Regularien und Bräuche der Gemeinschaft haben und sehr treu in deren Befolgung sein Sie sollen alle diese Regularien und den Leib aller lobenswerten Bräuche, die sie bis jetzt befolgt haben, hoch schätzen. Sie sollen alle von ihnen als Mittel ansehen, die ihnen von Gott zur größeren Vervollkommnung und um sich selbst leichter zu erretten, gegeben sind. Aus diesem Grund sollen sie danach streben und sich ernstlich bemühen,
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sie praktisch umzusetzen. Wenn es vielleicht einige Artikel gibt, die widerwärtig für ihr Denken und Gefühle sind, sollen sie dies überwinden und sich selbst darin demütigen und sich dabei in Erinnerung rufen, dass unser Herr gesagt hat, dass das Himmelreich Gewalt leidet und die Gewalttätigen es an sich reißen.7 Quelle: Saint Vincent de Paul, Correspondence, Conferences, Documents, translated, edited, and annotaded from the 1920 edition of Pierre Coste, C.M., edited by sr. Marie Poole a.o., Volume 13, Brooklyn, NY, 2003, 147–162. Übersetzung: Gerhard K. Schäfer. © New City Press
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Vgl. Mt 11,12.
169. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Begegnung mit Bettlern (1672) Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, der bedeutendste deutsche Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, wurde um 1622 in Gelnhausen (Hessen) geboren. Von 1631 bis 1649 leistete er in verschiedenen Funktionen Kriegsdienst. 1649 bis 1661 arbeitete er als Guts- und Burgverwalter im Renchtal (im heutigen Baden-Württemberg), 1667 bis zu seinem Tod 1676 war er Schultheiß von Renchen (im heutigen Ortenaukreis). Im letzten Jahrzehnt seines Lebens schuf er ein imposantes literarisches Werk. Sein letzter Roman „Das wunderbarliche Vogelnest“ bildet den Abschluss seiner „simplicianischen Schriften“. Er zeichnet darin ein Panorama des nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) sozial und wirtschaftlich brach liegenden Landes. Der erste Teil des Romans erschien 1672. Die Handlung orientiert sich daran, dass ein Hellebardier in den Besitz eines „wunderbarlichen Vogelnests“ kommt, das ihn unsichtbar macht. So erhält er Gelegenheit, unterschiedlichste Zeitgenossen unbemerkt zu beobachten. Der folgende Ausschnitt gibt eine Begegnung des unsichtbaren Hellebardenträgers mit Bettlern wider. Die Bettler verfügen über ausgeklügelte Täuschungspraktiken und leben ein freies und faules Leben. In die Beschreibung der Lebenswelt der Bettler mischen sich Witz und Satire sowie Überlegungen zu Lösungswegen für das Bettelproblem. Ungefähr zwei Stunden war ich gegangen, da begegnete ich einer Gesellschaft von Bettlern, die unweit der Landstraße ein Feuer gemacht und sich ringsherum gesetzt hatten, um zu sieden und zu braten – wahrhaftig, eine muntere Rotte. Sie boten zwar einen elenden und erbärmlichen Anblick, aber ihr fröhliches Gelächter, ihre ungezwungene Art und ihre freien Reden ließen die große innere Freiheit ihrer Gemüter erkennen, und dies lockte dann auch mich zu ihnen. Ich hatte kaum ein Viertelstündchen bei ihnen gesessen, als sie eine Kutsche voller Reisender kommen hörten. „Auf, Karges!“, sagten sie zu einem Alten. „Jetzt bist du an der Reihe, den Wegzoll einzufordern.“ Dieser Karges fackelte nicht lange, sondern machte gleich die Augen zu und ließ sich von einem kleinen Jungen an einem Stecken zur Straße führen, wo er den Reisenden mit jammervollem, Mitleid heischendem Geschrei ein paar Batzen abnötigte. Und als er zu der Gesellschaft zurückkehrte, wünschten sich alle, das erlangte Geld möge in
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ein rechtschaffendes, ordentliches Maß Wein umgesetzt werden, denn ihrer Zweieinhalb-Maß-Flasche war schon anzusehen, dass sie nicht mehr ausreichen würde, jedem im Kreis einen gehörigen Schluck zu spenden, obwohl noch eine große Pfanne mit gebratenen Eiern vorhanden war und nach einem solchen Geleit verlangte. Ich beobachtete vor allem eine uralte Großmutter, die dieses Gewerbe nach meinem Dafürhalten schon in ihrer Jugend erlernt hatte und die nun aus Mehl, Eiweiß, Hirn, Blut und Grünspan eine Mixtur anrichtete und einem Knaben ein Grindgeschwür daraus machte, nachdem sie ihm zuvor das alte bis auf die gesunde Haut abgewaschen und das Haar ringsherum fein säuberlich abgeschoren hatte. „So, mein Kind“, sagte sie, „jetzt hast du einen schönen Grind, wie man ihn naturgetreuer nicht malen könnte. Gib nur Acht, dass du dich beim Beten nicht vertust. Wo du merkst, dass es nicht katholisch ist, da lass nur ja das Ave Maria weg und bettele auch nicht um Unser Lieben Frau willen, sondern bete stattdessen beim Vaterunser das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit dazu. Wenn du aber nicht weißt, ob es an einem Ort lutherisch oder katholisch oder kalvinisch ist, und dich nicht zu fragen getraust, dann gib Acht auf die Bildstöcke, die Heiligenhäuschen und die Kreuze an den Wegen. Wo sie geschmückt sind und in Ehren gehalten werden, da bete nur munter auf katholisch, wo nicht, auf lutherisch, und wenn du ganz sicher weißt, dass du an einem kalvinischen Ort bist, so fange das Vaterunser auch auf kalvinisch an und sag: Unser Vater etc. und nicht Vater unser, wie es früher der Brauch war. Denn ihren Glaubensgenossen geben die Leute doppelt so gern und doppelt so viel, während so mancher einen von der gegnerischen Religion keines Blickes würdigt, auch wenn er des Almosens zehnmal mehr bedürfte als der Glaubensgenosse. Sei nur immer vorsichtig und fleißig, dann wird für dich mehr dabei herausspringen, als wenn du einem Bauern seine Pferde hütest oder selbst einen Haufen eigener Güter erwirbst und mit der Zeit besitzt. Denn die machen sich die vormals freien Gemüter ihrer Inhaber zu Märtyrern und gepeinigten Sklaven und deren Leiber zu leibeigenen Knechten jener Herren, in deren Jurisdiktion diese Güter liegen, wohingegen du in unserem Orden die edle Freiheit und mit ihr – unter dem Deckmantel der Armut – am Vermögen anderer barmherziger Leute alles reichlich besitzt und genießen kannst, was du zum Unterhalt deines müßigen Lebens benötigst. Will dir irgendein knauseriger Hund nichts geben, dann geh vor eine andere Tür. Ist ein Land durch Krieg, Teuerung oder Pestilenz ruiniert und taugt nicht für deinen Beruf, dann geh in ein anderes und lass jene, die ihr Herz dem eigenen Haus und Hof und den eigenen ansehnlichen Gütern in guter Lage geschenkt haben, bei sich daheim krepelieren, verderben und sterben.“
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Die Alte gab dem Knaben noch viele andere gute Lehren und Unterweisungen mit, und ich glaube nicht, dass ein Jäger bei einem Wachtelhund, den er abrichten will, oder ein Signor Capitano beim Abrichten seiner Rekruten mehr Fleiß aufwenden würde als sie. Das Bübchen war auch sehr lernbegierig. Aber wer ließe es sich nicht gern gefallen, dass man ihm Faulheit, Freiheit und Müßiggang predigt? Ein anderer erzählte dem alten Karges, wie er früher vier Jahre lang ein Stummer gewesen und diese Art zu betteln ihm so gut bekommen sei, dass er einen ordentlichen Haufen Geld damit zusammengebracht habe, welches sich allerdings seine damalige junge Frau, der gegenüber er zweifellos zu leichtsinnig gewesen war, unter den Nagel gerissen habe, worauf er notgedrungen die Sprache wieder habe annehmen müssen, um nach seiner Frau zu forschen. Er habe sie dann auch bei einem jungen Kesselflicker gefunden und habe dennoch nichts sagen dürfen, zum einen, weil sie gar nicht seine Ehefrau gewesen war, zum anderen, damit sie nicht verriete, dass er sich als ein Stummer ausgegeben hatte. „Es ist nicht zu glauben und nicht zu beschreiben“, sagte er weiter, „wie sehr es mich verdross, dass ich all dies stillschweigend schlucken und verdauen musste. Aber das war auch schon mein größtes Kreuz und die größte Plage, die über mich gekommen ist, seit ich die stupide Rossarbeit der Tagelöhner aufgegeben und durch Ergreifen von Sack und Stecken die unschätzbare Freiheit unseres Herrenlebens errungen habe. Ich fand aber auch gleich darauf wieder ein wackeres, junges Ding, die Tochter eines Korbmachers und Wannenflickers, die sich nicht nur in allem viel geschickter anstellte als die Erste, sondern mir auch jedes Jahr wenigstens ein Kind und manchmal auch zwei brachte, mit denen ich viele Almosen eintrieb. Außerdem ersann sie eine famose List, Geld aufzutreiben, wenn es sonst schwer zu bekommen war – nämlich im Winter. Wenn wir an einen Ort kamen, zog sie sich bei der größten Kälte ganz nackt aus und ließ Kinder und Kleider bei mir. Auf diese Weise brachte sie an einem einzigen Tag oft Kleider im Wert von ein, zwei oder gar drei Gulden zusammen – je nachdem, wie viele barmherzig Frauen sie antraf, die sich für sie schämten, was mir trefflich zupass kam und manche fette Suppe verschaffte.“ […] Während sie sich ihre Geschichten erzählten, kamen zwei Kapuziner daher, denen die Bettler nicht die Ehre erwiesen, ihretwegen aufzustehen und ihnen etwas abzuheischen. Ich vermute, sie wussten, dass die Kapuziner nichts als Agnus-Dei-Amulette herzugeben haben, an denen ihnen aber nichts lag. Der eine war ein alter Pater, der andere ein junger Geistlicher. Ich verließ die Bettler und schloss mich diesen an, weil sie in meine Richtung gingen und um zu vernehmen, was sie unterwegs miteinander zu bereden hätten. Aber ich hörte so viel, wie
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wenn ich mit zwei Stummen gegangen wäre – außer dass sie sich vor einem Dorf niederließen und gemeinsam ihr Brevier beteten. Unterdessen dachte ich über meine unbekümmerten Bettler, Vaganten und unnützen Landfahrer nach, von denen unser Deutschland ja gleichsam überschwemmt ist. Ich überlegte hin und her, wie ich mit ihnen verführe, wie ich ihren Orden zum Nutzen des Vaterlandes einsetzte und was ich ihretwegen auf dem Reichstag vorschlüge, wenn ich mal ein Reichsfürst würde. Ich suchte die Gesunden unter ihnen als Soldaten heraus, die das Vaterland beschützen und den Türken bekriegen sollten, und baute in dem Land, das mir vorschwebte, schon Arbeitshäuser und Werkstätten für die anderen, die ich so einrichten wollte, dass Taube und Stumme wie auch Blinde und Lahme darin arbeiten und nicht bloß das Brot für sich selbst verdienen, sondern auch die übrigen armseligen Krüppel mit ernähren und obendrein noch in jedem Jahr einen gehörigen Überschuss zum Nutzen der Allgemeinheit erwirtschaften und auch erübrigen könnten, damit das Lumpengesindel abgeschafft, Gott selbst durch ihr rohes Leben nicht länger erzürnt, der Landmann durch ihre Unzahl nicht mehr behelligt und eine Ordnung geschaffen würde, die Gott wohlgefällig und den Menschen nützlich wäre. Quelle: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Das wunderbarliche Vogelnest. Erster und zweiter Teil. Abenteuer zweier Unsichtbarer, aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser, Berlin 2012, 29–33. © Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin
170. Philipp Jakob Spener: Unmaßgebliche Vorschläge (1697) Der in Rappoltsweiler (Elsass) geborene Philipp Jakob Spener (1635– 1705) schuf nach Studium in Straßburg und Basel während seiner Frankfurter Amtszeit (1666–1686) als Senior des lutherischen Predigerministeriums und Pfarrer an der Barfüßerkirche 1670 das collegium pietatis, eine Erbauungsversammlung neben dem öffentlichen Gottesdienst. In seinem zwei Jahrzehnte langen Frankfurter Wirken verfolgte er zäh und nachhaltig die Einrichtung eines Arbeits- und Armenhauses, das 1679 seine Arbeit aufnahm. Mit der ins Leben gerufenen Sammlung der Frommen, der Aufwertung des Priestertums aller Gläubigen, der Förderung gründlicher Bibellektüre sowie der vorrangigen Betonung der frommen Lebenspraxis wurde Spener zum Begründer des Pietismus. 1675 verfasste er seine Programmschrift Pia desideria – zunächst als Vorrede zu einer Neuausgabe der Evangelienpostille von Johann Arndt (1555–1621). Nach fünfjährigem Aufenthalt als kursächsischer Oberhofprediger in Dresden wurde Spener 1691 Probst von S. Nikolai in Berlin. Dort legte er 1693 Reformvorschläge für die öffentliche Armenpflege vor, die als „Unmaßgebliche Vorschläge“ Kurfürst Friedrich III. (1657–1713) vorgelegt wurden. Zwei Jahre später begann man mit der Realisierung der Reformvorschläge; 1701 wurde ein neu gebautes Armenhaus in Betrieb genommen. Spener legte den Schwerpunkt auf die öffentliche Verantwortung der Obrigkeit. Einen Gegensatz zur sog. „Privat=Anstalt“ August Hermann Franckes (s. Texte 173; 174), den er zeitlebens unterstützte, sah er darin nicht. Die vorliegenden Textausschnitte bündeln unter Rückgriff auf die Frankfurter Erfahrungen zentrale Reformvorschläge Speners: Die Armen sollen im Rahmen des Arbeitshauses die Möglichkeit erhalten, gegen Bezahlung in manufakturähnlichen Settings zu arbeiten. Arbeitsunfähige sollen versorgt, missbräuchliche Versorgung und Fehlallokation durch eine differenzierte Kategorisierung der Bettler vermieden werden. Diesen Maßnahmen entspricht auf der anderen Seite das Verbot des öffentlichen Bettelns und damit die Entlastung der Bürger vom Betteln sowie die städtische oder landesherrliche Verantwortung und die obrigkeitliche Zuständigkeit für die Finanzierung, aus der sich längerfristig eine Armensteuer entwickelt. Spener macht überdies Vorschläge zur Kontrolle der Armenfinanzierung. Unmaßgebliche Vorschläge, wie der Armen und deren Verpflegung wegen in Berlin und Cölln zulängliche Anstalt möchte gemacht wer-
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den, damit den Bettlern gesteuert und hingegen der Dürftigen Notdurft besser geholfen werden möchte. Notwendigkeit anderer Anstalten. 1. Bei allen bisherigen Anstalten währt noch das Betteln immerfort, auch kann dasselbige, wo den Notleidenden nicht andere zulängliche Hilfe geschieht, ohne Unbarmherzigkeit nicht ganz mit Gewalt abgeschafft werden. Hingegen ist das Betteln an sich selbst einem Ort ein Übelstand und Anzeige, dass man sich der Armen nicht auf solche Art annehme, dass sie dieses Mittels nicht bedürften. Daher z. B. Mos. 15,41 Gott in seinem Volk, dessen Verfassung er nach seiner Weisheit eingerichtet, keine Bettler haben, sondern sie anders versorgt wissen wolle. 2. Es zieht das Betteln und insgesamt gegenwärtige Unordnung wegen der Armen viele Sünden nach sich, welche Gottes Zorn über Stadt und Lande häufen: Viele Kinder, die aus Not zum Betteln sich gewöhnen oder von den Eltern dazu gewöhnet werden, verderben so bald in der Jugend, dass sie des Müßiggangs u[nd] mancher Laster, weil sie ohne Aufsicht sind, gewöhnen und oft ihr Lebtag nicht mehr zu etwas rechts gebracht werden können, sondern nehmen immer in den erst angenommenen Untugenden zu, dass auch mehrere endlich ihrer groben Misshandlung willen dem Scharfrichter in die Hände geraten. Auch andere, die zu arbeiten nicht Luft haben, nähren ihre Faulheit mit dem Betteln und verprassen oder versaufen auch manchmal die Almosen, zu geschweigen anderer Bosheit, die unter solchen Leuten vorgeht. Diesen Sünden ist billig zu steuern. 3. In gegenwärtiger Unordnung wird ein großer Teil der Almosen, so gleichwohl, da es im Namen Gottes gegeben wird, vor etwas Heiliges zu achten ist, übel angewandt und solchen Leuten gegeben, die entweder wahrhaftig unwürdig sind und aus Mutwillen betteln, man sie aber nicht so kennt oder sich nur ihrer Importunität [Rücksichtslosigkeit] zu entschütten etwas gibt oder die es zwar im gegenwärtigen Zustande aus Mangel der Anstalten bedürftig sind, aber gleichwohl mit Arbeit ihr Brot ganz oder zum Teil verdienen könnten, wo man ihnen durch gute Anstalten Arbeit verschaffte. Hingegen würden wahrhaftig Dürftige, und an denen alles Wohl angewandt, desto vergnüglicher können unterhalten und deren Seufzen über Mangel abgewendet werden.
1
Vgl. Dtn 15,4.
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4. Im Gegenwärtigen wird manches mit Unwillen gegeben, weil man nicht weiß, ob es recht angewendet sei und sich jeder bis daher von Bettlern oft betrogen gefunden hat, so nicht allein die Frucht dessen, was man gibt, weil Gott allein einen fröhlichen Geber lieb hat,2 wiederum vernichtet oder verringert, sondern auch die Gemüter insgesamt zum Geben träger macht, die den besseren Anstalten mit Freuden und reichlicher geben würden. Nützlichkeit. Man sieht, dass gleichwohl bei gegenwärtiger unlöblicher Konfusion niemand Hungers stirbt, sondern die Armen alle durch dasjenige, was sie bereits jetzt bekommen, erhalten werden, dadurch deren so viele des Almosens nicht bedürfen und es auf allerlei Art missbrauchen. Daraus lässt sich der Schluss machen, den ich untrüglich zu sein hoffe, dass dann von dem bisher an die Armen Gewandten, davon diese nunmehr leben, so viel besser unterhalten werden können diejenigen, welche solcher Hilfe wahrhaftig würdig sind: Denn 1. gehen von deren selben Zahl viele ab, die nach rechter Untersuchung werden der Almosen unwürdig befunden werden. Als welche entweder selbst sich anderweitig hin verfügen oder doch zu dem Betteln nicht mehr werden gelassen, folglich aus Not auf redliche Art ihre Nahrung anders zu suchen gezwungen werden. 2. Viele von denen, so jetzt von Almosen leben, weil sie mit Arbeit etwas zu verdienen keine Gelegenheit und Mittel haben, können alsdann entweder völlig oder zum wenigsten einen Teil ihrer Kost verdienen. 3. Wo vorgeschlagene Anstalten stattfinden, kann keiner nichts mehr von dem, was er bekommt, unnützlich vertun. 4. Wo ihrer mehrere beisammen wären und gespeist würden, geschieht es auch mit geringeren Kosten, als wann so viel singuli [allein] absonderlich wohnen, Miete geben und sich unterhalten müssen. Also erhellt, dass durch christliche Anstalten die Last so auf der Bürgerschaft und übrigen Einwohnern allhier liegt, da sie bisher so viele Arme durch ihre Almosen verpflegt, nicht vermehrt werde, sondern aus angeführten Ursachen dasjenige, was sie wirklich bisher sonst und vor den Türen hingegeben, die Armut vergnüglicher zu versorgen zulänglich sein würde. […] Vorschläge. Es sind die Armen in drei Klassen zu teilen. 1. Sind die fremden Armen, die allein hierher kommen, auf einmal einige Hilfe und Gabe zu erlangen: als da sind Exulanten [Flüchtlin2
Vgl. 2Kor 9,7.
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ge] um der Religion willen, vom Krieg vertriebene, abgebrannte, durch Krankheit oder andere Leibesschäden zur Arbeit untüchtig gewordene und dergleichen, die nicht ohne einige Bezeugung der Liebe wegzulassen sind. 2. Nächst dem sind einwohnende arme Familien, da etwa der Mann seine gewisse Profession hat, aber sie entweder aus Alter, Krankheit oder dergleichen Ursachen nicht mehr treiben oder sich samt den Seinigen, Weib und Kindern, nicht mehr notdürftig erhalten kann; daher also auch solche Familien einiger Beihilfe bedürfen. 3. Sind‘s einwohnende einzelne Leut‘, Männer oder Weiber oder Mütter mit Kindern, die nunmehr keine andere Lebensart mehr haben und allerdings nur von dem Almosen leben. Was die erste anlangt, lässt sich von keinen anderen Anstalten reden, kann es bei ihnen um nichts anders zu tun, als eine einmalige Steuer zu erlangen, die ihnen nach Befinden ihrer Würdigkeit wie bisher geschehen, erteilt werden muss. Man möchte dann diejenige Art ferner in reifere Deliberation [Erwägung] ziehen, wie das Examen solcher fremden Armen, um allen Betrug, der sonsten so vielfältig vorgeht, zu begegnen, am vorsichtigsten und kräftigsten angestellt würde. Also ist es um die anderen beiden Arten zu tun. Da es dann scheinen sollte, dass das Nützlichste sein möchte, vornehmlich um der dritten Willen, ein Haus entweder in beiden Städten oder dazu unterschiedliche Ursachen raten möchten, in jeder Stadt ein besonders dazu zu aptieren [herzurichten], darein alle dieselbige getan und unter gehöriger Aufsicht miteinander unterhalten und zur Arbeit angeführt würden. Da würde nun nächst der Anrichtung des Hauses oder Häuser die erste Sorge sein müssen, mit der Kaufmannschaft zu konferieren, was für Arbeit am nötigsten darin verfertigt und von derselben der Verlag dazu an Hand gegeben würde. In Frankfurt am Main wurde das bequemste gefunden die Wollen-Arbeit, weil man zu derselben allerlei Leute, junge und alte, gebrauchen kann. Daher zum allervordersten ein verständiger Wollen-Weber in das Haus genommen wurde, so solches Manufakturwerk dirigierte, also dass auch unter den Knaben, welche darin waren, einige so Lust dazu hatten, das Handwerk zunftmäßig bei ihm lernen konnten. Es mussten auch die Knaben und Mägdlein, wie jung sie waren, nur dass sie gehen konnten, sobald zu dem Belesen, Auszupfen und anderer Bereitung der Wolle gebraucht, das Übrige aber von den Älteren verrichtet werden, damit dem Wollen-Weber und seinen Gesellen bei ihrer Handwerksarbeit es nie mangeln möchte. […]
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So wären auch in dasselbe aufzunehmen alle alten Männer, so sonsten aus eigenen Mitteln oder mit ihrer Arbeit sich nicht mehr ernähren können, auch niemand der Ihrigen haben, so ihnen solche Liebe erzeigte, alle alten Weiber und Witwen mit oder ohne Kinder, die auch in dem Stande stehen, dass sie mit anderer Arbeit nicht mehr sich zu sustentieren [erhalten] vermögen, wiederum auch Kinder, die elternlos sind und auch nichts haben. Es wäre aber vorher solcher Leute Zustand und ihre Not genau zu untersuchen, um nicht zu schwere Last dem Hause aufzubürden. Was aber diejenigen Familien anlangt, welche noch etwas zu verdienen vermögen, doch aber mit allem anwendenden Fleiß nicht so viel, dass sie mit Weib und Kinde leben könnten, würde auch deren Zustand erstlich eigentlich zu forschen und auszurechnen sein, wie viel sie, wo sie gebührenden Fleiß anwenden, die Woche erwerben mögen, hingegen wie viel zu deren äußerster Notdurft noch erfordert würde. Da Folgens teils die Summe zu determinieren, was man ihnen wöchentlich an Brot oder Geld zu reichen hätte, teils da es ihnen auch an Arbeit mangelte, ihnen was sie auch (Männer, Weiber, Kinder) zu des Hauses Besten zu tun, zu können und zu verrichten hätten, dergleichen an Hand zu schaffen wäre, damit sie nichts mehr umsonst empfingen, als was ihnen noch nach aller Arbeit bekanntlich zu mangeln erfunden würde. Mittel. 1. Es gehören erstlich hierher die bereits vorhandenen Kasten-Capitalia, als deren Zinse vor die Verpflegung der Armen ohne das gewidmet sind. […] 2. Das in den Predigten durch den Klingelbeutel, sodann zu gewissen Zeiten durch die ausgestellten Becken für die teils einheimischen, teils fremden Armen zu sammelnde Geld, welches aber auch meistens für die beiden ersten Arten möchte zu gebrauchen sein, indessen damit bereits ein großer Teil der Armen dadurch versorgt und die übrigen durch fernere Anstalten leichter unterhalten werden können. 3. Das meiste müsste gesetzt werden, sonderlich was die dritte Art und dazu bestimmtes Haus anlangt, auf die Hoffnung der wöchentlich einmal von Haus zu Haus einzusammelnden Kollekte, wie solche auch in Frankfurt am Main das einige Hauptmittel ist, davon das daselbst befindliche Armen-Waisen und Arbeit-Haus gestiftet und erhalten wird. So trägt man billig das Vertrauen zu allen löblichen Stadteinwohnern und -bürgern, dass sie, ein jeglicher gern auf‘s Wenigste so viel als er
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bei sich befindet, dass er bis daher bei tiefer Konfusion wöchentlich an Arme vor der Tür mit solcher Beschwerde, manchmal Unwillen und meistens Ungewissheit, ob’s wohl angewendet werde, zu geben gepflegt, wöchentlich in die Büchse einlegen und also ihr Almosen besser als vorhin anzulegen sich freuen werden. […] (1) Dass sie des beschwerlichen Anlaufs der Bettler auf den Straßen und an den Häusern sollten befreit sein, wie dann die Anstalten, wo man nunmehr wegen der Armen guter Versorgung versichert ist, dass keine als mutwillige Bettler mehr umhergehen, dazu leicht zu machen sein, dass sie abgehalten werden können und man keine Sorge einer dadurch begehenden Unbarmherzigkeit haben darf, wie jetzt, da man die Bettler vertreiben will, ihnen aber nicht zeigt, woher sie ihre äußerste Notdurft herbekommen sollten. (2) Dass sie, was sie geben alsdann mit gutem Herzen, ohne sich über einige zu alterieren und mit weniger Beschwerde, da man hingegen jetzt an manchen Häusern und Kaufläden keine Stunde des Anlaufens befreit sein kann, auf einmal geben könnten. […] (5) Dass deswegen unter der oberen Aufsicht die ganze Administration in den Händen der dazu aus der Mitte der Gemeinde und allerlei Standesleuten gewählten Vorstehern, so alle selbst davon nichts zu genießen, stehen und diesen kein fremder Eingriff, da sie das Ihrige ohne Klage tun, geschehen sollte. […] 4. Hierzu käme noch, was in dem Arbeitshause gemacht wird und hoffentlich das daran Verdiente ein ansehnliches Stück dessen, was man an die Verpflegung der Leute anwenden müsste, wieder einbringen möchte, sonderlich man die Sache einmal etwas in den Schwang käme, wie leicht zu erachten, dass in dem Anfang, bis alles in der Ordnung stünde, das Werk so viel nicht abzuwerfen vermöchte. Wozu auch setze, dass man das Haus zugleich dazu brauchen könnte (wie in Frankfurt auch geschieht), wo nämlich Eltern oder Freunde einige ungeratene Jugend haben, dass dieselbe auf deren Begehren zur Zucht dahin getan und zur Arbeit angeführt, aber doch auch noch von den Ihrigen etwas für sie bezahlt würde. […] 6. Es möchte auch nützlich sein, dass dem Hause ein Back- und Brauhaus beigefügt werde, um Brot und Bier mit wenigeren Kosten daraus zu haben. Sodann ein Garten, um auch aus dessen Bau zu der Armenverpflegung etwas zu erlangen. Dabei auch auf dergleichen von S. Churfl. Durchl. hoher Milde zu hoffen, dass sie, was zu diesen Anstalten gehörig, von allen Lasten gnädigst befreien würden.
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7. Es ist nicht zu zweifeln, dass sich noch allerhand Vorschläge finden werden, diese Anstalten zu facilitieren [fördern] und ihnen etwas zuzuwenden; sonderlich würde die höchste Billigkeit sein, weil die Fremden und Reisenden in der Stadt als sonsten ihres so beschwerlichen Anlaufs von Bettlern befreit würden, dass sie in allen Herbergen, wo einige derselben einzukehren pflegen, durch eine besondere Büchse dazu invitiert würden. […] Diffikultäten [Schwierigkeiten]. 1. Weil diese Anstalten vor Berlin und Cölln wohl zulänglich sein möchten, aus solcher Städtebeitrag ihre Armen zu unterhalten, so wird eine große Schwierigkeit werden, wegen der übrigen drei Städte,3 deren Armen besorglich an Zahl den anderen gleichkommen oder höher steigen, aber von deren Einwohnern, nachdem die Städte noch nicht völlig besetzt, das vor dieselbe Nötige schwerlich aufgebracht werden mag. Doch wird nach einigen Deliberationen [Überlegungen] vielleicht auch solche Schwierigkeit sich heben lassen. 2. Weil zu sorgen, dass sich um solcher Verpflegung willen alles arme Volk aus dem Land hierher ziehen und die Last hiesigen Städten unerträglich werden würde. Es ist aber nicht zu zweifeln, dass durch hohe Churfürstl. Verordnung Rat geschafft und, nachdem durch Gottes Segen die Sache hier angegangen, vielmehr nicht nur andere Orte auch zur Unterhaltung der Ihrigen angewiesen, sondern gar an einigen anderen Orten gleichförmige Anstalten veranlasst werden mögen. 3. Weil ein großer Teil der Armen besteht in abgedankten Soldaten, deren hinterlassenen Witwen und Kindern, so dürfte die Bürgerschaft darüber fast verdrießlich werden, sie zu erhalten, und dennoch man nicht auch diesen prospiziert [vorausgesehen] wird, kann das Betteln nicht ganz gewehrt werden. […] Nächst dem würden aufs Wenigste in jeder Stadt zwölf, oder da es zu einem Haus kommen sollte, mehrere Männer als Vorsteher (oder wie man sie nennen wollte) nötig sein und solche aus beiden Städten von allerlei Art und Standesleuten von vornehmen und geringen (wie in Frankfurt Edelleute, Juristen, Medici, Kaufleute, Krämer und Handwerksleute dazu genommen werden) müssen gewählt werden. Dazu aber Personen erfordert werden, so eine Liebe zu Gott und zu den Armen tragen, sich auch nicht beschweren, in der ihnen bestimmten Zeit 3
Friedrichswerder, Dorotheenstadt, Friedrichstadt.
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ihren Geschäften so viel abzubrechen, dass sie diese Anstalten mit respizierten [berücksichtigten]. […] Nächst dem Hausmeister ist notwendig ein Meister, so die Arbeit dirigiert, und also […], wie vermutlich, dass die Wollen-Arbeit erwählt wird, ein Wollenweber, unter dessen besonderer Direktion die Wollen-Arbeit stünde. Endlich ist auch nötig ein Informator, dazu sich ein alter studiosus Theologiae [Student der Theologie] am besten schickt, dessen Amt darin allein bestünde, dass der morgens frühe, zu gewisser bestimmter Stunde, da alle Hausgenossen, junge und alte, zusammenkommen müssten, wie nicht weniger abends nach eingenommener Nachtmahlzeit, einen Gesang hielte, ein Kapitel aus der Bibel läse und den Morgenoder Abendsegen vorbetete, sodann des Tages einige dazu geordnete Stunden die Jugend im Lesen, Schreiben und Katechismus oder in den Gründen ihres Christentums unterrichtete. Quelle: Philipp Jakob Spener (1635–1705), Unmaßgebliche vorschläge, wie der armen und dero verpflegung wegen in Berlin und Cöln zulängliche anstalt moechte gemacht werden, damit den betlern geholffen werden möchte (1697), in: ders., Letzte Theologische Bedencken, Teil 3, Bd. XV, Tbd. 2, hg. von Erich Beyreuther, Hildesheim 1987 (Nachdruck), 767–776.
171. August Hermann Francke: Die Pflicht gegen Arme. Lukas 16,19–31 (1697) Mehr als durch Spener gewann der Pietismus durch August Hermann Francke (1663–1727) klare Konturen und Selbstbewusstsein. Der einzelne Mensch als religiöses Subjekt, seine Bekehrung, die Ernsthaftigkeit seiner Lebensführung und ihre praktische Bewährung („Heiligung“) erhielten vorrangige Bedeutung. Der Pietismus trug insofern zur Verinnerlichung und Individualisierung bei. Durch Franckes facettenreiche Konflikte mit der lutherischen Orthodoxie gewann die pietistische Erneuerungsbewegung öffentliche Aufmerksamkeit. Francke wurde 1663 in Lübeck geboren. Nach Abschluss der Studien der Theologie und der alten Sprachen und einem einschneidenden Bekehrungserlebnis (1687) wurde er 1692 an die gerade entstehende Universität Halle als Professor für Griechisch und orientalische Sprachen berufen, ab 1698 als Professor für Theologie in die Theologische Fakultät. Gleichzeitig war er Pfarrer in der Halleschen Vorstadt Glaucha. Ausgehend von den verwahrlosten Kindern seiner Gemeinde schuf Francke in Glaucha einen vielgliedrigen Komplex von Hilfeeinrichtungen und pädagogischen Institutionen, die später „Franckesche Stiftungen“ genannt wurden. Er verstand sein Wirken und die Ausbreitung der pietistischen Bewegung bald als „Generalreformation“. Den Erfolg seines Wirkens, vor allem das Wachstum des Waisenhauses, sah er als eine Art praktischen Gottesbeweis an und als einen Beitrag, das Reich Gottes in der Welt zu verbreiten. Die vorliegenden Textausschnitte aus einer umfänglichen Predigt, die Francke am 1. Sonntag nach Trinitatis 1697 hielt, dokumentieren die auf biblische Geschichten, Verse und einzelne Worte bezogene Eindringlichkeit, die die individuelle Selbstbeobachtung und Gewissenserforschung stimulieren. Mit Hilfe einer systematisierenden Typologie der Armut zeigen sie überdies, dass die jeden Menschen betreffende Verantwortung für die Armen auch das Aufsuchen von gesellschaftlich nicht wahrgenommenen Armen einschließt. Zugleich wird der Pflicht der Obrigkeit für die Armenfürsorge zentrale Bedeutung beigemessen. Francke hatte selbst 1697 eine Glauchische Armenordnung entworfen. Das exzessive Ausmalen der Höllenqualen in der Predigt, die den Nichtbekehrten erwartet, verweist auf die Ambivalenz pietistischer Gewissheit und macht die aus der Rechtfertigungslehre Luthers entspringende Skepsis der Orthodoxie und ihre Kritik an der Werkgerechtigkeit verständlich.
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Anspruch. Geliebte in Christus Jesus, unserem hochverdienten Heiland! In Apostelgeschichte 10,1–4 wird erzählt, dass ein Mann in Cäsarea mit Namen Kornelius gewesen ist, ein Hauptmann der Schar, die die Italische heißt, gottselig und gottesfürchtig samt seinem ganzen Haus, der dem Volk viel Almosen gegeben und immer zu Gott gebetet hat. Da geschah es, dass ihm ein Engel Gottes erschien und ihn anredete: Kornelius! Und als er erschrak und fragte: Herr, was ist? habe er zu ihm gesagt: Dein Gebet und deine Almosen sind hinaufgekommen ins Gedächtnis vor Gott. Es soll uns dies lehren, welches die beiden vornehmsten Stücke eines rechtschaffenen Wandels gegen Gott und gegen den Nächsten sind. Dein Gebet, heißt es, und deine Almosen sind hinaufgekommen ins Gedächtnis vor Gott. Die Heilige Schrift, insbesondere im Neuen Testament, pflegt unter Gebet nicht nur das Gebet zu verstehen, das mit dem Munde geschieht, wenn der Mensch Gott mit äußerlichen Worten seine Not vorträgt, sondern auch insgesamt den ganzen Dienst, der Gott, dem Herrn, geleistet wird, wie auch unser Heiland in Joh 4,24 die rechten Anbeter so beschreibt, dass sie Gott anbeten im Geist und in der Wahrheit; das ist, welche ihr ganzes Herz mit aller Aufrichtigkeit Gott, dem Herrn, ergeben und ihm also nicht allein mit äußerlichem Dienst, sondern von Herzensgrund, nicht dem äußeren Schein nach, sondern in Wahrheit dienen. So sind auch die Worte gemeint: dein Gebet, das ist: dein ganzer Dienst, den du Gott leistest und mit dem du sein Angesicht so aufrichtig und treulich gesucht hast, und deine Almosen sind hinaufgekommen ins Gedächtnis vor Gott. Auch unter Almosen ist nach dem Gebrauch der Heiligen Schrift nicht nur das zu verstehen, dass man einem armen Menschen, der da vor die Tür kommt, etwas mitteilt; sondern es wird damit insgesamt die herzliche Erweisung der Liebe gegen den Nächsten angedeutet, indem man die Hungrigen speist, die Nackten kleidet, die Durstigen tränkt (Jes 58,7), die Gefangenen und Kranken besucht (Mt 25,36) und so die Ströme der Liebe auf alle Gassen und Straßen gern und willig herausfließen lässt (Spr 5,16) und keine Gelegenheit versäumt, wo etwa dem Nächsten durch diejenigen Gaben gedient werden kann, die Gott, der Herr, uns verliehen hat. So erwies sich nun Kornelius vor Gott als ein andächtiger Beter, gegen seinen Nächsten aber als ein Mann voller Guttätigkeit und Liebe. […] Was sagt aber unser Gewissen dazu? Wo ist die Inbrunst unseres Gebets? Wo sind die rechten Almosen? Ach, ich fürchte, die allermeisten werden sich durch dieses Beispiel beschämt finden und an sich selbst leicht gewahr werden, dass das Gebet allzu sparsam und ihre Liebe zu den Armen bisher allzu gering und allzu lau gewesen ist,
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dass diese ihnen wenig Hoffnung machen können, das tröstliche Zeugnis zu erlangen, dass ihr Gebet und ihre Almosen ins Gedächtnis vor Gott gekommen sind. So weit ist es mit uns, die wir uns Lutheraner nennen, gekommen, weil wir so oft gehört haben, die Katholischen wollten durch die guten Werke selig werden, was aber in der lutherischen Lehre verneint wird, so denken da die allermeisten, es sei nicht einmal ihre Pflicht, Gutes zu tun: Wenn man so emsig beten, so fleißig Almosen geben würde, so könnte man leicht ein Verdienst daraus machen und das Verdienst Christi schmälern. Aber wenn die lutherische Lehre dies mit sich brächte, dass wir keine guten Werke tun sollten, so sollten wir dieser wohl ewiglich abschwören. Denn das wäre ja eine ärgere Religion als selbst die der Heiden, Juden und Türken. Was könnte gräulicher sein, als eine Religion zu haben, durch die man nicht gottselig leben und gute Werke tun sollte? […] Evangelium: Lk 16,19–31. Aus diesem Evangelientext, herzlich Geliebte in Christus Jesus, unserem Herrn, wollen wir für dieses Mal erwägen: Die Pflicht gegen die Armen. Dabei wird zu betrachten sein, I. wer an solche Pflicht gebunden ist, II. gegen wen diese ausgeübt werden soll, III. auf welche Weise solche Pflicht ausgeübt werden soll, oder: worin sie besteht, IV. was für eine Strafe auf die Versäumung und was für eine Gnadenbelohnung auf die Ausübung solcher Pflicht erfolgen wird. […] Erster Teil. Wenn denn nun (1) gefragt wird, wer diejenigen sind, die zur Pflicht gegen die Armen angehalten sind, so zeigt es uns unser Text – der ein rechter Warnungs- und Bestrafungstext ist –, insofern unser Heiland darin in einem Gleichnis einen reichen Mann vorstellt. Es war ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. So ist es denn der reiche Mann,
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der verpflichtet war, dem armen Lazarus Gutes zu tun; weil er es aber unterließ, musste er zur Hölle fahren. Noch heutzutage sind es vornehmlich die Reichen, die zur Pflicht gegen die Armen angehalten sind: Es fragt sich aber: Was ist denn unter einem reichen Mann zu verstehen? Sollten die Menschen selbst nach ihrem Gutdünken darüber befinden, so würde ein jeder einen wissen, der noch reicher ist als er selbst; ja, die Reichsten wären wohl wegen ihres unersättlichen Geizes die Ärmsten. Denn, Lieber, wie geht es doch in diesem Stück unter den Menschen zu? Da sieht man, dass sich einer erst ein gewisses Kapital sammelt; aber, wenn er es nun gesammelt hat, so ist es, als ob es ihm nicht gehöre, denn es muss für jährliche Zinsen ausgeliehen und darf niemals angegriffen werden. Wenn nun jemand sagen würde: Von dem Kapital müssen die Armen kriegen, oh, der würde ein Tor genannt werden. Ferner: weil die Reichen meinen, sie müssten sich nach ihrem Stand und Vermögen auch recht halten, so wollen sie, wie dieser reiche Mann, köstlich essen und trinken, schöne Kleider tragen, ihre Dienerschaft haben und so fort. Da bleibt denn für den armen Lazarus wieder nichts übrig; was der haben sollte, das frisst der Prunk weg. Wo ist denn einer, der reich ist, wenn auch die Reichsten arm sein wollen? Wer soll hier urteilen? Wir müssen Gottes Wort zum Richter nehmen. In allen Stücken, die unsere Seligkeit und unser Christentum betreffen, darf es nicht auf Menschenurteil ankommen, das fehlen kann, sondern jeder Mensch muss Gott zum Richter nehmen, und Gottes Wort muss das Urteil fällen. Nun steht hier schlicht: Es war ein reicher Mann. Ob er ein Amt ausübte oder sonst etwas gearbeitet hat, steht nicht dabei. Es ist auch nicht zu vermuten, dass er dies getan hat, sondern es heißt nur: Es war ein reicher Mann. Nun fragt es sich: Wird es denn gebilligt, dass der reiche Mann sich so verhielt? Nein, sondern die Heilige Schrift sagt: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen ( 2Thess 3,10). Es ist aber keineswegs zu billigen, dass die Menschen sich einbilden, sie müssten eben nicht arbeiten, wenn sie sonst ihr Auskommen hätten. Es pflegen, wenn einige reiche Leute arbeiten, andere sie oft so anzureden: „Ei, warum arbeitet ihr doch? Ich meine, auch wenn ihr eure Hände in den Schoß legtet, würdet ihr deswegen dennoch gut leben können.“ Und so denken auch die Armen, das Arbeiten müsse nur aus Not geschehen. Die Heilige Schrift aber sagt, dass die Arbeit nicht allein den Zweck habe, sich notdürftig zu ernähren, sondern man solle auch arbeiten, damit man dem Bedürftigen zu geben habe;1 dies ist auch in das öffentliche Kirchengebet eingegangen. Denn wenn wir Gott, den Herrn, bitten, er wolle doch unsere Nahrung segnen, so steht dabei: Damit wir dem 1
Vgl. Eph 4,28; 1Thess 4,11.
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Bedürftigen zu geben haben. Sollte es aber darauf ankommen, dass die Menschen zu diesem Zweck arbeiten, oh, da wären wenige, die danach ihre Hände ausstreckten. Da dürfte mancher sagen: „Ich müsste wohl ein Narr sein, zu arbeiten und es mir sauer werden zu lassen, um das, was ich erwerbe, hernach anderen zu geben.“ Das kommt daher, dass die Menschen nicht göttlich gesinnt sind; Gottes Geist wohnt nicht in ihnen, und daher fühlen sie auch nichts von Erbarmen und Liebe. […] Hier steht, wie angesprochen, schlicht: Es war ein reicher Mann; und weiter wird von ihm nichts erinnert, als dass er gestorben und zur Hölle gefahren sei. So werden auch solche Müßiggänger, die nichts gelernt haben als Fressen, Saufen und übel zu leben, den Lohn mit dem Reichen in der Hölle davontragen. Das mögen sich auch junge Leute merken, damit sie beizeiten etwas Nützliches lernen mögen und nicht denken, es sei eben nicht nötig, dass sie sich anstrengen, fleißig studieren oder sonst etwas Rechtschaffenes lernen; sie könnten dennoch einmal von ihren Gütern leben. Dies tut niemals gut und ist der gerade Weg zur Hölle. Diejenigen, die demnach in ihrem Gewissen befinden, dass sie sich in diesem Stück auch nach Art des reichen Mannes verhalten haben, haben Grund, in sich zu gehen und sich zu bessern. Reiche Leute müssen nicht denken, das Zeitliche sei ihr Eigentum, sondern dass es Gott, dem Herrn, zugehört und er Rechenschaft fordern wird, wie sie damit umgegangen sind, desgleichen, dass sie Gott durch die Armen auf die Probe stellt, ob sie ihre Güter auch diesen zum besten und zur Erquickung gebrauchen werden. Als Gott, der Herr, den Lazarus vor die Tür des reichen Mannes schickte, stellte er ihn auf die Probe, wie er mit seinen Gütern umgehen werde; so sollen die, die Güter dieser Welt haben, sooft sie von einem Kranken, von einem, der schlecht gekleidet ist und dergleichen hören, stets denken, dass sie Gott, der Herr, an ihre Pflicht erinnert, dass er ihnen nämlich darum Güter dieser Welt gegeben hat, dass sie dem armen, notleidenden Nächsten damit helfen sollen. Diese sind also in erster Linie gegenüber den Armen verpflichtet. Zum anderen aber dürfen wir nicht denken, dass allein diejenigen gemeint seien, die so viel Geld und Gut haben, dass sie es nicht für nötig halten, zu arbeiten oder sich in einen öffentlichen Dienst zu begeben; vielmehr sind auch diejenigen an diese Pflicht gebunden, die arbeiten und in öffentlichen Ämtern und Diensten sind, aber Geld und Gut haben, womit sie wohl ihrem Nächsten Gutes tun könnten. Solche meinen aber auch insgemein, sie müssten sich köstlich und prächtig ihrem Stand gemäß halten; deswegen lassen sie nicht allein das, was sie in ihren Ämtern und Tätigkeiten, in denen sie stehen, verdienen, drauf gehen; sondern es gehen wohl auch ihre übrigen Mittel drauf, oder, wo sie diese als Vermögen anlegen, sammeln sie nur Zin-
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sen und Kapitalien, damit sie ja immer noch reicher werden; die Armen lassen sie indessen Not leiden. Siehe, solche sollten ihre Pflicht gut bedenken, dass sie nicht allein von dem, was ihnen Gott, der Herr, gegeben hat, verpflichtet sind, dem Nächsten zu helfen, sondern auch von dem, was sie mit ihrer Arbeit verdienen; sie sollten ja sich an das Beispiel des reichen Mannes erinnern, dem dies sehr verübelt wird, dass er sich in Purpur und kostbares Leinen gekleidet und alle Tage herrlich und in Freuden gelebt hat. Es war da keine Entschuldigung, die ihn hätte vor der Hölle bewahren können, dass er hätte sagen mögen: „Mein Stand bringt es so mit sich; andere halten sich ja auch so; ich kann ja nicht allein ein Narr sein; ich hab's ja; niemand gibt mir etwas dazu“ und so weiter. Es werden vielmehr nur erst sein Leben, seine Kost und Kleidung beschrieben; danach heißt es: als er nun in der Hölle und in der Qual war, damit uns deutlich genug angezeigt werde, dass alle solche weltlichen Entschuldigungen nichts helfen. […] Daraus mögen wir schließen, dass die Pflicht gegen die Armen alle und jeden Menschen, auch die Armen selbst in ihrer Masse angeht. Denn gesetzt, einer wäre im Leiblichen so arm, dass er nichts sähe, womit er dem Nächsten Gutes tun könnte, so könnte er ihm doch so Barmherzigkeit erweisen, dass er ihn mit freundlichem Ton anreden, ihm mit Rat beistehen, bei einem anderen eine Bitte für ihn einlegen, ja, ernstlich für ihn beten und so inniges Mitleid mit seinem Nächsten tragen würde. Dies würde Gott, der Herr, so ansehen, als wäre es in der Tat geschehen, weil Gott, der Herr, nicht auf das äußerliche Werk, sondern auf das Herz und auf dessen Willigkeit und Liebe sieht. Daher kann sich hier niemand ausnehmen, sondern jeder Mensch – er sei, wer er wolle – muss die Pflicht gegen die Armen befolgen. Es geht alle an, was wir zu singen pflegen: Die Frucht soll auch nicht ausbleiben; deinen Nächsten sollst du lieben, dass er dein genießen kann, wie dein Gott hat an dir getan.2 Wie hat aber Gott an uns getan? Er hat uns seinen eingeborenen Sohn und mit ihm alles geschenkt (Röm 8,32). Sage etwas, das Gott für sich behalten, das er uns nicht zugewendet hätte. So groß ist ja die Liebe und Erbarmung Gottes uns gegenüber, dass sogar sein eingeborener Sohn von seiner Herrlichkeit herabgestiegen ist und sich erniedrigt hat bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.3 So sollen auch wir unser Leben lassen für die Brüder4. […]
2 8. Strophe des Abendmahlliedes von Martin Luther (1483–1546), Jesus Christus, unser Heiland (EG 215). 3 Vgl. Phil 2,6ff. 4 1Joh 3,16.
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Anderer Teil. Wir haben zum anderen ferner zu betrachten: Gegen wen solche Pflicht beachtet werden soll. Es heißt in unserem Text: Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voller Geschwüre. Hier wird uns der Arme mit Namen genannt, des Namens des Reichen wird aber nicht gedacht. Denn: Das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen; aber der Name des Gottlosen wird verwesen;5 daher ist vor Gott die Sache ganz anders anzusehen als vor Menschen. In der Welt denken die Reichen, sie allein würden etwas gelten, jedermann sähe auf sie. Sie haben zwar einen großen Namen in der Welt; jedermann weiß etwas von ihnen zu sagen; schließlich bleibt aber nichts von ihnen übrig, als dass es heißt: Es war ein reicher Mann. Gott lässt nicht einmal den Namen aufzeichnen. Hingegen: so gering die Armen in dieser Welt sind, so wert sind sie dem lieben Gott. Wer weiß von dieser oder jener armen Witwe? Wer weiß von diesem oder jenem Waislein? Wer weiß von diesem oder jenem armen Menschen, der hier und da ist oder etwa in seinem Häuschen in großer Armut sitzt? Gott weiß es. Lazarus heißt eigentlich: der Gott zum Helfer hat, der keine Hilfe hat als bei Gott, dem Herrn. Siehe, die sind es nun, gegenüber denen diese Pflicht ausgeübt werden soll. Arme im eigentlichen Sinne werden die genannt, die ihre Hoffnung auf nichts Zeitliches, auf nichts Irdisches setzen können oder mögen, sondern die ihre Hilfe nur und allein von Gott, dem Herrn, erwarten und empfangen. Diejenigen aber, die noch Geld und Gut oder sonst ihr Auskommen haben, die noch wissen, wovon sie auskommen können, die können nicht Arme genannt werden. Denn obschon manche kein Vermögen haben, aber gleichwohl noch arbeiten können und also wissen, wo sie etwas zu ihrem Unterhalt hernehmen können, können sie nicht eigentlich arm genannt werden. Die aber, die nicht das Geringste haben und nur und allein auf Gottes Gnade trauen müssen, die, wenn das Kleid zerrissen ist, nicht wissen, woher sie ein anderes kriegen werden, die, wenn ihr Brot aufgegessen ist, nicht wissen, woher sie welches kriegen werden, siehe, die mögen wohl Arme genannt werden. Denjenigen gegenüber soll solche Pflicht insbesondere beachtet werden. Wie Reiche, so können auch Arme in relativer Weise so genannt werden. Denn es kann ja sein, dass einer sonst nicht zu arm ist, sondern wohl weiß, wie er dann und wann auf Grund seiner Arbeit seine Nahrung haben wird; aber er hat doch eben zu der Zeit nichts, in der er et5
Spr 10,7.
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was braucht; jetzt steckt er etwa in Not. Darum kann er zu dieser Zeit arm genannt werden, obwohl er sonst sein Auskommen hätte und wüsste, wovon er leben sollte. So bezieht sich demnach unsere Pflicht nicht allein auf diejenigen, die gar nichts haben, sondern auch auf die anderen, die in einen solchen Zustand kommen, in dem sie unserer Hilfe bedürfen, weil sie sich jetzt nicht selbst helfen können. […] Ferner sind auch diejenigen unter die Armen zu zählen, welche vor den Türen ihr Stückchen Brot suchen müssen, da es, leider!, dahin gekommen ist, dass man wenig darauf sieht, wie der Unordnung, die sich dabei vollzieht, gesteuert werden möchte. Denn es obliegt doch der Obrigkeit, allen Fleiß aufzuwenden, damit die Armen versorgt werden können. Man sorgt zwar, dass man die Armen loswerden möchte, aber nicht, wie die Armen ihr Elend loswürden und wie ihnen aus ihrer Armut herausgeholfen werden möge. Darauf sollte eine christliche Obrigkeit aber sehen, dass allen Armen so nachdrücklich gedient werde, dass die, die in einer Stadt sind, versorgt und auch die Gaben recht angewandt würden, indem die, die arbeiten können, zur Arbeit angehalten würden, die aber, die dazu nicht in der Lage sind, die Gaben zu genießen hätten, und zwar so viel als es für sie nötig erscheint. Siehe, so sollte es billigerweise sein, so könnte es auch gar wohl sein, wenn man andere Unkosten sparte und die überflüssigen Gelder, die hier und da verschwendet werden, zur Notdurft der Armen verwendet würden! Aber da steckt ein jeder im Eigennutz und denkt nur, wie er Geld und Gut haben möge. […] Weiter sind auch Hausarme, die oft in solchem Elend stecken, dass es ihnen wohl elender und erbärmlicher geht als denen, die vor den Türen herumgehen. Denn diesen fehlt es nicht an Brot; bekommen sie vor einer Tür nichts, so erhalten sie doch etwas vor der anderen. Aber jene, die in ihren Häusern sind, etwa krank und unvermögend sind, können nicht herumgehen und andere um Hilfe ersuchen. Unsere Pflicht erstreckt sich auch auf solche. Endlich gehören insbesondere auch arme Witwen, arme Waisen, gebrechliche Leute hierher. Wie in unserem Evangelium Lazarus ja wohl so elend war, dass man sagen möchte: Er hätte wohl zu Hause bleiben können wegen der großen Beschwernis, die er trug; aber die große Armut, der große Hunger trieb ihn, so dass er kriechen musste, bis er zur Tür des reichen Mannes kam und begehrte, dass man ihm die Brosamen geben möge. Aber der reiche Mann dachte in seinem Wohlleben nicht an ihn. Im 58. Kapitel des Propheten Jesaja, desgleichen im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums wird uns ein ganzes Register derjenigen namhaft gemacht, an denen wir diese Pflicht, von der wir reden, zu erweisen haben, was ein jeder zu seiner weiteren Unterrichtung nachlesen kann.
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Dritter Teil. Lasst uns dann ferner auch lernen: Wie oder auf welche Weise wir die Pflicht gegenüber den Armen ausüben sollen und worin sie eigentlich besteht. Denn dies ist das dritte Stück, das wir zu betrachten haben. Zuerst soll man nicht darauf warten, bis die Armen erst auf Händen und Füßen vor unsere Türen gekrochen kommen, denn wenn wir darauf warten, ist die Pflicht gegen die Armen schon versäumt. Das hätte dem reichen Mann gebührt, dass er, da er herrlich und in Freuden lebte und so viele ausgesuchte Speisen auf seinem Tisch hatte, gefragt hätte: Sind nicht etwa Arme in der Nachbarschaft oder in der Stadt, so dass man denen auch etwas mitteilen könnte? Aber das ließ er wohl bleiben. So meinen auch viele, sie hätten genug getan, wenn sie sonntags in den Klingelbeutel und danach den Armen vor der Tür das eine oder andere Mal geben,6 weil sie sie sonst nicht loswerden können. Aber an die herzliche Liebe, dass man sich erkundige und nachfrage, wo Arme, Elende, Schuldner, Sieche, Gebrechliche, Witwen, Waisen seien, denkt niemand. Dass man von seinem Überfluss den Armen etwas zur Erquickung abgebe, achtet man nicht als Schuldigkeit; und so war es auch bei dem reichen Mann. Es mag ja wohl sein, dass er dem Armen zuweilen etwas vor der Tür gegeben hat, damit er ihn nur loswerde. Aber damit war der Sache nicht Genüge getan; die rechte Liebe war dennoch nicht in seinem Herzen. Ebenso geschieht es auch noch heutzutage meist aus Zwang und Not, dass man etwas in Ungeduld hingibt, weil man die Bettelleute anders nicht los werden kann, oder aus eitler Ehre, wenn man denkt: Was wollen die Leute dazu sagen, wenn man nichts in den Klingelbeutel legte, wenn man die Bettelleute einfach vor der Tür stehen oder neben sich auf der Gasse herlaufen ließe? Und so tut man es insgemein nicht aus herzlicher Liebe gegen den Nächsten. Mit solchem erzwungenen Wesen ist der Pflicht gegenüber den Armen noch lange kein Genüge getan. Es wird in dem Beispiel des reichen Mannes ferner auch angedeutet, dass er schon dadurch die Pflicht gegenüber den Armen versäumt hat, dass er sich in Purpur und kostbares Leinen kleidete und alle Tage herrlich und in Freuden lebte. So denken zwar noch manche, es gebühre ihrem Stand, dass sie sich köstlich kleiden. Aber wo steht in Gottes Wort: Du bist in einem hohen Stand, also musst du dich so 6
Francke traf in Glaucha – und in Halle – den Brauch an, dass die Vornehmen und die einigermaßen Wohlhabenden an einem bestimmten Wochentag, nämlich donnerstags, Almosen verteilten, d.h. in erster Linie Brot ausgaben. […].
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und so kleiden? Wo steht das? Der Stand, das Amt ist von Gott; darin soll man Gott und dem Nächsten dienen. Aber wo steht das, dass du dich so oder so halten sollst gemäß deinem Stand? Staub und Asche, ein elender Madensack bist du; das ist dein Stand, danach halte dich und wisse, dass uns die Kleider zum Zeichen der Sünde gegeben sind, dass es der Diebesstrick ist, den wir an uns tragen zum Zeichen, dass wir den Tod verdient haben. […] Das soll demnach von uns wohl in Acht genommen werden, dass man von seinen zeitlichen Gütern nur soviel für sich gebrauchen darf, wie zur Notdurft gehört. Es ist also nicht verwehrt, dass einer von dem Seinigen gebraucht, was zu seiner Gesundheit, zu seiner Stärkung und Erquickung nötig ist, damit er sein Amt und seine berufliche Tätigkeit umso besser verrichten kann. Niemand soll sich beschweren, man wolle den Leuten Essen und Trinken verbieten; man solle nur einen Leinenkittel anziehen und was dergleichen mehr ist; sondern es ist nur gemeint, dass man den Überfluss an Kleidern, im Essen und Trinken und an so vielen unnötigen Ausgaben abschaffen, dasjenige aber, was sittsam und mäßig ist, behalten und sich darin recht schicken soll. […] Es ist aber nicht genug, sie freundlich zu hören und mit bloßen Worten abzuspeisen, sondern wir sollen vielmehr [...] ihnen auch zu helfen suchen. Die meisten geben leere Worte, wenn die Armen vor ihre Tür kommen, und sagen: Gott helfe dir, und lassen sie damit fortgehen. Allein, wenn du spricht: Gott helfe dir, und behältst dein Brot und Geld und lässt den Armen ohne Hilfe weggehen, inwiefern geht es dann dem Armen besser? Das hat Jakobus in seiner Epistel – Kap. 2,15–17 – schon vorhergesagt: Wenn ein Bruder oder eine Schwester nackt wäre und Mangel an der täglichen Nahrung hätte und jemand unter euch spräche zu ihnen: Gott berate euch, wärmt euch und sättigt euch, ihr gäbet ihnen aber nicht, was der Leib nötig hat – was könnte ihnen das helfen? So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber. So soll man denn die Armen nicht allein freundlich hören, sondern man soll ihnen auch zu helfen suchen. […] Lesen wir die Kirchengeschichte, so findet es sich, dass auch kaiserliche und königliche Personen in die Hospitäler und Krankenhäuser gegangen sind und die Wunden der Kranken gesalbt, verbunden und geheilt, die Elenden auf allerlei Weise gepflegt und so ihr Christentum recht bewiesen haben.7 So ging es zu, als die erste Liebe noch brannte, welche nunmehr erkaltet ist. Ach, das verhätschelte Volk, das jetzt unter den Christen ist, wird sich nach einem Kranken nicht umsehen! Möchten sie doch nur ihr Überflüssiges, das sie für Pracht, 7
Die bekanntesten Beispiele sind Königin Radegundis (gest. 587) (s. Text 72) und Elisabeth von Thüringen (1207–1231) (s. Text 114).
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Hoffart und Wollust aufwenden, hingeben, so dass dadurch anderen geholfen werden könnte. Aber so sieht sich ein jeder ebenso wenig nach einem Armen um als dort der reiche Mann. Lazarus begehrte, sich von den Brosamen zu sättigen, die von des Reichen Tisch fielen. Daraus lernen wir ferner, [...] dass unsere Pflicht gegen die Armen die sei, dass wir nach Jesaja 58 unser Brot dem Hungrigen brechen. Lazarus begehrte, sich von den Brosamen zu sättigen. Deswegen sollen wir nicht darauf warten, bis wir reiche, große Leute werden; vielmehr soll ein jeder dem anderen nach der Gabe, die ihm Gott gegeben hat, gern und willig mitteilen und ein Verlangen haben, gerne mehr zu tun. Wo also einer mit dem anderen nur ein Stück Brot aus gutem Herzen teilt und dabei gern mehr tun wollte, wenn er es vermöchte und der Arme es benötigte, so ist es Gott, dem Herrn, schon angenehm. Ja, es soll ein jeder, wenn er Kranke, Arme, Notleidende sieht, immer bedenken, er sähe den Herrn Jesus selbst dastehen. Denn so sagt er: Was einem von den Geringsten geschehe, das sei ihm geschehen (Mt 25,40). Nun, wenn der Herr Jesus vor deine Tür kommen sollte und dich um eine Gabe, um einen Bissen Brot, um einen Trunk ansprechen würde, würdest du es dem Herrn Jesus abschlagen? So sollst du es demnach nicht anders achten, als hättest du es dem Herrn Jesus selbst getan, wenn du einem Notleidenden hilfst. Es wird von Sulpicius Severus8 im Leben des heiligen Martinus ein schönes Beispiel erzählt: diesem sei einmal, als er Soldat war, ein armer Mann begegnet, der nackt und bloß war; dies habe ihn so gejammert, dass er seinen Mantel, den er um sich hatte, genommen, ihn mit seinem Schwert entzweigehauen, die Hälfte des Mantels um sich geschlagen und die andere dem Armen gegeben habe. In der folgenden Nacht träumte ihm, als ob der Herr Jesus selbst zu ihm käme und die eine Hälfte des Mantels um sich hätte, die er dem Armen umgelegt hatte, und zu den dabeistehenden Engeln sagte: Martinus, der noch im Anfang der christlichen Lehre unterwiesen wird, hat mich mit diesem Kleid bedeckt. Siehe, dieses Beispiel wird dazu erzählt, dass ihr dadurch ermuntert werden möget, die Augen aufzutun, dass es nicht um der Armen willen zu tun sei, sondern es ist dem Herrn Jesus so lieb, als ob es ihm selbst zugutekäme. […] Ferner müssen wir auch wissen, dass wir den Armen nicht allein im Leiblichen helfen, sondern, weil die meisten Menschen geistlich arm und an ihren armen Seelen schlecht verpflegt sind, auch daran denken sollen, dass ihnen an ihren Seelen geholfen werden möge. Seht, wie manches Kind geht dahin in die Irre, das weder von Gott noch von 8
Sulpicius Severus (ca. 360–410/20), aus Aquitanien stammend, trat unter dem Einfluss Martins von Tours zum Mönchtum über; seine Vita S. Martini hatte im Mittelalter starke Auswirkungen (s. Text 55).
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seinem Wort weiß, geht in keine Schule, wird nicht unterrichtet; da musst du, der du Geld und Gut hast, die Augen auftun, musst darauf sinnen, wie ein solches Kind aus dem Rachen des Teufels gerissen werden könne. Es soll dir daran gelegen sein, wie es dazu angehalten werden kann, zur Schule zu gehen, und kannst du die Kosten dazu aufbringen, so legst du dein Geld gut an. So verhält es sich auch mit anderen Menschen: Man hat sein Gesinde und seine Dienstboten; da soll man darauf sehen, dass diese an ihren Seelen versorgt werden. Dies alles wäre weitläufiger auszuführen, wenn es die Zeit erlauben würde. Vierter Teil. Wir wollen aber (IV) noch sehen, was für eine Strafe den Unbarmherzigen widerfahren wird und was für Gnadenbelohnungen die Barmherzigen empfangen werden. Denn es heißt von dem Armen, V. 22. 23.24: Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Es folgt: Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß, rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und meine Zunge kühle; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Siehe, wie bald erfolgt doch die schreckliche Höllenstrafe auf die verübte Unbarmherzigkeit des reichen Mannes. Solange ein Mensch einen anderen Menschen noch sieht, ist noch Zeit, an ihm Barmherzigkeit zu erweisen. Wenn er aber einmal aus diesem Leben scheidet, dann ist die Gnadenzeit aus, danach heißt es: Es ist eine große Kluft befestigt, die vorher noch nicht befestigt war. Da sich nun der reiche Mann zuvor in kostbares Leinen gekleidet hatte, war er hernach von höllischen Flammen umgeben. Da er vorher alle Tage herrlich und in Freuden gelebt hatte, so litt er hernach Pein in der höllischen Flamme und einen schrecklichen Durst anstatt des köstlichen Getränks, das er vorher genossen hatte, damit er auch ein Tröpfchen Wassers begehrte, mit dem ihn Lazarus, der zuvor vor seiner Tür gelegen hatte, laben sollte. Du sollst also daraus erkennen, dass die höllische Pein darauf steht, wenn der Mensch so unbarmherzig in seinem Leben ist. So sagt Jakobus in seiner Epistel (2,13): Es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; dies hat der reiche Mann in der Hölle erfahren. […] Ja, sie sollen auch in der Hölle nicht die geringste Ruhe haben; das Gewissen wird sie auf das Schrecklichste quälen, und ihre Qual wird
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durch das Ansehen der anderen Verdammten vermehrt werden – wie es denn in der Offenbarung des Johannes 14,11 steht: Sie haben keine Ruhe Tag und Nacht. Ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer wird nicht verlöschen (Jes 66,24). So erging es dem reichen Mann in der Hölle, wie er denn sagte: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Es quälte ihn also das Gewissen, dass er seinen Brüdern, die auch so dahinlebten, wie er es getan hatte, ein solches Ärgernis gegeben hatte. […] Quelle: August Hermann Francke, Predigten I, hg. v. E. Peschke. Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. II, Bd. 9, Berlin/New York 1987, [207] 208–239. Übertragung und Anmerkungen: Gerhard K. Schäfer.
172. August Hermann Francke: Ordnung und Lehrart (1702) Missionarisches, diakonisches und erzieherisches Wirken bildeten bei Francke eine Einheit. Reichtum und Armut, aber auch Wollust und Homosexualität zählen für Francke zu den „Hauptverhinderungen der Bekehrung“. Tanz, unbotmäßiges Essen und Trinken sowie „unbescheidene“ Kleider als Zeichen der Sünde verleiten zu Ausschweifungen. Die im Pietismus angestrebte „Weltverwandlung durch Menschenverwandlung“ (Martin Schmidt) verfolgte diametral entgegengesetzte Ziele und prägte damit dem diakonisch-pädagogischen Wirken den eigentümlichen Stempel pietistischer Lebensführung auf. Die vorliegenden Textausschnitte, die als Anhang den Ausführungen zu Ordnung und Lehrart im Waisenhaus beigefügt sind, geben einen lebendigen Einblick in die Pädagogik Franckes. Neben dem programmatischen Ziel einer frommen Lebensführung sowie der Bekehrung und Erweckung stehen die Einübung in einen geordneten Tagesablauf, Hygiene, Essensregeln und häusliche Fertigkeiten, um „Ausschweifungen“ in jeglicher Form, z.B. unkontrolliertes Herumspringen, zu verhindern. Francke entwickelt ausführlich ein Verständnis von Strafe, das die planlose, brutale, körperverletzende und willkürliche Strafe durch Lehrer bzw. Erzieher programmatisch ablehnt. Er plädiert für ein abgestuftes Verfahren, das die Verhältnismäßigkeit der Mittel als auch die Besonderheiten des Kindes berücksichtigt. Das beste präventive Mittel gegen Abweichung sieht er in einer – aus heutiger Sicht ambivalenten – umfassenden „sorgfältigen Inspection“, d.h. Überwachung, des Kindes. I. Instruktion oder Regeln für die Präzeptoren der Waisenkinder. 1. Gleichwie der Hauptzweck der Anstalten dieser ist, dass die Waisen zum Dienste Gottes und des Nächsten mögen auferzogen werden, so ist auch der ganze Umgang der Präzeptoren zur Erbauung in der wahren Gottseligkeit sorgfältig zu richten und fleißig zu sorgen, dass nichts einschleiche, so diesem Zweck zuwider ist. 2. Die Gottseligkeit aber muss nicht eine bloß äußerliche oder nur gesetzliche Ehrbarkeit, sondern in lebendiger Erkenntnis Jesu Christi gegründet sein; als welches die Hauptsache ist, die ein Präzeptor durch fleißige Betrachtung des Wortes Gottes und Gebet für sich und seine Kinder zu suchen hat. Sonderlich siehet er in den Betstunden mit den Kindern und dem Vortrage des Wortes Gottes jedes Mal darauf, dabei denn alle Ausschweife und was dazu nicht dient, sorgfältig zu ver-
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meiden; sich selbst stellt er dar als ein rechtes Vorbild der Herde und bezeugt mit seinem ganzen Wandel, dass Christus sein Alles sei. 3. Des Winters und Sommers weckt er die Kinder früh um 5 Uhr auf, welches mit allen Kindern und Klassen so zu halten ist, auch mit denen, so auf der Motions-Klasse sind. Es ist aber allezeit zu observieren, dass der Präzeptor immer bei ihnen gegenwärtig sei, wenn sie sich anziehen und waschen, damit alle Unordnung verhütet werde, und regt er die Kinder fleißig an, dass sie sich bald fein anziehen, damit sie zu rechter Zeit sich zum Gebet versammeln mögen. Widrigenfalls, wenn die Kinder entweder zu spät aufstünden oder zu viel Zeit mit dem Anziehen zubrächten, würde das Gebet, daran doch das meiste gelegen, verkürzt oder nur obenhin verrichtet werden müssen. […] 8. Die Kinder müssen allezeit unter sorgfältiger Inspektion gehalten werden, es sei in der Stube, auf dem Hofe, auf dem Speise- oder Bettsaal, beim Kleiderwechseln oder bei der Reinigung oder wo es auch sein mag, und sind ohne Not auch nicht auf eine kurze Zeit allein zu lassen; daher kann ein Präzeptor in den Freistunden kein Kollegium besuchen. Es ist die Inspektion nicht nur mit körperlicher Präsenz, sondern auch mit geistiger Präsenz und also treulich zu verrichten, daher kann ein Präzeptor nicht mit anderen zusammentreten, noch auch hin und her spazierend sich in einen langen Diskurs einlassen, vielmehr hat er seine Kinder nach der Liste, so er auch wohl bei sich trägt, immer zu übersehen, es sei auf der Stube, auf dem Hofe, in der Kirche oder beim Spazierengehen oder sonst, ob sie auch alle da sein, und wo eins fehlt, selbiges zu bemerken und zu examinieren, wo es gewesen. Ist ein Präzeptor auf der Stube, hat er nicht nur zuzusehen, ob sie alle da sein, sondern auch, was sie machen, was sie lesen, was sie schreiben, denn es kann leicht geschehen, dass ein Kind heimliche Briefe schreibt oder in garstigen Büchern liest oder doch nichts recht vornimmt, worin er ihm mit Rat, Warnung und Abhaltung, auch Vorstellung des Willens und der Allgegenwart Gottes nach Befinden begegnen kann. Denn die sorgfältige Inspektion ist der eigentliche Nerv der Erziehung, daher niemand hierin nachlässig oder bequem, sondern vielmehr durch die Gnade Gottes erweckt und mühsam sein soll, wie denn auch nach der Möglichkeit dahin zu sehen ist, dass der Präzeptor zu rechter Zeit da sei, wenn die Kinder aus der Schule kommen, damit sie vor der Wohnstube nicht lange warten dürfen oder lange allein auf der Stube ohne Inspektion sein und Mutwillen treiben mögen. Durch hartes Bedrohen oder Bestrafen aber das erzwingen wollen, was man durch Präsenz und genaue Beaufsichtigung erhalten oder verhüten könnte, ist unverantwortlich. […]
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19. In den Freistunden außer der Schule sind zwar die Kinder nicht strikt zum Studieren anzuhalten (nach Tische sind sie gar davon abzuhalten), doch ist auch dahin zu sehen, dass sie nicht gar Müßiggang treiben oder lauter Allotria vornehmen mögen. Und wenn man an einem durch genugsame Observierung, auch Besprechung mit den Präzeptoren ihrer Klasse, gewahr wird, dass er sich zu nichts recht eignet und die Wohltat nur zur Faulheit und gute Tage zu haben missbraucht, ist er nach genugsamer Warnung anzuzeigen, als der dem Zweck dieser Anstalten ganz entgegen lebt. Will oder kann ein Knabe nicht studieren und erreicht doch die Jahre, ist er vorher zum h. Abendmahl zu präparieren und bei Zeit zu einer Profession oder Handwerk zu tun. […] 21. Auf die Korrespondenz der Kinder ist fleißig Acht zu geben und ihre Briefe, welche sie schreiben oder bekommen, durchzusehen, und hat sich kein Knabe unter keinerlei Vorwand hierin auszunehmen. Es seien die Briefe an die Eltern oder von den Eltern oder an wen sie wollen, so findet keine Ausnahme statt. Dabei reflektiert der Präzeptor sowohl auf die Materie als auch auf die Form oder Stilisierung des Briefes, sonderlich dass sie nicht zum Nachteil der Anstalten etwas hinschreiben und sich dadurch mit Lügen und Undankbarkeit versündigen. Es kann ihnen hier nicht genug auf die Finger gesehen werden wegen des mancherlei Betrugs, e. g. dass sie einen Brief zeigen und andere zurückbehalten oder dass sie beim Reinabschreiben oder Versieglung des Briefes noch was hineinschreiben. Es tut hierin der Präzeptor das Seinige und lässt es nebst sorgfältiger Inspektion an Ermahnung und Vorstellungen nach Gelegenheit nicht ermangeln. […] 27. Kein Kind muss über das andere ungebührlich erhoben noch ein Kommando über andere verstattet werden. Wie denn wohl zuzusehen ist, dass der Präzeptor weder durch Loben noch Verhöhnen die Besserung hindere und wenn eine reelle Korrektion oder Bestrafung vonnöten ist, dieselbe weislich und väterlich als von Gott verrichte und sich ja hüte, dass die Schläge den Kindern nicht einiger Schaden weder am Kopfe noch an ihrer Gesundheit geschehe. […] III. Instruktion für die Präzeptoren, was sie bei der Disziplin wohl zu beobachten. Christliche Zucht und Bestrafung der Bosheit an den Kindern ist in den Schulen sehr notwendig und von Gott in seinem Wort auch ernstlich anbefohlen. Es ist aber dabei christlich, weislich, klüglich und vorsichtig zu verfahren, damit man der Sachen, wie es oft geschieht, nicht zu viel noch auch bisweilen nicht zu wenig tue. Daher sind nachfolgende Punkte unter anderen wohl zu beobachten:
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1. Vor allen Dingen soll ein christlicher Präzeptor Gott fleißig anrufen, dass er ihm zu rechter Ausübung christlicher Zucht Gnade und Weisheit geben wolle. 2. Weil insgemein zu geschehen pflegt, dass die meisten Präzeptoren aus Mangel hinlänglicher Erfahrung und recht göttlicher Liebe das Gute mehr durch scharfe äußerliche Zucht zu erzwingen als ihre Anvertrauten recht im Geist der Liebe zu fassen und mit väterlicher Treue, Geduld und Langmütigkeit ihre Herzen zum Guten zu bringen und also nicht Zuchtmeister, sondern Väter zu sein suchen, wie denn sonderlich bei noch jungen Jahren solcher väterliche Sinn und wahre christliche Sanftmut gar selten angetroffen wird: Also soll ein jeder Präzeptor Gott inständig und demütig in Sonderheit anflehen, dass er ihm einen solchen Vatersinn gegen die anvertraute Jugend in sein Herz geben und alles ungebrochene Wesen und Härtigkeit von ihm nehmen wolle. 3. Daher ein Präzeptor sonderlich zusehen muss, dass er mit der Hilfe Gottes ein Herr über sich und seine Affekte werde. Denn sonst ist [er] nicht tüchtig, über christliche Zucht zu halten und das Böse väterlich und ernstlich zu bestrafen. […] 8. Ehe bei einem bösen Kinde die Stufen der Ermahnungen gebraucht worden und zum wenigsten dreimal eine Warnung und mündliche Bestrafung vorhergegangen, ist es nicht zu schlagen. 9. Es ist auch kein Kind zu schlagen, man habe ihm denn sein Verbrechen erst vorgehalten und es dessen auch überzeugt. Denn wenn man einem Kinde nicht deutlich sagt, warum es soll gestraft werden, noch dasselbe seiner Bosheit überzeugt ist und man schlägt es doch, so steht es immer in den Gedanken, man tue ihm unrecht und wird dadurch nicht wenig erbittert. 10. Wenn aber ein Verbrechen oder Sünde einem Kinde vorzuhalten ist, so kann man wider dieselbige einen deutlichen biblischen Spruch anführen und lesen lassen, als wider Ungehorsam, Eph 6,1: Ihr Kinder seid gehorsam euren Eltern, u[nd] / oder Hebr 13,17: Gehorchet euren Lehrern und folget ihnen, u[nd] / oder 1Sam 15,23: Ungehorsam ist eine Zaubereisünde, u[nd] wider Scherz und närrische Reden oder Narrenpossen, Eph 4,29: Lasst kein faul Geschwätz aus eurem Munde gehen, u[nd] / oder Eph 5,4: Schandbare Wort und närrische Reden oder Scherz, welche euch nicht ziemen, lasst nicht von euch gesagt werden, u[nd] wider Mutwillen und Bosheit, 1Petr 2,1: So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug, u[nd] wider üble Namen, Mt
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4,22: Wer zu seinem Bruder sagt: Du Narr, der ist des höllischen Feuers wert, u[nd] wider Bitterkeit, Zorn und Hass, Eph 4,31. […]. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr und 1Kor 4,10: Die Diebe werden das Reich Gottes enterben, und wider die Hoffart Tob 4,14: Hoffart lass weder in deinem Herzen noch in deinen Worten herrschen, denn sie ist ein Anfang alles Verderbens; wider das Spielen, es habe Namen, wie es wolle 1Kor 10,7: Werdet nicht Abgöttische, gleich wie jener etliche wurden, als geschrieben steht: Das Volk setzte sich nieder zu essen und zu trinken und stund auf zu spielen und fielen darauf des Tages 3000, die mit dem Schwert erwürgt wurden. Ex 32,27.28. – Denn wenn dieses geschieht, so werden die Kinder dadurch überzeugt, dass sie gesündigt haben, und solches bleibt auch hernach in ihrem Gedächtnis bekleben. […] 12. Wenn ein Kind plaudert, so ist es auch nicht bald zu schlagen, sondern erst ein oder andere Mal davor zu warnen. Merkt aber der Präzeptor, dass ein Kind vor anderen zum Plaudern sehr geneigt, dass es dasselbe fast nicht lassen kann, so tut er wohl, wenn er solches Kind hervor ruft und ihm befiehlt, dass es auf die Kinder, die plaudern, Acht geben soll, denn auf solche Weise wird ihm unbemerkt die Gelegenheit genommen, mit anderen mehr zu plaudern. Nimmt aber der Präzeptor wahr, dass ein Kind, ungeachtet es oft gewarnt ist, doch vorsätzlich plaudert und Unruhe macht und also bei ihm eine Bosheit ist, so kann er dasselbe mit einem oder etlichen Handschmitzen nebst einer guten Erinnerung auf väterliche Weise bestrafen […]. 17. Schimpfliche Namen und Spottreden sind den Kindern durchaus nicht zu geben, als wodurch sie mehr erbittert als gebessert werden. Daher soll man sie nicht etwa aus Ungeduld heißen Ochsen, Esel, Schweine, Hunde, Bestien, Narren, Halunken, Sauhirten u[nd] noch weniger sollen sie sie Teufelskinder nennen. Am allerwenigsten aber soll man auf sie fluchen und ihnen Böses wünschen. Denn dieses alles sehr unchristlich ist und einem christlichen Praezeptor gar nicht ansteht. Man kann die üblen Kinder wohl nach Befinden der Umstände nennen böse, wilde, freche, mutwillige, unruhige, ungehorsame, faule oder unchristliche Kinder, anders und härter aber sind sie gar nicht zu heißen, weil es nicht in der Liebe geschehen kann. 18. Mit der Liebe kann auch wohl nicht bestehen, wenn ein Präzeptor manches Kind auf eine schimpfliche Art mit einem Tier oder anderen verächtlichen Dinge vergleicht und etwa sagt: Du machst es oder du bist wie ein Bär, Löwe, Ochse oder wie ein grober Bauer, u[nd] weil denn nun solches ein Kind, zumal wenn es groß ist, nicht wenig er-
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bittern kann, so soll ein Präzeptor sich dessen auch gänzlich enthalten. 19. Auch soll ein Präzeptor die bösen Kinder nicht so oft mit den Strafen Gottes, mit dem höllischen Feuer und mit der ewigen Verdammnis bedrohen, damit sie dessen nicht gewohnt werden und endlich nicht mehr danach fragen. Es ist besser, dass er ihnen das Evangelium oft vorhalte, wie gut es nämlich die frommen Kinder in Christo haben und zu was für einer Herrlichkeit sie noch kommen sollen, dessen allen aber sich böse Kinder durch ihre beharrliche Bosheit ganz verlustig machen. […] 26. Kein Kind ist auf den Kopf, weder mit der Hand noch mit dem Stecken noch mit der Rute noch mit einem Buch zu schlagen. Viel weniger soll man einem Kinde eine oder mehr Ohrfeigen oder Maulschellen geben, weil dieses insgemein aus fleischlichem Affekt und Übereilung zu geschehen pflegt und dadurch doch bei den Kindern nichts genützt, sondern vielmehr ihnen an ihrem Gemüte viel Schaden getan wird. Weil auch oft, zumal bei vollblütigen Kindern, durch eine Maulschelle die Nase blutend gemacht wird, daraus viele Erbitterung und Lästerung entsteht, so hat man sich desto mehr davor zu hüten. […] 28. Auch soll kein Kind mit den Armen hin und her gerissen werden, bei den Haaren gerauft, noch ihnen mit dem Stecken Knippen auf die Finger oder Schläge auf die Hände gegeben werden. Handschmitze aber mit der Rute geben oder sonderlich die größeren Kinder mit einem Stecken auf den Rücken schlagen, wenn es väterlich und nicht im fleischlichen Zorn geschieht, ist nicht verboten. […] 30. Schillinge sollen zwar auf den kleinen Knaben (aber nicht einigen Mägdlein) gegeben werden, doch aber nicht um geringer Dinge willen, sondern nur, wenn ein Kind sehr boshaftig ist und sich sehr grob versündigt hat; es soll aber auch dieses nicht ohne Vorwissen und Konsens des Inspektors geschehen. […] 45. Bei der Bestrafung selbst muss ein Präzeptor zwar ernstlich, aber doch auch väterlich sein, dass, wenn ein Kind soll bestraft werden, sich aber kläglich stellt, mit Tränen um Vergebung bittet und sich mit der Hilfe Gottes zu bessern ernstlich verspricht, er es ihm ein- oder zweimal schenke und die Strafe erlasse. Kommt es aber zum dritten Mal mit eben der Bosheit wieder, so kann er desto schärfer, aber doch väterlich, nach gewissen Graden [...] strafen. Und wenn die Strafe geschehen, soll der Präzeptor sich von dem Kinde die Hände geben, für
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die väterliche Züchtigung und mit Verleihung göttlicher Hilfe Besserung angeloben lassen. […] 62. Ein treuer und christlicher Präzeptor muss sich bemühen, so viel an ihm ist, den Kindern immer weniger Schläge zu geben, hingegen aber mit herzlichen Ermahnungen aus Gottes Wort bei ihnen desto mehr anzuhalten, welches denn Gott nicht ohne Segen wird abgehen lassen. Quelle: August Hermann Francke, Ordnung und Lehrart, wie selbige in denen zum Waisenhause gehörigen Schulen eingeführet ist (1702), in: ders., Pädagogische Schriften, hg. v. Gustav Kramer, Osnabrück 1966 (Neudruck der zweiten Ausgabe 1885), 176–204.
173. August Hermann Francke: Wahrhafte und umständliche Nachricht (1701/1709) Franckes Konzeption von Frömmigkeit und sein Wirken führten häufig zu Konflikten mit dem intellektuellen Milieu der Universität und der Stadtgeistlichkeit. Konflikte in Halle, denen bereits Auseinandersetzungen in Leipzig (1689) und Erfurt (1690) vorausgegangen waren, führten 1700 zu einer offiziellen Untersuchung des Waisenhauses, die mit der vollen Anerkennung Franckes endete. Den Bericht für diese Untersuchung veröffentlichte Francke 1701 unter dem Titel „Die Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes“ und ergänzte ihn in mehreren Auflagen. Der vorliegende Textausschnitt dokumentiert die bescheidenen Anfänge (1694) der diakonischen Arbeit Franckes und das kompakte Ineineinander von Diakonie sowie katechetischen und pädagogischen Zielen. 1. Was den Ursprung und Veranlassung, auch Fortgang und Zunehmen des ganzen Werks betrifft, davon ist bereits vor etlichen Jahren einige Nachricht in öffentlichen Druck gegeben, woraus jetzt das Vornehmste kurz zu wiederholen und bis auf diese Zeit zu kontinuieren sein wird. Es war vormals in Halle sowohl als in der Vorstadt gewöhnlich, dass die Leute einen gewissen Tag bestimmten, an welchem die Armen zugleich vor ihre Türe kommen und die Almosen als wöchentlich einmal abfordern sollten. Weil nun solches in meiner, als des Pastors zu Glaucha, Nachbarschaft des Donnerstags geschah, so kamen die armen Leute von sich selbst darauf, dass sie an eben dem Tage vor meiner Tür zu gleichem Ende sich häufig versammelten. Ich ließ ihnen eine Zeitlang vor der Tür Brot austeilen, bedachte aber bald dabei, dass dieses eine erwünschte Gelegenheit sei, denen armen Leuten, als bei welchen mehrenteils große Unwissenheit zu sein und viele Bosheit vorzugehen pfleget, auch an ihren Seelen durchs Wort Gottes zu helfen. Daher, als sie einmal auch vor dem Hause auf die leiblichen Almosen warteten, ließ ich sie alle ins Haus kommen, hieß auf eine Seite die Alten, auf die andere das junge Volk treten und fing alsofort an, die Jüngeren freundlich zu fragen aus dem Katechismus Luthers von dem Grunde des Christentums, ließ die Alten nur zuhören, brachte mit solcher Katechisation nicht mehr Zeit als etwa eine Viertelstunde zu, beschloss mit einem Gebet und teilte darauf nach Gewohnheit die Gaben aus, mit beigefügter Vorstellung, dass sie also künftig allezeit das Geistliche und Leibliche zugleich haben sollten, und ermahnte sie,
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allezeit des Donnerstages auf gleiche Weise in meinem Hause zu erscheinen, welches sie denn auch taten. Dieses ist zu Anfang des 1694sten Jahres angefangen. 2. Weil ich nun bei dem armen Volk solche grobe und gräuliche Unwissenheit fand, dass ich fast nicht wusste, wo ich anfangen sollte, ihnen einen festen Grund ihres Christentums beizubringen, bin ich von solcher Zeit her bekümmert gewesen, wie ihnen nachdrücklicher geholfen werden möchte, wohl erwägend, dass dem Christlichen und gemeinen Wesen ein sehr großer Schade daraus entstehe, dass so vieles Volk, als das Vieh, ohne alle Wissenschaft von Gott und göttlichen Dingen dahin geht, in Sonderheit aber, dass so viele Kinder wegen der Armut ihrer Eltern weder zur Schulen gehalten werden noch sonst einiger guten Auferziehung genießen, sondern in der schändlichsten Unwissenheit und in aller Bosheit aufwachsen, dass sie bei zunehmenden Jahren zu nichts zu gebrauchen sein und daher sich auf Stehlen, Rauben und andere böse Taten begeben. Der Anschlag, die Kinder zur Schulen zu halten und ihnen das wöchentliche Schulgeld zu reichen, wollte nicht gelingen. Denn es befand sich, dass sie zwar das Schulgeld richtig abforderten, aber entweder nicht in die Schule gingen oder doch keine Besserung dadurch von sich spüren ließen. 3. Hierzu kam, dass mir die Not der Hausarmen, die sich von dem öffentlichen Almosensammeln enthalten, sehr zu Herzen ging. Diesen nun auf einige Weise zu dienen, kaufte ich eine Almosenbüchse, ließ bei christlichen Studiosis und andern Leuten, die sich freiwillig dazu verstanden, solche wöchentlich herumgeben und kam auf die Weise etwa wöchentlich ein halber Taler ein, welches ich zur Versorgung der Hausarmen zu Hilfe nahm. 4. Es währte aber nicht lange, so schien diese Büchse einigen beschwerlich zu werden, und kam so wenig ein, dass es sich der Mühe fast nicht verlohnte, sie noch ferner herumzugeben, sonderlich da man dieselbe niemandem offerierte, als wo man sich eines guten Willens versichert hielte, solche aber am wenigsten das Vermögen dazu hatten, und die Reichen von ihrem Überfluss nichts dazu gaben, wie man‘s auch von ihnen nicht begehrte, dieweil sich keine Kennzeichen einiger wahren Verleugnungen an ihnen zeigten, obwohl einige derselben das Ansehen haben wollten, als ob sie sonderliche Liebhaber des Worts Gottes wären. 5. Daher stellte ich dieses gar ein, ließ aber in der Wohnstube des Pfarrhauses eine Büchse fest machen und oben drüber schreiben,
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1Joh 3, V. 17: „So jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schleust sein Herz vor ihm zu, wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm?“ Und drunter 2Kor 9, V. 7: „Ein jeglicher nach seiner Willkür, nicht mit Unwillen oder Zwang, denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ Dieses sollte diejenigen, so bei mir aus- und eingingen oder von andern Orten zu mir kämen, selbst erinnern, ihr Herz gegen die Armen aufzuschließen. Solches geschah zu Anfang des 1695sten Jahrs, dass ich‘s mit dieser Büchse anfing. 6. Und also habe ich‘s eine geraume Zeit auf diese und andere Weise versucht, wie die Armen recht versorgt werden könnten, und ist jedes in seiner Maße von Gott gesegnet worden. Ehe ich noch erwähntermaßen die Armenbüchse in der Pfarrwohnung befestiget, jedoch nur einige Tage vorher, kam ich gleich als von ungefähr bei die Bibel und las die Worte 2Kor 9, V. 8: „Gott kann machen, dass allerlei Gnade unter euch reichlich sei, dass ihr in allen Dingen voll Genüge habt und reich seid zu allerlei guten Werken.“ Diese Worte bekümmerten mein Herz, dass ich gedachte: „Wie kann Gott machen? Ich wollte gerne manchen Armen Gutes tun, wenn ich was dazu hätte. Nun muss ich manchen leer und ohne Hilfe von mir gehen lassen.“ Etliche Stunden drauf kriegte ich ein Schreiben von einem christlichen Freunde, der sich sehr schmerzlich beklagte, dass er mit den Seinigen in Armut verderben müsste; er wolle von niemand mehr etwas borgen, wolle ihm jemand etwa um Gottes Willen geben, so wolle er‘s mit Dank nehmen. Da erinnerte ich mich dessen, was ich kurz vorher gelesen, und ward noch mehr solcher Worte wegen bekümmert und zum Gebet und Seufzen bewogen, kam endlich in meinem Gemüt auf einen Anschlag, wie diesem Mann in solcher Not auf eine christliche Weise und ohne einiges Menschen Beschwerung nachdrücklich beizuspringen sei. Solchen Anschlag habe ich unverzüglich ins Werk gerichtet, und hat dieselbe Familie in einem Jahr auf anderthalb hundert Taler durch solch Mittel empfangen und sich der Armut erwehret. Dieses gab mit eine gute Auslegung, wie Gott machen könne, dass man reich sei zu allerlei guten Werken; welches ich denn um des willen hier nicht vorbeigehen wollen, damit man daraus desto eigentlicher erkennen möge, wie Gott das ganze Werk so wohl äußerlich veranlasst, als mein Gemüt dazu gestärket. 7. Da ferner etwa ein Vierteljahr die Armenbüchse in der Pfarrwohnung befestiget gewesen, gab eine gewisse Person auf einmal vier Taler und sechzehn Groschen hinein. Als ich dieses in die Hände nahm, sagte ich mit Glaubensfreudigkeit: „Das ist ein ehrlich Kapital, da-
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von muss man etwas Rechtes stiften; ich will eine Armenschule damit anfangen.“ Ich besprach mich nicht darüber mit Fleisch und Blut,1 sondern fuhr im Glauben zu und machte noch desselbigen Tages Anstalt, dass für zwei Taler Bücher gekauft wurden, und bestellte einen armen Studenten, die armen Kinder täglich zwei Stunden zu informieren, dem ich wöchentlich sechs Groschen dafür zu geben versprach, der Hoffnung, Gott werde indessen, da ein paar Taler auf diese Weise in acht Wochen ausgegeben würden, mehr bescheren. Die Bettelkinder nahmen die neuen Bücher mit Freuden an; aber von siebenundzwanzig Büchern, die unter sie ausgeteilt worden, wurden nicht mehr als vier wiedergebracht; die andern Kinder behielten oder verkauften die Bücher und blieben weg. Ich ließ mich das nicht abschrecken, sondern kaufte für die übrigen sechzehn Groschen neue Bücher, welche mir die armen Kinder allezeit, wenn die Schule aus war, mussten da lassen; wozu etliche Wochen darnach ein eigener Schrank gemacht ward, daraus die Bücher bei Anfang der Schule genommen und, wenn sie aus war, wieder darin verschlossen wurden; wie es auch noch jetzt in allen Armenschulen so damit gehalten wird. 8. Um Ostern 1695 fing sich die Armenschule mit so geringem Vorrat an. Denn die oben erwähnten vier Taler und sechzehn Groschen oder sieben Sechzehn Groschenstücken (die es eigentlich waren) sind der rechte Anfang und das erste Kapital, woraus nicht allein zuerst die Armenschulen angerichtet, sondern auch sofort hernach das Waisenhaus veranlasst und erwachsen ist. Ich bestimmte zu der Armenschule im Sommer einen Raum vor meiner Studierstube und ließ daselbst an der Wand eine Büchse aufhängen mit der Überschrift: „Zur Information der armen Kinder, und der dazu nötigen Bücher und anderer Zugehör. An. M.DC.XCV.“ Unter die Büchse ließ ich setzen den Spruch Prov 19, V. 17: „Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn, der wird ihm wieder Gutes vergelten.“ Auf dem heiligen Pfingstfest ward ich von einigen Fremden besucht, welche sich über diese neue Anstalt freuten und zur Fortsetzung des Werks einige Taler beitrugen. Auch haben nach der Zeit einige bis hierher etwas in diese Büchse gesteckt, und ist dadurch dem Werk immer einiger Beitrag geschehen. Quelle: August Hermann Francke, Wahrhafte und umständliche Nachricht von dem Waysen-Hause, und übrigen Anstalten vor Glaucha, in: ders., Segensvolle Fußstap1
Vgl. Gal 1,16.
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fen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes, Zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glaubens entdecket durch eine wahrhafte und umständliche Nachricht von dem Waysen-Hause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle, 3. Aufl., Halle 1709, 1–8.
174. August Hermann Francke: Verfassung der zu Glaucha an Halle befindlichen Anstalten (1709) 1727 umfassten die von Francke geschaffenen Einrichtungen ca. 2200 Kinder, davon 137 Kinder im Waisenhaus und 167 Lehrer. In mehr als drei Jahrzehnten erfuhr Franckes Wirken ein ungeheures Wachstum und zog öffentliche, teils internationale Aufmerksamkeit auf sich. Der vorliegende Bericht von 1709 führt die Vielfalt der Franckeschen Gründungen vor Augen. Sie reicht von der philologisch geschulten Förderung des Bibelstudiums über die Gründung des Waisenhauses und die Gründung von unterschiedlichen Schulen bis hin zu der darauf abgestimmten Lehrerausbildung. Selbst eine Apotheke, ein Buchladen und die Veröffentlichung von gesundheitlich förderlichem Wissen sind Teil der Gesamtkonzeption. § 1. Es sind jetzt fünfzehn Jahr, dass Gott hieselbst zu einigen Anstalten, so vornehmlich auf die so geist- als leibliche Versorgung der Armen, auf die christliche Erziehung der Kinder und auf die gute Anführung der Studenten ihr Absehen haben (a), einen wiewohl vor der Vernunft gar unscheinbaren Anfang gemacht hat. Denn anno 1694 zeigte eine freiwillig übernommene Unterrichtung der Bettelleute, b) dass es diesem armen Volke noch mehr an der Erkenntnis Gottes als am leiblichen Brot fehlte (c) und dieses veranlasste anno 1695 eine Armenschule, zu deren Stiftung sieben ZweiDrittel-Stücke, so zum Almosen gegeben worden, dienten (d) § 2. Hieraus erfolgte noch in selbigem Jahr die Aufnehmung und Versorgung einiger armen Waisen (e) und um dieselbige Zeit geschah auch bedürftigen Studenten eine Handreichung (f) und wuchs das Werk von Zeit zu Zeit dergestalt, dass anno 1698 im Frühjahr die Zahl der Waisenkinder schon hundert und der Studenten, die nebst denselben gespeist wurden, zweiundsiebzig war. § 3. Inzwischen wurde auch bereits anno 1695 zu einem Paedagogium, um in demselben bemittelter Leute Kinder wohl zu erziehen, ein Anfang gemacht (g), zwar mit dem Unterschied, dass vorgemeldete Erziehung und Verpflegung der Bedürftigen allein durch anderer zufließende Mildigkeit, das Paedagogium aber auf Unkosten derer, so ihre Kinder darinnen erziehen ließen, angefangen und fortgesetzt wurde.
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§ 4. Unter der Hand wurden sowohl diese Anstalten besser reguliert (h) als auch andere, wie es die Notdurft des Nächsten zu erfordern schiene, hinzu getan (i), mithin zu einem Buchladen und einer Apotheke, um mit der Zeit dadurch einige Beihilfe zu Versorgung der Armen zu erlangen, ein geringer Anfang gemacht (k), bis auch anno 1698, d. 13. Jul. (so jetzt nach verändertem Kalender der 24. ist) der Grundstein zum Gebäu[de] eines räumlichen Waisenhauses gelegt, selbiges binnen Jahresfrist durch die Hilfe Gottes glücklich unter Dach gebracht, anno 1700 schon guten Teils für die Waisen gebrauchet und anno 1701 völlig ausgebaut und bezogen worden. § 5. Wie nun solche Einrichtung bis auf den Ausgang des 1708. Jahres unter göttlichem Segen fortgegangen, sich nach und nach erweitert und in mehrere Anstalten ausgebreitet habe, davon ist umständliche Nachricht zu finden in den Segensvollen Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes, so anno 1709 aufs neue nebst sechs Fortsetzungen herausgegeben worden. […] § 7. Es sind in jetztgedachter Tabelle benennet l. Das Collegium Orientale Theologicum. II. Das Seminarium Praeceptorum. III. Die extraordinären Freitische im Waisenhause. IV. Das Paedagogium Regium. V. Das Waisenhaus, dabei befindlich l) die Auferziehung der Waisenkinder, 2) die Haushaltung, 3) die Apotheke, 4) die Buchdruckerei, 5) der Buchladen. VI. Die Schulen, nämlich eine so genannte Lateinische, und unterschiedene Deutsche Schulen. VII. Zwei Witwenhäuser. […] § 13. V. Das Waisenhaus begreift für jetzt 130 Waisenkinder, nämlich 102 Knaben und 28 Mägdlein, welche darinnen unterrichtet, erzogen und gespeist, auch mit aller übrigen Notdurft versehen werden. Über die Knaben haben auch außer den Schulstunden etliche Präzeptoren, so im Hause wohnen, die Aufsicht; über die Mägdlein eine Aufseherin, so die Waisenmutter genannt wird. […] § 15. Die Apotheke wird jetzt von einem Provisor, 2 Gesellen und 3 Jungen bestellt; und werden diejenigen Arzneien darinnen präpariert, welche gewöhnlich und insgemein in denen Officinen [Laboren] eingeführt sind, womit auch noch einiger Handel mit Materialien verknüpft ist. Diese stehen unter der Aufsicht derer beiden Medizinern des Waisenhauses. Von der Apotheke ist zu unterscheiden dasjenige Laboratorium, in welchem gemeldete beide Medici nebst noch 2 Gehilfen unterschiedene kräftige und sonst nicht bekannte Medikamente zum Nutz
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des Waisenhauses verfertigen, welche in einem eigenen Traktat, Unterricht vom Leibe und natürlichen Leben des Menschen benennet, und wie man sich derer bedienen könne, beschrieben sind. Es ist auch hiervon Nachricht zu finden in dem ausführlichen Bericht von der Essentia Dulci und den merkwürdigen Exempeln sonderbarer, durch die Essentiam Dulcem geschehener Kuren. Aus diesen Arzneien, deren an der Zahl etwa 13 sind, werden noch immer ganze Apotheken instruiert, so auf alle gewöhnlichen Fälle eingerichtet sind, deren sich ein jeder, wenn er gleich kein Medikus ist oder auch sonst nicht studieret hat, gar leichtlich zu seinem Nutzen gebrauchen kann, weil er in vermeldetem Traktat eine deutliche Handleitung dazu findet. Dieser Traktat wird jetzt zum dritten Mal aufgelegt und vermehrt, und in demselben nächst dem, was die rechte Applikation solcher Arzneien bei einer jeden Krankheit betrifft und was bei deren Gebrauch der Vorteil vor den gemeinen sei, auch die Beschaffenheit des Menschen nach dem Leibe gründlich erkläret, und ganz deutlich vorgestellt, damit ein jeder daraus lernen könne, wie der Leib gegen das Gemüte und das Gemüt gegen den Leib und das natürliche Leben disponiert und gestellt sein müsse und wie man sich also sowohl bei kranken als bei gesunden Tagen gebührlich verhalten und dadurch selbst geschickt werden solle zu prüfen, was zum Leben und zur Gesundheit diene. […] § 17. VI. Die Schulen, so zum Waisenhause gehören und aus dem Seminarium Praeceptorum mit Informatoribus1 versehen werden, sind 1) eine Lateinische, so meistens nach der Methode des Paedagogium Regii eingerichtet ist, und darinnen Lingua Latina in 7, Graeca und Hebraica in 6, die Theologie in 4, Arithmetik in 2, Musik in 4 und die Kalligraphie in 2 Klassen, wie auch die Historie, Geographie, Physik, Botanik, Anatomie und Malen gelehrt wird. Diese Schule hat ihren besondern Inspektor. Derer Schüler sind jetzt 256, unter welchen sich 64 Waisenkinder befinden; und der Präzeptoren, außer dem Inspektor, 26. 2) Die Deutschen Schulen, welche in 13 Klassen informiert werden, begreifen für jetzt 944 Kinder, unter welchen sind 38 Waisenknaben und die meisten Waisenmägdlein. Über diese Schulen ist ein besonderer Inspektor, der zugleich auch die Rechnungen und andere Oeconomica bei der Lateinischen Schule besorgt. 1
Lehrmaterial.
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Die Summa aller Schüler und Kinder (die Waisenknaben und Mägdlein mit eingeschlossen), ist für jetzt 1200, unter welchen die allermeisten umsonst und ohne Schulgeld unterrichtet, auch über das noch mit Büchern, Papier, Federn und Tinte versehen werden. Die Zahl aller Präzeptoren ist für jetzt 67. Hierzu gerechnet die § 12 gemeldete Zahl der Lehrenden und Lernenden im Paedagogium Regium, so ist die Summa derer, so bei diesen Anstalten unterrichtet werden 1272, und der Präzeptoren 89, über welche 3 Inspektoren gesetzt sind. Die Anzahl aber derer, so gespeist und unterhalten werden, ist für jetzt 368. § 18. VII. Die zwei Witwenhäuser, so von 2 unterschiedenen Wohltätern gestiftet, jedes auf 4 Personen, sind zwar noch in ihrem Stande, nachdem aber Gott nach seinem heiligen Rat die gottselige Stifterin des einen in ihre Ruhe eingeführt, wird dessen fernere Fortsetzung der göttlichen Regierung befohlen. […] § 24. Die Kranken sind bis daher im Waisenhause selbst akkomodiert worden; nachdem aber im vorigen Jahr in einem ziemlich großen nahe beim Waisenhause gelegenen Garten, welchen das Waisenhaus aus dem von Gott verliehenen Segen vorhin erkauft gehabt, ein besonderes Pflegehaus für Kranke angelegt worden, so ist nunmehr die Anstalt gemachet, dass die Kranken des Waisenhauses daselbst verpfleget werden, um so viel desto mehr, weil sie da einer mehreren Stille bei angenehmer Gegend und gesunder Luft zu genießen haben. In diesem Hause ist ein Studiosus bestellet, welcher das Gebet mit den Kranken verrichtet, auch im Übrigen mit dahin sieht, dass nichts Unordentliches oder den Kranken Nachteiliges im Hause vorgehe. Es werden auch manchmal kranke Studiosi und andere kranke Personen, die von menschlicher Hilfe verlassen sind, in dieses Haus genommen und daselbst verpflegt, wenn‘s der Raum zulässt. Doch ist dieses Haus nur für Mannespersonen und Knaben, nicht aber für Weibspersonen und Mägdlein. […] § 28. Endlich ist auch in diesem Jahr eine neue Anstalt zu Erziehung adeliger und anderer Töchter angefangen, bei welcher die Einrichtung und Führung solches ganzen Werks von einer christlichen und in Auferziehung und Anweisung der Kinder wohl geübten französischen Demoiselle abhängt. Die jährlichen Unkosten für Kost, Information, Heizung der Stube, Licht und Wäsche kommen jährlich auf achtzig Taler. Die Absicht dieser Anstalt ist, die anvertraute liebe Jugend, so von sieben bis zwölf Jahr alt aufgenommen wird, in der Furcht Gottes und christlicher Sittlichkeit zu erziehen, wobei auch Gelegenheit sein
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wird, das Französische, das Schreiben, das Rechnen und die nötigen weiblichen Arbeiten zu erlernen. Quelle: August Hermann Francke: Kurtze und deutliche Nachricht, in welcher Verfassung die zu Glaucha an Halle beydes zur Erziehung der Jugend und zur Aufnehmung auch nöthiger Verpflegung der Dürfftigen gemachten Anstalten sich ietziger Zeit im Juli 1709 befinden, Halle 1709, 3–24.
175. Georg Christoph Brendel: Verfluchte heilige Almosen (1710/1746) Der in Plauen geborene lutherische Theologe Georg Christoph Brendel (1668–1722) war seit 1696 Pfarrer in Thurnau in der Grafschaft Giech in Oberfranken bei Bayreuth und seit 1699 Leiter des Konsistoriums in der kleinen Herrschaft. Brendel vertrat zunächst radikalpietistische Positionen, mit denen die fundamentale Unterscheidung von äußerer Kirchlichkeit und Herzensfömmigkeit einherging. Innerhalb weniger Jahre vollzog er jedoch einen Wandel vom Radikalpietismus zum Spiritualismus, Panentheismus und zur Aufklärung. In seinen vielfach anonym oder pseudonym erschienenen Schriften bekannte er sich zum „Christus internus“, der in allen Menschen wohne. Er vertrat eine Art natürlichen Gewissensbegriff, den er auch für Türken und Heiden geltend machte. Brendel warf die Frage auf, ob die Obrigkeit ihren Untertanen nicht grundsätzlich Glaubensfreiheit gewähren sollte. Seine Thesen stießen bei Vertretern der lutherischen Orthodoxie auf heftige Kritik. Brendels Schrift Verfluchte Almosen erschien zunächst 1710 anonym. 1746 wurde sie mit kleinen Änderungen erneut veröffentlicht, nun unter dem Namen des Autors. Der vorliegende Text verfolgt eine schonungslose Kritik der Armen und der Armut. Missbrauch von Almosen, falscher Einsatz von Ressourcen und die verfestigte Lebensform der Armen erfordern entschiedene Maßnahmen: Bettelei muss prinzipiell verboten werden; es bedarf zentraler Steuerungsmaßnahmen durch die Obrigkeit (ähnlich wie Spener, s. Text 170). Unterschiedliche Maßnahmen sollen die Armen in Arbeit bringen. Demütigungspraktiken sollen das Selbstverständnis von faulen Bettlern aufbrechen. Brendel kritisiert einerseits die katholische Idealisierung der Armut, andererseits – anders als Spener – die karitative Armenpraxis der Pietisten. Beide sind insofern „verflucht“, als sie indirekt die Lebensführung der Armen und die Verfestigung der Armut fördern. Vorrede. Dass das Land voll Bettler sei und gleichsam alles davon wimmle, braucht keines Beweises, weil es die Erfahrung bezeugt; denn wer zuhause sitzt, der wird vor seiner Tür ein stetiges Schreien und Winseln gewahr, da bald ein Lahmer und Blessierter, bald ein Blinder und sonst Gebrechlicher, bald ein mit der schweren Krankheit Behafteter, bald ein Vertriebener, bald ein Abgebrannter, bald ein Weib, bald ein
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Haufen Kinder ein heilig Almosen bitten, dass es fast nötig wäre, eine eigene Person im Hause darauf zu halten, welche den unverschämten und unvergnügsamen Bettlern die Gabe hinaus langte und die losen Worte des ungezogenen Bettelvolks, welche sie, wenn man ihnen nach ihren Gedanken nicht genug gibt, ausstoßen, mit Geduld einzunehmen und zu vertragen geschickt wäre, weil man sonst den ganzen Tag an seinen Verrichtungen gehindert wird und über nichts bleiben kann, wenn man zumal die beschmierten und stinkenden Briefe alle lesen soll. Wiewohl man denn auch diese Anstalt in seinem Hause machen könnte, so würde man doch für denen hochadligen Bettlern und Spitzbuben keine Ruhe haben, welche mit Stiefeln und Sporn, mit Pistolen in Gürteln und Degen an der Seite beim Herrn des Hauses begehren angemeldet zu sein, als hätten sie gar was Notweniges anzubringen. Weil man nun nicht allzeit weiß, ob unter der sauberen Kleidung ein ehrlicher Mann oder ein Spitzbub, Dieb und Bettler steckt, so muss man ehrenhalben von seiner Arbeit aufstehen, dem fremden Herrn entgegengehen, und da man gemeint hat, einen angenehmen Zuspruch zu genießen, muss man von einem Landstreicher die teils unnützen Komplimente, teils prahlerische Rodomontaden [Angebereien], teils künstlich gedrechselte Lügen und Lamentationes anhören und sich endlich von dem Diebe, dem der Mörder aus den Augen sieht, mit so viel Gelde loskaufen, als man meint, das dem hochadeligen Stande nicht schimpflich sei, ob man gleich selbst kaum mit saurer Arbeit so viel des Tages zu gewinnen vermag, als man solchen Müßiggängern auf einmal anhängen muss. Hierauf findet sich auch eine hochadel. Dame […] mit ihrer Fräulein Tochter ein, welche, wie sie mit einer hohen Fontage und Aufsteck-Rock standesmäßig gekleidet sind, auch nach ihrem Stande respektiert und begabt sein wollen; eine Frau Amtsmännin, Amtsverwalterin, Priesters-Wittib [Witwe] etc., welche verunglücket sind und welche daher huren und betteln müssen, wollen auch mit reichen, heiligen Almosen versehen sein; die exulierenden Priester- und Schuldiener, die sogenannten Conversi, die sich von der Hurerei zum Ehebruch bekehret haben, wollen sonderlich die Herren Amtsbrüder selbst sprechen, so krumm, so lahm und gebrechlich sein als sie wollen, weil sie wegen gewohnter Bettelei keine andere Lebensart zu ergreifen in Güte würden bewogen werden können, wenn man gleich die besten Anstalten macht. Weswegen dann das sogenannte heilige Almosen um so viel desto mehr eine verfluchte Sache ist, weil es das gräuliche Laster der Bettelei entschuldigt und gleichsam heilig macht. Weil aber viele sowohl unter denen, die Almosen nehmen, als die es geben, aus Unwissenheit und Unverstand sündigen, so hat man ihnen mit dieser Schrift die Augen öffnen und den Gräuel der Bettelei und sogenannten heiligen Almosens deutlich vorstellen, zugleich aber einen guten Rat erteilen
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wollen, wie diesem Fluche füglich zu begegnen und die privilegierte oder gar geheiligte Dieberei abzustellen sei. Es wird sich demnach das ganze Traktätlein in zwei Hauptteile einteilen lassen, also dass erstlich gehandelt werde von der Beschaffenheit des verfluchten heiligen Almosens, wie es eigentlich anzusehen ist, und fürs andere von dessen nötiger und möglicher Abstellung oder wie es füglich zu ändern und zu tilgen sei. Caput I. Von der Beschaffenheit des verfluchten heiligen Almosens. Was mit Recht heilig genannt werden soll, muss entweder seinen Ursprung von dem heiligen Gott oder eine heilige Wirkung haben, dass nämlich die, so es üben, oder die, so es genießen, geheiligt werden. Weil aber keines von beiden mit Wahrheit von dem heiligen Almosen gesagt werden kann, sondern viel mehr dasselbe einen schändlichen Ursprung und eine schädliche Wirkung hat, so ist und bleibt es eine verfluchte Sache. 1. Schändlich ist des sogenannten heiligen Almosens Ursprung, weil es von müßigen, wollüstigen, affektierten Heiligen und faulenzenden Tagdieben und Bettlern erfunden und mit lauter Schriftverdrehung bemäntelt, entschuldigt und geheiligt ist. Zwar ist nicht ohne, Gottes Weisheit hat geordnet, dass Reiche und Arme nebeneinander sein, Prov 22,2, und die Reichen mit ihrem Überfluss den Armen dienen sollen, 2Kor 8,14; Mt 26,11, weswegen auch das Almosen hin und wieder in heiliger Schrift geboten ist und die herrlichsten Verheißungen hat; alleine daraus folgt noch lange nicht, dass eben Bettler sein müssen, zumal Gott, der Herr, sein Missfallen wider die Bettelei genugsam zu erkennen gegeben, wenn er zu seinem Volke ausdrücklich gesagt: Es soll allerdings kein Bettler unter dir sein, Dtn 15,4. Darum kann die Bettelei ihren Ursprung nicht von Gott haben, sondern von Torheit und Bosheit der Menschen kommt diese schöne Frucht. Denn die müßigen Mönche im Papsttum, die nicht graben und arbeiten, aber gerne was Gutes essen möchten, haben zur Unterhaltung ihres Müßiggangs das heilige Almosen aufgebracht und die Leute beredet, man könne zu großer Heiligkeit und Seligkeit gelangen, wenn man den heiligen Müßiggängern viele und ansehnliche Almosen reichte und Stiftungen machte, wovon noch heutzutage auch die Kardinäle als Fürsten leben und ihre Einkünfte Almosen nennen, weswegen man auch das Almosen heilig genannt hat, die Leute desto eher damit zu bezaubern, dass sie desto reichlicher geben möchten, da sonsten in heiliger Schrift dieses Prädikat dem Almosen nirgends beigelegt wird. Gleichwie nun in diesen letzten Zeiten die Pfaffen in allen Sekten blind sind (NB. Pfaffen sind Leute, die sich um des Mantels und Kragens und anderer äußerlicher Dinge willen für heiliger als
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andere halten, welche Torheit rechtschaffene Lehrer und Prediger nicht begehen) und was zu Unterhaltung ihres Müßiggangs und anderer Lüste des Fleisches dient, aus dem Papsttum gar gerne annehmen, so wissen sie unter der Bettelei und Armut keinen Unterschied zu machen, verleiten daher die Armen selbst zur Bettelei, geben ihnen Briefe und Atteste ihres Wohlverhaltens, dass sie sich fleißig zur Beicht‘ und Sakrament eingefunden, weil sie selbst von keiner anderen Frömmigkeit als von dieser Heuchelei wissen, recommendieren [empfehlen] also das Bettelhandwerk oder Dieberei mit Anziehung vieler Schriftstellen und schicken die armen Schafe, die es nicht besser verstehen, damit unter die reißenden Wölfe der Landbettler, durch deren Konversation sie in die größte Unordnung und Schaden ihrer Seelen geraten. Und zu solchem Unglück helfen (leider!) auch die durch ihre Pfaffen verführten Obrigkeiten, dass sie ihre ausgefertigten Briefe und Atteste für ein Liebeswerk halten, womit den Armen fortgeholfen werde, da doch dadurch die Armen aus dem Fegefeuer in die Hölle befördert und anderen Leuten die Müßiggänger, solche zu ernähren, über den Hals geschickt werden. Es mögen sich auch hier diejenigen Pietisten, die, da sie sich selbst noch nicht kennen, andere lehren, aus Unverstand Verleugnung predigen, Barmherzigkeit recommendieren [empfehlen] und die Gemeinschaft der Güter gleichsam prätendieren [fordern], damit sie bei ihrem unordentlichen Wandel Unterhaltung haben mögen, fleißig prüfen, ob sie nicht gleichfalls mit Ursache sind, dass eine verfluchte Sache für heilig gehalten wird. Nun weiß ich zwar wohl, dass vieles zur Entschuldigung derer, die bisher mit Briefen und Recommendation [Empfehlung] die Bettelei aus Unwissenheit befördert, angeführt werden kann, weil es aber aus dem, was allbereit gesagt worden und noch zu sagen ist, auch leicht zu widerlegen sein wird, wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Genug ist’s, dass man die unwissenden Verführer sowohl als die Verführten für entschuldigt hält und ihr Verfahren für eine Sache ansieht, die bisher weder zu erkennen noch zu ändern in ihrem Vermögen gestanden. Aber wenn sie ferner bei dem aufgegangenem Lichte blind sein und die geoffenbarte Schande und Schaden der Bettelei weiter unterstützen, die angezeigten Mittel der Verbesserung aber verachten wollten, würde man sie unter die Zunft der gottlosesten und boshaftesten Menschen zu rechnen haben. Denn die Bettelei hat keinen anderen Ursprung als Torheit und Bosheit und ist daher eine Schande sowohl für die, so denen Bettlern geben oder zu solchem Almosen vermahnen, als für die Bettler selbst. Diese, nämlich die Bettler selbst, stehen unter dem göttlichen Fluche, weil Betteln eine göttliche Strafe ist und es von unordentlichen Leuten zum öfteren heißt: Sie sollen zu Bettlern werden, ihre Kinder sollen betteln gehen, Hiob 20,10; Ps 109,10; Sir 21,5. Weswegen auch Sirach c. 18,23.33 warnt:
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Sei nicht ein Prasser und gewöhne dich nicht zu schlemmen, auf dass du nicht zum Bettler werdest. […]. Mein Kind, gib dich nicht aufs Betteln, es ist besser sterben, denn betteln. Bettelei schmeckt wohl dem unverschämten Maul, aber es wird zuletzt ein böses Fieber davon kriegen, Sir 40,29.31. Es geht auch ganz natürlich zu, dass Müßiggänger zu Bettlern werden, denn um der Kälte willen will der Faule nicht pflügen, so muss er in der Ernte betteln und nicht kriegen, Prov 20,4. Vor diesem Fluch der Bettelei aber haben sich fromme Kinder Gottes, wann sie gleich arm sind, nicht zu fürchten, denn David sagt aus Erfahrung: Ich bin jung gewesen und alt worden und habe noch nie gesehen, den Gerechten verlassen oder seinen Samen nach Brot gehen, Ps 37,25. Es kann wohl geschehen, dass ein rechtschaffener Mensch in Armut gerät und um das Seine durch allerhand Zufälle kommt, dass er in seiner Dürftigkeit seinen Nächsten um ein Almosen ansprechen muss, bis er Gelegenheit zu arbeiten findet, welches aber über etliche Tage oder Wochen aufs längste nicht währen wird, wenn man nur Lust zu arbeiten hat. Allein wenn ein ruinierter Edelmann meint, er dürfe bei seiner Armut nichts anderes tun, als einen Herrn agieren und müßig gehen; ein verjagter Pfarrer müsse wieder eine geistliche Werkstatt haben, sonst schicke sich keine Arbeit für ihn; ein gewesener Beamter oder sonsten reicher Bürger müsse wieder Haus und Hof und gutes Auskommen haben und daher so lange betteln, bis man wieder dazu gelange u.s.f., so wird Gottes Rat, der das Leiden zur Demütigung zugeschickt, niemals erkannt, dass es wohl heißen möchte: Herr, du schlägst sie, aber sie fühlen’s nicht, du plagst sie, aber sie bessern sich nicht, sie haben ein härter Angesicht denn ein Fels und wollen sich nicht bekehren, Jer 5,3. Gott züchtigt die Leute nicht deswegen, dass sie flugs das Verlorene wieder prätendieren [verlangen], sondern viel mehr demütiger werden und ihre Unwürdigkeit erkennen lernen, durch Leiden sich üben und zum Genuss anderer Wohltaten, die ihnen nicht abgesprochen sind, tüchtig machen oder besser präparieren sollen. Wer aber par force [unbedingt] noch sein und dafür respektiert sein will, was er vorhin gewesen und woraus ihn Gott gesetzt hat und will sich der Arbeit schämen, weil er vorher nicht bedurft hat zu arbeiten, der trägt sein Elend vergeblich und ohne heilsamen Nutzen, denn sonst Kreuz und Trübsal bringt und widerstrebt dem Willen Gottes. Denn wenn ihn Gott als einen reichen Edelmann, Pfarrer, Beamten, Bürger etc. hätte wissen wollen, so hätte er ihn haben erhalten, weil er ihn aber nach seinem Weisheitsrat in einen geringeren Stand gesetzt, soll er sich solchen Wechsel in Demut gefallen lassen und solchen mit Geduld vertragen, auch die ordentlichen Mittel, seine Nahrung zu suchen, in die Hand nehmen, d. i. arbeiten, in guter Hoffnung, dass ihm Gott nach der Züchtigung wiederum gnädig sein und in besseren Stand setzen werde. Zu dieser gott-
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gefälligen Resolution [Entscheidung] aber kann kein Verunglückter gebracht werden, so lange das verfluchte heilige Almosen gilt, weil man diese offenbare Dieberei für eine Ordnung Gottes hält und sich dabei besser als bei der Arbeit befindet. Darum gleich wie Gott den Armen neben dem Reichen macht, dass sich der Armut niemand schämen darf; also wachsen hingegen die Bettler aus ihrer eigenen Unordnung wie die Läuse aus ihren Hemden. Denn ein Bettler ist nichts anderes als ein wollüstiger Müßiggänger, der zwar nichts hat, aber viel haben will, unverschämt ist und auf die Verheißungen, die den Armen in heiliger Schrift geschehen, trotzt, die Leute darauf exequiert [eintreibt], aus Verblendung seinen Fluch für Segen hält und unter dem Vorwand des Gebets die größte Büberei treibet. Nun mögen zwar wohl die wenigsten dieses wissen und erkennen oder aus Bosheit sündigen; sondern sie meinen, es wolle unser Herr Gott also haben, wer arm sei, der solle sich des Bettelns nicht schämen, weil es ihnen nicht gesagt wird; sondern man ihnen mit Bettelbriefen noch dazu an die Hand geht und damit oft gute Gemüter verderbt; aber unterdessen, wenn ein Land von solchen Leuten gleichsam wimmelt, so muss ja dieses ein Zeichen großen Unverstandes, Unordnung und Müßiggangs sein; welche Schande des liederlichen Lebens Gott unter seinem Volke nicht leiden wollte, weil diese böse Gewohnheit, da man mit Müßiggang so viel und mehr verdienen kann als ein anderer mit schwerer Arbeit, die Menschen in Grund verderbt, dass sie nicht mehr zu etwas Gutem zu gebrauchen sind. Es ist aber das Betteln nicht nur den Bettlern, die sich als privilegierte Müßiggänger hinter die Armen, die Gott von seiner Liebe nicht ausschleust, sondern denen Reichen oftmals vorzieht, zu verstecken pflegen, eine Schande, sondern auch denen, die den Bettlern geben. Denn es ist ein Zeichen, dass an einem solchen Orte keine Vorsorge für die Armen sei und niemand der Unordnung wehren wolle, weil nur ein jeder auf sich und die Seinigen sieht und sich um die Versorgung seines Nächsten wenig oder nichts bekümmert. Zu arbeiten gibt’s überall genug; aber niemand wird dazu angewiesen, und was oftmals ein kleines Kind verrichten könnte, wenn es in rechter Ordnung dazu angehalten würde, das muss ein großer baumstarker Mann tun, und weil die Großen gleichsam mit Kinderarbeit beschäftigt sind, so fehlt es hernach an Holzhackern, dass man manchmal eher zehn Gelehrte und zwanzig Bettler müßig sieht, ehe man einen Tagelöhner bekommen kann. Wenn nun ein gemeines Wesen mit Leuten angefüllt, ja überhäuft ist, dass alles fast zu wenig wird und doch die Arbeiter darinnen so rar sind, dass oft das Nötigste verschoben werden muss und nicht einmal die Straßen und Gassen gesäubert und gebessert sind, so kann man leicht erachten, dass wenig Klugheit und Tugend bei einem solchen Volke sei, weil sonsten diejenigen, die sich mit den Bettlern und
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heiligen Almosenexequierern abzukaufen vermögen, auch zur Abhelfung der Bettelschande würden Beitrag tun können, wenn Torheit und Bosheit nicht eben sowohl bei ihnen als bei den Bettlern überhandgenommen hätte. Inzwischen scheint das Verderben so lange inkorrigibel zu sein, bis den Bettlern sowohl als den Almosengebern die Augen aufgehen; welches geschehen kann, wenn man nebst dem schändlichen Ursprung der Bettelei sich auch II. des Bettelns schädliche Wirkung vorstellt. Denn wo Bettelei im Schwange geht, da wachsen die Sünden der Unbarmherzigkeit, Ungerechtigkeit, Unzucht, Faulheit, Unschamhaftigkeit und Unordnung, dass die Bettelei gleichsam ein fetter Mist ist, der einen dornigen Acker düngt und also des Unkrauts immer mehr macht. Wenn demnach die Weisheit Gottes gleich nach dem Sündenfalle geordnet hat, dass Reiche und Arme untereinander sein und also die gefallenen Menschen das Sternenregiment fühlen und in der Natur ihren Eigenwillen und Fürwitz büßen müssen, so hat er sie doch auch durch Verkündigung des Evangeliums zu voriger Gnade wieder rufen lassen und könnten sie sich durch Gehorsam, wenn sie Gnade ergriffen, dieses Leben gar wohl erträglich machen, wenn die Armen sich in der Vergnügung und die Reichen in der Freigebigkeit übten; wenn aber Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust beim Armen sowohl als beim Reichen die Herrschaft haben, so werden dadurch die Armen zur schändlichen Bettelei, die Reichen aber zur Unbarmherzigkeit verleitet. Wir leben in dieser Welt im Stande der Mischung, da alle Kreatur der Eitelkeit unterworfen ist1 und zum Bösen missbraucht werden kann, auch gemeiniglich von dem natürlichen Menschen wirklich missbraucht wird, doch folgt deswegen nicht, dass die Sachen, mit welchen sich der Mensch am meisten schadet, an sich selbst böse sind, [...] darum liegt alles am Gebrauch und Missbrauch. Was man ohne Sünde braucht, das wird gut, ob es gleich eitel ist, was man aber mit Sünde braucht oder missbraucht, das wird böse, ob es gleich heilig heißt. Nun sieht man zwar insgemein, dass sich die Reichen sehr versündigen, mit Druckung und Verachtung des Armen, wenn man aber diese Sünden dem Reichtum wollte zuschreiben, würde man sehr unrecht tun, weil Reichtum eine Gabe Gottes und gut ist, wenn man sein Recht braucht, das ist, wenn man nicht nach eigenem verderbten Willen, sondern nach dem Willen Gottes mit demselben umgeht und durch Liebesbezeugung gegen den Nächsten von seinem Segen dem Dürftigen mitteilt. Allein, ob es gleich gefährlich ist, reich zu sein, weil unser Eigenwille sehr unordentlich ist und uns zu vielem Missbrauch verleiten kann, so muss man doch deswegen nicht aufs andere Extremum fallen und Armut erwählen als etwas Gutes; denn Armut des Gottlosen lehrt ihn viel Böses zu reden, Sir 13,30. Es ist 1
Vgl. Röm 8,20.
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zwar manchem die Armut sehr nützlich, weil ihm dadurch die Gelegenheit entzogen wird, die Sünden auszuüben, wozu er sonsten von Natur große Neigung hat und welche er nicht unterlassen würde, wenn er Geld hätte. Daher spricht auch Sirach c. 20,23: Manchem wehrt seine Armut, dass er nichts Übels tut, davon hat er den Vorteil, dass er kein böses Gewissen hat. So ist auch mancher reich bei seiner Armut, weil er vergnügt ist, Prov 13,7. Ein Armer hat nicht so viel zu verantworten und wenn er Gott fürchtet, hat er das ruhigste Leben, denn ob er gleich nichts übrig hat, so gibt ihm doch Gott täglich, so viel als er braucht, womit er der Sorge des Wachens und Bewahrens entübrigt ist. Allein deswegen ist Armut an sich selbst nichts Gutes, weil es durch den Gebrauch gut werden kann; denn dem, der es missbraucht, nämlich dem Gottlosen, kann böse genug werden, indem, wenn es ihm an Vermögen fehlt, alles Böse, das ihm einfällt, auszuüben, er sein böses Herz mit dem bösen Maule verrät und durch Zorn, Neid, Müßiggang und Üppigkeit die Tücke seines ehrgeizigen, geldgeizigen und wollüstigen Herzens offenbart. Wie denn kaum ein gottloseres Volk zu finden ist als das im Land herumstreichende liederliche, müßige, faule und wollüstige Bettelvolk, unter welchem Diebe, Räuber, Mörder, Verräter und Mordbrenner zum Verderben des Landes frei passieren, denen man ihre Bubenstücke mit Almosen bezahlen muss, da inzwischen viel Hausarme, die sich des Bettelns schämen und deren Armut offenbar ist, Not leiden, die doch wohl erhalten werden könnten von dem, was diesem unordentlichem Volke muss gegeben werden. Wollte man‘s aber versuchen und diesen bösen Leuten nichts geben, nach der Vermahnung Sirachs c. 12,5: Gib dem Gottlosen nicht, so würde man’s in der Tat hören und erfahren, dass Armut den Gottlosen viel Böses reden, ja gar tun lehre. Darum muss man sich nur gleichsam mit ihnen abkaufen und einem Diebe was geben, dass er nicht ein Mörder oder Mordbrenner werde. Unterdessen ist solchen Leuten mit keiner Gabe geholfen, denn sie werden nur dadurch in ihrer Bosheit gestärkt und sind aus diesem gewohnten Müßiggang und liederlichem Leben nicht herauszureißen, weil sie der Armut wegen sich für selig halten und durch alberner, unverständiger und geiziger Pfaffen, die selbst gerne betteln und von Almosen leben, Schriftverdrehung, wodurch eine heillose Brandschatzung für ein heilig Almosen ausgegeben wird, zu allem Guten untüchtig gemacht, ja an Leib und Seele verderbt; denn gleichwie durchs Betteln nicht nur der Müßiggang eingeführt und privilegiert, sondern auch alle Bosheit darunter gehegt und frei passiert wird, also könnte ja das Geld nicht übler angelegt werden, als wenn man’s diesen offenbaren Dieben gibt, die den rechten Armen das Brot vor dem Maule hinwegnehmen und durch ihr unverschämtes Fordern verhindern, dass das Almosen proportionierlich ausgeteilt werden kann. Und weil das überhäufte
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Anlaufen die Menschen ungeduldig macht, muss oftmals ein Armer, der die Gabe wohl bedürfe, auch derselben wert wäre, dasjenige mitentgelten, was die unverschämten Liebesprätendenten verschuldet haben. Und wie können die Arbeitsleute ordentlich bezahlt werden, wenn nebst den großen Abgaben man den Müßiggängern so viel geben muss? Und wie kann gute Ordnung in einem gemeinen Wesen erhalten werden, wo so viel unordentliche Leute frei und ungehindert passieren, denen die arbeitsamen gleichsam aufwarten müssen? Es schadet demnach ein Bettler nicht nur sich selbst, indem er sich zu einem verfluchten Stand, an welchem Gott niemals Gefallen getragen, setzt und sich an Leib und Seele verderbt, weil Müßiggang aller Laster Anfang ist, sondern auch anderen Leuten, denen er große Vergeltung von Gott, fleißiges und andächtiges Gebet und allen Segen verspricht, da sie doch sowohl ums Geld betrogen als sonst belogen, ja als Beförderer und Unterhalte des Müßiggangs und anderer Laster vielmehr des heiligen Almosens wegen von Gott gestraft als belohnt und gesegnet werden, weil der Fluch der schädlichen Bettelei sich durch das ganze Land ausbreitet und alle Stände infiziert, sogar dass auch manche Regenten, wenn sie keine Steuern mehr ersinnen können, zu Vollführung ihrer Lüste ein Geschenke fordern und also von den Untertanen betteln, weil weder die Schande noch der Schade des Bettelns erkannt wird. Damit man’s aber nicht für gar unmöglich halte, diesen Fluch des Landes zu tilgen, so soll in folgendem Kapitel die Möglichkeit gezeigt und die zulänglichen Mittel angewiesen werden. Caput II. Von der nötigen und möglichen Abstellung des verfluchten heiligen Almosens; durch was für Mittel dieses Übel zu tilgen sei. Es sind bisher in vielen wohlbestellten Republiken wegen Abstellung der Bettelei von denen, die den Schaden und die Schande dieses Lasters erkannt und eingesehen haben, unterschiedliche löbliche Anstalten und Verfassungen geschehen, indem alles Gassenbetteln (ausgenommen der Schüler, weil diese zum Klerus, von welchem die Bettelei den Ursprung hat, gehören) abgeschafft ist, das gesammelte Almosen aber durch bestellte ehrliche Leute proportionierlich ausgeteilt wird. Welches denn denjenigen, die verschlossene Örter und Gewalt haben, eine leichte Sache gewesen, weil die Gewalt aus den reichsten Leuten Bettler machen kann, wie sollte sie denn den Bettlern ihren Reichtum des heiligen Almosens nicht nehmen oder zum wenigsten einschränken können? Darum hält man‘s auch noch heute für unmöglich, dem Bettelwesen an geringen und unverschlossenen Orten abzuhelfen, weil man meint, dass große Gewalt zur Abschaffung eines
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großen Lasters erfordert werde. Allein gleichwie eine schlechte Klugheit dazu gehöret, wenn man in großen Städten der Bettelei mit Gewalt wehrt und die Bettler gleichsam in andere Lande verweist und den Nachbarn zuschickt, da man ihnen doch mehr zu geben hätte, als die Armen auf dem Lande vermögen. Weswegen alle bisherigen Anstalten sündlich gewesen, weil jede Republik damit auf ihre Ruhe und Nutzen gesehen, den Nachbarn aber geschadet hat. Also können geringe und offene Örter mit Klugheit die Gewalt der großen Städte beschämen, wenn sie wissen, dass zu Abstellung der Bettelei nicht sowohl Gewalt als Liebe gehöre, durch welche die Bettler nicht andern Leuten über den Hals geschickt, sondern gar von der Bettelei entledigt und befreit und die Armen nach abgeschaffter Bettelei als nützliche Leute erhalten werden. Dürfen wir uns demnach nicht lange bemühen, viele Nachrichten einzuziehen, wie an diesen oder jenen Orten die Almosenordnungen eingerichtet sind und wie man etwas nachzuäffen habe, weil wir sowohl von der Gewalt als vom Missbrauch derselben abstrahieren, mit Abschaffung der Bettelei niemand beleidigen noch durchs heilige Almosen etwas verdienen oder durch neue Ordnungen Lob erjagen, sondern vielmehr diejenigen Mittel, die uns Gott schon gegeben, in Liebe gegen den Nächsten brauchen und nicht sowohl Feinde der armen Bettler als der schändlichen Bettelei sein wollen. Es wäre zwar ein herrliches Nebenmittel, wenn Obrigkeiten zuförderst das Betteln als ein gräuliches Laster der Dieberei erklärten und solches durch die Lehrer und Prediger öffentlich bestrafen und verdammen, Arbeit- und Zuchthäuser anrichten und die Armen darinnen versorgen, alle Bettelbriefe aber verbieten ließen, denn auf solche Weise würden sie ihre Gewalt besser brauchen, als wenn sie die Bettler aus ihrem Lande mit Recommendation [Empfehlung] andern über den Hals schicken. Allein weil es schwer hergehen wird, die Obrigkeiten diesfalls unter einen Hut zu bringen und das eingerissene Übel auf einmal in der Welt abzustellen, so muss man auf solche Verordnungen nicht warten, sondern wenn man zur Abstellung der Bettelei zulängliche Vorschläge tun will, sich aus der Zerstreuung sammeln und nicht flugs der ganzen Welt helfen wollen, sondern erst an seinem Ort ins Kleine arbeiten, damit man merke, was praktikabel sei; wenn demnach z.e. [z.B.] eine Dorfgemeinde von etwa 20 Haushaltungen sich resolvierte [entschiede], künftig keinen Bettler mehr im Dorfe zu leiden, so müssten sie zuvörderst überlegen, was in ihrem Dorf zu arbeiten sei, dadurch sowohl die Gemeinde einen Nutzen als ein jeder in Sonderheit Förderung seiner Hantierung, die Bettler aber notdürftigen Unterhalt erlangen könnten. Wenn nun ein Katalog der Arbeit verfertigt wäre, müsste ein Aufseher oder Almosenpfleger aus der Gemeinde erwählet werden, der das Almosen täglich von Haus zu Haus sammeln, die Bettler zur Arbeit nach vorgezeigtem Katalog,
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daraus sich ein jeder selbst eine Arbeit wählen möge, anweisen, dieselben nach Proportion der Arbeit stundenweis bezahlen, die Arbeit Scheuenden aber mit einem Stück Brot oder geringen Viatico [Wegzehrung] abweisen und im Übrigen die ganze Sache nach eigenem Gefallen einrichten müssen, ohne jemand Rechnung zu tun. Wenn nur dieser Zweck erhalten würde, dass die Gemeinde mit dem vielen und unverschämten Ablauf verschonet, das Bettelvolk aber nicht verbittert, sondern mit guten Worten zur Arbeit angehalten oder mit wenigem vergnügt zu sein angewiesen würde. Gleichwie sich nun Arbeiten finden würden, die sowohl in- als außer den Häusern zu verrichten und daher nebst dem Hirtenhause noch etliche Häuser ausgesondert werden müssten, deren Bewohner und Besitzer die Bettler aufnehmen, auf die Arbeitenden achthaben und für die Arbeit stehen müssten, also würde sich der Almosenpfleger mit diesen Leuten um ein Billiges zu vergleichen und ihnen ihre Mühe zu bezahlen haben. Wie denn auch denjenigen, die eine Arbeit für die Bettelleute nebst einem zugänglichen Modus die Arbeit füglich einzurichten, aussinnen und erfinden würden, zum wenigsten der Nutzen, der aus der Arbeit erwachsen könnte, zu gönnen sein wird. Z.E. [Z.B.] Es hätte einer viel Federn zu schleißen [vom Kiel ablösen], so dürfte er sich nur bei dem Aufseher über die Armen anmelden, dass diese Arbeit durch die Bettler verrichtet werden möchte, da denn die Federn dem Bewohner des Hirtenhauses oder eines andern dazu bestimmten Ortes in Beisein des Aufsehers zugewogen und von demselben wieder gefordert werden müssten. Wann nun diese Arbeit von kleinen Kindern und sonst gebrechlichen Leuten verrichtet werden kann, so mag auch dem arbeitenden Bettler für die Stunde 2 Pfennige und bei seinem Weggehen ein Stück Brot gereicht, für schwerere Arbeit aber den Fleißigen wohl 3 bis 6 Pfennige gegeben werden. Sobald die Federn fertig, müssen sie dem rechtmäßigen Besitzer wiederum nebst den Kielen in Beisein des Aufsehers zugewogen werden ohne den geringsten Entgeld. Darf also nur ein jeder seine Arbeit, die er meint, dass ihm die Bettelleute verrichten können, melden, so kann er solche durch Aufsicht dessen, dem die Sorge für solche Dinge vom gemeinen Wesen aufgetragen ist, umsonst haben. Dergleichen Arbeiten gibt es nun viel, die zwar nötig sind und doch wenig auf sich haben, als Schleissen machen, Leim graben, Aschen sieben, Steine lesen, Gräben machen, Holz schichten und was man sich zu seinem Vorteil aussinnen kann, welche alle von dem Aufseher über die Bettler dermaßen einzuteilen möglich sind, dass einem jeden die Arbeit der Bettler zu Nutz kommen kann. Doch heißt es auch hier: publica praecedunt, tandem privata sequuntur. Der Nutzen des gemeinen Wesens muss dem Eigennutz allzeit vorgezogen werden. Daher dann
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auch auf Verbesserung der Wege, Verfertigung der Gräben, Einebnung höckeriger Örter, Ausschüttung sumpfiger Pfützen, Ausrottung dorniger Hecken und dergleichen zuvörderst im gemeinen Wesen zu sehen ist. Nun möchte man zwar sagen, dass an der Arbeit zwar kein Mangel sein würde, die ein jedweder gerne würde haben und praetendieren [verlangen], aber wer wird die Aufsicht über die Arbeit übernehmen, und wie wird man die faulen Bettler zur Arbeit bringen, ja wer wird denn das Geld hergeben, wenn die Bettler stundenweis bezahlet werden sollen? Und wie wird man endlich mit den hochadeligen, ehrwürdigen und dergleichen Bettlern, die sich der Arbeit schämen, zurechtkommen? Hierauf dient nun zur Antwort, dass zuvorderst jemand bestellt werden müsste, der mit einer Büchse und mit einem Korbe täglich von Haus zu Haus ging und das freiwillige Almosen, was ein jedweder denselben Tag der Armut von seinem Vermögen gönnen wollte, sammelte. Da dann ein jeder geben möchte, was er könnte, an Geld, Brot, Gemüs, alten Kleidern, Eisen, Kupfer, Zinn, Blei und dergleichen, welches alles dem Aufseher, der die Arbeit sowohl als die Almosen oder Arbeitslohn auszuteilen, übergeben und auch ohne Rechnung überlassen werden müsste, dass er nach seinem Gewissen und eigenem Gefallen damit handelte, diejenigen Leute, die zu Abstellung der Bettelei und Förderung der Arbeit sich brauchen ließen, besoldete und alles dahin einrichtete, dass nur der Ort von Bettlern befreit und mit Arbeitern versehen würde, wenn er gleich von diesem Almosen ein reicher Mann werden könnte, weil ihm‘s ja wohl zu gönnen wäre, wegen der Ruhe und des Nutzens, der einem Orte von seinem Fleiß entstünde. Denn es ist ja besser, dass einer oder etliche in der Gemeinde ohne die geringste Beschwerung der andern, ja vielmehr mit Abstellung einer großen Unordnung und gräulichen Verdrusses und Schadens, den man von Bettelleuten hat, reich, die Armen aber mit Arbeit und Notdurft nach Proportion versorgt werden, als wenn der Fluch der Bettelei sich immer weiter ausbreitet und mit dem reichlichsten Almosen niemand geholfen, sondern nur Müßiggang, Wollust und Bosheit gemehrt und unterhalten wird. Allein weil gleichwohl der Neid insgemein dem Nächsten keinen Vorteil gönnt, wenn er auch mit der größten Mühe und Arbeit erworben wäre, so steht zu besorgen, dass viele ihre Gaben mindern und sparsam reichen würden, nur damit der Aufseher keinen Vorteil habe, wodurch denn die gute Anstalt leicht wieder zerrüttet werden könnte, darum soll nach Verfließung eines Jahres oder vielleicht noch eher ein anderer Aufseher aus denen, die sich anmelden und zwar durch das Los bestellt werden. Wie man denn allzeit, wenn nur eine Sache angefangen ist, bessere Verfassung machen, auch mit der Zeit Rechnung fordern kann. Im Anfang aber muss man das beschwerliche Aufseheramt durch große Verantwortung nicht schwerer machen, sonst
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wird sich niemand dazu verstehen wollen; hingegen wenn die Sache nur ein wenig in Ordnung gebracht ist und die Bettler die Anstalten wissen, so lehrt die tägliche Erfahrung, wie die Ordnung zu verbessern sei, damit der Aufseher nicht zu reich werde, wiewohl überhaupt nicht zu vermuten ist, dass der Beitrag so gar reichlich sei und man bei so großem Anlauf der Müßiggänger viel übrig haben werde. Denn man wird die Bettler nicht alle zur Arbeit nötigen können, sondern wird zufrieden sein müssen, wenn man sie mit der Arbeit vertreiben kann, dass sie so bald nicht wieder kommen. Doch muss man auch die Müßiggänger nicht ohne Gabe fortschicken, dass man sie nicht verbittere, sondern mit Freundlichkeit sie entweder zur Arbeit anoder von der Wiederkunft abhalte, welches sonderlich von den hochadeligen und ehrwürdigen Bettlern zu beobachten sein wird. Denn ob man ihnen wohl die Arbeit des Schreibens und Rechnens, ihren Weibern aber das Nähen, Spinnen, Zertrennen und dergleichen auftragen könnte, werden sie sich doch nicht gerne einlassen, darum man sie mit einer Gabe fortschicken muss, mit dem Bedeuten, dass es im ganzen Dorf verboten sei, ein Almosen zu geben, weil vorhin jedermann das Seine zur Erhaltung der Armen, die gerne arbeiten wollen, beiträgt. Demnach kommt alles auf einen ehrlichen und klugen Mann an, der das Almosen sammeln und austeilen lässt, ohne jemand Rechnung zu tun, ob er gleich von denen, die er zu diesem Werke braucht, Rechnung fordert. Wenn nur der Zweck erhalten wird, dass diejenigen, so gerne arbeiten, allezeit zu tun finden, ihren richtigen Lohn bekommen und von der Bettelei abgehalten, die andern aber mit unverschämtem Anlauf verschont werden. Welches alles leicht werden muss, wenn niemand von seinem freiwillig gegebenen Almosen weitere Rechnung begehrt, sondern zufrieden ist, dass ihm die Menge der Bettler nicht mehr beschwerlich wird und er des Tages nur ein einzig Mal was Weniges geben darf, da er sonsten wohl 20 bis 30 Bettler abzufertigen gehabt. Wiewohl wenn er auch dieses täglichen Überlaufs entlastet sein will, darf er nur wöchentlich oder monatlich zu einem gewissen Quantum sich verstehen und dem Aufseher solches liefern, so kann er aller Bettelunruhe entübrigt sein. Anfangs zwar wird es freilich etwas schwer hergehen, bis es die Bettler selbst gewöhnen und nach dem Almosenpfleger fragen, daher dann sichs niemand verdrießen lassen muss, wenn die Bettler vor seine Türe kommen, denselben anzudeuten, dass sie vor keiner Türe was bekommen werden, weil eine Ordnung gemacht sei, sondern müssten sich beim Almosenpfleger melden, der ihnen ihre Gabe reichen würde. Wenn‘s aber nur einmal bekannt wird, so sucht hernach ein jeder Bettler den Almosenpfleger selbst, dass niemand mehr beschweret wird, wie denn auch vor dem ersten Hause, bei welchem sich die Bett-
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ler melden, sie zurecht gewiesen werden können, wo sie Arbeit oder ein Almosen suchen sollen, dass alle anderen Häuser des Anlaufs befreit sind. Gleichwie nun auf diese Weise zu hoffen steht, dass wenig Bettler sich mehr an solchem Orte, wo dergleichen Anstalten sind, melden werden. Also wird man hernach den Hausarmen desto besser mit dem gesammelten freiwilligen Almosen unter die Arme greifen können, von welcher Anstalt alsdann zu reden sein wird, wenn vorher das Übel der fremden Bettler wird guten Teils abgeschafft und getilgt sein. Inzwischen kann auch den faulen Bettlern, die nicht arbeiten wollen, ihr Almosen in folgenden gedruckten Zettel eingewickelt werden: Auf der auswendigen Seite soll stehen: Schändlich ist das Bettelleben, Sündlich ist‘s, denn Bettlern geben, Drum gehören ihnen Gaben, Dass sie dran zu denken haben. Inwendig aber können sie mit folgendem Madrigal ihrer Torheit, Faulheit und Bosheit erinnert und deswegen beschämt, auch heilsam erschreckt werden. Madrigal Ein Bettler ist ein Dieb! Er stiehlt die Zeit und Gaben, Lebendig sollt man ihn begraben, Weil ihm der Müßiggang so lieb, Dass er lebendig tot, Zu keiner Arbeit sich bewegt, Sich auf die faule Seite legt, Und schwatzt von großer Not, Die er doch nicht empfindet, Weil sie im Wirtshaus halb verschwindet, Und sich in Üppigkeit verkehrt. Drum wachsen Bettler wie die Läuse, Wann aber sich das Ungeziefer mehrt, Muss man auf dessen Tilgung denken, Und offenbare Diebe henken. Nun möchte zwar jemand sagen, dass hierdurch die Bettler sehr verbittert werden und auf Rache denken würden, welches dann wider die eigenen Prinzipien der Liebe laufe. Allein, obwohl niemand vorsätzlich verbittert werden soll, so muss man sich doch auch nicht allzusehr vor bösen Leuten fürchten, sondern bei gerechter Sache, wenn man sich bewusst ist, dass man mehr der Bettler Bestes als ihr Unglück su-
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che, Gott vertrauen, ohne dessen Willen kein Haar von unserem Haupte fällt.2 Darum werden uns auch die gottlosen Bettler nicht schaden können ohne Gottes Willen, der kein Unglück von gottlosen Leuten über uns verhängen wird, wenn wir nicht selbst mit Lieblosigkeit ihre Rache erregen und verdienen. Darum man freilich besser tun wird, wenn man mit obigem Madrigal sich nicht gar zu breit macht, wenn man zumal an einem Orte keine Gewalt vorkehren kann. Wo aber die Obrigkeit selbst, wie billig, zumal sie sowohl durch die Reichsabschiede als Gewissens wegen dazu verbunden ist, ihre habende Gewalt zu Steuerung des gräulichen Bettelwesens nebst den angegebenen Liebesvorschlägen braucht und vorkehrt, da ist leicht zu erachten, dass die Sache noch weniger Schwierigkeit habe, zumal da oft mit unzulänglicher Vorsorge wegen zu befürchtender Contagion [Seuche], die über die höchste Mauern springen kann, Wache in allen Dörfern gehalten wird, da dann zugleich alle Bettler, durch welche die Müßiggangs-Contagion augenscheinlich einreist, um so viel leichter, ohne weitere Unkosten zu machen, leichtlich könnten, wo nicht gänzlich ab-, doch zur Arbeit angewiesen werden, weil die Liebe erfordert, dass man denen am Leibe und Gemüte verdorbenen Leuten, denen man nicht flugs, und zwar am allerwenigsten mit der Schärfe zu helfen, unter die Arme greife und mit ihrer Unwissenheit und bösen Gewohnheit so ferne Geduld trage, dass man nur dieselbe durch allzu große Nachsicht nicht stärke, wenn man sie gleich nicht heben kann, weswegen sowohl Arbeit und dafür gebührender Lohn, wenn er gleich reichlicher wäre, nach Befinden der Umstände, als sonst gewöhnlich ist, als Almosen, sonderlich denen Gebrechlichen, ausgeteilt werden muss. Es taugt nichts unversucht, wenn man‘s zum wenigsten ein Vierteljahr probierte, so würde die bisherige Menge der Bettler sich um ein Merkliches verringern und dem gemeinen Wesen ein großer Vorschub geschehen. Wiewohl ich meiner selbst lachen muss, dass ich meinen Vorschlag auf den Grund der Liebe gebaut, die doch in der meisten Menschen Herzen erkaltet ist, denn wie will‘s möglich sein, eine Sache auszurichten, zu welcher die Leute fehlen, die man doch dazu vonnöten hat? Darum sei dieses nur geschrieben zu einem Zeugnis darüber […], dass jedermann erkennen möge, wie weit es in der Welt gekommen und dass Babel nicht zu heilen, sondern nur auf dessen Fall3 mit Aufhebung des Hauptes, wenn man kann, zu warten oder für Furcht und für Warten der Dinge, die da kommen sollen, zu zagen und verschmachten sei.
2 3
Vgl. Mt 10,30. Vgl. Apk 14,8.
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Doch hoffe ich auch, es werde diese Vorstellung nicht gar umsonst sein, weil kluge Regenten (die Schultheißen im Dorfe nicht ausgeschlossen), ob sie gleich bei dem verdorbenen Wesen keine Vollkommenheit, von welcher sie selbst entfernt sind, werden herstellen können, doch ihre von Gott verliehene Gewalt, die wohl zu prüfen und über das Vermögen nicht zu extendieren ist, zum wenigsten dahin brauchen können, dass, wenn der Weiher gleich hier und da ausgehet, jedoch der Damm nicht ganz und gar abreiße und die Lasterflut nicht alles überschwemme. Denn man weiß wohl, dass Obrigkeiten mit ihrer Gewalt die Leute nicht fromm machen können. Aber den weiteren Ausbrüchen der Sünden können sie mit äußerlichen Ordnungen, Schärfe und Gewalt, soweit dieselbe reicht, wehren und sich und ihr Land glücklicher machen als andere sind, wenn zumal ihr gutes Exempel ohne Heuchelei und Schriftverdrehung dazu kommt. Darum ist nichts mehr als Folgendes zu wünschen: Gott wolle denen Macht vergönnen, Die ihrer selbsten mächtig sind, Und die Gewalt recht brauchen können, Dass sie nicht eigenliebig blind, Den Lauf der Lieb und Wahrheit hemmen, Und manches Guts mit Neid verdämmen, So werden alle, Groß und Klein, Auch Reich und Arme glücklich sein! Amen. Quelle: Georg Christoph Brendel, Verfluchte Heilige Allmosen, Welches Zum Deckmantel der schändlichen Betteley, die als ein Fluch des Landes sich täglich weiter ausbreitet, gemißbrauchet wird. Zur Beschämung des Müßiggangs und falscher Heiligkeit, Wie auch Zu Steuer der Warheit und unverfälschten Liebe Gründlich entdecket, Und denen, Die mit offenen Augen nicht muthwillig blind seyn wollen, sondern des Vaterlandes Wohlfahrt suchen, Zum besten, Dem öffentlichen Druck überlassen Von Einem Armen-Freunde und Bettler-Feinde, 2. Aufl., o.O. 1746 [1710].
176. August Hermann Francke: Bewegungsgründe. Pflicht gegen die Armen (1714) Der vorliegende Text ist eine 1714 aus Anlass der Einrichtung einer Armenkasse gehaltene Predigt, die Francke in der Veröffentlichung durch weitere Aspekte ergänzte. Der Text entfaltet eine weniger exegetische als theologisch-systematische Begründung christlicher Nächstenliebe, die aus der zuvorkommenden Barmherzigkeit Gottes folgt. In Ergänzung zur obrigkeitlichen Armenfürsorge schärft Francke die Pflicht gegen Arme ein und kritisiert mangelnde soziale Verantwortung als „Scheinchristentum“. Umgekehrt gilt eine an Armen orientierte Glaubenspraxis als eine Dimension der Erweckung; aus Franckes Sicht vermehrt praktizierte Liebe auch den Glauben. Diakonisches Engagement und erweckte Lebensführung sind eng miteinander verflochten. Geliebter Leser, es ist am 7. Sonntag nach Trinit[atis] dieses 1714. Jahrs in einer wegen der vor einigen Jahren in der Stadt Halle aufgerichteten AlmosenKasse angeordneten Predigt bei Erklärung des evangelischen Textes Mk 9,1–9 von der Pflicht gegen die Armen gehandelt worden. Da nun in derselben einige Bewegungs-Gründe zur Beobachtung solcher Pflicht angeführt werden müssen, so hat man für gut befunden, dieselben in die Kürze zusammenzufassen, auch noch einige beizufügen und dergestalt zum gemeinen Nutzen in Druck zu geben. Dies ist die Gelegenheit und Ursache, warum diese 24 Bewegungs-Gründe ediert sind. Der Gnade Gottes befohlen. [...] I. [...] Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben.1 An beiden Orten gibt er zu erkennen, dass dies der allerhöchste Grad der Liebe sei, dass Gott seinen eigenen und eingeborenen Sohn in den allerschmählichsten Tod des Kreuzes gegeben und uns dadurch vom Tode und der ewigen Verdammnis errettet hat. Wer seinen Verstand nur dahin richten wird, dieses recht zu bedenken, dessen Gemüt wird leicht erweicht werden, gegen seinen armen Nächsten eine wahre Liebtätigkeit zu erweisen, und wird bei sich selber sprechen: Hat der große Gott solche Barmherzigkeit an mir erzeiget, dass er seines eingeborenen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für 1
Röm 8,31f.
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mich dahin gegeben, wie sollte ich meines zeitlichen Vermögens schonen, wenn ich sehe, dass mein Nächster meiner Pfennige und meines Vorrats bedürftig ist? Wenn ich auch gleich alles den Armen gäbe, was wäre das zu rechnen gegen die Liebe, so mir Gott erzeiget hat? […] VI. Das gnädige Wohlgefallen, so Gott hat an der Barmherzigkeit. Dieses bezeugt Gott allenthalben in seinem Wort. In Sonderheit spricht Christus Mt 9,13: Gehet hin und lernet, was das sei, ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer. Wer dies bedenkt, wird seinem Nächsten gerne Handreichung tun. Denn er wird bei ihm selbst gedenken: Siehe, was ist doch mein Kirchen-Gehen? Was hilft mein Beten? Was fragte Gott nach meinem Bibellesen? Was ist ihm daran gelegen, dass ich zur Beichte und Abendmahl gehe, so ich nicht Barmherzigkeit zeige? Darum will ich‘s nicht länger bei meinem äußerlichen Schein-Christentum bewenden lassen, sondern meinen Nächsten mein Herz finden lassen und ihm Barmherzigkeit erzeigen; sintemal mir ja Gott in seinem Worte bezeugt hat, dass er mehr Wohlgefallen daran habe als an allem äußerlichen Dienst. VII. Der ernstliche und nachdrückliche Befehl Gottes, Liebe und Wohltat gegen die Armen zu beweisen. Im 5.ten Buch Mose 15 finden wir, dass dem Volk Israel in Sonderheit befohlen ist, sie sollten keinen Bettler unter ihnen sein lassen, v. 4. Ihr Herz nicht verhärten, noch ihre Hand zuhalten gegen den armen Bruder, sondern dieselbe ihm auftun, nachdem er mangelt; sich‘s nicht verdrießen lassen, ihm zu geben, usw. v. 7–11. Desgleichen mögen wir davon lesen Jesaja, 58,6.7. Und Mt 6,9.10 verbietet unser Heiland, Schätze zu sammeln. Warum das? Weil es nicht leicht an Armen fehlet, denen man ihre Notdurft reichen soll, daher einem, der Liebe im Herzen hat, das Schätze Sammeln wohl vergeht. Gal 6,10; Hebr 13,16; Röm 12,8; 2Kor 8,7; 1Tim 6,17.18. und an vielen anderen Orten wird uns diese Pflicht gegen die Armen auf unser Gewissen gelegt. Wer diesen großen Ernst Gottes nun bedenkt, den er in seinem Worte zu erkennen gegeben, da er uns die Armen, Notleidenden, Witwen, Waisen und andere, die unserer Hilfe bedürfen, nicht einmal oder zehn Mal, sondern mehr denn hundert Mal, ja durchaus und allenthalben in der H. Schrift anbefohlen hat, der wird daraus eben kein groß Werk machen, so er seinem dürftigen Nächsten eine Wohltat erweist, sondern wird sagen: Es ist meine Pflicht, ich erkenne ja Gott für meinen Herrn, der hat es geboten, wie sollte ich als ein Rebell seinem ausdrücklichen und scharfen Befehl mich entgegen setzen und meinem Nächsten, den er mir in seiner Notdurft anweiset, mich entziehen? Das sei ferne von mir.
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VIII. Die herrlichen Verheißungen, welche Gott auf die Ausübung der Liebe gegen die Armen gelegt hat. Er hat nicht allein verheißen, dass er einen Trunk kaltes Wasser, der im Namen Jesu Christi aus Liebe den armen Nächsten, sonderlich seinen dürftigen Gliedern auf Erden, dargereicht wird, nicht wolle unbelohnt lassen,2 sondern er hat auch viel besondere Verheißungen deshalben gegeben, wie er nämlich eines solchen liebtätigen Menschen auf seinem Siech- oder Krankenbette wieder gedenken und einem jeglichen seine Wohltat hundertfältig und zwar in Ewigkeit vergelten wolle. Denn Gott wusste wohl unsere Unart, dass wenn er uns seinen Willen nur gebotsweise antrüge, unsere Herzen denselben zu tun viel zu träge wären. Daher hat er uns mit unzähligen Verheißungen zu unserer Pflicht gereizt und gelockt; und ob wir gleich nichts tun können, dass wir nicht zu tun schuldig wären, hat er sich dennoch erboten, auch nicht der geringsten Wohltat zu vergessen. Wer sollte sich dadurch nicht bewegen lassen, seinem Nächsten Gutes zu erzeigen? Ja, wer sollte sich nicht schämen, wenn er solche Verheißungen Gottes in der Heil. Schrift liest und erwägt und dabei betrachtet, wie ein Geringes es sei, was er an seinem Nächsten beweisen kann, gegen solche herrliche Verheißungen Gottes? […] XVI. Die schönen Exempel der Gläubigen, welche ihre Liebe gegen die Armen und Dürftigen nach dem Zeugnis der Heil. Schrift haben tätig sein lassen, wie die Heil. Schrift A[lten] und N[euen] Testaments davon voll ist. So nun jemand dafür will gehalten sein, dass es die rechte Gnade sei, darinnen er stehe, ei, so muss er denn auch solchen Exempeln, die ihm Gott zu seiner Erweckung vor Augen legt, treulich und eifrig nachkommen. XVII. Die Versuchung zum Guten, welche uns Gott zuschickt. Denn wenn Gott einem dieser Welt Güter gibt, es sei viel oder weniger, und er zeigt ihm denn den dürftigen Nächsten oder er lässt ihm sonst dessen Not kund werden, so stellt er ihn auf die Probe, ob er auch so an seinem Nächsten tun will, gleichwie er (Gott, der Herr,) an ihm getan hat. Er will sehen, wie sich der Mensch bei solcher Gelegenheit beweisen will. So oft uns nun dergleichen Gelegenheit, unserm Nächsten in seiner Notdurft beizuspringen, vorkommt, so können wir sicherlich glauben, dass Gott nicht ferne davon sei. Er sieht auf unsere Finger und auf unser Herz und weiß alles, was wir haben, was und aus welchem Grunde wir geben, wie unser Heiland Mk 12,41 sich setzte gegen den Gottes-Kasten und schaute, wie das Volk Geld einlegte. Gott weiß denn zwar nach seiner Allwissenheit auch vorhin schon alles; aber doch redet die Schrift also, dass uns Gott versuche, wenn er uns 2
Vgl. Mt 10,42.
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Gelegenheit gibt, unsern Glauben, Liebe, Gehorsam gegen ihn zu beweisen. Da müssen wir nun unser wohl wahrnehmen, dass wir nicht übel bestehen, wenn wir so von ihm auf die Probe gestellt werden. XVIII3. Die Vermehrung des Glaubens, so wir durch die Ausübung der Liebe erlangen. Denn gleichwie der wahre und lebendige Glaube sich in der Liebe tätig erweist,4 also nimmt auch derselbe zu und wird merklich vermehrt, wenn der Mensch in der Ausübung der Liebe fortfährt. Denn wer erst im Geringen treu ist, dem wird auch das Größere anvertraut.5 Weil wir denn nun billig danach ringen sollen, dass unser Glaube gestärkt werde, so müssen wir auch denselben einfältiglich in der Liebe beweisen. Und die Erfahrung wird’s lehren, dass wenn einer erst so viel Glauben hat, einen Groschen oder einen Taler zu seines Nächsten Bedürfnis wegzugeben, es ihm bald bei anderer Gelegenheit weniger Überwindung kosten wird, mehrere Groschen oder Taler wegzugeben. […] XXII. Das Kennzeichen, welches Christus von seinen wahren Jüngern gibt, Joh 13,24: Dabei wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt. So nun das das Kennzeichen ist, dass wir Christi Jünger sein, so wir Liebe beweisen, so muss das gewiss das Kennzeichen sein, dass wir Unchristen sein, so wir auch nicht einmal den geringsten Grad der Liebe beweisen, nämlich dem dürftigen Nächsten von dem zeitlichen Gute die Hand zu bieten. Solche Schande sollen wir demnach dem christlichen Namen nicht zufügen. XXIII. Die Gabe der Liebe, welche Gott zu gegenwärtiger Zeit gleichwohl in manchen erweckt hat. Denn es kann nicht geleugnet werden, dass Gott zu dieser Zeit manche von ihrem Sündenschlaf aufgeweckt, welche nun das rechte Kennzeichen der Jünger Christi, nämlich die Liebtätigkeit an sich erfinden lassen. Solche Exempel aber lässt uns Gott vor Augen kommen, damit wir ihnen nacheifern mögen. Wehe uns aber, so wir uns weder durchs Wort Gottes noch durch gute Exempel zum Wohltun bewegen lassen. Quelle: August Hermann Francke, Bewegungs-Gründe. Zu Beobachtung der Pflicht gegen die Armen. Bei Gelegenheit einer angeordneten Armen-Predigt, Halle 1714, 3– 4, 6–7, 13–18, 26–29, 31–32.
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Im Text: XIIX. Vgl. Gal 5,6. 5 Vgl. Lk 16,10. 4
177. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Statuten Herrnhuts (1727) Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und Pottendorf, geb. 1700 in Dresden, gest. 1760 in Herrnhut, besuchte von 1710 bis 1716 das von August Hermann Francke gegründete Pädagogium in Halle (s. Text 174), studierte anschließend Jura und wurde schließlich als lutherischer Theologe ordiniert. 1722 erlaubte er mährischen Familien die Ansiedlung auf seinem Gut Berthelsdorf in der Oberlausitz. Daraus entwickelten sich die stark von Zinzendorf geprägte Herrnhuter Brüdergemeine und die weltweite, ökumenisch offene Brüder-Unität. Als in der Herrnhuter Gemeine 1726 Konflikte im Zusammenhang separatistischer Bestrebungen und apokalyptischer Stimmungen zutage traten, entwarf Zinzendorf Statuten, die er in zwei Teilen vorgelegte: Im ersten Teil „Herrschaftliche Gebote und Verbote“ wurde ein Rahmen für das Sozialleben des Ortes für alle verbindlich geregelt. Jeder Einwohner hatte diesen Teil zu unterschreiben. Die „Gebote und Verbote“ stellen insbesondere die Freiheit von Dienstbarkeit und Leibeigenschaft – in Preußen 1807 abgeschafft – fest. Folgen die Rechtsbestimmungen des ersten Teils dem Grundsatz der Nächstenliebe im Sinne der Billigkeit, so geht der zweite Teil „Brüderlicher Verein und Willkür“ darüber hinaus. Er stellt eine Verfassung der christlichen Gemeinschaft dar, die am 4. Juli 1727 zur freiwilligen Unterschrift präsentiert wurde. Als Leitbild des Aufbaus, der Bestimmungen und der Gestaltung der Gemeine fungiert die „erste“ bzw. „apostolische“ Gemeinde. Die innergemeindliche Barmherzigkeit verlangt praktische Fürsorge gegenüber Kranken sowie Witwen und Waisen. Für diese Aufgaben wurden eigens Mitglieder der Gemeine beauftragt. Toleranz gegenüber anderen Religionen bzw. Konfessionen und eine gewisse Toleranz gegenüber der Dynamik pietistischer Frömmigkeit nach innen sollen einerseits Konflikte und Spaltungen verhindern, andererseits jedoch nicht die Ernsthaftigkeit pietistischer Lebenspraxis relativieren. Die Aufnahme „urgemeindlicher“ Strukturelemente und Lebensformen war in hohem Maße angeregt durch Gottfried Arnolds (1666–1714) Schrift „Die erste Liebe. Der Gemeinen Jesu Christi. Das ist: Wahre Abbildung der Ersten Christen“ (Frankfurt 1700). In ihr finden sich die meisten Elemente, die für die Herrnhuter Gemeine charakteristisch wurden: der Bruder- und Schwesternname, die Trennung der Geschlechter, die Betonung der Laientätigkeit, die wechselseitige Seelsorge, das Liebesmahl, die Akzentuierung der Armen- und Krankenpflege sowie die Gastfreiheit.
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I Herrschaftliche Gebote und Verbote 1 Die ersten Werkmeister in diesem Bau und die ersten Einwohner, welche in der Chronika Fol. 1 benennet sind, sollen, solange sie leben, von allen Einwohnern Ehrerbietung und Liebe und von der Obrigkeit des Orts aller besonderen Freundschaft und Beförderung genießen, auch in bequemen Dingen allen Einwohnern vorgezogen, in der Mitleidenheit aber, wenn sie daselbst wohnen, soviel möglich verschont, auch sie und ihre Häuser (soviel an der Herrschaft) von aller Einquartierung auf ihre Lebenszeit frei erklärt werden. 2 Herrnhut soll zu ewigen Zeiten von aller Dienstbarkeit, Leibeigenschaft usw. mit allen seinen statutenmäßigen Einwohnern frei gesprochen sein und da sie eine nachkommende Herrschaft dazu nötigen wollte, Ihro diesfalls zu gehorsamen nicht schuldig sein, auch durch keinen Eid, Güte oder Ernst jemals dazu verpflichtet werden können. […] 7 Ein jeder Einwohner zu Herrnhut soll arbeiten und sein eigen Brot essen.1 Wenn er aber alt, krank und unvermögend ist, soll ihn die Gemeine ernähren. […] 29 Sollte jemand durchs Verhängnis Gottes und eigene Schuld in Wahnsinn verfallen, soll an ihm Gottes Barmherzigkeit bewiesen und er sehr freundlich getragen, den Verständigsten untergeben, von ihnen nach Leibe und Seel gepflegt, im Übrigen aber davon nicht geredet und so er wieder zurechtkommt, vom vorigen nicht gesprochen werden. […] 41 Weil es nicht zu vermuten, dass alle Einwohner in Herrnhut einerlei Sinn nach Christo haben, so wird davon nur ein redlich Bekenntnis verlangt und alsdann einem jeden von den Statuten so viel zu unterschreiben gegeben, als sich für ihn schickt. Es muss aber in äußerlichem, ordentlichem und gutem Wandel darum durchgehen, weil die Zahl derer, die den Sinn Christi haben, für jetzt und bei Aufrichtung dieser Statuten die größte und Herrnhut ihrethalben erbaut. Niemand aber ist hier zu bleiben genötigt, sondern allenfalls sich im Dorf anbauen kann, der vorhin hier nicht gewohnt. II Brüderlicher Verein und Willkür 1 In Herrnhut soll zu ewigen Zeiten nicht vergessen werden, dass es auf den lebendigen Gott erbaut und ein Werk seiner allmächtigen Hand, auch eigentlich kein neuer Ort, sondern nur eine für Brüder und um der Brüder willen errichtete Anstalt sei. 1
Vgl. 2Thess 3,12.
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Statuten Herrnhuts
Herrnhut mit seinen eigentlichen alten Einwohnern soll in beständiger Liebe mit allen Brüdern und Kindern Gottes in allen Religionen stehen, kein Beurteilen, Zanken oder etwas Ungebührliches gegen Andersgesinnte vornehmen, wohl aber sich selbst und die evangelische Lauterkeit, Einfalt und Gnade unter sich zu bewahren suchen. 3 Dieses sind die Kennzeichen eines Mitgliedes an Christi Leib, welche wir in Herrnhut nach dem auf das bloße Wort Gottes gebauten einfältigen Grunde, darauf wir stehen, gewiss achten: Ein jeglicher, der da nicht bekennt, dass ihn die bloße Erbarmung Gottes in Christo ergriffen und er derselbigen nicht einen Augenblick entbehren könne, dass auch die größte Vollkommenheit des Lebens, wo sie zu erhalten wäre ohne Jesu auf sein Blut und Verdienst gegründete Fürbitte, bei Gott gar schlecht angesehen sei, in Christo aber angenehm werde und neben dem nicht täglich beweist, dass es ihm ein ganzer Ernst sei, die Sünde, die Christus gebüßt, wegnehmen zu lassen und täglich heiliger, dem ersten Bilde Gottes ähnlicher, von aller Anklebung der Kreatur, Eitelkeit und Eigenwillen täglich reiner zu werden, zu wandeln wie Jesus gewandelt hat und seine Schmach zu tragen, der ist wahrhaftig kein Bruder. Wer aber dieses beides hat, dass er den Glauben an Jesum in reinem Gewissen bewahre, der soll es auf keine Weise dahin bringen, wenn er schon sektiererisch, fanatisch oder sonst mangelhaft in Meinungen ist, dass man ihn unter uns geringschätzt oder, da er sich von uns trennt, sogleich wieder verlasse, sondern man soll ihm nachgehen mit Liebe, Geduld und Sanftmut vertragen und verschonen. Wer aber von obigen beiden Stücken zwar nicht abgehet, aber doch nicht beharrlich darinnen wandelt, soll für einen Lahmen und Strauchelnden geachtet, doch mit Sanftmut zurecht gewiesen werden. […] 15 Die Brüder sollen nach Art der ersten Gemeine einander alles zu Liebe tun in der Freiheit, was nur möglich ist, ja über Vermögen sollen sie selbst willig dazu sein. Allen andern Menschen sollen sie tun, wie sie gegen sich selbst gern gehandelt sähen.2 16 Die Gabe dazu empfangen haben, sollen reden, die andern aber richten. 17 Wer sich am besten zum andern schickt, der mag ohne Bedenken mit demselben vorzüglich umgehen, sich im Gebet vereinigen, und was die besondere Gemeinschaft mit sich bringt; nur dass die herzliche Bruderliebe gegen die übrigen nicht aus der Acht gelassen werde. Ja, es ist eine Pflicht, dass, die einander besonders kennen, in der Lehre, Ermahnung, Bestrafung, Trost, Entschuldi2
Vgl. Mt 7,12.
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gung und ganzen Haushaltung des Geistes einander die Hand reichen. […] Es sollen sich gewisse Brüder in Verleugnung aus Liebe dargeben, die mit Krank- oder Schwachheit befallenen Mitglieder zu besuchen, ihre Pfleg und Wartung zu besorgen und nach Gelegenheit selbst zu verrichten. Es soll auch, solange ihnen Gott einen Arzt gönnt, der ein Bruder ist, ein jeder Einwohner von Herrnhut, der sich unserer Krankenwartung und Vorsorge bedienen will, seine Schwachheiten und Zufälle ihm, ehe er einen andern um Rat fragt, bald anfangs melden und seinem treuen Rat folgen, kein anderer aber, der das Werk nicht verstehet, durch verwegene Kuren sich an seines Nächsten Leibe vergreifen. Die Kranken sollen den Krankenwärtern beiderlei Geschlechts bald anfänglich angezeigt und was der Arzt und sie alsdann verordnen werden, sowohl von dem Kranken aus Gehorsam, als von denen, die um ihn sind, aus Liebe wohl in Acht genommen werden. […] Keine Oberkeit, kein Lehrer, Ältester oder Vorsteher oder der in einigem Stück über die andern gesetzt ist, soll sich seiner Gewalt auf andre Art bedienen, als dass er einen Gehilfen ihrer Freude3 und Seligkeit und einen sorgfältigen Helfer in ihren Leiden, Trübsalen oder Mangelhaftigkeit abgebe. Die sämtlichen Gott liebenden Gemüter sollen in der Gemeinschaft und herzlichem Umgange mit andern ihresgleichen keinen ausnehmen. Da sie es aber gegen alle täten, sollen sie sich gegen die Ältesten erklären, dass es aus keinen andern Absichten als um ihres selbsteigenen Nutzens willen, aus unverarglichen Ursachen geschehe, da denn die andern ihrer schonen sollen.
Quelle: Die Statuten von 1727, in: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, hg. v. Hans-Christoph Hahn/ Hellmut Reichel, Hamburg 1977, 70–80. © Friedrich Wittig Verlag Hamburg
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Vgl. 2Kor 1,24.
178. Christian David: Von der ersten Austeilung der Ämter (1731) Christian David, geb. 1692 in Senftleben (Mähren), gest. 1751 in Herrnhut, gilt als Gründer von Herrnhut in der Oberlausitz. Der katholisch erzogene David kam während seiner Ausbildung zum Zimmermann in Kontakt mit evangelischen Christen, wurde evangelisch und evangelisierte seit 1717 regelmäßig in Böhmen und Mähren. Er fand Resonanz bei den deutschsprachigen Mähren im Gebiet um Fulnek und Neutitschein, dem sog. Kuhländchen, die aus der hussitischen Bewegung hervorgegangen waren, das Erbe Johann Amos Comenius‘ (1592– 1670) bewahrten und eine Zuflucht suchten, um ihren Glauben frei leben zu können. David informierte Zinzendorf, der seine Zustimmung zur Ansiedlung mährischer Familien auf seinem Gut Berthelsdorf gab. Am 17. Juni 1722 begannen Mähren unter Leitung Davids, sich „auf des Herren Hut“ niederzulassen. Die Auszüge aus dem Bericht Davids von 1731 dokumentieren die Ausbildung von Laienämtern, die zu den Besonderheiten der Herrnhuter Brüdergemeine gehört. Angeregt durch Johann Andreas Rothe (1688–1758), den lutherischen Pfarrer von Berthelsdorf, wurde 1725/6 damit begonnen, Ämter einzurichten, die den Dienst untereinander strukturierten und wirksam machten. Vor dem Hintergrund der Fokussierung des Luthertums auf das Predigtamt ist die Vielfalt von Ämtern bemerkenswert. Neu war auch, dass einfache Handwerker mit großem Selbstbewusstsein leitende Ämter ausübten. In der Beschreibung Christian Davids lassen sich leitende, diakonische, seelsorgliche und ökonomische Ämter unterscheiden. Diese wurden jeweils für beide Geschlechter eingesetzt. Die Sorge für eine geordnete Nothilfe oblag den Krankenwärtern und -wärterinnen sowie den Almosenpflegern und -pflegerinnen. In diesen Ämtern fand Diakonie als Grundgesetz gelebter Gemeinschaft in der Herrnhuter Brüdergemeine der Anfangszeit ihren profilierten Ausdruck. Es sind solche Ämter in der Gemeine so immer nach und nach aufgekommen und errichtet worden; die allerersten im 4. Jahr unsers Ausgangs gab der teure Mann Gottes, Herr Pastor Andreas Rothe, selbst, weil er die Brüder gern in einem guten Stande gesehen hätte. Nachdem Gott diese unter uns segnete und wir den Nutzen davon sahen, auch weil sich die Gemeine mehrere dergleichen Ämter mehr nötig hatten, gab fernerhin des gedachten Herrn Andreas Rothe Epistolische Predigt [über] Römer 12 zu mehrerem Gelegenheit. Der Text war: „Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben ähnlich, hat
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jemand ein Amt, so warte er des Amts, gibt jemand, so gebe er einfältiglich, übt jemand Barmherzigkeit, so tue er's mit Lust“. Daraus er bewies: Wie immer einer des anderen in einer Gemeine Glied sein solle; wie ein jedes Glied diejenigen Gaben, welche es von dem Herrn zum allgemeinen Nutzen empfangen, und zwar dem Leibe nach, der Seele nach und dem Geiste nach, auch anwenden sollte, und wie um unserer Schwachheit willen, weil wir unsere Pflicht bald vergessen, bald aus Unachtsamkeit oder Trägheit oder Lieblosigkeit unterlassen, deswegen äußerliche Berufe und Ämter nötig waren, damit solche Gebote und Pflichten gedoppelt, sowohl von Gottes als auch von der Brüder Seiten, uns zum Ausüben aufforderten, und also eine rechte Gemeinschaft am Evangelium zwischen Gott und uns und zwischen den Gliedern untereinander sei. Er bewies, wie es höchst unrecht wäre, dass man heutzutage es auf 1 oder 2 arme Prediger ließ ankommen; denn erstlich hätte einer nicht allerlei Gaben, die für eine ganze Gemeine nötig seien oder gehören. Zum zweiten, wenn er auch alle Gaben hätte, so mangelte es doch einem an Kraft und Zeit, solche nach eines jedweden Gliedes Bedürfnis auszuüben, weil in einer Gemeine sich mancherlei Gebrechen und Mangelhaftigkeiten an den Gliedern befänden, als da wären Kranke, Schwache, Ermüdete, Gestoßene, Verwundete, Geärgerte, Traurige, Betrübte, Versuchte, Angefochtene, geistlich Arme, Leidtragende, Belastete, Irrende, Unwissende, Unbefestigte, Furchtsame, Zagende, Ungläubige, Ausgerüttete, Gefallene, Verlorene und dergleichen, welche nach ihrer Beschaffenheit Hilfe, Pflege, Beistand und Zucht von den Gesunden und Starken vonnöten haben, welches alles 1 oder 2 Prediger unmöglich bestreiten können, aber wo die Glieder untereinander zusammenhalten, einander dienen, ihrem Amt treulich abwarten, so kann solches alles geschehen. […] Dieses bestärkte uns und machte uns desto gewisser, also weiter fortzufahren und eine geschlossene Gemeine zu werden; [wir] machten hernach allerlei Ämter, soviel wir in der Gemeine erkannten nötig zu sein, sowohl unter dem weiblichen Geschlecht wie unter dem männlichen, damit in der Gemeine alles fein ordentlich zugehen möchte und aller böser Schein vermieden wurde. Und also machten wir Älteste, Lehrer, Helfer, Aufseher, Ermahner, Diener, Krankenwärter, Almosenpfleger und die über Hantierungen und Wirtschaftssachen gesetzt seien. Zu ÄLTESTEN wurden stille und in gemeinschaftlichen Sachen erfahrene Männer genommen, welche in allen Dingen bedächtig und gründlich handeln. Ihr Berufsamt geht dahin: Über die Gemeine wachen, für sie beten, auf die Salbung achten und gleich nach Wort und Gefühl alles prüfen zu können und dahin zu sehen, wie die Gemeine in der Lauterkeit und Wahrheit in Lehre und Leben könne erhalten
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werden, auch für sie in solchem Fall, ehe sie der Wahrheit was vergäben, das Leben lassen. Sie kommen die Woche einmal zusammen und bereden sich über der Gemeine ihren Zustand. Zu LEHRERN wurden solche genommen, die einen rechten Zusammenhang von der Heilsordnung Gottes nach der Schrift und ihrer eigenen Erfahrung besitzen, die das Wort Gottes recht einzuteilen wissen und auch eine Erfahrung von Führung der Seelen innen haben. Ihr Amt und Beruf ist: In der öffentlichen Gemeine zu Herrnhut Bet- und Ermahnungsstunden zu halten und den Brüdern das Wort zu führen, auch dahin zu sehen, dass von Gottes Wort und göttlichen Dingen nicht leichtsinnig in der Gemeine gesprochen werde, sich um aller Seelen Zustand zu bekümmern und dass keine irrige und falsche Lehr und Meinungen in der Gemeine aufkommen. Sie kommen auch die Wochen einmal zusammen, sich über dem Evangelium und dessen Vortrag zu besprechen. Zu HELFERN wurden solche genommen, die ein aufgewecktes Gemüt und einen aufgeschlossenen Verstand, auch einen rechten Plan und Zusammenhang von der Haushaltung Gottes und Gemeinschaft am Evangelium hatten. Ihr Amt und Beruf ist: Um alles in der Gemeine sich zu bekümmern, alles zu untersuchen, auszumachen und anzuordnen und, wo etwas in ihrer Einsicht nicht zulänglich ist, die Ältesten um Rat zu fragen und bei deren Ausspruch es bleiben zu lassen. Diese halten wöchentlich eine Konferenz; derer 5 sein und stehen unter den Ältesten. Zu AUFSEHERN wurden geistliche Seelen genommen, die aller der Brüder Gebrechen gleich sehen. Ihr Amt und Beruf ist: Auf aller der Brüder Wandel in der Gemeine genau acht zu haben und, was sie denn so in der Gemeine so wahrgenommen, es den Ermahnern zu bescheiden, wie es ist, bei [zu] bringen. Sie halten auch wöchentlich eine Konferenz über die in der Gemeine anstößigen und ärgerlichen Sachen; sind es aber Kleinigkeiten, so rufen sie die Brüder zu sich, um es gleich auszumachen und es nicht erst vor die Ermahner zu bringen. Zu ERMAHNERN wurden solche genommen, die von einer liebreichen und freundlichen Art waren und bei allen Brüdern ein gutes Gerücht hätten. Ihr Amt und Beruf ist: Dass sie die von den Aufsehern untersuchte Sache, die sie ihnen beibringen, übernehmen und diejenigen Brüder nach den von Christis selbst gemachten Graden ermahnen und bestrafen. Werden sie nicht gehört, so sagen sie es den Helfern, diese, wenn sie auch nicht gehört werden, weiter der Gemeine, hört er diese nicht, so entziehen sich alle Brüder von ihnen, dass er schamrot werde. Doch wird er gesucht und immer dahin gesehen, wie er kann gewonnen werden, und zwar mit dem Unterschied entweder, dass man sich seiner erbarme, oder ihn sucht, mit Furcht selig zu
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machen und aus den wilden Feuersflammen, die er sich selbst angezündet, [zu] rücken. Und halten auch alle Woche eine Konferenz und unterreden sich von wegen der unterschiedenen Gemüter, wie ihnen beizukommen, wer unter ihnen zu diesem oder jenem, ihn zu ermahnen, hingehen [soll]. Deswegen sind besondere Aufseher über die anstößigen Brüder in der Gemeine gesetzt, die nur sehen, andere aber, die nur ermahnen, alle Vorurteile zu benehmen, als hätte man was gegen sie, um sich an ihnen rächen wollen. Zu DIENERN wurden Junge und Dienstwillige genommen, derer 7 sein, da ein jeder seine besondere Woche hat, kommt aber auf einmal viele Arbeit, so helfen sie alle einander. Ihr Amt und Beruf ist: Der Gemeine ihre äußerlichen Sachen zu bestellen, bei Konferenzen und Versammlungen der ganzen Gemeine die Brüder zu rufen, bei Liebesmahlen Tische und Bänke zu setzen, alle Abend auf dem Saal die Lichter anzünden, der Gemeine ihren Bau zu bestellen und wenn fremde Brüder kommen, sie zu bedienen, und Gastfreiheit zu verschaffen. Sie haben auch wöchentlich ihre Konferenz, wie alles möge ordentlich bestellt werden und förderlich zugehen. Zu KRANKENWÄRTERN wurden herzhafte und muntere Brüder genommen, derer auch 7 sind und auch ein jeder seinen besonderen Tag hat. Ihr Amt und Beruf ist: Alle Kranken und Mangelhaften zu warten und pflegen, ihrer Krankheit sich recht erkundigen, den verordneten Medicis [Ärzten] alles fein umständlich und zu rechter Zeit ansagen, auf das Verhalten der Kranken und den Gebrauch der Arzneien fleißig achtzuhaben, die nötige Handleitung nach jedes Bedürfnis fleißig bei Tag und Nacht üben, inzwischen mit ihm von seiner Seelen Zustand reden, aus der Bibel ihm was vorlesen und ihn immer auf die Erkenntnis seines Elends und auf den dabei waltenden Zweck Gottes hinweisen. Sie haben auch wöchentlich ihre Konferenz und unterreden sich mit dem Medico [Arzt] von Ursachen der Krankheit, von Wirkung der Arzneien und von Beschaffenheit des ganzen menschlichen Körpers. Zu ALMOSENPFLEGERN wurden häusliche und ordentliche Brüder erwählt, diese haben ein jeder seine besondern Häuser, auf welche sie Achtung zu geben haben, und diese sind wieder zu den Almosenpflegern gewiesen. Ihr Amt und Beruf ist: Alle Hantierungen in der Gemeine zu untersuchen, auf alle Brüder und Schwestern zu sehen, so sie sich nähren, ob sie notdürftig sind, ob sie häuslich, mäßig und ordentlich mit dem, das sie haben, umgehen, was ihnen mangelt, wie ihnen zu helfen ist und wie ihnen geholfen werden könne. Diese halten auch wöchentlich eine Konferenz: wie den Armen nach Proportion gleich gegeben werde, auch nach dem Vermögen unserer Kasse,
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des von Gott Dargereichten, im Ausgeben sich zu richten und über die der Gemeine Rechnung zu tun. Über die HANTIERUNGEN UND WIRTSCHAFTEN wurden häusliche und natürlich kluge Brüder genommen. Ihr Amt und Beruf ist: Alle Hantierungen in der Gemeine zu untersuchen, wie sich die Meister, die Gesellen, die Lehrjungen gegeneinander verhalten, ob sie ordentlich arbeiten, ihre Arbeit tüchtig machen und einer dem anderen nicht zum Schaden sei, auch dass alle Arbeit haben und keiner müßig gehe, das Bauwesen und die da bauen wollen, die Kost[en] mit ihnen überschlagen, den Ort anweisen, auf die Häuser, Gassen, Straßen, Brunnen und Felder achthaben und, wenn sie was sehen, den Dienern davon Bericht erteilen. Sie halten auch wöchentlich eine Unterredung, wie alles in der Gemeine ordentlich und reinlich gehalten werde. Weil aber bei uns in den besonderen Verrichtungen und Dienstfertigkeiten die Schwestern von den Brüdern ganz unterschieden sind, so haben sie auch unter sich fast gleich wie die Brüder ihre besonderen Ämter, teils um den bösen Schein zu vermeiden, teils um sich besser erbauen zu können, errichtet. Alles aber, was die Bedienung der Brüder und Schwestern gegeneinander betrifft, das tun sie mit Freuden, aus Liebe, umsonst, ohne einige Vergeltung; und das tut die Liebe Christi mit h[eiliger] Lust und Brunst, denn es ist in ihr ein unsterblicher und unermüdeter Geist innen, bei allen Beschwerlichkeiten dennoch zu erquicken; sie ist schon in sich selbst bei aller ihrer Unerkenntlichkeit ihres Dienstes die Bürgschaft bis auf die bestimmte Zeit, die Bezahlung in ihr selber nicht nur auf eine Zeit, sondern auf ewig, nicht nur in guten Tagen, sondern auch in bösen, und von solcher Art ist die Liebe Christi, welche reichlich durch den H[eiligen] Geist auch über unsere Brüder und Schwestern ist ausgegossen worden, welche nicht Menschenliebe ist, denn Menschenliebe hört bald auf und wird bald müde, aber die Liebe Christi, wer sie hat, ist von der Art und Natur, dass sie weder aufhört noch müde wird. Quelle: Christian David, Dennen glaubigen Brüdern, Montmirail 1731, in: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, hg. v. Hans-Christoph Hahn/Hellmut Reichel, Hamburg 1977, 84–89. © Friedrich Wittig Verlag Hamburg
179. Gerhard Göcking: Die Aufnahme der vertriebenen Salzburger in Leipzig (1734) Im Zuge gegenreformatorischer Maßnahmen ordnete der Salzburger Erzbischof Leopold Anton von Firmian am 31. Oktober 1731 die Ausweisung aller evangelischen Salzburger an. Die über 14.000 Betroffenen wurden in 14 Züge eingeteilt, die jeweils innerhalb einer festgesetzten Frist das Land zu verlassen hatten. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. erklärte am 2. Februar 1732 seine Bereitschaft, die evangelischen Salzburger in sein Land aufzunehmen. Die meisten der Vertriebenen wurden in Ostpreußen angesiedelt. Der lutherische Pfarrer Gerhard Gottlieb Günther Göcking (1705–1755) hat die Vertreibung der evangelischen Salzburger in seiner Emigrationsgeschichte nachgezeichnet. Göckings Werk wurde zur populärsten zeitgenössischen Chronik der Ereignisse, die europaweit für Aufsehen und Empörung sorgten. Der folgende Auszug aus Göckings Emigrationsgeschichte schildert die Aufnahme von „Exulanten“ in Leipzig im Juni 1732. Das Elend der Vertriebenen und die Beschwernisse der Reise spiegeln sich in dem Bericht ebenso wider wie die Bewunderung der Leipziger Bevölkerung für den Mut und die Glaubensstärke der Salzburger. Fast schon triumphal beschreibt Göcking die diakonische „Willkommenskultur“ der Leipziger gegenüber den evangelischen Glaubensgenossen. Man kann nicht anders, als man muss es den guten Leipzigern zu einem unsterblichen Ruhm nachsagen, dass sie die vertriebenen Salzburger über alle Maßen gut und liebreich aufgenommen. Die ersten kamen daselbst am 13. Juni an und machten an der Zahl mehr als achthundert Personen aus. Es kam ihnen aus der Stadt eine unglaubliche Menge Menschen entgegen und holten sie ein. Alle Buden wurden zugemacht, alle Kramläden zugeschlossen und alle Gewölbe verriegelt. Jedermann war begierig, vor das Tor zu eilen und die ankommenden Emigranten zu sehen. Einige ritten, viele fuhren, die meisten aber gingen zu Fuß hinaus. Und auf dem auswendigen Steinwege sah man viele Tausend Menschen versammelt. Man hatte auch vor dem Tore zwei Zelte aufgeschlagen, unter denen sich etliche vornehme Leute befanden, die den Einzug mit ansehen wollten. Die Musterschreiber fanden sich auch daselbst ein, um den Salzburgern die Billets auszuteilen und sie in die Wirtshäuser zu weisen. Allein diese Mühe konnte erspart werden; denn sie fanden an der
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Kaufmannschaft, an den Bürgern und anderen Personen so viel Wohltäter, dass mehr Wirte als Gäste anzutreffen waren. Man riss die Leute mit aller Gewalt zu sich und führte sie mit nach Hause. Einige eilten ihnen gar bis nach Konnewitz entgegen und suchten sich auf dem Wege diejenigen aus, die sie zu verpflegen sich vorgesetzt hatten. Etliche nahmen zehn, etliche zwanzig, viele dreißig und einige auch wohl vierzig bis fünfzig mit nach Hause. Ein Schuhmacher und ein Maurergeselle, welche blutarme Leuten waren, hatten sechs Emigranten zu sich gerissen, um dieselben zu verpflegen. Es blieb nicht ein einziger übrig, den man in ein Wirtshaus hätte verweisen müssen. Der Anblick ihres Anzuges war recht kläglich. Sie gingen ihrer Gewohnheit nach paarweise einher, die Männer zuerst, die Weiber hernach. Im Gehen sangen sie beständig ihre geistlichen Lieder. Im Gesicht waren sie ganz schwarz, weil sie auf ihrer langwierigen Reise von der Sonne verbrannt waren. Die Kleider, damit sie die Leiber bedeckten, waren auch nicht die besten. Die Kinder hatten sie in den Wiegen auf dem Rücken angebunden oder trugen sie vor sich auf den Armen. Auf den Wagen lagen sehr viele Kranke, unter denen viele Kinder waren, die die Pocken hatten. Und was dergleichen bejammernswürdige Umstände mehr waren. Hierdurch wurden vieler Herzen dermaßen gerührt, dass sie viel tausend Tränen vergossen und ungemein viel Geld unter sie austeilten. Man merkte, dass Gulden, Spezies-Taler, ja, von einigen gar Dukaten unter sie ausgeteilt wurden. Man nahm aber auch dabei zugleich wahr, dass einige Salzburger, die noch etwas Mittel haben mochten, das Geschenk, so man ihnen reichte, mit vieler Danksagung zwar annahmen, aber auch sogleich unter diejenigen wieder austeilten, die notdürftige und arme Leute unter ihnen waren. […] So ungemein begierig war man in Leipzig, diesen Glaubensgenossen Liebe zu erweisen. Die meisten wurden von ihren Wohltätern in die Häuser genommen, damit man desto mehr Gelegenheit erlangte, sich an ihnen zu vergnügen. Und dies geschah eigentlich nur bei den Kranken. Es ward aber auch hier zum Voraus gesagt: Man möchte ihnen alles reichen, was nur zu ihrer Erquickung gereichte und keine Kosten dabei sparen. Wo man nun Salzburger in den Häusern sah, da ward ihnen auf das liebreichste begegnet. Man speiste und tränkte sie, man reichte ihnen allerhand Erfrischungen und ließ es an nichts fehlen, was zu ihres Leibes Erquickung etwas beitragen konnte. Und im Geistlichen litten sie auch keinen Mangel. Nach dem Essen hielt entweder der Wirt selbst eine Betstunde mit ihnen oder man ließ es durch einen Studenten verrichten. Ihre Wagen aber, deren mehr als vierzig waren, brachte man auf den Rossmarkt. Man ließ sie daselbst mit einer starken Stadtwache besetzen, und ihre Pferde wurden in die Gasthöfe verlegt.
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Folgendes Tages, nämlich am Sonnabend, versah man sie des Morgens, nachdem sie ihr Gebet verrichtet, mit einem Frühstück. Darauf gingen sie aus und sahen sich in der Stadt um. Hier sah man Wunder. Jedermann war begierig, diesen Leuten etwas mitzuteilen, und niemand ward doch von ihnen um eine Gabe angesprochen. Wer sie nur ansah, dessen Herz entbrannte gegen sie, dass er sich des Wohltuns nicht enthalten konnte. Man rief sie in die Häuser und teilte Geld unter sie aus. Man warf es ihnen zum Fenster hinunter, wenn sie auf der Gasse vorbeigingen. Man beschenkte sie auf öffentlicher Straße, wo man sie nur antraf. Soldaten, Bauern, Witwen und Waisen1 brachten ihnen Geschenke zu. Ein Stadtsoldat teilte seine ganze Löhnung unter sie aus. Die Bauern, welche sich häufig in der Stadt einfanden, gaben ihnen Brot, Käse und Butter, ob sie gleich bei ihren Wirten ihre reichliche Verpflegung hatten. Eine Frau, die Milch herumgetragen und verkauft hatte, sah, dass eine Salzburgerin ein kleines Kind auf dem Arme trug. Dieses ging ihr so zu Herzen, dass sie ihr alles Geld darreichte, was sie für die Milch eingenommen. Sie tat noch diesen Wunsch hinzu: Gott wolle ihr dasjenige reichlich segnen, was sie jetzt von einer armen Witwe bekäme, die auch unerzogene Kinder hätte. Eine andere Frau verkaufte Sträuße, und es kam eine Salzburgerin zu ihr, die ihr einen abkaufen wollte. Da nun diese arme Frau den Salzburgern auch gern etwas schenken wollte, aber selbst wenig im Vermögen hatte, so teilte sie alle ihre Sträuße unter dieselben aus. Die Kinder brachten ihnen auch ihre wenigen Dreier, die sie von ihren Eltern bekommen hatten und machten ein Geschenk davon. Eine Bürgerstochter ging auf den Markt, auf den bevorstehenden Sonntag Kuchenspeise einzukaufen. Diese verteilte alles Geld unter die Emigranten, welches man ihr zum Einkauf gegeben hatte. Sie eilte darauf nach Hause, anderes zu holen, und sagte zu den Eltern: Sie hätten sich unmöglich enthalten können, den Emigranten etwas zu schenken, weil ihr das Elend dieser Leute gar zu sehr zu Herzen gegangen wäre. Die Reichen und Begüterten dieser Stadt versäumten jetzt auch die Gelegenheit nicht, diesen Armen von ihrem Überfluss mitzuteilen. Vor vielen Häusern sah es nicht anders aus, als ob man Spende austeilte. In etlichen Kaufmannsgewölben setzte man ein gewisses Geld aus der Handlung aus, welches man den vorbeigehenden Salzburgern geben wollte. In anderen geschah dieses zwar nicht, aber man ließ doch keinen vorbei passieren, der nicht eine milde Gabe bekommen hätte. Einige begüterte Kaufleute schenkten verschiedenen Familien fünfzig, sechzig, achtzig oder mehr Reichstaler. Ja man sah mit Verwunderung, wie einige Kaufleute schwarze Flore, andere Strümpfe, noch andere Halstücher und dergleichen Waren mehr verschenkten. 1
Vgl. Ex 22,21.
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Was ein jeglicher Handelsmann führte, davon ließ er auch diesen Fremdlingen etwas zukommen. Wollten sie etwas kaufen, so verehrte man‘s ihnen entweder ganz oder man gab’s ihnen doch um einen Preis, der nicht nennenswert [war]. Einer von ihnen wollte eine Bürste kaufen: Es ward ihm aber dieselbe geschenkt. Die anderen, die dergleichen Ware auch benötigt waren und diese Freigebigkeit sahen, eilten auch herzu und also geschah es, dass der Mann seinen ganzen Vorrat auf einmal los ward und gleichwohl keinen Heller dafür einnahm. Ein anderer kaufte drei Paar neue Schuhe, gab aber nicht mehr als neun Groschen dafür. Und auf diese Weise verkauften viele ihre Waren. Solches Austeilen währte nun nicht allein vormittags, sondern man brachte auch den Nachmittag damit zu. Quelle: Gerhard Gottlieb Günther Göcking, Vollkommene Emigrationsgeschichte von denen aus dem Ertz-Bißthum Saltzburg vertriebenen und größtentheils nach Preussen gegangenen Lutheranern, in sich haltend eine genaue Beschreibung so wohl des Ertz-Bißthums Saltzburg als auch des Königreiches Preussen und die besonders hierher gehörige Geschichte voriger und jetziger Zeiten. Nebst accuraten Land-Charten. Mit einer Vorrede von Sr. Hochwürden Herrn Johann Lorentz Mosheim, Abts von Marienthal und Michaelstein, Frankfurt/Leipzig 1734, 415–419.
180. Gebet der Insassen des Esslinger Spitals (1737) Das im Folgenden abgedruckte Gebet der Insassen des Esslinger Katharinenhospitals – das Hospital wird 1232 zum ersten Mal urkundlich erwähnt und ab 1335 von der Stadt getragen – dokumentiert unterschiedliche Gründe und Aspekte von Armut sowie elementare Formen des Umgangs mit Armut: Armut erscheint zum einen in objektiven Entwicklungen begründet (Krieg, Teuerung, Seuchen etc.) und andererseits subjektiv durch die eigenen Sünden verursacht. Die in dem Gebet zum Ausdruck kommende Frömmigkeit zielt darauf, Armut und Beschwerden in Demut zu ertragen. Zugleich ist das Gebet von der Hoffnung getragen, aus dem „elenden Spital dieser Welt“ erlöst und Gottes ewiger Seligkeit teilhaftig zu werden. Zudem bitten die Insassen des Katharinenhospitals für die Amtsträger des Spitals, freigiebige Unterstützer und die Obrigkeit insgesamt. Das Gebet verzichtet dabei auf jegliche Verbindung von gutem Werk und göttlicher Belohnung. Darin zeigt sich, wie sich der theologische Charakter eines Gebets und das Fürbittenverständnis durch die Reformation verändert haben. Allmächtiger, barmherziger Gott, getreuer himmlischer Vater, wir danken dir von Herzen, dass du uns nicht allein eine christliche und getreue Obrigkeit beschert und vorgesetzt hast, so dass wir unter deren Schutz und Schirm ein stilles und geruhsames Leben führen mögen, sondern daneben auch gutherzige Leute erweckt hast, welche die Brunnen ihrer Mildtätigkeit und die Wasserbäche ihrer Freigiebigkeit auf uns Arme und Bedürftige haben herabfließen lassen. Auch, Herr, erhalte unsere christliche Obrigkeit und andere Guttäter, den Herrn Vogt, die Pfleger und den Meister des Spitals und auch andere ihrer Anverwandten bei guter Gesundheit, glücklicher Regierung und allem Wohlergehen des Leibes und der Seele. Beschütze sie und wende von ihnen und der gesamten gemeinen Stadt hier in Gnaden ab die schädliche Landplagen des Kriegs, Teuerung und allerhand ansteckende Seuchen, damit wir deren väterlichen Schutz und getreue Fürsorge weiterhin genießen können. Auch, Herr, erwecke und beschere uns noch ferner freigiebige Christenherzen, denen unsere Armut, unser Elend und Jammer zu Herzen geht, und die uns mit ihrer guttätigen Freigiebigkeit zu Hilfe kommen. Gib aber auch und allen gehorsame Herzen, unserer Obrigkeit und anderen Vorgesetzten in allem untertänigst zu folgen und unsere Wohltäter zu rühmen.
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Ja, gib uns dankbare Herzen, dass wir uns deiner Guttaten zu gering achten und solche in deiner Furcht genießen. Gib uns gottselige Herzen, dass deine Ehre und dein Lob allezeit unser einziger Zweck und Hauptwerk sein möge. Gib uns daneben auch bußfertige Herzen, damit wir die Sünden, wodurch wir zum Teil in solche Armut geraten sind, demütig erkennen. Gib uns geduldige Herzen, dass wir die Demut und Beschwerden des Stands und Alters willig ertragen und erachten, dass uns viel größere wohlverschuldete Leiden ereilen könnten. Schaffe in uns, o heiliger Gott, gottesfürchtige Herzen, welche sich vor allen Sünden ernstlich hüten, im Glauben nach dem Reichtum deiner Gnade und der Fülle Jesu Christi uns sehnen und zum himmlischen Erbe täglich tüchtiger werden, bis du uns aus dem elenden Spital dieser Welt wirst zu dir nehmen in deinen himmlischen Freudensaal der ewigen Seligkeit. Amen. Quelle: Geschichte des Esslinger Katharinenhospitals, 1737, zit. n. Iris HolzwartSchäfer, Pfründner und Bedürftige im Esslinger Katharinenhospital. Soziale Schichtung, Versorgung und Alltag im 15. und 16. Jahrhundert, Esslinger Studien 44 (2005), 7–35: 33f.
181. Veit Ludwig von Seckendorff: Der deutsche Fürstenstaat (1737) Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) aus Herzogenaurach (Franken) trat nach dem Studium der Rechtswissenschaften, der Philosophie und der Geschichte 1645 in den Dienst Ernst I. von SachsenGotha (1601–1675). 1664 wurde er Geheimrat, Kanzler und Präsident des Konsistoriums bei Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz (1619– 1681). 1692 berief ihn Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg (1657– 1713) zum Gründungskanzler der Universität Halle. Er konnte in der Stadt an der Saale im November noch Streitigkeiten zwischen den Pietisten um August Hermann Francke und der orthodox-lutherischen Stadtgeistlichkeit beilegen, starb aber kurz darauf. Seckendorff entfaltete als Reorganisator eines frühabsolutistischen lutherischen Territorialstaates nach dem Dreißigjährigen Krieg, als Hauptvertreter der älteren deutschen Kameralistik und als Lehrer der Staatswissenschaft nachhaltige Wirkung. Der im Luthertum verwurzelte, mit Philipp Jakob Spener und August Herrmann Francke bekannte Seckendorff sah in einem praktischen Christentum die entscheidende Grundlage und Orientierung des staatlichen Handelns und bürgerlichen Lebens. Vor dem Hintergrund seiner in Sachsen-Gotha gesammelten Erfahrungen begreift Seckendorff in seinem Hauptwerk, dem „Teutschen Fürstenstaat“, Wohlfahrt als eine zentrale Regierungsaufgabe des Fürsten, die jedoch subsidiär gleichzeitig in die Zuständigkeit der Provinzen und Kommunen fällt. Ähnlich wie in Christian Wolffs ca. 100 Jahre später erschienenen Grundsätzen des Naturund Völkerrechts (s. Text 183) erweitert sich die wohlfahrtliche Verantwortungsteilung neben Kirche und Kommune um den Staat. Der territorialstaatliche Fürst wird idealerweise zu dem von Luther – aber auch bei Erasmus bereits skizzierten – entworfenen sozialfürsorglichen, paternalistischen Landesherrn. Der „Fürstenstaat“ erschien 1656 in Frankfurt a.M. und wurde bis 1763 mehrfach wieder aufgelegt. Nach einer Reise in die Niederlande erweiterte Seckendorff 1665 seine Darstellung um „Additiones“, in denen insbesondere neue sozialpolitische Gesichtspunkte ihren Niederschlag gefunden haben. Das Werk avancierte für Jahrzehnte zum „beliebtesten Handbuch der deutschen Politik“ (Leopold von Ranke). Neben den Staatszwecken der Gerechtigkeit und des Friedens tritt die Wohlfahrt als Aufgabe staatlichen Handelns. Spezifische Handlungsherausforderungen sieht Seckendorff vor allem in der Gesundheit der Bevölkerung, der Hygiene und der Nahrungsmittelqualität. Aber auch
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die grundsätzliche Sorge um Arme und Bedürftige stehen auf der Tagesordnung. Die einzelnen sozialpolitischen Maßnahmen entsprechen weitgehend den Bestimmungen der 1653 in Gotha erschienen Landesordnung des Herzogs Ernst. Angeregt durch niederländische Beispiele fordert Seckendorff in den „Additiones“, die staatliche Unterstützung und Erziehung von Kindern armer und durch Kinderreichtum überforderter Eltern in Kinder- bzw. Waisenhäusern. (§ 1) Aus dem, was wir oben von der Macht des Landesherrn insgemein erinnert, dass sie nicht geartet sei wie eine eigenwillige Herrschaft eines Hauswirts über sein Gesinde, ist leicht zu ermessen, dass die Untertanen im Lande nicht Sklaven und mit Leib und Gut so bloß hin ihrem Herrn eigentümlich ergeben seien, sondern dass sie regiert und in Gehorsam gehalten werden wie Freigeborene unter seinem rechtmäßigen Regiment, zu ihrer Leibes- und Seelenwohlfahrt versammelte Leute, von einer christlichen und an göttliche und natürliche und des Reichs Rechte angewiesenen Obrigkeit von Rechts wegen geschützt und in Acht genommen werden sollen, allermaßen von denen vornehmsten Stücken einer löblichen Regierungsform, nach Gelegenheit der deutschen Fürstentümer, in folgenden Kapiteln mit mehreren gehandelt wird […] CAP. VIII. Von dem andern Hauptpunkt der Regierung, welcher bestehet in Aufrichtung guter Ordnung und Gesetze für die Wohlfahrt und gemeinen Nutz des Vaterlandes. […] § 7. Der dritte Punkt, welcher durch gute Ordnung gefördert werden muss, ist nun die Erhaltung und Vermehrung der Leute und ihres Vermögens. […] Nebst der Seelenwohlfahrt ist nichts Edleres eines jedweden Menschen als die Gesundheit und gute Leibeskonstitution, so ist auch in einem Regiment kein besserer Schatz als die Menge vieler Leute und Untertanen, die an Leibes- und Gemütsgaben wohl beschaffen sind, zu solchem Zweck dienet nun nicht allein, dass bei dem geistlichen Regiment der Ehestand in seinem rechten Wesen erhalten, auch durch weltliche Gesetze alle darwider streitende Laster gestraft und abgeschafft werden, sondern was auch zur Erhaltung der auf die Welt kommenden Jugend, in den Gesetzen und Ordnungen vieler Länder und Fürstentümer geordnet zu finden, zum Exempel: Von Hebammen und Wehemüttern, von Versorgung der unmündigen jungen Leute,
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denen die Eltern absterben, durch die Vormünder, von Bestellung gelehrter und erfahrener Ärzte und Balbierer, der man sich in vorfallenden Leibesschwachheiten und Gebrechen mit Rat und Nutz bedienen könne, von guter Ordnung und Fürsichtigkeit zu Zeit einreißender Pestilenz und sonst anderer ansteckender Krankheit, von Abschaffung oder mäßigem Gebrauch etlicher der Gesundheit schädlichen Dinge, als etwa in etlichen Landen der Missbrauch wegen der Brandweine und Tabaks zu achten, von Erhaltung reines Wassers und guter Luft durch Säuberung der Gassen und Höfe, von Verschaffung tüchtiger Nahrungsmittel und Vermeidung dessen, was diesfalls der Gesundheit zuwider, als sonderlich untüchtigen Fleischverkaufs, übel gebackenes Brots, verfälschten, nichtswürdigen Getränks, von Erhaltung armer und notdürftiger Leute, teils durch Hospitalien und Almosen […], teils durch sonderbare Pflegehäuser, darinnen diejenigen, die nicht arbeiten können, ihren Unterhalt haben mögen, und dergleichen mehr, dessen man sich aus den gedruckten vielfältigen Landesund Policeyordnungen erholen kann. Additiones. Beim 8. Capitel. § 41. […] (9) Zu Erhaltung der Leute und deren Vermehrung wäre vielleicht auch ein Mittel, wenn man darauf gedächte, wie der mittelmäßigen und armen Einwohner Kinder erhalten und auferzogen werden könnten. Denn anstatt dass viel Kinder ein Segen Gottes und ein Schatz des Landes sind und sein sollten, so kommet es aus Mangel der Erhaltungsmittel dahin, dass arme oder mittelmäßige Leute, sonderlich die Handwerker in geringen Städten, es vielmehr für eine Strafe Gottes halten und dabei in äußerst Verderben geraten, wenn ein paar Ehevolk sechs, acht, zehn oder mehr Kinder haben. Denn so groß die natürliche Liebe der Eltern gegen die Kinder, sonderlich gegen die kleinen und unerzogenen, ist, so groß ist das Elend und Kummer, welchen sie wegen Versorgung ihrer Kinder haben. Hingegen sieht man auf Dörfern, wo die Nahrung im Feldbau bestehet und der Mangel der Leute, sonderlich aber des Gesindes, groß ist, dass die Kinder der Eltern bestes Nahrungsmittel sein, weil sie ihnen oder auch ihren Freunden, wenn sie kaum 10 oder 12 Jahr alt geworden, in allerlei Haushaltssachen an die Hand gehen. Also ist der Eigennutz auch in diesem Stück die Regel, dass die Leute ihre Kinder alsdann erst von ganzem Herzen lieben, wenn sie wissen, wie sie dieselben versorgen oder mit Nutz gebrauchen können. Diesem nach wäre abermals der freie Zutritt zu den Handwerkern, dass man beizeiten und ohne so große Kosten die Kinder darauf bringen könnte, ein guter Weg. So könnte man
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auch mit großem Nutz Kinder- oder Waisenhäuser stiften, darinnen der Bürger und Einwohner Kinder aufgenommen und auf gewisse Maße versorget würden. […] so könnte man nicht allein Waisen, sondern auch noch lebender Eltern Kinder aufnehmen, und zwar gar armer Bürger Kinder umsonst, andere mittelmäßigere aber um eine leidliche Zugabe. Findel- oder Hurenkinder sollte man ordentlich nicht aufnehmen, um dadurch der Schande und Sünde desto mehr zu begegnen und die armen Leute zum Ehestand zu reizen. Gar kleine Kinder, die unter 6 Jahren sind, sollten auch den Eltern nicht abgenommen werden, sondern ebenfalls denen, die hausarm sind, aus dem Almosen zur Zubuße sonst etwas gesteuert werden. Alle aufgenommenen Kinder müssten unter gewissen Aufsehern etwas arbeiten nach ihrem Vermögen und nichts dazu bequemer oder gewisser als Spinnen, Nähen, Würcken, Schnurmachen, Knüpfen, Knöpfe Machen und allerhand kleine Arbeit, Schnitzen und Feilen, in Holz und andere Materien, die man bei Handwerken bedarf. Sobald ein Knab die Kräfte erlanget, müsste man ihn, mit seiner Eltern Rat oder auf der Vorsteher Anordnung, zu einer Hantierung tun, die Mägdlein aber zu Diensten vermieten oder verheiraten. Die Aufnahme dieser Kinder müsste keineswegs für schimpflich gehalten, auch gewisse Abteilungen und Klassen gemacht werden, nicht allein den Knaben und Mägdlein, sondern auch derer, welche etwas besser durch Beihilfe ihrer Eltern traktieret sein wollten. Und vor allen Dingen würde dazu erfordert eine ansehnliche staatliche Aufsicht und Direktion von den vornehmsten Leuten jedes Orts. Auf das Studieren müsste in diesen Häusern gar nicht, sondern allein auf die Erziehung zur Hantierung gedacht und also von Schulmeistern nichts als das Beten und Lesen und etwa nur mit etlichen das Schreiben und Rechnen auf eine gemeine Art getrieben werden. Die Speise, Arbeit und Bewegung müssten aufs Ratsamste zur Mäßigkeit und Gesundheit eingerichtet sein, zum Exempel, alles Mehl, so sie bedürfen, sollen sie in kleinen Handmühlen selbst mahlen, die größesten sollten zum Kochen der Speise, Holz Sägen und Spalten, Waschen, Kehren, Säubern und dergleichen selbst angehalten werden. Zum Lager müsste man sich der Federbetten nicht so sehr als Strohsäcke, Matratzen und Wolldecken, zur Kleidung auch keinen anderen Leinwand, als was man im Hause gesponnen und gewirkt würde, gebrauchen; auch sollten sie Gärten haben und selbst graben, säen, jäten und zurichten, um darinnen selbst für das Haus Kraut, Rüben, Wurzeln, Salat und dergleichen zu haben, auch etliche niedliche Gewächse, die viel Arbeit, gießen und jäten erfordern, zu verkaufen. Zu gewissen Stunden sollte man die Knaben üben mit Bewegungen zur Hurtigkeit des Leibes und Stärkung der Glieder dienende. Die Mittel zu dergleichen Häuser sollten sich wohl finden, wenn Herrschaft und Obrigkeiten nicht so sehr auf ihre gegen-
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wärtige Lust als auf ihr Amt und künftigen trefflichen Vorteil und Aufgang aller Nahrung, Leute und Gewerbe sehen wollten. So verleget sich auch ein solch Haus mit der Zeit in etwas und zum Teil selbst und würde einen ehrlichen Ruf und Namen als Seminarium Rei publicae, wo recht damit umgegangen würde, erlangen. (10) Andere und gröbere Arbeit aber muss in Zucht- und Spinnhäusern, darinnen man strafwürdige Leute, auch alle starken Bettler, Zigeuner, Vaganten und Landstreichen einsperren sollte, getrieben werden. Anders ist auch mit Hospitalien, darinnen man gebrechliche Leute, auch ganz kleine schwache Kinder, die verwaiset oder hingelegt sind, erziehen sollte, und wäre von dem großen Missbrauch der Hospitalien wie auch viel von der unleidlichen Torheit zu schreiben, da man in Deutschland [an] vorhergedachten schädlichen Leuten, als Zigeunern, welche ohne allen Zweifel auf vorgenommene Inquisition des Todes oder ewiges Gefängnis und Arbeit würdig sollten befunden werden, so wohl auch [an] starken und mehrenteils mit erdichteten Gebrechen sich nährenden Bettlern so offenbarlich leidet und das Geld, welches ehrlichen, oft auch selbst bedürftigen hausarmen Leuten durch das unverschämte Betteln, Vagieren und Garden abgenötigt wird, zu Erhaltung der wahrhaftigen kranken und gebrechlichen Leute jedes Orts und zu oben gedachten Kinder- oder Waisenhäusern oder nutzbaren Hospitalien für verlebte hausarme Leute nicht anwendet. Es ist nicht zu zweifeln, dass in allen Landen jährlich eine große Summa nicht aus rechter christlicher Liebe, sondern um der Bettler und Streicher Importunität willen und Schanden halber weggegeben und durch dieselben Bösewichte versoffen, verfressen und wie man genugsam Exempel hat, mit Karten und Würfeln verspielen und mit Brandwein und Tabak vertan wird, anders zu geschweigen. Also werden wahrhafte und nützliche Almosen unterlassen und eben auch dadurch der Nahrung und Vermehrung der Leute trefflich widerstanden und Abbruch getan. Denn bei Menge der Leute ereignen sich auch viel arme und gebrechliche, welche aber ganz christlich und wohl zu versorgen sind, wo die Nahrungsmittel in gutem Schwang gehen und das Sammeln der Almosen mit guter Art vorgenommen wird. Das offenbare Exempel sieht man in Niederland und absonderlich in der Stadt Amsterdam, da bei den schweren Accisen und Imposten [Abgaben und Steuern] dennoch eine solche unglaubliche Summa von etlich Tonnes Goldes jährlich auf die Armen, alte und junge, gewendet wird, welche vieler Kur- und Fürsten Einkünfte übertrifft, und diese Fürsorge und Aufwendung reizet die Leute an, an solche Örter mit Haufen zu ziehen und sich daselbst selbst zu nähren, indem sie auf den Fall unvermeidlicher Armut und Krankheit sich und die Ihrigen notdürftig versorget wissen. Damit aber diesfalls niemand anderer Leute Bosheit und Faulheit tragen müsste, so ist die Regel zu halten, dass allein und
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ordentlich die Bürger und Einwohner, welche in dem Land häuslich oder doch beständig wohnen oder gewohnt haben und daselbst verstorben sind, für sich und ihre Kinder dergleichen Beneficia [Wohltaten] zu genießen haben und also jede Kommun und Provinz für sich sorgen soll. Es wären denn kundbarlich die Leute eines fremden Orts durch großes Unglück also gar verarmet, dass man Ursach hätte, etliche von denselben nach Vermögen und ohne Hintansetzung der eigenen armen angehörigen und inländischen aufzunehmen und zu versorgen. Quelle: Veit Ludwig von Seckendorff, Deutscher Fürstenstaat. Samt des Autors Zugabe sonderbarer und wichtiger Materien. Verbessert, mit Anmerkungen, Summarien und Register versehen von Andreas Simson von Biechling. Neudruck der Ausgabe Jena 1737, Aalen 1972, 203; 215–217; Additiones: 178–183. © Scientia Verlag Aalen
182. Johann Lorenz Mosheim: Die Natur der wahren Barmherzigkeit. Lukas 6,36 (1741) Der in Lübeck geborene Lutheraner Johann Lorenz Mosheim (1693– 1755) wurde 1723 auf eine Professur für Theologie in Helmstedt berufen. Ab 1747 wirkte er als Kanzler und Theologieprofessor an der 1726 neu gegründeten Universität Göttingen. Mosheim war ein facettenreicher und sorgfältig abwägender Gelehrter, dessen Veröffentlichungen ein weites Spektrum umfassten. Er verfasste Beiträge zur Moralphilosophie und zur Literatur; in der Theologie entwickelte er ein eher unparteiliches Verständnis von Kirchengeschichtsschreibung als eigenständiger Disziplin. Sein theologisches Denken rezipiert aufklärerische Motive und verbindet sie mit dem pietistischen Motiv ernsthafter Lebensführung. Die Predigt, die im Folgenden auszugsweise wiedergegeben ist, hat Mosheim am 17.08.1741 in der Braunschweigischen Stiftskirche vor dem herzoglichen Hof gehalten. Die Predigtausschnitte dokumentieren sowohl das Pathos moralischer Aufklärung als auch die Rückbindung an eine gesteigerte religiöse Fundierung: Im altruistischen Engagement für die Armen machen sich Christen der ungeschuldeten und „nutzlosen“ Barmherzigkeit Gottes ähnlich. Diese Worte eures Erlösers, geliebte Freunde in dem Herrn, enthalten dreierlei: zuerst eine kurze Ermahnung zur Barmherzigkeit; zum anderen zwei sehr kräftige und nachdrückliche Gründe, wodurch wir zur Ausübung dieser Pflicht ermuntert werden; endlich das Muster, wonach die Barmherzigkeit der Christen sich richten muss, oder einen Unterricht von der Natur der wahren Barmherzigkeit. Die beiden ersten Stücke können wir euch mit wenigen Worten erklären. Das letzte ist so weitläufig, dass wir unsere heutige Andacht zur Ausführung desselben bestimmt haben. Die Ermahnung Jesu selbst ist leicht zu verstehen. Barmherzig sein heißt, willig und geneigt sein, denen zu helfen und beizustehen, die in Not, Elend und Unglück stecken, und diesen innerlichen guten Willen des Herzens nach seinem Vermögen vollziehen. Wir verbinden in dieser Beschreibung den Vorsatz oder die Neigung, den Elenden und Unglücklichen Hilfe zu leisten, mit der Tat oder mit der Ausübung dieses Vorsatzes. Viele sind von Natur bereit und geneigt, anderen Menschen ihr Unglück und Elend zu erleichtern. Und es bleibt bei diesem guten Willen, den sie durch Seufzer, durch Wünsche, durch Trost-
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worte, durch Tränen, wenn es etwa Gelegenheit gibt, an den Tag legen, und nicht anders durch wirkliche Hilfe offenbaren, als wenn ihr Herz gleichsam durch einen traurigen Anblick oder durch eine betrübliche Erzählung überwältigt wird. Andere helfen in der Tat, allein, ohne Liebe, ohne Empfindung, ohne Bewegung, ohne Vorsatz zu dienen, zuweilen aus Ehrsucht, oft aus anderen Ursachen, die bekannt genug sind. Weder diese noch jene sind in dem Sinne barmherzig, in dem unser Heiland dieses Wort meint. Er verlangt eine tätige Liebe gegen die, die im Leiden sind. Seid barmherzig. Seid stets bereit und willig, den Notleidenden Hilfe zu zeigen, und erzeigt sie ihnen in der Tat, soviel ihr könnt. Der erste Grund, der uns bewegen soll, dieser Ermahnung zu gehorchen, ist deutlich genug von unserem Heiland vorgetragen worden. Er ist von dem Exempel unseres Gottes genommen: Wie auch euer Vater barmherzig ist. Gott selbst ist barmherzig; seine vernünftigen Geschöpfe dürfen also nicht anders gesinnt sein. Die wahre Vollkommenheit der Menschen – und insbesondere der Christen – besteht darin, dass sie Gott ähnlich werden, und, soweit es ihre verdorbene Natur zulässt, das eingebüßte Ebenbild Gottes wieder zu erlangen trachten. […] Der andere Grund, den unser Heiland seiner Ermahnung beifügt, ist nicht so klar und deutlich vorgetragen. Er liegt in dem Wort Vater verborgen. Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Jesus wählt aus allen Namen, die der Herr sich selbst gegeben hat, denjenigen, der einen Antrieb und Grund in sich schließt, die Menschen zur Barmherzigkeit zu reizen. Gott ist der Vater aller Menschen, die den Erdboden bewohnen. Ein Vater liebt seine Kinder und wünscht nichts so sehr als ihre Glückseligkeit. Gott muss also verlangen, dass das Unglück seiner Kinder, soweit es geschehen kann, abgewendet und vermindert wird. Die demnach daran arbeiten, das heißt, die barmherzig sind und sich das Leiden anderer Menschen zu Herzen nehmen, treten ein in die Absichten Gottes, die alle Menschen zu erfüllen verpflichtet sind. Noch mehr: Ist Gott der Vater aller Menschen, so sind alle Menschen wie Brüder untereinander verbunden. Daher entsteht eine neue Verbindung zur Pflicht der Barmherzigkeit. […] Die Barmherzigkeit der Christen muss der göttlichen Barmherzigkeit gegenüber den Menschen gleichen. Die größten Fehler, die von den Weisen in der Tugend- und Lebenslehre begangen wurden und vielleicht noch begangen werden, kommen daher, dass sie das Maß der Tugenden von ganz anderen Dingen als von Gott zu nehmen pflegen. Der eine zieht allein die allgemeinen Wahrheiten zu Rate, die uns durch den rechtmäßigen Gebrauch unserer Vernunft bekannt werden. Der andere sieht den Zweck der Gesellschaften, die auf der Erde gegeben sind. Der dritte legt den Vorteil und Nutzen der Menschen zugrunde. Aus diesen und etlichen anderen Grundregeln entstehen Be-
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schreibungen der Tugenden, die teils unvollkommen sind, teils das Laster von der Tugend nicht klar genug unterscheiden, teils sogar ein ebenso großes Übel zulassen wie dasjenige, das sie verbieten. Der Christ hat eine gewissere und reinere Vorschrift, wonach er seine Tugenden abfassen muss. Die Vollkommenheiten Gottes, die in der Schrift deutlich vorgestellt und durch Vernunft und Erfahrung zum Teil begriffen werden, stellen ihm die Natur der Tugenden vor, die seine Seele annehmen und ausüben muss. […] Wir rühmen uns der Barmherzigkeit und kennen sie nicht. Was noch mehr? Wir sind oft zu der Zeit grausam und unbarmherzig, wenn wir meinen barmherzig zu sein. Und woher kommt dieses? Weil wir uns eine besondere Art der Barmherzigkeit machen, die mit der göttlichen Barmherzigkeit auf keine Weise übereinstimmt. Wir versuchen, diesen Fehlern entgegenzutreten und euch zu Gott zu führen, damit ihr Die wahre Barmherzigkeit der Christen kennenlernen möget. Seht mit uns, damit dies so viel leichter geschehen möge, auf den Ursprung dieser Tugend, auf ihren Gegenstand und auf die Mittel, deren sie sich bedient. Die wahre Barmherzigkeit der Christen ist I. rein in Ansehung ihres Ursprungs. Sie ist II. vollkommen in Ansehen ihres Gegenstandes. Sie ist III. weise in ihren Mitteln. […] Die Barmherzigkeit der Christen muss, wie unser Heiland lehrt, der Barmherzigkeit des Gottes gleichen, der sich selbst den Vater der Menschen nennt. Gottes Barmherzigkeit ist, wenn wir auf ihren Ursprung sehen, rein, ohne Flecken und nicht weniger heilig als alle seine übrigen Vollkommenheiten. Die Barmherzigkeit der Jünger Christi muss daher Erster Teil zuerst ebenfalls rein in Ansehung ihres Ursprungs sein. […] Allein so wenig wir begreifen, wenn wir wissen wollen, warum uns der Herr liebt, so klar und hell erkennen wir, dass diese Liebe rein und lauter, frei von allem Eigennutz, frei von aller Hoffnung auf Vorteil und Nutzen, frei von allen den Absichten ist, wodurch die unreine Liebe der Menschen entzündet wird. Was hat die Glückseligkeit, was hat die Vollkommenheit des Höchsten dadurch gewonnen, dass er Geschöpfe gebildet hat, die fähig sind, auf mancherlei Weise die Güte seiner Gnade
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zu schmecken? Was hat unser Gott dadurch gewonnen, dass er diese Geschöpfe, nachdem sie gefallen sind, wieder aufgerichtet und auf den verlorenen Weg des Lebens und der Seligkeit zurückgeführt hat? […] Die Barmherzigkeit der Christen, wenn sie Gott gefallen soll, muss von eben dieser Art sein. Sie muss, soweit unsere Schwachheit und die engen Grenzen unserer Natur es gestatten, ebenso rein und heilig sein. Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Der Grund, woraus die Barmherzigkeit der Jünger Christi fließt, ist die ungeheuchelte und wahre Liebe des Nächsten, das ernsthafte und sehnliche Verlangen, das die bekehrende Gnade in uns zuwege bringt, allen Menschen zu ihrer wahren Glückseligkeit und Wohlfahrt – soweit wir können – behilflich zu sein. […] Diese Unschuld und Reinheit der Barmherzigkeit bringt zwei neue Eigenschaften als unausbleibliche Früchte hervor, die wir in der Barmherzigkeit unseres Gottes bewundern. Die wahre Barmherzigkeit ist stets willig und bereit zu helfen, und sie nimmt kein Ende. Die Schrift preist an vielen Stellen diese beiden Dinge an der göttlichen Barmherzigkeit. Der Herr kommt uns mit seiner Liebe zuvor. Er hilft, ehe wir ihn um Hilfe ansprechen. Und wie beständig, wie unermüdlich ist seine Liebe? Was ist es, das seine Neigung, Gutes zu tun, ändern und seine väterliche Erbarmung schwächen und zurückhalten könnte? Warum dies? Weil seine wesenhafte Güte der Grund und Ursprung seiner Barmherzigkeit ist. Wer ohne Eigennutz liebt, der findet in sich selbst den Antrieb zu helfen und zugleich eine unerschöpfliche Quelle der Erbarmung. Und ist unsere Barmherzigkeit der göttlichen gleich, ist sie auf reine Liebe gegründet, so wird unsere Seele die Not des Nächsten eher fühlen, als er sie selbst offenbart, und den Vorsatz, den Notleidenden beizustehen, solange er lebt, behalten. Allein, geliebte Freunde in Jesus, wie wenig wahrhaft Barmherzige werden wir unter den Christen finden, wenn nur die so genannt werden können, die mit einem reinen und geheiligten Herzen den Bedrängten und Unglücklichen aufhelfen? Wir erbarmen uns insgemein über andere aus Liebe zu uns selbst und nicht aus einer ungeheuchelten und aufrichtigen Neigung zu anderen. Wir sind barmherzig, aber nicht so, wie es unser Vater im Himmel ist. Wir werden gerührt, wenn sich nackte, schlecht bekleidete, hungrige, kranke, leidende Personen unseren Augen oder Gedanken darstellen, und lassen uns durch die innerliche Wehmut, die uns diese Unglücklichen erwecken, zur Milde und zur Hilfe bewegen. Tun dieses nicht auch die Ungläubigen und Sünder? Werden nicht steinerne Herzen durch die Tränen, den Jammer und die Schmerzen derer, die ein Unfall getroffen hat, erweicht? Diese Regungen beweisen nicht, dass wir Christen sind, nein, sie beweisen nur, dass wir Menschen sind, die aus Fleisch und Blut bestehen und wehmütig werden können. Wir stellen uns bei dem Leiden
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der Elenden, die wir sehen, unsere eigene Gefährdung und die allgemeine Schwachheit unserer Natur vor und bedauern nicht die Not anderer, sondern die eigene Zerbrechlichkeit. Wir geben und helfen nicht, weil wir lieben, sondern darum, dass wir die unangenehme Wallung unseres Blutes stillen und die Furcht, dass wir vielleicht ebenso geplagt werden könnten, von uns entfernen. Wir sind also mitleidig, weil wir uns selbst lieben, und wollen durch unsere Freigiebigkeit gegenüber denen, die die Vorsehung erniedrigt hat, den Beistand des Höchsten gegen die Gefahr, mit der wir umgeben sind, gleichsam erkaufen. […] Die Barmherzigkeit, die von uns auf diese Art erpresst wird, ist nicht die Barmherzigkeit unseres Vaters im Himmel. Es ist eine unreine Barmherzigkeit. Was tut ihr, Reiche und Mächtige, wenn ihr einem Geplagten, der tausend Tränen an eurer Schwelle vergossen hat, der euch gegen sein Gewissen und ohne euer Verdienst mit tausend Schmeicheleien und prächtigen Worten hofiert, der sich zu euren Füßen gelegt hat, Liebe und Gnade erweist? Ihr erbarmt euch nicht über diesen Elenden; ihr erbarmt euch über euch selbst. Ihr tut Gutes, damit ihr euch von den Belästigungen befreit, die sein ungestümes Anhalten erweckt; ihr gebt, damit euer Vergnügen nicht weiter durch seine Klagen gestört und eure Augen und Ohren nicht mehr von ihm beleidigt werden. […] Überblickt in euren Gedanken die Zahl der Elenden und Unglücklichen, die euch bekannt sind, und forscht nach dem Ursprung der Leiden, die sie bedrücken! Wird es nicht bei vielen, ja bei den meisten, das Unglück ihrer Seele sein? Würde jener, der euch um Almosen anspricht, sein Brot so kümmerlich sammeln müssen, wenn man ihm in den ersten Jahren die Grundlagen einer brauchbaren und nützlichen Wissenschaft beigebracht hätte? Würde jener, der sein Erbteil liederlich verschwendet hat, jetzt die Schmach der Armut tragen, wenn er zu der wahren Weisheit, die die Seele heiligt, hingeführt worden wäre und der Wollust zu widerstehen gelernt hätte? Würde jener, der mit Krankheit und Schmerzen ringt, jetzt nicht eine feste Gesundheit genießen, wenn man ihn nachdrücklich ermahnt hätte, gegen sein böses Herz zu arbeiten, den Lastern zu fliehen und den Sitten der rohen und unbesonnenen Welt abzusagen? Würde jener, der den Verlust einer großer Ehrenstelle so kläglich bedauert und eine ganz ungewohnte Last in seinem Alter schleppen muss, nicht noch geehrt und angesehen sein, wenn man beizeiten seinen unmäßigen Trieb zum Reichtum oder zur Ehre erstickt hätte? Würde sich jener durch Betrug und Gewalttätigkeit um Glück und Ehre gebracht haben, wenn er früh zu der Furcht Gottes, zur Verachtung der Welteitelkeit, zu der aufrichtigen Liebe des Nächsten erweckt und unterwiesen worden wäre? Und würden die Menschen das Unglück, das sie ohne ihr Verschulden trifft, durch ihre Ungeduld und Traurigkeit verdoppeln? Würden so viele,
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die nach dem Willen Gottes leiden, sich selbst täglich töten, wenn sie durch die wahre Weisheit vorbereitet worden wären, ihre falschen Meinungen zu überwinden und den Willen der göttlichen Vorsehung zu verehren? Die wahre Barmherzigkeit nimmt sich daher dieses Unglücks, das den Seelen der Menschen begegnet, ebenso liebevoll und eifrig an wie der Leiden, die den Leib und die äußeren Umstände derselben betreffen. Es sind ebenso sowohl Mittel da, dem Elend der Geister als auch dem Elend der Leiber und der Sinnen abzuhelfen. Und sie bedient sich derselben nach dem Vorbild Gottes, soweit sie kann. […] Dritter Teil. Die Barmherzigkeit unseres Gottes ist weise in ihren Mitteln: Die wahre Barmherzigkeit der Christen muss daher III. von eben dieser Art sein. Der ist weise in seinen Mitteln, der solche Mittel wählt, die geeignet und zureichend sind, den Endzweck, den er sich vorgestellt hat, zu erreichen. Der kann nicht weise heißen, der sich zwar einen guten Zweck wählt, aber Mittel ergreift, um zu demselben zu gelangen, die entweder gar nichts taugen oder nur halb das Ziel seiner Wünsche treffen. Der Zweck der Barmherzigkeit ist, die Not und die Leiden der Unglücklichen entweder ganz wegzunehmen oder doch, soviel es geschehen kann, zu erleichtern. Der wahrhaft Barmherzige muss daher solche Mittel ergreifen, die diesem Zweck gemäß sind. […] Die Barmherzigkeit der Heiligen gleicht in diesem Stück der göttlichen. Sie besinnt sich auf Wege, wie sie das Elend und Unglück des geplagten Bruders von Grund auf beheben kann. Sie nimmt andere, wenn sie allein zu schwach ist, zur Hilfe, um diesen Zweck zu erreichen, und lässt es nie bei einem unkräftigen und unzulänglichen Beistand bewenden. Sie sieht Leute, die unwissend und arm an Verstand, die ungeschickt sind, sich und anderen zu dienen, die den Weg zum Leben und zur Ruhe nicht kennen; und gleich ist sie darauf bedacht, wie sie diese Unglücklichen tüchtiger machen möge, Gottes Ehre und ihre eigene Wohlfahrt zu befördern. Was hilft einem solchen Menschen eine kleine Steuer, was ein Trost, was eine Zusage, was eine Bestrafung? Ist mit diesen Mitteln ihr Unglück gemindert oder weggenommen? Sie sieht einen Kranken, der sich aus Armut den Arzt nicht leisten kann; und gleich bemüht sie sich, soweit sie kann, demselben zur Genesung behilflich zu sein. Was hilft einem solchen Elenden ein geringes Almosen, was ein abgenütztes Tuch, was ein wenig Speise? Ist mit diesen Dingen der Zweck der Barmherzigkeit erreicht und der Jammer des Unglücklichen getilgt? Sie sieht einen Armen
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und Bedürftigen; und gleich forscht sie nach den Ursachen seines Elendes und überlegt, wie weit die Wurzel desselben abgeschnitten werden kann. Sie sieht einen Nackten; und ist es möglich, so sorgt sie neben anderem dafür, dass er bekleidet wird. […] Er sagt: Ihr habt mich gekleidet. Hört ihn weiter: Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht.1 Er sagt nicht: Als ich euch meine Schmerzen, meine Leiden, meine Plagen mit Tränen und Klagen dargestellt habe, habt ihr euch erweichen lassen, mir eine schlechte Gabe zu geben, damit ich euch nicht weiter beunruhige und meine zerschlagenen Glieder an einen anderen Ort schleppen würde. Nein, nein! Jesus sagt: Ihr habt mich besucht. Und dieses Wort besuchen bedeutet in der Sprache unserer heiligen Bücher viel. Es meint alle Arten des Beistandes und der Hilfe. Jesus will sagen: Ihr habt alle Mühe aufgewendet, um meinen Jammer zu erleichtern und mir zum Gebrauch meiner Glieder und zur Gesundheit wieder zu verhelfen. Die wahre Barmherzigkeit eilt zu ihrem Zweck und bleibt nicht bei einer mäßigen Bemühung, dem Geplagten zu helfen, stehen! Wie sollen wir mit dieser Eigenschaft der Barmherzigkeit, die unser Jesus befohlen hat, das kaltsinnige Mitleiden vergleichen, das die meisten Christen unserer Tage Barmherzigkeit nennen? Ein Armer und Elender tritt uns unter die Augen und rührt durch seine Tränen, durch seine traurigen Gebärden, durch sein Winseln und Seufzen unser Herz. […] Sehen wir recht, geliebte Freunde in Jesus, so spüren wir in euren Gesichtern und Gebärden gewisse Anzeichen, woraus wir begründet schließen können, dass wir eure Seelen in Bewegung gebracht und bei vielen eine Art Scham erregt haben. Allein wir zweifeln dennoch, wie weit wir diesen Regungen trauen sollen? Sind es die gewöhnlichen Empfindungen der Natur, die bei uns insgemein aufsteigen, wenn wir von der Barmherzigkeit und Liebe reden hören? Oder sind es Zeugnisse, dass ihr bereit seid, durch die Gnade des Herrn den festen und unwandelbaren Vorsatz zu fassen, in der Liebe und Erbarmung eurem Vater im Himmel ähnlich zu werden? […] Ihr könnt freilich nicht für alle Seelen der Menschen, unter denen ihr lebt und die in der Tat unglücklich am Geist sind, sorgen. Ihr müsst allerdings keinen geringen Teil dieser Bemühungen auf die Diener des Herrn werfen, die am Wort und in der Lehre arbeiten. Aber ein jeder von euch kann etwas tun. Und wenn ein jeder von euch das wenige leistet, was in seinen Kräften steht, so werden unsere Klagen über den Mangel der vollkommenen Barmherzigkeit aufhören. Die Welt – und insbesondere unser Land – ist voll von verlassenen, armen, verwaisten Kindern, von Kindern, denen die Eltern, die oft ebenso bos1
Vgl. Mt 25,43.
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haft wie bedürftig sind, ihre bösen Neigungen und lasterhaften Triebe von Jugend auf einblasen, von Kindern, die ohne alle Zucht und Ermahnung zum Herrn aufwachsen. Wählt euch eines, wählt euch etliche, wenn es euer Vermögen zulässt, aus diesem unglücklichen Haufen, der dem Gemeinwesen eben so viel Schaden wie der Kirche bringt, und sorgt dafür, dass dieselben unterwiesen und zur Arbeit in der Welt tüchtig gemacht werden, so habt ihr euch über die Seelen eurer Brüder erbarmt. Diese Kinder, die ihr aus dem Feuer gerissen habt, werden vor dem Throne Jesu Christi dereinst Zeugen sein, dass ihr die vollkommene Liebe eures Vaters im Himmel nachgeahmt habt. […] Gebt etwas von dem Segen des Herrn, der euch zugefallen ist; gebt, soviel ihr könnt, zu den Bemühungen, die nötig sind, dergleichen Gräuel und Scheusale der menschlichen Gesellschaft einzuschränken und von der Bosheit abzuhalten. Glaubt, die Steuern, die zu dem Zweck gegeben werden, dass boshafte Betrüger, unzüchtige Weibspersonen, verruchte Landläufer zur Arbeit und Ordnung gebracht und aus den Stricken des Satans gezogen werden können, werden mehr göttlichen Segen und Gnade über euch und über eure Häuser bringen als die reichen Almosen, die ihr hingebt, ohne zu wissen, wie sie genutzt werden. […] Allein, wir werden noch durch größere Ursachen gedrängt. Wir sind so elend und verdorben, dass wir alle, wir alle – keiner ausgenommen – heute, morgen, übermorgen sowohl in dieser als auch in jener Welt der Barmherzigkeit nicht nur Gottes, sondern auch der Menschen bedürfen werden. Seid noch so reich und mächtig, herrscht, regiert, lebt, solange es sein kann, schmeckt mit dem äußersten Vergnügen und in der größten Gesundheit alle Güter, die euch diese Welt geben kann, bis in das höchste Alter; die Zeit wird doch zuletzt kommen, da ihr euch nach Barmherzigkeit, nach Hilfe, nach Beistand sehnen werdet! Die Stunden werden doch anbrechen, an denen euch eure Macht, eure Ehre, euer Reichtum, eure Gesundheit, euer Geschmack verlassen werden, an denen euch das Mitleiden und die Liebe anderer Menschen als das edelste und schätzenswerteste Gut erscheinen wird! Und was werden euch in diesem Zustand, der euch alle treffen wird, die Erbarmung anderer Menschen, das Mitleiden und die Tränen der ganzen Welt nützen, wenn ihr nicht sicher seid, dass ihr vor dem Thron des gerechten Richters in jener Welt Barmherzigkeit finden werdet? Quelle: Johann Lorenz von Mosheim, Die Natur der wahren Barmherzigkeit. Lukas 6,36, in: Gerhard K. Schäfer (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, VDWI 4, Heidelberg 1991, 263–295 (=J. L. von Mosheim, Heilige Reden über wichtige Wahrheiten Jesu Christi, 6. Teil, Neue Aufl. Frankfurt/Leipzig 1741, 109–162 [Die dritte Rede]).
183. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (1769) Der international anerkannte Universalgelehrte Christian Wolff (1679– 1754) lehrte nach dem Studium der Theologie, Physik und Mathematik ab 1706 als Professor in Halle Philosophie und Mathematik. 1723 wurde er wegen Atheismusverdachts – besonders beflügelt durch Auseinandersetzungen mit dem damaligen Dekan der theologischen Fakultät, August Hermann Francke (s. Text 171), – vom preußischen König verbannt und wirkte dann als Hochschullehrer in Marburg. 1740 kehrte er rehabilitiert an die Universität Halle zurück und wurde 1743 deren Kanzler. Wolff entwickelte unter anderem eine wirkungsgeschichtlich bedeutsame Grundlegung des Rechts, die ihre Begründung im Naturrecht hat. Die 1750 erschienene Schrift Institutiones Iuris Naturae Et Gentium wurde 1754 zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel Grundsätze des Natur- und Völkerrechts veröffentlicht; 1769 folgte die zweite Auflage. Christian Wolff entfaltet hierin die obrigkeitliche Sozialverantwortung nicht aus der religiös begründeten, personalen Verantwortung des Landesherrn, sondern aus einer prinzipiellen vertragstheoretischen Begründung des Staates: Die Mitglieder der Gesellschaft schließen „gleichsam einen Vertrag“ (§ 836) und beauftragen den Staat mit den für das gesellschaftliche Leben zentralen Funktionen von (Rechts-)Sicherheit und Wohlfahrt. Die Bürger selbst sind als Vertragspartner gleichermaßen aufgefordert, zur Aufrechterhaltung dieser Funktionen beizutragen. Die Abgaben für Arme sollen je nach Einkommen abgestuft erfolgen. Neben der grundsätzlichen Unterscheidung in arbeitsunfähige und arbeitsfähige Arme sollen je nach Problemlage der Armen entsprechende Organisationen geschaffen werden (Arbeitshäuser, Armenhäuser, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Armenschulen). § 486. Von dem Reichtum. Das Vermögen, was wir überflüssig haben, bekommt den Namen des Reichtums (divitiae). Nachdem viel oder wenig überflüssig ist, so ist der Grad des Reichtums größer oder kleiner, und den Reichtum muss man nach dem Stand der Person beurteilen. Daher nennt man denjenigen reich (divitem), dessen Vermögen Überflüssiges enthält, sehr reich (opulentum) aber, der einen großen Reichtum hat oder der einen großen Überfluss an allen Sachen hat. Der Reiche hat also mehr, als er bequem, vergnügt und wohlanständig zu leben braucht […]. Für dasjenige Vermögen, was nicht mehr in sich begreift als das, was zur Notdurft
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und Bequemlichkeit, zum Vergnügen und Wohlstand hinreichend ist, findet man in der lateinischen Sprache […] kein bequemes Wort, um den mittleren Abstand zwischen Reichtum und Armut anzuzeigen. Im Deutschen nennen wir es das Auskommen. Und insofern als es verschiedene Grade der Bequemlichkeit, des Vergnügens und des Wohlstands gibt, unterscheiden wir ein nötiges Auskommen und ein gutes und reichliches Auskommen voneinander. § 487. Von der Armut, der Dürftigkeit und Bettelstand. Im Gegenteil nennen wir arm (pauperem), dessen Vermögen weiter nichts als das Notwendigste enthält, dürftig aber oder gar sehr arm (egenum) denjenigen, dem es auch an dem Notwendigen fehlt. Wenn jemand so dürftig ist, dass ihm auch dasjenige fehlt, was zur äußersten Notdurft des Lebens gehört, so ist er ein Bettler oder bettelarm (mendicus). Wenn diese Armut nur eine Zeit lang dauert, als solange einer krank ist oder ihm die Gelegenheit fehlt, durch seine Arbeit etwas zu verdienen, so ist es eine Bettelarmut auf eine Zeit lang (mendicitas temporanae). § 488. Vom Almosen. Was man einem gibt zu seiner äußersten Notdurft, wird ein Almosen (eleemosyna) genannt; und derjenige bettelt (mendicat), der um ein Almosen bittet. Man muss also denjenigen Almosen geben, die bettelarm sind (§ 487). Und weil wir einem anderen das nicht zu leisten verbunden sind, worin er unserer Hilfe nicht bedarf […], so ist keinem erlaubt zu betteln als nur denen, welche mit ihrer Arbeit nicht so viel erwerben können, als zur Lebensnotdurft hinreicht, es sei, dass dieses aus Mangel der Kräfte oder aus Mangel der Gelegenheit zu arbeiten komme; und diesen soll man Almosen geben. Damit man aber keinem das Almosen versage, der es bedarf, so muss man in zweifelhaften Fällen das Urteil von der dringenden Not dem Bettelnden überlassen. § 489. Wieviel einem zu betteln erlaubt ist, und wie man die Almosen anzuwenden hat. Weil die Almosen bloß zur äußersten Notdurft gegeben werden und es nicht erlaubt ist, Almosen, als zu dem Ende, zu begehren (§ 488), so ist nicht erlaubt, mehr zu betteln, als zur höchsten Notdurft hinreichend ist; und es missbraucht die Almosen, der sie zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen des Lebens anwendet. Weil derjenige, welcher einem Bettler mehr gibt, als die Notdurft erfordert, ihm etwas schenkt […], es aber auf den Willen eines jeden ankommt, ob er einem etwas schenken will […], so ist kein Zweifel, dass es dem Bettler erlaubt sei, es anzunehmen. Und weil die Almosen, die man gegeben, dem Bettler ei-
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gentümlich zugehören […], so muss es seinem Gewissen überlassen werden, wenn er die Almosen missbraucht […]. § 490. Vom Geben des Almosens. Weil durch Einführung des Eigentums niemanden der notwendige Gebrauch der Sachen hat benommen werden können […], so sind nach ihrem Vermögen Almosen zu geben verbunden, die sie geben können. Deswegen sind nicht bloß die Reichen und die ein großes Vermögen haben, mehreren Personen und reichlichere Almosen zu geben verbunden (§ 486), sondern auch Arme, die nicht so großen Mangel an dem Notwendigsten haben, dass sie sich nichts ohne Verletzung der Pflichten gegen sich selbst und die Ihrigen entziehen können, sind mäßige Almosen zu geben schuldig. Ja, wenn ein Bettler mehr durch sein Betteln bekommt, als zur gegenwärtigen Notdurft erfordert wird, und er sieht einen anderen darben, so ist er schuldig, ihm einiges Almosen zu geben. Da nach der Einführung des Eigentums den Almosen gleich zu achten, was einer ohne Entgeld tut, um dem anderen die äußerste Notdurft zu erleichtern (§ […]. 488), so müssen auch die Armen und Dürftigen, ja selbst die Bettler, was sie zur Erleichterung der äußersten Notdurft anderer tun können, umsonst tun. Wer aber selbst nichts hat, als was zur äußersten Notdurft erfordert wird, der ist nicht verbunden, Almosen zu geben […]. Und weil das Almosen eine Wohltat ist […], niemand aber eine Wohltat zu geben mit Gewalt angehalten werden kann […], so kann auch ein Bettler keinen mit Gewalt anhalten, ihm Almosen zu geben. Folglich, wenn er bittet, ja mit Bitten anhält, und es wird ihm abgeschlagen, so muss er es erdulden und andere um ein Almosen bitten. § 491. Von den Almosen, die man für andere sammelt. Da wir denen, welche unsere Hilfe bedürfen, aushelfen sollen, so viel wir können […], und das Gesetz der Natur uns das Recht gibt zu den Handlungen, ohne welche wir unserer Verbindlichkeit kein Genüge leisten können […], so ist auch erlaubt, Almosen zu sammeln für andere, die sie bedürfen. Dem aber ungeachtet wird der, welcher Almosen für andere sammelt, nicht von der Verbindlichkeit, Almosen von seinem Eigenen zu geben, befreit […]. § 492. Von der Barmherzigkeit. Elend (miserum) nennt man denjenigen, welcher viel und großes Übel, besonders am Leibe, und vieles und großes Unglück empfindet. Die Dürftigen also und Bettler sind Elende (§ 487). Barmherzig (misericordem) nennt man denjenigen, dem das Elend des anderen ein Bewegungsgrund ist, ihn von dem Übel umsonst zu befreien oder wenigstens ihm dasselbige, so viel an ihm ist, erträglicher zu machen. Des-
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wegen da wir, so viel wir können, verhüten sollen, dass andere nicht Schaden an ihrer Seele oder an ihrem Leibe oder an ihrem Glücke leiden […], folglich auch dafür besorgt sein, dass sie von ihrem Übel befreit werden oder ihnen dasselbe wenigstens erträglicher gemacht werde, so sollen wir barmherzig sein. […] § 834. Ob man von Natur aus eine Herrschaft über andere haben könne. Da von Natur die Handlungen eines Menschen dem Willen keines andern unterworfen sind, und ein jeder in dem, was er tut, sich nach seinem Willen zu richten hat […]; so hat niemand von Natur eine Herrschaft über andere Menschen. […] § 835. Von dem, der dem anderen untertänig ist. Über welchen ein anderer die Herrschaft hat, wird dem andern untertänig (subjectus) genannt. Von Natur aus ist also niemand dem anderen untertänig (§ 834), und es kann sich auch niemand dem andern wider seinen Willen untertänig machen […]. Weil aber der Herrscher den, welcher ihm untertänig ist, verbinden kann seine Handlungen so und nicht anders einzurichten […]: so ist der Untertänige verbunden, seine Handlungen nach dem Willen des Herrn einzurichten; folglich da man sagt, dass einer gehorche (parere, obedire), der seine Handlungen nach eines andern Willen einrichtet; hingegen ungehorsam (inobediens) sei, der dieses zu tun weigert. So ist der Untertan verbunden, dem zu gehorchen, der Gewalt über ihn hat, und nicht ungehorsam zu sein. Es erhellet aber leicht, dass wer einem anderen untertänig ist, in Ansehung der Handlungen, worauf jener einer Recht hat, nicht frei sei […]; folglich, dass wer sich dem anderen freiwillig unterwirft, auf seine natürliche Freiheit in Ansehung der Handlungen Verzicht tue, worauf er dem andern ein Recht einräumet […] § 836. Von der Gesellschaft und dem daraus entspringenden Rechte nebst der Verbindlichkeit. Die Gesellschaft (societas) überhaupt ist ein Vertrag oder gleichsam ein Vertrag, mit gemeinschaftlichen Kräften eine gewisse Absicht zu erhalten. Die Menge der Menschen selbst, welche um eine gewisse Absicht zu erhalten in eine Gesellschaft treten, pflegt auch eine Gesellschaft (societas) genannt zu werden. […] Ein jedes Mitglied der Gesellschaft ist also zu tun verbunden, was es zur Erhaltung der Absicht tun kann und was insbesondere verabredet worden ist, dass es geschehen soll […]; folglich haben die Mitglieder der Gesellschaft das Recht, einen, der ein Mitglied ist, anzuhalten, seiner Verbindlichkeit ein Genügen zu leisten. Deswegen haben alle zusammen genommen über jede einzelne Person ein Recht; die Verbindlichkeiten aber und Rechte der einzelnen Person müssen aus der Absicht ermessen werden, darin
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alle eingewilligt haben, und aus dem, was im Vertrage insbesondere verabredet worden […], und alle zusammen genommen haben das Recht, das auszumachen, was zur Erhaltung der Absicht der Gesellschaft zu erreichen nötig ist, oder zu den Mitteln, welche sie zur Erhaltung der Absicht anwenden wollen. § 837. Von der Wohlfahrt der Gesellschaft und vom gemeinschaftlichen Besten der Mitglieder. Der ungehinderte Fortgang in Beförderung der Gesellschaft wird die Wohlfahrt der Gesellschaft (salus societatis) genannt; die Absicht aber selbst, insoweit sie erhalten wird, als die einem jeden nützlich ist, heißt das gemeine Beste (commune bonum). Deswegen muss ein jedes Glied der Gesellschaft das gemeine Beste nach seinen Kräften und auf die verabredete Weise befördern, und nichts vornehmen, was der Wohlfahrt der Gesellschaft zu wider ist; […] § 972. Warum ein Staat einzuführen, und von seiner Absicht. Wir erkennen sehr leicht, dass einzelne Häuser sich selbst dasjenige nicht hinreichend verschaffen können, was zur Notdurft, Bequemlichkeit und dem Vergnügen, ja zur Glückseligkeit erfordert wird, noch auch ihre Rechte ruhig genießen, und was sie von andern zu fordern haben, sicher erhalten, noch auch sich und das Ihrige wider anderer Gewalttätigkeit schützen können. Es ist also nötig, dasjenige durch gemeinschaftliche Kräfte zu erhalten, was einzelne Häuser für sich nicht erhalten können. Und zu dem Ende müssen Gesellschaften errichtet werden […]. Eine Gesellschaft, die zu dem Ende gemacht wird, heißt ein Staat (civitas). Daher erhellt, dass durch Verträge der Menschen die Staaten entstanden […], und die Absicht eines Staats bestehe im hinlänglichen Lebensunterhalt (in sufficientia vitae), d. i. im Überfluss alles dessen, was zur Notdurft, zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen des Lebens, auch zur Glückseligkeit des Menschen erfordert wird, in der inneren Ruhe des Staats (tranquillitate civitatis), d. i. in der Befreiung von der Furcht vor Unrecht oder Verletzung seines Rechts […], und der Sicherheit (securitate) oder der Befreiung von der Furcht vor äußerer Gewalt. Die Wohlfahrt eines Staats aber (salus civitatis) besteht in dem Genuss des hinlänglichen Lebensunterhalts, der Ruhe und der Sicherheit […]. Insoweit nun dieses zuerhalten steht, wird es das gemeine Beste (bonum publicum) genannt. […] § 1021. Von dem, was das Leben gehörig zu unterhalten erfordert wird. Auf dass alles, was zum Leben erfordert wird, hinlänglich da sei, so ist nötig, dass die Werke des Fleißes und der Kunst so sehr vervielfältigt werden, als es möglich ist, damit nicht diejenigen müßig gehen dürfen, welche Kräfte zum Arbeiten haben, und es denen nicht an Ar-
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beit fehle, die arbeiten wollen, dass dergestalt ein jeder durch seinen Fleiß und Arbeit so viel für sich bringe, als erforderlich ist, wo nicht nützliche und zum Vergnügen gehörige, doch notwendige Dinge anzuschaffen […]. Diesem zufolge muss der Wert der Dinge und der Arbeit bestimmt und dafür bestens gesorgt werden, dass nicht die Untertanen in Armut und Mangel oder gar an den Bettelstab geraten. Und eben deswegen muss man nicht gestatten, dass Teuerung gemacht werde; ja, so viel als es sich tun lassen will, muss man den Untertanen Erleichterung schaffen, dass die Teuerung ihnen nicht zur Last falle. Weil auch der Holzgebrauch ungemein groß und ganz unentbehrlich ist, so muss man sorgen, dass es nicht an hinlänglichem Holzvorrat fehle, und sofern es rar werden sollte, so muss man die Untertanen zum rätlichen [sparsamen] Gebrauch dessen anhalten. Wenn ferner die Pracht in einer sehr kostbaren Besorgung der Speise, des Tranks, der Kleidung und anderer Sachen besteht […], dadurch, wie bekannt ist, die Güter verschwendet werden. So muss man der allzu großen Pracht, welche die Bürger arm und zu Bettlern macht, nicht leiden. Aus eben dieser Ursache ist die Bosheit der Wucherer nicht zu gestatten […], gleichwie auch die Spiele, wodurch das Vermögen verschleudert wird, und folglich auch die Spieler, welche das Spiel zu ihrem Gewerbe machen, nicht minder die Lotterien und Glückstöpfe, es sei denn des gemeinen Besten wegen, welchem man auf andere Art nicht aufhelfen könnte [...], nicht zu dulden sind […]. § 1022. Dies wird ferner in Absicht der Armen und Bettler erwogen. Das Leben gehörig hinzubringen, wird auch erfordert, dass man für die Dürftigen und Bettlern besorge, was zur Notdurft des Lebens nötig ist, und, damit die Untertanen nicht gar zu sehr mit Almosengeben beschwert werden, ist in sorgfältige Betrachtung zu ziehen, was das Naturgesetz von den Almosen festsetzt (§ 488.lege). Daher sind Zuchthäuser aufzubauen, worin diejenigen zur Arbeit angehalten werden müssen, welche, ob sie gleich arbeiten können, doch lieber betteln wollen; in gleichen Armenhäuser, worin man die Dürftigen nährt, die sich durch Arbeiten das nicht zu erwerben im Stande sind, was sie zur Lebensnotdurft gebrauchen und keine Anverwandten oder Freunde haben, welche sich ihrer Bedürfnisse annehmen können; noch ferner Krankenhäuser, worin kranke Arme teils ernährt, teils geheilt werden; so auch Waisenhäuser, worin man arme Waisen erzieht; endlich Armenschulen, in welchen man die Kinder armer Eltern umsonst in demjenigen unterrichtet, was ihnen zu wissen nötig und nützlich ist. Quelle: Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zu-
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sammenhange hergeleitet werden, 2., verbesserte Auflage Halle (Saale) 1769, 301– 306; 685f.; 720–722.
184. Christian Friedrich Menschenfreund: Warum ist oder war bisher der Wohlstand der protestantischen Staaten so gar viel größer als der katholischen? (1782) Der in Eppstein (Hessen) geborene katholische Jurist Johann Adam von Ickstatt (1702–1776) veröffentlichte 1772 unter dem Pseudonym Christian Friedrich Menschenfreund eine konfessionsorientierte Analyse der Entwicklung des Wohlstands. Er war seit 1743 Professor in Würzburg, ab 1746 Direktor der Universität Ingolstadt. Hier bemühte er sich in einer langwierigen und konfliktreichen Auseinandersetzung mit den Jesuiten erfolgreich, auch ausgewählte protestantische juristische Fachliteratur in die Lehre einzuführen. Der vorliegende Textausschnitt der Ausgabe von 1782 hebt den protestantischen Umgang mit der Armut und seinen Erfolg sowie dessen Effizienz hervor. Inspiriert vom Luthertum lobt Ickstatt insgesamt die (Mit-)Zuständigkeit der weltlichen Obrigkeit bei der Erhaltung der Ordnung. Aber auch die Präventivmaßnahmen und frühen Interventionen durch Waisenhäuser mit entsprechenden Bildungselementen gelten ihm als vorbildlich. Ergänzt durch den Arbeitszwang für Arbeitsunwillige in Arbeits- und Zuchthäusern führen sie zu einer geringeren Kriminalitätsrate in protestantisch geprägten Regionen. In der katholischen Armutskultur mit ihren Versorgungspraktiken im Umfeld von Klöstern und Kirchen sieht er – ähnlich wie Georg Christoph Brendel (s. Text 175) – eine indirekte Förderung der Armutskultur. Icksteins Analysen des Zusammenhangs von Kultur und Konfession erinnern teilweise an Max Webers (1864–1920) Beiträge zum Verhältnis von Protestantismus und Kapitalismus. § 78. Missbrauch des Almosengebens. Mich deucht aber, wir verstehen die Lehre von dem heiligen Almosen so wenig, dass derjenige nicht ganz zu tadeln ist, der schon vor mehr denn hundert Jahren ein Büchlein, das verfluchte heilige Almosen genannt, mit patriotischer und polizeimäßiger Feder geschrieben hat.1 Wahr ist‘s, und Christus, der Herr, bestätigt durch seine heiligste und göttliche Lehre die Sätze der Vernunft, welche die Menschen dergestalt untereinander verbinden, dass man alles Mögliche tun muss, um 1
S. den Text von Brendel, Nr. 175.
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den Notleidenden zu helfen: Allein das bloße Almosengeben hilft nur eine ganz kurze Frist. Das Vermögen der Gebenden reicht nicht hin, die Bettler zu ernähren, und man ist auch nicht schuldig dazu, weil es noch andere Mittel gibt, um ihnen Unterhalt zu verschaffen; ja man versündigt sich sogar gröblich durch solches Almosengeben, weil dadurch die Bettler zum Müßiggang angewöhnt und hernach unter den Strang gezogen werden. § 79. Übelstand des Bettelns vor den Kirchen. Was hilft’s doch, wenn unsere frommen Seelen vor den Kirchtüren einer Menge Bettelleuten Almosen austeilen? Welch‘ ein hässlicher Anblick ist’s, die Kirchtüren mit einem ekelhaften Schwarm von allerlei Bettlern belagert zu sehen? Wie sehr bedauern es rechtschaffene Polizeimänner unter den Unkatholischen, dass in unsern Städten ordentliche Prozessionen von Bettelleuten von allerlei Alter und Geschlecht herumgehen, um Almosen zu sammeln, und dass sie dabei den heiligen Rosenkranz nicht aus Andacht, sondern als eine zum Betteln gehörige Zeremonie hätten? Wie sehr werden wir darüber getadelt, dass auf allen Straßen und Gassen, ja sogar auf dem freien Felde man von Bettlern angefallen wird, die mit ihrem ungestümen Anhalten immer ein Almosen erpressen, welches wohl selten aus der Absicht, Almosen zu geben, sondern nur aus Ungeduld, um eines verdrieslichen Plaggeistes los zu werden, gereicht wird? Was für ein Spektakel ist’s endlich, wenn man vor die Türen derjenigen Klöster hinsieht, welche sich eine Pflicht daraus machen, den Bettlern Speise zu geben? Da sieht man ganze Sammlungen von allerlei Bettlern, besonders von Strolchen, Landfahrern, Müßiggängern, Spitzbuben, Räubern und Mördern. Alle dies werden durch dergleichen sogenannte Wohltaten genährt, gemehrt und herbeigezogen. § 80. Die Protestanten halten allerdings viel auf gute Werke. Versorgen ihre Armen sehr wohl. Wir geben den Protestanten Schuld, dass sie nichts auf gute Werke halten. Sie leugnen dasselbe und preisen die guten Werke auf eine solche Art, dass es nicht unwahrscheinlich ist, es beruhe hierinnen unser Streit größtenteils auf einem unrichtigen Wortbegriff. Es sei aber dem, wie es wolle, so können wir doch wenigstens nicht leugnen, dass sie dasjenige wirklich tun, was wir gute Werke nennen, und dass sie solches mit weit besserem Erfolg tun als wir: Denn wir sehen, dass sie nur wenige Arme haben und dass diese insgesamt notdürftig versorgt sind. Sie legen Waisenhäuser an, und in diesen werden die verwaisten und mittellosen Kinder erzogen und nicht allein im Christentum, Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch in anderen Wissenschaften unterrichtet, zur Arbeit angehalten, zu Handwerkern und Profes-
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sionen gebracht, folglich des Bettelns überhoben, des Müßiggangs entwöhnt und zu nützlichen Gliedern des Staates herangezogen. Für alte oder kranke oder presshafte [mit Gebrechen behaftete] Erwachsene, so zum Arbeiten keine Kräfte mehr haben und mittellos sind, haben sie Spitäler, in welchen man solche Leute bis an ihr Ende ernährt. Für erwachsene Arme aber, welche arbeiten können und nicht wollen, haben sie Arbeits- und Zuchthäuser, worinnen sie eingesperrt, mit mäßiger Kost ernährt und zur Arbeit mit Strenge angehalten werden; daher es in protestantischen Landen sehr gefährlich ist, einen Landfahrer oder Strolchen abzugeben oder eine liederliche Haushaltung zu führen, das Seinige durchzubringen und hinterher anderen Leuten zur Last zu fallen. § 81. Fehler der katholischen Hospitäler. Es ist wahr, wir haben bei uns auch Spitäler; es sind solche durch die frommen Stifter und andere rechtschaffene Christen sehr reichlich begabt worden, und wirklich werden auch hin und wieder viele Leute darinnen erhalten. Allein bald sollte man sagen, es sei besser, wir hätten solche Spitäler gar nicht; denn ihre Einwohner sind mehrenteils liederliche Haushälter, welche das Ihrige im Müßiggang und mit Schwelgerei vertan haben und hernach im Spital eine sehr angenehme Freistätte gegen die Armut finden, das eine gerechte Strafe in einem Arbeits- oder Zuchthaus nach sich ziehen sollte, und in protestantischen Ländern solche auch unfehlbar nach sich ziehen würde. Bei uns aber haust das liederliche Volk ordentlich auf das Spital los und sagt öffentlich: Ei, wenn ich das Meinige vertan habe, alsdann ist mir das Spital noch gut genug; und eben dieses ist die Ursache, warum Mirabeau2 und andere gegen die Hospitäler in Frankreich so unendlich viel einzuwenden haben, wie man denn nicht leugnen kann, dass die sonst witzigen Franzosen bei ihren Spitälern die Fehler noch meistenteils haben, welche unseren Stiftungen gleicher Art den Endzweck gänzlich verfehlen lassen, und anstatt der Armut und der Liederlichkeit abzuhelfen, dieselbe nur beträchtlich vermehren. § 82. Versorgung der Armen außer den Hospitälern. Da auch die Umstände gewisser Armen so beschaffen sind, dass es nicht nötig ist, sie sogleich in Waisenhäuser und Spitäler zu bringen, so haben die Protestanten in ihren Landen, so von einiger Beträchtlichkeit sind, die vortreffliche Anordnung, dass eine jede Stadt, Marktflecken und Dorf seine so gearteten Armen selbst ernähren muss. Hierdurch wird keinem Ort schwer, seine Armen zu ernähren, weil er von 2
Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau (1749–1791), französischer Politiker, Physiokrat, Schriftsteller und Publizist der Aufklärung.
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dem Anlauf anderer Armen und Bettler ganz befreit bleibt. Übrigens werden die Dörfer, Wege und Straßen fort und fort von gewissen dazu bestellten Reitern oder Fußgängern visitiert, damit sich ja kein Landstreicher oder anderer Bettler einschleiche und diejenigen, welche sich hernach diese Missetat zuschulden kommen lassen, sogleich in die Gefängnisse geliefert werden, wo sie denn in den Zuchthäusern, bei dem Festungsbau oder sonst ein solches Gedenkzeichen bekommen, dass ihnen die Lust vergeht, das nämliche Land wieder zu betreten und daselbst dem Müßiggang und Betteln nachzuziehen. § 83. Warum in protestantischen Ländern so wenig gestohlen wird? Eben daher geschieht es auch, dass in den protestantischen Ländern so wenig von Einbrüchen, Diebstählen, Räubereien, Spitzbubenbanden und dergleichen zu hören ist; wohingegen wir Katholischen leider dieses alles unter unsere gewohnten Landplagen zählen. Mit dem Hängen, Köpfen, Rädern, Staubesen [Stäupen] Geben und dergleichen, welches bei uns fleißig genug geschieht, ist’s nicht ausgemacht, sondern man muss, wie die Unkatholischen, dem Baum Axt an die Wurzel legen, dem Müßiggang und dem Betteln steuern und nicht beidem, wie wir tun, mit unseren unüberlegten Almosen Türen und Tore öffnen und ihm die kräftigste, das allgemeine Wohl aber so bedauerlich kränkende Nahrung geben. In Summa, die ganze Verfassung unsers Almosengebens ist nichts nütze. § 84. Notwendigkeit der Ordnung, wobei gute Werke allerdings Platz haben. Geist- und weltliche Obrigkeiten sollen mit aller Macht sich bemühen, um hierunter gute Ordnung einzuführen. Ist dieses geschehen, dann haben unsere frommen Christen rechte gute Gelegenheit, um mit ihren Almosen sich einen gedoppelten Verdienst zu erwerben: Denn hiernächst sind ihre Almosen nicht bloß und allein in der Absicht ein gutes Werk, sondern auch im Erfolg; wohingegen jetzt die meisten Almosen im Erfolg höchst schädlich und fast unverantwortlich und nur in der frommen Absicht gut sind. § 85. Das Betteln vor den Klöstern einzustellen. Insonderheit sollte man das Betteln vor den Klöstern, als das kräftigste Mittel, die Menge von Landfahrern, Müßiggängern, Spitzbuben, Dieben, Räubern und Mördern herbeizuziehen, ganz abschaffen. Es dürften zwar einige der ehrwürdigen Väter vermeinen, es sei solches dem Sinn ihrer Stiftung entgegen; allein, ich habe mit erleuchteten Geistlichen unsrer Religion gesprochen, welche gar nicht solcher
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Meinung sind. Date & dabitur vobis,3 sagt der Herr Pater, allein, warum wollen wir die Ordensleute betteln lassen, um das Erbettelte dem Diebs- und Gaunergesindel, Landfahrern, Steifbettlern und Strolchen zuzustecken, da wir doch noch endlich darinnen einerlei Meinung hegen, dass man diesen unsere Almosen nicht mitteilen soll. […] § 89. Schädliche Folgen der Freistätten in Kirchen und Klöstern. Als ein Anhang muss ich hierbei noch bemerken, dass wenn wir dem ärgsten, die öffentliche Ruhe störenden Verbrechen mit unserm Almosengeben Türen und Tore auftun, alsdann das Unwesen dadurch vollkommen gemacht wird, dass wir den durch den Missbrauch der Almosen meistenteils gezogenen Missetätern, Mördern, Räubern, Dieben und dergleichen in unseren Kirchen und Klöstern eine sichere Zuflucht angedeihen lassen, durch welche sie sich der sie verfolgenden Gerechtigkeit spottend entziehen und mit ihrer Straflosigkeit anderen zu dergleichen und noch gröberen Verbrechen einen sehr unglücklichen Reiz geben. Wollen wir die heilige Schrift Alten Testaments zur Behauptung dieser Freistätten anziehen, so halten uns die Unkatholischen entgegen, dass damals nur von unvorsätzlichen Totschlägen die Rede gewesen ist, nicht aber von Meuchelmördern, Banditen, mutwilligen Duellanten und dergleichen. Sagen wir, Quod ecclesia non sitiat sanguinem [Dass die Kirche nicht nach Blut dürsten soll], so fragt man uns, warum wir so große Freude am Verbrennen der Ketzer haben. Man fragt uns ferner, warum wir der Obrigkeit das Schwert aus den Händen winden, das ihr Gott zur Regierung des Volkes und zum Schutz der Frommen anvertraut hat. Doch ich lasse die Rechte der heiligen Kirchen unangefochten und begnüge mich nur damit, auch an diesem Ort deren schädliche Folgen auf das Wohlergehen des Staates zu zeigen. Quelle: Christian Friedrich Menschenfreund, Warum ist, oder war bisher der Wohlstand der Protestantischen Staaten so gar viel größer als der Katholischen? Wien 1782 [1772], 70–80.
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Gebt und euch wird gegeben.
185. Heinrich Gottlieb Zerrenner: Volksaufklärung (1786) Der in Wernigerode geborene Theologe und Pädagoge Heinrich Gottlieb Zerrenner (1750–1811) arbeitete zunächst als Hauslehrer, bis er ab 1775 als Pfarrer in einer Patronatsstelle wirkte. Dort kam er ausführlich mit dem Leben und den Nöten der Landbevölkerung in Berührung. 1787 wurde er königlich preußischer Kirchen- und Schulinspektor sowie Oberprediger in Derendorf. Im letzten Jahr seines Lebens wurde er zum Generalsuperintendent von Halberstadt berufen. Als ein der Aufklärung nahestehender Theologe hob er den Nutzen der Frömmigkeit für die Glückseligkeit des Menschen und das öffentliche Leben hervor. Er verfolgte gleichzeitig Projekte, die vor allem die Lebensqualität, die Landwirtschaft, die gesundheitliche Versorgung und die Hygiene sowie Bildung und praktische Lebensumstände der Landbevölkerung insgesamt verbessern sollten. Er verstand dies Wirken als Dienst am „gemeinen Nutzen“. Der aufklärerische, didaktisch ambitionierte Volksschriftsteller entfaltete – ähnlich wie Rudolf Zacharias Becker (1752–1822) mit seinem „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“ (1789) – durch sein „Volksbuch. Ein faßlicher Unterricht in nützlichen Erkenntnissen und Sachen“ (1787) breite Wirkung. Er versteht Aufklärung als „wohltätige Bemühung“, dem Volk durch Unterricht und andere Projekte brauchbare, für die dem jeweiligen Stand angemessene Lebensführung und den Beruf nützliche Kenntnisse und Kompetenzen zu vermitteln. Damit profiliert er einen praxisorientierten Aufklärungsbegriff, der sowohl unangemessene luxuriöse Lebensführung („Verfeinerung“) als auch unnütze Gelehrsamkeit im Bildungsprozess vermeiden will. Kirchen und Schulen gelten in diesem Projekt als die zentralen, jedoch reformbedürftigen Institutionen. Zerrenner versteht die „Volksaufklärung: Uebersicht und freimüthige Darstellung ihrer Hindernisse“ (1786), aus der die vorliegenden Textausschnitte ausgewählt sind, als Vorrede zu seinem ein Jahr später erschienenen Volksbuch. Er setzt sich darin kritisch mit Einwänden gegen die so verstandene Aufklärung auseinander und begründet gleichzeitig seine curricularen Rahmenvorstellung der Volksbildung. Er identifiziert hierbei u.a. gravierende Mängel in der Pastoren- und Lehrerausbildung und drängt auf Reformen. Ankündigung, statt einer Vorrede. Ein Volksbuch soll es werden oder ein gemeinschaftlicher Unterricht in allerlei nützlichen Erkenntnissen und Sachen, mittelst einer zusammenhängenden Erzählung für Landleute, um diese verständiger,
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besser, wohlgesitteter, auch wohlhabender, für die Gesellschaft brauchbarer und glücklicher zu machen. Ich werde mich also auch nicht allein auf Sittlichkeit oder Moral einschränken, sondern in demselben dem Landmann auch allerhand andere nützliche Erkenntnisse von natürlichen Dingen, auch pädagogische, sittliche, politische, ökonomische, statistische, medizinische und viel andere Kenntnisse, auch die nötigsten Edikte im Auszuge mitteilen, von welchen ich in dieser Schrift rede, und glaube, dass von denselben gerade so viel dem Landmann mitgeteilt werden müsse, als er braucht, um so verständig, gut, wohlgesittet, mit seinem Zustande zufrieden, wohlhabend, brauchbar für die Gesellschaft und ganz so nützlich und glücklich zu werden, als er es nach seiner Lage und nach seinen Umständen werden könnte. Und das ist mir Aufklärung, von welcher ich in diesem Buche handle. […] Denn so viel ist gewiss, dass es mitten in unserem aufgeklärten Zeitalter gar viel dergleichen Männer gibt, auf die das bloße Wort, Aufklärung, schon die auffallend widrigste Sensation machen können; – so sehr ist ihnen das Wort, und noch mehr die Sache zuwider; und auf dieser Herren ganzen herzlichsten Unwillen – und, wofern es bei ihnen stünde, auch wohl, nach Umständen, wirkliche Ahndung, kann ich mir denn durch das, was ich hier etwa schreiben möchte, auch ziemlich sicher Rechnung machen. Aber was nun noch auffallender, bedenklicher und unerklärbarer ist, als jener offenbare, allen gewiss historisch und vielen auch empirisch bekannte Widerwille vieler Feinde der Aufklärung, ist eine andere Erscheinung: dass selbst viele andere, Bessere, die noch vor nicht gar langer Zeit noch mehr für Aufklärung waren – redeten, wo gar schrieben –, dass auch solche jetzt, dass ich so rede, zu lavieren oder, wie soll ich’s nennen? auf beiden Seiten hinken,1 einzuziehen und zu limitieren anfangen, so, dass man fast glauben sollte, dass auch die im Ernst nicht mehr recht viel von Aufklärung halten möchten. […] Bei diesen Behauptungen scheint mir nun eine nicht geringe Verwirrung in Absicht auf den Begriff der Aufklärung stattzufinden. Denn wenn man sich nur einen irgend gefunden Begriff von dem macht, was wirklich eigentlich Aufklärung sein und heißen soll, so scheint’s fast nicht möglich – ich will lieber geradezu sagen –, es scheint widersinnig zu sein, den Gedanken zu haben: dass je zu viel Aufklärung sein oder unter die Leute, auch von der niederen Volksklasse, kommen könne. Und da ich denn von Aufklärung schreibe und für ihre Sache ein Wörtchen zum Besten reden will, so kann man denn ganz natürlich auch von mir verlangen, dass ich denjenigen Begriff genau und bestimmt angebe, den ich selbst mir von Aufklärung mache. Und 1
Vgl. 1Kön 18,21.
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wenn ich denn zuerst ganz deutlich und ein für alle Mal hierdurch bevorworte: dass ich in diesen Bogen weder von Aufklärung überhaupt noch von Aufklärung in der Theologie insbesondere noch von irgendeiner anderen Art von Aufklärung – sondern nur von derjenigen Aufklärung des Landvolks ganz insbesondere rede, die durch besseren Unterricht in schriftlicher sowohl als mündlicher Belehrung desselben, besonders aber durch verbesserte Kirchen und Schulen – denn dies sind noch zur Zeit die fast einzigen und vornehmsten Gelegenheiten, wo bei demselben Aufklärung befördert werden kann, – bewirkt werden soll: so weiß ich nicht, ob ich den Begriff von dieser Aufklärung nicht ganz gut und richtig angeben werde, wenn ich Folgendes darunter verstehe. Aufklärung nenne ich: die angewendeten wohltätigen Bemühungen, dem Volk gerade so viel nützliche Kenntnisse durch Unterricht und andere dienliche Mittel mitzuteilen, als es braucht, um so verständig, gut, brauchbar und glücklich zu werden, als es in seinem Stande und in seiner Lage sein sollte oder werden könnte. Oder noch bestimmter: das Volk aufklären, heißt: sich bemühen, es in demjenigen Grade verständig und gut zu machen, dass es für den Staat und in jedem Verhältnisse und in jeder Verbindung mit anderen Menschen brauchbarer, seines eigenen Lebens froher und mit seinem Stande zufriedener lebe. […] Aufklärung ist eine Sache, die die Rechte der ganzen Menschheit angeht; worauf also alle, auch die aus dem niedrigsten Volke, Anspruch machen können. Sie ist Zusatz, Vermehrung der Summe intensiver und extensiver Glückseligkeit eines jeden einzelnen Individuums und der ganzen Gesellschaft. Sie ist größte Wohltat für Gottes Menschen und seine Welt. Und sie also dem Volke, auch dem Geringsten im Volke vorenthalten, ist Diebstahl des größten Guts, ist Betrug um unwidersprechliches Eigentum, ist himmelschreiende Ungerechtigkeit, ist boshafte Verkennung aller unserer Brüder und Mitgeschöpfe! Diejenigen, die diese Wohltat dem Volke vorenthalten oder rauben, können keine Menschenfreunde sein; – nein! das sind sie nicht. Es kann auch fast unmöglich gedacht werden; da es doch auch unter diesen Widersachern der Aufklärung gewiss Denker gibt und doch gerade nicht alle unverständige Nachbeter sind: dass sie die bis zum Ekel oft vorgebrachten, wiederholten und nie, noch nie zur Befriedigung widerlegten Gründe für den Nutzen und die Wohltätige der Volksaufklärung, nicht selbst für wahr halten wollten; und sie werden denn ihre alten Gegengründe vermutlich wohl aus ganz anderen Ursachen immer wieder vorbringen. Sie müssen ihren Vorteil, ihr Interesse darunter suchen oder zu finden meinen, wenn sie allein im Licht wandeln und das ganze Volk in der Finsternis herumtappen lassen. So etwas haben sie uns auch bisweilen nicht ganz verbergen können.
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Einige befürchten, dass sie alsdann nicht mehr allein klug sein und also etwas von ihrem Ansehen verlieren möchten. Andere bilden sich ein, dass sie dann die unter ihnen Stehenden nicht mehr, wie sonst, zu ihren Absichten und Nutzen würden gebrauchen können; und dass der helle denkende aufgeklärte Bauer oder gemeine Mann sich nicht mehr so im Dunkeln würde gutwillig leiten lassen. Und wenn dies recht ernsthaft und mit einer wichtigen Miene gefragt werden soll, so pflegt es so ausgedrückt zu werden: „Der Bauer wird alsdann nicht mehr ein so guter, williger Untertan sein, wird seine Abgaben mit noch mehr Murren abtragen; der aufgeklärte Soldat wird seine Pflicht nicht mehr, wie vorhin, so willig tun, nicht mehr Strapazen und Mühe so leicht ertragen, nicht mehr so blinden Gehorsam seinen Oberen leisten und folglich nicht mehr so brauchbar sein.“ Aber gerade, gerade von diesem allen ist das Gegenteil nicht nur wahrscheinlich, sondern moralisch gewiss, wenn Aufklärung gemeiner wird und auch bis in die niedrigsten Stände durchdringt. […] Aber alles liegt doch hauptsächlich an der Verwirrung in dem Begriffe von Aufklärung und dass man den Grad, wie weit Volksaufklärung gehen soll und muss, nicht einsieht oder wissentlich nicht einsehen will. Ich wiederhole es also nochmals. Aufklären heißt mir: Das Volk gerade so klug, so verständig machen und ihm so viel nützliche Kenntnisse von Sachen mitteilen, als es gerade braucht, um in seinem Stande, nach allen Verhältnissen, so brauchbar, zufrieden und nützlich zu werden, als es selbst werden kann und andere, also auch der Staat und die Gesellschaft, durch dasselbe werden sollten. […] Ihr könnt viel, sehr viel dazu tun. Von euch hängt’s ab, ob das arme Volk die größte Wohltat, auf welche es nach dem Rechte der Menschheit redende Ansprüche machen kann – Aufklärung – aus euren Händen empfangen oder dieser Wohltat noch länger entbehren soll. Gott, der gute All- und Menschenvater, wird sich über euch freuen und euch mit allen Herzens- und Lebens- und einst auch mit Himmelsfreuden segnen, wenn ihr durch eure Bemühungen Mithelfer an seinem großen Werke, der Menschenbeglückung durch Erkenntnis, werden wollet. Was könnte größeres und würdigeres von euch gedacht werden als Werkzeug der Gottheit zum Guten in der Welt zu werden? Nun so tut doch, was ihr könnt. Und, ich sag es nochmals, ihr könnt sehr viel tun, wenn ihr wollt! Werdet Wohltäter der Menschheit! Wendet alle eure Bemühungen, dem Guten fortzuhelfen, der Menschheit ihre Rechte, die sie an beglückender Erkenntnis und Aufklärung hat, zu verschaffen. Was ihr gut, nützlich, tunlich unter meinen Vorschlägen findet, die ich jetzt hierher schreibe, die vielleicht nicht neu, von euch, ihr denkenden Menschenfreunde, vielleicht selbst schon gedacht, aber doch hoffentlich nicht in einer Mondwelt, sondern in dieser wirklichen Erdenwelt ausführbar sein werden, das sucht doch
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auch wirklich zu machen und ins Werk zu richten. Wer da weiß, Gutes zu tun und tut’s nicht, dem wird ja auch das schon zur Sünde gerechnet.2 Tut, was ihr könnt. Ein wenig Tun ist ja noch wahrlich besser als gar vieles Wissen. Und das tut denn auch ihr, gute würdige Amtsbrüder, Lehrer in Kirchen und Schulen! Von euch kann ich die Erfüllung dieser meiner Bitte noch mit mehrerem Recht verlangen. Sie geht auf das, was euer Beruf ist, Aufklärung und Besserung unter das Volk zu verbreiten. […] Soll mehr Aufklärung, das heißt, ich sage es nochmals, ein größeres und gerade so großes Maß gemeinnütziger Erkenntnis wirklich unter das Volk gebracht werden, als es bedarf, um so verständig, gut, zufrieden, glücklich und auch brauchbarer für die Welt zu werden, als es gewiss noch nicht ist, aber durch Gottes Hilfe und durch die redlichen Bemühungen zu diesem Endzweck tätiger Männer, in seiner Lage und seinen Umständen werden könnte; – soll den Hindernissen, die dieser Summe von subjektivischer Privat- und gesellschaftlicher größeren Gemeinglückseligkeit entgegenstehen, tätig und mit glücklicherem Erfolg entgegengearbeitet und solche gehoben werden, so scheinen mir folgende Gedanken und Vorschläge schlechterdings baldigst realisiert werden zu müssen. Vom Notwendigsten, was mir am meisten am Herzen liegt, fange ich an. Schaffet uns Volkslehrerseminarien oder mehr Musterschulen. Es versteht sich, dass ich mir in jeder Provinz eine solche als nötig gedenke, wenn das und so vieles Gute gestiftet werden soll, als ich wünschte und mir als gar wohl möglich gedenke. Ich verlange damit nicht Neues, sondern wiederhole nur, was andere, und namentlich der verehrungswürdige und vortreffliche Herr von Rochow3, schon oft gesagt haben. Sollte denn solch ein auch etwas ins Große gehende Volkslehrerinstitut, das die Pflegeschule aller tüchtigen Schulmänner fürs Land oder die Provinz wäre, so gar nicht möglich sein? Sollte es an nötigen Subjekten, an Direktoren und Lehrern solcher Anstalt in unseren Zeiten fehlen? Oder an Lehrlingen? Gewiss an keinem von beiden. Bloß die mit tausend Prozent sich gewiss in kurzer Zeit verinteressierenden Kosten sind’s, woran es fehlt. Freilich, aus nichts wird nichts, das ist wahr. […] Sollte es mehr menschenfreundlich sein, eher 100 und 1000 Taler zu einem Kirchenturmbau oder zur Verschönerung der Gotteshäuser zusammenzubringen als zur Stiftung eines Instituts, wodurch Menschen verständig und gebessert und Seelen und Welt veredelt und verschönert werden? Sollte sich denn nicht irgendwo ein in Ansehen stehen2
Vgl. Jak 4,17. Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805), Pädagoge und Schulreformer zur Zeit der Aufklärung.
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der und bekannter Beförderer des Guten finden, der einmal durch ein Avertissment [Ankündigung] einen Versuch machte, andere edel denkende zu solcher tätigen Mitwirkungen aufzufordern und eine Subskription auf solch eine Anstalt zu eröffnen, wenn der Staat vor der Hand nötigere Bedürfnisse zu bestreiten haben sollte? Ich dächte es. Oder sollte es nicht manche reiche Stiftungen geben, welche dem gemeinen Wesen bisher lange genug nichts oder wenig genutzt, sondern nur einzelnen Personen zu mehr Lebensbequemlichkeit und Wohlleben die Bedürfnisse verschafft haben, die dazu angewandt werden können? – dürfen? Stehen nicht hier und da alte, eben weil sie nicht bewohnt werden, immer mehr verlassene Schlösser und Gebäude, die mit nicht gar großen Summen zu solchem Endzwecke eingerichtet werden könnten? Gewiss, ich muss immer mehr glauben, dass das meiste am fehlenden guten Willen liegt; denn wenn man etwas nur ernstlich will und nachdenkt, so finden sich auch allemal Mittel. […] Meine zweite Forderung ist die: Schaffet bessere Schulbücher, eines, oder noch besser, mehrere, worin die oben aufgezählten Kenntnisse in einer natürlichen Stufenleiter, nach dem Fassungsvermögen und nach den Bedürfnissen der Kinder enthalten sind; oder, so lange uns dergleichen noch fehlen sollten, so nehmet mehrere, von jedem das Beste, worin eine Art des Unterrichts am besten vorgetragen ist, bis etwas Besseres da ist. Nehmet das schon da seiende vortreffliche Rochowsche Schulbuch oder auch den Kinderfreund, worin viel davon steht, das den Mangel derselben längst hätte ersetzen können. Aber sorget ja dafür, dass diese neuen Schulbücher oder dies Schulbuch schlechterdings durch obrigkeitlichen Befehl eingeführet werden. In unserer christlichen Lehre, im Katechismus und Buchstabierbuche, steht ja wohl manches Gute; aber doch gewiss nicht alles das, was ich gut nenne und wünsche. […] Für Schullehrer wird durch wohl eingerichtete Erziehungsanstalten und Seminarien gesorgt. Aber was nützt dann wieder der beste Schulmann, wenn der Prediger nicht mitwirken kann oder will oder auch nicht darf? Zu dem Ende sorgt, dass tüchtige und immer mehr geschickte Prediger, die Gutes wirken können und wollen, ins Amt kommen. Sucht die Schleich- und Schleifwege, wo möglich, zu versperren, durch welche bisher so manche Unwürdige oft zu sehr guten und einträglichen Stellen gelangten. Lasst immerhin den Patronen ihr Recht, dem Konsistorium Subjekte zu einer vakanten Pfarre zu empfehlen; aber nicht eins, nicht zwei, drei; sondern wenn drei nicht taugen, so lasst sie das vierte, fünfte usw. schicken, bis ihr den rechten Mann trefft. Und das ist wahrlich nicht der, der seinen Text notdürftig und erträglich erklärt; der etwa nichts in seiner Predigt hat, was semi-
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pelagianisch klänge; der auf alle Fragen, die ihm aus Calov4, Quenstedt5, Baier6 oder Hollaz7 vorgelegt werden, so halbwegs lateinisch antworten konnte;8 sondern der Proben abgelegt hat, dass er richtig erkannte und verstandene Bibelwahrheiten praktisch, fasslich, behältlich und auch Kindern durch Fragen begreiflich vortragen kann; von dem man aus wohlgeprüften Zeugnissen weiß, dass er nicht nur ein sittlich guter, sondern auch fürs Gute fühlender und tätiger, wirksamer Mann ist oder dies mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von ihm doch vermutlich ist. Aber die Wahlkabalen, wodurch nicht fehlten unter 2, 3 der ungeschickteste und der die wirksamste Maschine spielen lassen konnte, das Glück der Pfarre davon trägt, die suchet durch alle mögliche Mittel unmöglich zu machen. […] Freilich würde auch das beiläufig die wohltätig beabsichtigte Aufklärung sehr befördern, wenn mehr, als bisher geschehen, Pädagogik zu einer ordentlichen Universitätswissenschaft gemacht würde. Wie vielmehr würde alsdann gewonnen werden und was für ganz andere Männer würden da ins Predigtamt kommen? Doch ich will zum Schluss eilen und nur noch einen Vorschlag tun, wovon ich mir, da er mir sehr ausführbar vorkommt, gar viel für meine guten Absichten verspreche. Was helfen alle jene viele und zum Teil recht schönen Bücher, welche für den Landmann geschrieben sind, so lange sie ihm unbekannt bleiben und keine Mittel ausfindig gemacht werden, sie ihm in die Hände zu bringen? […] Man verstehe mich nur recht, wir wollen gar den Bauer nicht lesetüchtig machen; nein! sondern ihm nur etwas Nützliches zuweilen in die Hände wünschen. Denn dass der Bauer alles lesen sollte, was für ihn geschrieben wird, wäre ja wohl eine unvernünftige Forderung; und wer sich das vorstellt oder gar glaube, dass der Bauer gänzlich seine Geschäfte vergessen und über den Büchern liegen werde, der 4
Abraham Calov (1612–1680), lutherischer Theologe und Philosoph. Johann Andreas Quenstedt (1617–1688), Theologe, einer der wichtigsten Vertreter der lutherischen Orthodoxie. 6 Johann Wilhelm Baier (1647–1695), lutherischer Theologe. 7 David Hollaz (1648–1713), lutherischer Theologe. 8 „Freilich ist denn auch hier wohl die Frage ganz natürlich: Wo bekommen wir solche Männer her, die etwas mehr als theologisches System gelernt haben? – die wirklich die Kenntnisse haben, die sie als Volkslehrer künftig dem Volke wieder mitteilen wollen; wenn nun doch bei dem unleugbar sehr verbesserten Universitätsunterrichte immer noch mehr eigentliche Theologie – die das Volk noch nie haben soll – als Religion praktisch gelehrt wird? Denn dass das zwei gar sehr verschiedene Dinge sind, Theologie und Religion, und also auch Theologen und Volksreligionslehrer – darüber ist ja doch wohl auch bei Halbaufgeklärten kaum noch ein Zweifel übrig. Theologie ist gelehrter Diskurs, Räsonnement und Philosophie über Religion. Religion ist Inbegriff der populären Bibelwahrheiten, die für jedermanns Verstand und Herz sind, um ihn weise, gut, froh und glücklich zu machen. […]“ (Anm. i. O.). 5
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kennt ihn schlecht. Dazu kennt der Bauer sein Interesse viel zu gut. Aber derjenige irrt sich doch ebenso sehr und kennt den Landmann ebenso wenig, der sich einbildet, der Bauer lese gar nicht oder lese nicht gern. Quelle: Heinrich Gottlieb Zerrenner, Volksaufklärung. Übersicht und freimütige Darstellung ihrer Hindernisse nebst einigen Vorschlägen denselben wirksam abzuhelfen. Ein Buch für unsere Zeit, Magdeburg 1786, Ankündigung, 6–8, 15f., 21, 107–112, 115–119, 122–124.
186. Neue hamburgische Armenanstalt: Fragestücke zur Abhörung der Armen (1787) Die „Patriotische Gesellschaft“ in Hamburg initiierte 1788 in der Hansestadt die Allgemeine Armenanstalt, die für die Neuordnung städtischer Armenfürsorge in Deutschland und darüber hinaus den Charakter eines Modells gewann. Die im Zeichen der Reformation 1529 verabschiedete hamburgische Armenordnung (s. Text 143) war in der Folgezeit nur rudimentär umgesetzt worden. Änderungen blieben hinter den ursprünglichen Intentionen zurück. Im Zusammenhang mit der Pest, die 1714 in Hamburg wütete, brach die Armenfürsorge schließlich völlig zusammen. Ein neuer Ansatz gliederte die Armenversorgung 1725 an das Zuchthaus an, blieb aber nicht zuletzt deshalb mangelhaft, weil nicht ausreichend qualifiziertes Personal vorgesehen war und zur Verfügung stand. Während die Armenfürsorge wenig effektiv war, stieg die Zahl der Armen im Gefolge wirtschaftlicher Krisen – Rückgang der Manufakturen (Webereien etc.) und der Reedereien – drastisch an. Vor diesem Hintergrund regten der Kaufmann Capar Voght (1752–1839), der Leiter der Handelsakademie Johann Georg Büsch (1728–1800) und der Jurist Johann Arnold Günther (1755– 1805) die Gründung einer neuen Armenanstalt an. Ihr Engagement war geprägt von einer Humanität, in der sich aufklärerischer Geist, christliches Ethos und Gemeinsinn in der bürgerlichen Verantwortung für die Kommune verbanden. Die möglichst genaue Kenntnis der Lebenslage der Armen bzw. Unterstützungsbedürftigen war für die Arbeit der Armenanstalt essenziell. Die Armen wurden vom Vorsteher und Pfleger zunächst gemeinsam aufgesucht. Ein Fragebogen diente dazu, die Umstände der Familie zu erfassen. Bei den alle sechs Monate sich wiederholenden Besuchen des Pflegers wurden die Angaben aktualisiert. So entstand eine Dokumentation der Unterstützungsleistungen und der Entwicklung der Familie. Der Pfleger als „Advokat des Armen“ (Caspar Voght) erarbeitete Vorschläge zu Art und Umfang der Hilfe, über die der Vorsteher zu entscheide hatte. Vom Beginn der Besuche 1787 bis zur Eröffnung der Anstalt im November 1788 fanden sich laut Angaben von Voght „4000 arme Familien, 600 lagen auf faulem Stroh, 2000 hatten keine Hemden“.
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A. Fragen für arme Familien, die aus einem Hausvater mit Frau und Kindern bestehen. No. (des Bogens.)
No. (der Wohnung.)
…ter Hauptbezirk, …tes Quartier, Hamburg, den Personalien. a) Des Mannes. 1. Wie er heiße? 2. Wie alt er sei? 3. Woher er gebürtig sei? 4. Wie lange er sich hier in Hamburg aufhalte? 5. In welchem Ort er sich vorhin aufgehalten habe? 6. Ob er allein oder bei andern einwohne? 7. Wer sein Hauswirt sei? 8. Wie viel er jährlich Miete gebe? 9. Seit wie lange er in seiner jetzigen Wohnung wohne? 10. In welcher Gasse er vorhin gewohnt habe? Und unter welchem Hauswirt? 11. Ob er gesund oder krank sei? Und, falls er krank ist, was ihm fehle? b) Der Frau. (Bei einem Witwer fallen diese Fragen weg; wenn er aber eine Schwester, Mutter oder andere Frauensperson bei sich hat, so wird über diese Person eine ähnliche Nachfrage gehalten.) 12. Wie sie heiße? 13. Wie alt sie sei? 14. Woher sie gebürtig sei? 15. Wie lange sie schon verheiratet sei? 16. Ob sie vorhin gedient habe? Und bei welcher Herrschaft zuletzt? 17. Ob sie gesund oder krank sei? Und, falls sie krank ist, was ihr fehle? c) Der übrigen Familie. 18. Wie viel Söhne sie am Leben haben? 19. Wie viele von denselben die Eltern noch bei sich haben? Und wie alt ein jeder von diesen sei? 20. Ob und wo dieselben in die Schule gehen?
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21. Ob dieselben gesund oder krank sind? Und, falls sie krank sind, was ihnen fehle? 22. Wie viele Söhne bereits außer Hause sind? Wie alt dieselben sind? Wo dieselben sich aufhalten? Und was für ein Gewerbe sie treiben? 23. Wie viele Töchter sie am Leben haben? 24. Wie viele von denselben die Eltern noch bei sich haben? Und wie alt eine jede von denselben sei? 25. Ob und wo sie in die Schule gehen? 26. Ob dieselben gesund oder krank sind? Und, falls sie krank sind, was ihnen fehle? 27. Wie viele Töchter bereits außer Hause sind? Wie alt dieselben sind? Wo dieselben sich aufhalten? Und womit sie ihr Brot verdienen? 28. Ob er und die Seinigen noch sonst jemand zu ernähren habe? Und wen? 29. Warum er denselben oder dieselbe ernähren müsse? 30. Wie alt derselbe oder dieselbe sei? 31. Ob derselbe oder dieselbe gesund oder krank sind? Und was ihm oder ihr fehle? Gewerbe und Nahrung. 32. Was für eine Profession oder Beschäftigung er, der Mann, gelernt habe? 33. Ob er außerdem noch eine andre Arbeit treibe oder könne? 34. Was er für seine Person täglich oder wöchentlich verdienen könne? 35. Ob dieser Verdienst das ganze Jahr durch fortdauere? Oder wann und auf wie lange derselbe aufhöre? 36. Bei wem er in Arbeit stehe? 37. Was sie, die Frau, für Arbeit könne? 38. Was sie damit täglich oder wöchentlich zu verdienen im Stande sei? 39. Ob dieser Verdienst das ganze Jahr durch fortdauere? Oder wann und auf wie lange Zeit derselbe aufhöre? 40. Für wen sie arbeite? 41. Ob nicht die Kinder auch etwas verdienen können? Wie viel täglich oder wöchentlich? Und womit? 42. Wenn er noch sonst jemand zu ernähren habe, ob derselbe oder dieselbe nicht auch etwas verdienen könne? Wie viel täglich oder wöchentlich? Und womit? 43. Ob er oder die Seinigen aus der Kirche, aus dem Zuchthause, aus Testamenten oder anderen Stiftungen oder von gewissen Herrschaften zu festen Zeiten milde Gaben an Geld, Feuerung, Le-
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bensmitteln oder andern Sachen erhalte? Wie oft? Wie viel? Und seit wie lange? Ob sie dafür auch gewisse bestimmte Geschäfte verrichten oder gewisse Kirchen und Schulen besuchen müssen? Ob er oder die Seinigen außer dieser festen Einnahme je zuweilen noch andere milde Gaben genießen? Was für welche und wie viele? Hier wird in Fällen, wo der Anschein dieselbe rechtfertigt, die Frage beigefügt: Ob er oder die Seinigen bisher gebettelt haben? Und wie viel sie damit täglich gewinnen können? Ob er nicht Eltern, Kinder, Geschwister oder andre Verwandte habe, die sich seiner annehmen könnten? Ob er dem Hauswirt noch schuldig sei und wie viel? Ob er auch noch andre Schulden habe und welche? Ob er bis noch Sachen versetzt habe und welche? Bei wem? Für wie viel? Und zu welchen Zinsen? Ob er in einer Totenlade1 sei? Und in welcher? Wie viel Zuschuss er an dieselbe bezahlen müsse? Wie viel diese Totenlade nach dem Tode bezahle? Wodurch er in Armut geraten sei? Wie viel er seiner Meinung nach wohl wöchentlich mehr haben müsse, um notdürftig auskommen zu können? Wie ihm seiner Meinung nach wohl dazu zu verhelfen sein möge? Und was er und die Seinigen wohl noch arbeiten könnten und wollten?
Nach vorgenommener Visitation der Armen in ihren Wohnungen, wo sämtliche vorstehende Fragen noch einmal durchgegangen und die etwa gebliebenen Lücken komplettiert werden und nach eingezogener näherer Erkundigung bei den Hauswirten, Nachbarn, Arbeitsherren etc. werden die Herren Pfleger ersucht, noch folgende Fragen nach ihrem gemeinschaftlichen Gutachten zu beantworten: 1. Ob vorstehende Antworten bei der Visitation der Wahrheit gemäß befunden worden? Oder ob und worin dieselben unrichtig gewesen? 2. Ob oben benannte Arme dem Anschein nach bis jetzt gute Menschen sind, die gerne ehrlich fort wollen? Oder welche Untugenden Pfleger bei ihnen wahrnehmen oder besorgen? 3. Ob sie sich und ihre Kinder nach den Umständen nach reinlich halten? 1
Sterbekasse.
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4. Ob Eltern und Kinder Betten haben? Ob sie notdürftige Kleidung haben? Ob sie das zu ihrem Betrieb erforderliche Handwerkszeug haben? Oder was von diesen Sachen etwa eingelöst oder notdürftig angeschafft werden müsse? Ob sie noch einige gute Möbelstücke haben? Und was für welche? 5. Ob die Wohnung notdürftig dicht oder baulich sei? Ob solche zu gut oder zu schlecht sei? 6. Ob diesen Leuten durch Einlösung oder Anschaffung von Betten, Kleidungsstücken oder Handwerkszeug oder durch Abmachung ihrer rückständigen Hausmiete oder andrer kleiner Schulden hinlänglich geholfen werden könne? Und wie hoch sich dieses wohl belaufen würde? 7. Oder ob sie, ihren Kräften und ihrer Gesundheit nach, noch mehr zu verdienen können und, um auskommen zu können, zuverdienen müssen? Und wie viel wöchentlich? 8. Womit sie dieses wohl am besten verdienen könnten? Und zu welcher Arbeit sie brauchbar wären? 9. Ob Pfleger Gelegenheit wissen, denselben Arbeit zu verschaffen? 10. Ob die Frau und die erwachsenen Kinder außer Hause arbeiten können? Oder ob sie, um die jüngeren Kinder zu warten, die Arbeit nur in ihrer Wohnung verrichten können? 11. Ob es etwas nötig sei, der Familie eine unvermögende Person oder eines oder mehrere Kinder abzunehmen? Und ob Pfleger dazu bei andern Armen Gelegenheit zu verschaffen wissen? 12. Ob diese Familie der bisher aus der Kirche, dem Zuchthause etc. erhaltenen Gabe auch wirklich bedürftig sei? 13. Ob sie außerdem, was sie bis jetzt genieße und was sie noch zuzuverdienen im Stande sei, noch besondere Unterstützung haben müsse? Ob das ganze Jahre durch? Oder nur im Winter? Oder zu gewissen besonderen Zeiten? 14. Wie viel diese Unterstützung wohl an Geld oder Geldes Wert wöchentlich, sowohl im Winter als im Sommer, betragen müsse? 15. Was Pfleger sonst noch in Absicht dieser armen Familie anzuzeigen oder in Betracht zu ziehen notwendig finden? 16. Ob dieselben auch noch besondere verdächtige Umstände in Absicht der Wirtschaft überhaupt und der Aufführung von Mann, Frau oder Kindern anzugeben haben? Quelle: Des großen Armen-Collegii vorläufige Nachricht an die Herren Armen-Pfleger. Im April 1788. Mit beigefügten Fragestücken zur Abhörung der Armen, und der Tabelle zur Armen-Liste, in: Vollständige Einrichtungen der neuen Hamburgischen Armen-Anstalt, zum Besten dieser Anstalt herausgegeben vom Hamburgischen Armen-Collegio. Erster Band, Hamburg 1788, III., 32–40.
187. Neue hamburgische Armenordnung (1787) Die Gründung der allgemeinen Armenanstalt in Hamburg zielte darauf, der Not effektiv zu begegnen, dem Bettel zu wehren, die private und öffentliche Wohltätigkeit zu steuern und den Wohlstand der Stadt zu mehren. Die Anstalt wurde am 1. November 1788 eröffnet. Ehrenamtlichkeit im Sinne bürgerlicher Verantwortung, Arbeitszwang sowie ergänzende Almosen, Individualisierung der Unterstützung und kommunale Arbeitsbeschaffung waren die Prinzipien, die in der Hamburger Einrichtung zum Tragen kamen. Neben differenzierten Maßnahmen der Unterstützung für Arme traten bald Angebote, die sich darauf richteten, der Entstehung von Armut vorzubeugen. In dieser Perspektive wurden insbesondere Industrieschulen, Sonntagsschulen für arbeitende Kinder, Wartezimmer für Kinder arbeitender Mütter, eine Entbindungsanstalt für „unglückliche Mütter“ und Arbeitsanstalten eingerichtet. Nach der 1787 erarbeiteten und bewilligten Armenordnung wurde die Stadt in fünf Armenbezirke und jeder Bezirk in zwei Hälften eingeteilt. Nicht nur hier nimmt die Hamburger Armenordnung in strategischer und methodischer Hinsicht wichtige Elemente des sog. Elberfelder Systems (1850 ff.) vorweg. Die Aufsicht über eine Bezirkshälfte hatte ein Armenvorsteher. Jede Bezirkshälfte wurde in sechs Quartiere unterteilt. Für jedes Quartier waren drei Armenpfleger zuständig. Als oberstes Organ der Armenanstalt fungierte das große Armen-Kollegium, dem die zehn Armenvorsteher, fünf Mitglieder des Senats, zwei Mitglieder des Kollegiums der Oberalten, die fünf Gotteskastenverwalter und drei Vorsteher der Armenhäuser angehörten. Das kleine operative Kollegium bestand aus den Armenvorstehern, Senatoren und Oberalten. Die Kirche arbeitet nur noch insofern mit, als die Gotteskastenverwalter in dem obersten Aufsichtsgremium vertreten sind und kirchliche Kollekten zum überwiegenden Teil der Armenkasse zufließen müssen. Erster Abschnitt. Von dem Zweck und der Direktion dieser neuen Armenanstalt. §. 1. Der Zweck dieser neuen Armenanstalt geht dahin, dass der dringenden öffentlichen und geheimen Not in unserer Stadt wirksamer als bisher abgeholfen, dem Müßiggang und anderen Quellen der Armut sowie auch der äußerst lästig gewordenen Bettelei kräftiger gewehrt, die
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öffentliche und Privatwohltätigkeit richtiger geleitet und zugleich der Wohlstand nützlicher Fabriken und eine größere Sicherstellung sowohl gegen das Einbringen des schlechten Gesindels aus der Fremde als manche schädliche Betriebe der Einheimischen vermehrt werde. §. 2. In dieser Absicht wird, mit Aufhebung der bisher dem Zuchthause beigefügten Armenordnung, das ganze Armenwesen dieser Stadt der allgemeinen Aufsicht und Direktion einer besonderen Deputation, unter der Benennung des großen Armen-Kollegiums, übertragen. Dieses Kollegium besteht aus fünf Ratsgliedern, zwei E[hrbaren] Oberalten und zehn Deputierten der Bürgerschaft; die Ratsglieder werden von einem hochedlen Rat ernannt, die Oberalten aber und die zehn Deputierten der Bürgerschaft werden von dem löbl[ichen] Kollegium der Sechziger, und zwar letztere aus der gesamten Bürgerschaft, das ist, aus allen in bürgerlichem Nexu1 [Verzeichnis] stehenden und zu anderen bürgerlichen Officiis [Ämtern] qualifizierten Personen, das erste Mal ohne Aufsatz, in der Folge aber aus einem vom großen Armen-Kollegium zu präsentierenden Aufsatz von vier Personen, denen jedoch Kollegium der Sechziger jedes Mal zwei beizufügen befugt sein soll, unter der Benennung Armenvorsteher erwählt. Sie bleiben beständige Mitglieder des Kollegiums, so lange sie nicht aus guten Ursachen resp. bei einem hochedlen Rat und beim löbl[ichen] Kollegium der Sechziger, ihre Erlassung nachsuchen oder die bürgerlichen Deputierten zu Rat oder in die Kammer erwählt werden. Außer diesen beständigen Mitgliedern sollen auch die jedesmaligen Gotteskastenverwalter der fünf Hauptkirchen, nebst den jahrverwaltenden Provisoren der drei großen Armenhäuser, nämlich des Waisenhauses, Pesthofs und Zuchthauses, in dem Kollegium Sitz und Stimme haben. […] §. 3. Vor dieses Kollegium gehören die Hauptberechnungen aller die allgemeine Armenanstalt betreffenden Einnahmen und Ausgaben, die Verwaltung der allgemeinen Fonds und milden Stiftungen, welche nicht auf besondere Kirchspiele, Armenhäuser oder Privatverwalter eingeschränkt sind, alle zum Besten des Armenwesens erforderliche Beschlüsse und Verfügungen, die Bestimmung der dazu nötigen Magazine und Arbeitssäle, die Ernennung, Anstellung, Instruktion und Beeidigung der unentbehrlichen Offizianten [Bediensteten], die Erkenntnis über deren Vergehung und Bestrafung, die Beilegung oder endliche Entscheidung aller in Armensachen künftig vorkommenden Ir1
Verzeichnis der Staatsangehörigen bzw. Bürger.
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rungen und Beschwerden, jedoch dass die Supplication [das Bittgesuch] an einen hochedlen Rat sowie der verfassungsmäßige Rekurs an die bürgerlichen Kollegien vorbehalten bleibe und überhaupt die allgemeine Aufsicht, dass alle in dieser neuen Armenordnung enthaltenen Vorschriften sorgfältig befolgt werden. […] §. 4. Zur bequemeren Versorgung der fortlaufenden Geschäfte und genaueren Aufsicht über das Detail derselben ist zugleich eine besondere Einteilung der Stadt, nach den von den löbl[ichen] Bürger-Kapitänen2 hergegebenen Armenlisten, in fünf Hauptarmenbezirke und jedes derselben in zwölf Armenquartiere gemacht, wobei man hauptsächlich darauf Rücksicht genommen, dass auf jedes Quartier eine, so viel die Umstände es haben tun lassen, gleiche Anzahl armer Familien fallen möchte. […] §. 5. Jedem der fünf Hauptbezirke werden zwei Vorsteher zur Spezialdirektion vorgesetzt, von denen jeder sechs Quartiere des Bezirks unter seine Aufsicht nimmt. Die Ansetzung bei den Bezirken und Verteilung der Quartiere wird das erste Mal vom großen Kollegium reguliert. Beide konferieren öfters miteinander. Wie aber und wie oft sie solche gemeinschaftliche Verabredung anstellen wollen, bleibt ihnen überlassen, so wie solches größtenteils auch von der Art und der Menge der Vorfälle abhängen wird. Ihre Geschäfte in Hinsicht auf die ihnen untergebenen Bezirke bestehen in Folgendem: 1. Sie sind es, an welche die Pfleger in den ihnen zugeteilten Quartieren mit ihren Anzeigen, Berichten und Vorschlägen sich zu wenden haben, und sie gehen ihnen mit gutem Rat, auch, soweit sie können, mit wirklicher Assistenz an die Hand. 2. Das bisher von den Gotteskästen und der mit dem Zuchthause verbunden gewesenen Armenordnung an die gegenwärtig vorhandenen Armen ausgeteilte Quantum bleibt zwar der Regel nach künftig dasselbe. Aber wegen der einzelnen Ausnahmen der Erhöhung oder Verminderung desselben, wie auch für die neu hinzukommenden Armen, bestimmen die Vorsteher, jeder in dem ihm angewiesenen Quartier, nach Anleitung des Vorschlags der Pfleger, das Quantum und die Art der Unterstützung, jedoch nur vorläufig und auf die Ratihabition [Genehmigung] des kleinen Kollegiums, bis dahin denn auch der Regel nach keine Austeilung erfolgt; doch sind sie in dringenden Vorfällen befugt, auch vor 2
Befehlshaber der Bürgerwache.
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der Ratihabition den Armen eine Unterstützung für einige Wochen zukommen zu lassen. 3. Ihnen liegt die Aufbewahrung der Gelder und deren Austeilung an die Pfleger ob. 4. Sie führen die von dem großen Kollegium genommenen Beschlüsse in ihren Bezirken aus, besorgen in denselben die Einrichtung der beliebten Magazine, Arbeitszimmer und Spinnschulen, haben die Aufsicht über dieselben und über die Verteilung der Materialien und Gerätschaften, auch über die Offizianten, bereden sich in vorkommenden Fällen mit den Provisoren der Armenhäuser, besorgen die Ärzte, Wundärzte und andre Hilfsleistung der Kranken usw. §. 6. Damit aber bei diesen Spezialdirektionen eine allgemeine Übersicht über das Ganze beibehalten und so viel möglich eine durchgängige Gleichheit in der Unterstützung der Armen erhalten werde: so werden die zehn Vorsteher, nebst den fünf Herren des Rats und den beiden E[hrbaren] Oberalten (als mit welchen sie das kleinere oder engere Kollegium ausmachen) den ersten Donnerstag in jedem Monat sich versammeln und falls, wie besonders im Anfang sich zutragen möchte, eine Session nicht hinreichen würde, jeden folgenden Tag, der kein Ratstag ist, solche fortsetzen. […] Der Endzweck der Zusammenkünfte des kleinen Kollegiums besteht in Folgendem: 1. Die Vorsteher statten im Allgemeinen einen mündlichen Bericht ab von der monatlichen Einnahme und Ausgabe in ihren Bezirken und von dem gegenwärtigen Zustand ihrer Kasse, auch derem vermutlichem Verhältnis zu den bevorstehenden Ausgaben. 2. Sie übergeben die Listen von den mehr oder weniger, wie bisher, zu unterstützenden, wie auch von den neu angenommenen Armen, mit beigefügter Bemerkung der einem jeden zuzustehenden Hilfe, und diese Listen werden nach geschehener Billigung Namens des kleineren Kollegiums durch die Unterschrift des Herrn Präses genehmigt. 3. Sie referieren von den durch die Armenpfleger sonst an sie gebrachten Anzeigen und Anfragen, von welchen sie glauben, dass es ihnen zu schwer oder zu verantwortlich sei, für sich einen Beschluss darüber zu fassen. 4. Sie referieren das Nötige und Hauptsächliche von der Ausführung und dem Fortgange der Beschlüsse des großen Kollegiums und besonders von den in jedem Bezirk erforderlichen Magazinen, Arbeitszimmern, Spinnschulen, Verteilung der Materialien und Gerätschaften, den Kranken, den etwaigen Anträgen an die Pro-
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visoren der Armenhäuser, den Offizianten und andern Vorfällen; und erhalten darüber, wo es nötig, von dem kleineren Kollegium die weitere Instruktion. §. 7. Da aber die den Armen zu verschaffende Hilfe, wenn sie wahren und dauerhaften Nutzen wirken soll, auf eine möglichst vollständige Kenntnis ihres Zustandes, der Ursachen ihrer Dürftigkeit und der besten Art, ihnen beizustehen, sich gründen muss: mithin eine genauere Aufsicht durchaus nötig ist, als von den wenigen die Spezialdirektion ausmachenden Personen bei der gegenwärtigen übergroßen Anzahl der Armen zu erwarten steht; so müssen ihnen noch andere zugeordnet werden, welche als Armenpfleger diese genauere Aufsicht und was sonst damit verbunden ist, zu führen haben. Zu diesem Behuf muss das große Armenkollegium es eins seiner ersten Geschäfte sein lassen, für jeden der fünf Hauptbezirke zwölf Männer aus dem löbl[ichen] Kollegium der Hundertachtziger und dessen Adjunkten als Armenpfleger zu erwählen und jedem derselben dasjenige Quartier anzuweisen, worin er entweder wohnt oder dem er am nächsten wohnt. Wenn dieses geschehen ist, muss jeder solchergestalt erwählte Armenpfleger vier im hiesigen Nexu [Verzeichnis] stehende und wo möglich in dem Quartier oder wenigstens in der Nähe wohnende Personen, von denen er versichert ist, dass sie dies Geschäft der Liebe gern mit ihm übernehmen werden und dazu tüchtig sind, ohne Rücksicht auf Stand oder Kollegium, dem großen Armen-Kollegium vorschlagen, welches ihm hierauf zwei der vorgeschlagenen an die Seite setzen wird, sodass für jedes Quartier drei Armenpfleger kommen, die nachmals die Armenpflege auf eine unter ihnen selbst auszumachende Art, jedoch dass jeder einen ungefähr gleichen Teil der Mühe übernehme und allenfalls unter Leitung der Spezialdirektion ihres Bezirks, miteinander zu teilen, auch alle drei, um in beständiger Harmonie nach einerlei Grundsätzen zu handeln, fleißig miteinander zu konferieren haben. Diese Armenpfleger bleiben in der Folge drei Jahre in ihrem Amt, sodass jährlich der älteste abtritt. Der Abtretende muss jedoch vorher dem großen Armen-Kollegium einen von den drei Pflegern seines Quartiers gemeinschaftlich gemachten Aufsatz von zwei in hiesigem Nexu [Verzeichnis] stehenden Personen zur Wahl seines Nachfolgers übergeben. […]
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§. 8. Die den Armenpflegern eines jeden Quartiers unter Beistand und Mitwirkung der Spezialdirektion eines jeden Hauptbezirks vorzüglich obliegenden Geschäfte bestehen in Folgendem: 1. Sie müssen sich insbesondere, und zwar alle drei gemeinschaftlich, von allen in ihrem Quartier wohnenden Armen eine möglichst genaue Nachricht zu erwerben suchen, wobei ihnen die Hauswirte und Nachbaren auf ihre Anfrage unweigerlich an die Hand zu gehen schuldig sind; demnächst die Wohnung, Namen, Alter, Kinder, Ursachen der Armut, sittliches Betragen, Arbeitsfähigkeit und welche Unterstützung einem jeden nach ihrem gemeinschaftlichen Urteil zu leisten sei, in die ihnen von der Spezialdirektion zuzustellenden dazu besonders eingerichteten Tabellen eintragen und diese demnächst ihrer Spezialdirektion einreichen, welche ihnen sodann solche, mit beigefügter Bestimmung der Hilfe oder Almosen für jeden darin bemerkten Armen, zurückgeben wird. 2. Sie müssen die von ihren Armen erworbenen Kenntnisse durch öftere Visitationen, besonders zur Herbstzeit, stets zu unterhalten suchen, allen Arbeit, Sparsamkeit, Ordnung und Reinlichkeit anempfehlen und die Widerspenstigen notieren, den Arbeitsfähigen und Willigen Arbeit zu verschaffen suchen, die trägen und mutwilligen Müßiggänger aber sowie die treulosen und dem Trunk ergebenen Arbeiter der Spezialdirektion denunzieren, für die Kranken sorgen, dass sie zur rechten Zeit mit nötiger Pflege und den vom Armen-Kollegium angestellten Ärzten versehen werden, damit, durch frühzeitige gute Hilfe, langwierigen Krankheiten und körperlichen Schäden vorgebeugt werden möge. 3. Sie empfangen die zur Austeilung unter ihre Armen benötigten Gelder monatlich von ihren Vorstehern und teilen solche, nach der den Tabellen beigefügten Bestimmung, unter ihre Armen, die, wenn sie gesund sind, persönlich vor ihnen erscheinen müssen, wöchentlich aus. Wenn sie finden, dass dieser oder jener zu gewissen Zeiten eine außerordentliche Unterstützung nötig habe, so sind sie in dringenden Fällen befugt, solche sogleich zu beschaffen und sich nachmals den etwaigen Vorschuss vergüten zu lassen; sonst aber muss es vorgängig der Spezialdirektion mit Anführung der Ursachen gemeldet werden. 4. Sie müssen von allen die Armen ihres Quartiers betreffenden Vorfällen, welche in den bei dem Armen-Kollegium zu haltenden allgemeinen Büchern eine Abänderung nötig machen, z. E. wenn einer gestorben, umgezogen, durch diesen oder jenen Vorfall in bessere oder schlechtere Umstände geraten, neue Arme sich in ihrem Quartier eingefunden usw. ihren Armenvorstehern eine schriftli-
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che Anzeige geben, welche sodann die Veränderungen in die Bücher werden eintragen lassen. 5. Sobald sie in ihrem Quartier einen fremden Bettler, Kollektanten oder andern Fremden, der sein Gewerbe, das ihn nähren könne, anzugeben weiß oder eine liederliche Wirtschaft, heimliche Werbung, Lottokollekte und andere dem Publikum schädliche Betriebe, wohin auch die sogenannte Winkellombarde gehören, wodurch die Armen oft gänzlich ausgesogen werden, wahrnehmen, müssen sie solches der Spezialdirektion ihres Bezirks, zur Ergreifung der weiter erforderlichen Maßregeln, sofort anzeigen. §. 9. Um den Armenpflegern diese Geschäfte und besonders die Visitationen zu erleichtern, auch um in den Büchern und Tabellen des ArmenKollegiums eine desto bequemere Ordnung zu bewirken, sollen alle Gassen, Plätze, Gänge, Höfe, Häuser, Wohnungen, Säle, Keller und Buden dieser Stadt dergestalt bezeichnet und nummeriert werden, dass man sofort den Namen der Gasse, des Platzes, Ganges, Hofes usw. erkennen, auch zugleich sehen könne, zu welchem Regiment und welcher Bürgercompagnie jedes der Häuser etc. gehöre. […] Zweiter Abschnitt. Von der den Armen nach ihren verschiedenen Umständen zu leistenden Unterstützung. §. 10. In Ansehung der den Armen nach ihren verschiedenen Umständen zu leistenden Unterstützung wird überhaupt zur Regel festgesetzt, dass wer nur einigermaßen zur Arbeit fähig ist, nicht ganz durch Almosen unterhalten werden müsse. Daher ist unter den Armen ein Unterschied zu machen. Den zur Arbeit Fähigen und Willigen werden die Vorsteher und Pfleger solche Arbeit zu bewirken bemüht sein, welche ihren Fähigkeiten und Kräften gemäß ist. Dahin gehört vornehmlich das Flachs, Wolle und Baumwolle Spinnen, Weben, Strumpfstricken und dergleichen, womit sich Alte und Junge leicht in ihren Wohnungen beschäftigen können und in andern Ländern selbst zahlreiche Familien sich einen hinlänglichen Unterhalt zu verschaffen wissen. Es ist auch zu hoffen, dass hiesige Manufakturisten und andre, die mit Materialien zu auswärtigen Fabriken handeln, dem Armen-Kollegium anzeigen werden, welche Arten von Arbeiten sie vorzüglich unter die hiesigen Armen eingeführt wünschen und wie hoch sie solche bezahlen können, um in ihrem Gewerbe dabei zu bestehen. Man wird sodann diejenigen, die zu solchen Arbeiten fähig und willig sind, auf eine ihrem Zustande
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gemäße Weise unterstützen, damit sie wohlfeil genug arbeiten können, ohne Not dabei zu leiden und auch dadurch den hier noch bestehenden Fabriken fortzuhelfen, andre aber zu ermuntern suchen. Die erforderlichen rohen Materialien und Gerätschaften sollen denen, welche sie nicht haben oder nicht anschaffen können, von der Armendirektion gereicht werden. Sie bleiben aber immer ein Eigentum der Armenanstalt und können von der Direktion allenthalben, wo man sie findet, vindiziert [als Eigentum beansprucht] werden, weshalb auch die Gerätschaften mit besonderen Zeichen zu versehen sind. Verarmte Handwerker und andre, die durch unvermutete Unglücksfälle gänzlich zurückgesetzt worden, sollen, wenn sie glaubwürdige Zeugnisse ihrer Geschicklichkeit und guten Lebensart beibringen, nach Beschaffenheit der Umstände unterstützt werden, ihre etwa versetzten oder verkauften Gerätschaften einzulösen und sich die benötigten Materialien anzuschaffen. Diejenigen Armen, welche in der Gärtnerei, bei Bauen, Deich- und Landarbeitern, Gassenreinigung oder andern ähnlichen Arbeiten zu brauchen sind, werden von den Vorstehern und Pflegern, denen, die dergleichen Arbeiter nötig haben, zugewiesen, auch den löbl[ichen) Deputationen des Bauhofs, Kalkhofs3, der Fortifikation4 und Düpe5 empfohlen werden. Wenn die Arbeit solcher Leute mit dem Sommer zu Ende geht, soll ihnen auch für den Winter, nach Beschaffenheit der Umstände, andere Arbeit angewiesen werden oder sonst Unterstützung angedeihen. So wie sich indessen für alles dieses eine genaue Vorschrift oder Zusicherung schon jetzt unmöglich geben lässt, indem das meiste von der mehr oder minder reichlichen Einnahme dieser neuen Armenanstalt abhängen muss, so bleibt es auch dem großen Armen-Kollegium überlassen, den zur Arbeit fähigen und willigen Armen zugleich durch Besorgung wohlfeilerer Lebensmittel, Feuerung, Leibesbedeckung und Erleichterung der Hausmiete, nach den jedesmaligen Umständen und Kräften der Anstalt, zu Hilfe zu kommen. Die den Armen von der Armenanstalt gereichten Kleidungsstücke und Betten sowie auch die von den Armen vor ihrer Annehmung versetzten oder verkauften und von der Armenanstalt wieder eingelösten Gerätschaften und andre Sachen müssen jedes Mal mit einem besonderen Zeichen bemerkt werden, und es soll nochmals der Armenanstalt an allen mit solchen Zeichen versehenen Sachen das Vindika3
Städtische Einrichtung zur Lagerung von Utensilien zur Herstellung von Kalkmaterialien. 4 Befestigungsanlage. 5 Erhaltung der ausreichenden Wassertiefe im Hafen sowie der innerstädtischen Fleete und Kanäle.
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tionsrecht zustehen, derjenige aber, der diese Zeichen davon getrennt oder unkenntlich gemacht zu haben überführt wird, als ein Betrüger angesehen und bestraft werden. §. 11. Für diejenigen, welche noch zu keiner bestimmten Arbeit angeführt sind, im gleichen für die Kinder der Armen, sollen in verschiedenen Gegenden der Stadt Werkzimmer eingerichtet und mit den erforderlichen Werkzeugen versehen werden, wo sie zu gewissen Stunden des Tages unter Aufsicht in einer ihren Tätigkeiten und Kräften angemessenen Arbeit, die sie nachmals in ihren Wohnungen fortzusetzen haben, vorzüglich Spinnen, Stricken und Weben, unterrichtet werden. §. 12. Diejenigen aber, welche sich durchaus zu arbeiten oder, wenn sie bei irgendeiner Arbeit angestellt sind, träge und unordentlich beweisen, im gleichen diejenigen, die dem Trunk ergeben sind und auf wiederholte Warnung nicht davon ablassen wollen oder in Zahlenlotterien einsetzen, auch diejenigen, welche die ihnen zur Arbeit gelieferten Materialien und Werkzeuge verfälschen, verderben, versetzen oder verkaufen oder sonst betrügerisch handeln und überhaupt alle, welche nur durch Zwang zu bessern sind, sollen nach dem Zuchthause gebracht und daselbst so lange zur Arbeit gezwungen werden, bis man ihnen zutrauen kann, dass sie sich gebessert und künftig ihr Brot notdürftig verdienen werden. So lange sie im Zuchthause sind, müssen sie ihre Beköstigungen verdienen, ohne das Mindeste an Geld zu erhalten, und die Unfleißigen durch schlechtere Kosten, allenfalls Wasser und Brot, Einsperrung in die Koje, auch andre Zwangsmittel, zum Fleiß angestrengt werden. Bei ihrer Entlassung soll ihnen jedoch, nach Beschaffenheit ihrer Arbeit und Ausführung, etwas für die ersten Bedürfnisse an Gelde mitgegeben werden. §. 13. Die mit schweren Krankheiten oder Leibesschäden befallenen Armen müssen während derselben mit guten Ärzten, Wundärzten, Arzneien, Bandagen usw., auch so viel möglich, besserer Pflege versehen werden; dies gilt auch von andern geringen Leuten, Tagelöhnern und Handwerkern, die sonst nicht unter die eigentlichen Armen zu rechnen, wenn sie in schwere und langwierige Krankheit verfallen, damit sie nicht in ihrer Nahrung zurückgesetzt werden und ganz verarmen. Das große Armenkollegium wird es in dieser Rücksicht sich angelegen sein lassen, geschickte Ärzte und Wundärzte anzustellen, welche entweder aus christlichem Mitleiden oder gegen eine billige mäßige Vergütung, sich der kranken Hausarmen annehmen und ihre Namen
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bekannt machen. Auch werden die hiesigen Apotheker, wenn auf den Rezepten unter der Namensunterschrift eines dieser angestellten Ärzte bemerkt wird, dass die Arznei für Arme bestimmt sei, sich nicht entlegen, geringere Preise anzusetzen, ohne ihre Bemühungen dabei in Anschlag zu bringen. §. 14. Diejenigen Armen, welche wegen Alter oder unheilbarer Gebrechen des Geistes oder Körpers zu aller Arbeit schlechterdings unfähig sind und sich nichts mehr erwerben können, müssen entweder in den hiesigen Hospitälern untergebracht oder bei guten Leuten in der Stadt oder auf dem Lande zur gehörigen Wartung oder Verpflegung gegen ein billiges Kostgeld verdungen werden, jedoch auch ihren Kostgeldern nach ihren Kräften in der Haushaltung helfen und Handreichung tun. Ebenmäßig müssen die hilflosen Kinder sowohl verstorbener als solcher Armen, welche deren mehrere haben, als sie zu warten und zu ernähren vermögend sind, entweder im Waisenhause aufgenommen oder sonst bei guten Leuten, wo sie zugleich zur Erlernung dessen, was ihren Umständen angemessen ist, und zu Dienstleistungen, wozu sie fähig sind, anzuhalten, gegen Kostgeld untergebracht werden. §. 15. Auch wird das große Armenkollegium es in Sonderheit sich eifrigst angelegen sein lassen, dass die Kinder der Armen, und des gemeinen Mannes überhaupt, eine ihren Umständen, Fähigkeiten und künftigen Erwartungen angemessenere Unterweisung und Anführung erhalten und zu diesem Behuf baldmöglichst für die Einrichtung und Verbindung zweckmäßiger Schulen und Arbeitsanstalten sorgen, damit dem leider in den Schulen gewöhnlichen Müßiggang, der Quelle der meisten Fehler und Laster der Jugend und des Alters, gewehrt und wenigstens die künftige Generation unter göttlicher Hilfe dahin gebracht werde, dem Staat nicht allein weniger Beschwerde, sondern selbst Nutzen zu schaffen. §. 16. Die sogenannten verschämten Armen oder solche Personen, welche nicht füglich auf die ordentlichen Armenlisten gebracht werden können, müssen sich bei der Spezialdirektion des Bezirks, worin sie wohnen, melden, welche sodann nach vorgängiger Untersuchung ihrer Umstände besonders auch, ob und was sie aus andern öffentlichen oder Privatstiftungen genießen, die erforderliche Unterstützung im kleinen Kollegium ansprechen und das, was von demselben bestimmt worden, ihnen wöchentlich oder monatlich auszahlen. Die Mitglieder die-
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ses Kollegiums werden es sich aber zum Gesetz machen, die Namen solcher Armen verschwiegen zu halten. Es ist jedoch alle Vorsicht und Aufmerksamkeit dabei zu beobachten, damit auch hier nicht die Armengelder an Unwürdige oder unnötigerweise verschleudert werden. §. 17. Übrigens versteht es sich von selbst, dass auf alle Armengelder und andre vorerwähnte Hilfsleistungen, worunter auch die §. 14. gedachten Kostgelder zu rechnen, ihrer Bestimmung gemäß, kein Arrest, unter welchem Vorwand es wolle, stattfinden könne. Diejenigen aber, welche sich diese bloß für wahre Notdürftige bestimmten Vorteile, ohne wirklich arm zu sein, für sich oder die Ihrigen, die sie ernähren könnten und zu ernähren verpflichtet sind, durch falsche Vorstellungen erschleichen oder die ihnen gereichten Lebensmittel, Feuerung, Leibesbedeckung etc. an andere verkaufen oder überlassen, sollen so wie auch diejenigen, die darin mit ihnen kolludieren, mit einer den Umständen angemessenen Geld-, Gefängnis- oder andern Strafe belegt werden. Dritter Abschnitt. Von den der neuen allgemeinen Armenpflege anzuweisenden Fonds. §. 18. Zur Bestreitung der nach vorstehendem Abschnitt den Armen dieser Stadt zu leistenden Unterstützung werden folgende Fonds bestimmt: 1. Alles, was die seit 1725 dem hiesigen Werk-, Zucht- und Armenhause beigefügte, nunmehr aber, nach vorgängiger Saldierung mit demselben, ganz davon zu trennende Armenordnung an belegten Kapitalien, immerwährenden Renten, barem Geldvorrat, Materialien, Gerätschaften usw. gegenwärtig besitzt, nebst allen übrigen Einflüssen, welche dieselbe von milden Gaben, Armenbüchsen, öffentlichen Ausrufen und Sonstigem bisher gehabt oder bis jetzt durch Vermächtnisse, Schenkungen usw. erhalten möchte und was sich sonst in der Stadt Erbe- und Rentenbüchern den Armen zum Besten verschrieben findet. 2. Die aus den Gotteskasten der Haupt- und Nebenkirchen, insofern letztere nicht mit Armenhäusern verbunden sind, mit Inbegriff der Leichenbecken, bisher an Arme verwandte Gelder, welche, nebst dem Überschuss der Kurrende-Sammlung, künftig monatlich an die Spezialdirektion der fünf Hauptarmenbezirke abzuliefern sind. Jedoch bleibt den Kirchen vorbehalten, vor der Hand und bis darüber eine andre Einrichtung getroffen sein wird, nach Beschaf-
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fenheit der jedesmaligen Umstände, bis auf die Hälfte des monatlichen Ertrags der Gotteskasten und Leichenbecken für sich zu nehmen und zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse zu verwenden. Auch behalten die bei den Kirchen sowohl als bei der bisherigen Armenordnung gegenwärtig eingeschriebenen Armen den bisherigen Genuss davon, solange sie leben, wenn nicht besondere, dem Ermessen des kleinen Armen-Kollegiums anheim zu stellende Umstände, in einzelnen Fällen eine Abänderung nötig machen möchten. 3. Soll eine wöchentliche Sammlung durch die ganze Stadt angestellt werden, von deren Ertrag es hauptsächlich abhängen wird, ob und inwieweit der bei dieser neuen Armenanstalt intendierte Zweck erreicht werden könne. Quelle: Neue hamburgische Armenordnung, beliebt durch Rath- und Bürger-Schluß den 18. Februar und 7. Juli 1788, und auf Befehl eines Hochedlen Raths publicirt den 3. September 1788, in: Vollständige Einrichtungen der neuen Hamburgischen ArmenAnstalt, zum Besten dieser Anstalt herausgegeben vom Hamburgischen Armen-Collegio. Erster Band, Hamburg 1788, I. , 5–148: 5–32.
188. Johann Heinrich Pestalozzi: Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz (1799) Johann Heinrich Pestalozzi – Pädagoge, Ökonom, Schriftsteller, Sozialreformer – lebte von 1746 bis 1827 in der Schweiz. Wie alle europäischen Staaten erlebte auch die Schweiz in diesen Jahrzehnten eine grundlegende gesellschaftliche, ökonomische, politische, soziale und kulturelle Wandlung, von der Pestalozzi unmittelbar betroffen war, die er auf seinen Tätigkeitsfeldern aber auch aktiv mitgestaltete. Das alte aristokratisch-feudale System wandelte sich zum bürgerlichen Staat. „Aufklärung“, „Menschenrechte“, „Freiheit“, „industriöse Wirtschaftsweise“ stehen dafür als zentrale Schlagwörter; „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ war das Motto der französischen Revolution. Pestalozzis nur halbjährige Tätigkeit (von Dezember 1798 bis Juni 1799) im Waisenhaus in Stanz lag in der Zeit, in der Napoleon Bonaparte die Macht in Frankreich gewann und die durch kriegerische Auseinandersetzungen ganz Europa in Mitleidenschaft zog. Dies galt auch für die Schweiz, in der Pestalozzi sich auf die Seite derjenigen stellte, die die alte feudalistische Gesellschaftsstruktur, die Herrschaft weniger Patrizierfamilien in den großen Städten, die Rückständigkeit der agrarischen Wirtschaftsweise, die Armut und Unterdrückung der Mehrheit der Landbevölkerung überwinden wollten. „Stanz“ war für Pestalozzi auch persönlich der entscheidende Wendepunkt zu seiner sozialen Pädagogik: Nachdem er auf seinem Bauernhof erste pädagogische Erfahrungen in einer Armenerziehungsanstalt gesammelt hatte, als Volksschriftsteller erfolgreich war und sich ein anthropologisches Fundament erarbeitet hatte, wurde das halbe Jahr in dem Waisenhaus für arme, durch den Krieg elternlose und verwahrloste Kinder das sowohl theoretische wie praktische Fundament seiner Pädagogik. Seine Anthropologie stellt die prinzipielle Entwicklungsfähigkeit und die Entfaltung der Anlagen jedes Menschen, auch des armen, in den Mittelpunkt. Pestalozzis Pädagogik verbindet die Pflege der körperlichen Bedürfnisse mit elementarer Bildung und der Erziehung zu einem friedlichen Zusammenleben. Außer dem nötigen Geld mangelte es übrigens an allem, und die Kinder drängten sich herzu, ehe weder Küche noch Zimmer noch Betten für sie in Ordnung sein konnten. Das verwirrte den Anfang der Sache unglaublich. Ich war in den ersten Wochen in einem Zimmer ein-
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geschlossen, das keine 24 Schuh1 ins Gevierte hatte. Der Dunstkreis war ungesund, schlechtes Wetter schlug noch dazu, und der Mauerstaub, der alle Gänge füllte, vollendete das Unbehagliche des Anfangs. Ich musste im Anfang die armen Kinder wegen Mangel an Betten des Nachts zum Teil heimschicken. Diese alle kamen denn am Morgen mit Ungeziefer beladen zurück. Die meisten dieser Kinder waren, da sie eintraten, in dem Zustand, den die äußerste Zurücksetzung der Menschennatur allgemein zu seiner notwendigen Folge haben muss. Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, dass sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager, wie ausgezehrte Gerippe, gelb grinsend, mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln des Misstrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt; andere vom Elend erdrückt, duldsam, aber misstrauisch, lieblos und furchtsam. Zwischenhinein einige Zärtlinge, die zum Teil ehemals in einem gemächlichen Zustand lebten, diese waren voll Ansprüche, hielten zusammen, warfen auf die Bettel- und Hausarmenkinder Verachtung, fanden sich in dieser neuen Gleichheit nicht wohl, und die Besorgung der Armen, wie sie war, war mit ihren alten Genießungen nicht übereinstimmend, folglich ihren Wünschen nicht entsprechend. Träge Untätigkeit, Mangel an Übung der Geistesanlagen und wesentlicher körperlicher Fertigkeiten waren allgemein. Unter zehn Kindern konnte kaum eins das ABC. Von anderem Schulunterrichte oder wesentlichen Bildungsmitteln der Erziehung war noch weniger die Rede. Der gänzliche Mangel an Schulbildung war indessen gerade das, was mich am wenigsten beunruhigte, den Kräften der menschlichen Natur, die Gott auch in die ärmsten und vernachlässigtesten Kinder legte, vertrauend, hatte mich nicht nur frühere Erfahrung schon längst belehrt, dass diese Natur mitten im Schlamm der Rohheit, der Verwilderung und der Zerrüttung die herrlichsten Anlagen und Fähigkeiten entfaltet, sondern ich sah auch bei meinen Kindern, mitten in ihrer Rohheit diese lebendige Naturkraft allenthalben hervorbrechen. Ich wusste, wie sehr die Not und die Bedürfnisse des Lebens selbst dazu beitragen, die wesentlichsten Verhältnisse der Dinge dem Menschen anschaulich zu machen, gesunden Sinn und Mutterwitz zu entwickeln und Kräfte anzuregen, die zwar in dieser Tiefe des Daseins mit Unrat bedeckt zu sein scheinen, die aber vom Schlamme dieser Umgebungen gereinigt, in hellem Glanze strahlen. Das wollte ich tun. Aus diesem Schlamm wollte ich sie herausheben und in einfache, aber reine häusliche Umgebungen und Verhältnisse versetzen. Ich war gewiss, 1
Entspricht 7,2 qm.
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es brauchte nur dieses, und sie würden als höherer Sinn und höhere Tatkraft erscheinen und sich als Tüchtigkeit zu allem erproben, was nur immer den Geist befriedigen und das Herz in seiner innersten Neigung ansprechen kann. Ich sah also meine Wünsche erfüllt und war überzeugt, mein Herz werde den Zustand meiner Kinder so schnell ändern als die Frühlingssonne den erstarrten Boden des Winters. Ich irrte mich nicht; ehe die Frühlingssonne den Schnee unserer Berge schmelzte, kannte man meine Kinder nicht mehr. […] Meine Überzeugung war mit meinem Zweck eins. Ich wollte eigentlich durch meinen Versuch beweisen, dass die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müsse nachgeahmt werden und dass die letztere nur durch die Nachahmung der ersten für das Menschengeschlecht einen Wert hat. Schulunterricht ohne Umfassung des ganzen Geistes, den die Menschenerziehung bedarf, und ohne auf das ganze Leben der häuslichen Verhältnisse gebaut, führt in meinen Augen nicht weiter als zu einer künstlichen Verschrumpfungsmethode unsers Geschlechts. Jede gute Menschenerziehung fordert, dass das Mutteraug in der Wohnstube täglich und stündlich jede Veränderung des Seelenzustandes ihres Kindes mit Sicherheit in seinem Auge, auf seinem Munde und seiner Stirne lese. Sie forderte wesentlich, dass die Kraft des Erziehers reine und durch das Dasein des ganzen Umfangs der häuslichen Verhältnisse allgemein belebte Vaterkraft sei. Hierauf baute ich. Dass mein Herz an meinen Kindern hange, dass ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sei, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis an den späten Abend, in jedem Augenblick auf meiner Stirne sehen und auf meinen Lippen ahnden. Der Mensch will so gerne das Gute, das Kind hat so gerne ein offenes Ohr dafür; aber es will es nicht für dich, Lehrer, es will es nicht für dich, Erzieher, es will es für sich selber. Das Gute, zu dem du es hinführen sollst, darf kein Einfall deiner Laune und deiner Leidenschaft, es muss der Natur der Sache nach an sich gut sein und dem Kind als gut in die Augen fallen. Es muss die Notwendigkeit deines Willens nach seiner Lage und seinen Bedürfnissen fühlen, ehe es dasselbe will. Alles, was es lieb macht, das will es. Alles, was ihm Ehre bringt, das will es. Alles, was große Erwartungen in ihm rege macht, das will es. Alles, was in ihm Kräfte erzeugt, was es aussprechen macht, ich kann es, das will es. Aber dieser Wille wird nicht durch Worte, sondern durch die allseitige Besorgung des Kindes und durch die Gefühle und Kräfte, die durch diese allseitige Besorgung in ihm rege gemacht werden, erzeugt. Die
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Worte geben nicht die Sache selbst, sondern nur eine deutliche Einsicht, das Bewusstsein von ihr. […] Die Verwilderung der Einzelnen und die Verwirrung des Ganzen war mit allem Zutrauen und mit allem Eifer noch nicht gehoben. Ich musste für die Ordnung des Ganges im Ganzen selbst noch ein höheres Fundament suchen und dasselbe gleichsam hervorbringen. Ehe dieses Fundament da war, konnte sogar weder der Unterricht noch die Ökonomie und das Lernen der Anstalt gehörig organisiert werden. Ich wollte auch das nicht. Beides sollte statt eines vorgefassten Planes vielmehr aus meinem Verhältnisse mit den Kindern hervorgehen. Ich suchte auch darin höhere Grundsätze und bildende Kräfte. Es sollte das Erzeugnis des höheren Geistes der Anstalt und der harmonischen Aufmerksamkeit und Tätigkeit der Kinder selbst werden und aus ihrem Dasein, ihren Bedürfnissen und ihrem gemeinschaftlichen Zusammenhange unmittelbar hervorgehen. Es war überhaupt weder das ökonomische noch irgend ein anderes Äußeres, von dem ich in meinem Gange ausgehen und womit ich den Anfang machen konnte und sollte, meine Kinder aus dem Schlamm und der Rohheit ihrer Umgebungen, durch den sie in ihrem Innern selbst gesunken und verwildert waren, herauszuheben. Es war so wenig möglich, gleich anfangs durch Steifigkeit den Zwang einer äußern Ordnung und Ordentlichkeit oder durch ein Einpredigen von Regeln und Vorschriften ihr Inneres zu veredeln, dass ich bei der Zügellosigkeit und dem Verderben ihrer diesfälligen Stimmung sie vielmehr gerade dadurch von mir entfernt und ihre vorhandene wilde Naturkraft unmittelbar gegen meine Zwecke gerichtet hätte. Notwendig musste ich erst ihr Inneres selbst und eine rechtliche und sittliche Gemütsstimmung in ihnen wecken und beleben, um sie dadurch auch für das Äußere tätig, aufmerksam, geneigt, gehorsam zu machen. Ich konnte nicht anders, ich musste auf den erhabenen Grundsatz Jesu Christi bauen: Macht erst das Inwendige rein, damit auch das Äußere rein werde2 – und wenn je, so hat sich dieser Grundsatz in meinem Gange unwidersprechlich erprobet. Mein wesentlicher Gesichtspunkt ging jetzt allererst darauf, die Kinder durch die ersten Gefühle ihres Beisammenseins und bei der ersten Entwicklung ihrer Kräfte zu Geschwistern zu machen, das Haus in den einfachen Geist einer großen Haushaltung zusammenzuschmelzen und auf der Basis eines solchen Verhältnisses und der aus ihm hervorgehenden Stimmung das rechtliche und sittliche Gefühl allgemein zu beleben. Ich erreichte diesen Zweck mit ziemlichem Glück. Man sah in kurzem bei siebenzig so verwilderte Bettelkinder mit einem Frieden, mit 2
Vgl. Mt 23,26.
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einer Liebe, mit einer Aufmerksamkeit und Herzlichkeit untereinander leben, die in wenigen kleinen Haushaltungen zwischen Geschwistern stattfindet. Meine diesfällige Handlungsweise ging von dem Grundsatz aus: Suche deine Kinder zuerst weitherzig zu machen und Liebe und Wohltätigkeit ihnen durch die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse, ihren Empfindungen, ihrer Erfahrung und ihrem Tun nahezulegen, sie dadurch in ihrem Innern zu gründen und zu sichern, dann ihnen viele Fertigkeiten anzugewöhnen, um dieses Wohlwollen in ihrem Kreise sicher und ausgebreitet ausüben zu können. Endlich und zuletzt komme mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen, mit den Wörtern: Knüpfe diese an die täglichen häuslichen Auftritte und Umgebungen an und sorge dafür, dass sie gänzlich darauf gegründet seien, um deinen Kindern klarer zu machen, was in ihnen und um sie vorgeht, um eine rechtliche und sittliche Ansicht ihres Lebens und ihrer Verhältnisse mit ihnen zu erzeugen. Aber wenn du Nächte durchwachen müsstest, um mit zwei Worten zu sagen, was andere mit zwanzig erklären, so lass dich deine schlaflose Nächte nicht dauern. Quelle: Pestalozzi‘s Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz, in: ders., Sämtliche Werke 13: Schriften aus der Zeit von 1799–1801, bearb. v. Herbert Schönebaum/Kurt Schreinert, Berlin/Leipzig 1932, 1–32.
Verzeichnis der Bibelstellen Altes Testament Genesis (Gen) 1,27 ............................... 41, 152, 161 2,7 ...................................... 152, 161 2,24 ..................................... 381, 525 3,19 ..................................... 360, 525 4,17 ............................................... 41 4,26 ............................................. 160 5,21–24 ......................................... 41 15,6 ............................................. 160 19 ............................................... 160 19,24 ........................................... 152 25; 26 ......................................... 172 31,17f. ........................................ 320 39,12–18 ..................................... 360 Exodus (Ex) 7–11 ............................................ 113 15,20 ........................................... 140 16 ....................................... 150, 160 16,2f. .......................................... 525 16,15 ........................................... 179 16,18 ............................................. 66 20,1–17 ....................................... 113 20,12–17 ....................................... 92 21,14 ........................................... 687 21,37 ........................................... 279 22,20–23,9 ................................. 17f. 22,20f. ........................................ 298 22,21 ...... 88, 92, 113, 116, 138, 284, 290, 659, 785 22,21f. ........................................ 659 22,28 ........................................... 138 23,6.9 .......................................... 298 24,7 ............................................... 17 32,27f. ........................................ 741 33,12 ........................................... 280 Levitikus (Lev) 6,14 ............................................. 205
13f. ............................................... 46 17–26 ........................................... 20 19,1–34 ...................................... 20f. 19,2 .............................................. 52 19,18 ............................ 55, 290, 337 25,35 .......................................... 687 Numeri (Num) 20,11 .......................................... 150 Deuteronomium (Dtn) 6,5 ................................................ 55 8,3 .............................................. 197 10,18 .................................. 161, 360 10,18f. ........................................ 678 14,22–27 ...................................... 23 14,22ff. ...................................... 113 14,28–15,11 ............................... 22f. 15,1ff. ................................ 22f., 545 15,4 ...... 23f., 59, 482, 545, 612, 686, 717, 756 15,4ff. ........................................ 678 15,7ff. ........................................ 222 15,11 .................................... 23, 612 24,17 .......................................... 678 25,17f. ........................................ 323 24,17.19.20 ................................ 678 26,12 .......................................... 678 28,1–14 ...................................... 559 34,8 ............................................ 140 Josua (Jos) 2 ................................................. 160 6 ................................................. 160 Richter (Ri) 4,4 .............................................. 140 1. Buch Samuel (1Sam) 15,23 .......................................... 740
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2. Buch Samuel (2Sam) 1,19.27 ........................................ 654 12,6 ............................................. 279 1. Buch der Könige (1Kön) 15,15 ........................................... 678 17,6 ............................................. 221 17,8–16 ....................................... 186 17,9 ............................................. 221 17,14 ........................................... 179 18,21 ........................................... 816 2. Buch der Könige (2Kön) 22,14 ........................................... 140 1. Buch der Chronik (1Chr) 4,39ff. ......................................... 677 27,26ff. ....................................... 677 2. Buch der Chronik (2Chr) 5,1 .............................................. 678 27,3–4 ......................................... 677 Esra (Esr) 7,20 ............................................. 678 Nehemia (Neh) 7,70 ............................................. 678 10,36f. ........................................ 678 12,46f. ........................................ 678 13,10 ........................................... 678 Hiob (Hi) 3,11f. .......................................... 164 19,20 ........................................... 165 19,21 ........................................... 151 20,10 ........................................... 757 31,16–20.31f. ............................... 38 31,32 ........................................... 246 Psalmen (Ps) 1,2 .............................................. 218 4,3 ................................................ 77 9; 10 .......................................... 25f.
Verzeichnis der Bibelstellen
9,10 ............................................ 465 9,19 ............................................ 465 11,7 ............................................ 141 13,4 ............................................ 463 15,2 ............................................ 639 22,25 .................................... 26, 442 27,6 ............................................ 205 31,17 ........................................... 463 32,19 ............................................ 26 33,19 ........................................... 179 37,21 ........................................... 687 37,25 .................................. 356, 758 38,5f. .......................................... 177 40,18 .................................. 316, 465 41,2 .....................139, 218, 354, 500 45,11f. ........................................ 246 48,10 .......................................... 260 49,8 ...................................... 26, 276 52,2.5 .......................................... 540 69,34 .................................... 26, 442 78,24 .......................................... 179 82 ................................................. 27 82,6 ............................................ 138 84,8 ............................................ 647 89,15 .......................................... 161 102,18 .................................. 26, 442 109,10 ........................................ 757 111,9 .......................................... 377 112,9 ..... 26, 139, 276, 316, 348, 376 116,17 ........................................ 205 131,15 .................................. 26, 179 132,15 ........................................ 556 145,15f. ...................................... 151 147,14 ........................................ 556 Sprüche Salomos (Spr) 4,2 .............................................. 404 10,7 ............................................ 730 11,26 .......................................... 179 13,7 ............................................ 761 13,8 ............................................ 373 14,20 .......................................... 462 15,27 .......................................... 139 16,6 ............................................ 132
Verzeichnis der Bibelstellen
19,1–17 ......................................... 28 19,4 ....................................... 29, 463 19,17 ..................... 29, 139, 179, 747 20,4 ............................................. 758 20,9 ............................................. 240 20,21 ........................................... 275 21,26 ........................................... 276 21,27 ........................................... 277 22,1–16 ...................................... 28f. 22,2 ............................................. 756 25,21 ........................................... 211 27,7 ............................................. 381 28,20 ........................................... 274 29,13f. .......................................... 29 30,8 ............................................. 227 31,4 ............................................. 141 Prediger/Kohelet (Pred) 3,20 ............................................. 161 5,9 .............................................. 274 7,2 .............................................. 652 Jesaja (Jes) 5,8 ...................................... 274, 361 9,5 .............................................. 109 10,18 ........................................... 162 35,3 ............................................. 653 50,7 ............................................. 368 55–66 ............................................ 30 56,1 ............................................... 30 56,5 ............................................. 359 58,4 ............................................. 170 58,6f. .................................. 170, 771 58,6–12 ...............................30f., 734 58,7 ........ 42, 92, 105, 139, 160, 179, 243, 354, 725 58,8f. .......................................... 243 58,9 ............................................. 244 61,1 ............................................. 244 61,8 ..................................... 277, 505 62,11 ........................................... 141 66,24 ........................................... 736
847
Jeremia (Jer) 5,3 ............................................... 758 15,16 .......................................... 160 21,8 .............................................. 75 Klagelieder des Jeremia (Klgl) 4,9 .............................................. 642 Ezechiel (Ez) 16,49 .................................. 526, 617 18,7 ............................................ 160 Daniel (Dan) 4,24 ............................ 139, 240, 643 14,36 .......................................... 171 Hosea (Hos) 6,6 ...................................... 168, 187 12,7 ............................................ 161 Amos (Am) 3,8 .............................................. 149 4,1–3 ............................................ 32 6,1–4 .......................................... 323 6,1–6 .......................................... 32f. 6,6 .............................................. 323 8,4–7 ............................................ 33 Habakuk (Hab) 2,6 .............................................. 274 Sacharja (Sach) 1,6 .............................................. 114 9,9 .............................................. 464 13,9 ............................................ 152 Apokryphe und frühjüdische Schriften Weisheit Salomos (Weish) 12,5 .............................................. 77 Tobit/Tobias (Tob) 1,20 ............................................ 333 2,3ff. .......................................... 333
848
4,7 .............................................. 528 4,14 ............................................. 741 12,9 ............................................. 628 Jesus Sirach (Sir) 3,30 ............... 36, 132, 274, 347, 628 3,30–4,11 ................................... 34f. 3,33 ............................................. 373 4,4f. .............................................. 76 4,36 ............................................... 76 5,9 .............................................. 361 7,30 ............................................... 76 12,1–6 ..................................... 35, 37 12,4f. .......................................... 210 12,4–7 ......................................... 210 12,5 ............................................. 761 12,6 ............................................. 210 13,3–24 ...................................... 35f. 13,30 ........................................... 760 17,18 ........................................... 643 18,22 ........................................... 647 18,23.33 ................................... 757f. 20,23 ........................................... 761 21,5 ............................................. 757 29,1–13 ......................................... 36 29,15 ................................... 347, 354 30,24 ........................................... 355 33,25–30 ....................................... 36 33,28 ........................................... 525 34,24 ........................................... 277 35,16–22 ....................................... 36 35,21 ..................................... 89, 206 40,29.31 ...................................... 758 Baruch (Bar) 3,37 ............................................. 173 Testament Hiobs (TestHi) 9,1–12,4 .................................. 38–40 Slavisches Henochbuch (slawHen) 44,1–5 ........................................... 41
Verzeichnis der Bibelstellen
Neues Testament Matthäusevangelium (Mt) 2,1ff. .................................. 168, 223 3,10 ............................................ 276 4,4 .............................................. 197 4,22 ............................................ 740 5 ................................................. 465 5–7 ............................................... 52 5,3 ............... 107, 218, 373, 377, 465 5,7 .............................. 239, 240, 316 5,16 ............................................ 313 5,18 ............................................ 154 5,24f. ............................................ 92 5,39–42 ........................................ 76 5,40 ............................................ 102 5,42 ............................................ 222 5,44 .................................... 211, 215 5,44f. .......................................... 189 5,44.46f. ....................................... 76 5,44–48 ...................................... 136 5,45 ............. 212, 215, 316, 351, 503 5,48 ............................................ 643 6,1 .............................. 276, 354, 377 6,1–4 .......................................... 643 6,3 .............................................. 687 6,3f. ............................................ 314 6,9f. ............................................ 771 6,9–13 ........................................ 386 6,19 ............................................ 361 6,19f. .......................................... 643 6,27–34 ...................................... 201 6,31–33 ...................................... 233 6,33 ............................ 313, 355, 617 7,2 .............................................. 189 7,12 ........ 76, 92, 129, 135, 212, 479, 590, 617, 688, 776 7,13f. .................................... 75, 161 7,23 ............................................ 280 8,3 ...................................... 200, 202 8,20 .....................227, 232, 360, 382 9,13 .................................... 168, 771 9,20f. .......................................... 203 10,8 ............................................ 388 10,9 ............................................ 195
Verzeichnis der Bibelstellen
10,22 ............................................. 92 10,28 ........................................... 403 10,30 ........................................... 768 10,40 ............................................. 77 10,41 ........................................... 212 10,41f. ........................................ 214 10,42 ........................................... 772 11,12 ........................................... 711 11,29 ........................................... 121 11,30 ........................................... 247 12,4 ............................................. 369 12,36 ........................................... 176 13,12 ........................................... 314 13,8 ..................................... 205, 359 13,22 ........................................... 104 13,25–30 ..................................... 559 13,36–22,33 ................................ 119 13,45f. ........................................ 381 13,55 ........................................... 464 14,1ff. ......................................... 175 14,14 ........................................... 644 14,16 ........................................... 400 15,2 ............................................. 132 15,14 ........................................... 493 15,19 ............................................. 77 15,27 ........................................... 358 16,24 ................................... 367, 707 16,26 ........................................... 275 18 ............................................... 677 18,21ff. ....................................... 151 19,5 ............................................. 381 19,16–26 ....................................... 49 19,16–30 ....................................... 48 19,21 ..................... 49, 218, 246, 367 19,24 ................................... 234, 643 19,27 ................................... 373, 399 19,28 ........................................... 465 19,29 ........................... 356, 364, 707 20,25–28 ..................... 51, 119, 120f. 20,26f. .......................................... 50 21,12f. ..............................120, 122f. 22 ............................................... 488 22,21 ........................................... 578 22,34–40 ..................................... 161
849
22,34–27,66 ............................... 119 22,37–39 ....................................... 76 22,37–40 .................................... 488 23,8f. ............................................ 98 23,11 ............................................ 50 23,26 .......................................... 843 24,14 ............................................ 42 24,45 .................................. 120, 123 25 ................................... 42–45, 239 25,10 .......................................... 379 25,14–30 .................................... 397 25,35.38 ....................................... 18 25,31–46 .......... 31, 42–45, 105, 124, 167, 172, 182, 199, 236, 242, 258, 290, 330f., 398, 465, 480, 488, 600, 637 25,34 .......................................... 240 25,34f. ................................ 214, 237 25,35 ............................ 92, 196, 286 25,35f. ................................ 403, 650 25,35ff. ...................... 504, 569, 639 25,35–37 .................................... 365 25,35–46 .................................... 105 25,36 ...................129, 229, 378, 725 25,36.39 ..................................... 229 25,36.43f. ................................... 129 25,37 .......................................... 214 25,40 .......... 196, 202, 214, 224, 244, 283, 373, 376, 466, 734 25,40.45 ..................................... 538 25,41 .......................................... 240 25,41f. ........................................ 237 25,42f. ........................................ 403 25,43 .......................................... 801 25,45 .................................. 243, 617 26,11 .......................... 553, 628, 756 26,15 .......................................... 376 28 ............................................... 119 28,18 .......................................... 243 28,19 .................................. 138, 388 28,20 .......................................... 224 Markusevangelium (Mk) 1,40–45 ...................................... 46f.
850
1,41f. ............................ 47, 200, 202 2,14f. .......................................... 105 2,26 ............................................. 369 4,19 ............................................. 104 6,3 .............................................. 464 6,30ff. ......................................... 160 6,34 ............................................. 644 7,2 .............................................. 132 8,1ff.par. ..................................... 160 9,1–9 ........................................... 770 9,35................................................ 50 10,7 ............................................. 381 10,14 ........................................... 475 10,17–31 ..................... 48f., 103–107 10,29 ........................................... 364 10,35–45 .................................... 50f. 10,42 ........................................... 120 10,44f. ........................................ 116 12,15 ................................... 244, 360 12,28–34 ....................................... 55 12,30f. .......................................... 76 12,40 ........................................... 124 12,41 ........................................... 772 12,41–44 ..................................... 186 12,42–44 ..................................... 172 13,13 ............................................. 92 14,51f. ........................................ 360 15,2 ............................................. 132 15,40f. ........................................ 115 16,12 ........................................... 220 16,17f. ........................................ 389 Lukasevangelium (Lk) 1,48 ............................................. 359 1,53 ............................................. 179 2,1ff. ........................................... 223 2,36 ............................................. 140 2,42–49 ....................................... 200 3,8 .............................................. 348 3,11 ............................................. 348 4,18 ....................................... 79, 244 5,27–29 ....................................... 105 6 ................................................. 465 6,20–36 ................................... 52–54
Verzeichnis der Bibelstellen
6,20 ............................................ 465 6,24 .................................... 101, 454 6,27 ...................................... 92, 211 6,30 .......................... 139, 351f., 528 6,32ff. ........................................ 479 6,35 ............................................ 687 6,36 .................................... 316, 352 6,37f. .................................. 189, 651 6,38 .................................. 364f., 373 8,2f. ............................................ 115 8,3 .............................................. 215 8,14 ............................................ 104 9,3 .............................................. 537 9,58 ............................................ 360 10,2 ............................................ 150 10,7 .................................... 483, 527 10,16 .......................................... 709 10,25–37 .................................... 55f. 10,27 .......................... 20f., 290, 641 10,30–37 .................................... 199 10,38–42 .......................... 417f., 654 11,40 .......................................... 132 11,41 .................................. 347, 405 11,43 .......................................... 122 12,4 ............................................ 403 12,7 ............................................ 360 12,15 .......................................... 368 12,18–20 .................................... 176 12,49 .......................................... 374 13,24 .......................................... 161 14 ............................... 214, 462, 465 14,12–14 ............................ 214, 462 14,33 .................................. 106, 227 15,22 .......................................... 646 15,24 .......................................... 185 16,3–13 ...................................... 371 16,8 ............................................ 123 16,9 ......... 213f., 218, 326, 347, 372, 377, 465 16,9.11 ....................................... 102 16,10 .......................................... 773 16,19f. .............................. 279f., 320 16,19.23 ..................................... 176 16,19–31 .................... 465, 726–736
Verzeichnis der Bibelstellen
16,22 ........................................... 281 16,23f. ........................................ 282 16,24 ........................................... 301 16,25 ........................................... 320 17,15f. ........................................ 202 18,18–27 ....................................... 49 18,22 ........................................... 367 19,5f. .......................................... 105 19,9 ............................................. 105 21,2 ............................................. 244 21,3f. .......................................... 409 21,34 ........................................... 368 22,25–27 ..................................... 121 22,26 ........................................... 537 22,26f. ....................................... 50f. 23,34 ........................................... 708 24,16 ........................................... 221 24,29–30 ..................................... 650 24,30f. ........................................ 221 Johannesevangelium (Joh) 1,3 .............................................. 223 1,10 ............................................. 221 1,29 ............................................. 165 3,5 .............................................. 388 3,16 ....................................... 79, 628 4,24 ............................................. 725 4,28 ............................................. 360 5,14 ............................................. 131 5,19.30 .......................................... 82 6,12f. .......................................... 358 6,25f. .......................................... 477 6,35 ..................................... 160, 400 7,18 ............................................. 141 7,24 ............................................... 92 8,42 ............................................... 82 10,1 ............................................. 558 10,1–16 ....................................... 649 10,12f. ........................................ 649 10,28 ........................................... 105 11,27 ........................................... 368 12,3 ............................................. 167 12,26 ............................................. 50 12,35 ........................................... 420
851
13,1ff. ........................................ 180 13,1–17.34f. ............................... 57f. 13,3 .............................................. 82 13,24 .......................................... 773 13,27 .......................................... 214 13,29 .......................................... 214 13,34 ............................................ 92 13,35 .......................58, 98, 544, 569 14,2 ............................................ 161 14,6 .................................... 160, 420 14,12 .......................................... 388 15,12 .................................... 58, 544 15,12.17 ....................................... 92 15,13 ............................................ 98 16,28 ............................................ 82 17,18 ............................................ 79 18,36 .......................................... 228 19,38 .......................................... 167 19,39 .......................................... 168 20,21–23 .................................... 388 20,24–28 .................................... 224 21,15–17 .................................... 649 Apostelgeschichte (Apg) 1,6 .............................................. 278 2,42–47; 4,32–35 ................. 59f., 99 2,44 ............................ 502, 624, 708 2,44f. .......................................... 154 3,2 .............................................. 213 4 ................................................. 636 4,32 .................................... 133, 502 4,32.34 ....................................... 552 4,32–37 ........................................ 99 6,1–7 .................. 61f., 610, 635, 656 6,2ff. .......................................... 676 6,2–5 .......................................... 520 6,3 ...................................... 656, 676 6,3–6 .......................................... 682 9,4 .............................................. 376 10,1–4 ........................................ 725 11,29f. ........................................ 189 14,4 ............................................ 224 14,23 .......................................... 683 15,1.3.22f. .................................... 98
852
15,29 ............................................. 92 20,35 ................................... 139, 187 24,17f. ........................................ 217 Römerbrief (Röm) 1,13 ............................................... 98 1,29f. ............................................ 77 2,1 .............................................. 652 2,5 .............................................. 151 2,15 ............................................... 91 2,15f. .......................................... 155 3,25 ............................................. 166 4 ................................................. 160 6,8 .............................................. 165 6,13.19 ........................................ 647 8,13 ............................................. 174 8,17 ............................................. 165 8,20 ............................................. 760 8,31f. .......................................... 770 8,32 ............................................. 729 9,3 .............................................. 160 11,36 ............................................. 91 12 ................................... 63, 64, 608 12,8 ............................. 187, 656, 771 12,13 ........................................... 359 12,15 ................................... 161, 240 12,20 ............................................. 92 13,1ff. ......................................... 639 13,1.4 .......................................... 614 13,8ff. ......................................... 161 14,3 ............................................. 369 14,10 ........................................... 652 14,17 ........................................... 617 15,1 ............................................. 404 15,4 ............................................. 361 15,26 ............................................. 65 16,1 ............................................. 683 1. Korintherbrief (1Kor) 1,11 ............................................... 98 1,27 ............................................. 123 3,16 ............................................. 128 4,6 .............................................. 167 4,9 .............................................. 205
Verzeichnis der Bibelstellen
4,10 ............................................ 741 4,15 ............................................ 149 5 ................................................. 677 5,1–13 .......................................... 97 5,11 .............................................. 98 8,2f. .............................................. 92 9,14 .................................... 124, 483 10,7 ............................................ 741 11,21.23 ..................................... 472 11,29 .......................................... 618 12,4–31 .............................. 63f., 608 12,11 .......................................... 646 12,12–31 ...................................... 97 12,13 ............................................ 98 12,23f. ........................................ 338 12,26 .......................................... 128 13,3 ............................................ 409 13,13 .......................................... 160 14,22 .......................................... 179 16,1 ............................................ 184 16,1f. .......................................... 184 16,1–4 .................................. 66, 183 16,2 .................................... 185, 186 16,2–4 ........................................ 217 2. Korintherbrief (2Kor) 1,6 .............................................. 676 1,22 ............................................ 165 1,24 ............................................ 777 3,6 .............................................. 158 4,7 .............................................. 195 4,16 ............................................ 647 5,10 ............................................ 154 5,17 ............................................ 104 8f. ................................................. 65 8,1–15 ................................ 65f., 528 8,7 .............................................. 771 8,9 .............................. 223, 227, 250 8,13f. .................................. 218, 688 8,14 .............................. 92, 283, 756 9,2 .............................................. 502 9,7 ............... 187, 241, 554, 718, 746 9,8 .............................................. 746 9,9 .............................................. 352
Verzeichnis der Bibelstellen
9,10 ............................................. 132 9,10f. .......................................... 355 9,12 ............................................... 92 11,29 ........................................... 128 12,9 ............................................. 378 Galaterbrief (Gal) 1,16 ............................................. 747 2,9 .............................................. 121 2,9f. ............................................ 184 3,11 ............................................. 211 3,27 ..................................... 129, 165 4,9 ................................................ 91 5,6 ...................................... 646, 773 5,14 ............................................. 161 6,2 ...................................... 404, 472 6,9f. ............................ 211, 215, 569 6,10 ............. 136, 218, 377, 663, 771 6,15 ............................................. 104 Epheserbrief (Eph) 2,18 ............................................. 381 2,19 ............................................. 647 4,1ff. ............................................. 92 4,3–6 ............................................. 82 4,10–12 ....................................... 676 4,28 ....................................... 92, 727 4,29 ............................................. 740 4,31 ............................................. 741 5,4 .............................................. 740 5,22.24 ........................................ 652 6,1 ...................................... 247, 740 6,9 ...................................... 121, 241 Philipperbrief (Phil) 1,1 ................................................ 77 1,14 ............................................... 92 2,5–7 ........................................... 228 2,6ff. ........................................... 729 2,7 .............................................. 250 3,19 ............................................. 153 Kolosserbrief (Kol) 1,15 ............................................. 104
853
1,16 .............................................. 91 2,23 ............................................ 617 3,5 .............................................. 647 3,9.12 ........................................... 92 3,18 ............................................ 652 3,25 ............................................. 241 4,1 .............................................. 121 1. Thessalonicherbrief (1Thess) 2,10 .............................................. 92 4,11 ............................................ 727 5,2 ............................................. 308 5,22 ............................................ 361 2. Thessalonicherbrief (2Thess) 2,7 .............................................. 184 3,6–9ff. ...................................... 677 3,10 ......... 67, 77, 188, 483, 678, 727 3,10–12 .............................. 547, 611 3,10–13 ........................................ 68 3,12 ............................................ 775 3,13 ............................................ 188 1. Timotheusbrief (1Tim) 3 ........................................... 69, 676 3,1–13 .................................... 62, 79 3,3 .............................................. 658 3,7 .............................................. 683 3,8–10 ................................ 634, 676 3,9 ................................................ 83 3,11 ............................................ 684 3,13 ............................................ 109 4,8 .............................................. 355 4,14 ............................................ 683 5,1–13 ........................................ 112 5,3 ................................................. 92 5,4ff. .......................................... 573 5,9ff. .......................................... 659 5,10 ............................................ 656 5,16 ............................ 193, 527, 569 5,17 ............................................ 520 5,18 ............................................ 527 5,23 ............................................ 175 6,8 .............................................. 368
854
6,10 ............................................. 101 6,17.18 ........................................ 771 6,18 ............................................... 92 2. Timotheusbrief (2Tim) 1,16 ............................................. 213 2,21 ............................................. 361 3,17 ............................................. 361 4,7 .............................................. 248 4,8 .............................................. 155 Titusbrief (Tit) 1–2 .............................................. 676 1,4 .............................................. 502 1,5 .............................................. 676 1,5–9 ........................................... 520 2,5 .............................................. 652 2,12 ............................................... 92 3,7 .............................. 113, 165, 646 Hebräerbrief (Hebr) 8,10 ............................................... 91 10,11 ........................................... 150 11,17 ........................................... 160 11,36 ........................................... 229 12,14 ........................................... 676 13,2 ............................................. 286 13,16 ........................................... 771 13,17 ................................... 519, 740 1. Petrusbrief (1Petr) 2,1 .............................................. 740 2,9 .............................................. 113 2,16 ............................................. 517 5,1–3 ........................................... 520 5,2–4 ........................................... 649 2. Petrusbrief (2Petr) 3,6–13 ......................................... 152 1. Johannesbrief (1Joh) 1,8 .............................................. 240 2,3 ................................................. 91 2,6 .............................................. 227
Verzeichnis der Bibelstellen
3,16 ...................................... 98, 729 3,17 .......................92, 570, 641, 746 3,18 ............................................ 405 4,7.11 ........................................... 92 4,16 ............................................ 160 4,20 ............................................ 374 Jakobusbrief (Jak) 1,27 .............................................. 92 2 ......................................... 461, 465 2,1–3 .......................................... 461 2,1–9.14–17 ............................... 70f. 2,1–13 ........................................ 336 2,5 .............................................. 383 2,8 .............................................. 337 2,13 .................................... 240, 735 2,15–17 ...................................... 733 2,17.20 ....................................... 646 2,24 ............................................ 647 2,26 ............................................ 340 4,17 ............................................ 819 5,9 .............................................. 154 Apokalypse/Offenbarung des Johannes (Apk) 3,19 ............................................ 331 14,8 ............................................ 768 20,12 ............................................ 90 21,2 ............................................ 113 22,11 .......................................... 647